Für eine revolutionär- kommunistische Internationale

Das Trotzkistische Manifest, Kapitel 7, Sommer 1989

Die Arbeiterklasse braucht eine revolutionäre Partei, um die Diktatur des Proletariats zu errichten. Nur eine revolutionäre Partei, die die Mehrheit der organisierten Arbeiterklasse in den revolutionär umgewandelten Gewerkschaften, den Fabrikkomitees, den Arbeitermilizen und -räten errungen hat, kann die Macht übernehmen. Nur eine Partei kann die Macht gegen die Konterrevolution halten, sie vor bürokratischer Entartung schützen und die Revolution international ausbreiten. Der Aufbau einer leninistischen Partei in allen Ländern ist die grundlegende Aufgabe für Revolutionärinnen und Revolutionäre.

Die revolutionäre Partei muß sich von allen reformistischen und zentristischen Elementen abgrenzen, gleichzeitig aber allen Schichten der Arbeiterklasse die geschlossenste Kampfeinheit anbieten. Jede Tendenz, die Partei den Einheitsfrontorganen unterzuordnen oder sie in eine dauerhafte Front aufzulösen, die sich an die Massen nur auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners wendet, wird die revolutionäre Partei in zentristische Degeneration führen. Die argentinische MAS in den 80er Jahren gibt ein klassisches Beispiel für diese Gefahr.

Die leninistische Vorhutpartei fungiert auf der Grundlage des demokratischen Zentralismus. Demokratie in der Wahl der Führerinnen und Führer und der Festlegung von Strategie und Taktik bildet kritische und selbstbewußte Kader heran. Die freie Äußerung von Differenzen ist wichtig. Bürokratismus hingegen erzieht willige Werkzeuge, aber keine militanten Kämpferinnen und Kämpfer. Wenn ernste und längere Meinungsverschiedenheiten in der Partei auftauchen, kann die Formierung von organisierten Tendenzen oder sogar Fraktionen ein „notwendiges Übel“ sein. Deshalb muß das Recht zur Tendenz- und Fraktionsbildung intensiv gesichert werden. Genauso wie der Stalinismus das Wort „Kommunismus“ korrumpiert und entwertet hat, ist von ihm auch die leninistische Parteiorganisation in eine bürokratische Karikatur nach einem leblosen Einheitsprinzip verwandelt worden.

Zentralisierte Disziplin ist ein wichtiges Mittel zur Konzentration aller Kräfte der revolutionären Vorhut auf die Bourgeoisie und ihren Staat. Sie macht jede Parteiaktion wirksamer. Disziplin kann eine Überlebensfrage unter Bedingungen der Illegalität oder angesichts brutaler Unterdrückung sein. Demzufolge ist die revolutionäre Organisation kein Debattierverein. Wenn politischer Streit durch eine Abstimmung innerhalb der Organisation gelöst wird, ist es die Pflicht aller Mitglieder, alle Beschlüsse und Aktionen, die sich aus einem solchen Votum ergeben, loyal und systematisch auszuführen. Nach Durchführung solcher Beschlüsse und Aktionen ist es durchaus erlaubt, die Politik kritisch aufzuarbeiten und zu versuchen, sie zu ändern. Ein solch wahrhaft demokratischer Zentralismus ist in allen Etappen des Parteiaufbaus wesentlich.

Sehr oft werden die Anfangsstadien des Parteiaufbaus vornehmlich der Propaganda gewidmet sein. Wo es nur eine Handvoll Revolutionärinnen und Revolutionäre gibt, wird die Hauptaufgabe im jeweiligen Land in der Klärung der grundlegendsten Programmfragen bestehen. Nichtsdestotrotz streben wir danach, unser Programm durch Eingreifen in den Klassenkampf wo immer möglich zu erproben und anzuwenden. Wenn die Organisation zu einer kämpfenden Propagandagruppe heranwächst, wird sie zunehmend an Massenkämpfen teilnehmen. Sie wird um die Führung kämpfen, praktische Vorschläge machen, wie in den Kämpfen Siege errungen werden können, und wird die Lehren aus ihnen ziehen, um die fortgeschrittensten Elemente der Klasse für das revolutionäre Programm zu gewinnen.

Der Übergang von einer kämpfenden Propagandagruppe zur leninistischen Kampfpartei kann weder dadurch erreicht werden, daß sich eine Handvoll Kader in oberflächliche „Massenarbeit“ stürzt, noch dadurch, daß man sich opportunistisch in zugespitzten Klassenkampfsituationen anpaßt. Wo es bedeutende, sich nach links bewegende, zentristische Kräfte in zentristischen oder reformistischen Parteien gibt, kann es notwendig sein, in solche Organisationen mit der doppelten Zielsetzung eines gemeinsamen Kampfes gegen die rechten Parteiführerinnen und Parteiführer einerseits und dem Aufbau einer revolutionären Tendenz andererseits einzutreten. Auf diese Weise können die besten Klassenkämpfer für die Perspektive der Bildung einer revolutionären Partei versammelt werden. Diese Taktik ist keineswegs eine unumgängliche Etappe im Parteiaufbau und hat auch nichts zu tun mit dem strategischen „tiefen Entrismus“ verschiedener rechtszentristischer „trotzkistischer“ Organisationen seit Ende der 40er Jahre. Sie sind in den reformistischen Parteien tief begraben worden und sind seit langem vom Kampf für das revolutionäre Programm desertiert.

Eine wahrhaft revolutionäre Partei übt einen starken Einfluß auf die Avantgarde der Klasse aus. Sie besteht aus kommunistischen Kadern, weist eine umfangreiche landesweite Verankerung in den fortgeschrittenen Sektoren des Proletariats auf und ist imstande, Massenkämpfe zu organisieren. In revolutionären und vorrevolutionären Situationen muß sie sich zu einer Massenpartei entwickeln, um die Massen für den Kampf um die Macht zu organisieren.

Für eine revolutionäre Massenpartei der Arbeiterinnen und Arbeiter

In vielen imperialisierten, aber auch in einigen imperialistischen Ländern waren die Jahrzehnte des kapitalistischen Wachstums begleitet von einer massiven Ausdehnung des Proletariats und seiner Gewerkschaften ohne vergleichbares Anwachsen ihrer politischen Parteien. Arbeiterinnen, Arbeiter und Gewerkschaften verharren häufig bei den bürgerlichen oder kleinbürgerlich-nationalistischen Parteien oder gar bei Formen des Bonapartismus. Unter solchen Umständen wird der Kampf um die Schaffung einer revolutionären Partei aufs engste mit dem Kampf für die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse verflochten sein.

In den USA der 30er Jahre hat Trotzki die Losung einer auf den Gewerkschaften fußenden Arbeiterpartei als Mittel zur Überwindung der politischen Rückständigkeit der US-Arbeiterinnen und Arbeiter und als Antwort auf das spürbare Bedürfnis nach einer politischen Organisation im Klassenkampfaufschwung Mitte der 30er Jahre entwickelt. Dies war keineswegs ein Aufruf zur Bildung einer reformistischen sozialdemokratischen Partei, sondern eine im Kampf um eine revolutionäre Partei von Trotzki entwickelte Taktik.

Im allgemeinen stellt die Losung der Arbeiterpartei ein wichtiges Propagandainstrument zur Unabhängigkeit der Klasse und zur Bloßstellung der Anbiederung der Bürokraten an die Unternehmer dar, kann aber gelegentlich auch zur scharfen agitatorischen Waffe werden. Der Aufruf für eine Arbeiterpartei ist eine Forderung an die Gewerkschaften zum Bruch mit den offenen Parteien der Bourgeoisie und zum Kampf für den Aufbau einer Partei der gesamten Arbeiterklasse. Die Gewerkschaften sollten aufhören, die Loyalität der Arbeiterklasse gegenüber ihren Klassenfeinden zu sichern. Sie haben einen zentralen Stellenwert in der Forderung, gerade weil sie generell unter den Bedingungen des verschärften Klassenkampfes greift, wo ein massiver Zustrom von radikalisierten Arbeiterinnen und Arbeitern in die Gewerkschaften stattgefunden hat (USA in den 30er, Südafrika und Brasilien in den 80er Jahren).

Falls die Revolutionärinnen und Revolutionäre unter solchen Umständen die Taktik der Arbeiterpartei nicht anwenden und nicht in den Gründungsprozeß eingreifen, besteht die Gefahr, daß die Reformisten die radikalisierten Arbeiterinnen und Arbeiter auf die Bildung einer reformistischen Partei oder einen erneuerten Pakt mit bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Parteien lenken könnten.

Die Taktik der Arbeiterpartei ist keine unüberspringbare Etappe in der politischen Entwicklung der Arbeiterklasse. Ihre agitatorische Anwendung hängt von den jeweiligen konkreten Umständen in einem Land ab. Trotzdem machen wir klar, daß wir im Kampf um die Schaffung einer Arbeiterpartei deren Grundlegung auf einem revolutionären Programm vorschlagen. Wir wollen verhindern, daß eine reformistische oder zentristische Schlinge um den Hals des Proletariats gelegt wird. Aber der Charakter dieser Partei kann nicht im voraus ultimativ festgeschrieben werden. Er wird vom Kampf zwischen Revolutionärinnen und Revolutionären und den falschen Führern bestimmt.

Wo keine Tradition von politischer Massenorganisation der Arbeiterklasse existiert, gestattet der politische Kampf innerhalb der Arbeiterpartei zur Verteidigung von Arbeiterinteressen die Polarisierung der bestehenden politischen Tendenzen in der Arbeiterklasse. Dies zeigt sich in der Entwicklung der brasilianischen Arbeiterpartei (PT) während der 80er Jahre.

Die revolutionäre Internationale

Die Imperialisten und ihre Steigbügelhalter in den Halbkolonien und Arbeiterstaaten koordinieren ihre Aktionen gegen das Proletariat auf internationaler Ebene mittels der UNO, dem IWF, der Weltbank, dem RGW und Militärblöcken wie NATO oder Warschauer Pakt. Gegen ihre „Internationalen“ müssen wir eine revolutionäre Internationale der proletarischen Massen stellen, um den von der bürgerlichen Gesellschaft der Weltarbeiterklasse auferlegten Chauvinismus und Rassismus zu überwinden. Das Ziel dieser Internationale soll die revolutionäre Zerstörung der kapitalistischen und stalinistischen Herrschaft auf der ganzen Welt sein. Sie wird die Führung im Befreiungskampf der gesamten Menschheit vom Doppeljoch der Ausbeutung und Unterdrückung übernehmen. Die internationale Diktatur des Proletariats wird die Grundlage für ein sozialistisches Weltsystem herstellen und damit beginnen, alle Spuren der alten Ordnung auf ihrem Marsch zum Weltkommunismus auszumerzen.

Vor und nach der Revolution ist die Aufgabe zur Schaffung eines revolutionären Programms und einer revolutionären Partei eine internationale. Es kann nicht die Frage sein, zunächst für die Bildung großer nationaler Parteien einzutreten und sie dann in einer Masseninternationale miteinander zu verbinden. In nationaler Isolation aufgebaute Parteien werden nationaler Beschränktheit und Einseitigkeit unterliegen. In den imperialistischen Ländern wird dies eine Neigung zur Anpassung an Ökonomismus und Sozialchauvinismus bedeuten. In den Halbkolonien wird es zur Nachgiebigkeit gegenüber kleinbürgerlichem Nationalismus und zur Verwischung der klassenmäßigen Unabhängigkeit des Proletariats führen. In den stalinistischen Staaten wird es zu einer Anpassung an den „Reform“flügel der stalinistischen Bürokratien führen. Zur Überwindung des nationalen Drucks ist die Entfaltung einer weltumspannenden Perspektive und das Eingreifen in den internationalen Klassenkampf lebenswichtig. Die Herstellung praktischer Solidarität zwischen Arbeiterinnen und Arbeitern verschiedener Länder ist jederzeit vonnöten.

Heute ist keine revolutionäre Arbeiterinternationale vorhanden. Die sozialistische Internationale ging 1914 endgültig ins Lager des Reformismus über, als seine Hauptsektionen die „eigene“ Bourgeoisie im Ersten Weltkrieg unterstützten. Sie fungiert nunmehr als Koordinationszentrum für die sozialdemokratischen Reformisten und ihre arbeiterfeindlichen Pläne.

Die Komintern brach unter der erdrückenden Bürde des Stalinismus 1933 politisch zusammen, als ihre Politik Hitlers Machtergreifung erleichterte. 1943 löste sie Stalin auf zynische Art auf. Nichtsdestotrotz sind die Bindungen zwischen den Kommunistischen Parteien und den herrschenden Kasten in den degenerierten Arbeiterstaaten weiterhin stark. Eine verschleierte bürokratische Internationale verbindet die Mehrheit aller KPen mit Moskau. Aber der Kreml verfügt nicht mehr über das Loyalitätsmonopol. Der Eurokommunismus hat die westlichen KPen von Moskau entfernt und für andere stellen Kuba oder China eine ideelle und materielle Alternative dar. All dies bezeugt den fortwährenden Prozeß der Desintegration der stalinistischen Weltbewegung.

Die letzte revolutionäre Internationale, die von Trotzki 1938 gegründete IV., gibt es nicht mehr. Sie wurde auf der Perspektive begründet, daß sie rasch zur Führung von Millionen während der durch den Zweiten Weltkrieg hervorgerufenen revolutionären Krisen gelangen würde. Dies trat nicht ein, da Stalinismus und Sozialdemokratie gestärkt aus dem Konflikt hervorgingen. Die IV. Internationale aber operierte weiter mit ihrer Vorkriegsperspektive von bevorstehendem Krieg und Revolution. Geschwächt durch stalinistische und imperialistische Verfolgung und infolge politischer und organisatorischer Verwirrung und Unordnung im Krieg war die IV. Internationale unfähig, unter den neuen Bedingungen nach Kriegsende für die Weltarbeiterklasse einen Kurs anzugeben.

Zwischen 1948 und 1951 entfernte sich die IV. Internationale immer mehr von der marxistischen Methode, als sie eine Reihe von politischen Anpassungen vornahm und die führende Rolle im Klassenkampf angeblich „zentristischen“ Kräften stalinistischen, sozialdemokratischen oder kleinbürgerlich-nationalistischen Ursprungs überließ. Erstes und dramatischstes Beispiel hiefür war die Haltung zu Jugoslawien. Nach dem Bruch Tito – Stalin 1948 erklärte die IV. Internationale, daß Tito kein Stalinist mehr sei, und trat der Losung für eine politische Revolution in Jugoslawien entgegen.

Dieser Verfall wurde untermauert durch eine unmittelbare Weltkriegserwartung und dessen alsbaldige Umwandlung in einen internationalen Bürgerkrieg. Das Scheitern an der Aufgabe, Programm und Perspektive wiederzuerarbeiten, führte zur Übernahme einer systematisch zentristischen Methode auf dem Weltkongreß der IV. Internationale 1951; die IV. Internationale war politisch zerstört. In der bolivianischen Revolution 1952 unterstützte die zentristische IV. Internationale eine bürgerliche Regierung der nationalistischen MNR und verschwendete auf kriminelle Art das Potential für eine Arbeitermacht. 1951 hörte die IV. Internationale auf, als revolutionäre Organisation zu bestehen. 1953 beendete sie ihr Dasein als einheitliche Organisation, als sie in einander befehdende zentristische Fraktionen zerbrach, von denen keine eine politische Kontinuität mit der revolutionären IV. Internationale von 1938 bis 1948 verband.

Nach 1953 leistete das Spaltprodukt Internationales Sekretariat (IS) Pionierarbeit für die rechtszentristische Abweichung der IV. Internationale. Mit seinem Nachfolger ab 1963, dem Vereinigten Sekretariat der IV. Internationale (VS), hat sich diese Richtung folgerichtig an verschiedene stalinistische, kleinbürgerlich- nationalistische und sozialdemokratische Strömungen angepaßt. Die Hauptopposition zum Internationalen Sekretariat nach 1953 verkörperte das Internationale Komitee (IK).

Trotz gewisser teilweise korrekter Kritik am Internationalen Sekretariat wandte das Internationale Komitee im Grunde weiter die Methode der zentristischen IV. Internationale an. Die tiefe Entrismusarbeit seiner britischen Sektion in der Labour Party war durch und durch opportunistisch. Das IK beugte die Knie vor kleinbürgerlichem Nationalismus und Maoismus. Sein Markenzeichen war eine katastrophistische Perspektive, ein hohles Echo auf das Übergangsprogramm von 1938.

Wie bei der „sozialistischen“ und „kommunistischen“ Internationale dauert das Erbe des politischen und organisatorischen Niedergangs der IV. Internationale bis heute fort. Es gibt mehrere internationale zentristische Strömungen, die dieses Vermächtnis beanspruchen und mit denen wir uns politisch messen. Doch alle zeigen dieselbe Unfähigkeit, die Methode Lenins und Trotzkis anzuwenden, um die Weltarbeiterklasse zum Sieg zu führen. Die Tagesaufgabe ist klar: der Aufbau einer neuen revolutionär kommunistischen Internationale.

Die Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale (LRKI) ist das Instrument für die Schaffung einer neuen leninistisch- trotzkistischen revolutionären Masseninternationale. Wir fangen diesen Kampf nicht bei Null an. Wir stehen in der politischen Tradition von Marx und Engels erster Internationale, dem Kampf der revolutionären Internationalisten in der zweiten Internationale, den ersten vier Kongressen von Lenins kommunistischer (dritter) Internationale, Trotzkis Kampf für die Verteidigung und Wiedererarbeitung des revolutionären Programms sowie der revolutionären Positionen der vierten Internationale von 1938 bis 1948. Wir beginnen daher unsere Arbeit auf der Grundlage von Kämpfen und programmatischen Errungenschaften eines runden Jahrhunderts.

Der Kampf gegen Zentrismus

Der Zentrismus belegt eine Mittelposition zwischen revolutionärem Kommunismus und Reformismus und vermischt auf eklektische Weise die dem Kommunismus entlehnte Theorie mit der Anpassung an die „praktische Politik“ des Reformismus. Diese Erscheinung ist nicht neu. Gleich vom Beginn der marxistischen Bewegung vor anderthalb Jahrhunderten hat sich der Zentrismus in Gestalt von Organisationen entwickelt, die sich nach rechts von revolutionärer Politik wegbewegten (die sozialistische Internationale vor 1914, die stalinistische Komintern der 20er und frühen 30er Jahre, die IV. Internationale Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre). Aber wie bei den Pivertisten in der französischen SFIO Mitte der 30er Jahre und Strömungen in der ungarischen Revolution 1956 sind wir auch Zeugen von zentristischen Tendenzen geworden, die sich nach links vom Reformismus wegentwickelt haben.

Der Zentrismus ist prinzipiell unfähig, die Arbeiterklasse zum Sieg zu führen. Er gibt wohlklingende „revolutionäre“ Verlautbarungen ab, aber sträubt sich gegen die Verbindlichkeit einer klaren Strategie und eines konkreten Programms. Außerstande, Theorie und Praxis in Einklang zu bringen, fußt die theoretische Methode des Zentrismus v.a. auf Impressionismus: eine leichtfertige Entwicklung von „neuen Theorien“ für eine stets „neue“ Wirklichkeit, wobei Lehre und Methode des Marxismus mit Füssen getreten werden. Aufgrund der wilden Zickzacks des Zentrismus gehen während der raschen Ereignisse einer Revolution entscheidende Gelegenheiten verloren und die Initiative wird den bewußt konterrevolutionären Kräften von Sozialdemokratie und Stalinismus zurückgegeben. Von daher rührt seine Gefahr für die Arbeiterklasse. Immer dort, wo der Zentrismus die Arbeiterinnen und Arbeiter in einem entscheidenden Konflikt angeführt hat (Deutschland 1919, Italien 1920, China 1927, Spanien 1937, Bolivien 1952, 1971 und 1976, um nur einige Beispiele zu nennen), war das Ergebnis eine Katastrophe.

Das Beispiel der POUM im spanischen Bürgerkrieg zeigt, wie eine zentristische Organisation den Aufbau einer revolutionären Partei behindern kann. Die zentristische POUM hat die Massen nicht im entferntesten zum Siege geführt, sondern war eine linke Flankendeckung für die konterrevolutionäre stalinistische Volksfront und verschleierte den Verrat der Anarchisten und half somit, den Weg zur Niederschlagung der spanischen Arbeiterklasse durch Franco zu ebnen.

Zentrismus ist vor allem ein Phänomen der Bewegung (Entfaltung oder Degeneration) nach links oder rechts. Aber in Abwesenheit sowohl von revolutionären Massenereignissen wie auch eines mächtigen revolutionären Anziehungspols kann sich der Zentrismus längere Zeit behaupten, allerdings in verknöcherter Daseinsform. Dies war auch der Charakter des beginnenden kautskyschen Zentrismus in der zweiten Internationale vor 1914. Ein solcher Rechtszentrismus ist konsequent reformistisch in seiner Praxis, ist aber bis zu seinem Übergang ins Lager des Reformismus auch bereit, scheinrevolutionäre Phraseologien zu benutzen. Das ist der Charakter vieler Organisationen in allen Erdteilen, die vorgeben, „trotzkistisch“ zu sein.

Das Sektierertum fürchtet die realen Kämpfe der Arbeiterklasse. Es rechtfertigt seine Passivität im Namen der „Wahrung der Prinzipien“. Das Sektierertum hält sich von den Massenorganisationen der Arbeiterinnen und Arbeiter fern und versteckt sich lieber in schein“revolutionären“ Strukturen. Kurzum, es hat nichts gemeinsam mit revolutionärem Marxismus, dafür aber alles mit Zentrismus. Trotz aller Wunschvorstellungen eingefleischter Sektierer sind Sektierertum und Opportunismus keine Gegenpole, sondern Produkte derselben politischen Methode: beide haben kein Vertrauen in die Fähigkeit der Arbeiterklasse, sich um das revolutionäre Programm zu mobilisieren. Der Opportunist trachtet danach, das Programm zu verwässern, der Sektierer scheut vor entschlossener Intervention in die Klasse auf Grundlage dieses Programms zurück. Die Wesensgleichheit der beiden Methoden zeigt sich in dem sektiererischen Schwenk der zentristischen Komintern von 1928 bis 1933 und dem Ultralinkstum des Vereinigten Sekretariats von 1967 bis 1974.

Der Kampf gegen den Zentrismus aller Schattierungen ist ein entscheidendes Merkmal beim Aufbau jeder revolutionären Internationale gewesen. Marx und Engels kämpften gegen die Anarchisten; Lenin und Luxemburg führten den Kampf gegen die zentristische Führung der sozialistischen Internationale. Die Komintern gewann die linkszentristischen Syndikalisten in Frankreich und die deutsche USPD und spaltete den linken Flügel von der italienischen PSI ab. Im Kampf für die Bildung der IV. Internationale richtete Trotzki seine Polemik gegen die zentristischen Kräfte, die von der Komintern (z.B. Bordiga, Treint, Souvarine) oder von der Sozialdemokratie (z.B. die unabhängige Labour Party, ILP in Britannien und Pivert in Frankreich) herkamen. Gleichzeitig schlug er Aktionseinheiten mit den Zentristen und Zentristinnen wo immer möglich vor. So stehen auch wir zu den heutigen zentristischen Kräften.

Der Übergang vom Zentrismus zu revolutionärer Politik bedeutet nicht nur eine Entwicklung, sondern auch einen markanten Bruch. Es ist kein allmählicher oder unvermeidlicher Prozeß. Die große Mehrheit der zentristischen Organisationen ist nicht revolutionär geworden. Entweder haben sie sich aufgelöst (wie die ILP und die POUM in den 30er Jahren) oder sie sind zum Reformismus verkommen (die MIRs in Lateinamerika). Wo zentristische Parteien zu beträchtlichen Massenformationen geworden sind, können sie nicht lange das Gleichgewicht zwischen Reform und Revolution halten. Die PUM in Peru und die Democrazia Proletaria in Italien weisen immer stärker ausgesprochen reformistische Flügel auf.

Formen des instabilen Zentrismus sind auch während der letzten 40 Jahre unter dem Einfluß des Maoismus und der kubanischen Revolution besonders in den Halbkolonien entstanden. Obwohl die chinesische Kulturrevolution (1964-69) in Wirklichkeit ein bürokratischer Fraktionskampf war, hat das radikale Getön des maoistischen Flügels Sympathie bei Gegnern des Moskauer Stalinismus und bei antiimperialistischen Kräften geweckt. Maoistische Gruppen in der BRD, in Italien und einer Reihe von Halbkolonien gründeten sich auf radikalisierte, meist jugendliche Kräfte, und viele von ihnen durchliefen kurz eine Periode zentristischer Entwicklung. Die reaktionäre Realität des Maoismus, die sich im Massaker an proletarischen Kräften in Wuhan und Guandong während der Kulturrevolution und der Wiederannäherung an Nixon und Pinochet ausdrückte, brachte im Zusammenhang mit dem Aufschwung der europäischen Sozialdemokratie Anfang der 70er Jahre das Ende dieses Abschnitts. In den halbkolonialen Ländern Lateinamerikas degenerierten die MIR-Gruppen, die unter dem Einfluß von Guevarismus und kubanischer Revolution entstanden waren, rasch zu sozialdemokratischen, kleinbürgerlich- nationalistischen oder gar ausgesprochen bürgerlichen Parteien. Zentristische Tendenzen eines anderen Ursprungs haben sich angesichts der Krise des Stalinismus in den degenerierten Arbeiterstaaten entwickelt. Sie vereinigen revolutionäre Feindschaft zum Regime mit oft sozialdemokratisch beeinflußtem programmatischen Wirrwarr.

Die derzeitige Hauptform des Zentrismus auf internationaler Ebene hat ihre Wurzeln im Verfall der IV. Internationale. Organisationen dieses Ursprungs haben Teilkritik an Sozialdemokratie, Stalinismus oder den degenerierten Bruchstücken der IV. Internationale geübt. Viele haben versucht, eine revolutionäre Kontinuität wiederherzustellen, aber alle uns bekannten Versuche sind gescheitert. Keine dieser Gruppen war in der Lage, ein revolutionäres Programm für die Massen konsequent auszuarbeiten, und konnte es weder in Alltagskämpfen noch in größeren revolutionären Situationen der letzten 40 Jahre umsetzen. Im allgemeinen waren ihre Fehler entsprechend ihrer fehlenden Verankerung in der Arbeiterklasse für den Ausgang von Kämpfen des Weltproletariats von geringer unmittelbarer Konsequenz. Nichtsdestotrotz haben sich trotzkistisch nennende Zentristen bedeutsame Rollen beim Fehlschlag der Revolution von 1952 in Bolivien und beim Ausverkauf einer Massenbewegung in Sri Lanka 1964 und in Peru 1978 bis 1980 gespielt.

Korrumpiert durch opportunistische Anpassung haben diese Organisationen die Fehler der zentristischen IV. Internationale wiederholt, indem sie an den „revolutionären Prozeß“ geglaubt haben und der einen oder anderen „linken“ Tendenz im Reformismus oder im kleinbürgerlichen Nationalismus in der Hoffnung nachgelaufen sind, daß sie sich als neues Instrument für die ins Stocken geratene „Weltrevolution“ erweisen würden.

Dies trifft für die systematische Anpassung des Vereinigten Sekretariats zu. Sie halten Nikaragua für einen gesunden Arbeiterstaat und kämpfen nicht für den Sturz des bürokratischen Castro-Regimes auf Kuba. Dies gilt auch für die von Moreno gegründete Internationale Arbeiter Liga, die sich zunächst an den Peronismus und dann an den Stalinismus in ihrem Ursprungsland Argentinien anpaßte. Nicht minder auffällig ist die Politik des Nachtrabens hinter kleinbürgerlichen Nationalisten und Reformisten, wie sie die von der lambertistischen Strömung gegründete IV. Internationale (internationales Zentrum für den Wiederaufbau) betreibt. Sie jubelte die algerischen Nationalisten als „Bolschewiken“ hoch und schlägt den Aufbau einer „Arbeiterinternationale“ auf einem reformistischen Programm vor, das sich auf bürgerlich demokratische Forderungen konzentriert. Die internationale Tendenz um die britische „Militant“-Gruppe, die ihre Ursprünge in der IV. Internationale verheimlicht, strebt nach der Umwandlung der sozialdemokratischen Parteien. Die Gruppierungen um die britische Socialist Workers Party und die französische Organisation Lutte Ouvriere passen sich an den spontanen Arbeiterkampf an und machen keinen praktischen Gebrauch vom Übergangsprogramm. Daß diese Organisationen in verschiedener Form seit 40 Jahren weiterbestehen, ist ein Beweis für ihre Isolation von der internationalen Arbeiterklasse, jedoch nicht für die Stärke oder Gültigkeit ihrer Politik.

Die Kräfte für eine neue Internationale werden viele der besten Klassenkämpferinnen und -kämpfer einschließen, die gegenwärtig in den zentristischen Organisationen gefangen sind. Die Sektionen unserer eigenen internationalen Organisation haben alle ihren Ursprung in Brüchen mit dem Zentrismus. Spaltungen, Fusionen und Umgruppierungen werden sich als notwendig erweisen, und für die LRKI ist es besonders wichtig, sich in Polemik und gemeinsamer Aktion mit jenen Zentristen zu engagieren, die sich fälschlicherweise als Trotzkisten bezeichnen. Zu diesem Zweck beginnen wir mit Trotzkis Devise „Zuerst das Programm!“

Baut die LRKI, baut eine revolutionär- kommunistische Internationale auf!

Der Imperialismus ist ein gewaltiger Feind. Er verfügt über reiche Reserven, die er nutzt, um die reformistischen Führer des Proletariats zu korrumpieren und gefügig zu machen; er unterhält einen riesigen Staatsapparat, mit dem er Arbeiterinnen und Arbeiter überall auf der Welt unterdrückt und tötet. Aber er kann den Klassenkampf, der unaufhörlich auf Grund der grundlegenden Widersprüche des Kapitalismus ausbricht, nicht unterbinden. Jeder Zyklus der Expansion und Prosperität bringt Vertrauen für den Kampf. In jeder Krise spornt es die ausgebeuteten zu weiteren Angriffen auf die Herrscher der Welt an.

Gleich, ob die Gelegenheit früher oder später kommt, alle Agenten des Kapitalismus in den Abgrund zu stürzen – die Weltarbeiterklasse braucht eine internationale revolutionäre Partei. Die LRKI schickt sich an, eine solche Weltpartei der kommunistischen Revolution aufzubauen. Wir haben mit der Erarbeitung einer Reihe von revolutionären Positionen zu wichtigen internationalen Kämpfen und mit der Neuerarbeitung des internationalen revolutionären Programms begonnen. Diese Aufgabe ist seit beinah 50 Jahren überfällig, aber mit unserem Herangehen stellen wir unser Programm auf Politik und Methoden des unverfälschten Trotzkismus, des revolutionären Marxismus. Unser Ziel ist der Aufbau einer neuen Weltpartei der kommunistischen Revolution, einer wiederbegründeten leninistisch-trotzkistischen Internationale.

Ist die LRKI weit von diesem Ziel entfernt? Sind ihre Kräfte zu gering angesichts einer Herausforderung dieser Größenordnung? Es stimmt zwar, daß unsere Kräfte schwach sind, weit schwächer noch als Trotzkis IV. Internationale bei der Gründung 1938. Wir haben bislang nur eine Handvoll Kader in nur wenigen Ländern. Aber wir haben keine Veranlassung, uns davon entmutigen oder von der Inangriffnahme des Kampfes abschrecken zu lassen. Trotz einer langen Periode imperialistischer Stabilität zur Jahrhundertmitte bleibt die imperialistische Epoche eine Epoche von Kriegen und Revolutionen. Doch die Ereignisse vollziehen sich nicht in einem gleichmäßigen Tempo, ebensowenig wie Parteien einfach durch allmähliche Kaderakkumulation aufgebaut werden. Es kommen Perioden von Krieg und Revolution, wo die Aufgaben von Jahren oder Jahrzehnten in Wochen oder Monaten vollendet werden können. Aber damit das Proletariat solche Perioden nützen kann, müssen wir ein Programm haben, auf dem wir aufbauen können, und Kader, die zur Führung fähig sind. Deshalb gilt es, keine Zeit zu verlieren. Wir müssen die Fundamente jetzt legen. Wir appellieren an alle Kämpferinnen und Kämpfer, die sich auf die revolutionären Traditionen des internationalen Proletariats berufen und die sich von den zentristischen Schwankungen abgestoßen fühlen; wir appellieren an alle kämpferischen Arbeiterinnen und Arbeiter, die gegen den Verrat des Reformismus, des kleinbürgerlichen Nationalismus und der Gewerkschaftsbürokratie revoltieren:

Schließt euch uns an!




Zum Todestag von Jina Mahsa Amini: Ein Jahr, das den Iran veränderte

Martin Suchanek, Infomail 1231, 15. September 2023

Am 16. September 2022 starb die iranische Kurdin Jina Mahsa Amini an den Folgen der Verletzungen, die ihr die sog. Sittenpolizei bei ihrer Festnahme und in der Haft durch brutale Misshandlung zufügte. Doch sie sollte nicht ein weiteres Opfer eines verbrecherischen, despotischen Regimes bleiben, auf dessen Mord durch die Staatsorgane ein zweiter Tod durch das öffentliche Vergessen folgte. Er blieb nicht ungesühnt und auch nicht folgenlos.

Er entfachte eine Welle der Massenproteste und des Widerstandes, wie sie der Iran seit 2009, der sog. grünen Revolution gegen massiven Wahlbetrug des Regimes, nicht gesehen hatte. Nachdem der Tod Jina Mahsa Aminis bekanntgeworden war, gingen in Teheran und zahlreichen anderen Städten Tausende und Abertausende auf die Straße.

Ausbreitung der Bewegung

In den ersten beiden Monaten breitete sich die Bewegung über das gesamte Land und weite Bevölkerungsschichten aus. In den kurdischen Regionen legte sogar ein befristeter Generalstreik das öffentliche Leben lahm. In zahlreichen Städten bildeten die Universitäten ein Zentrum des Widerstandes, mit dem sich die Masse der Bevölkerung, insbesondere auch die Arbeiter:innenklasse solidarisierte. Von Beginn an standen die Frauen und die Jugend im Zentrum der Bewegung, bildeten ihre treibende Kraft, offenbarten den tief sitzenden Hass gegen das Regime. Millionen schlossen sich den Protesten an – trotzten der massiven Repression durch Polizei, Sondereinheiten und paramilitärische Schergen des Regimes.

Doch trotz extremer Brutalität, tausender Festnahmen, Verhaftungen und der Ermordung zahlreicher Demonstrant:innen auch in den ersten Wochen der Protestbewegung ließen sich die Massen nicht einschüchtern. Die Mullahs befanden sich eindeutig in der Defensive. Zu spät und zögerlich wurde eine Auflösung und „Reform“ der verhassten Sittenpolizei ins Spiel gebracht. Vom Regime inszenierte Gegenkundgebungen zu den Protesten blieben viel kleiner als die Massenaktionen der Opposition, offenbarten, wie gering die soziale Basis, wie verhasst die Mullahdiktatur und die politische und soziale Ordnung, die sie mit allen Mitteln verteidigt, waren und sind.

Die Bewegung erschütterte die herrschende Klasse und deren iranische Spielart des Kapitalismus. Aber sie vermochte trotz eines unglaublichen Heroismus nicht, das Regime zu stürzen. Der Staatsapparat und die Repressionsorgane wurden zwar erschüttert, aber ihr innerer Zusammenhalt und ihre Einsetzbarkeit gegen die Bewegung wurden nicht gebrochen. Das betraf nicht nur die direkten, professionellen inneren Repressionsorgane und paramilitärische Stützen des Regimes, sondern vor allem auch die Armee samt ihren rund 220.000 Wehrpflichtigen.

Die Reaktion schlägt zurück

Dies ermöglichte dem Regime, ab Ende 2022 immer massiver und zielgerichteter gegen die Bewegung vorzugehen. Es ertränkte sie geradezu in Blut und Gewalt. Weit mehr als 500 Demonstrierende wurden im letzten Jahr getötet. Insgesamt sollen rund 20.000 Menschen verhaftet worden sein. Außerdem wurden Dutzende aufgrund ihrer Beteiligung an der Bewegung oder als angebliche Rädelsführer:innen in Schauprozessen und Schnellverfahren zum Tode verurteilt und exekutiert. Insgesamt wurden seit September 2022 rund 500 Hinrichtungen vollstreckt. Die sog. Sittenpolizei verblieb in Amt und Würden.

Auch wenn die Bewegung zurückgedrängt und das Regime wieder konsolidiert wurde, so wurde bis heute die alte Ordnung nicht vollständig wiederhergestellt. Noch immer gehen Frauen mit offenen Haaren auf die Straße und brechen öffentlich die reaktionären Bekleidungsvorschriften des Regimes – trotz verschärfter Repression und drakonischer Strafen. Auch wenn diese Heldinnen gewissermaßen die Speerspitze der Entschlossenheit darstellen, so ist es nach wie vor gerade in den Städten kein Randphänomen und ihre Taten werden von vielen in der Bevölkerung mehr oder minder offen unterstützt. Dieser Widerstandswille blieb trotz des Rückgangs der Bewegung ungebrochen.

Doch was sind die Ursachen dafür?

Erstens haben sich die Menschen selbst verändert. Das gilt nicht nur für die Protestbewegung seit dem September 2022, die teilweise vorrevolutionäre Züge annahm. Im Grunde stehen das iranische Regime und die wirtschaftliche Elite seit 2019, dem Beginn einer vor allem von der Arbeiter:innenklasse getragenen ökonomischen und regimefeindlichen Bewegung, immer neuen Mobilisierungen gegenüber. Diese wurden von den Lohnabhängigen, von der städtischen und ländlichen Armut, ja selbst von großen Teilen der Mittelschichten und des Kleinbürger:innentums getragen. 2022 spielten die Frauen eine zentrale Rolle, aber auch die Jugend und die unterdrückten Nationen und Nationalitäten. Viele Aktive aus der Bewegung berichten davon, dass das Bewusstsein für verschiedene Formen gesellschaftlicher Unterdrückung in der Oppositionsbewegung deutlich gestiegen sei.

Hinzu kommt aber auch, dass die Streiks ab dem Jahr 2019 wie auch Massenproteste seit 2022 nicht nur mit Mobilisierungen das Regime erschütterten. Sie führten auch dazu, dass sich eine Schicht von gewerkschaftlich und politisch engagierten Aktivist:innen und Führungskernen bildete, von halblegaler und illegaler Organisation, die einer Bewegung auch in der Repression eine gewisse Kontinuität verleihen können.

Zweitens wurde die Herrschaftsbasis des Regimes dünner. Zweifellos konnten und können sich die Mullahs weiter auf einen aufgeblähten und parasitären Staats- und Repressionsapparat stützen. Sie verfügen auch über ein weitgehendes Monopol über die Medien und mit dem Klerus über einen zusätzlichen zentralen ideologischen Apparat. Sie stützen sich außerdem trotz der ökonomischen Krise nach wie vor auf eine Mehrheit der herrschenden kapitalistischen Klasse, die ihrerseits vom Regime nicht nur begünstigt wird, sondern auf deren parasitäre Sonderinteressen letztlich die Wirtschaftspolitik Teherans ausgerichtet ist.

Doch die Allianz von Bourgeoisie und Theokratie sowie angelagerten Staatsfunktionär:innen und kleinbürgerlichen Schichten, die eng mit dem Staat verbunden sind, verteidigt ihre eigenen Privilegien vor dem Hintergrund einer chronischen Stagnation und Krise, von massiver Inflation, Arbeitslosigkeit, Verarmung der Massen. Auch wenn Teheran seine internationale Isolierung durch Verbindungen mit China, Russland und das Abkommen mit Saudi-Arabien ein Stück weit durchbrechen kann, so ändert das an der wirtschaftlichen und sozialen Misere wenig. Anders als noch im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts vermag das Regime längst nicht mehr die ausgebeuteten und unterdrückten Klassen durch ökonomische Erfolge und Verbesserungen des Konsumniveaus zu befrieden.

Im Gegenteil. Auch das tägliche, „normale“ Leben wird immer schwieriger, immer unerträglicher. Das schlechte Leben fürchten viele mittlerweile mehr als Repression und Todesgefahr. Daher halten so viele trotz der Brutalität des Regimes an ihrem Widerstand oder jedenfalls an ihrer Sympathie dafür fest. Denn nur dieser verspricht Hoffnung auf ein besseres, menschenwürdiges Leben.

Diese chronische Krise, ja Sackgasse, in der das politisch-ökonomische Gesamtsystem des Iran steckt, hat zu einer extremen Entfremdung der Mehrheit der Bevölkerung geführt, aller, die nicht über Privilegien, Profite und Klientelismus mit dem Regime verbunden sind. Dessen Herrschaft muss sich mehr und mehr auf Gewalt und Repression stützen. Damit ist auch die nächste Revolte, der nächste gesellschaftliche Ansturm vorprogrammiert. Am Jahrestag der Proteste, die Jina Mahsa Aminis Tod entfacht hat, wird es sicher wieder zu Aktionen und Demonstrationen im ganzen Land kommen. Auch wenn es leider unwahrscheinlich ist, dass diese die Bewegung neu entfachen werden, so sollten wir nicht vergessen, dass zwischen den Massenmobilisierungen 2019 und 2022 nur drei Jahre lagen. Auch wenn wir nicht überoptimistisch sein dürfen und damit rechnen müssen, dass es einige Zeit dauert, bis sich die Aktivist:innen und die Bewegung von 2022 neu und möglicherweise auch um einen neuen Fokus wieder formiert, so ist eine nachhaltige politische, soziale und ökonomische Konsolidierung des Regimes nahezu ausgeschlossen.

Umso wichtiger ist es, die Lehren daraus zu ziehen, warum die Bewegung 2022 das Regime nicht stürzen und ihre Ziele nicht erreichen konnte. Dies ist unerlässlich, wenn wir uns darauf vorbereiten wollen, bei einem nächsten Ansturm erfolgreich zu sein.

Die Bewegung hatte im September und November das Regime politisch in die Defensive gedrängt. Mehr und mehr Sektoren der Gesellschaft schlossen sich an. In einigen Branchen kam es zu landesweiten Arbeitsniederlegungen, in den kurdischen Regionen zu befristeten Generalstreiks. Aber auch wenn es Verbindungen zwischen einzelnen sozialen Bereichen, den Universitäten, Betrieben, Städten und Regionen gab, so wurden keine zentralisierenden, die Bewegung zusammenfassenden Kampfstrukturen gebildet.

Generalstreik und Bewaffnung

Diese wären jedoch unbedingt notwendig gewesen, um den spontanen Elan der Massen zu bündeln, in der gemeinsamen landesweiten Aktion gegen das Regime – kurz in einem unbefristeten Generalstreik zu seinem Sturz. Ein solcher Generalstreik hätte zugleich mit der Einberufung von regelmäßigen Massenversammlungen und der Wahl von Aktionsräten zur Koordinierung und Leitung des Kampfes einhergehen müssen. Er hätte zugleich die Etablierung seiner Schutzeinheiten erfordert. Ohne Selbstverteidigungseinheiten, ohne Milizen der Arbeiter:innen und Volksmassen, ohne Gewinnung der einfachen Soldat:innen der Armee und die Bildung von Soldat:innenausschüssen und -räten hätte die zentralisierte, bewaffnete Macht des Regimes nicht gebrochen werden können.

Doch eine solche Politik muss politisch und ideell vorbereitet werden, um von den Massen auch aufgegriffen werden zu können. In entscheidenden Situationen werden sie nicht spontan verwirklicht. Es erfordert vielmehr eine politische Kraft, die für diese Perspektive kämpft und ihr ein politisches Ziel gibt.

Eine solche Kraft gab es nicht. Und selbst wenn sich ein Generalstreik und Räte aus der Dynamik des Kampfes entwickelt hätten, also eine Doppelmachtsituation entstanden wäre, so hätte das noch nicht das gesamte Problem gelöst.

Welche Revolution?

Ein Generalstreik hätte also die Frage aufgeworfen: Wer herrscht im Iran, welche gesellschaftliche Kraft, welche Klasse übernimmt die Macht?

Die Bewegung hätte damit auch vor der Frage gestanden, welche Revolution nötig ist, um ihre demokratischen Forderungen und die Klassenwidersprüche, die sie hervorgebracht haben, zu lösen. Sollte die Umwälzung auf eine rein bürgerliche, auf die Einführung der rechtlichen Gleichheit der Frauen und parlamentarisch-demokratische Verhältnisse beschränkt sein? Oder musste sie nicht vielmehr demokratische und sozialistische Aufgaben verbinden, die Revolution permanent machen?

Die Erfahrung der iranischen Revolution (und eigentlich aller Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts) zeigen, dass die demokratischen Forderungen – im Iran insbesondere die nach Gleichheit und Freiheit der Frauen – untrennbar mit der Klassenfrage verbunden sind.

Wirkliche Befreiung ist für die Frauen und unterdrückten Nationalitäten im Rahmen des Kapitalismus im Iran letztlich unmöglich. Ihre Unterdrückung mag unter einer anderen bürgerlichen Herrschaftsform oder einer anderen Elite allenfalls elastischere Formen annehmen (und selbst das ist keineswegs sicher).

Die Verbesserung der Lage der Massen – und insbesondere der Frauen und der unterdrückten Nationen – ist unmöglich, ohne die Profite, den Reichtum, die Privilegien, das Privateigentum der herrschenden Klasse im Iran anzugehen. Umgekehrt kann sich die Arbeiter:innenklasse selbst nur dann zur wirklich führenden Kraft einer Revolution aufschwingen, wenn sie die entscheidenden gesellschaftlichen Fragen mit denen ihrer eigenen Befreiung, der Enteignung des Kapitals und der Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft verbindet. Ansonsten wird das Proletariat – unabhängig vom Geschlecht – weiter eine Klasse von Lohnsklav:innen bleiben.

Die Klärung dieser Frage ist aber unbedingt notwendig, weil in der iranischen Oppositionsbewegung auch bürgerliche und direkt reaktionäre, monarchistische Kräfte wirken (inklusive des westlichen „demokratischen“ Imperialismus). Deren Programm besteht im Grunde darin, dass an die Stelle der aktuellen, islamistischen Sklavenhalter:innen neue, bürgerliche und prowestliche treten (wenn nötig, im Bündnis mit Teilen des aktuellen Regimes).

Eine politische Kraft, die hingegen konsequent die Interessen der Arbeiter:innenklasse zum Ausdruck bringt, muss mit allen unterdrückerischen Klassen und ihren Parteien brechen. Und das heißt zuerst, sie darf ihre Ziele nicht auf rein demokratische, rein bürgerliche beschränken.

Die Frage von Sieg oder Niederlage ist dabei nicht nur eine des Überlebens für die iranischen Massen, sondern auch von zentraler Bedeutung für den Befreiungskampf im gesamten Nahen Osten, vor allem in jenen Ländern, wo das iranische Regime einen unmittelbar konterrevolutionären Einfluss ausübt.

Revolutionäre Partei

Eine solche Perspektive und ein revolutionäres Programm, das demokratische und soziale Forderungen mit sozialistischen verbindet und in der Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung gipfelt, entstehen nicht von alleine. Sie erfordern eine Kraft, die bewusst dafür in der Arbeiter:innenklasse, an den Universitäten und Schulen, unter der Jugend, den Frauen und unterdrückten Nationalitäten kämpft.

Nur so kann der stetige Vormarsch der Konterrevolution hier und jetzt gestoppt werden – und diejenigen, die am beharrlichsten für solche Forderungen kämpfen und dabei nicht nur die Lehren aus den letzten vier Monaten, sondern letzten vier Jahrzehnten ziehen, sind diejenigen, die mit dem Aufbau dieser Kraft, einer revolutionären Partei, beginnen können. Nur eine solche Partei wird in der Lage sein, den Kampf unter allen Bedingungen zu führen, im Untergrund zu operieren, wenn es nötig ist, und in Streiks, Gewerkschaften und vor allem in Massenbewegungen in Zeiten des Aufschwungs der Kämpfe einzugreifen.




Krise und Wandel der Arbeiter:innenklasse

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

Seit ihrer Entstehung bildete die Arbeiter:innenklasse nie eine „geschlossene“ soziale Gruppe, sondern ihre Existenz wird immer von inneren Schichtungen und Differenzierungen gezeichnet. Im Unterschied zum Nominalismus der bürgerlichen Soziologie, die, sofern sie überhaupt auf „Klasse“ rekurriert, diese als Attribut bestimmter Personen fasst (Einkommenshöhe, Berufsstand usw.), kennzeichnet den marxistischen Klassenbegriff, dass er Klassen als Verhältnis zwischen Gruppen von Menschen begreift. Ohne Kapital keine Lohnarbeit und umgekehrt. Die Wandlung des Kapitals bestimmt dabei wesentlich die Schichtung, Umwälzung, stetige Neuzusammensetzung der Lohnabhängigen.

Im „Kapital“ entwickelt Marx im Kapitel über das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation, dass das Wachstum und der Wandel des Kapitals selbst die Reproduktionsbedingungen der Arbeiter:innenklasse entscheidend bestimmen.

„Wir behandeln in diesem Kapitel den Einfluß, den das Wachstum des Kapitals auf das Geschick der Arbeiterklasse ausübt. Der wichtigste Faktor bei dieser Untersuchung ist die Zusammensetzung des Kapitals und die Veränderungen, die sie im Verlauf des Akkumulationsprozesses durchmacht.“[i]

Dabei zeigt er, dass selbst bei unveränderter technischer Grundlage des Produktionsprozesses die Zusammensetzung der Lohnabhängigen, die Zahl der beschäftigten, unterbeschäftigten und erwerbslosen Arbeiter:innen bedingt wird durch die Kapitalbewegung. Da Kapitalismus aber notwendigerweise mit einer ständigen Umwälzung der Produktion einhergeht, prägt er in einem noch viel größeren Umfang die Zusammensetzung der Klasse, ja, ihre gesamte Existenz.

„Die Akkumulation des Kapitals, welche ursprünglich nur als seine quantitative Erweiterung erschien, vollzieht sich, wie wir gesehn, in fortwährendem qualitativen Wechsel seiner Zusammensetzung, in beständiger Zunahme seines konstanten auf Kosten seines variablen Bestandteils.“[ii]

Das einzig wirklich Konstante an der Arbeiter:innenklasse ist also ihre ständige Veränderung. In Phasen der Expansion und Prosperität kann dabei die Ausbeutung vergleichsweise dehnbare, „bequeme und liberale“ Formen annehmen. Davon sind wir freilich seit Jahrzehnten weit entfernt. Die gegenwärtige Krisenperiode geht nicht nur mit einer grundlegenden Veränderung der Arbeiter:innenklasse und aller gesellschaftlichen Beziehungen einher, sondern vor allem auch mit einer Verschlechterung der ökonomischen und sozialen Lage der Klasse insgesamt. Dies vollzieht sich jedoch keineswegs linear, für alle gleich. Im Gegenteil. Die ungleiche und kombinierte Entwicklung des globalen Kapitalismus manifestiert sich auch in einer globalen Veränderung der Zusammensetzung der Klasse. Bestehende grundlegende Ungleichheiten wie jene zwischen den Arbeiter:innen in den imperialistischen Zentren und in den Halbkolonien werden massiv verschärft. Aber auch die innere Differenzierung, z. B. zwischen der Arbeiter:innenaristokratie einerseits und den unteren Schichten der Lohnabhängigen, den Working Poor, andererseits, wird tendenziell größer.

In den ersten Abschnitten des Artikels wollen wir daher die wichtigsten Veränderungen skizzieren, um deren Rückwirkung auf die gewerkschaftlichen und politischen Organisationen der Klasse zu betrachten. Im letzten Abschnitt werden wir kurz auf die Frage der revolutionären Politik als Antwort auf diese Krise eingehen:

1.) Eine Darstellung wesentlicher Veränderungen der Arbeiter:innenklasse in der Globalisierungsperiode;

2.) die Auswirkungen der Pandemie und globale Entwicklungstrends;

3.) die Arbeiter:innenbewegung und die Führungskrise des Proletariats;

4.) die Verbindung zur Krise der Arbeiter:innenbewegung und zur Führungskrise des Proletariats;

5.) Historische Erfahrungen, strategische und taktische Schlussfolgerungen für den Aufbau revolutionärer Parteien.

1. Veränderungen der Arbeiter:innenklasse in der Globalisierungsperiode

Seit Beginn der Globalisierungsperiode, also seit dem Zusammenbruch der ehemaligen degenerierten Arbeiter:innenstaaten, macht auch das Proletariat weltweit einen grundlegenden Wandlungsprozess durch. Dies trifft sowohl auf die Jahre vor der Rezession und Krise 2008 – 2010 zu wie auch auf jene bis zur Coronakrise. In mehrfacher Hinsicht traten dabei die Entwicklungen in den Jahren der Globalisierungsperiode nach 2010 noch deutlicher hervor, die Umwälzungen vollzogen sich im beschleunigten Tempo.

In den ersten Abschnitten des Artikels wollen wir die wichtigsten dieser Veränderungen zusammenfassen, um danach die Rückwirkung dieser Veränderungen auf die gewerkschaftlichen und politischen Organisationen der Klasse zu betrachten.

1.1 Die Verlagerung der industriellen Arbeiter:innenklasse

Bis 2019 ist die Arbeiter:innenklasse weltweit weiter gewachsen. Allerdings haben sich mit veränderter Produktionsstruktur die Zentren der Klasse verlagert, v. a. nach Asien. Das betrifft hauptsächlich das massive Anwachsen des Proletariats in China, aber auch in Indien und anderen Ländern Ost- und Südostasiens. Die gewaltige Umwälzung und das Wachstum der Arbeiter:innenklasse in China bilden letztlich die Basis für die Etablierung einer neuen imperialistischen Macht und deren Expansion. Dabei entstand zugleich eine neue gesellschaftliche, revolutionäre Kraft, die sich allerdings ihrer politischen Möglichkeiten (trotz enormer ökonomischer Kampfaktivität) noch kaum bewusst ist.

Neben China ist die Arbeiter:nnenklasse auch in einer Reihe von Ländern in Ostasien und in Indien gewachsen. Länder wie Brasilien erlebten diesen Proletarisierungsschub schon in den 1980er Jahren, städtische Zentren wie der Großraum Sao Paulo gehören seither zu den konzentriertesten Industriegebieten der Welt mit Millionen Lohnabhängigen. Die Erfahrungen der Tigerstaaten Asiens (Indonesien, Südkorea) infolge der Währungskrise Ende der 1990er Jahre zeigten jedoch schon damals, wie fragil der industrielle Aufschwung und die Kapitalbildung in solchen, letztlich von einer oder mehreren imperialistischen Mächten dominierten, im Weltmarkt untergeordneten Staaten sind.

So bedeutsam das Anwachsen der Arbeiter:innenklasse in Ländern wie Brasilien, Vietnam, Indonesien, Indien oder auch der Türkei ist,  handelt es sich letztlich um die Formierung eines Proletariats in halbkolonialen Ländern, dessen Entwicklung in letzter Instanz vom Fluss des imperialistischen Anlagekapitals abhängt (was keineswegs ausschließt, dass sich in diesen Staaten auch weltmarktfähige einzelne Großkapitale bilden).

An dieser Stelle müssen wir genauer zwischen verschiedenen Ländern und ihrer ökonomischen Entwicklung im XI. Weltmarktzyklus nach dem Zweiten Weltkrieg (2010 – 2019) differenzieren. China und Indien durchliefen einen lang anhaltenden, expansiven Zyklus. Verglichen mit dem Jahr 2007 verdoppelte sich das preisbereinigte BIP in China bis 2016 und in Indien bis 2017. Diese Entwicklung spiegelt natürlich nicht direkt das Anwachsen der Profitmasse und auch nicht der beschäftigten Lohnarbeit wider, aber es reflektiert kapitalistisches Wachstum in einem gigantischen Ausmaß – inklusive des massiven Wachstums der Arbeiter:innenklasse in beiden Ländern.

Diese Entwicklung kontrastiert extrem mit der anderer BRICS-Staaten, deren Wachstum im Vergleichszeitraum 2007 – 2017 bescheiden ausfällt: Südafrika (plus 19 %), Brasilien (plus 16 %), Russische Föderation (plus 12 %). In bereinigten BIP-Größen ausdrückt, verblieben sie damit entweder auf dem Niveau der G7-Staaten oder, im Falle Russlands, deutlich darunter. Hinzu kommt, dass viele sog. Schwellenländer ab Mitte des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts selbst in verstärkte Krisen geraten sind, darunter auch solche wie die Türkei, die unmittelbar nach der großen Rezession als ökonomisch recht dynamisch erschienen. Der Grund dafür liegt wesentlich in den Bewegungen des globalen Finanzkapitals begründet und der Antikrisenpolitik der USA und der EU, die zu einem Abzug von Kapital aus vielen Halbkolonien führten und Währungen sowie ganze Volkswirtschaften unter Druck setzten. Das äußert sich auch in viel instabileren, rasch nach oben und unten ausschlagenden Konjunkturbewegungen dieser Länder.

Auch wenn sich Russland z. B. als imperialistische Macht neu etabliert hat, so entspricht der Anteil der produktiven Arbeit (Arbeit, die Mehrwert für das Kapital schafft) zahlenmäßig nur einem Bruchteil der Arbeiter:innen in der früheren Sowjetunion. Der Anteil an der Industrieproduktion ist historisch gering, während die Sowjetunion noch bis zu ihrem Zusammenbruch die zweitgrößte Industrienation der Welt war.

In den tradierten imperialistischen Zentren (Nordamerika, Westeuropa, Japan, Australien) können wir schon vor dem Zusammenbruch des Stalinismus eine Verringerung des industriellen Proletariats feststellen. Der Anteil der „Dienstleistungen“ ging generell nach oben, auch wenn die bürgerliche Statistik den Trend systematisch übertreibt, weil etliche Dienstleistungen durchaus Formen produktiver Arbeit darstellen und Mehrwert für das Kapital schaffen. Hinzu kommt darüber hinaus eine große Ungleichheit in der Entwicklung unter den verschiedenen lange etablierten, westlichen imperialistischen Mächten. Japan und Deutschland haben sich bis heute eine vergleichsweise stärkere industrielle Basis (und einen industriellen Exportsektor) erhalten. Das industrielle Kapital – und damit auch die industrielle Arbeiter:innenklasse – spielen eine vergleichsweise größere Rolle als in den USA oder Britannien. Frankreich und Italien wiederum kämpfen damit, dass ihr nationales

Kapital in der Konkurrenz dem deutschen strukturell unterlegen ist.

1.2 Vertiefte Unterschiede

Die letzten Jahrzehnte und besonders die Krise 2008 – 2010 haben auch hier die Unterschiede enorm vertieft. In den meisten „alten“ imperialistischen Staaten brach infolge der Krise die Industrieproduktion ein und erreichte über Jahre nicht das Niveau der Phase vor 2007. Wenn wir April 2008 als Bezugspunkt nehmen – also den Beginn der globalen  Krise –, so erreichte die Industrieproduktion in Frankreich bis November 2013 nur 85 Prozent dieses Niveaus, jene Britanniens 87,3 Prozent und jene Japans 85,1 Prozent. Nur die USA hatten zu diesem Zeitpunkt das Niveau des Jahres 2008 übertroffen – um ein Prozent. Deutschland hatte es fast erreicht und lag nur 1,3 Prozentpunkte unter dem Niveau von 2008.[iii]

Die Entwicklung in den USA, Deutschland und Kanada im XI. Weltmarktzyklus unterscheidet sich signifikant von jener Britanniens, Italiens, Frankreichs und Japans, wenn wir die Jahre 2007 – 2017 vergleichen. Die USA profitieren davon, dass sie mehr als andere Nationen die Kosten der Krise auf den „Rest der Welt“ abwälzen konnten und weiter der größte und wichtigste Binnenmarkt der Welt sind. Deutschland konnte sich einigermaßen schadlos halten, weil sein Exporterfolg auch auf der Dominanz über seine Konkurrent:innen in der Eurozone basiert.

Jedenfalls durchlaufen die USA, Deutschland und Kanada nach der großen Rezession einen zyklischen Aufschwung, was auf andere Konkurrent:innen nicht oder nur eingeschränkt zutrifft.[iv]

Die massive Verlagerung der produktiven Arbeit im Weltmaßstab geht mit einer Entwicklung einher, die wir schon seit Jahren beobachten können: Das Schrumpfen des industriellen Proletariats bis hin zur weitgehenden Deindustrialisierung ganzer Länder. In Südeuropa hat sich, v. a. in Griechenland, der Prozess rasant fortgesetzt. Bedeutende Teile der Arbeiter:innenklasse sind langfristig arbeitslos oder unterbeschäftigt. Solche Länder folgten damit dem Beispiel Osteuropas, wo nach 1990 ein großer Teil der Industrie vernichtet wurde. Anders als der Süden Europas erlebten jedoch einzelne Länder oder industrielle Branchen dort eine Stärkung als Zulieferer:innen oder Vorproduzent:innen von westlichen, v. a. deutschen Konzernen.

Außerhalb Europas entwickelte sich die Lage noch weitaus dramatischer, besonders in Afrika. Hier sind ganze Länder praktisch seit Jahrzehnten deindustrialisiert oder davon bedroht. Dasselbe gilt für einige Länder der arabischen Welt (also jene, die nicht im Golfkooperationsrat vertreten sind).

Im Extremfall hat sich in diesen Staaten – insgesamt die am härtesten getroffenen Opfer imperialistischer Ausplünderungen oder „Neuordnungsversuche“ (siehe Irak, Afghanistan) – die gesellschaftliche Krise vertieft und verstetigt. Es existiert kaum eine Industriearbeiter:innenschaft, ja, die Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs und damit selbst die eines staatlichen Gebildes und gesellschaftlicher Klassen ist in Frage gestellt. Die Gesellschaften und Staaten zerfallen: Sie zeigen in extremis, was immer größeren Teilen der Menschheit bei einem Fortschreiten der Krise droht.

1.3 Anwachsen der unteren Schichten des Proletariats

Während die Arbeiter:innenklasse in den letzten Jahrzehnten gewachsen ist, nahmen die Differenzierungen, die Schichtungen und Unterschiede im Proletariat weiter zu. Natürlich stellt dies keine ungebrochene Tendenz dar. Gerade die zunehmende Verschlechterung der Lebenslage der Mehrheit der Lohnabhängigen hat auch eine nivellierende, vereinheitlichende Wirkung. Eindeutig ist jedoch der Unterschied zwischen der Lebenslage der „oberen“, bessergestellten Schichten der Klasse und dem wachsenden Anteil „prekärer“, überausgebeuteter Teile größer geworden.

In praktisch allen imperialistischen Ländern sind seit den 1980er Jahren immer größere Teile der Klasse von Unterbeschäftigung, von „prekären“ Arbeitsverhältnissen, Teilzeitarbeit usw. betroffen und bilden ein wachsendes Segment der Lohnabhängigen, das von „Niedriglohn“ leben muss. Darunter ist nicht einfach „schlechte Bezahlung“ zu verstehen. Ein immer größerer Teil der Arbeiter:innenklasse wird gezwungen, seine Arbeitskraft unter den Reproduktionskosten zu verkaufen.

In den meisten imperialistischen Ländern (wie auch in den degenerierten Arbeiter:innenstaaten und selbst einigen Halbkolonien) hatten sich in der Nachkriegsperiode Verhältnisse etabliert, die ab den 1950er, spätestens jedoch in den 1960er und auch 1970er Jahren (also grob gesagt bei einer ganzen Generation) den Eindruck erwecken konnten, dass die nächste Generation der Lohnabhängigen materiell besser gestellt wäre als ihre Eltern.

Doch dies war an historisch außergewöhnliche Bedingungen geknüpft: die Kapitalvernichtung nach dem Zweiten Weltkrieg, die Erneuerung des Produktionsapparates in zahlreichen Ländern, die Möglichkeit, „überschüssiges“ US-Kapital zum Aufbau auf der ganzen Welt zu nutzen, bei gleichzeitiger Wiederbelebung und Expansion wichtiger imperialistischer Rival:innen (v. a. Deutschlands und Japans), die enorm gesteigerte Ausbeutungsrate der Arbeiter:innenklasse während des Krieges in den faschistischen und demokratischen Ländern, die Etablierung der USA als klare Führungsmacht unter den imperialistischen Staaten und damit des US-Dollars als Weltgeld und die Öffnung der Kolonialmärkte Britanniens und Frankreichs (was letztlich die Abschaffung des Kapitalismus in Osteuropa und China kompensieren konnte).

So konnten Akkumulationsbedingungen geschaffen werden, die es für mehrere Konjunkturzyklen ermöglichten, die Steigerung der Profitmasse mit einer Erhöhung des Konsums der Arbeiter:innenklasse zu kombinieren – nicht zuletzt, weil die vorherrschende Form der Erhöhung des Mehrwerts die Produktion des relativen Mehrwerts war. Das Proletariat wuchs enorm, und zugleich war die Nachkriegsperiode auch von einer weit größeren Bedeutung der Konsumgüterindustrie geprägt.

Die „neoliberale Wende“ mit historischen Angriffen auf die Arbeiter:innenklasse unter Reagan und Thatcher und der Umstrukturierung in Lateinamerika änderte das. Der Zusammenbruch der bürokratischen Planwirtschaften der Sowjetunion und Osteuropas verschärfte das noch dramatisch, schuf eine industrielle Reservearmee und eröffnete neue Ausbeutungsgebiete. Die Rekapitalisierung Russlands, Osteuropas und Chinas ging mit einer grundlegenden Veränderung des globalen Kräfteverhältnisses am Beginn der 1990er Jahre einher, was den USA die zeitweilige Festigung einer hegemonialen Vorherrschaft erlaubte, die seit den 1970er Jahren schon mehr und mehr erodiert war.

Alle diese Veränderungen haben bezüglich der Neuzusammensetzung der Klasse zu zwei grundlegenden Erscheinungen geführt: erstens der Entstehung eines permanenten Sockels von Langzeitarbeitslosen, die nicht mehr in den Arbeitsprozess integriert werden können. Selbst in den Perioden des Aufschwungs verschwindet er längst nicht mehr. D. h., ein beachtlicher Teil des Proletariats kann seine Arbeitskraft nicht verkaufen, droht ins Sub- oder gar Lumpenproletariat abzusinken.

Laut ILO waren Ende 2013 199,8 Millionen Lohnabhängige arbeitslos. Die Zahl der Arbeitslosen ist damit um 30,6 Millionen größer als vor der großen Krise und wurde v. a. in den „Industrieländern“, also, grob gesprochen, den imperialistischen Staaten, kaum abgebaut.[v] Der aktuelle Bericht der ILO vom Januar 2023 spricht von rund einer halben Milliarde Lohnarbeiter:innen, die entweder als statistisch erfasste Arbeitslose oder als „permanent“ aus dem Arbeitsmarkt Ausgeschiedene dem Markt entzogen sind.[vi]

Zweitens hat sich in allen lang etablierten imperialistischen Ländern eine bedeutende Schicht von Arbeiter:innen gebildet, die unter ihren Reproduktionskosten entlohnt werden, „Working Poor“, Billigjobber:innen, „Prekariat“. Diese oft weiblich, jugendlich und migrantisch geprägten Teile der ArbeiterInnenklasse machen z. B. in Deutschland mittlerweile rund ein Viertel der Lohnabhängigen aus, in vielen anderen Ländern sogar mehr.

In den Halbkolonien hat diese Entwicklung noch weit extremere Formen angenommen. In den letzten Jahrzehnten haben sich weltweit „Megastädte“ gebildet – einschließlich erbärmlicher Wohn- und Lebensverhältnisse für Abermillionen Proletarier:innen. Das hat dazu geführt, dass mittlerweile die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten und nicht mehr auf dem Land lebt.

2013 müssen rund 1,2 Milliarden Menschen mit weniger als 1,25 US-Dollar/Tag ihr Auskommen fristen; geschätzte 2 Milliarden (also fast ein Viertel der Weltbevölkerung) leben heute von 2 US-Dollar/Tag oder noch weniger. Dazu zählen natürlich große Teile der Landarmut, von Bauern/Bäuerinnen, Landlosen, Flüchtenden usw. –, aber eben auch Abermillionen Einwohner:innen dieser riesigen städtischen Ballungszentren. Von den LohnarbeiterInnen der Welt leben lt. ILO geschätzte 447 Millionen von einem Einkommen unter 1,25 US-Dollar/Tag.[vii]

Dabei speist sich die Verstädterung aus zwei unterschiedlichen Quellen. Einerseits sind v. a. in Asien (davor aber auch in Brasilien) Städte gewachsen, teilweise regelrecht aus dem Boden gestampft worden, die zu riesigen industriellen Zentren auswuchsen, samt einer überausgebeuteten Industriearbeiter:innenschaft. So hatten die Wanderarbeiter:innen – die weltweit größte Welle der Arbeitsmigration – einen enormen Anteil am chinesischen „Wirtschaftswunder“.

Ähnlich der Entwicklung des Frühkapitalismus wurde „überschüssige“ Landbevölkerung, die ihrerseits keine oder kaum noch Existenzmöglichkeiten auf dem Land hatte, von industriellen Investor:innen angezogen und folgte ihnen. Etliche der chinesischen Städte, die heute Millionenstädte sind, waren noch vor einigen Jahrzehnten Kleinstädte oder gar Dörfer. Manche mögen auch mit dem „Weiterziehen“ des Kapitals im nächsten Zyklus wieder schrumpfen.

Entscheidend ist jedoch, dass sich bei dieser Form der Migration zur Stadt eine neue, produktive Arbeiter:innenklasse samt aller möglichen weiteren Bevölkerungsgruppen, die zu Großstädten gehören, bildet. Auch wenn diese Lohnabhängigen als extrem ausgebeutete, entrechtete, oft auch „illegale“ Arbeitskräfte beginnen, so entwickeln sie mehr oder weniger „spontan“ Formen des ökonomischen Kampfes und beginnen früher oder später, für höhere Einkommen zu kämpfen, um ihre eigene Reproduktion zu sichern.

Das Anwachsen von Megastädten führt aber auch zu einer anderen Tendenz, die für bestimmte Ballungszentren geradezu typisch ist. Millionen werden vom Land vertrieben, weil sie dort kein Auskommen finden, was natürlich oft noch durch Kriege, sozialen Niedergang, klimatische Katastrophen verschärft wird. Doch in den städtischen Zentren werden sie auch als Lohnabhängige nicht gebraucht. In immer mehr Halbkolonien bilden sie eine wachsende Masse von Menschen, die sich abwechselnd als Gelegenheitsarbeiter:innen, kleine „Händler:innen“, Kriminelle, Paupers usw. verdingen muss. Ihnen allen ist gemein, dass sie ihre Existenz selbst als extrem ausgebeutete und marginalisierte Schichten kaum sichern können. Der Kapitalismus hat für sie sogar als billigstes Ausbeutungsmaterial keine oder nur gelegentliche Verwendung.

Im „Kommunistischen Manifest“ beschreiben Marx und Engels eindrücklich, dass die Krisen im Kapitalismus einen solchen Zustand hervorrufen, der die Reproduktion des/der Lohnsklav:in als solche/n immer prekärer macht.

„Der moderne Arbeiter dagegen, statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus entwickelt sich noch rascher als Bevölkerung und Reichtum. Es tritt hiermit offen hervor, daß die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muß, statt von ihm ernährt zu werden.“[viii]

Für Milliarden Menschen ist heute das Leben als Pauper oder an der Grenze zum Pauperismus Realität – und nur Phantast:innen können davon träumen, dass der Kapitalismus für diese eine bessere Zukunft bieten kann.

Neben den Wanderungsbewegungen in städtische Zentren ist die Migration von der „Peripherie“ in die Zentren des Weltkapitalismus ein Kennzeichen der gesamten imperialistischen Epoche, v. a. der letzten Jahrzehnte. Die Verheerungen des globalen Kapitalismus haben Millionen in Mexiko und anderen zentralamerikanischen Ländern oder in Osteuropa weiter entwurzelt, „überflüssig“ gemacht. Das gilt ebenso für zahlreiche Länder des arabischen Raums, Afrikas oder Asiens. Nur ein geringer Teil der Flüchtlinge und Arbeitsmigrant:innen versucht dabei, die eine Lebensperspektive versprechenden Zentren Nordamerikas oder Westeuropas zu erreichen. Die meisten scheitern an den rassistisch abgeschotteten Außengrenzen. Zehntausende krepieren beim Versuch, „illegal“ in die Zentren des Weltimperialismus zu gelangen.

Dort drohen ihnen Abschiebung und entwürdigende Behandlung als Bittsteller:innen. Bestenfalls werden sie als passgerechte Arbeitskräfte mit weniger oder gar keinen sozialen Rechten, geringeren Löhnen, als Menschen zweiter Klasse verwendet. „Integration“ ist trotz ihrer permanenten Beschwörung letztlich nicht gewünscht. Daher werden auch Menschen der zweiten und dritten Generation, also die Kinder von Migrant:innen, bis heute als „Ausländer:innen“ behandelt, als „Gastarbeiter:innen“, die nach getaner Arbeit möglichst wieder verschwinden sollen.

Dieses System findet sich in fast noch extremerer Form in manchen Halbkolonien, v. a. in den arabischen Golfstaaten oder Ländern wie Libyen, deren Nationaleinkommen sich im Wesentlichen aus der Grundrente speist und wo ein Großteil der Arbeit von Migrant:innen geleistet wird.

Die Arbeitsmigration ist ein wichtiger Lebensaspekt der weltweiten Arbeiter:innenklasse geworden. Ein immer größerer Teil ist gezwungen, Grenzen zu überschreiten – oft unter erbärmlichsten Bedingungen. Diese mit unendlichem menschlichen Leid verbundenen Wanderungsbewegungen haben aber auch einen enorm revolutionierenden Aspekt. Sie stellen lokale oder nationale „Traditionen“ in Frage, untergraben den oft jahrzehntelang etablierten Konservatismus der „einheimischen“ Arbeiter:innen (einschließlich früherer Generationen von Migrant:innen), schaffen länder- und sprachübergreifende Verbindungen.

Die Integration der Migrant:innen und Flüchtlinge in die Arbeiter:innenbewegung kann dabei letztlich nur über den gemeinsamen Klassenkampf erfolgen – sie ist folglich eine Schlüsselaufgabe der gegenwärtigen Periode. Sie kann nur durch einen unversöhnlichen Kampf gegen Chauvinismus, Rassismus, Nationalismus, aber auch „mildere“ Formen der Bevormundung und des unkritischen Verteidigens der „eigenen“ etablierten „Arbeiter:innen“kultur (in der Regel ohnedies nur als eine unter den Lohnabhängigen etablierte Form der bürgerlichen Kultur) bewältigt werden.

Abschließend wollen wir die globale Expansion der unteren Schichten des Weltproletariats noch an einigen Zahlen aus dem Jahr 2019, also vor der Coronapandemie und der damit verbundenen Rezession, illustrieren.

Lt. Berechungen der ILO[ix] waren 2019 2 Milliarden Arbeiter:innen im informellen Sektor beschäftigt oder rund 60 % aller Beschäftigten. D. h., die Masse der lohnabhängig Beschäftigten betrug rund 3,33 Milliarden, was nicht mit der Gesamtgröße der Arbeiter:innenklasse gleichgesetzt werden darf, da diese auch nicht-erwerbstätige Angehörige (zumeist Frauen), Kinder und nicht-beschäftigte Jugendliche, nicht mehr Arbeitssuchende und Rentner:innen inkludiert. Zweitens verbergen sich hinter dem Verhältnis enorme Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen der Welt.

Dies zeigt ein Vergleich der „informality rate“ (Prozentsatz der informellen Arbeit) in verschiedenen Regionen im Jahr 2021:

Region Gesamt Männer Frauen
Afrika 82,9 80,0 86,6
Nordamerika 19,1 19,1 19,1
Lateinamerika und Karibik 56,4 56,2 56,7
Arabische Staaten (Gesamt, ohne Nordafrika) 60,2 61,1 55,6
Ostasien (inklusive China und Japan) 50,9 52,3 48,8
Südostasien und Pazifik 69,1 69,4 68,5
Südasien (Indien, Pakistan, Bangladesch) 87,6 87,2 89,3
Süd-, Nord- und Westeuropa 17,5 16,1 19,1
Osteuropa (inkl. Russland) 21,7 23,3 19,8
Zentral- und Westasien 45,1 43,3 47,7

Quelle: ILO, World Econmic Outlook 2021, Tabelle selbst erstellt

Obige Tabelle spiegelt natürlich nicht direkt die Verteilung der Arbeiter:innenklasse wider. Informelle Arbeit ist beispielsweise nicht identisch mit Löhnen, die unter den Reproduktionskosten liegen (das kann einerseits auch im „formellen“ Sektor vorkommen, andererseits erstreckt sich die informelle Beschäftigung in manchen Ländern, z. B. in Indien, auch auf höher qualifizierte Berufe und kann in solchen Fällen auch ein Einkommen über den Reproduktionskosten schaffen). Darüber hinaus sind die statistischen Zahlen in einigen Ländern sehr unzuverlässig und auch die Vergleichbarkeit der Erhebungen ist schwierig. Aber diese Zahlen bieten einen Indikator für die globale imperialistische Ausbeutung.

Auch wenn in den imperialistischen Zentren der informelle Sektor in den letzten Jahrzehnten massiv zugelegt hat, so liegt er dort bei 20 % oder darunter. China hat zweifellos einen für eine imperialistische Macht vergleichsweise großen informellen Sektor, und die Zahlen bedürfen sicher einer gesonderten Analyse. Sie verweisen aber auf die große Ungleichzeitigkeit der kapitalistischen Entwicklung in diesem Land, die sich in einem großen informellen Sektor und einem enorm gewachsenen Gegensatz von Stadt und Land äußert.

Auch die geschlechtliche Zusammensetzung verweist zwar auf ein Übergewicht von Frauen, keinesfalls jedoch in allen Regionen. Das hängt sowohl mit der Struktur der Ökonomie zusammen als auch mit dem Arbeitsregime. So ist eine Ursache des relativ hohen Anteils informeller männlicher Arbeit in den arabischen Staaten in der Arbeitsmarktstruktur der Golfstaaten zu finden. Die beschäftigten Staatsbürger:innen arbeiten dort in der Regel nicht im informellen Sektor. Die Masse der produktiven Arbeiter:innenklasse besteht wiederum aus Migrant:innen, wobei bestimmte informelle Sektoren fast ausschließlich männliche Arbeitskräfte umfassen (z. B. Bauwirtschaft).

Grundsätzlich können wir sagen, dass die Zentren der globalen informellen Arbeit in den halbkolonialen Ländern liegen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen (Osteuropa) beträgt der Anteil des informellen Sektors praktisch überall 50 % oder mehr. Extreme Formen der Ausbeutung der Lohnarbeiter:innenklasse sind für die Mehrheit des Proletariats seit Jahrzehnten die Regel.

Die Zentren der informellen Arbeit finden wir in Afrika (und hier noch einmal besonders südlich der Sahara) und in Südasien. Dort kann der Anteil informeller Arbeit von Lohnabhängigen nur noch durch weitere Proletarisierung nicht-lohnabhängiger Schichten gesteigert werden. Die hohen Anteile an informeller Arbeit in beiden Weltregionen dürfen jedoch auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie auf sehr unterschiedlichen Quellen beruhen. In Afrika, und vor allem südlich der Sahara, ist der Anteil industrieller Arbeit (mit Ausnahme Südafrikas) sehr gering. Diese Region ist seit einer ganzen Periode für die imperialistischen Staaten im Wesentlichen wegen der Plünderung von Rohstoffen (extraktive Industrie, teilweise Landwirtschaft) interessant. Im Gegensatz dazu wird ein beträchtlicher Teil der informellen Arbeit in Südasien, und hier wiederum v. a. in Indien, auch im produzierenden Gewerbe beschäftigt, also zur Produktion industriellen Mehrwerts genutzt.

Es ist in dem Zusammenhang auch bemerkenswert, dass der Anteil informeller Arbeit in Ost- und Südoststasien relativ geringer ausfällt. Dies wird natürlich auch dadurch bedingt, dass sich dort auch wichtige imperialistische Ökonomien befinden, die den Schnitt drücken. Es handelt sich zweitens auch zum Teil um relativ entwickelte Halbkolonien mit einer starken industriellen Basis (Südkorea, Taiwan) sowie auch ärmere Halbkolonien, die zu wichtigen Produktionsstandorten für globale, auch industrielle, Wertschöpfungsketten mitierten.

Die Verbreitung industrieller Produktion im großen Maßstab führt dabei nicht nur zu einem Wachstum der Arbeiter:innenklasse, sie begünstigt früher oder später auch ökonomische Kämpfe zur Einschränkung extremer (informeller) Formen der Ausbeutung.

In diesen Ländern haben wir es in der Globalisierungsperiode, generell betrachtet und im Gegensatz zu den alten imperialistischen Zentren, aber auch in Afrika und Lateinamerika, mit einer extrem rasch wachsenden industriellen Arbeiter:innenklasse zu tun.

Diese agierte generell unter extremen Bedindungen – seien es direkt diktatorische oder despotische Regime oder Demokratien mit extremen bonapartistischen Tendenzen. Dennoch ist in vielen dieser Länder nicht nur eine neue Klasse von Lohnabhängigen, sondern auch eine Arbeiter:innenbewegung entstanden.

Während sie in den Jahren vor der Pandemie vor allem unter den Bedingungen der kapitalistischen Expansion kämpfen musste/konnte, muss sie seit 2020 unter den Bedingungen einer kapitalistischen Krise agieren, die sowohl durch globale Probleme bedingt ist als auch durch die zyklische Bewegung des eigenen Kapitals (Überakkumulation).

1.4 Alte und neue Arbeiter:innenaristokratie

Nicht nur die unteren und mittleren Schichten des Proletariats, sondern auch die bessergestellten Teile haben sich in den letzten Jahrzehnten gewaltig verändert.

Schon im 19. Jahrhundert, beim Übergang zur imperialistischen Epoche, hatte Friedrich Engels bei der Analyse des britischen Imperialismus festgestellt, dass sich im Kerngebiet des Empire eine relativ privilegierte Schicht der ArbeiterInnenklasse – die Arbeiter:innenaristokratie – abzusondern begann und so zu einer erweiterten sozialen Basis der bürgerlichen Gesellschaftsordnung in den Reihen der Klasse der Lohnabhängigen geworden war.[x] Engels leitete die Entstehung einer solchen Schicht von „bessergestellten“ Arbeiter:innen aus der vorherrschenden Stellung des britischen Imperialismus, aus dessen Weltmarktmonopol, ab und aus der starken ökonomischen Stellung dieser Arbeiter:innenschichten in der großen Industrie.

Lenin griff den Gedanken auf und erkannte, dass die imperialistische Epoche die Grundlage für die Entstehung und Reproduktion einer ganzen Schicht der Arbeiter:innenaristokratie in allen dominierenden kapitalistischen Staaten schuf. Britannien bildete nicht länger eine Ausnahme:

„Damals war es möglich, die Arbeiterklasse eines Landes zu bestechen, für Jahrzehnte zu korrumpieren. Heute ist das unwahrscheinlich und eigentlich kaum möglich, dafür aber kann jede imperialistische ‚Groß’macht kleinere (als England 1848–1868) Schichten der ‚Arbeiteraristokratie‘ bestechen und besticht sie auch. Damals konnte sich die ‚bürgerliche Arbeiterpartei‘, um das außerordentlich treffende Wort von Engels zu gebrauchen, nur in einem einzigen Land, dafür aber für lange Zeit, herausbilden, denn nur ein Land besaß eine Monopolstellung. Jetzt ist die ‚bürgerliche Arbeiterpartei‘ unvermeidlich und typisch für alle imperialistischen Länder, aber in Anbetracht des verzweifelten Kampfes dieser Länder um die Teilung der Beute ist es unwahrscheinlich, daß eine solche Partei auf lange Zeit in mehreren Ländern die Oberhand behalten könnte.“[xi]

Gegen Lenins Theorie der Arbeiter:innenaristokratie sind in den letzten hundert Jahren viele Einwände erhoben worden – insbesondere auch, indem ihm aus einzelnen Zitaten eine recht primitive „Bestechungstheorie“ unterstellt wurde. Unter „Bestechung“ dürfen wir uns keineswegs ein quasi kriminelles „Kaufen“ der oberen Schichten der Klasse vorstellen (wiewohl es das auch gibt).

Die Entstehung der Arbeiter:innenaristokratie vollzieht sich vielmehr wesentlich über den ökonomischen, gewerkschaftlichen Kampf, der für die Lohnabhängigen in zentralen Industrien und strategischen Sektoren ermöglicht, dauerhaft relativ gute Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft zu erringen (im Gegensatz nicht nur zu den Arbeiter:innen in den vom Imperialismus unterdrückten Staaten, sondern auch zu den unteren Schichten und zum Durchschnitt der Klasse). Kurzum, diese Schichten sind in der Lage, die Ware Arbeitskraft über eine längere Periode über ihrem Wert zu verkaufen, was nichts daran ändert, dass sie weiter Lohnarbeiter:innen bleiben und ihre Ausbeutungsrate extrem, ja sogar höher als die anderer Lohnabhängiger ausfallen kann.

Darüber hinaus bedeutet die Zugehörigkeit zur Arbeiter:innenaristokratie keineswegs, dass diese Schichten immer weniger Kampfbereitschaft zeigen würden als andere. Im Gegenteil, unter bestimmten historischen Bedingungen können sie sogar Kernschichten der Avantgarde umfassen. So bildeten z. B. die Revolutionären Obleute in der Novemberrevolution eindeutig einen Teil der Arbeiter:innenaristokratie.

Wichtig für uns ist jedoch, dass Lenin erkannte, dass die Bildung einer Arbeiter:innenaristokratie und deren Reproduktion zu einem Kennzeichen aller imperialistischen Staaten wurde. Inmitten des Ersten Weltkriegs konnte er realistisch mit einer objektiven Aushöhlung der Stellung dieser Schicht und damit auch der bürgerlichen Arbeiter:innenpolitik und der dominierenden Stellung „bürgerlicher Arbeiter:innenparteien“ rechnen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg expandierte die Arbeiter:innenaristokratie in den imperialistischen Ländern jedoch in einem bis dahin nicht dagewesenen Maße und konnte sich als solche über eine historisch außergewöhnlich lange Periode  reproduzieren. Mehr noch, solche Formen der Bildung einer, wenn auch zahlenmäßig deutlich kleineren, „Aristokratie“ lassen sich auch in den halbkolonialen Ländern, v. a. in den industriell fortgeschritteneren, wie, historisch betrachtet, auch in den degenerierten Arbeiter:innenstaaten finden.

Mit dem Ende des „langen Booms“ und v. a. mit der Wende zum Neoliberalismus wurden auch Kernschichten der Arbeiter:innenaristokratie (z. B. die Bergarbeiter:innen und Docker:innen unter Thatcher, die Fluglots:innen unter Reagan) zu Angriffszielen, ja, teilweise zu bevorzugten. Deren Niederlagen zogen unmittelbar demoralisierende Auswirkungen auf die große Masse der Lohnabhängigen nach sich, denen so deutlich gemacht wurde, dass ihr Widerstand erst recht zwecklos sei.

In jedem Fall haben wir in den letzten Jahrzehnten eine dramatische Beschleunigung des Wandels der Arbeiter:innenaristokratie beobachten können. Erstens wurden diese Schichten aufgrund von technischem Wandel, Verlagerungen und Niederlagen massiv geschwächt. Die „traditionelle“ Aristokratie ist im Schrumpfen begriffen.

Zweitens sind aber auch neue Schichten der Arbeiter:innenaristokratie infolge der Proletarisierung von lohnabhängigen Mittelschichten, der realen Subsumtion ihrer zuvor oft nur formell dem Kapital unterworfenen Arbeit, entstanden.

Zum Dritten ist in neuen imperialistischen Ländern (v. a. China) und in einigen wirtschaftlich stärkeren Halbkolonien, z. B. den BRICS-Staaten, eine neue Arbeiter:innenaristokratie entstanden oder im Entstehen begriffen.

1.5 Restrukturierung des Produktionsprozesses

Die Jahrzehnte seit Wiedereinführung des Kapitalismus in Russland, Osteuropa und China haben zu einer massiven Ausdehnung des Weltmarktes geführt. Der Welthandel ist dabei deutlich stärker gewachsen als die Produktion selbst. Dies hat zugleich die Arbeiter:innenklasse selbst zu einer Klasse gemacht, wo wachsende Teile der Lohnabhängigen in den globalen Austausch integriert sind. Ihre Arbeit ist in sehr unmittelbarem Sinn Arbeit, die auf eine globale Vergesellschaftung bezogen ist.

Das betrifft zum einen die Herstellung von Gütern und Dienstleistungen für globale Märkte. Diese Entwicklung wird jedoch ergänzt und vertieft durch die Etablierung international integrierter Produktionsketten. Die Planung in den großen Monopolen findet heute oft länderübergreifend statt, unmittelbar bezogen auf den Weltmarkt (bzw. dessen zentrale Märkte). Das hat auch dazu geführt, dass z. B. in der Autoindustrie ein globaler industrieller Zyklus etabliert wurde, so dass über den nationalen Rahmen hinaus eine Tendenz zur Bildung einer globalen Durchschnittsprofitrate für einzelne Industrien entsteht.

Heute arbeiten Hunderte Millionen Lohnabhängige in multinationalen Konzernen, deren Produktionsstätten weltweit vernetzt sind, wo praktisch globale Planung – wenn auch für die bornierten Zwecke eines Einzelkapitals – erfolgt.

Kapitalexport, die globalen Geldströme und spekulative Anlagen – kurz, sämtliche Operationen von Kapital in Geldform – haben in den letzten Jahrzehnten gigantische Ausmaße angenommen, was selbst zu einer enormen Veränderung der Struktur des Produktionsprozesses, der Eigentumsstruktur geführt hat. Mehr und mehr Kapital ist in privater Hand und der des imperialistischen Großkapitals konzentriert.

Das ist die andere, im imperialistischen System unvermeidliche, Seite des „kapitalistischen Internationalismus“.

Das Niederreißen von Handelsschranken und Hemmnissen für den „freien Kapitalverkehr“ zwischen den einzelnen Ländern – wobei „Niederreißen“ für die kapitalistischen Zentren höchst selektiv ist – ist ein Moment, das diesen Prozess massiv beschleunigt, zum Teil erst möglich gemacht hat. Das andere waren Niederlagen der Arbeiter:innenklasse, die die Durchsetzung dieser Umstrukturierung erlaubten.

Diese Form der Internationalisierung geht freilich einher mit zunehmender Konkurrenz. Der Nationalstaat gerät letztlich zu einem Hindernis für die weitere Durchdringung der Weltwirtschaft, weil er einerseits zwar Instrument der kapitalistischen Globalisierung, andererseits aber der nationalen Kapitale (und als imperialistischer Staat dementsprechend dominierender Finanzkapitale ist), so dass diese Entwicklung der Internationalisierung im Nationalstaat eben auch ihre Schranke findet – eine Schranke, die auf kapitalistischer Basis nicht überwunden werden kann.

Wir müssen daher damit rechnen, dass die zunehmende Konkurrenz vor dem Hintergrund struktureller Überakkumulation der Weltwirtschaft früher oder später auch zu Rückschlägen, Zusammenbrüchen, Einbrüchen der heute so vernetzten Weltwirtschaft führen wird, dass die „Open Door“-Policy mehr und mehr durch die Bildung von Blöcken abgelöst werden wird.

Für die Arbeiter:innenklasse hat die Internationalisierung der Produktion, die Ausdehnung des Weltmarktes, der immer raschere Transfer des Kapitals von einem Land, einem Anlage- oder Spekulationsobjekt zum anderen enorme Probleme mit sich gebracht, insbesondere, weil ganze Gruppen von Arbeiter:innen, ganze „Standorte“, ja, ganze Klassen gegeneinander direkt in Konkurrenz zueinander gesetzt werden.

Andererseits hat diese Entwicklung auch die Möglichkeit direkter international koordinierter Aktionen geschaffen. Die Verschlankung der Produktion und die Reduktion der Lagerhaltung haben auch die Konzerne anfälliger gemacht für die Aktionen selbst relativ kleiner Gruppen von Lohnabhängigen.

Während die Gewerkschaften und die tradierten Organisationen der Arbeiter:innenklasse noch dabei sind, sich auf die Neuzusammensetzung des Kapitals und der Klasse einzustellen, zeichnet sich für die Zukunft freilich eine neue, katastrophale Entwicklung ab.

Seit 2020, also mit Beginn der synchronisierten Rezession, die durch die Coronapandemie ausgelöst wurde, aufgrund der Erschütterungen globaler Wertschöpfungs- und Lieferketten und infolge der massiven Zunahme der imperialistischen Konkurrenz bis hin zum Ukrainekrieg und den damit einhergehenden Turbulenzen der Weltwirtschaft nähern wir uns jedoch einem Punkt, wo die Internationalisierung des Kapitals in ihr Gegenteil umzuschlagen beginnt. Zweifellos kann dieser Moment hinausgeschoben werden, können die führenden Mächte dem bis zu einem gewissen Grad entgegenwirken. Aber auf dem Boden des Imperialismus und des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt ist ein solcher Umschlag letztlich unvermeidlich. Seit 2020 befinden wir uns in einer Situation, in der diese Tendenz immer stärker wird – z. B. auch in Form der Rückholung bestimmter, vormals ausgelagerter Produktion.

Mit dem Produktionsprozess wurden in den letzten Jahren auch die Reproduktionsbedingungen der Klasse umgekrempelt. „Soziale Absicherung“ gab es für große Teile der Lohnabhängigen dieser Welt ohnedies nie. Doch in den letzten Jahrzehnten wurden die von der Arbeiter:innenklasse erkämpften oder von der herrschenden Klasse zugestandenen sozialen Sicherungssysteme, Versicherungen, staatliche Vorsorge, Bildungs- und Sozialleistungen, Renten usw. massiv zurückgefahren und oft privatisiert. Dasselbe gilt generell für staatliche Dienstleistungen. Einerseits wurden auf diese Weise Anlage suchenden Kapitalien Investitionsmöglichkeiten geboten zur mehr oder weniger sicheren, raschen Bereicherung. Andererseits geht es v. a. darum, die Reproduktionskosten der Klasse zu senken. Vorher über Steuern finanzierte Leistungen müssen nun zunehmend aus dem Nettolohn bestritten werden. Insgesamt findet so eine Absenkung des Werts der Ware Arbeitskraft statt.

1.6 Reproduktionsprozess

Zugleich hat die Minderung der Reproduktionskosten enorme Auswirkungen auf Frauen, die Jugend, Kranke und Rentner:innen. Die Lage der proletarischen Frauen war im Kapitalismus schon immer durch die Doppellast von Ausbeutung als Lohnabhängige und privater Hausarbeit gekennzeichnet. Die Reorganisation des Reproduktionsbereiches unter dem Neoliberalismus hat diese Doppelbelastung noch erhöht. Die Kürzung bzw. Verteuerung von Sozialleistungen bedeutet für Millionen und Abermillionen proletarischer Frauen, dass sie diese Dienste nun zusätzlich und „kostenlos“ zu verrichten haben – und verstärkt aus dem politischen und gesellschaftlichen Leben gedrängt werden. Mit dem Ende des langen Booms und der chronischen Überakkumulation des Kapitals, die die Weltwirtschaft in verschiedenen Formen seit den 1970er Jahren mitprägen, wird auch die Widersprüchlichkeit der Reproduktion deutlicher, gerät sie in eine Krise.

Für die Arbeiter:innenklasse und vor allem für die proletarischen Frauen bedeutet das:

Reproduktionsarbeit im staatlichen, kommunalen, öffentlichen Bereich, die nach dem Zweiten Weltkrieg massiv ausgedehnt wurde, wird seit vielen Jahrzehnten faktisch zurückgedrängt. Dies führt generell zu einer Kürzung des Soziallohns, also faktisch zur Reduktion des Lohnfonds der gesamten Klasse.

Dieses Rollback geht oft mit einer Privatisierung vormals öffentlicher/staatlicher Reproduktionsarbeit oder zumindest mit der Einführung kapitalistischer Rechnungsführung in formal staatlichen oder genossenschaftlichen Institutionen einher.

Im fürs Kapital günstigsten Fall soll die Reproduktionsarbeit Profit für Eigentümer:in/Investor:in erwirtschaften. Die Dienstleistung (Gesundheit, Pflege, Bildung, Jugendbetreuung) wird durch Privatisierung zum Selbstzweck, unproduktive Arbeit zu produktiver fürs Kapital.

Für die Arbeiter:innenklasse stellt das eine Katastrophe dar, vor allem für Frauen, Jugend, Alte und die unteren Schichten des Proletariats. Die Verschlechterung öffentlich geleisteter Reproduktionsarbeit geht Hand in Hand mit der Ausdehnung von Billiglohn, prekären Verhältnissen, Kürzungen bei Renten, Verteuerung von Gesundheit, Kitas einher. Für die Lohnabhängigen bedeutet das, dass größere Bestandteile ihres Einkommens für diese Reproduktionsarbeiten aufgewendet werden müssen – oder dass sie diese Leistungen nicht mehr in Anspruch nehmen können.

Die Folge davon ist eine tendenzielle Ausweitung der privaten Reproduktionsarbeit, v. a. in den Halbkolonien und bei den einkommensschwachen und unterdrückten Teilen der Arbeiter:innenklasse. Nur rund die Hälfte der globalen Arbeiter:innenklasse von rund 4 Milliarden Menschen verfügt über irgendeine Form sozialer Absicherung.[xii]

Für Millionen, wenn nicht Milliarden Lohnabhängige (und auch große Teil der verbliebenen Kleinbauern und -bäuerinnen) bedeutet dies, dass sie ihre Arbeitskraft nicht voll reproduzieren können.

All dies verstärkt die Ungleichheit und die reaktionären Tendenzen im Proletariat und in der Gesellschaft. Lohnabhängige Frauen werden verstärkt in Familien oder Ehen gezwungen; Kinder länger an diese gebunden, Alte ebenfalls.

Ebenso wie beim tendenziellen Abbau etablierter Formen international vernetzter produktiver Arbeit haben wir es auch hier mit einer offenkundigen Tendenz zur gesellschaftlichen Regression zu tun, mit einem globalen Zurückfallen hinter den zuvor erreichten Stand der Entwicklung.

Doch diese Entwicklungen laufen keineswegs ohne Widersprüche ab. Die Entstehung einer neuen Frauenbewegung (Frauen*streiks) und die Betonung der Frage der Reproduktion reflektiert diese Entwicklung. Zugleich wird sie jedoch von den vorherrschenden Strömungen des linken Feminismus[xiii] (Feminism for the 99 %) falsch ideologisiert, faktisch auf den Kopf gestellt. Die aktuelle Entwicklung der Reproduktionsarbeit im Kapitalismus zeigt schlagend, wie sehr die spezifisch kapitalistische Form der Reproduktion von der Produktion bestimmt wird.

Wie die Frauen sind auch andere sozial Unterdrückte besonders von Kürzungen, der Umstrukturierung des Reproduktionsprozesses betroffen: MigrantInnen, Jugendliche, RentnerInnen sowie alle, die aus dem Produktionsprozess wegen Krankheit ausscheiden müssen.

2. Die Auswirkungen der Pandemie und globale Entwicklungstrends

Nachdem wir oben auf einige zentrale Veränderungen der Arbeiter:innenklasse in der gesamten Globalisierungsperiode eingegangen sind, wollen wir uns näher mit den Auswirkungen der Rezession 2020 und 2021 befassen. Sie sind enorm und, was die Lage der Weltarbeiter:innenklasse betrifft, einschneidender als die jeder anderen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie sind in vieler Hinsicht deutlich größer als die Folgen der Krise 2008 – 2010, weil diese (a) weit weniger synchronisiert war, (b) mit keinem zeitweiligen Zusammenbruch globaler Produktions- und Vertriebsketten einherging und (c) die imperialistischen Staaten vergleichsweise einheitlicher, koordinierter agierten.

Im Folgenden wollen wir hier kurz einige der wichtigsten Auswirkungen auf die Arbeiter:innenklasse betrachten.

Die weltweite Wirtschaftskrise ging mit einem massiven Verlust an geleisteten Arbeitsstunden einher. 2020 wurden im Vergleich zu 2019 weltweit 8,8 % weniger geleistet. Das entspricht der Gesamtarbeit von 255 Millionen voll beschäftigten Arbeiter:innen pro Jahr bei einer 48-Stunden-Woche. 2021 waren es immer noch 125 Millionen Vollzeitjobs weniger als 2019. Zum Vergleich dazu: Während der Krise 2008/2009 stieg die Zahl der global geleisteten Arbeitsstunden, wenn auch nur um vernachlässigbare 0,2 %. Dies zeigt den synchronisierten Charakter der Rezession 2020 und die zeitweilige, erzwungene Einstellung bedeutender Teile der weltweiten Produktion. 2008 bis 2010 waren hingegen keineswegs alle Länder in gleichem Maße betroffen, und China konnte schon rasch als Lokomotive der Weltwirtschaft agieren. Die ILO rechnet damit, dass die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden zwar 2022 weiter zunimmt, insgesamt aber selbst 2023 das Niveau von 2019 noch nicht erreicht werden wird (selbst unter der Annahme, dass der Krieg und die Sanktionen um die Ukraine beendet, die Inflation erfolgreich bekämpft und eine globale konterzyklische Politik in Gang gesetzt werden).

Der Rückgang der global geleisteten Arbeitsstunden entfällt 2020 zu etwa gleichen Teilen auf, teilweise staatlich finanzierte, Kurzarbeit (Äquivalent von 131 Millionen Vollzeitjobs) oder auf das direkte Anwachsen von Arbeitslosigkeit (124 Millionen). Die globale Rate von Bevölkerung zu Beschäftigung (global employment-population-ratio) fiel 2020 gegenüber 2019 um 2,7 % (im Vergleich dazu lag der Fall 2008 – 2009 bei 0,7 %). Insgesamt stieg die registrierte Arbeitslosigkeit in der Krise 2020 und 2021 auf rund 220 Millionen Menschen. Auch wenn sie 2022 etwas absank, lag sie noch immer deutlich über den 186 Millionen registrierten Arbeitslosen 2019. Darüber hinaus sind diese Zahlen außerdem wahrscheinlich sehr geschönt, weil von einigen Ländern kaum oder nur sehr verspätet Daten eintreffen. Außerdem inkludieren sie nur Menschen, die aktiv nach Arbeit suchen, nicht solche, die aus dem Arbeitsmarkt „dauerhaft ausgeschieden“ sind. Die Verteilung zwischen (keineswegs immer bezahlter) Kurzarbeit und direkter Arbeitslosigkeit von 50 % zu 50 % lässt sich lt. ILO in den meisten Ländern konstatieren, außer in den einkommensstärksten. In diesen bestand die vornehmliche Antwort auf die Krise in der Kurzarbeit, was auch bedeutete, dass diese auf ein Ende der Pandemie oder deren Einschränkungen rascher und besser reagieren konnten. Die Erholung des Arbeitsmarktes fiel in den reicheren Ländern daher auch weit stärker aus.

Die Krise hat zu enormen Einkommensverlusten der Arbeiter:innenklasse geführt. Das globale Lohneinkommen (also die staatlichen Transfers nicht eingerechnet) sank 2020 um 3,7 Billionen US-Dollar (8,3 %) gegenüber 2019. Dieser Trend hielt im ersten Quartal 2021 an (1,3 Billionen US-Dollar). Die ILO schätzt, dass die Anzahl der Arbeiter:innen in extremer (bis zu 1,9 US-Dollar pro Haushalt und Tag) oder „moderater“ Armut (1,9 – 3,2 US-Dollar je Haushalt und Tag) um 100 Million anwuchs. Damit wurden faktisch alle von den Vereinten Nationen im letzten Jahrzehnt proklamierten „Erfolge“ in der Armutsbekämpfung zunichtegemacht.

Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Verteilung von extremer und „moderater“ Armut von Lohnarbeitenden in den Jahren 2019 und 2020. Die Zahlen beziehen sich dabei auf Haushalteinkommen mit mindestens einer/m beschäftigen Lohnarbeiter:in.

  Extreme Armut (weniger als 1,90 US-Dollar/Tag in PPP) Moderate Armut (1,90 US-Dollar/Tag – 3,20 US-Dollar/Tag in PPP
Region 2019 2020 2019 2020
Afrika   31,8 % 145 Mil 34 154 24,1 110 26,2 119
Lateinamerika und Karibik 3,0 8,8 3,8 9,9 5,0 14 6,8 18
Arabische Staaten (Nicht-Golfstaaten, ohne Nordafrika) 17,6 4,5 Mil 18,7 4,7 14,9 3,8 17,0 4,2
Ostasien 0,5 5 0,8 7 2,9 29 3,9 34
Südostasien und Pazifik 2,6 9 3,9 13 11 38 14 47
Südasien 6,7 45 9,8 62 26,7 178 35,9 225
Zentral- und Westasien 1,6 1,1 1,9 1,3 6,1 4,3 7,4 5,0

Auch in den imperialistischen Ländern dürfen die Auswirkungen der Reallohnverluste keineswegs unterschätzt werden. Generell hat die Krise jedoch die Arbeiter:innenklasse in den halbkolonialen Staaten weit mehr getroffen.

Das hat mehrere Gründe. Erstens war der Anstieg der Arbeitslosigkeit viel größer als in den westlichen, imperialistischen Zentren. Zweitens waren die Kurzarbeitsschemata knapper, weniger dauerhaft und auch weit häufiger nicht oder nur zu sehr geringen Teilen bezahlt. Drittens bedeutete die Dominanz informeller und ungesicherter Beschäftigungsverhältnisse, dass die Arbeiter:innen in den meisten Halbkolonien über keine Sicherung und Reserven verfügten. Viertens traf die Rezession den informellen Sektor besonders hart, weil in vielen Halbkolonien hunderttausende kleine Unternehmen pleitegingen und, im Gegensatz zu den imperialistischen Ländern, staatlich nicht gestützt werden konnten oder sollten. Fünftens wurden in den Halbkolonien seit der Krise neue Jobs im Wesentlichen in Sektoren mit geringer Arbeitsproduktivität geschaffen. So schätzte die ILO (2021), dass die durchschnittliche globale Arbeitsproduktivität von ohnedies schon mageren +0,9 % in der Periode 2016 – 19 in der 2019 – 2022 um 1,1 % sinken wird. Auch das ist ein untrügliches Zeichen von Stagnation und faktischem Niedergang.

Generell lässt sich sagen, dass die Krise die Arbeiter:innen in den Halbkolonien, die Frauen, Migrant:innen, Jugendlichen weit härter traf als den Durchschnitt. Das trifft auch auf das Verhältnis von gelernten und ungelernten, von unqualifizierten, Arbeiter:innen mit mittlerer Qualifikation und akademisch ausgebildeten Kräften zu. Letztere waren am wenigsten von der Krise betroffen, konnten deutlich schneller und dauerhafter zum Homeoffice wechseln und erlitten deutlich geringere Job- und Einkommensverluste, zumal wenn sie in größeren Unternehmen arbeiteten oder staatlich Beschäftigte waren.

Die Unterschiede zwischen verschiedenen Teilen der Arbeiter:innenklasse wollen wir nur an einzelnen Zahlen illustrieren. 2020 sank die Beschäftigung von Frauen um 5 %, jene von Männern um 3,9 %. Hinzu kommt, dass geschätzt 90 % (!) dieser Arbeiterinnen, die ihre Jobs verloren, dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt ausschieden. Dies ist das Resultat (a) geschlechtlicher Diskriminierung und Unterdrückung am Arbeitsplatz und (b) besonders hoher Jobverluste in einigen Berufen mit hohem Frauenanteil oder (c) besonders hoher Gesundheitsrisiken in bestimmten Bereichen (Einzelhandel, Gesundheitswesen). Vor allem aber hängt es damit zusammen, dass Frauen in die private Carearbeit gezwungen wurden und werden, sei es, weil sie staatliche Einrichtungen (Kindergarten, Schule, Gesundheit, Altersvorsorge) nicht mehr bezahlen können oder diese gar nicht existieren. Die massive Verarmung der unteren Schichten der Arbeiter:innenklasse befördert zudem auch die Zunahme von Kinderarbeit in einigen Halbkolonien.

Ebenso sind Jugendliche besonders betroffen in Form von Arbeitslosigkeit, Jobverlusten, überproportional hohem Anteil von befristeten Arbeitsverhältnissen (faktisch die Regel für junge Arbeiter:innen).

Dies betrifft ebenso migrantische Arbeiter:innen und rassistisch Unterdrückte. Im Fall migrantischer Arbeiter:innen hat deren Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit auch massive Auswirkungen auf ihre Angehörigen in ihren Ursprungsländern, sei es, weil sie teilweise in diese mit Zwang zurückgeschickt wurden, sei es, weil sie keine oder deutlich weniger Lohnbestandteile an ihre Angehörigen schicken konnten, was zusätzlich die Verarmung der Arbeiter:innenklasse in den Ursprungsländern vergrößert.

Die Lage in den Halbkolonien wird zusätzlich durch das massive Anwachsen der Schulden verschlimmert. In den Jahren 2020 und 2021 setzten Kreditgeber:innen wie der IWF die Schuldenrückzahlung etlicher Halbkolonien aus, so dass diese die Krise etwas abfedern, zeitweise sogar kurzlebige konjunkturelle Feuerwerke entfachen konnten. Damit ist jetzt Schluss. Seither müssen die Schulden, teilweise mit zusätzlichen Auflagen verknüpft, zurückgezahlt werden.

Hier kommt ein weiteres mit der Rezession und Pandemie einhergehendes Phänomen hinzu. Seit 2020 können wir massive Preissteigerungen auf dem Weltmarkt für agrarische Rohstoffe beobachten. Lt. FAO Food Price Index (FFPI) stiegen sie 2020 im Durchschnitt um 31 Prozent, jene für Ölsaaten wie Raps oder für Mais verdoppelten sich sogar.

Das führte auch weltweit zu einer massiven Steigerung der Lebensmittelpreise, die im Januar 2022 ein Rekordniveau erreichten und seither weiter steigen. Mit dem Kriegsbeginn in der Ukraine explodierten sie geradezu. So stieg der Weltnahrungsmittelindex um rund 13 %, der für Weizen um 17 % allein im März 2022. Schon 2021 stiegen die Lebensmittelpreise im globalen Durchschnitt lt. Welthungerhilfe um 28 %. Für 2022 wird eine durchschnittliche Steigerung von 35 % erwartet, die vor allem die Länder Afrikas und Schwellenländer wie die Türkei oder Argentinien weit überdurchschnittlich treffen wird.

Die Arbeiter:innenklasse in den Halbkolonien trifft das besonders hart, weil sie einen viel größeren Teil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben muss (50 – 100 %, verglichen mit 12 bis 30 % in den Industrieländern). Kein Wunder also, dass Millionen, auch Arbeitenden, Hunger droht.

250 bis 300 Millionen sind nach Schätzungen des UN-Welternährungsprogramms WFP mit starker oder akuter Hungersnot konfrontiert, 40 – 50 Millionen direkt vom Hungertod bedroht. Tendenz steigend. Je nach Entwicklung des Ukrainekrieges wird in den nächsten Monaten mit einem zusätzlichen Anstieg der Betroffenen um weitere 33 – 47 Millionen gerechnet.

So stammen beispielsweise rund 30 % aller Weizenexporte der Welt aus der Schwarzmeerregion. Der Ausfall der Ukraine als zentraler Getreideexporteurin sowie die Sanktionen gegen russische Exporte verschärfen die Lage auf den Lebensmittelmärkten extrem – gerade für die ärmsten Länder der Welt. Der Krieg fungiert dabei als Brandbeschleuniger einer Entwicklung, die bereits seit Beginn der Pandemie und der damit verbunden Weltwirtschaftskrise extreme Formen annimmt.

Schon Ende 2021 litten rund 193 Millionen an starker oder akuter Hungernot – 40 Millionen mehr als 2020. Über diese stark oder akut Betroffenen hinaus weisen die Statistiken der UN eine noch weitaus größere Zahl von weltweit 810 Millionen Menschen aus, die von Hunger betroffen sind. Fast 2 Milliarden, also rund ein Viertel der Weltbevölkerung, leiden an Mangelernährung.

Zusammen mit der Inflation der Nahrungsmittelpreise trifft die Erhöhung der Energiepreise, der für Wohnraum und eine generelle Erhöhung der Preise die Massen mit voller Wucht. Der Krieg um die Ukraine und die Sanktionen wirken hier als Katalysatoren. In vielen Halbkolonien tritt außerdem zur Schulden- eine veritable Währungskrise.

Schließlich wird die drohende ökologische Katastrophe auch weitere Millionen in die Flucht zwingen. Diese ist eng verbunden mit einer Krise des gesamten Agrarsektors und seiner Abhängigkeit vom imperialistischen Finanzkapital.

Extremwetterlagen, Dürre, Ausbreitung von Wüsten, Ernteschäden oder –ausfälle suchen zahlreiche von den imperialistischen Mächten beherrschte Länder seit Jahren regelmäßig heim.

Besonders stark davon betroffen ist Afrika. 2021 waren mehrere Länder West- und Ostafrikas von massiven Ernteausfällen und Produktionsrückgängen infolge von Pandemie, schlechten Witterungsbedingungen und kriegerischen Auseinandersetzungen betroffen. In Ländern wie Äthiopien oder im Südsudan wurden Millionen Menschen vertrieben.

Kriege, Umweltkatastrophen, Dürren, Ernteausfälle treiben also weltweit Menschen in die Flucht.

Alle diese Entwicklungen werden in den kommenden Monaten und Jahren keinesfalls nachlassen. Im Gegenteil: Ihre destruktive, zerstörerische Dynamik wird sich verstärkt entfalten. Allein das weitere Fortschreiten des Klimawandels droht, in den kommenden 10 Jahren rund eine Milliarde Menschen von ihren jetzigen Wohnorten zu vertreiben, weil diese dann nicht mehr bewohnbar sein werden, sofern es keine drastische Veränderung der Umweltpolitik gibt. Diese ist unter kapitalistischen Bedingungen und erst recht angesichts des zunehmenden globalen Kampfes um die Neuaufteilung der Welt nicht zu erwarten.

Prognosen

Gegenüber dem Jahr 2020 brachte die Wende des Jahres 2021/22 eine gewisse Entspannung. So wuchs die Zahl der lohnabhängig Beschäftigten im Jahr 2022 lt. ILO um 2,3 %. Für das laufende Jahr wird ein Wachstum von einem Prozent vorhergesagt.[xiv]

Die Ursachen dafür sind direkt Resultat der krisenhaften Entwicklung der letzten Jahre. Schon während der Pandemie wurden globale Lieferketten unterbrochen. Das schrumpfende Angebot führte schon damals zu signifikanten Steigerungen der Lebensmittelpreise für die Masse der Weltbevölkerung.

Angesichts der düsteren ökonomischen Aussichten können wir in den kommenden Jahren mit einer Stagnation der Größe der Arbeiter:innenklasse rechnen, wenn auch mit großen regionalen Unterschieden.

Für die arabischen Staaten (d. h. in erster Linie in den reicheren Ländern) und Teile Afrikas wird eine Ausdehnung der Beschäftigung prognostiziert. Rohstoffreichtum begünstigt dabei vor allem die Rentierökonomien in den arabischen Staaten und einige Länder Afrikas. Bei den Prognosen für Afrika muss außerdem die große Ungleichheit, vor allem aber das schlechte Ausgangsniveau mit in Rechnung gestellt werden. Aufgrund des Wachstums der Bevölkerung und damit der Arbeitssuchenden werden die Arbeitslosenraten deshalb kaum zurückgehen.

In Asien, Lateinamerika und der Karibik wird von einem Beschäftigungswachstum von maximal einem Prozent ausgegangen – ein Wachstum, dem jedoch ein noch größeres der Bevölkerung in vielen Ländern entgegensteht. In den USA und Kanada rechnet die ILO 2023 mit einer Zunahme der Arbeitslosigkeit, für Europa und Zentralasien sagt sie ein Schrumpfen der Anzahl der Beschäftigten voraus. In etlichen Ländern (auch Deutschland) wird das jedoch durch einen Rückgang der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter konterkariert, was die Arbeitslosenraten relativ gering hält, ja, in etlichen Sektoren mit einem Mangel an Arbeitskräften einhergeht.

Eine stagnierende Weltwirtschaft wird also begleitet von einem Arbeitskräftemangel in den technologisch fortgeschritteneren Sektoren der Produktion wie auch im Bildungs- und Gesundheitswesen. Das betrifft auf den ersten Blick vor allem die reicheren, entwickelteren Volkswirtschaften. Obwohl hier das Bildungs- und Ausbildungsniveau weiter über dem globalen Durchschnitt liegt, fehlt es an Fachkräften. Das hängt nicht nur mit einer veränderten Altersstruktur zusammen, sondern auch mit massiven Einsparungen (z. B. im Gesundheitswesen) und einem seit Jahren aufgebauten Mangel.

Global betrachtet, stellt sich das Problem noch viel schärfer. Die Kürzungen im Ausbildungssektor betreffen die Halbkolonien noch weit mehr als die imperialistischen Länder. Generell ist in den letzten Jahren der Anteil junger Menschen, die sich in Arbeit, Ausbildung oder Bildung befinden, nach Jahrzehnten der Zunahme rückläufig. 2022 waren lt. ILO 289 Millionen junge Menschen ohne Arbeit, Ausbildung und Schulbildung.[xv] Davon waren zwei Drittel junge Frauen. Generell liegen Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung unter jungen Lohnabhängigen deutlich höher als bei älteren.

Grundsätzlich wurden die Bildungskosten für die nächste Generation von Lohnabhängigen massiv reduziert, weil diese vom kapitalistischen Standpunkt aus Abzüge vom Gesamtprofit, „unnütze“ Kosten für das Einzelkapital bedeuten. Für dieses stellt eine Reduktion der Bildungskosten für die Arbeiter:innenklasse ein Mittel dar, dem Fall der Profitrate durch Erhöhung der Ausbeutungsrate entgegenzuwirken. Allerdings mit einer fatalen, langfristigen Folge: Es werden nicht mehr ausreichend Arbeitskräfte mit der geforderten Qualifikation ausgebildet. Die imperialistischen Ländern haben dabei noch eher die Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, weil sie erstens über größere Reserven für Ausbildungs- und Bildungsinvestitionen verfügen, zweitens auf einen größeren Pool von ausgebildeten verrenteten Arbeiter:innen zurückgreifen können und drittens mittels einer selektiven Migrationspolitik vor allem qualifiziertere Lohnabhängige aus ärmeren Ländern mit geringeren Lohnniveaus anziehen können (ohne einen Cent für deren Bildungskosten auszugeben).

Insgesamt schätzt die ILO, dass 2022 3,6 Milliarden Menschen lohnabhängig beschäftigt waren. Die Beschäftigungsrate (Labour Force Participation Rate) an der arbeitsfähigen Bevölkerung liegt bei 60 % und somit unter dem Niveau von 2019. Für die Jahre 2023 und 2024 wird ein weiterer, leichter Rückgang prognostiziert.

Von den 3,6 Milliarden waren 2 Milliarden informell beschäftigt. 2022 gab es zudem weltweit 473 Millionen Jobsuchende (davon 213 Millionen Arbeitslose). Auch nach der Pandemie und in der kurzen „Erholung“ 2021/22 setzten sich die globalen Ungleichheiten weiter fort. Frauen sind nicht nur weiterhin auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert. Die Krise hat auch insofern zu einer Verschlechterung geführt als 80 % der Frauen, die 2021/22 wieder Arbeit fanden, dies im informellen und in schlechter bezahlten Sektoren der Wirtschaft taten, was ihre abhängige Rolle weiter verstärkt.

Von den 3,6 Milliarden Beschäftigten verfügen 2 Milliarden über keine Form der sozialen Absicherung, sei es durch den Staat oder durch Versicherungsleistungen. Betrachten wir die gesamte Weltbevölkerung, so beläuft sich diese Zahl auf rund 4 Milliarden, also praktisch die Hälfte aller Bewohner:innen dieses Planeten. Wie die Pandemie, Inflation und Klimakatastrophen zeigen, verfügen diese Menschen kaum über Reserven – und die kommenden Jahre werden ihre Lage tendenziell noch prekärer machen.

2022 sanken im globalen Durchschnitt die Arbeitseinkommen und blieben unter den Inflationsraten. Diese Entwicklung betrifft vor allem die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder, wo der Reallohnverlust durchschnittlich 2,2 % betrug.[xvi] Allerdings spiegeln die Inflationsraten nur sehr unzureichend die Veränderung der Lebenshaltungskosten der Lohnabhängigen, so dass es erscheinen mag, dass die Arbeiter:innen in den imperialistischen Ländern stärker als jene in den Halbkolonien betroffen wären. Das ist aber falsch. In den Halbkolonien müssen die Arbeitenden einen weitaus größeren Anteil ihres Einkommens für Lebensmittel und andere Grundbedürfnisse aufwenden, da die Preissteigerung für Nahrungsmittel und anderer für die Lohnabhängigen essentieller Güter oft deutlich über der Inflationsrate liegt.

Alle oben beschriebenen Entwicklungen wurden durch den Krieg um die Ukraine verschärft, der seinerseits Ausdruck des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt ist. Er geht mit einem offenen Wirtschaftskrieg zwischen den westlichen Mächten und Russland einher, der aber letztlich nur einen Faktor einer weit größeren Konfrontation mit China darstellt. Diese Konkurrenz drängt zur Bildung von politischen und ökonomischen Einflusssphären der verschiedenen Blöcke, zu einer Fragmentierung des Weltmarktes und damit verbunden auch zu einer Veränderung globaler Produktions- und Lieferketten. Der Krieg um die Ukraine führt außerdem auch zur massiven Forcierung der Rüstungsproduktion. Das wird sich in den kommenden Jahren weiter fortsetzen, selbst wenn es zu einer (zeitweiligen) Befriedung in der Ukraine kommen sollte.

All dies wird damit einhergehen, dass die Nahrungsmittelpreise weiter hoch bleiben. Gerade in den Halbkolonien wird das auch auf die Energiepreise zutreffen, sei es, weil die Streichung staatlicher Preisstützungen für die Massen zu den Grundbedingungen der IWF-Maßnahmen gehören, in die mehr und mehr Länder des globalen Südens aufgrund von Schulden- und Währungskrisen gezwungen werden, sei es aufgrund geringer Versorgungssicherheit und Knappheit. Inflation wird für die Arbeiter:innenklasse dieser Welt also weiter ein zentrales Problem bleiben.

Zu diesen aus der verschärften Konkurrenz und dem Kampf um die Neuaufteilung der Welt kommenden Faktoren tritt die ökologische Krise. 2022 verdeutlicht die enorme Gefahr, die der Weltbevölkerung droht, vor allem und zuerst im globalen Süden. Die Weltlage verschärft dieses Problem, das der Kapitalismus ohnedies schon unfähig ist zu lösen. Extremwetterlagen und Fluten wie 2022 in Pakistan, als rund ein Drittel der Bevölkerung von der Katastrophe direkt betroffen war, werden sich in den kommenden Jahren wiederholen. Für die Arbeiter:innenklasse bedeutet dies vor allem in den halbkolonialen Ländern eine dauerhafte, ja sich verschärfende Ernährungskrise, eine dramatische Zerstörung von Wohnraum. Die Folgen sind Hungersnöte und Massenflucht von Abermillionen.

Schon die Coronapandemie und die Wirtschaftskrise in den Jahren 2020 und 2021 haben weltweit zu Millionen von Toten, massiven Einkommensverlusten und einer Verschlechterung der Lebensbedingungen für die Arbeiter:innenklasse geführt. Aufgrund von Rezession, Gesundheitskrise und Krieg sind die Rücklagen (sofern sie überhaupt welche hatten) der Masse der Lohnabhängigen im globalen Süden, aber auch der unteren und ärmeren Schichten in den imperialistischen Ländern aufgebraucht. Dabei stehen wir längst nicht am Ende, sondern mitten in einer weiteren Welle von Angriffen auf die Arbeiter:innenklasse.

3. Die Arbeiter:innenbewegung und die Führungskrise des Proletariats

Nationaler Schulterschluss und Klassenkollaboration

Seitens der Gewerkschaften, sozialdemokratischen, stalinistischen, linkspopulistischen und linksreformistischen Parteien und Organisationen gab es wenig bis gar keinen organisierten Widerstand gegen die Angriffe der Jahre 2020 – 22. Stattdessen suchten die Führungen der Massenorganisationen in den meisten Ländern in den ersten beiden Jahren der Pandemie die nationale Solidarität mit der herrschenden Klasse und verfolgten eine Politik, die die Interessen der Lohnabhängigen effektiv denen des Kapitals unterordnete. Sie unterstützten eine inhärent widersprüchliche und halbherzige Pandemiepolitik der herrschenden Klasse, die, von wenigen Ausnahmen wie in China abgesehen, zwischen einer Strategie der Abflachung der Kurve (d. h. der Begrenzung der Pandemie auf ein Niveau unterhalb des Zusammenbruchs des Gesundheitssystems) und Durchseuchung schwankte. Obwohl die Pandemie noch lange nicht vorbei ist, hat sich in den meisten Ländern letztere Strategie, einschließlich der dauerhaften Inkaufnahme von gesundheitlichen Folgeschäden, durchgesetzt.

Die Politik des nationalen Schulterschlusses trug maßgeblich zu massiven Einkommensverlusten für die Arbeiter:innenklasse, die in den vorhergehenden Abschnitten dargestellt wurden, bei. In den imperialistischen Staaten und einigen Halbkolonien wurden diese zwar durch staatliche Interventionen und Kurzarbeit abgefedert, an der grundlegenden Entwicklung ändert das aber nichts. Die Gewerkschaften und auch die reformistischen Parteien fungierten in den imperialistischen Kernländern als Co-Managerinnen der Krise. Die meisten von ihnen sicherten den industriellen und gewerkschaftlichen Frieden. In vielen Ländern wurden im Gegenzug für (unzureichende) staatliche Rettungspakete und Maßnahmen zum Schutz von Arbeitsplätzen und zur Begrenzung von Einkommensverlusten die gewerkschaftlichen Kämpfe faktisch ausgesetzt und Tarifverhandlungsrunden verschoben.

Das bedeutet nicht, dass wir in dieser Phase gar keine erlebten. Vielmehr wurden diese in Ländern wie Italien und Spanien zu Beginn der Pandemie organisiert, um Gesundheitsschutzmaßnahmen und Fabrikschließungen überhaupt erst durchzusetzen.

In den meisten Ländern suchten die etablierten Führungen der Arbeiter:innenbewegung (Sozialdemokratie, Labour, viele „kommunistische Parteien“, linksreformistische Parteien, Gewerkschaftsführer:innen und Linkspopulismus) in der Regel ein Bündnis mit dem „vernünftigen“ Teil der herrschenden Klasse und versuchten, (informelle) Koalitionen unter dem Banner der nationalen Einheit und Sozialpartnerschaft zu bilden. Dies geschah entweder in Form einer direkten Regierungsbeteiligung oder politischen Unterstützung der „demokratischen“ bürgerlichen Parteien (US-Demokrat:innen, Liberale, Grüne). Diese Politik der offiziellen Führungen der Arbeiter:innenbewegung trug ihrerseits wesentlich zum weiteren Aufstieg der Rechten bei, was wiederum als weitere Legitimation für eine Politik der Klassenkollaboration herhalten sollte.

Diese Politik wird in vielen Ländern im Grunde bis heute fortgesetzt – nur diesmal unter dem Vorzeichen der notwendigen Zurückhaltung zugunsten der Unterstützung der Bourgeoisie im neuen Kalten Krieg und insbesondere in der Sanktionspolitik gegen Russland. Faktisch unterstützen im Krieg um die Ukraine sowohl alle großen sozialdemokratischen Parteien, die Führungen der meisten Gewerkschaftsverbände als auch zahlreiche Linksparteien die Kriegsziele des westlichen Imperialismus. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation und die dortigen staatsnahen Gewerkschaften verteidigen derweil den Angriffskrieg und die Eroberungen des russischen Imperialismus.

Gewerkschaften

Insgesamt hat die Politik der Klassenzusammenarbeit seit Jahren den anhaltenden Trend eines sinkenden gewerkschaftlichen Organisationsgrades weiter verschärft. Natürlich wird dieser nicht nur durch die falsche bürgerliche Politik der Führung bedingt, sondern ist  selbst eine Folge der Umstrukturierung des Kapitals und der damit verbundenen Veränderungen in der Arbeiter:innenklasse. Die Gewerkschaften unter Führung der Bürokratie haben aber darauf keine Antwort gefunden. Vielmehr hoffen sie, die verlorene Organisationsmacht durch Korporatismus und Integration in ein System der Klassenkollaboration auszugleichen. Dies wird zum Teil auch mit aktivistischen Kampagnen (z. B. Organizing) verknüpft, die aber die Kontrolle der Bürokratie nicht in Frage stellen sollen (und können). Teilweise gelingt es den Gewerkschaftsapparaten in einigen Staaten noch, Sozialpartnerschaft, Mitbestimmung und Verhandlungsmacht auch in gewerkschaftlich schwach organisierten Bereichen aufrechtzuerhalten. Doch dies stellt nur ein Nebenprodukt ihrer Stellung im nationalen Gefüge von Korporatismus und Sozialpartner:innenschaft dar (und steht und fällt mit der Fähigkeit, diese aufrechtzuerhalten).

Dies wird aber immer schwieriger. Denn grundsätzlich schwächt die Politik der Klassenkollaboration die etablierten Gewerkschaften und betrieblichen Strukturen. Sie werden reduziert auf Schichten der Arbeiter:innenaristokratie oder Beschäftigte im staatlichen Sektor. Auch dort findet diese Politik eine gewisse soziale Basis – allerdings eine, die tendenziell schrumpft, was zu einer Schwächung der Bürokratie, aber auch der Organisationen selbst führen könnte.

Die unmittelbare, sehr kurzlebige, Erholung und der Aufschwung nach der Rezession 2020/21 führten in einigen Ländern zu einer Wiederbelebung der gewerkschaftlichen Militanz und zu teilweise sehr beeindruckenden Kämpfen um die Organisierung zuvor nicht organisierter Sektoren. Doch diese neue Schicht von Gewerkschaftsaktivist:innen wird sich nun unter veränderten Bedingungen massiver Preissteigerungen bewähren müssen. Die Auseinandersetzungen haben zwar kleinere oder größere Schichten von Aktiven und Kampferfahrungen hervorgebracht, aber die Kontrolle der bürokratischen Apparate nicht wesentlich in Frage gestellt (in einigen Fällen sogar gestärkt). In der Regel sind sie nicht über die Ebene der wirtschaftlichen Klassenkämpfe oder von der Bürokratie kontrollierten Mobilisierungen hinausgegangen.

Dies gilt auch für die massiven Streikbewegungen in Indien, die Hunderte von Millionen mobilisierten – allerdings letztlich für begrenzte eintägige Aktionen ohne weitere Kampfperspektiven.

Auch in Europa erlebten wir trotz Krieges gegen die Ukraine einen Aufschwung von politischen und gewerkschaftlichen Abwehrkämpfen (Britannien, Spanien, Frankreich und sogar in Deutschland). Diese führen zweifellos zur Politisierung neuer Schichten. Die Strategie der Gewerkschaftsführungen stellt aber ein zentrales Hindernis im Kampf dar, so dass sowohl den Millionen, die im Kampf gegen die Rentenreform Macrons mobilisiert wurden, als auch den Tarifkämpfen in Britannien und Deutschland Ausverkauf und Niederlagen drohen.

Insgesamt befindet sich die Gewerkschaftsbewegung in einer tiefen Krise – einer Krise, die allerdings in den einzelnen Ländern unterschiedliche Formen annimmt.

Zugleich ist die Arbeiter:innenklasse in allen Ländern mit gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen und Einschränkungen des Streikrechts konfrontiert. Aber diese fallen sehr unterschiedlich aus. In den meisten europäischen Ländern unterstützt die Bürokratie diese Gesetze nicht nur stillschweigend, sondern nutzt sie auch, um ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital zu festigen. In den USA hingegen ist die Machtposition der Gewerkschaften in der Gesellschaft wesentlich schwächer, so dass auch der Kampf um ihre Anerkennung eine größere Rolle einnimmt.

In diesen Ländern (aber auch in vielen lateinamerikanischen) stützen sich die Gewerkschaftsbürokratien entweder auf „ihre“ sozialdemokratischen Arbeiter:innenparteien oder auf ihre Verbindungen zu den Demokrat:innen oder populistischen Parteien, um auf nationaler Ebene jene Gesetze durchzusetzen, die ihnen einen branchen- und betriebsübergreifenden Gestaltungsspielraum für das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital ermöglichen. Im Gegenzug sind sie bereit, als soziale Stütze der Regierungen zu fungieren. Mit anderen Worten: Die Gewerkschaftsführungen betreiben aktiv eine Politik der Klassenkollaboration (die sich mitunter auch auf Arbeit„nehmer“:innenschichten stützen kann, insbesondere in den Großbetrieben).

Insgesamt ist auch eine weitere Zersplitterung der Gewerkschaften zu beobachten, deren Kehrseite die eher willkürliche Verschmelzung verschiedener Branchengewerkschaften darstellt. In den Halbkolonien ist diese Zersplitterung noch viel stärker ausgeprägt.

Wenn sich die Gewerkschaftsapparate und mit ihnen auch die Gewerkschaften selbst dem bürgerlichen Staat annähern (entweder direkt oder vermittelt über reformistische, populistische, nationalistische oder linksbürgerliche Parteien), wird umgekehrt der Spielraum für Zugeständnisse an die Arbeiter:innenklasse kleiner. Zwar haben die Pandemiekrise und teilweise die Kosten des Ukrainekrieges dazu geführt, dass staatliche Hilfsmaßnahmen über Schulden finanziert und damit auch als Verhandlungserfolg der Gewerkschaftsbürokratie dargestellt werden konnten, doch droht die Inflation, dies nun aufzufressen, und die herrschende Klasse wird über kurz oder lang ihren finanzpolitischen Kurs ändern, was verstärkte Angriffe nach sich ziehen wird.

In den Halbkolonien hat dies alles längst viel dramatischere Formen angenommen. Dort findet zwar auch Korporatismus statt, aber auf einer viel schmaleren wirtschaftlichen Basis. Daher ist der Organisationsgrad im Allgemeinen niedriger, manchmal sogar extrem niedrig (weniger als 5 % der Klasse), und die Gewerkschaftslandschaft ist gleichzeitig viel stärker zersplittert. Zahlreiche kleine Gewerkschaften, die oft nur auf betrieblicher und regionaler Ebene existieren, verfügen über keine wirkliche Kampfkraft.

In diesen Ländern stellt die Organisierung der Unorganisierten und die Reorganisation der Gewerkschaften in Branchengewerkschaften (Industriegewerkschaften) auf einer demokratischen, klassenkämpferischen Basis ein zentrales, unmittelbares Kampfziel dar.

In Ländern, in denen die Gewerkschaften unter diktatorischen Bedingungen arbeiten müssen, stehen wir einem weiteren, anders gelagerten Problem gegenüber. Auch dort stellt sich zwar das Problem der Einbindung staatlich anerkannter Gewerkschaften ebenso wie der Versuch des Staates, korporatistische Betriebsstrukturen für die Beschäftigten zu schaffen und damit Konflikte institutionell zu regeln. Verschärft wird dieses Problem jedoch durch die Illegalität bzw. eingeschränkte Legalität der politischen Parteien der Arbeiter:innenklasse, sogar der mit reformistischem Charakter.

Schließlich konfrontiert die aktuelle Situation die Gewerkschaften und betrieblichen Aktivist:innen mit politischen Fragen (Krieg, Pandemiepolitik), der tieferen wirtschaftlichen und sozialen Spaltung der Klasse und dem Verhältnis zum Staat und den bürgerlichen Institutionen.

Politische Organisationen

Dabei verbinden die Gewerkschaftsbürokratien den Ökonomismus mit bürgerlicher Arbeiter:innenpolitik. Dies geschieht entweder in Form eines Bündnisses mit offen bürgerlichen Parteien oder mit dem Linkspopulismus als deren linkester Variante.

Auch wenn der Linkspopulismus oft ähnliche Forderungen wie sozialdemokratische oder stalinistische Parteien vertritt, ist das Verhältnis von reformistischen und populistischen Parteien zur Arbeiter:innenklasse grundlegend verschieden. Reformistische Parteien stützen sich organisch auf die Arbeiter:innenklasse und sind durch einen inneren Widerspruch zwischen der proletarischen sozialen Basis und der bürgerlichen Politik gekennzeichnet. Die populistischen Parteien hingegen, die sich auf ein Bündnis verschiedener Klassen stützen, die zum „Volk“ ideologisiert werden, sind letztlich Volksfronten in Parteiform.

Die Tatsache, dass sich in der gegenwärtigen Periode verschiedene Zwischen- und Übergangsformen, einschließlich linkspopulistischer (oder sogar liberal-bürgerlicher) Flügel, in reformistischen Parteien bilden, dass einige linkspopulistische Formationen noch keinen festen Rückhalt in Teilen der Bourgeoisie haben, bedeutet, dass an der gesellschaftlichen Oberfläche der Unterschied zwischen linkspopulistischen Parteien und bürgerlichen Arbeiter:innenparteien zu verschwinden scheint. Hinzu kommt, dass sowohl populistische als auch reformistische Parteien klassenübergreifende Blöcke und Bündnisse in Regierungen anstreben und daher auch als Teile einer bürgerlichen Koalitionsregierung oder einer Volksfront auftreten.

Diese direkte Suche nach Koalitionsregierungen mit dem „linken“ oder „demokratischen“ Flügel der Bourgeoisie, die Tendenz zur Volksfrontpolitik entspricht der Klassenzusammenarbeit der Gewerkschaften und markiert einen weiteren Rechtsruck der traditionellen reformistischen Parteien. Dies geht oft mit deren Niedergang und manchmal auch mit internen Tendenzen einher, die organischen Verbindungen zur Arbeiter:innenklasse zu lösen.

All dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Hinwendung oder der Wandel zum Populismus eine weitere Entwicklung weg von einer Politik bedeutet, die auf organischen Verbindungen zur Arbeiter:innenklasse beruht. So stellt das Schrumpfen des Reformismus zugunsten des Linkspopulismus eine allgemeine Schwächung der Arbeiter:innenklasse dar, auch wenn dies, wie z. B. das Wachstum der frühen „Grünen“ auf Kosten der Sozialdemokratie (und des Stalinismus), oberflächlich betrachtet, als Linksentwicklung erscheinen mag. Das kleinbürgerliche oder populistische Strohfeuer entpuppt sich regelmäßig als ein Weg nach rechts.

Im Grunde ist der Vormarsch klassenübergreifender Ideologien wie des Populismus Ausdruck der Niederlagen der Arbeiter:innenklasse und eine Folge der verräterischen Politik der Führungen von Gewerkschaften und bürgerlichen Arbeiter:innenparteien.

Gleichzeitig ist der Vormarsch von Populismus, Identitätspolitik und Formen des bürgerlichen Individualismus (Queertheorie) nicht nur in der politischen und ideologischen Krise der Arbeiter:innenklasse begründet, sondern auch in der veränderten Situation der Mittelschichten, des Kleinbürgertums und auch der Kleinunternehmer:innen in der Krise. Unter stabilen Bedingungen fungieren sie eigentlich als Stütze der bürgerlichen Ordnung und Demokratie.

In der Krise allerdings entdecken sie ihre „Unabhängigkeit“. Sie kritisieren die „Elite“, indem sie zwischen „guten“ und „schlechten“ Strömungen des Kapitals unterscheiden; aber sie gerieren sich auch „radikal“ und fordern einen Bruch mit der „traditionellen Klassenpolitik“ oder dem, was Sozialdemokratie und Stalinismus daraus gemacht haben. Im linken Spektrum äußert sich diese kleinbürgerliche Strömung ideologisch auf unterschiedliche Weise: als linker Populismus, Identitätspolitik, Queertheorie, Befreiungsnationalismus, Postkolonialismus und in vielen anderen Schattierungen. Philosophisch-methodologisch stehen sie in engem Zusammenhang mit der Postmoderne und, vermittelt durch diese, mit den reaktionärsten, oft subjektiv-idealistischen und irrationalistischen Strömungen der westlichen Philosophie.

Die gegenwärtige Krise wird auch weiterhin einen Nährboden für diese kleinbürgerlichen Ideologien bieten – natürlich nicht nur in ihren linken, sondern vor allem auch in ihren rechten Spielarten – zumal einige dieser Ideologien bereits tief in die organisierte Arbeiter:innenbewegung und die politische Linke eingedrungen sind.

Kleinbürgerliche Ideologien stellen schon längst eine besonders wichtige und prägende Kraft in der Frauen*streikbewegung und im zeitgenössischen Feminismus dar, aber auch in klassenübergreifenden Massenbewegungen (Ökologie, Antirassismus). Das Beispiel der Gilets Jaunes in Frankreich veranschaulicht die Gefahr, wenn Populismus zur führenden politischen Ideologie einer Massenbewegung wird. Die Gefahr, dass die radikale Rechte diese Bewegung auf elektoraler Ebene wie überhaupt im politischen Raum für sich vereinnahmt oder eine dominante Rolle ausübt, spiegelt einen weiteren Rückgang des sozialen Gewichts der Arbeiter:innenklasse wider.

Der Populismus und andere kleinbürgerliche Ideologien sind jedoch nicht die einzigen, die versuchen, die Krise der Gewerkschaften und der reformistischen Parteien auf der Linken zu lösen.

In den letzten Jahren ist auch eine neue Strömung des linken Reformismus entstanden – zum Beispiel in Teilen der europäischen Linksparteien, im Corbynismus in der Labour Party oder auch in Teilen der DSA in den USA. Das Scheitern Corbyns zeigt deutlich die Grenzen dieser Strömung, ist aber keineswegs mit ihrem Ende zu verwechseln.

Zeitschriften wie „Jacobin“ oder die Stiftungen der ELP (Luxemburg Foundation) haben in den letzten Jahren begonnen, eine „neue“ reformistische Strategie zu etablieren und versuchen, sie als Alternative zur alten Sozialdemokratie, zu den „Grünen“ und zum Linkspopulismus zu verbreiten. Unter dem Titel „Transformationsstrategie“ berufen sie sich auf Theoretiker wie Kautsky, Gramsci, Poulantzas, um eine antibolschewistische, „sozialistische“ Strategie zu rechtfertigen, die den revolutionären Sturz der herrschenden Klasse und die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats durch einen langwierigen Kampf um die „Hegemonie“ und eine „schrittweise Transformation“ von Staat und Gesellschaft ersetzen will. Dieser „neue“ Reformismus ist natürlich nicht neuer als seine historischen Vorbilder im marxistischen Zentrum der II. Internationale, dem Austromarxismus oder dem Eurokommunismus. Aber die Theoretiker:innen und Ideolog:innen dieser Strömung stellen ihn als Versuch dar, einen „neuen Marxismus“ zu begründen, der den Gegensatz von Reform und Revolution versöhnt. In Wirklichkeit entpuppt sich das als wieder aufgewärmter Revisionismus.

Die „radikale“ Linke und der Zentrismus

Im Allgemeinen konnte die „radikale“ Linke wenig oder gar nicht von den politischen Krisen des Reformismus und der Anpassung der Gewerkschaftsführungen an Kapital und Staat profitieren. Im Gegenteil, sie erlebt einen weiteren politischen Niedergang.

Die Linke aus „postmarxistischen“ und (post)autonomen Bewegungen schwankt zwischen einer opportunistischen Anpassung an andere Kräfte (kleinbürgerlich geführte Bewegungen oder auch den linken Apparaten in Gewerkschaften und reformistischen Parteien) einerseits und einer romantisierenden Rückkehr zu ultralinken Formen von „Militanz“ andererseits. Beiden gemeinsam ist eine Fetischisierung von Formen des spontanen Prozesses, die je nach ideologischer Ausrichtung durch Teile der Klimabewegung, Organizing-Kampagnen in den Gewerkschaften, „Nachbarschaftsarbeit“ oder direkte Aktionen verkörpert werden. Diese Fetischisierung der Form ersetzt jede systematische Entwicklung eines Programms, einer Strategie und Taktik.

Auch wenn diese Strömungen theoretisch und programmatisch in einer Sackgasse stecken und vor allem keine Antwort auf die Kriegsfrage und die zunehmende imperialistische Blockkonfrontation geben, können wir keineswegs ausschließen, dass sie – ähnlich wie verschiedene Spielarten des Anarchismus – Anziehungskraft auf sich radikalisierende Teile der Jugend und kämpferische Arbeiter:innen entwickeln können, gerade weil sie eine einfache Antwort auf den Niedergang des Reformismus und die Krise der Arbeiter:innenbewegung zu liefern scheinen.

Diese Formen des kleinbürgerlichen Linksradikalismus müssen von zentristischen Kräften unterschieden werden, also solchen, die zwischen Reform und Revolution, zwischen bürgerlicher und revolutionärer Arbeiter:innenpolitik schwanken. Der Zentrismus ist im Grunde ein kurzlebiges politisches Phänomen, denn ein länger andauerndes Pendeln zwischen diesen Polen im Klassenkampf ist für eine Partei, die bedeutende Teile der Klasse führt, unmöglich.

In den letzten Jahren, ja, sogar Jahrzehnten, hat sich keine zentristische Massenpartei gebildet, die mit der Partido dos Trabalhadores (PT = Arbeiter:innenpartei) bei ihrer Gründung oder der USPD im Ersten Weltkrieg vergleichbar wäre. Einem solchen Phänomen am nächsten kam die Nouveau Parti anticapitaliste (NPA = Neue antikapitalistische Partei), die es aber aufgrund ihrer inneren Widersprüche nie vermochte, über das Stadium einer großen Propagandaorganisation hinauszuwachsen und wirklich eine Partei zu werden.

Wir haben es heute entweder mit zentristischen Wahlfronten zu tun, wobei die erfolgreichste und größte zweifellos die Frente de Izquierda y de los Trabajadores – Unidad (FIT-U = Vereinigte Front der Linken und der Arbeiter:innen) in Argentinien darstellt, oder mit rechtszentristischen Strömungen innerhalb reformistischer Formationen (z. B. in Teilen der Democratic Socialists of America, DSA).

Es ist jedoch keineswegs auszuschließen, dass solche zentristischen Formationen in der nächsten Zeit eine größere Anhänger:innenschaft gewinnen werden. Solche können natürlich nicht nur aus sozialdemokratischen Formationen oder trotzkistischen Kräften entstehen, sondern auch aus linksstalinistischen oder politischen Differenzierungen innerhalb von Massenbewegungen. Wo diese Kräfte zu einem Phänomen werden, das bedeutende Teile der Avantgarde umfasst, müssen Revolutionär:innen in diesen Prozess eingreifen und für eine wirklich revolutionäre Ausrichtung kämpfen.

Im Allgemeinen befinden sich die trotzkistisch-zentristischen Organisationen jedoch in einer tiefen Krise. Mehrere Strömungen – allen voran das Vereinigte Sekretariat, das sich vor einigen Jahren ironischer Weise in Vierte Internationale umbenannt hat – sind nach rechts gerückt und haben Sektionen und Mitglieder verloren. Andere, wie die International Socialist Tendency (IST = Internationale Sozialistische Tendenz), treten kaum noch als internationale Strömungen in Erscheinung. Das Committee for a Workers International (CWI = Komitee für eine Arbeiter:inneninternationale) hat sich in zwei etwa gleich große Teile gespalten. Das Gleiche gilt für die Partido Obrero (PO = Arbeiter:innenpartei) und ihre internationale Strömung.

Unter den größeren zentristischen Strömungen haben sich die aus dem Morenismus hervorgegangenen (Liga Internacional dos Trabalhadores, LIT; Unidad Internacional de Trabajadoras y Trabajadores, UIT) konsolidiert, wenn auch mit einer abenteuerlichen Politik, die zwischen Opportunismus und Sektierertum schwankt. Nur zwei große internationale Strömungen sind gewachsen oder befinden sich im Wachstum: Die International Marxist Tendency (IMT = Internationale Marxistische Tendenz), die sich als eine eher „orthodoxe“ Form des Marxismus mit einer starken propagandistischen Ausrichtung präsentiert, und die Fraccíon Trotskista (FT) mit der argentinischen Partido de los Trabajadores Socialistas (PTS) als größter Sektion.

IMT und FT/PTS (wie letztlich auch LIT und UIT) versuchen, sich als orthodoxe Kräfte zu präsentieren, die eine marxistische oder klassenunabhängige Alternative zum Reformismus und verschiedenen kleinbürgerlichen Strömungen darstellen. Ihre Stärke liegt zweifellos in einer umfangreichen propagandistischen Tätigkeit und, insbesondere im Fall der FT, in einer sehr systematischen Nutzung der sozialen Medien. Die Frage der Neuformulierung des revolutionären Programms stellt sich bei beiden nicht wirklich (ebenso wie bei UIT und LIT). Beide sind ironischer Weise durch ein Abgleiten in Richtung Ökonomismus und Spontaneität und eine Ablehnung von Lenins Konzeption der Entstehung von Klassenbewusstsein (und damit des Kerns der leninistischen Parteitheorie) gekennzeichnet.

Beide Strömungen könnten in naher Zukunft weiter wachsen. Allerdings sind die inneren Widersprüche, die die jeweiligen Organisationen in eine Krise stürzen können, sehr unterschiedlich. Die IMT lebt von der Isolierung ihrer Mitglieder vom „Rest“ der Linken in einer höchst sektiererischen Weise. Es ist die Konfrontation mit der Realität des Klassenkampfes und verschiedenen anderen Strömungen, die das Weltbild der IMT-Anhänger:innen erschüttern kann und wird, wie bei früheren Abspaltungen dieser Strömung.

Die Widersprüche der PTS/FT-Strömung ergeben sich aus ihrer theoretischen Hinwendung zu Gramsci (und weg von Marx‘ Ideologiebegriff und Lenins Verständnis von Klassenbewusstsein), den methodischen Schwächen ihres Imperialismusverständnisses (und der damit verbundenen Fehlcharakterisierung Chinas und Russlands), ihrem Missverständnis von Reformismus und Einheitsfronttaktik sowie den inneren Widersprüchen der FIT in Argentinien.

Wir müssen die Entwicklung sowohl der krisengeschüttelten als auch der wachsenden zentristischen Strömungen genau verfolgen und unsere Kritik vor allem an ihren inneren Widersprüchen und programmatischen Schwächen ansetzen.

Die Krise des Zentrismus hat auch zur Entwicklung kleinerer linksgerichteter Organisationen und Gruppen geführt, die als Opposition innerhalb bestehender internationaler Tendenzen agieren oder eine revolutionäre Umgruppierung vorantreiben wollen (so die International Trotskyist Opposition, ITO, oder die Internationale Revolutionäre Tendenz, TIR, oder der linke Flügel der NPA). Natürlich gibt es auch mit diesen Gruppen wichtige programmatische und methodologische Unterschiede. Aber ihre Entwicklung verweist darauf, dass sich in der kommenden Periode auch Gruppierungen nach links entwickeln oder in eine Krise geraten können, die eine Möglichkeit für revolutionäre Umgruppierung schafft, für den Aufbau einer größeren revolutionären Tendenz, die viel effektiver in den Klassenkampf weltweit eingreifen und sich auf eine neu entstehende Avantgarde beziehen kann, denn die aktuelle Krise wird alle Strömungen und Ideologien auf die Probe stellen.

Die „radikale“, subjektiv nicht-reformistische Linke war und ist dabei gezwungen, auf die Veränderungen in der Arbeiter:innenklasse und deren Organisationen zu reagieren. Das betrifft insbesondere auch die politische Neuformierung der Klasse. Auch wenn sie zahlenmäßig und politisch schwach sein mögen, so hat auch die Intervention (oder das Unterlassen ebendieser) von linken, antikapitalistischen Strömungen und Gruppierungen einen wichtigen Einfluss auf die Neuformierung der Klasse in den letzten Jahren gehabt. Allerdings hat diese Intervention keineswegs zur Realisierung des Potentials für eine revolutionäre Neuformierung der Klasse auf allen Ebenen geführt, sondern leider oft genug zum Gegenteil. Es macht daher Sinn, sich wichtiger Lehren der revolutionären Arbeiter:innenbewegung zu besinnen, wie aus dem Zustand der Schwäche, ja, Marginalisierung eine Stärke der revolutionären Kräfte möglich ist, ohne in Sektierertum oder Opportunismus abzugleiten.

4. Historische Lehren

Schließlich stellt sich für alle Strömungen der „extremen Linken“ die Frage, wie sie mit ihren geringen Kräften in einen Prozess der historischen Neuformierung der Klasse, der grundlegenden Erschütterung ihrer bestehenden Organisationen, der raschen Bildung „neuer“ politischer Kräfte und ihres oft ebenso raschen Niedergangs intervenieren sollten.

Wir müssen unsere Taktik dabei nicht mit Blick auf die mehr oder weniger radikale Linke, sondern vor allem in Hinblick darauf bestimmen, wie wir die reale Avantgarde in ihrer gewerkschaftlichen, sozialen und vor allem politischen Neuformierung beeinflussen, an ihrer Seite arbeiten und sie für ein revolutionäres Programm und den Aufbau einer revolutionären Partei gewinnen können.

Wir tun dies als sehr kleine Propagandagesellschaft. Anders als revolutionäre Parteien, die wenigstens einige tausend, wenn nicht zehntausende Kader zählen und signifikante Teile der Arbeiter:innenklasse anführen können, müssen kleine revolutionäre Gruppierungen v. a. auch versuchen, Wege und Taktiken zu entwickeln, wie sie überhaupt in größere Veränderungen der Klasse eingreifen können.

In dieser Hinsicht sind die Erfahrungen des Trotzkismus von 1933 bis zum Zweiten Weltkrieg für unsere heutige Situation von enormer Bedeutung. Bis zur Niederlage der deutschen Arbeiter:innenklasse gegen den Faschismus hatten die Trotzkist:innen als „externe Fraktion“  für eine Reform der Kommunistischen Internationale gekämpft. Die Losung einer neuen Internationale wurde bis dahin von den Gruppierungen der „Internationalen Linksopposition“, also den „Trotzkist:innen“, vehement abgelehnt, da es ihrer Meinung nach v. a. darum ging, den Kampf um eine politische Kursänderung der Kommunistischen Internationale zu führen, die sich noch auf Millionen revolutionäre Arbeiter:innen stützen konnte. Die Avantgarde der Klasse war damals im Großen und Ganzen in diesen Parteien zu finden.

Die Niederlage der deutschen Arbeiter:innenklasse offenbarte aber auch das komplette Scheitern der Komintern-Strategie und der ultralinken Politik der „Dritten Periode“. Die KPD hatte ganz in diesem Sinne jahrelang die Anwendung der Einheitsfrontpolitik gegenüber der Sozialdemokratie abgelehnt und so den reformistischen Führer:innen die Ablehnung der Einheitsfront mit den Kommnist:innen erleichtert und somit die Einheit der Klasse gegen die Faschist:innen und die Gewinnung der sozialdemokratischen Arbeiter:innen massiv erschwert. All das führte dazu, dass die Arbeiter:innenklasse den Faschismus nicht stoppen konnte und für den offenen Verrat der Sozialdemokratie und die fatale, ultralinke Politik der KPD (garniert mit reichlich Nationalismus) mit der schwersten Niederlage des 20. Jahrhunderts zahlen musste.

Die Komintern und die KPD wurden zu diesem Zeitpunkt von Trotzki und der Linken Opposition nicht als reformistisch, sondern als zentristisch, genauer als „bürokratischer Zentrismus“, charakterisiert. Trotzdem drängte Trotzki nach der Niederlage darauf, dass die Linke Opposition nunmehr ihren Kurs auf eine „Reform“ der Komintern aufgeben müsse, weil sich die KPD wie die Komintern als unfähig erwiesen, selbst nach dieser historischen Niederlage, ihre Fehler zu analysieren. Im Gegenteil, die KPD und das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale bestätigten nach der Machtergreifung Hitlers, dass der Kurs grundsätzlich richtig gewesen wäre, ja man ging noch davon aus, dass Hitler rasch „abwirtschaften“ würde und dann die KPD die Macht ergreifen könne. Gegen diesen Kurs regte sich in der Komintern nicht nur an der Spitze, sondern auch in den Sektionen kein offener Widerstand – auch wenn sich Arbeiter:innen mehr oder weniger demoralisiert von ihr abwandten.

Daraus zog Trotzki den Schluss (zuerst hinsichtlich der KPD, dann gegenüber der gesamten Komintern), dass eine „Reform“ der stalinistischen Parteien für die Zukunft auszuschließen  und daher auch eine Neuausrichtung der Linken Opposition notwendig geworden sei, die sich fortan „Internationale Kommunistische Liga“ nannte. Das Ziel war nunmehr der Aufbau einer neuen revolutionären Internationale. Die Entwicklung einer recht kleinen Propagandagruppe hin zu einer Kaderpartei kann freilich nicht ohne entschlossene taktische Manöver im Parteiaufbau bewerkstelligt werden – Manöver, die auch in den 1930er Jahren zu vielen sektiererischen Einwänden wie zu opportunistischen Fehlern führten. Hinzu kommt, dass die Fragmente der Vierten Internationale diese Taktiken nach dem Zweiten Weltkrieg pervertierten und ihres revolutionären Gehalts beraubten. Das wohl bekannteste Beispiel ist die Entrismustaktik, die nach dem Zweiten Weltkrieg grundsätzlich einen opportunistischen Charakter erhielt.

Wir haben uns an anderer Stelle ausführlich mit den verschiedenen Taktiken auseinandergesetzt. Für uns geht es hier darum, die grundlegenden Methoden, die Trotzki in den 1930er Jahren angewandt und entwickelt hat, zu skizzieren, da wir sie für unsere heutigen Aufgaben für besonders interessant halten. Wir können dabei drei zentrale politische Taktiken/Methoden unterscheiden, die wir im Folgenden darstellen wollen: a) Die „Blocktaktik”, b) Entrismus und c) die ArbeiterInnenparteitaktik.

Die Blocktaktik

Vor allem nach der Niederlage gegen den Faschismus orientierte sich Trotzki auf die Einheit mit nach links gehenden zentristischen Organisationen, die sich von Sozialdemokratie oder Stalinismus abgespalten hatten. Entscheidend für Trotzki war dabei, diese Organisationen für einen klaren organisatorisch-politischen Bruch mit den bestehenden Zweiten und Dritten Internationalen zu gewinnen und für einen Aufbau einer gemeinsamen neuen Internationale.

Das brachte ihn einerseits in scharfen politischen Gegensatz zur Mehrheit der „Zwischengruppen“ zwischen der Kommunistischen Internationale und der Sozialdemokratie, die sich einerseits formierten (Pariser Konferenz 1933, Gründung des „Londoner Büros“), andererseits das Hintertürchen zu einer zukünftigen Einheit mit den Reformist:innen oder Stalinist:innen offen halten wollten.

So unterzeichneten schließlich vier Organisationen im August 1933 die „Erklärung der Vier“. Diese beinhaltet auf einigen Seiten eine gemeinsame Einschätzung des Scheiterns von Stalinismus und Sozialdemokratie, die grundsätzliche Notwendigkeit, deren politische Abweichungen zu bekämpfen und eine eigene revolutionäre Alternative auf Grundlage der Anwendung der politischen Grundsätze und Prinzipien von Marx und Lenin aufzubauen.

Die beteiligten Organisationen waren die IKL sowie drei zentristische Gruppierungen: die SAP aus Deutschland, RSP und OSP aus den Niederlanden. Sie einigten sich außerdem auf die Einsetzung einer Kommission: „a) mi der Ausarbeitung eines programmatischen Manifests als der Geburtsurkunde der neuen Internationale; b) mit der Vorbereitung einer kritischen Übersicht über die gegenwärtigen Organisationen und Strömungen der Arbeiterbewegung (Kommentar zum Manifest); c) mit der Ausarbeitung von Thesen zu allen Grundfragen der revolutionären Strategie und Taktik des Proletariats; …“[xvii]

Auch wenn der Block letztlich auseinanderbrach, weil sich die SAP rasch wieder nach rechts hin zum „Londoner Büro“ entwickelte, so brachte er sehr wohl einige Erfolge. OSP und RSP fusionierten rasch und bildeten eine gemeinsame Organisation und spätere Sektion der IKL in den Niederlanden.

Vor allem aber bestimmten die IKL und der Trotzkismus ihre grundlegende Herangehensweise an den Zentrismus, an „Vereinigungsprojekte“. Programmatische Einheit war dabei von entscheidender Bedeutung, insbesondere die Konkretisierung der Programmatik, auf die jeweiligen aktuellen Ereignisse bezogen. Trotzki weist darauf hin, dass es überhaupt keinen Wert habe, die Notwendigkeit der „Diktatur des Proletariats“ anzuerkennen, wenn es kein gemeinsames Verständnis der Notwendigkeit der Arbeiter:inneneinheitsfront gegen die faschistische Gefahr gebe. Das trifft auch auf entscheidende Taktiken zu. So reicht es offenkundig nicht aus, dass die Einheitsfronttaktik „allgemein“ anerkannt wird, wenn zugleich nicht konkretisiert wird, an wen sie sich zu richten hat, ob an die Basis und Führung der Massenorganisationen oder, ob sie praktisch nur eine Spielart der Einheitsfront von unten darstellt.

Hinsichtlich der konkreten Hinwendung zu einer bestimmten Gruppierung ist nicht die formelle Ähnlichkeit des Programms entscheidend, sondern die Bewegungsrichtung der vorgeblich revolutionären Organisation. Trotzki verdeutlicht das mit dem Verweis darauf, dass sich der stalinistische Zentrismus der „Dritten Periode“ aus dem Bolschewismus entwickelte und zu einer dogmatischen, ultralinken Doktrin (einschließlich etlicher rechter Schwankungen) degenerierte. Das bedeutete auch, dass die „offizielle“ Kommunistische Internationale als dem Marxismus näherstehend erscheinen konnte, da sie sich selbst militanter oder kämpferischer inszenierte und für einen ganz und gar nicht bolschewistischen Inhalt noch immer die Terminologie des Bolschewismus verwandte. Die aus der Sozialdemokratie kommenden zentristischen Strömungen erschienen demgegenüber oft weicher, tendierten zur Fetischisierung der „Einheit“ und waren auch stärker durch deren Mentalität geprägt. Entscheidend war daher für Trotzki die Bewegungsrichtung – nicht die formelle Nähe.

Das bedeutete auch, dass Blöcke die Möglichkeiten zu größerer revolutionärer Einheit boten und nur für begrenzte Zeit notwendig waren. Die politischen und wirtschaftlichen Erschütterungen, die zentristische Organisationen und ihre Führer:innen nach links stießen, sind in einer Krisenperiode oft nur von kurzer Dauer. Eine neue Wendung der Ereignisse kann leicht zu einem Kurswechsel der Zentrist:innen führen. So waren der Zulauf des Faschismus in Frankreich und die Niederlage des österreichischen Proletariats 1934 Faktoren, die zu einer Linksentwicklung der Sozialdemokratie insgesamt führten, bis hin zu „zentristischen Anwandlungen“ ganzer Parteien. Viele linke Zentrist:innen der 1930er Jahre verleitete das jedoch zu einem Rechtsschwenk, gewissermaßen, um den nach links gehenden Sozialdemokrat:innen auf halbem Wege entgegenzukommen.

Falsch war daran nicht, sich auf die politischen Erschütterungen dieser Parteien zu orientieren, wohl aber, sich an sie programmatisch anzupassen.

Bei der taktischen Zusammenarbeit und der Bildung von Blöcken mit ihrem Wesen nach zwischen Reform und Revolution schwankenden Organisationen und deren Führer:innen muss deren Schwanken also in Rechnung gestellt werden. Das heißt, es darf keine politischen Zugeständnisse geben und ist notwendig, die unvermeidlichen Zickzacks der Partner:innen zu kritisieren. Zugleich ist es aber auch notwendig, sich auf organisatorischer Ebene überaus flexibel zu verhalten. In „Der Zentrismus und die Vierte Internationale“ fasst Trotzki die Lehren aus dem Block der Vier zusammen:

„Wir können unsere Erfolge in relativ kurzer Frist ausbauen und vertiefen, wenn wir:

a) den historischen Prozess ernstnehmen, nicht Versteck spielen, sondern aussprechen, was ist;

b) uns theoretisch Rechenschaft ablegen von allen Veränderungen der allgemeinen Situation, die in der gegenwärtigen Epoche nicht selten den Charakter von schroffen Wendungen annehmen;

c) aufmerksam auf die Stimmung der Massen achten, ohne Voreingenommenheit, ohne Illusionen, ohne Selbsttäuschung, um, aufgrund einer richtigen Beurteilung des Kräfteverhältnisses innerhalb des Proletariats, weder dem Opportunismus noch dem Abenteurertum zu verfallen, die Massen vorwärts zu führen und nicht zurückzuwerfen;

d) uns jeden Tag und jede Stunde fragen, welches der nächste praktische Schritt sein soll; wenn wir diesen sorgfältig planen und den Arbeitern auf der Grundlage lebendiger Erfahrung den prinzipiellen Unterschied zwischen dem Bolschewismus und all den anderen Parteien und Strömungen klar machen;

e) die taktischen Aufgaben der Einheitsfront nicht mit der grundlegenden historischen Aufgabe – der Schaffung neuer Parteien und einer neuen Internationale – verwechseln;

f) für das praktische Handeln auch den schwächsten Bündnispartner nicht geringschätzen;

g) die am weitesten ‚links‘ stehenden Bündnispartner als mögliche Gegner kritisch beobachten;

h) jenen Gruppierungen größte Aufmerksamkeit widmen, die tatsächlich zu uns tendieren; mit Geduld und Feingefühl auf ihre Kritik, ihre Zweifel und Schwankungen reagieren; ihre Entwicklung in Richtung auf den Marxismus unterstützen; keine Angst vor ihren Launen, Drohungen und Ultimaten haben (Zentristen sind immer launisch und mimosenhaft); ihnen keinerlei prinzipielle Zugeständnisse machen;

i) und, noch einmal sei es gesagt, nicht scheuen auszusprechen, was ist.“[xviii]

Entrismus, Fraktionsarbeit, organisatorischer Anschluss

Die Frage revolutionärer Taktik, der Schwerpunkte für den Aufbau, ist notwendigerweise immer mit einer Einschätzung verbunden, wo sich zu einem bestimmten konkreten Zeitpunkt die wichtigsten politischen Veränderungen in der Avantgarde der Klasse bemerkbar machen.

Unter bestimmten Umständen kann sich eine solche Krise sowohl innerhalb bestehender politischer Parteien der Klasse ausdrücken als auch in Neuformierungen. Die Voraussetzung dafür ist in der Regel eine politische Erschütterung (Krise, Entwicklung der Reaktion, historischer Angriff, Revolten, …), die den tradierten Führungen und Organisationen nicht mehr erlaubt, so weiterzumachen wie bisher. Oft sind Niederlagen oder drohende Niederlagen Katalysatoren für solche Entwicklungen. So waren sicher der Sieg des Faschismus in Deutschland und der Bürgerkrieg in Österreich 1934 neben der innenpolitischen Lage in Frankreich maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Bedingungen für den Entrismus in die dortige Sozialdemokratie, die SFIO, entstanden, das „klassische Modell“ für diese Taktik.

Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass der Entrismus, also der Eintritt einer gesamten Organisation in eine bestehende Partei, keine „Neuerfindung“ des Trotzkismus ist.

Schon Marx und Engels hatten erkannt, dass Kommunist:innen unter Umständen auch in nicht-revolutionären oder sogar in nicht-proletarischen Parteien arbeiten können, um so überhaupt erst die Grundlagen zur organisatorischen Formierung des Kommunismus, zur Gewinnung erster Mitstreiter:innen zu legen.

In etlichen asiatischen Ländern entstanden die Kommunistischen Parteien aus ideologischen und organisatorischen Absetz- und Abspaltungsbewegungen aus bürgerlich-nationalistischen Parteien (China) oder gar aus islamistischen Parteien (Indonesien).

Lenin hatte der britischen KP in seiner Schrift „Der linke Radikalismus“ nachdrücklich die Unterstützung von Labourkandidat:innen bei Wahlen empfohlen. Im Jahr 1920 und auf dem Gründungskongress der Kommunistischen Internationale spricht er sich darüber hinaus ausdrücklich für den organisatorischen Anschluss an die Labour Party aus. Labour hatte damals noch einen relativ föderalen Charakter, der auch den Beitritt von Organisationen ermöglichte (nicht ganz unähnlich wie Syriza bis 2013).

Er trat dafür ein, dass sich die KP als Organisation anschließen solle, also nicht „nur“ die Mitglieder individuell beitreten sollten. So sollte die kleine Kommunistische Partei nicht nur näher an die damals wachsende Labour Party und deren Arbeiter:innenbasis herankommen, es sollte so auch vor den Augen der Massen der Anspruch der Labour Party einem Test unterzogen werden, die gesamte Arbeiter:innenklasse zu repräsentieren: „Diese Partei erlaubt angegliederten Organisationen gegenwärtig die Freiheit der Kritik und die Freiheit von propagandistischen, agitatorischen und organisatorischen Aktivitäten für die Diktatur des Proletariats, solange die Partei ihren Charakter als Bund aller Gewerkschaftsorganisationen der Arbeiter:innenklasse bewahrt.”[xix]

Solche Kompromisse oder Zugeständnisse, hauptsächlich in Wahlangelegenheiten, sollten die Kommunist:innen eingehen wegen „der Möglichkeit des Einflusses auf breiteste Arbeitermassen, der Entlarvung der opportunistischen Führer von einer höheren und für die Massen besser sichtbaren Plattform aus und wegen der Möglichkeit, den Übergang der politischen Macht von den direkten Repräsentanten der Bourgeoisie auf die ‚Labour-Leutnants‘ der Kapitalistenklasse zu beschleunigen, damit die Massen schneller von ihren gröbsten Illusionen im Bezug auf die Führung befreit werden.“[xx]

Diese Zitate zeigen die Ähnlichkeit in der methodischen Herangehensweise zur Entrismustaktik, wie sie von Trotzki in den 1930er Jahren entwickelt und in etlichen Ländern zu verschiedenen Perioden angewandt wurde.

Von 1934 an entwickelte Trotzki eine Taktik, die den völligen Eintritt der französischen Bolschewiki-Leninist:innen (wie die Trotzkist:innen sich damals nannten) in sozialdemokratische und zentristische Parteien zum Inhalt hatte. Trotzki verstand diese nicht als langfristig, geschweige denn als einen strategischen Versuch zur Umwandlung der Sozialdemokratien in für die soziale Revolution geeignete Instrumente. Aber er erkannte, dass die fortgeschrittensten Arbeiter:innen angesichts der drohenden faschistischen Gefahr nicht nur die Einheitsfront mit der KPF forderten, sondern die SFIO nach dem Bruch mit ihrem rechten Flügel und unter dem Druck der Ereignisse auch zum Attraktionspol für die Klasse und deren Avantgarde wurde. Hinzu kam, dass sich auch die KPF nicht mehr länger der Einheitsfront entziehen konnte, einen Schwenk weg von der „Dritten Periode“ machte (allerdings auch den Übergang zur Volksfront vorbereitete). Trotzki machte nicht nur auf die Möglichkeiten dieser Lage aufmerksam, er erkannte auch die Gefahr für die französische Sektion, nämlich praktisch von der Bildung einer Einheitsfront gegen die Rechte und den politischen Debatten in der Klasse ausgeschlossen zu werden.

„Die innere Situation (der SFIO) schafft die Möglichkeit eines Eintritts mit unserem eigenen Banner. Die Modalitäten entsprechen unseren selbstgesteckten Zielen. Wir müssen nun so handeln, dass unsere Erklärung keinesfalls den führenden bürgerlichen Flügel stärkt, sondern stattdessen den fortschrittlichen proletarischen Flügel, und dass Text und Verbreitung unserer Erklärung es uns erlauben, erhobenen Hauptes im Falle ihrer Annahme wie auch im Falle von Hinhaltemanövern oder der Ablehnung zu bleiben. Eine Auflösung unserer Organisation kommt nicht in Frage. Wir treten als bolschewistisch-leninistische Fraktion ein; unsere organisatorischen Bindungen bleiben wie bisher, unsere Presse besteht weiter neben ‚Bataille Socialiste‘ und anderen.“[xxi]

Die Taktik brachte etliche Probleme mit sich. Ein Teil der Sektion verweigerte zu Beginn den Eintritt, um dann, als er mehr und mehr in die Selbstisolation geriet, nachzufolgen. Das änderte nichts an den großen Gewinnen, die die Bolschewiki-Leninist:innen erzielten, v. a. unter der Jugend. Aber der Erfolg führte auch dazu, dass ein Teil der Sektion die Prinzipien über Bord warf und den Entrismus als langfristige Taktik aufzufassen begann, die Kritik an der Parteiführung und v. a. an der versöhnlerischen Haltung der Zentrist:innen in der SFIO abschwächte. Es kam daher um die Frage des Austritts zur Spaltung der Sektion und einer längeren Krise. All das führte Trotzki dazu, die „Lehren des Entrismus“ folgendermaßen zusammenzufassen:

„1.) Der Entrismus in eine reformistische oder zentristische Partei ist an sich keine langfristige Perspektive. Es ist nur ein Stadium, das unter Umständen sogar auf eine Episode verkürzt sein kann.

2.) Die Krise und die Kriegsgefahr haben eine doppelte Wirkung. Zunächst schaffen sie Bedingungen, unter denen der Entrismus allgemein möglich wird. Aber andererseits zwingen sie den herrschenden Apparat auch, zum Mittel des Ausschlusses von revolutionären Elementen zu greifen.

3.) Man muss den entscheidenden Angriff der Bürokratie frühzeitig erkennen und sich dagegen verteidigen, nicht durch Zugeständnisse, Anpassung oder Versteckspiel, sondern durch eine revolutionäre Offensive.

4.) Das oben Gesagte schließt nicht die Aufgabe der „Anpassung“ an die Arbeiter in den reformistischen Parteien aus, indem man ihnen neue Ideen in einer für sie verständlichen Sprache vermittelt. Im Gegenteil, diese Kunst muss so schnell wie möglich erlernt werden. Aber man darf nicht unter dem Vorwand, die Basis erreichen zu wollen, den führenden Zentristen bzw. Linkszentristen Zugeständnisse machen.

5.) Die größte Aufmerksamkeit ist der Jugend zu widmen.

6.) (…) fester ideologischer Zusammenhalt und Klarsicht im Hinblick auf unsere ganze internationale Erfahrung sind notwendig.“[xxii]

Die Entrismustaktik war keineswegs nur auf Frankreich beschränkt, sondern wurde in etlichen Ländern ausgeführt: In Britannien in die „Independent Labour Party“ (1933 – 1936) und später in die Labour Party, in die Socialist Party in den USA (1936/37) unter sehr schwierigen Bedingungen des Fraktionsverbotes, in die belgische Arbeiter:innenpartei oder in die POUM in Spanien.

Neben dem Eintritt in zentristische oder reformistische Parteien sprach sich Trotzki außerdem auch für die Fraktionsarbeit in den linken Flügeln von bürgerlichen Parteien aus. So forderte er in „India faced with imperialist war“ die Arbeit in der Congress Socialist Party, dem linken Flügel der Kongresspartei, der damals von Jawaharlal Nehru und Chandra Bose geführt wurde.

„Anders als selbstgefällige Sektierer müssen die revolutionären Marxisten aktiv an der Arbeit der Gewerkschaften, der Bildungsvereinigungen, der Congress Socialist Party und grundsätzlich in allen Massenorganisationen teilnehmen.“[xxiii]

Propagandagesellschaft und Avantgarde

Trotzki schlägt hier die Arbeit in einer Fraktion einer bürgerlich-nationalistischen Partei vor. Auf den ersten Blick scheint das – so argumentierten Sektierer:innen damals wie heute – „prinzipienlos“. Revolutionär:innen würden, so argumentierten z. B. viele gegen den Entrismus in die SFIO, ihre organisatorische Unabhängigkeit aufgeben. Trotzki antwortete damals folgendermaßen:

„Für formalistische Köpfe schien es in absolutem Widerspruch zu stehen. für eine neue Internationale und neue nationale revolutionäre Parteien aufzurufen und in Verletzung des Prinzips, dass eine revolutionäre Partei ihre Unabhängigkeit aufrecht erhalten müsse; manche betrachteten es als einen Verrat an den Prinzipien, andere argumentierten taktisch dagegen. […] Unabhängigkeit war ein Prinzip für revolutionäre Parteien, aber dieses Prinzip konnte nicht für kleine Gruppen gelten. […] Es bedurfte taktischer Flexibilität, um Gebrauch von den hervorragenden Bedingungen zu machen und aus der Isolation herauszubrechen.“[xxiv]

Vor ähnlichen Bedingungen stehen wir auch heute und werden wir in der kommenden Periode immer wieder stehen. Die Notwendigkeit von Taktiken wie Entrismus, Fraktionsarbeit, organisatorische Angliederung folgt im Grunde immer daraus, dass die kommunistische Organisation noch keine Partei ist, sie nur als ideologische Strömung oder als kämpfende Propagandagruppe existiert. Einer solchen Gruppierung ist es unmöglich, sich direkt an die Masse des Proletariats zu wenden, ja die meisten von ihnen, die nur Hunderte Mitglieder zählen, können auch nur kleine Teile der Avantgarde der Klasse erreichen.

Die Avantgarde der Klasse ist dabei, solange es keine Kommunistische Partei gibt, selbst nur bedingt Avantgarde, sprich, sie ist nicht zu einer Partei formiert, die die politisch bewusstesten Teile der Klasse auf Basis eines wissenschaftlichen, kommunistischen Programms organisiert. Es gibt keine kommunistische Avantgarde im Sinne des Marxismus, wie sie im Kommunistischen Manifest bestimmt ist, also jene proletarische Partei, die sich durch ihr Bewusstsein der allgemeinen Interessen, Aufgaben, Ziele und des Werdegangs der proletarischen Bewegung auszeichnet, die als Strategin der Klasse handeln und diese führen kann.

In diesem Sinn gibt es heute auf der ganzen Welt keine oder nur eine auf kleine Gruppen reduzierte proletarische Avantgarde. Aber im weiteren Sinne gibt es natürlich eine Avantgarde der Klasse, so wie sich in jedem Kampf, in jeder Auseinandersetzung fortgeschrittenere und rückständigere Teile formieren.

Über Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Avantgarde der Klasse in Teilen der Gewerkschaften, oft in starken Industriegewerkschaften wie den Autoarbeiter:innen in Deutschland oder bis in die 1980er Jahre die Bergarbeiter in Britannien, formiert. Diese „ökonomische Avantgarde“ hat sich in den letzten Jahren natürlich auch verändert. So führten z. B. die Kämpfe der Krankenhausbewegung in den letzten Jahren auch zur Bildung neuer Avantgardeelemente.

Entscheidend für uns ist dabei, dass die bloße Führung und größere Militanz in einzelnen Kämpfen diese noch nicht zur Avantgarde für eine ganze Klasse macht. Ein solches Verhältnis wird über längere politische Entwicklungen etabliert und wirkt dann nicht nur im Sinne einer kämpferischen Vorhut, sondern kann auch in die gegenteilige Richtung ausschlagen. So kann z. B. die geringe Aktivität der etablierten Avantgarde den Effekt haben, dass auch die anderen Sektoren der Klasse für eine ganze Periode relativ wenige Kämpfe führen. Eine solche negative Rolle spielte z. B. die IG Metall mit dem „Bündnis für Arbeit“ und v. a. seit dem Ausverkauf des Streiks für die 35-Stunden-Woche im Osten.

Die „wirtschaftliche“ Avantgarde ist oft eng verbunden mit einer bestimmten politischen Strömung in der Klasse. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben diese Rollen sozialdemokratische und stalinistische Parteien für sich monopolisiert. In manchen Ländern gab es nicht einmal solche reformistischen Parteien. Hier bildete sich über die ökonomische Sphäre hinaus gar keine Avantgarde. Allenfalls fand sich diese in Strömungen des kämpferischen Syndikalismus oder in kleinen reformistischen (einschließlich solcher, die auch in populistischen Parteien anzutreffen sein können).

Die Krise des Reformismus hat dazu geführt, dass die Bindung der kämpferischeren Schichten an die Gewerkschaften schwächer wurde, dass es oft v. a. die politische Tradition und der Apparat sind, die diese Bindung noch herstellen und reproduzieren. Ganz offenkundig hat diese Entwicklung auch die Form angenommen, dass linksreformistische Parteien Teile der Avantgarde der Klasse organisieren oder anziehen. In Ländern wie Griechenland repräsentiert Syriza einen wichtigen Teil deren (neben der KKE).

Diese Entwicklung macht Trotzkis Bemerkungen zum Verhältnis von Klassenbewegung, Parteikeim und „Unabhängigkeit“ heute brandaktuell. Revolutionär:innen, die diesen Veränderungen in der Klasse keine Aufmerksamkeit schenken und die Notwendigkeit einer Intervention negieren oder kleinreden, sind keine. Sie sind letztlich eine Mischung aus Sektierer:innen und Ökonomist:innen.

Arbeiter:innenparteitaktik

Das trifft auch auf die Frage der Arbeiter:innenparteitaktik zu. Ursprünglich wurde diese von Trotzki für die USA mit einigem Zögern entwickelt, da er eine opportunistische Anwendung dieser fürchtete. Trotzki befürchtete, dass diese als Forderung nach einer reformistischen, nicht-revolutionären Partei interpretiert werden könne oder gar nach einer klassenübergreifenden Partei wie der politisch falschen Losung der „Arbeiter:innen- und Bäuerinnenpartei“.

Die Entwicklung in den 1930er Jahren zeigt andererseits nicht nur verschiedene Initiativen zur Schaffung einer Arbeiter:innenpartei in den USA im Gefolge des Wachsens der Arbeiter:innenbewegung. Die Losung hat auch einen enormen Wert, um die Klasse und die Gewerkschaften aus der Bindung an eine offen bürgerliche Partei (sei sie nun demokratisch, liberal, populistisch oder nationalistisch) zu lösen.

1938 kam er schließlich zu den entscheidenden, methodischen Schlussfolgerungen:

„a) Revolutionäre müssen es ablehnen, die Forderung nach einer unabhängigen, auf die Gewerkschaften gestützten Partei und die begleitende Forderung an die Bürokratie, mit der Bourgeoisie zu brechen, mit der Forderung nach einer reformistischen Labor Party zu identifizieren.

b) Das Übergangsprogramm als Programm für die Labor Party ist das Kampfmittel zur Gewährleistung einer revolutionären Entwicklung.

c) Für den unvermeidlichen Kampf mit der Bürokratie muss eine revolutionäre Organisation auch innerhalb der Bewegung für eine Labor Party aufrechterhalten werden.

d) Perioden der Wirtschaftskrise und des sich verschärfenden Klassenkampfes sind am günstigsten für die Aufstellung der Losung einer Labor Party. Aber selbst in ‚ruhigen‘ Zeiten behält die Losung einen propagandistischen Wert und kann in lokalen Situationen oder bei Wahlen auch agitatorisch gehandhabt werden. Revolutionäre würden z. B. von den Gewerkschaften statt der Wahlunterstützung für einen demokratischen Kandidaten die Aufstellung eines unabhängigen Kandidaten der Arbeiter:innenklasse fordern.

e) Keineswegs ist eine Labor Party, die natürlich weniger darstellt als eine revolutionäre Partei, eine notwendige Entwicklungsstufe für die Arbeiter:innenklasse in Ländern ohne Arbeiterparteien.

f) Noch einmal sei daran erinnert: Das Programm hat Vorrang.”[xxv]

In der gegenwärtigen Periode besitzt die Losung der Arbeiter:innenpartei in einer Reihe von Ländern auch eine enorme Bedeutung. Wo sie angemessen ist, sollten Revolutionär:innen diese aktiv propagieren und von Beginn an dafür kämpfen, dass diese Partei eine revolutionäre wird, und ein Aktionsprogramm als deren Basis vorschlagen. Sie dürfen das aber keinesfalls zur Bedingung ihrer Teilnahme am Kampf für eine solche Partei machen. Dies wäre ein sektiererischer Fehler, der im Grunde die ganze Taktik, also eine Form der Einheitsfront gegenüber anderen, nicht-revolutionären Teilen der Klasse, v. a. gegenüber den Gewerkschaften, zunichtemachen würde.

Schlussfolgerungen

Dieser kurze Überblick über Taktiken der kommunistischen Bewegung zeigt, wie fruchtbringend sie heute auch für die Intervention in die Neuformierung der Arbeiter:innenklasse sind.

Natürlich erschöpft sich die Frage der Neuformierung nicht in der der politischen Organisation, in Taktiken zum Parteiaufbau. Aber zweifellos muss jede kommunistische Organisation, jede Organisation, die eine neue antikapitalistische Kraft in der Klasse werden will, darauf grundlegende Antworten und Vorschläge liefern.

In den Gewerkschaften und auf betrieblicher Ebene steht heute unbedingt der Kampf gegen jede Einschränkung der Organisationsfreiheit und des Streikrechts, für demokratische, klassenkämpferische Gewerkschaften, strukturiert nach Branchen und Wertschöpfungsketten, im Zentrum.

Für eine solche Politik braucht es nicht nur die organisierte revolutionäre Tätigkeit (revolutionärer Gewerkschaftsfraktionen und Betriebsgruppen), sondern auch die Sammlung aller antibürokratischen, klassenkämpferischen Kräfte, die Schaffung einer Basisbewegung, die für eine klassenkämpferische Führung kämpft.

Auf der Ebene des Abwehrkampfes treten wir für die Bildung von Aktionskomitees in Betrieben, an Schulen, Unis, in den Stadtteilen und Kommunen ein, die nach den Grundsätzen der Arbeiter:innendemokratie organisiert sein sollen. Sie sollen auf Massenversammlungen von ihrer Basis gewählt, dieser gegenüber rechenschaftspflichtig und von ihr abwählbar sein.

Der Klassenkampf erfordert heute intensive internationale Zusammenarbeit, d. h., es geht darum, dass wir auch internationale Koordinierungen schaffen, die real Aktionen verabreden und gemeinsam durchführen, sei es gegen imperialistische Interventionen, gegen soziale Angriffe oder rassistische Abschottung.

So wie wir in den Gewerkschaften und Betrieben die existierenden Organisationsformen umkrempeln müssen, so wirft die Krise neben der Frage von Einheitsfronten gegen Rassismus, Faschismus und Angriffe auf demokratische Rechte auch die nach Massenbewegungen der gesellschaftlich Unterdrückten auf. Das betrifft v. a. den Kampf für eine revolutionäre Jugend- und eine proletarische Frauenbewegung.

All diese Kampfbereiche, alle politischen und organisatorischen Antworten zur Reorganisation und Revolutionierung der Arbeiter:innenklasse bilden einen unverzichtbaren Bestandteil kommunistischer Aktivität.

Aber es gibt einen Grund, warum wir die Frage der politischen Neuformierung der Klasse ins Zentrum unserer Überlegungen rücken. Das größte Problem der Menschheit ist die Krise der proletarischen Führung, das Fehlen einer genuin kommunistischen Partei und erst recht einer solchen Internationale – und das in einer Periode, die objektiv die Alternative „Sozialismus oder imperialistische Barbarei“ aufwirft.

Natürlich gibt es auch ohne revolutionäre Partei revolutionäre Krisen, Situationen, ja auch Revolutionen – aber keine siegreichen. Ohne revolutionäre Führung bleiben sie auf halbem Wege stecken und enden, wie die Arabische Revolution gerade zeigte, früher oder später unvermeidlich mit dem Sieg der Konterrevolution.

Natürlich werden in den aktuellen Kämpfen und erst recht in vorrevolutionären oder revolutionären Krisen neue Schichten aktiviert und politisiert. Das trifft sicher auch auf die Arabischen Revolutionen, auf den kurdischen Kampf, auf den Iran, auf China oder Lateinamerika zu. Aber allein aus diesen Kämpfen entwickelt sich keinesfalls spontan eine politische Alternative oder gar eine bewusste revolutionäre Kraft.

Das Hauptfeld der Auseinandersetzung um die Lösung der Führungskrise der Klasse bilden die politischen Neuformierungsprozesse. Aus den ökonomischen und sozialen Kämpfen, aus Bewegungen können nur Impulse zur Suche nach einer politischen Alternative entstehen, kann die Notwendigkeit einer solchen bewusst werden, und zwar nicht als direkte „Verlängerung“ dieser Kämpfe, sondern aufgrund der Schranken, auf die sie in ihrer eigenen Entwicklung gestoßen werden.

Bei all ihren Mängeln, bei aller notwendigen Kritik an den (neo)reformistischen, kleinbürgerlichen oder zentristischen Fehlern findet dort die Auseinandersetzung um die politische Neuformierung der Klasse statt. Hier werden die Kämpfe um die zukünftige politische Ausrichtung, Strategie und Taktik, um die Programmatik der Klasse ausgefochten. Die Reformist:innen versuchen natürlich, dem Ganzen einen bürgerlichen Charakter zu verleihen bzw. die bestehende politische Dominanz bürgerlicher Ideen und Programme, wenn auch vielleicht in neuer Form, zu verteidigen.

Ob es sich nun um eine „Neuformierung“ der antikapitalistischen Linken, einen Kampf in  einer nach links gehenden reformistischen Partei oder den Bruch mit einer bestehenden handelt – auf jeden Fall bilden diese Formationen den Rahmen für einen politischen und ideologischen Klassenkampf, dessen Ausgang entscheidend für die Bewusstseinsentwicklung der Arbeiter:innenklasse werden wird.

So wie sich von Land zu Land die Form dieser Entwicklung unterschiedlich gestaltet, so werden unterschiedliche Taktiken oder auch eine Kombination dieser notwendig sein, um möglichst effektiv in diese Auseinandersetzung eingreifen zu können. Mögen die Taktiken auch unterschieden sein – das aktive, offensive Eingreifen ist eine strategische Notwendigkeit zur Überwindung der Führungskrise des Proletariats.

Die Fetischisierung einzelner Formen oder gar das Fernbleiben vom politischen Kampf in Massenparteien oder „Umgruppierungsprojekten“ mit der Begründung, dass diese ja reformistisch wären, hat nichts mit dem „Kampf gegen den Reformismus und Zentrismus“ zu tun, sondern bedeutet nur, ihnen das Feld zu überlassen. Natürlich werden angesichts des aktuellen Kräfteverhältnisses die meisten dieser „Neuformierungen“ und auch der Projekte zur „revolutionären Einheit“ mit dem Sieg der Reformist:innen oder Zentrist:innen oder gar Populist:innen wie bei Podemos enden. Ihr Potential mag dann rasch erschöpft sein.

Doch den Kampf um eine revolutionäre Ausrichtung mit dem Argument abzulehnen, dass er wahrscheinlich ohnedies nicht gewonnen werde, ist der „Realismus“ von Passivität und vorweggenommener Kapitulation.

Als Liga für die Fünfte Internationale haben wir uns dazu entschieden, dass unsere Sektionen aktiv an den Umgruppierungen der Klasse teilnehmen, weil, unabhängig vom konkreten Ausgang dieses oder jenes Projekts, sich in diesen politischen und ideologischen Kämpfen die Kader einer zukünftigen kommunistischen Bewegung bewähren, lernen können und müssen, ihre Politik und ihr Programm auf der Höhe der Zeit zu vertreten.


Endnoten

[i] Marx, Karl: Das Kapital, Band 1, MEW 23, Berlin/DDR 1971, S. 640

[ii] A. a. O., S. 657

[iii] OECD, World Economic Report 2014, http://dx.doi.org/10.1787/persp_glob_dev-2014-en

[iv] Vergleiche Krüger, Stephan: Profitraten und Kapitalakkumulation in der Weltwirtschaft, Hamburg 2019, S. 218/219

[v] ILO, World Work Report 2014, https://www.ilo.org/global/research/global-reports/world-of-work/2014/lang—en/index.htm, S. 2

[vi] ILO, World Employment and Social Outlook, Trends 2023, https://www.ilo.org/global/research/global-reports/weso/WCMS_865387/lang—en/index.htm, S. 12

[vii] ILO, World Work Report 2014, a. a. O., S. 6

[viii] Marx, Karl; Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, Berlin/DDR 1959, S. 473

[ix] World Economic and Social Outlook, 2021, https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2021/10/12/world-economic-outlook-october-2021

[x] Siehe Engels, Friedrich: England 1845 und 1885, MEW 21, Berlin/DDR 1975, S. 191 – 198

[xi] Lenin, W. I.: Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, in LW 23, Berlin/DDR 1972, S. 113

[xii] Siehe ILO Bericht 2023, a. a. O.

[xiii] Z. B. in Arruzza, Cinzia; Bhattacharya, Tithi; Fraser, Nancy: Feminismus für die 99 % Berlin 2019. Zur Kritik siehe: https://arbeiterinnenmacht.de/2020/03/04/feminismus-fuer-die-99-prozent/

[xiv] ILO, World Employment and Social Outlook, Trends 2023, a. a. O., S. 13

[xv]  Ebenda, S. 30

[xvi] Ebenda, S. 42

[xvii] Trotzki, Leo: Die Erklärung der Vier, in: Ders., Schriften Band 3.3., Linke Opposition und IV. Internationale 1928-1934, Köln 2001, S. 460

[xviii] Ders.: Der Zentrismus und die IV. Internationale, in: Schriften 3.3., Linke Opposition und IV. Internationale 1928-1934, a. a. O., S. 530

[xix]  Lenin, V. I.: Collected Works, Bd. 31, S. 199

[xx] Ebenda

[xxi] Trotsky, Leon: Writings, Supplement 1934-40, New York 2004,  S. 565/566

[xxii] Ders.: The Crisis of the French Section, (Die Krise der französischen Sektion), New York 1996, S. 125/126

[xxiii] Ders.: Writings 1939-40, New York 1973, S. 36

[xxiv] Ders: „The Crisis of the French Section“ (Die Krise der französischen Sektion), a. a. O., S. 20 (Vorwort)

[xxv] Bewegung für eine revolutionär-kommunistische Internationale (Vorläuferorganisation der Liga für die Fünfte Internationale), Thesen zum Reformismus, in: Revolutionärer Marxismus 44, Berlin 2012, S. 156




1923 – bedeutendes Jahr nicht nur für Deutschland

Bruno Tesch, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

Die Ereignisse in Deutschland stellten die Weichen für den Sieg von Stalinismus und Faschismus, die Siege der politischen Konterrevolution im Arbeiter:innenstaat UdSSR wie im bürgerlichen Deutschen Reich. Ein Sieg der deutschen Revolution hätte für den Geschichtsverlauf dagegen eine Kehrtwende bedeutet. Gerade deshalb, aber nicht nur für deutsche Kommunist:innen, denn Deutschland war der Schlüssel zur damaligen Weltlage, ist es Pflicht, die Politik von KPD und Komintern in diesem Schicksalsjahr gewissenhaft zu studieren und entsprechende Lehren zu ziehen.

Deutschland Halbkolonie?

Als Kriegsverlierer im 1. imperialistischen Krieg ächzte Deutschland zwar unter den Reparationsleistungen an die Siegermächte der Kriegsentente, konnte aber dennoch auf eine unangetastete weitgehend intakte Wirtschaftsstruktur zurückgreifen. Das Land war in mehreren Sektoren produktiv gut aufgestellt. Die Großbetriebe fußten auf einem soliden Sockel an Klein- und Mittelunternehmen. Es gelang, die industrielle Produktion 1922 bereits auf 80 % des Standes von 1913 zu steigern. Die Entwicklung hin zu einem Preisverfall begünstigte den außenorientieren Handel und die Industrie. Im Bereich der Schwerindustrie beschleunigte sich der Zusammenschluss ehemals kleiner Anbieter:innen zu Großkonzernen. So nutzten Großindustrielle die Vorzüge, spekulativ Schulden mit entwertetem Geld zurückzuzahlen, die Produktionsprozesse zu modernisieren und sich der imperialistischen Konkurrenz gewachsen zu zeigen.

Das Deutsche Reich hatte neben einigen territorialen Verlusten an der Peripherie und dem völligen Wegfall seiner Kolonien zwar ökonomische und militärische Einschränkungen, z. B. Verbot der Rüstungsproduktion, Begrenzung der Sollstärke der Reichswehr, hinzunehmen, dies konnte durch Hinwendung zu zivilen Zielen und Ausbau etwa von Infrastruktur in Reichsbahn (Lokomotiv- und Waggonbau) wettgemacht werden. Ihm wurde auch keine Einschränkung des Kapitalverkehrs auferlegt.

Deutschland war also letztlich ein wenn auch tributpflichtiger und etwas gestutzter Imperialismus, verfügte jedoch weiterhin über teils höheres Wirtschaftspotenzial als seine Kontrahent:innen im Krieg.

Inflation und Lage der Arbeiter:innenklasse

Die deutschen Nachkriegsregierungen sahen sich indes mit Zahlungsforderungen der imperialistischen Konkurrent:innen konfrontiert. Auf diesen Druck reagierten die deutschen Staatsverwaltungen mit Ankurbelungen der Gelddruckmaschinen. Eine nie gekannte Geldentwertung setzte ein.

1922 überstiegen die Ausgaben für Reparationszahlungen bereits die Einnahmen des Reiches (ohne Kreditaufnahme). Um das Haushaltsdefizit auszugleichen, sah der Staat in der Kreditaufnahme bei der Reichsbank und in der weiteren Vermehrung des Geldumlaufs den Ausweg. Der Geldwert sank, zumindest die Inlandsschulden konnten dennoch bezahlt werden. Die Reallöhne der Arbeiter:innen minderten sich von 1921 auf 1922 im Schnitt um ein Drittel. Allerdings lag die Arbeitslosenquote bis weit ins Jahr 1923 erheblich niedriger als in anderen imperialistischen Ländern, im November 1922 bei nur 2 %. 1923 verschlechterten sich auf Grund des zunehmenden Preisauftriebs die Lohnverhältnisse drastisch: der Reallohn im Bergbau sank von 1922 auf 1923 auf rund 70 % des Vorkriegsstands. Auf Grund der Verknappung der Lebensmittelversorgung 1923 war die Arbeiter:innenschaft oft gezwungen, aufs Land zu fahren und sich per Naturaltausch mit Lebensmitteln einzudecken.

Außerdem wurden die Lohnabhängigen steuerlich massiv benachteiligt. Die Lohn- und Einkommensteuer wurde bei dieser Gruppe zeitlich unmittelbar nach der Auszahlung eingezogen. Im Gegensatz dazu konnten Landwirt:innen und Unternehmer:innen ihre Steuerverbindlichkeiten erst später entrichten. Durch die schnelle Entwertung der Mark war es den Selbstständigen also möglich, Steuerforderungen seitens der Finanzämter mit wertloser Mark zurückzuzahlen. Diese Ungleichbehandlung machte sich auch am Anteil der Lohn- und Einkommensteuer am gesamten Steueraufkommen des Reiches bemerkbar. Dieser stieg von 56 % im Haushaltsjahr 1922 auf 93 % im Jahr 1923. Insgesamt nahm aber das reale Steueraufkommen stetig ab, da die Steuererhöhungen bald nicht mehr mit der Geldentwertung Schritt halten konnten.

Neben den Arbeiter:innen mussten auch die Beamt:innenschaft erhebliche Einbußen hinnehmen. Zudem traf die völlige Entwertung der Spareinlagen und Anlagen auf Schuldverschreibungen insbesondere Mittelständer:innen (Beamt:innen, Freiberufler:innen, kleinere Gewerbetreibende). Ebenso brach das Vermögen der gesetzlichen Sozialversicherungen, Krankenkassen, Stiftungen und privaten Versicherungsgesellschaften, das großenteils auf dem ursprünglichen Markwert basierte, zusammen.

Zu den Profiteur:innen der Inflation hingegen gehörten generell die Schulder:innen. Diese konnten sich durch die Entwertung der auf Mark laufenden Darlehen günstig ihrer Verbindlichkeiten entledigen. In erster Linie zählte dazu der Staat. Natürlich konnte sich auch das Großkapital schadlos halten, indem große stahlerzeugende und -verarbeitende Konzerne durch die risikolose Kreditaufnahme während der Inflation Kohlezechen, Erzgruben und Hersteller von Hilfsstoffen oder Maschinenfabriken kauften. So gerieten sie auch in Hinblick auf die kommenden Jahre der Weimarer Republik zu einem nicht mehr zu unterschätzenden politischen Machtfaktor.

Besetzung von Rhein und Ruhr

Die Besetzung an Rhein und Ruhr ist kein barbarischer Überfall aus heiterem Himmel gewesen. Die linksrheinischen deutschen Gebiete (Rheinland-Pfalz und Saarland) wurden nach Kriegsende zunächst von französischen Truppen besetzt, ehe sie nach dem Versailler Vertrag unter gesamtalliierte Kontrolle gestellt wurden.

Ende November 1922 legt die konservative Regierung Poincaré den anderen Allierten einen Plan vor, wonach Maßnahmen zu einer „produktiven Pfändung“ ergriffen werden müssten, falls die neu ins Amt gekommene deutsche Regierung Cuno ihre Ankündigung wahrmachen werde, das Deutsche Reich zwecks Sanierung seiner Finanzen

auf drei bis vier Jahre von allen sich aus dem Versailler Vertrag ergebenden Bar- und Sachleistungen zu befreien.

Der Poincaré-Plan sah vor:

  • Eine vollständige Beschlagnahme der Rheinlande, die Frankreich besetzt hält, sie könnte v. a. in der Ersetzung von deutschen durch französische Beamt:innen zum Ausdruck kommen.

  • Besetzung von zwei Dritteln des Ruhrgebietes einschließlich Essens und Bochums, so dass die an Frankreich vom Deutschen Reich zu liefernden Kohlen und der für die französische Industrie erforderliche Hüttenkoks gesichert seien.

Am 11. Januar 1923 rückten französische und belgische Truppen in das bis dahin noch unbesetzte Ruhrgebiet ein. Neben dem Eingriff in die Verwaltung, u. a. teilweise Ersetzung der deutschen Polizei als Ordnungsfaktor, wurde der Abtransport der Reparationen, v. a. von Kohle durch die militärische Präsenz und hartes Vorgehen gegen Widerstand durchgedrückt.

Passiver Widerstand

Die deutsche konservative Regierung unter Wilhelm Cuno (parteilos), die seit November 1922 das Amt von einer liberal-sozialdemokratischen Koalition übernommen hatte, rief zu einem passiven Widerstand auf, dem einzig die Reichstagsfraktion der KPD nicht zustimmte (12 von insgesamt 296 Mandatsträger:innen).

Dieser Anlass war, so sehr er auch die eigene Wirtschaft bedrückte, politisch für die deutsche Bourgeoisie nicht unwillkommen. So konnte sie die nationale Einheit, die Bedrohung durch den äußeren Feind beschwören, dem die Verantwortung für die Verschlechterung der Lage und die zunehmende Teuerung zugeschoben werden konnte.

Die Arbeiter:innenklasse beteiligte sich tatsächlich mit zahlreichen Arbeitsniederlegungen an dem Widerstandsaufruf, beschränkt jedoch zumeist auf die okkupierten Territorien.

Nationale Selbstbestimmung?

Die Okkupation stellte auch die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) vor ideologische und praktische Probleme, die exemplarisch ihren Zustand beleuchteten.

Die Stationierung einer Besatzungsmacht im Verein mit dem Versailler Vertrag leistete nationalistischen Kräften Vorschub, die Deutschland als von fremden Mächten unterdrückte Nation ansahen.

Zu Beginn gab es noch einen hoffnungsvollen revolutionär-internationalistischen Ansatz in Form einer gemeinsamen Konferenz mit Vertreter:innen der KP Frankreichs, die bereits vor der Ruhrbesetzung am 7.1.1923 in Essen stattfand und auf der eine Zusammenarbeit z. B. mit antimilitaristischer Propaganda beschlossen wurde. Im März 1923 folgte eine Zusammenkunft in Frankfurt/Main, die zusätzlich von linksreformistischen und zentristischen Kräften beschickt war und die selbständige Klassenpolitik nach außen wie nach innen als Losung ausgab. Die KPD vernachlässigte jedoch bald den Kampf gegen die eigene Regierung.

Stattdessen revidierte die Partei die Auffassung, dass der deutsche Kapitalismus durch Kriegsniederlage und den Versailler Vertrag seinen imperialistischen Charakter nicht eingebüßt hatte, vertrat nun Thesen zum Status Deutschlands als Halbkolonie und eine Einschätzung, die die Niederlage des französischen Imperialismus als „kommunistisches Ziel“ in einer Veröffentlichung des Mitglieds der Parteiführung, Thalheimer, erklärte. Das deutsche Proletariat müsse nunmehr die Führung in einem gerechten, nationalen Befreiungskampf gegen die Unterdrückung durch den französischen Imperialismus übernehmen. Der deutschen Bourgeoisie wurde eine objektiv revolutionäre Rolle „wider Willen“ angedichtet. Diese Wendung geht einher mit dem Versuch der Gewinnung von reaktionären Kreisen, die im Widerstand gegen die Okkupation aktiv waren, was sich im Verständnis für nationalistische Anschläge ausdrückte (Radeks Schlageterrede) bis hin zur antisemitischen Anbiederung an völkische Kräfte (Ruth Fischer). Die KPD begab sich damit in gefährliches Fahrwasser reaktionärer Ideologie, die Deutschland als. in ‚Zinsknechtschaft‘ ausländischer Mächte schmachtendes und unterdrücktes Land mystifizierte. Nationalbolschewistischen Tendenzen wurde eine Kolumne in der Parteizeitung Rote Fahne zugestanden.

Zustand der KPD

Die Kommunistische Partei Deutschlands war nach 1920 schlagartig zu einer Massenpartei durch Vereinigung mit einem Großteil der zentristischen Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands angewachsen, verstrickte sich in militärische Auseinandersetzungen (Märzaufstand). Darauf folgten Behinderung und teilweise Illegalisierung der Parteiarbeit. Diskussionen über die Kursbestimmung brachten jedoch keine klare Linie in ihre Politik. Die Partei befand sich nach wie vor in einem instabilen Zustand. Dies drückte sich auch im Austausch von Führungen aus.

Die KPD wirkte durch die ständigen Herausforderungen, die die instabile Lage in Deutschland mit sich brachte, überfordert. So war sie auf ihrem Leipziger Parteitag (28.1. – 1.2.1923) in Debatten über die Generallinie verstrickt, wo es sich um Auslegung von Einheitsfront bzw. Arbeiter:innenregierung als Taktik drehte. So elementar auch Versuche waren, Klärungen in diesen Fragen herbeiführen zu wollen, hätte die Partei sich nicht mit der Ablehnung des Regierungsaufrufs begnügen dürfen, sondern frühzeitig die Gelegenheit ergreifen müssen, die Situation der Ruhrbesetzung im Interesse der Arbeiter:innenklasse offensiv zu nutzen.

Der linke Flügel, der im Ruhrgebiet eine seiner Hochburgen besaß, verwies auf diese Notwendigkeit, erhob Forderungen nach proletarischen Produktionskontrollen und Warenverteilung sowie die Übernahme von Betrieben in Bergbau und Schwerindustrie. Das teilweise Machtvakuum durch Zersetzung der deutschen Verwaltungen im Ruhrgebiet schien nutzbar, um auch politische Stellungen der Arbeiter:innenklasse ausbauen zu können. Doch in ihrem Eifer schossen die Genoss:innen abenteuerlich übers Ziel hinaus, weil sie einem militärischen Aufstand und davon ausgehenden Fanal für die restliche Republik Erfolgsaussichten einräumten.

Eine Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg hätte den Blickwinkel für Klassensolidarität aus nationaler Enge weiten und die Aktionsfähigkeit für den Widerstand gegen beide Imperialismen stärken können. Reparationsforderungen und Versailler Vertrag drängten auf eine revolutionär-internationalistische, proletarische Antwort: Gesamteuropäischer Aufbauplan zur Beseitigung der Kriegszerstörungen als Konkretisierung der Forderung nach Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas!

Differenzen

Die anfangs zögerliche Haltung der KP-Führung im Ruhrkonflikt rührte von katastrophalen Erfahrungen mit militärischen Abenteuern wie dem Märzaufstand her, in die sich die Partei nicht wieder stürzen wollte. Sie verfolgte die Linie eines allmählichen Kräfteaufbaus und Stärkung der Kampfkraft der gesamten Arbeiter:innenbewegung.

Als zentrales Mittel nahm sie die Einheitsfronttaktik wahr, verknüpfte sie auch mit der Frage einer Arbeiter:innenregierung. Dabei traten gravierende Unstimmigkeiten in der Partei zu Tage. Die Führung setzte sich für eine umfassende Taktik ein, um auf die reformistisch beeinflussten Massenorganisationen SPD und Gewerkschaften einwirken zu können, während die Opposition nur ein Zusammengehen mit Anhänger:innen der SPD an der Basis akzeptierte, wobei sie bei Aktionen ultimativ die Führungsrolle beanspruchte. Eine Unterstützung einer SPD-geführten Regierung lehnte sie ab. Die Mehrheitssozialdemokrat:innen gehörten für den Oppositionsflügel zum linken Rand der Bourgeoisie.

Auf dem Leipziger Parteitag war eine Charakterisierung der Arbeiter:innenregierung als Kompromissformel angenommen worden, die sich deutlich von den Leitsätzen der Kommunistischen Internationale auf dem IV. Weltkongress 1922 unterschied: „Sie ist ein Versuch der Arbeiter:innenklasse, im Rahmen und vorerst mit den Mitteln der bürgerlichen Demokratie, gestützt auf proletarische Organe und proletarische Massenbewegungen Arbeiter:innenpolitik zu betreiben.“ Diese Formel kittete jedoch die Differenzen nicht, sondern übertünchte sie nur.

Kurswechsel

Die ausbleibende Ausweitung von Protesten gegen die Ruhrbesetzung auf das übrige Deutschland schien der Einschätzung der KP-Führung anfänglich noch recht zu geben. Doch die unversöhnlich harte Haltung Frankreichs, dessen gewalttätige Besatzung einen Blutzoll forderte, sowie die schlechte Versorgungslage für die Bevölkerung ließen Streiks und Hungerunruhen immer wieder aufflammen.

Noch im Mai lehnte die KPD-Zentrale einen Machtkampf im Ruhrgebiet als nur dem Klassenfeind im In- und Ausland dienlich ab. Die wirtschaftliche Einschnürung durch die sprunghafte Preisspirale hielt ab Hochsommer das gesamte Land im Griff und ließ die Stimmung gären. Die SPD entzog nun der Cuno-Regierung die Unterstützung. Die Unruhe wuchs auch in den Parteigliederungen der KPD. So musste sich die Führung schließlich zu einer einschneidenden Kurskorrektur bequemen und bereitete sich auf einen Generalstreik gegen die bürgerliche Regierung vor.

Antifaschistischer Tag

Erste Station einer sichtbaren Initiative der Partei sollte der am 11.7. von der Parteiführung beschlossene „Antifaschistische Tag“ am 29.7. mit großem Aufgebot für eine zentrale Demonstration sein. Er sollte zugleich ein Zeichen sowohl gegen die Regierung wie auch reaktionär-nationalistische Kräfte setzen, die die Krise für ihre Zwecke nutzen wollten. Schwirrende Bürgerkriegs- und Putschgerüchte von rechts und links hatten die Regierungsstellen aufgeschreckt. Die Behörden ordneten für diesen Tag ein Verbot jeglicher Aufmärsche an. Die KP-Führung sagte daraufhin die Demonstration ab.

Diese Entscheidung empörte die Parteiopposition, was sich auf der folgenden Sitzung des Zentralkomitees in einem Disput über die Parteilinie entlud. Sie machte geltend, dass den Massen unbedingt ein Signal hätte gegeben werden müssen, um die Machtfrage unter Führung der KPD zu stellen. Die Leitung bestand wiederum darauf, dass der Augenblick zur Errichtung einer proletarischen Diktatur erst gekommen sei, wenn die Masse der sozialdemokratischen Arbeiter:innen gewonnen werden könne. Die bürgerliche Herrschaft würde selbst zur gegebenen Zeit zusammenbrechen.

In der Schlusserklärung einigte man sich auf die Notwendigkeit, die derzeitige Regierung so bald wie möglich zu Fall zu bringen und eine „Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierumg“ zu fordern. Doch der Zwist innerhalb der Partei war abermals nicht beigelegt.

Streik gegen die Regierung

Da die Ausstände auf Fabrikebene und Zusammenstöße mit der Ordnungsmacht zugenommen und auf das gesamte Deutsche Reich seit Juni übergegriffen hatten und sich zunehmend auch gegen die Finanz- und Wirtschaftspolitik der Reichsregierung wandten, gab die KP-Führung dem Drängen der linken Basis aus dem Betriebsrätemilieu nach und sah sich veranlasst, das Kampfmittel des Generalstreiks anzuwenden.

Die Vorzeichen standen nicht ungünstig, denn die KPD hatte seit Ende 1922 dank gezielter Einheitsfrontarbeit nicht nur ihre Mitgliederzahl vergrößern, sondern auch ihr organisatorisches Umfeld bis tief in mehrheitssozialdemokratische Arbeiter:innenkreise ausdehnen können. Bei ihrer Heerschau musterte die KPD im Juli 1923 allein 4.000 kommunistische Gewerkschaftsfraktionen. Bei den Betriebsräten im Metallarbeiter:innenverband Berlin-Brandenburg belief sich das Überzahlverhältnis der KPD- zur SPD-Angehörigkeit sogar auf etwa 2:1.

Die KPD-Betriebsräte hatten im Verein mit linken Sozialdemokrat:innen rasch den „Fünfzehnerausschuss“ als Verbindung zwischen den Fabrikausschüssen der Hauptstadt formiert. Dieser rief zum Generalstreik auf. Das Berliner Gewerkschaftskartell trat zusammen, beschloss jedoch unter dem Einfluss der rechten SPD-Führung, sich dem Streik nicht anzuschließen. Er wurde dennoch ausgerufen, begann aber merkwürdigerweise am 11.8., einem Sonnabendabend. Jedoch die Eisenbahner:innen befolgten den Streikaufruf nicht. Die Streikfront bröckelte im Laufe des Montag. Die KP-Zentrale entschied sich daher zum Abbruch der Aktion.

Entscheidend für das Scheitern dieses Streikversuchs war auch, dass die Bourgeoisie mittlerweile sehr wendig gehandelt hatte. Sie sah, dass die alte Regierung nicht mehr zu halten war. Diese demissionierte am 12.8. Einen Tag später schon stand eine neue unter Stresemann (liberal-konservative Deutsche Volkspartei). Dem Klassenfeind in den Steigbügel half erneut die MSPD und beteiligte sich auch an dem neuen Kabinett. Die Aufgabe des passiven Widerstands und ein radikaler Währungsschnitt als Lösung der Hyperinflation wurden vorbereitet.

Die Haltung der Kommunistischen Internationale

Diese versuchte, in den Streitigkeiten zwischen den beiden Flügeln zu vermitteln, und stand anfangs eher auf Seiten der KPD-Führung. Deren Politik der Arbeiter:inneneinheitsfront trug bereits 1922 Früchte und schien verlässlicher als der oft sprunghafte Voluntarismus der Opposition. Zwar war in der KI die Anschauung verankert, dass Deutschland die zentrale Rolle als Zündfunke für die sozialistische Weltrevolution einnehmen sollte, und sie hatte ihrer internationalistischen Verantwortung bewusst entsprechend gehandelt und Verbindungen zu der französischen Sektion aufgenommen, doch diese Arbeit nach der Frankfurter Konferenz nicht mit der Entsendung von Material, Personal und Ausgabe politischer Direktiven energisch fortgesetzt. Sie wurde erst im Zusammenhang mit Aufstandsplänen für Oktober 1923 wieder aufgegriffen. Die Dimension der Ruhrbesetzung wurde tendenziell unterschätzt.

In der KI selbst zeichnete sich jedoch eine Uneinigkeit über den Kurs ab. Sinowjew und Bucharin teilten ein halbes Jahr später ab Sommer 1923 im Wesentlichen die Einschätzung des Fischer/Maslow-Flügels und drängten in einer abrupten Wendung auf eine proletarische Erhebung. Sie ließen sich anscheinend von einem überzeichneten Bild der Verhältnisse leiten. Es herrschte die Einschätzung vor, dass in Deutschland die Bourgeoisie bankrott wäre und sich die Lage in Arbeiter:innen- und aufkommende faschistische Massenbewegung polarisierte, die Situation auf einen Bürgerkrieg zusteuerte. Der objektiv revolutionären Lage fehlte jedoch die subjektive Reife.

Der Verlauf des Generalstreikversuchs im August hätte eine Warnung sein müssen.

Hoernle, neben Zetkin deutsches Mitglied im Exekutivkomitee der KI, kritisierte in einem Brief an Brandler vom 3 .7.1923 die in der KI-Führung bereits im Schwange befindlichen Gedanken an einen Aufstand und merkte an, dass die Betriebshundertschaften in Deutschland zunächst noch „nicht Organ des bewaffneten Kampfes und als bewaffnete Macht noch kaum aktionsfähig“ sein würden.

Die KI-Führung hätte zum einem die Brandler-Führung, die zu behäbig darauf zu warten schien, dass die Bourgeoisie von allein zusammenbrechen würde, auf Trab bringen, und andererseits dem zumeist dilettantisch vorschnellen Aktionismus der KP-Opposition die Zügel anlegen müssen. Ein international koordiniertes Eingreifen mit einer straff strukturierten Vorbereitung hätte bereits mit Beginn der Ruhrbesetzung einsetzen und kontinuierlich fortgeführt werden müssen. Dies und ein klares politisches Programm, das die nationalbolschewistischen Flausen und sektiererischen Irrwege hätte austreiben müssen, hätten die Erfolgsaussichten auf eine siegreiche Revolution in Deutschland und darüber hinaus sicherlich erhöht.

Das Interview zwischen Trotzki und Walcher (17. – 20. August 1933) bringt die Politik von KPD und KI zwischen Jahresbeginn und Oktober 1923 ähnlich auf den Punkt: „Zum Punkt 1923 fuhr Gen. L. T. fort zu bekräftigen, dass zu dieser Zeit, hervorgerufen durch eine schlechte Politik, große objektive Möglichkeiten für den revolutionären Kampf vermasselt worden sind. Aber er denke überhaupt nicht, dass der entscheidende Fehler im Oktober zur Zeit der Chemnitzer Konferenz begangen worden sei. Er hat daran erinnert, er habe schon 1924 die Situation des Jahres 1923 mit der eines Reiters verglichen, der sein Pferd vor einem aufgetürmten Hindernis zu sehr am Zügel gehalten habe und dem folglich nur zwei Möglichkeiten blieben: entweder vor dem Hindernis zurückzuweichen oder trotzdem den Sprung zu wagen, der nur nach gewaltigem Anlauf erfolgreich hätte sein können, und sich infolgedessen den Hals zu brechen. Die KPD, kraft der falschen Politik ihres Zentralkomitees und auch zweifellos der Exekutive der Kommunistischen Internationale, war genau in die Lage dieses Reiters versetzt.“




Die Türkei vor den Wahlen: ein Land vor neuen Entscheidungen?

Dilara Lorin, Infomail 1222, 5. Mai 2023

Am 14. Mai stehen nun die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei an. Und sie könnten auch zu einer Entscheidung über die Zukunft des Regimes Erdogan werden.

Zweifellos spekulierten der Präsident und die regierende Koalition um die AKP beim Ansetzen des Wahltermins auf eine zumindest vorübergehende Erholung der Wirtschaft. Doch die blieb aus. Im Gegenteil: Die hohe Inflationsrate sowie eine hohe Verschuldung, aber auch die Covid-19-Pandemie haben die Ökonomie stark beeinträchtigt.

Das verheerende Erdbeben vom 6. Februar hat noch einmal für ein großes Loch bei Hunderttausenden Menschen gesorgt, aber auch die miserable Politik im Interesse des Kapitals und der Günstlinge von Erdogan hat nicht nur tiefe Spuren hinterlassen, sondern auch die über Jahre andauernde Korruption dieses Regimes aufgezeigt. Diese Politik hat nicht nur Millionen in Armut gestürzt, sondern auch Tausenden Menschen das Leben gekostet.

Leidtragende sind vor allem die Arbeiter:innenklasse sowie die unterdrückten Minderheiten des Landes, denn sie müssen die Lasten der Wirtschaftskrise schultern. Aber selbst die Mittelschichten und das Kleinbürger:innentum zweifeln mittlerweile am Regime.

Erdogans Wahlantritt

Dabei zeigt schon die Tatsache, dass Erdogan überhaupt ein weiteres Mal antreten darf, wie biegsam die türkische „Demokratie“ ist. Eigentlich darf ein Präsident gemäß der Verfassung nur zwei Amtszeiten regieren. Erdogan steht aber mittlerweile 20 Jahre an der Spitze des Staates. Wie ist das „legal“ möglich?

Mit dem Referendum 2018 wurde zugleich die bonapartistische Herrschaft, die er ausübt, verstärkt und per Plebiszit legitimiert. Die Abstimmung zog eine Verfassungsänderung nach sich, die es gestattet, dass der/die Staatspräsident:in gleichzeitig auch das Amt des/r Regierungschef:in ausübt. Das Referendum erlaubt es Erdogan außerdem, im Jahr 2023 ein weiteres Mal als Präsident zu kandidieren. So wurde per Plebiszit zwar festgelegt, dass man lediglich zwei Amtszeiten regieren darf – aber jene vor 2018 werden nicht mitgezählt.

Mit dem Vorverlegen der Wahl auf Mitte Mai kann Erdogan außerdem sogar bei der nächsten Wahl dafür plädieren, wieder kandidieren zu dürfen. Denn eigentlich darf man nur zwei Perioden als Präsident:in regieren, was bedeuten würde, dass die kommende Amtszeit seine letzte wäre. Aber Erdogan und die AKP können behaupten, dass dadurch, dass die Wahl aktuell vorgezogen wurde, die Zeit von 2018 bis 2023 nicht als komplette Amtszeit gilt.

Dennoch könnte es eng werden. Sollte kein/e Kandidat:in bei den Präsidentschaftswahlen im ersten Wahlgang eine Mehrheit erhalten (was sehr durchaus wahrscheinlich ist), so soll zwei Wochen später eine Stichwahl abgehalten werden.

Bei den Parlamentswahlen werden 600 Abgeordnete für die Große Nationalversammlung der Türkei bestimmt. Diese Sitze werden auf die 81 Provinzen des Landes aufgeteilt, wobei jede durch eine bestimmte Anzahl von Abgeordneten vertreten wird. Wie viele eine Provinz wiederum erhält, wird durch die Proportion zu ihrer Bevölkerungszahl festgelegt. Damit eine Partei ins Parlament einziehen kann, muss sie aber bei den Wahlen die undemokratische 10 %-Hürde überschreiten.

Wie sieht die aktuelle Stimmung in der Bevölkerung aus?

Die Regierung wird aktuell durch eine Koalition aus AKP und MHP gebildet. Dabei ist das Regime der AKP schon in den letzten Jahren nicht nur durch Autoritarismus, Repression, regionale Machtambitionen und einen permanenten Krieg vor allem gegen die Kurd:innen im eigenen Land und in Rojava geprägt. Die AKP ist auch immer wieder von Konflikten zerrissen, infolge derer einige Abgeordnete und Mitglieder die Partei verließen.

Gleichzeitig findet eine weitere Stärkung des autoritären, bonapartistischen, auf die Person Erdogans zugeschnittenen Regimes auch innerhalb der AKP statt. Der Präsident wurde immer mehr zur einzigen führenden Figur entwickelt, um seine Kontrolle innerhalb der Partei weiter zu stärken. Kritiker:innen wurden in gleichem Zuge ausgeschlossen oder verließen die Reihen. Damit hält die Person Erdogan faktisch immer mehr Partei wie Regime zusammen. Daher ist die Verlängerung seiner Vorherrschaft nicht nur ein Zeichen seiner Stärke, sondern unfreiwillig auch der Schwäche eines auf einen mittlerweile recht kranken „starken Mann“ zugeschnittenen Regimes.

Nach den letzten Wahlen 2018 musste die AKP eine Koalition mit der MHP eingehen, weil sie alleine nicht die absolute Mehrheit gewinnen konnte. Die MHP ist eine extrem rechtsnationale Partei, die mit den faschistischen und militant organisierten Grauen Wölfen eng verbunden ist. Sie gelten wie andere protofaschistische und extrem reaktionäre Kräfte als Reserven eines bonapartistischen Regimes, das sich aber vor allem auf die Kontrolle des Staatsapparates, der Medien, eine Wahlmaschinerie, Teile des Kapitals, große Schichten des Kleinbürger:innentums, der konservativen Mittelschichten, aber selbst rückständige, nationalistische Schichten der Lohnabhängigen und Armen stützt. Chauvinismus, Nationalismus und die ideologische Wiederbelegung des „Osmanismus“, die eine regionale Führungsrolle begründen sollen, sind ebenso ein Bindeglied dieser Allianz wie Erdogan als übergroße Führungsfigur, die die Einheit durchaus heterogenerer Kräfte repräsentiert.

Doch große Teile der Bevölkerung wenden sich auch ab. Sie wollen dem AKP- und MHP-Regime nicht mehr folgen. Die Inflation sowie der stetige Fall der Lira drücken die Mittelschicht der Türkei, die unter den Anfangsjahren der AKP-Regierung noch aufblühte, immer mehr an den Rand. Sie steht zum Teil ablehnender als vorher zur Regierung. Das Erdbeben und die damit immer deutlicher werdenden Missstände, Vetternwirtschaft sowie Korruptionsskandale haben die Regierung weiter diskreditiert.

Wachsende Teile dieser Schichten setzen nun bei der kommenden Wahl ihre Hoffnung in Kemal Kılıçdaroğlu, den Vorsitzenden der kemalistisch-sozialdemokratischen Partei CHP. In den Umfragen liegt sie oft nur einige Prozentpunkte hinter der AKP und hat im Vergleich zu den Wahlen von 2018 einen Gewinn von bis zu 5 % zu verzeichnen, wobei die AKP einen Verlust von ganzen 11,5 % erlitt. In den aktuellen Umfragen liegen je nach Meinungsforschungsinstitut der Regierungs- oder der Oppositionsblock vorne. In jedem Fall hat die CHP geführte Oppositionsallianz eine realistische Chance auf einen Wahlsieg bei den Präsidentschafts- wie Parlamentswahlen.

Die Sechser-Opposition

Die Unzufriedenheit mit dem AKP/MHP-Regime bildet auch den größten Pluspunkt der Opposition. Sie pocht darauf, dass alles besser werde, wenn Erdogan und die AKP nicht mehr an der Macht seien.

Inhaltlich und programmatisch hält sich die bürgerlich-nationalistische Oppositionsallianz allerdings bedeckt. Wie sie Inflation und Armut bekämpfen will, welche Politik sie gegenüber den unterdrückten Nationalitäten und von allem den Kurd:innen verfolgt, das lässt sie bestenfalls (!) offen. Ein Rückzug aus Syrien, eine Aufgabe der geopolitischen Ambitionen der Türkei sind natürlich auch unter der CHP nicht zu erwarten, wohl aber ist es eine zumindest verbale Verbesserung der Haltung zur NATO und zum Westen.

Um die Mehrheit der AKP und Erdogans zu brechen, hat die nationalistische CHP, die sich zwar „sozialdemokratisch“ nennt, jedoch immer eine offen bürgerliche Partei war, eine Allianz mit fünf anderen bürgerlichen Teilen der rechten bzw. extrem nationalistischen und islamistischen Oppositionsparteien gebildet – eine Allianz des Grauens, die in vielem fast schon ein Spiegelbild des AKP-MHP-Bündnisses darstellt. Dass sie von der Bevölkerung als mögliche Alternative und zumindest als kleineres Übel akzeptiert und wahrgenommen wird, zeigt deutlich, dass sich die Stimmung weit weniger stark auf Erdogan fixiert als im Jahr 2015/2016. Um wenigstens ihn loszuwerden, setzen viele – auch linke und progressive – Menschen ihre Hoffnungen auf sie. Angesichts von 20 Jahren AKP-Regime ist es sicher verständlich, dass viele Linke, Unterdrückte, Frauen und große Teile der LGBTIAQ-Community sehnsüchtig auf den Sturz eines Tyrannen hoffen. Und natürlich wollen auch alle klassenkämpferischen, ja alle demokratischen Kräfte ihn und die reaktionäre AKP fallen sehen. Aber ein Sieg der CHP-geführten Opposition wird keine echte Freiheit, Frieden oder eine Verbesserung für Unterdrückte und Lohnabhängige bringen.

Im Gegenteil: Sie würde letztlich das kapitalistische, autoritäre Regime nur unter anderen Vorzeichen weiterzuführen versuchen. Die kemalistische CHP tritt bei dieser Wahl mit einem Wahlbündnis an, welches insgesamt aus 6 Parteien besteht. Dieses Bündnis wird von den Medien auch „Altılı Masa“, Sechsertisch, genannt. Neben der CHP beteiligen sich daran İYİ Parti, Saadet Partisi, Demokratik Parti, Gelecek Partisi und die Demokrasi ve Atılım Partisi. Dabei traten vier der sechs Parteien schon 2018 als „Nationale Allianz“ an. Die İYİ-Partei, eine nationalistische Abspaltung von der MHP, ist in den letzten Jahren auf ca. 10 % bei den Wahlen gekommen und wird darum auch am Sechsertisch als zweitstärkste Kraft nach der CHP gesehen. Dass die HDP keinen Sitzplatz erhielt, liegt vor allem an der İYİ Parti, die extrem chauvinistisch ist und die Unterdrückung der HDP und andere kurdischer Organisationen als „terroristischer“ fordert. Die CHP und die anderen Parteien am „Sechsertisch“ folgten diesen Bedingungen ohne große Diskussion.

Die größten Konflikte in der instabilen Allianz gab es um die Frage des/r Spitzenkandidat:in und die Verteilung des zukünftigen Einflusses, sollten die Wahlen gewonnen werden. Wie kaum eine Regierung davor wird eine mögliche CHP-geführte von großen inneren Widersprüchen geprägt sein, wahrscheinlich von größeren als die aktuelle Regierung. Falls sie gewinnen sollte, werden früher oder später die unterschiedlichen Interessen von rechten, ultrakonservativen, nationalistischen, islamischen bis hin zu liberal-reformerischen Strömungen aufbrechen.

Keine Stimme für die CHP und Kılıçdaroğlu!

Auch wenn die CHP und der Sechsertisch vielen als geringeres Übel erscheinen mögen, so sollten ihnen Arbeiter:innen, Linke, unterdrückte Minderheiten, die Frauen- und Umweltbewegung kein Vertrauen schenken und keine Stimme geben.

In Wirklichkeit würde das nur eine kapitalistische Alternative zu Erdogan, eine alternative bürgerlich-nationalistische Koalition stärken, die in allen grundlegenden ökonomischen, geopolitischen und auch demokratischen Fragen letztlich der AKP näher steht als den Arbeiter:innen und Unterdrückten. Auch sie würde eine Wirtschaftspolitik im Interesse des türkischen Kapitals vertreten. Sie mag zwar –ähnlich wie Erdogan – ein paar Verbesserungen für die Armen versprechen, letztlich sollen aber die Massen über Preissteigerungen, Kürzungen, Angriffe auf Arbeits- und Gewerkschaftsrechte die Kosten der Krise zahlen, die sie mit einem Austeritätsprogramm und Privatisierung überwinden will. Eine Aufhebung gewerkschaftsfeindlicher Gesetze lehnt die Opposition ab. Für die unterdrückten Minderheiten, allen voran für das kurdische Volk, wird es auch unter der CHP keine Selbstbestimmung geben, ja nicht einmal die politischen Gefangenen werden freikommen. Sie wird Rojava ebenso wie die PKK weiter bekämpfen. Sie wird weiter gegen Geflüchtete vorgehen. So verspricht sie, in den nächsten zwei Jahren einen Großteil aller Geflüchteten abzuschieben. Die türkische Armee wird weiter in Syrien ihr Unwesen treiben. Das Regime wird, ebenso wie Erdogan, gegen die Geflüchteten vorgehen und seine geostrategischen Interessen verfolgen.

Angesichts der tiefen Widersprüche am Sechsertisch, der Wirtschaftskrise und der vom Standpunkt der Herrschenden notwendigen Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse wird auch ein Präsident Kılıçdaroğlu auf jene bonapartischen Machtbefugnisse zurückgreifen, die Erdogan eingeführt hat. Auch seine Herrschaft wird sich auf den bestehenden Staats- und Militärapparat stützen müssen, was ein Übereinkommen mit den Leuten beinhaltet, die von der AKP an die Spitze der Institutionen gesetzt wurden.

Würde Erdogan eine Niederlage akzeptieren?

Dies wird umso wahrscheinlicher, als es keineswegs sicher ist, dass Erdogan und die AKP eine etwaige Wahlniederlage akzeptieren würden. Schon Trump und Bolsonaro brachten es fertig, von Wahlbetrug zu sprechen, als sie selbst an der Macht waren. Erdogan und die AKP verfügen zweifellos über weit stärkere Stützen in der türkischen Gesellschaft und Elite als Trump in den USA und Bolsonaro in Brasilien. Andererseits würde ein Putschversuch das Land weiter destabilisieren. Daher ist es auch fraglich, ob die AKP insgesamt, die MHP, das Militär einen Putsch inszenieren würden.

In jedem Fall besteht die Gefahr. So sprechen einige von der Ruhe vorm Sturm, wenn es um die AKP und Erdogan geht. Dieser scheint derzeit eher ruhiger in der Politik zu agieren, wenn man seine aktuelle Wahlpropaganda mit der vor den letzten 2 Wahlen vergleicht. Viele Menschen bezeichnen den Urnengang am 14. Mai als Schicksalswahl zwischen Demokratie und Autokratie.

Die Frage „Was kommt?“ teilt sich dabei in die Phase vor und nach der Wahl. Vor der Wahl ist noch immer ungeklärt, wie die bis zu 3,7 Millionen Menschen aus den vom Erdbeben betroffenen Gebieten wählen können. Viele sind nicht in der Lage, ihre Dörfer zu verlassen, um in den Städten zu wählen, viele befinden sich außerhalb ihrer Heimatstädte und haben keine Ahnung, wie sie ihre Stimme nutzen können. Und auch die Wahlbehörde hat sich dazu bis dato nicht geäußert. Das Erdogan Wahlmanipulation und -betrug durchführt und weiter durchführen wird, ist kein Geheimnis. Beobachter:innen gehen davon aus, dass alleine im Referendum zur Verfassungsänderung bis zu 2 Millionen Stimmen gefälscht wurden.

Dass kurdische, linke Politiker:innen, kritische Journalist:innen mit Repression überschüttet werden, wundert auch nicht. Alleine bei der Eröffnung der Wahlbüros für die YSP (Yeşil Sol Parti; Grüne Linke Partei) wurden etliche Menschen, die sich in Solidarität mit ihr versammelt hatten, in mehreren Städten und Gemeinden festgenommen. Dass vor allem den Minderheiten erschwert wird, bei Wahlen anzutreten, konnten wir schon 2018 beobachten und dies scheint sich auch dieses Mal nicht zu bessern, sondern zu verschärfen.

Die Linke

Um ein durchaus mögliches Parteiverbot kurz vor den Wahlen zu umgehen, treten die Kandidat:innen der HDP diesmal in Form der Grünen Linkspartei (Yeşil Sol Parti; YSP) an. Zusammen mit anderen linken Parteien bildet sie das „Bündnis für Arbeit und Freiheit“.

In diesem Rahmen stellt die HDP (Halkların Demokratik Partisi) für viele Linke, Gewerkschafter:innen, die LGBTIAQ-Community und Teile der kurdischen Minderheit die wichtigste Kraft dar. Die Repression gegenüber den Abgeordneten und Mitgliedern der Partei ist immens. Im Mai 2016 entzog die AKP-Regierung 138 Abgeordneten ihre Immunität. Die Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sitzen seither (!) in Untersuchungshaft und mit ihnen etliche weitere Abgeordnete.

Bei diesem schmutzigen Vorgehen spielte auch die CHP eine wichtige Schlüsselrolle, denn erst mit ihren Stimmen konnte die nötigen Zweidrittelmehrheit im Parlament erreicht und damit die Aufhebung der Immunität durchgesetzt werden. Nach den Kommunalwahlen 2019 setzte die Regierung 47 der 65 gewählten HDP-Bürgermeister:innen ab und ihre eigenen Leute als Zwangsverwalter:innen ein. Der türkische Generalstaatsanwalt Bekir Şahin reichte am 17. März 2021 einen Verbotsantrag gegen die HDP beim Verfassungsgericht ein. Dass die HDP und ihre Strukturen systematisch angegriffen und immer wieder zerschlagen werden, ist nichts Neues und die Verhaftungs- sowie Verleumdungswellen haben in den letzten Jahren nicht nachgelassen. 

Die TIP, die türkische Arbeiter:innenpartei, stellt im Bündnis die zweitstärkste Kraft dar. Außerdem sind die EMEP (Partei der Arbeit), die EHP (Partei der Arbeiter:innenbewegung), SMF (Föderation der sozialistischen Räte) und die TÖP (Soziale Freiheitspartei) beteiligt. Außerdem rufen die meisten linken Gewerkschaften für die HDP bzw. die YSP bei den Parlamentswahlen auf.

Die sechs Parteien kandidieren auf einer gemeinsamen Liste bei der Wahl, aber alle Mitgliedsparteien können auch mit ihren eigenen Namen und Listen antreten. Dies wurde als Kompromiss durchgesetzt, da zuvor vor allem die TIP darauf bestand, sich mit eigenen Kandidatenlisten und eigenem Logo zur Wahl aufzustellen an den Orten, wo sie regionale Schwerpunkte hat.

Dass die TIP und die HDP auch Menschen aus der LGBTIAQ-Community sowie aus den unterschiedlichen Minderheiten des Landes als Kandidat:innen aufstellen lassen, stellt einen Fortschritt gegenüber den anderen Parteien dar. Das Nichtaufstellen eines/r Präsidentschaftskandidat:in seitens des „Bündnisses für Arbeit und Freiheit“ ist ein großer Fehler und zeigt auch dessen politische Schwächen deutlich. Mehr oder weniger offen wird zumindest im zweiten Wahlgang für Kılıçdaroğlu aufgerufen.

Auch wenn sich die CHP auf einer Pressekonferenz unverbindlich dafür ausgesprochen hat, die Anliegen der HDP, die Frage der Kurd:innen usw. weiterzutragen, wissen wir aus der Geschichte, aber auch durch die Einschätzung des Sechsertisches, dass dies eine blanke Lüge ist.

Während der Wahl gibt es eigentlich drei bis vier Themen, bei welchen sich die Linke von den reaktionären und offen bürgerlichen Kräften für alle deutlich wahrnehmbar unterscheidet: die Frage der Geflüchteten in der Türkei, der Rechte der Kurd:innen und aller unterdrückten Minderheiten, die Aufarbeitung des Erdbebens und vpn dessen Folgen und, wie die wirtschaftliche Krise sowie die miserable Lage der Arbeiter:innenklasse verbessert werden können, ohne dies den Lohnabhängigen aufzuschultern. Und zum wiederholten Mal zeigt sich dabei die reaktionäre Ader der CHP. So stach in den letzten Jahren und Monaten immer brisanter hervor, wie ihre Abgeordneten im Parlament und in öffentlichen Reden gegen Geflüchtete hetzen.

Das „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ stellt zwar eine linke Bündniskandidatur, aber keine revolutionäre Kraft dar, die sich auf ein klares antikapitalistisches Programm der sozialistischen Revolution beruft. Es handelt sich vielmehr um eine Allianz mit einer kleinbürgerlich-nationalistischen Kraft, der HPD, die sich vor allem auf kurdische, Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen, aber auch Kleinbürger:innen und kleine Unternehmer:innen stützt. Auch wenn sie sich in den letzten Jahren mehr in Richtung Gewerkschaften entwickelt hat und z. B. über einen wichtigen Einfluss bzw. Verbindungen zur DISK verfügt, so ist sie keine bürgerliche Arbeiter:innenpartei, sondern eher ein Hybrid aus kleinbürgerlichem Nationalismus, Stalinismus, Populismus und Linksreformismus.

Die anderen Parteien in der Koalition sind durchweg reformistische Arbeiter:innenparteien, oft mit stalinistischer Ausrichtung oder solchen Wurzeln, die jedoch in einzelnen Regionen und Sektoren eine gewisse Verankerung in der Arbeiter:innenklasse aufweisen.

Bei den Parlamentswahlen rufen wir zur kritischen Unterstützung des „Bündnisses für Arbeit und Freiheit“ auf.

Es handelt sich dabei um die einzige Kraft mit einer Massenunterstützung aus der Arbeiter:innenklasse und seitens der unterdrückten Kurd:innen, die eine fortschrittliche Alternative gegenüber beiden bürgerlich-reaktionären Blöcken aus AKP/MHP einerseits und CHP/Sechsertisch andererseits verkörpert.

Zugleich kritisieren wir jedoch das Programm des Wahlblocks. Auch wenn viele der sozialen und demokratischen Versprechungen selbst unterstützenswert sind wie, sich für die Arbeitenden, die Gewerkschaften, die demokratischen Rechte der Kurd:innen und anderer nationaler Minderheiten einzusetzen, so geht es über demokratisch-reformistische Reformversprechungen nicht hinaus. Allenfalls wird es mit dem Gedanken an eine sozialistischen Zukunft verknüpft, aber ohne die aktuellen Reformforderungen mit konkreten Übergangslosungen zu verbinden.

Zweitens verhält sich das Bündnis gegenüber der CHP, dem Sechsertisch und Kılıçdaroğlu opportunistisch. Ihre Politik wird nicht offen als bürgerlich und arbeiter:innenfeindlich kritisiert, sondern als kleineres Übel gegenüber Erdogan beschönigt. Damit unterlässt es, die Arbeiter:innen, die städtische Armut und die Unterdrückten auf die Angriffe einer möglichen CHP-geführten Regierung schon jetzt vorzubereiten und den Widerstand gegen jede kommende aufzubauen. Natürlich würde das auch einschließen, gegen einen möglichen Putschversuch Erdogans auf die Straße zu gehen, sollte er die Wahl verlieren. Aber es bedeutet vor allem auch, die Massen auf jede Form des Kampfes gegen die nächste Regierung vorzubereiten.

Dennoch wäre es ein wichtiges Zeichen für alle Unterdrückten, Arbeiter:innen und Armen, wenn die Liste über die 10 %-Hürde käme. Aber zugleich müssen Revolutionär:innen in der Türkei in diese Wahlen mit zwei zentralen Stoßrichtungen eingreifen. Erstens müssen sie von allen Kräfte des „Bündnisses für Arbeit und Freiheit“ fordern, eine Einheitsfront aller Arbeiter:innenorganisationen, der HPD, der Gewerkschaften, der Umwelt-, der Frauenbewegung gegen die Angriffe der nächsten Regierung aufzubauen. Das 10-jährige Jubiläum der Gezi-Proteste am 24. Mai könnte dazu einen wichtigen ersten Mobilisierungschwerpunkt bilden und damit auch soziale Sprengkraft entfalten.

Zweitens müssen Revolutionär:innen dafür eintreten, dass im Bündnis selbst offen die Frage diskutiert wird, welche Partei die Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten in der Türkei brauchen. Eine wirkliche, revolutionären Arbeiter:innenpartei ist unserer Meinung nach nötig – und das erfordert, mit dem Schwanken zwischen linkem kleinbürgerlichen Nationalismus und „linken“ Parteiprojekten ohne klare klassenpolitische Ausrichtung ebenso zu brechen wie mit stalinistischen und linksreformistischen Traditionen.

Eine solche Partei kann entstehen, aber nur, wenn der gemeinsame Kampf verbunden wird mit einem politisch-programmatischen Bruch hin zu eine Arbeiter:innenpartei, das sich auf ein Program von Übergangsforderungen stützt, um die Lohnabhängigen und Unterdrückten zur sozialistischen Revolution zu führen. Dies ist keine Frage einer fernen Zukunft, sondern stellt sich im Klassenkampf. Die wirtschaftliche Lage lässt sich nicht mit einigen Reformen wieder geradebiegen. Dies kann alleine die Arbeiter:innenklasse, indem sie für die Enteignung der Betriebe und Konzerne unter ihrer Kontrolle, für ein Notprogramm für die Opfer der Erdbebenkatastrophe eintritt, dafür, die Wirtschaft gemäß einem demokratischen Plan im Interesse der Massen neu zu organisieren.

Drittens müssen wir die Möglichkeit ernst nehmen, dass Erdogan und die AKP entweder versuchen könnten, die Wahl offenkundig zu stehlen oder sich an der Macht zu halten, indem sie sich auf Wahlbetrug berufen. Obwohl die Arbeiterklasse und alle fortschrittlichen Kräfte keine Illusionen in die CHP-Opposition haben sollten, sollten sie sofort die Gewerkschaften, die fortschrittlichen Parteien, die Frauenbewegungen und die national Unterdrückten zu einem Generalstreik mobilisieren, um Erdogans Festhalten an der Macht zu stoppen. Sollte dieser haben, wäre Erdogans Unterdrückung wahrscheinlich noch schlimmer als nach dem gescheiterten Putsch vom 16. Juli 2016.

Aber das Ziel, ihn zu besiegen, sollte mehr als ein negatives sein. Die Bewegung sollte die Wahl einer souveränen verfassungsgebenden Versammlung fordern, um das gesamte bonapartistische System hinwegzufegen und die sozialen und politischen Forderungen der Arbeiter, der städtischen und ländlichen Bevölkerung, der unterdrückten Nationalitäten, insbesondere des kurdischen Volkes, zu erfüllen.

Solche und andere grundlegende Maßnahmen können nicht mit dem bestehenden kapitalistischen Staatsapparat umgesetzt werden. Sie können nur durch eine Bewegung der Arbeiter:innen und Unterdrückten, durch landesweite Massenstreiks, durch Besetzungen der Betriebe, durch die Errichtung von Räten und Selbstverteidigungsorgane der Massen in allen Regionen durchgesetzt werden, durch eine Kraft, die den bonapartistischen, autoritären Staatsapparat hinwegfegen und eine Regierung der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen stattdessen an die Macht bringen kann.




Krieg und Krise – und die Gewerkschaften?

Martin Suchanek, Neue Internationale 273, Mai 2023

Der Beginn des Ukrainekriegs markiert eine neue weltpolitische Lage. Die wachsenden innerimperialistischen Rivalitäten – der Niedergang der US-Hegemonie, der Aufstieg Chinas als neuer Großmacht, die Krise der EU, aber auch Russlands – prägen das Weltgeschehen. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt hat längst begonnen, nicht nur um die Ukraine, sondern in praktisch allen Regionen des Globus, ob nun um Taiwan oder im Nahen Osten.

Ökonomie und Geopolitik

All dies findet vor dem Hintergrund einer veritablen, tiefen ökonomischen Krise statt, einer weltwirtschaftlichen Lage, die von Stagflation, einer Kombination aus hoher Inflation und Stagnation, geprägt sein wird. Auch die bürgerlichen Augur:innen der globalen Ökonomie, die Wirtschaftsweisen von IWF, Weltbank, OECD oder der Bundesrepublik sprechen das offen aus.

Beim Krieg um die Ukraine zeichnen sich nach einem Jahr zwei mögliche Perspektiven ab. Entweder wird er zu einem länger andauernden Stellungskrieg werden oder wir erleben im Laufe des Jahres – natürlich auf Kosten der Ukraine – diplomatische Initiativen zur Befriedung, so dass auf die imperialistische Konfrontation ein nicht minder reaktionärer, imperialistischer Frieden folgt.

An den ökonomischen und geostrategischen Konflikten wird das aber nichts grundlegend ändern. Die Tendenz zur Fragmentierung des Weltmarktes wird zunehmen. Blockbildung und verschärfte Konkurrenz werden die Folge sein. Die Überakkumulationskrise und fallende Profitraten, die die Ursache der stagnativen Tendenzen bilden, werden sich verschärfen. Es geht nicht einfach darum, eine Wirtschaftskrise zu lösen. Es geht darum, welche Großmacht, welche imperialistischen Staaten oder Staatengruppen die Krise zu ihren Gunsten – und das heißt auf Kosten der anderen – lösen können.

Nationaler Schulterschluss

Daher ertönt überall der Ruf nach dem „nationalen Schulterschluss“ – sei es im Namen der „nationalen Rettung“ wie in Putins Despotie, sei es im Namen von „Freiheit und Demokratie“, die Bundesregierung und der gesamte Westen für sich reklamieren.

Schließlich macht es sich immer besser, wenn es gelingt, der Masse der Bevölkerung – und das heißt vor allem den Arbeiter:innenklassen – die imperialistischen Interessen des „eigenen“ Staates und die Profitinteressen des „eigenen Kapitals“ als Missionen für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte zu verkaufen. Schließlich lassen sich so die Kosten eines Wirtschaftskrieges, von gigantischen Preissteigerungen und einer „ökologischen“ Wende vom russischen Gas zum LNG-Terminal leichter verkaufen.

Und schließlich müssen die Lohnabhängigen auch dafür zahlen (und gegebenenfalls auch als Soldat:innen bereitstehen). Für ihre imperialen Interessen nehmen die NATO-Staaten, die USA, aber auch die Bundesregierung nicht nur Inflationsraten von 10 % in den eigenen Ländern, sondern auch gleich die Verarmung der Ärmsten der Welt, Hyperinflation von 30, 40 oder gar 100 % und drohende Pleiten in Ländern wie Argentinien und Pakistan, der Türkei und Sri Lanka in Kauf.

Der Kampf gegen die Klimakatastrophe ist zu einer reinen Farce geworden. Flutkatastrophen und Dürren, Schmelzen der Gletscher – ob nun an den Polen oder in den Alpen – und damit Hunger, Not, Vertreibung von hunderten Millionen sind der Kollateralschaden, sind Opfer des gegenwärtigen Kampfes um die Neuaufteilung der Welt und des neuen Kalten Krieges zwischen alten und neuen imperialistischen Mächten.

Millionen und Abermillionen werden zu Flüchtlingen, zur Migration gezwungen – aufgrund von Kriegen, Klimakatastrophe oder einfach von Armut und Ausplünderung der Länder des globalen Südens. Und diesen Millionen und Abermillionen verwehren die kapitalistischen Großmächte die Einreise. Migration soll stattfinden – aber nur selektiv, im direkten Interesse des Kapitals. Die anderen werden in menschenunwürdigen Lagern an den Außengrenzen der EU oder den USA „abgefangen“ oder finden beim Versuch, „illegal“ die Grenzen zu überschreiten, gar den Tod.

Soziale Lage

Keines der Probleme der Welt – und auch keines der großen Probleme in Deutschland – wird von den Herrschenden dieser Welt angegangen, geschweige denn gelöst. Im Gegenteil: gigantische Preissteigerungen, vor allem bei Energie, Lebensmitteln und Wohnen, erhöhte Arbeitshetze, wachsender Billiglohnsektor, Kürzungen, Bildungs- und Gesundheitsnotstand prägen unser Leben. Und zwar das von allen Lohnabhängigen. Besonders betroffen sind dabei die Migrant:innen und Geflüchtete, Frauen und sexuell Unterdrückte, ungelernte Arbeiter:innen, Jugendliche und Rentner:innen.

Die Reallöhne sanken 2022 das dritte Jahr in Folge. Im Durchschnitt betrug der Einkommensverlust der Lohnabhängigen im letzten Jahr 4,1 %. Für 2023 ist mit keinem nennenswerten Rückgang der Verbraucher:innenpreise zu rechnen.

Praktisch alle Lohnabschlüsse blieben also in den letzten drei Jahren unter dem Niveau, das nötig wäre, die Einbußen infolge von Pandemie, Rezession oder Inflation auszugleichen. Von einer Abgeltung von Produktivitätszuwächsen, gesteigerter Intensität der Arbeit oder höherer Flexibilisierung ist hier noch gar nicht die Rede.

Praktisch alle Tarifabschlüsse 2023 folgen diesem Muster – ob nun von IG Metall, IG Bergbau, Chemie, Energie oder bei der Post. Im öffentlichen Dienst und bei der Bahn drohen ähnliche Resultate.

All das ist Teil einer Regierungs-, aber auch einer Gewerkschaftspolitik, die auf eine sozialpartnerschaftliche Verwaltung der Krise, auf den nationalen Schulterschluss setzt. Das war während der Coronakrise so – und diese Linie wird während des Kriegs und angesichts der Preissteigerungen fortgesetzt. Lohn- und Gehaltsforderungen werden nicht gestellt, um dem Trend der ständigen Verschlechterung der Einkommen entgegenzuwirken, sondern um noch Schlimmeres zu verhindern.

Keine Frage, einer ganzen Reihe von Unternehmen sind selbst die kleinen Zugeständnisse schon zu viel. Selbst die bald schon von der Inflation aufgefressene Erhöhung des Mindestlohns bringt die Fans der freien Marktwirtschaft auf die Palme. Selbst die Kindergrundsicherung soll, geht es nach FDP und Unionsparteien, mit allen Mitteln verhindert oder zumindest gänzlich verwässert werden. So droht wie schon bei der Umwandlung von Hartz IV ins Bürger:innengeld eine weitere zahnlose „Reform“, die nur der Armutsverwaltung einen anderen Namen  gibt.

Wir alle wissen, dass sich unsere Lebenslage in den letzten Jahren gewaltig verschlechtert hat. Und wir wissen, dass noch viel mehr droht, wenn wir die Schulden, die in den letzten Jahren zur Rettung der Konzerne und zur Aufrüstung aufgenommen wurden, durch Kürzungen, Einkommensverluste oder Privatisierungen begleichen sollen.

Und der DGB?

Doch von einer solch simplen Wahrheit wollen die DGB-Gewerkschaften im Aufruf zum Ersten Mai, der unter dem Titel „Ungebrochen solidarisch“ veröffentlicht wurde, nichts wissen. Natürlich erkennt auch der Gewerkschaftsbund an, dass sich die Welt im „Krisendauermodus“ befindet. Warum das so ist und das womöglich etwas mit Imperialismus und Kapitalismus zu tun hat, erfahren wir allerdings nicht.

Dafür gibt es eine frohe Botschaft für alle, die drei Jahre lang Realeinkommensverluste erlitten haben: „Unser Kampf für Entlastung war erfolgreich. Die Energiepreisbremse oder Einmalzahlungen an Beschäftigte, Rentner*innen und Studierende gäbe es ohne uns nicht. Mit der Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro und dem Bürgergeld haben wir dafür gekämpft, dass Menschen mit geringem Einkommen besser dastehen. Vor allem aber haben die Gewerkschaften in vielen Tarifverhandlungen für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Geld im Portemonnaie von Millionen Beschäftigten gesorgt.“

Bei diesen vom DGB herbeigeschriebenen Erfolgen fragt man sich unwillkürlich, wie Niederlagen und Verschlechterungen aussehen.

Dafür verspricht – oder droht? – der DGB im Aufruf, weiter mitzuwirken, dass die Energiewende zum Erfolg, im Rahmen der Mitbestimmung kräftig mitgestaltet wird. Er fordert außerdem auch Umverteilung und eine Vermögenssteuer, denn schließlich fahren „einige Konzerne ( … ) überhöhte Gewinne“ ein. „Es darf nicht sein, dass die Hauptlasten der Krise den Beschäftigten aufgebürdet werden, während sich die Reichen aus der Verantwortung stehlen“, empört sich der DGB und man fragt sich unwillkürlich, was er unter einer gerechten „Lastenverteilung“ versteht. Sollen die Lohnarbeiter:innen weiter 4 % Einkommensverlust hinnehmen, wenn die Kapitalist:innen 4 % weniger Gewinn einfahren?

Schließlich versichert die Gewerkschaftsführung auch noch NATO und Bundesregierung ihre Solidarität, und beschwört wie beim Wort zum Sonntag auch noch Abrüstung und Frieden: „Als Gewerkschaften treten wir für weltweite kontrollierte Abrüstung, für Rüstungskontrolle und für die Verwirklichung von Frieden und Freiheit im Geiste der Völkerverständigung ein.“

Damit rundet der DGB seine frohe Botschaft ab. Trotz „Krisendauermodus“ haben wir viel erreicht und der Frieden wäre auch in Sicht, wenn sich UNO und Großmächte nur darauf verständigen würden. Der Aufruf zum Ersten Mai ist so beschönigend, dass es schon wieder lächerlich wird. Aber dessen unbenommen bringt er die Weltsicht und die politische Strategie der Gewerkschaftsbürokratie – und damit ein Hauptproblem der Arbeiter:innenklasse – zum Ausdruck. Wozu, so die implizite Botschaft, brauchen wir den Klassenkampf, wenn es die Sozialpartner:innenschaft auch tut? Tarifkämpfe, Aktionen, Demos braucht es, dieser Logik zufolge, allenfalls, um die Kapitalseite an die Vorzüge der Zusammenarbeit für das nationale Interesse zu erinnern.

Tarifliche Mobilisierungen und neue Schichten

Zweifellos tragen die DGB-Spitzen wie die gesamte Gewerkschaftsbürokratie und die reformistischen Parteien eine politische Hauptverantwortung für das Ausbleiben eines massenhaften und organisierten Widerstandes gegen Inflation, Aufrüstung, Bildungs- und Gesundheitsmisere. Hinzu kommt, dass auch die Bundesregierung – anders als z. B. Macron in Frankreich oder die britische Regierung – auf eine Politik der Einbindung der Gewerkschaften und die, wenn auch völlig ungenügende Abfederung der Krise setzte.

Das erschwerte, ja blockierte nicht nur die Entstehung einer Antikrisenbewegung, sondern es bremste den Widerstand auf allen Ebenen. Das „Demokratie“narrativ lähmte und schwächte den Kampf gegen die imperialistische Außenpolitik, den neuen Kalten Krieg und die Aufrüstung. Hinzu kommt, dass jene Teile der Linken, die zum russischen (oder auch chinesischen) Imperialismus schweigen, die die reaktionäre und verbrecherische Politik Russlands in der Ukraine schönreden, ungewollt der bürgerlich-demokratischen Ideologie in die Hände spielen und zu Recht von vielen Arbeiter:innen nicht ernst genommen werden.

Doch das Problem des bremsenden Einflusses von reformistischen, bürokratischen oder linksbürgerlichen Kräften finden wir auch bei der Klimabewegung in Gestalt der Grünen.

Und schließlich fungiert auch die Linkspartei – wenn auch deutlich geschwächt und der Spaltung nahe – als Mittel zur Integration in die reformistischen Apparate, z. B. in den Gewerkschaften.

Doch trotz all dieser Hindernisse entwickelten sich in den letzten Monaten auch wichtige Bewegungen und innerhalb ihrer Kämpfe neue Schichten von Aktiven.

Das betrifft zum einen die Klimabewegung, die z. B. im Kampf gegen den Braunkohleabbau Zehntausende nach Lützerath mobilisierte. Diese und andere Auseinandersetzungen beförderten zugleich einen politischen Differenzierungs- und Radikalisierungsprozess, in den Revolutionär:innen eingreifen müssen.

Einen womöglich noch wichtigeren Prozess können wir aber auch in den Tarifkämpfen der letzten Monate, vor allem im Kampf um den TVöD beobachten. In Sektoren wie den Krankenhäusern entstand und entsteht auch aufgrund der Kämpfe der letzten Jahre eine neue Schicht von Kämpfer:innen, die nach eine radikaleren, konfrontativen und klassenkämpferischen Politik der Gewerkschaften verlangen. Auch wenn diese Klassenkämpfe letztlich ökonomische und keine politischen waren, so entwickelt sich hier ein kritisches Bewusstsein, das sowohl den Kapitalismus als Gegner wie auch den Gewerkschaftsapparat und die Bürokratie als Hindernis zu begreifen beginnt.

In den nächsten Monaten und Jahren wird es entscheidend sein, diese Kräfte als klassenkämpferische Opposition nicht nur gegen die aktuellen, sozialdemokratischen Vorstände der Gewerkschaften und deren Apparat, sondern auch gegen den linken Flügel der Bürokratie zu organisieren. Die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) kann und muss dabei trotz ihrer noch geringen Zahl eine Schlüsselrolle spielen.

Wir halten es für strategisch notwendig, diese Ansätze im Kampf gegen Klimazerstörung, Imperialismus und für die Verteidigung unserer Arbeits- und Lebensbedingungen zu einer Kraft zu verbinden, die Kapital und Kabinett wirklich stoppen kann.

Um eine solche Bewegung aufzubauen, brauchen wir neben der Aktion auch Diskussion und programmatische Klärung. Dafür gilt es, die Kräfte zu formieren, die nicht nur eine Bewegung, sondern auch eine revolutionäre Organisation und Internationale aufbauen wollen – mit dem Ziel, diese Kämpfe mit dem für den revolutionären Sturz des Kapitalismus zu verbinden.




Frankreich: Peitscht Macron seine Reform durch?

Martin Suchanek, Neue Internationale 273, Mai 2023

Ohne Rücksicht auf Verluste peitscht Präsident Macron die Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre durch – gegen eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, den Widerstand der Lohnabhängigen, der Gewerkschaften und der Jugend.

Seit dem 19. Januar gingen an 12 Aktionstagen Millionen auf die Straße, beteiligten sich an Streiks und legten zeitweilig das Land lahm. Anders als in vielen Klassenkämpfen der letzten Jahre gelang es Regierung und Unternehmen nicht, die Einheit der Gewerkschaften zu spalten. Nicht nur die radikaleren Verbände wie die CGT und SUD, sondern auch die notorisch kompromisslerischen wie die CFDT ließen sich bislang auf keinen Kuhhandel mit Macron ein und blieben beim „Non“ zur Rentenreform.

Dabei konnten und können sie sich auf eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung stützen. Rund zwei Drittel lehnen Macrons Politik als Affront ab – und zwar in einem Maße, dass der Präsident und seine Regierung im Parlament keine Mehrheit für die Reform finden konnten.

Klassenkrieg

Doch all das vermochte die Reform nicht zu stoppen. Denn im Gegensatz zu seinen Gegner:innen mangelt es Macron an einem nicht: am Willen, einen zentralen Angriff auf die Arbeiter:innenklasse und alle Unterdrückten im Interesse des französischen Kapitals konsequent durchzuziehen. Dazu ist er auch bereit, die tradierten Spielregeln der Auseinandersetzung zu verlassen und selbst jene der heiligen bürgerlichen Demokratie über Bord zu werfen.

Macron führt einen Klassenkrieg. Er ist nicht nur entschlossen, sich selbst ein politisches Denkmal zu setzen – ganz so wie Margaret Thatcher im Bergarbeiter:innenstreik oder Gerhard Schröder mit der Agenda 2010. Schließlich verbanden diese Politiker:innen ihren Namen nicht einfach mit historischen Niederlagen der Arbeiter:innenklasse. Entscheidend ist vielmehr, dass sie dazu bereit waren, ein höheres Risiko im Klassenkampf einzugehen, eine Konfrontation mit der Arbeiter:innenklasse zu suchen, die ihnen selbst Kopf und Kragen hätte kosten können, wenn die Gegenseite ebenso entschlossen gehandelt hätte. Doch die TUC-Gewerkschaften und Labour weigerten sich, dem Bergarbeiter:innen mit einem Generalstreik zu Hilfe zu kommen. Schröder war nicht nur bereit, den Rückhalt der SPD in großen Teilen der Arbeiter:innenklasse für Jahrzehnte zu opfern, die DGB-Gewerkschaften bauten ihm letztlich auch die politische Mauer, indem sie die Agenda 2010 allenfalls symbolisch angriffen, ansonsten aber „kritisch“ begleiteten und die Montagsdemos bekämpften.

Macron verhält sich ähnlich. Er nutzt die bestehenden bonapartistischen Elemente der französischen Verfassung, der Republik, um das Gesamtinteresse des Kapitals in einer Krise durchzusetzen. Dabei bildet die sog. Rentenreform ein Herzstück seines Vorhabens, den französischen Imperialismus auch ökonomisch konkurrenzfähiger zu machen. Und dafür geht er weiter als frühere Regierungen und Präsidenten.

Angriff auf die Demokratie

Nachdem sich abzeichnete, dass er für die Gesetzesvorhaben im Parlament keine Mehrheit finden würde, umging er es einfach, indem er sich auf Artikel 49.3 der Verfassung berief. Dieser erlaubt ihm, das Parlament zu übergehen und Gesetze zu verabschieden, ohne dass er sich auf eine Mehrheit unter den Abgeordneten stützt, geschweige denn auf ein Mandat des Volkes.

Bewusst nahm er dafür nicht nur die Diskreditierung seiner eigenen Partei bei Millionen Wähler:innen in Kauf, sondern auch die Ausweitung der Proteste. Er erhöhte den Einsatz im Klassenkampf, indem er die Angriffe auf die Rente mit einem auf die bürgerliche Demokratie und ihre Gepflogenheiten verband.

Am 16. März brachte Macron seine Reform unter Berufung auf Artikel 49.3 durch. Das darauf folgende Misstrauensvotum scheiterte am 20. März äußert knapp. 278 Parlamentarier:innen entzogen der Regierung das Vertrauen. 287 stimmten gegen den Misstrauensantrag. Neben Macrons „Ensemble pour la majorité présidentielle“, die über 245 Sitze verfügt, votierte die Mehrheit der Abgeordneten der konservativen, neoliberal-gaullistischen Les Républicains dabei für den Präsidenten.

Auch die folgende Prüfung durch den Verfassungsrat (Conseil Constitutionnel) passierte das Gesetz. Das neunköpfige Gremium, von dem je drei Vertreter:innen vom Präsidenten, von der Nationalversammlung und vom Senat ernannt werden, gilt als Hüter der Verfassung. Faktisch hütet es aber den französischen Kapitalismus. Es setzt sich aus „respektablen“ Vertreter:innen der herrschenden Klasse zusammen wie den beiden ehemaligen Premierministern Laurent Fabius, einem rechten Sozialisten, und dem Konservativen Alain Juppé.

Wenig überraschend erklärte der Verfassungsrat die Reform für rechtens, monierte aber die Streichung von 6 Punkten – und zwar von solchen, die es zugunsten der Lohnabhängigen abgemildert hatten. Darüber hinaus verwarf er eine von der linkspopulistischen NUPES angestrengte Volksabstimmung.

Das soll nicht verwundern. Es war von Beginn an klar, dass Macron den antidemokratischen Paragraph 49.3 ziehen könnte, die Reformen durch parlamentarische Manöver – z. B. versuchte Obstruktionspolitik von Abgeordneten von La France Insoumise – nicht zu verhindern sein würden.

Seit den ersten Anläufen zur Reform in Jahr 2020 und spätestens Ende 2022 ließ Macron keinen Zweifel daran, dass er sein politisches Schicksal an die Maßnahmen knüpfte, sodass sie nur auf der Straße und in den Betrieben gestoppt werden könnten.

Höhepunkt der Mobilisierung

Die Umgehung des Parlamentes am 16. März läutete aber auch den Höhepunkt der Streiks und Protestwelle ein. Vom 19. Januar bis Mitte März beteiligten sich ein bis eineinhalb Millionen Menschen an den jeweiligen Aktionstagen. Hunderttausende legten zeitweilig die Arbeit nieder.

Mit dem Artikel 49.3 griffen Macron und die Regierung Borne auf die antidemokratischen, bonapartistischen Elemente der französischen Verfassung zurück und machten damit den Kampf um die Renten auch zu einem um die Demokratie. Dies verbreitete und intensivierte die Auseinandersetzung enorm.

Am 23. März beteiligten sich 3,5 Millionen Menschen an den Demonstrationen im ganzen Land. Auch kleinere und mittelgroße Städte wurden in die Bewegung gezogen. In den Zentren des Landes fluteten Demonstrant:innen geradezu die Straßen. Rund eine Woche lang kam es zu täglichen Auseinandersetzungen vor allem von jugendlichen Demonstrant:innen mit der Polizei.

Zugleich breitete sich auch die Streikwelle aus – bei der Bahn, in Häfen und an Flughäfen, in den Raffinerien und in der Energiewirtschaft, an Schulen und Universitäten oder bei der städtischen Müllabfuhr. Allerdings erfassten die Streiks im wesentlichen nur Sektoren der Avantgarde, der bewussteren und gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen, nicht jedoch die Masse, vor allem nicht jene der Unorganisierten. Dazu hätte es eines einheitlichen Aufrufs von außen, von den Führungen der Intersyndicale bedurft, der jedoch während der ganzen Zeit ausblieb.

Generalstreik lag in der Luft

Schon im Januar und Februar war die Losung des Generalstreiks unter den Aktivist:innen der Bewegung populär. Nach dem 23. März lag er in der Luft.

Mit seinen antidemokratischen Maßnahmen hatte Macron selbst die Auseinandersetzung weiter politisiert, mit der Frage seines Regimes direkt verknüpft. Er stellte die Machtfrage.

Doch die parlamentarische Linke NUPES entpuppte sich als vollkommen unfähig, diesen Fehdehandschuh aufzugreifen. Nachdem das Parlament umgangen war, versuchte sie es beim Verfassungsrat mit der Einleitung eines monatelangen Volksbegehrens, während Millionen nicht nur wütend, sondern auch kampfbereit waren.

So kam die politische Schlüsselrolle der Führung der Gewerkschaften, der Intersyndicale, eines Zusammenschlusses aller größeren Verbände, zu – und hier besonders der linkeren, klassenkämpferischen wie der CGT und der SUD.

Nach zahlreichen Aktionstagen und angesichts des massiven Anwachsens der Aktionen in der Woche um den 23. März war die Stunde der Entscheidung  gekommen. Entweder würde die Bewegung massiv ausgeweitet werden und die Gewerkschaften und die Arbeiter:innenklasse würden ihrerseits die Machtfrage stellen – oder Macron droht, sämtliche weitere Proteste auszusitzen, indem er auf die Ermüdung und finanzielle Ausdünnung von Streikenden setzt und gegen die militanteren Demonstrant:innen mit immer brutaleren Polizeieinsätzen vorgeht. An seiner Entschlossenheit konnte niemand mehr ernsthaft zweifeln.

Rolle der Apparate

Macron spekulierte außerdem auf die Gewerkschaftsführungen. Ihm war bewusst, dass sie keine politische Generalkonfrontation wollten, sie auf seine Zuspitzung des Kampfes mit keiner eigenen antworten wollten, die die Machtfrage aufwarf. Der Generalstreik lag Ende März in der Luft, aber die Spitzen der Intersyndicale wollten davon nichts wissen – und zwar weil ihnen bewusst war, dass ein Generalstreik gegen die Rente unwillkürlich auch einer zum Sturz von Präsident und Regierung gewesen wäre; weil ihnen bewusst war, dass er die Frage aufgeworfen hätte, wer anstelle von Macron und Borne regieren würde.

Die kompromisslerischen Held:innen vom rechten Flügel der Gewerkschaften wie Laurent Berger, der Vorsitzende der CFDT, standen im Grunde immer schon für Verhandlungen mit der Regierung bereit, wenn diese denn nur mit dem nötigen „Respekt“ verbunden wären, also in den Tretmühlen der Sozialpartner:innenschaft stattfänden. Doch mit diesen Gepflogenheiten hat Macron gebrochen, weil er den Angriff ohne weitere Zugeständnisse durchziehen will.

Die Spitze der radikaleren Gewerkschaften wie jene der CGT setzen darauf, dass, ähnlich wie Anfang der 1990er Jahre, eine Reihe von massenhaften Streik- und Aktionstagen die Regierung oder das Parlament zum Einlenken zwingen würde. Sie gingen im Grunde davon aus, dass der Kampf eine, für das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen entscheidende Frage, im Rahmen der Austragungsform gewerkschaftlicher Auseinandersetzungen bleiben würde. Auch wenn sie nicht alles verhindern würden, so hofften sie doch darauf, dass sie auch vorzeigbare Zugeständnisse erreichen könnten. Auch ihnen hat Macron einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Die Intersyndicale hatte insgesamt keine Antwort auf die Verschärfung des Klassenkampfes durch den Präsidenten. Sie war auf diese Zuspitzung nicht vorbereitet – und sie vermochte es daher auch nicht, ihrerseits Macron mit voller Wucht entgegenzutreten.

Was nötig gewesen wäre

Dazu wäre es nötig gewesen, nach dem antidemokratischen Verfassungscoup offen den Generalstreik auszurufen – einen Generalstreik, der auch im Bewusstsein der gesamten Bevölkerung unmittelbar einen politischen Charakter gehabt hätte.

Das hätte aber erfordert, dass sich die Spitzen von CGT und anderen Verbänden bewusst ihrer Führungsaufgabe hätten stellen müssen, aufhören hätten müssen, als bloße Gewerkschaften, also ökonomische Interessenvertretungen zu handeln. Sie hätten als politische Führung der Arbeiter:innenklasse fungieren müssen.

Angesichts von 3,5 Millionen Demonstrierenden, Hunderttausenden Streikenden und einer Massenempörung im ganzen Land hätte ein Generalstreik auch die unorganisierten Beschäftigten, die Erwerbslosen, die Jugend und Rentner:innen erfassen, mit der Bildung von Streik- und Aktionskomitees eine gigantische Bewegung schaffen können. Diese hätte nicht nur die Rentenreform kassieren, sondern auch die Regierung stürzen können und die Machtfrage aufgeworfen – und zwar nicht in einem bloß parlamentarischen Sinne, sondern im Sinne einer Arbeiter:innenregierung, die sich auf die Organe des Generalstreiks und Selbstverteidigungsorgane der Arbeiter:innenklasse stützt. Kurzum, ein solcher Kampf hätte eine revolutionäre Dynamik entwickeln können.

Doch die Gewerkschaftsführungen – rechte wie linke – zogen es vor, der Zuspitzung des Kampfes auszuweichen. Ende März, in den Tagen, ja in der Woche nach der Umgehung des Parlamentes wäre es möglich gewesen, die Bewegung auf eine neue Stufe zu heben, Schichten der Lohnabhängigen, aber auch des Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten in den Kampf zu ziehen, die normalerweise nicht unter Führung der Gewerkschaften und der bewussteren Teile der Arbeiter:innenklasse mobilisierbar sind.

Ein solcher Schritte hätte auch sicherstellen können, dass die Bewegung breiter und stärker wird und siegen kann. Sie hätte auch den Rechten um Le Pen, die demagogisch versuchen, von der aktuellen politischen Krise zu profitieren, und in den Umfragen vorne liegen, das Wasser abgraben können.

Doch diese Chance wurde vertan. Am bislang letzten Aktionstag am 13. April beteiligten sich nach Gewerkschaftsangaben rund 1,5 Millionen Menschen. Das stellt natürlich noch immer ein enorm hohes Niveau an Aktivität dar. Aber zugleich ging auch die Streikbewegung massiv zurück. Der Kampf gegen die Rentenreform hat seinen vorläufigen Höhepunkt überschritten.

Der nächste Aktionstag wird erst am 1. Mai stattfinden – also mehr als zwei Wochen nach dem 13. April. Das wäre der größte Abstand zwischen Aktionstagen seit Beginn der Bewegung. Da der Erste Mai ein traditioneller Kampftag ist, wird die Beteiligung enorm sein – aber zugleich wird es an dem Feiertag kaum Streiks geben.

Die Gewerkschaftsführungen geben sich natürlich kämpferisch, ja geradezu unnachgiebig. Selbst Laurent Berger will von Gesprächen mit einer Regierung, die ihm keinen Respekt zollt, nichts wissen. Die CGT-Vorsitzende Sophie Binet weist Macrons Einladung an die Gewerkschaften zu Gesprächen, bei denen nichts besprochen wird, als lächerlich zurück.

Aber all das darf uns nicht davor die Augen verschließen lassen, dass die Gewerkschaftsführungen über keine effektive Kampfstrategie verfügen, nachdem der institutionelle Weg abgeschlossen und die Rentenreform beschlossen ist.

Angesichts dieser strategischen Krise kommt das linkspopulistische Wahlbündnis NUPES, bestehend aus Jean-Luc Mélenchons La France Insoumise, aus PS, Grünen und KPF, mit einem neuen Vorschlag um die Ecke. Ein neuer Anlauf zu einer Volksabstimmung soll genommen und beim Verfassungsrat eingebracht werden, der über dessen Zulassung Anfang Mai entscheiden würde. Sollte er dies für rechtens erklären, müssten innerhalb von knapp neun Monaten 5 Millionen Unterschriften gesammelt werden. Das Parlament könnte dann das Vorhaben ein halbes Jahr lang prüfen und würde dann darüber abstimmen – ein Verfahren, das allein angesichts der Stimmenmehrheit, die Macrons Ensemble pour la majorité présidentielle und Les Républicains auf sich vereinen, faktisch zum Scheitern verurteilt ist.

In Wirklichkeit ist das Referendum eine Ablenkung von der Frage, wie der Kampf gegen die Rentenreform und die anderen Angriffe der Regierung noch zum Erfolg geführt werden kann und welche Lehren aus der bisherigen Bewegung zu ziehen sind.

Ganz sicher sind es nicht jene, die Fabien Roussel, der nationale Sekretär der KPF, zieht. So erklärte er: „Durch ein solches Referendum könnte das Land mit demokratischen Mitteln aus der gegenwärtigen Krise erhobenen Hauptes hervorgehen.“ Das Zitat illustriert, wie tief diese sog. Kommunist:innen gesunken sind, wie wenig ihre ganze Politik über den demokratischen Tellerrand „ihres“ Landes hinauszureichen vermag.

Der aktuelle Niedergang der Bewegung bedeutet nicht, dass der Kampf gegen die Rentenreform schon verloren ist. Wohl aber ändern sich die Bedingungen, unter denen ein neuer Aufschwung, eine neue Situation entstehen kann, wo der Generalstreik wieder auf die Tagesordnung rückt.

Wir dürfen schließlich nicht vergessen, dass die gesamte Politik Macrons vor dem Hintergrund einer anhaltend hohen Inflation und geopolitischen Konfrontation, einer tiefgehenden sozialen, politischen und ökologischen Krise stattfindet. Daher kann seine Rentenreform wie die gesamte Regierungspolitik rasch durch andere Einschnitte der Lebensbedingungen der Massen erschüttert werden. Auch wenn Macron seine Rentenreform durch die Institutionen gebracht hat, so hat er längst nicht den französischen Kapitalismus wieder in fit gemacht. Die Beschädigung der bürgerlichen Demokratie, die Desillusionierung von Millionen und Abermillionen, die er billigend als Preis sozialer Verschlechterungen in Kauf nimmt, könnten sich dann als politischer Bumerang erweisen.

Daher gilt es nicht nur, die Bewegung aufrechtzuerhalten, sondern sie vor allem auf die unvermeidlichen nächsten Konfrontationen vorzubereiten.

Dies bedeutet erstens, klar zu erkenne und auszusprechen, dass weder die parlamentarische Linke noch die Führungen der Gewerkschaften eine politische und strategische Antwort auf die großen Angriffe der Regierung des Kapitals formulieren.

In den Gewerkschaften bedarf es jedoch nicht nur des Kampfes um Basisversammlungen und demokratische Aktionskomitees – es bedarf auch einer organisierten, gewerkschaftsübergreifenden klassenkämpferischen Opposition gegen die Bürokratie.

Doch eine betriebliche und gewerkschaftliche Alternative reicht nicht. Eine klassenkämpferische Opposition muss auch eine enge Verbindung mit den sozialen Bewegungen gegen Krieg, Imperialismus, Rassismus, Sexismus und Umweltzerstörung herstellen. Dazu bedarf es einer neuen revolutionären Arbeiter:innenpartei, die sich auf ein Aktionsprogramm stützt, das den Kampf gegen die Angriffe auf demokratische Rechte, auf die Arbeiter:innenklasse mit dem für den Sturz des Kapitalismus verbindet.

Anhang: Warum ist die Rentenfrage so bedeutsam?

Die sog. Rentenreform stellt ein Kernstück der Angriffe des Kapitals nicht erst seit der Präsidentschaft Macrons dar. Schon 1995 versuchte die damalige konservative Regierung Juppé, das Rad der Zeit zurückzudrehen und das Renteneintrittsalter auf 64 Jahre zu erhöhen. Doch sie scheiterte am massiven Widerstand der Arbeiter:innenklasse und der Jugend und musste nach wochenlangen Protesten ihre Gesetzesreform zurückziehen.

Seither probierten sich faktisch alle Präsidenten und Regierungen, ob Sozialist:innen oder Konservative, an einer grundlegenden neoliberalen „Reform“ der Arbeitsbeziehungen und/oder der Sozialversicherung, der Sécurité Sociale, zu der neben der Rentenversichung öffentliche Krankenkassen, Unfallversicherung und die Kasse für Familienzulagen gehören.

Die Sécurité Sociale bildet somit ein zentrales Element der Klassenbeziehungen in Frankreich. Über sie wird ein großer Teil des „Soziallohns“ reguliert, also ein zentraler Teil des Gesamtlohns der Arbeiter:innenklasse.

Schon am Beginn seiner ersten Amtszeit peitschte Macron im Jahr 2017 eine Änderung des Arbeitsgesetzes, des Code du Travail durch – damals noch gestützt auf eine massive Mehrheit im Parlament und ohne großen Widerstand. Darauf sollte die Rentenreform folgen. Doch die Streiks der Eisenbahner:innen im Jahre 2018 gegen wichtige Schritte zu Privatisierung und Verschlechterungen der Arbeitsbeziehungen, die Bewegung der Gilets Jaunes und schließlich die Pandemie zwangen Macron zur Verschiebung seiner von Beginn an angekündigten Rentenreform.

Die Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre enthält dabei zwei Aspekte. Zum einen stellt sie einen grundlegenden Angriff auf errungene Rechte der Arbeiter:innenklasse dar. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit stellt wie alle ähnlich gelagerten Verschlechterungen zugleich auch eine massive Rentenkürzung dar für alle, die aus gesundheitlichen Gründen oder wegen Arbeitslosigkeit nicht bis zum Renteneintrittsalter Vollzeit arbeiten können. Darüber hinaus sieht die „Reform“ auch Abschläge für alle vor, die bis 64 nicht genügend volle Erwerbsjahre auf dem Buckel haben.

Zum anderen stellt sie nicht nur eine wichtige Errungenschaft der Lohnabhängigen dar, sondern spiegelt auch ein Kräfteverhältnis wider, eine klassenpolitische Stellung der Arbeiter:innenklasse. Wird die Rente geschleift, fällt auch diese Stellung, verschiebt sich auch das Kräfteverhältnis zugunsten des Kapitals.




Pakistan: Im Würgegriff von Wirtschaftskrise und IWF

Shahzad Arshad, Infomail 1217, 21. März 2023

Pakistan befindet sich in der schwersten Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Trotz der Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Umsetzung vieler seiner Bedingungen droht dem Land die reale Gefahr eines Staatsbankrotts. Die Inflation ist in die Höhe geschnellt und macht den ohnehin schon armen Menschen das Leben noch schwerer als je zuvor. Der pakistanische Verbraucher:innenpreisindex ist auf 31,5 % gestiegen, die höchste Jahresrate seit 50 Jahren – und selbst das spiegelt bei weitem nicht den tatsächlichen Preisanstieg  für die breite Masse der Bevölkerung wider.

In dieser Situation bildet den einzigen Ausweg, den die herrschende Klasse und alle ihre sich bekriegenden Fraktionen sehen, ein weiteres Abkommen mit dem IWF. Aber selbst die erste Vereinbarung auf „Stabsebene“ ist noch nicht abgeschlossen, obwohl dies seit der ersten Februarwoche, als ein IWF-Team Pakistan besuchte, wiederholt angekündigt wurde.

In der Tat hat die Regierung bereits eine Reihe von IWF-Bedingungen akzeptiert. So hat sie beispielsweise der Forderung zugestimmt, dauerhaft einen Schuldzuschlag von 3,82 Rupien pro Einheit zu erheben, um 284 Milliarden Rupien mehr von den Stromverbraucher:innen einzutreiben. Ganz allgemein berichtet die Presse, dass die Regierung bei Steuererhöhungen, höheren Energiepreisen und der Anhebung der Zinssätze auf den höchsten Stand seit 25 Jahren eingewilligt hat.

Die Vereinbarung ist noch immer nicht unterzeichnet, nicht zuletzt, weil nicht nur der IWF, sondern auch andere Staaten die benötigten Kredite bereitstellen müssen. Während der IWF die Finanzlücke des Landes auf insgesamt 7 Mrd. US-Dollar beziffert, behauptet das Finanzministerium, dass diese weniger als 5 Mrd. US-Dollar betragen wird und durch die Aufnahme neuer kommerzieller Kredite aus China und den Golfstaaten gedeckt werden soll. Der IWF steht bereits mit diesen Ländern in Verbindung, um neue Kredite und Pläne für die Verlängerung der Kredite für Pakistan zu erörtern, und verlangt nun schriftliche Zusicherungen.

Er verlangt nicht nur, dass die Regierung die zu erfüllenden Bedingungen unterschreibt, sondern auch den „Nachweis“, dass sie bereit ist, diese zu erfüllen. Ein Test dafür ist, die IWF-Einschätzung der Finanzlücke selbst zu akzeptieren. Da der IWF die interne Spaltung der herrschenden Klasse und den Machtkampf zwischen der Regierungskoalition und der oppositionellen PTI-Partei von Imran Khan kennt, verlangt er nicht nur von der Regierung, sondern auch von der wichtigsten Oppositionspartei Zusicherungen für die Umsetzung. Die Regierung befürchtet, dass eine öffentliche Vereinbarung zwischen dem PTI-Führer und dem IWF das politische Ansehen der Oppositionspartei weiter stärken könnte.

Die Wirtschaftspolitik von Finanzminister Ishaq Dar und der Dollar

Dies zeigt, dass der wahre Grund für die anhaltenden Verzögerungen nichts mit den Bedingungen zu tun hat, die den Arbeiter:innen, Bauern, Bäuerinnen und Armen in Pakistan auferlegt werden sollen, sondern mit dem Machtkampf innerhalb der herrschenden Klasse und zwischen dem IWF und der Regierung.

In dieser Situation wird sich die Finanz- und Wirtschaftskrise weiter hinziehen, ja sie wird sich sogar noch verschärfen. Die pakistanischen Devisenreserven sind dank eines weiteren Kredits aus China um 487 Mio. US-Dollar gestiegen und beliefen sich am 3. März auf 4,3 Mrd. US-Dollar. Dies ist der vierte wöchentliche Anstieg der von der Zentralbank gehaltenen Reserven in Folge, liegt aber immer noch unter dem kritischen Wert, der die Importe eines Monats decken könnte. Die Regierung hat sich zwar bereit erklärt, mehr lebenswichtige Güter zu kaufen, um Engpässe zu überbrücken, doch wird dieses „Versprechen“ nicht eingelöst werden, solange diese Bedingungen vorherrschen.

Seit Monaten sind wir mit dem Gegenteil konfrontiert, nämlich mit einem massiven Rückgang oder sogar der völligen Einstellung der Einfuhren wichtiger Güter. Derzeit stehen Tausende von Containern im Hafen von Karatschi, die nicht abgefertigt werden. Infolgedessen mangelt es an Medikamenten, chirurgischen Geräten und Krankenhausnahrung. Die verbleibenden medizinischen Leistungen werden immer teurer und sind für die einfache Arbeiter:innenklasse unerschwinglich.

Als Ishaq Dar das Finanzministerium übernahm, behauptete er, er werde den Wechselkurs der Rupie stabilisieren und ihn auf 200 Rupien pro Dollar oder noch weniger senken. Er erklärte, er werde keine Kompromisse bei der „nationalen Souveränität“ eingehen oder sich den Forderungen des IWF beugen. Bis Ende 2022 hielt er den Wechselkurs durch staatliche Interventionen unter Kontrolle, aber das änderte sich, als die Forderungen des IWF bekannt wurden. Die Rupie fiel rasch auf 275 zum Dollar und erreichte am 2. März 290. Jetzt zahlt die Bevölkerung den Preis, und es ist klar, dass sich eine Halbkolonie den Herr:innen des Kapitals beugen muss. Die offiziellen Dollarreserven wurden auch dadurch in Mitleidenschaft gezogen, dass pakistanische Arbeiter:innen im Ausland über „inoffizielle“ Kanäle Überweisungen nach Hause schicken, um einen etwas besseren Wechselkurs zu erhalten.

Rezession

Pakistan befindet sich nicht nur in einer Haushaltskrise. Das Land steckt auch in einer tiefen Rezession. Die Produktion des verarbeitenden Gewerbes in großem Maßstab ist drastisch zurückgegangen. Die letzten veröffentlichten nationalen Daten des Quantum-Index des verarbeitenden Gewerbes für November 2022 zeigen ein deutliches Bild. In den fünf Monaten von Juli bis November 2022 gab es im verarbeitenden Gewerbe einen Rückgang um 3,5 % und im November um 5,5 %. Die Erträge der wichtigsten Industriezweige Textilien, Erdölprodukte, Chemikalien, Düngemittel, Pharmazeutika, Zement, Eisen- und Stahlerzeugnisse fielen,  in einigen Fällen bis zu 25 %.

Ein wichtiger Grund für den Niedergang vieler dieser Industrien ist der Mangel an importierten Rohstoffen. Für die Einfuhren ist ein Akkreditiv erforderlich, aber die Kreditwürdigkeit der Importeur:innen oder die Zahlungsgarantien der Banken wurden in großem Umfang in Frage gestellt. Dies hat zu einer Blockade der Importe und in der Folge zu einem Rückgang des Verbrauchs um 20 % und der Stromerzeugung um 5 % geführt. Die Einlagen im Bankensektor sind um mehr als 8 % gesunken. Die rückläufige Produktion der Zement-, Eisen- und Stahlindustrie verdeutlicht die Stagnation der Bautätigkeit. Insgesamt wird das Bruttoinlandsprodukt in den ersten sechs Monaten des Jahres 2023 wahrscheinlich um 4 bis 5 Prozent schrumpfen. Dieser Rückgang stellt eine große Katastrophe dar.

Der Zinssatz sprang von 11 % zu Beginn des IWF-Programms im Jahr 2019 auf 17 % im November 2022 hoch, was zu einem weiteren wirtschaftlichen Niedergang führte. Am 2. März wurde er unter dem Druck des IWF erneut erhöht und liegt nun bei 20 %. Diese weitere Erhöhung um 3 % bedeutete für den Staat einen Verlust von etwa 600 Milliarden, der durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ausgeglichen werden muss. Dies hat wiederum direkte Auswirkungen auf die arbeitende und arme Bevölkerung.

Die Kreditvergabe der Banken an den privaten Sektor ist mit 4 % nur geringfügig gestiegen. Die Maschineneinfuhren gingen um 45 % zurück, 44 % bei Textilmaschinen. Dies wird voraussichtlich zu einem weiteren Rückgang der Textilexporte führen, die sich bereits auf einem niedrigeren Niveau als in den Vorjahren befinden. Die Höhe der gesamtstaatlichen Entwicklungsausgaben im ersten Quartal 2022 – 2023 wurde entsprechend den Forderungen des IWF um etwa 48 Prozent gesenkt. Weitere Kürzungen sind jedoch geplant.

Die höchste Inflation der Geschichte

Die Folgen der Überschwemmungen von 2022, der anhaltende Anstieg der Rohstoffpreise seit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine, die Abwertung der Rupie und die negativen Auswirkungen der Einfuhrbeschränkungen haben zusammen zu einer Stagflation geführt. Die Inflationsraten, insbesondere die Lebensmittelpreise, haben Rekordhöhen erreicht, und das Bruttoinlandsprodukt war in den ersten sechs Monaten des laufenden Haushaltsjahres negativ. Die Überschwemmungen haben sich am stärksten auf die Produktion des Agrarsektors ausgewirkt. Der größte Rückgang ist bei der Baumwollernte zu verzeichnen, die um 40 Prozent gesunken ist, und bei der Reisproduktion um mehr als 15 Prozent. Auch bei anderen Feldfrüchten, vor allem bei Gemüse, ist das Angebot knapp. Der vierfache Preisanstieg bei Zwiebeln ist ein Beweis dafür. Insgesamt dürfte der Ertragsverlust in der Kharif-Saison, d. h. in der Monsunzeit, etwa 10 % betragen.

Die Verbraucher:innenpreise für Zwiebeln, Hühnerfleisch, Eier, Reis, Zigaretten und Treibstoff stiegen in letzter Zeit stark an, wobei die Inflation in diesem Sektor offiziellen Angaben zufolge zum ersten Mal seit fünf Monaten über 40 Prozent lag. Die kurzfristige Inflation, gemessen am wöchentlichen Inflationsfeingradmesser SPI, stieg in der Woche zum 23. Februar im Jahresvergleich auf 41,54 Prozent, gegenüber 38,42 Prozent in der Vorwoche.

Eine defizitäre Wirtschaft

Die gesamte Zahlungsbilanz weist für den Zeitraum Juli bis Dezember 2022 ein Defizit von 4,3 Mrd. US-Dollar auf. Dies ist trotz eines starken Rückgangs des Handelsbilanzdefizits auf 3,7 Mrd. US-Dollar gegenüber 9,1 Mrd. US-Dollar im gleichen Zeitraum 2021 – 2022 der Fall. Diese Verbesserung wurde durch eine starke Verschlechterung der Kapitalbilanz ausgeglichen. Hier ist ein Defizit von 1,2 Mrd. US-Dollar entstanden, gegenüber einem hohen Überschuss von 10,1 Mrd. US-Dollar im Zeitraum Juli-Dezember 2021. Die Haushaltsbilanz ist zum ersten Mal seit vielen Jahren negativ ausgefallen. Dies ist vor allem auf stark gesunkene  Einnahmen aus Einfuhrsteuern zurückzuführen. Die Schrumpfung betrug im ersten Quartal 6 % und im zweiten Quartal etwa 30 %. Letzteres ist eindeutig auf die von der Staatsbank ausgeübte Verwaltungskontrolle über Importkreditgarantien (Letters of Credit; LCs) zurückzuführen.

Ein stabiler Wechselkurs wurde nach Oktober durch die Intervention der Regierung aufrechterhalten, was die Nachfrage nach Importen steigerte, während die Staatsbank diese durch die Kontrolle der LCs drückte. Ziel war es, die Inflation einzudämmen, aber die Angebotskürzungen heizten die Inflation an, indem sie Importe im Wert von 4,5 Milliarden einschränkten. Die Staatsbank schränkte auch die Zahlungen für importierte Dienstleistungen wie Informationstechnologie, Fluggesellschaften und Banken ein. Die Gewinnausschüttungen der in Pakistan tätigen multinationalen Unternehmen sind ebenfalls zurückgegangen.

Das ehrgeizige Ziel besteht darin, das Haushaltsdefizit von 7,9 Prozent des BIP im Jahr 2021 – 2022 auf nur 4,9 Prozent des BIP im laufenden Haushaltsjahr zu senken. Doch das Gesamtdefizit ist in den ersten sechs Monaten des Rechnungsjahres 2022 – 2023 auf 2,4 % des BIP angestiegen. Da die Zahlungen in der zweiten Jahreshälfte viel höher ausfallen werden als in der ersten, ist das Ziel von 4,9 % nicht zu erreichen.0

Für die Verschlechterung der öffentlichen Finanzen gibt es viele Gründe. Erstens werden zusätzliche Ausgaben in Höhe von über 500 Mrd. Rupien für die Fluthilfe und den Wiederaufbau nach der Flut aufgewendet. Zweitens liegt die Wachstumsrate der FBR (Bundesfinanzamtseinnahmen) bei 13 Prozent und damit unter der angestrebten Rate von 22 Prozent, was vor allem auf den Rückgang der Importsteuerbasis und das negative Wachstum im verarbeitenden Großgewerbe zurückzuführen ist.

Drittens hat die Staatsbank den Leitzins erhöht, wodurch die inländischen Kreditkosten der Bundesregierung angehoben werden. Es besteht die Möglichkeit, dass die Zinszahlungen für das Darlehen bis zu 1 Billion Rupien betragen könnten. Auf Anweisung des IWF wurde der Leitzins auf 20 Prozent erhöht, was bedeutet, dass die Zahlungen an die Banken weiter steigen werden. Um diese Kosten zu decken, müsste der Umfang des föderalen öffentlichen Entwicklungsprogramms erheblich gekürzt werden. Ein letzter Risikofaktor ist, dass die Provinzregierungen den angestrebten Kassenüberschuss von 750 Mrd. Rupien weit verfehlen könnten. Insgesamt dürfte das Haushaltsdefizit bei den derzeitigen Trends im Haushaltsjahr 2022 – 2023 nahe bei 6,5 % des Bruttoinlandsprodukts liegen.

Zunahme von Arbeitslosigkeit und Armut

Aufgrund der Rezession in der Wirtschaft nimmt die Arbeitslosigkeit ständig zu. Schon jetzt sind Millionen von Arbeiter:innen arbeitslos. In den verbleibenden Monaten dieses Haushaltsjahres werden mindestens 2 Millionen weitere hinzukommen. Aufgrund von Inflation und Arbeitslosigkeit werden in diesem Haushaltsjahr weitere 20 Millionen Menschen unter die Armutsgrenze fallen, so dass sich die Gesamtzahl auf mehr als 80 Millionen erhöht. Außerdem wird es für die Hälfte der Bevölkerung schwierig werden, den Grundnahrungsmittelbedarf zu decken. Diese Situation kann zur Grundlage einer großen sozialen Umwälzung werden, und die Angst davor ist in der herrschenden Klasse offensichtlich.

Schuldenfalle

Die herrschende Klasse und ihre Intellektuellen räumen ein, dass die Wirtschaftskrise trotz aller Maßnahmen nicht enden wird und sie ein weiteres Programm des IWF annehmen müssen.

Das Land benötigt eine beträchtliche Summe von 75 Mrd. US-Dollar, um die Auslandsschulden und Zinszahlungen in den nächsten drei Haushaltsjahren zu bedienen. Der Umfang der internen Verschuldung nimmt ebenfalls zu. Ein Beispiel dafür sind die zirkulären Schulden des Elektrizitätssektors, die sich auf 2,3 Billionen Rupien belaufen, obwohl der Preis pro Stromeinheit stark gestiegen ist. Die Situation ist nun so, dass die Regierung die Kreditraten und Zinsen nicht jedes Jahr selbst zahlen kann und dafür neue Kredite aufgenommen werden müssen. Das heißt, man muss einen neuen Kredit aufnehmen, um die alten Kredite zurückzuzahlen.

Vergleicht man die Darlehen und Zuschüsse, die in den letzten zwei Jahrzehnten eingegangen sind, mit den Geldern, die abgeflossen sind, so wird deutlich, dass die Zahlungen die Einnahmen überstiegen haben. Das bedeutet, dass Pakistan in einer Schuldenfalle steckt. Internationale Geldverleiher:innen verdienen an Pakistan durch die Vergabe von Krediten. Das heißt: Die Verschuldung ist zu einem Mechanismus für die Ausplünderung der Ressourcen geworden. Aufgrund der Position Pakistans im globalen Kapitalismus ist eine Rückzahlung nicht möglich. Diese Situation hat das Risiko eines Zahlungsausfalls erhöht, worauf die Regierung mit einem Programm brutaler Kürzungen reagiert.

Die IWF-Lösung

Alle bisherigen IWF-Rettungspakete und ihre neoliberalen Lösungen haben keine langfristige oder dauerhafte Verbesserung der Wirtschaft gebracht. Das aktuelle Rettungspaket wird sich nicht von den anderen unterscheiden und zu weiteren Massenprivatisierungen, steigender Arbeitslosigkeit, wachsender Armut und Inflation führen. Der IWF besteht darauf, dass seine Maßnahmen zwar unmittelbare Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum haben, aber zu Verbesserungen führen werden, wenn die Kapitalist:innen wieder Vertrauen in die Wirtschaft gewinnen.

Was ist zu tun?

Die wirtschaftlichen Bedingungen haben sich verschlechtert und die Spannungen innerhalb der herrschenden Klasse nehmen zu. Dies kommt in den Spaltungen zwischen den und innerhalb der staatlichen Institutionen deutlich zum Ausdruck. Jede Schicht der herrschenden Klasse strebt nach ihren eigenen Interessen. Die Inflation hat enorm zugenommen, und die Gesellschaft leidet unter Desintegration. Die Durchsetzung der Interessen der herrschenden Klasse bedeutet zunehmend mehr Brutalität, um die Stimme des Protests auf jede Weise zu unterdrücken.

Unter diesen Umständen müssen sich die Arbeiter:innen, die Armen auf dem Land und in der Stadt, die Bauern, Bäuerinnen und die unterdrückten Teile der Gesellschaft im Kampf gegen den tyrannischen Staat und seine Wirtschaft zusammenschließen. Es besteht die reale Gefahr, dass die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf verschiedene Sektoren und Regionen genutzt werden, um Spaltungen zu verstärken, Proteste abzulenken und einen einheitlichen Kampf gegen die wirklichen gemeinsamen Feind:innen zu verhindern. Es gibt Proteste gegen Inflation, Lohnerhöhungen und Privatisierung, aber diese Proteste müssen sich darauf konzentrieren, eine Alternative der Arbeiter:innenklasse zum IWF anzubieten. In der heutigen Zeit kann nur die Einheit der Arbeiter:innenklasse das IWF-Programm besiegen und die Regierung von Shehbaz Sharif absetzen.

Forderungen

  • Ein Mindestlohn, der für ein besseres Leben der Arbeiter:innen ausreicht. Die Löhne der Arbeiter:innenschaft sollten an die Inflation der Preise für wichtige Güter gekoppelt werden. Für jeden Anstieg der Inflationsrate um ein Prozent sollten die Löhne um ein Prozent steigen.

  • Anstelle der Privatisierung sollten die staatlichen Einrichtungen unter demokratische Kontrolle der Arbeiter:innenklasse gestellt werden. Alle Einrichtungen, die nach der Privatisierung geschlossen wurden, sollten unter Kontrolle der Beschäftigten wieder verstaatlicht werden. Einrichtungen, die an den privaten Sektor übergeben wurden, sollten unter demokratische Kontrolle der Arbeiter:innenklasse gestellt und somit alle Formen der Privatisierung abgeschafft werden.

  • Anstatt Arbeitsplätze abzubauen, sollten die Arbeitszeiten verkürzt werden, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden.

  • Aufstockung des Bildungs- und Gesundheitshaushalts durch Einführung einer Vermögenssteuer für Kapitalist:innen, Großgrundbesitzer:innen, multinationale Unternehmen und andere reiche Teile der Gesellschaft. Daraufhin sollten neue Gesundheitszentren und Bildungseinrichtungen gebaut werden.

  • Ein Ende aller Privilegien und Steuervergünstigungen für die Großgrundbesitzer:innen und Kapitalist:innenklasse.

  • Massive Subventionen sollten in der Landwirtschaft eingeführt werden. Außerdem sollte das Land den Großgrundbesitzer:innen weggenommen und den Bauern, Bäuerinnen und Landarbeiter:innen übergeben werden.

  • Die Haushaltsmittel für Entwicklungsprojekte sollten massiv aufgestockt werden, damit soziale Einrichtungen und Wohnungen für die Arbeiter:innenklasse sowie für die Armen auf dem Land und in der Stadt gebaut werden können.

  • Die Stromerzeugungsunternehmen sollten vom Staat übernommen und unter demokratische Kontrolle der Arbeiter:innenklasse gestellt werden.

  • Die Ablehnung des IWF-Programms, einschließlich der Weigerung, die Schulden der internationalen Wirtschaftsinstitutionen zu bezahlen, ist eine Vorbedingung für eine geplante und ausgewogene Entwicklung der Wirtschaft, aber eine dem Kapitalismus verpflichtete Regierung kann dies niemals tun. Wir brauchen eine Regierung, die sich auf die Organisationen der Arbeiter:innenklasse stützt, um die derzeitige katastrophale Situation zu bewältigen und die Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung zu verteidigen.

Die Unterstützung für eine solche Strategie wird nicht spontan erfolgen, sie muss durch eine entschlossene Kampagne gewonnen werden. Diejenigen, die die Notwendigkeit einer revolutionären Strategie erkennen, ob in linken Parteien oder Gewerkschaften, müssen sich organisieren, um in allen Organisationen der Arbeiter:innenklasse sowie unter den unterdrückten Schichten der Gesellschaft, den Frauen, der Jugend und den unterdrückten Nationalitäten dafür zu kämpfen.

Sie müssen sich zusammenschließen, um die politische Grundlage für eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei zu diskutieren und ein Aktionsprogramm auszuarbeiten, das den Kampf gegen den IWF mit dem für eine Revolution der Arbeiter:innenklasse in Pakistan und der gesamten Region verbindet. Auf diese Weise können wir uns gegen die Krise der herrschenden Klasse und ihre Angriffe auf das Proletariat und die Armen in Pakistan wehren.




Drei Jahre LINKS, drei Jahre Hauausforderungen – eine Bilanz

Heidi Specht / Flo Kovacs, Infomail 1217, 18. März 2023

Von der Gründung zum Wahlkampf

Seit mittlerweile drei Jahren gibt es LINKS in Wien. Seit der Gründungsversammlung im Jänner 2020 ist auch der Arbeiter*innenstandpunkt in dem linken Parteiaufbauprojekt aktiv. Damit unsere Arbeit in diesem Zusammenschluss besser verständlich wird, soll hier eine Bilanz über die vergangenen drei Jahre gezogen werden: Was ist passiert? Wo wurde gekämpft? Was davon war wie erfolgreich und wo stehen wir jetzt?

Auch wenn LINKS inzwischen drei Jahre alt ist, muss es weiterhin als junge Gruppierung in der politischen Landschaft der Bundeshauptstadt gesehen werden. Seit der Gründung hat die Organisation einen nennenswerten Transformationsprozess durchlaufen, der mit Sicherheit noch nicht abgeschlossen ist. Einige Gruppen und Personen, die zu Beginn noch eine wichtige Rolle eingenommen hatten, sind inzwischen gar nicht mehr dabei. Andere haben sich erst in den Jahren nach der Wahl angeschlossen, um beim Aufbau mitzuhelfen und das Projekt zu beeinflussen. Der Einfluss des Arbeiter*innenstandpunkts und seiner Mitglieder hat eine wichtige Rolle dabei gespielt, LINKS in einigen Fragen in eine revolutionäre Richtung zu bewegen.

Wenige Wochen nach der Gründung der einzelnen Bezirksgruppen war LINKS schon durch die Coronapandemie und den ersten Lockdown in einer sehr schwierigen Situation. Wie bei großen Teilen der übrigen Linken und der Gesellschaft im Allgemeinen musste in kürzester Zeit der Betrieb auf Onlinetreffen umgestellt werden. Das gelang im Großen und Ganzen gut, machte aber den Aufbau der Strukturen und die Rekrutierung neuer Aktivist:innen schwierig. Bald darauf startete dann auch schon der Wahlkampf. Immerhin war der Antritt zur Wiener Gemeinderatswahl 2020 der Anlass zur Gründung dieser Partei, die dem „Wählen mit Bauchweh“ ein Ende bereiten wollte. Man dachte groß, träumte mitunter von einem Einzug in den Gemeinderat und kündigte die Rückkehr des Roten Wien als reformistische Wunschvorstellung an. Ganz so weit kam es dann doch nicht, aber im gemeinsamen Antreten mit der Wiener KPÖ konnte das Wahlergebnis des KPÖ-geführten Wahlbündnisses „Wien Anders“ von 2015 knapp verdoppelt werden. Ein solcher Erfolg war einer Gruppe links der SPÖ zuletzt 1974 gelungen.

Der kleine Parlamentarismus

Es konnten insgesamt 23 Mandate in Bezirksvertretungen erreicht werden. Zwar ging ein nennenswerter Anteil davon an die KPÖ, doch auch Personen, die bisher, wenn überhaupt, außerparlamentarisch aktiv waren, fanden sich nun in den untersten Vertretungsorganen der Stadt wieder. Sie sollten nun den Kampf von der Straße in die Bezirksvertretungen tragen. Das hat in einigen Punkten gut funktioniert. Zum Beispiel müssen in der Brigittenau nun gemeinnützige Wohnungen auf dem Grundstück eines abgerissenen Gebäudes errichtet werden, haben sich mehrere Bezirke zu sicheren Häfen im Sinne der „Seebrücke“ erklärt und der Hamburger Initiative „Stadtteile ohne Partnergewalt“ wurde von einzelnen Bezirken die Unterstützung zugesichert. Besonders die letzten beiden Aktionen wurden von den LINKS-/KPÖ-Bezirksrät:innen koordiniert durchgeführt, um die kleinen Verbesserungen in einem etwas größeren Rahmen durchzusetzen.

Dass die großen Würfe ausblieben, hat unterschiedliche Gründe. Der erste ist schlichtweg die stark begrenzte Kompetenz der Bezirksvertretungen. Über mehr als lokalpolitisch relevante Themen können ausschließlich Resolutionen verabschiedet werden, sonst wird sich hauptsächlich mit wenig relevanten Verwaltungsgeschichten herumgeschlagen. Wenn wir als Kommunist:innen davon ausgehen, dass echte Verbesserungen nicht durch Parlamente, sondern nur durch außerparlamentarischen Druck aus den Betrieben und von der Straße durchgesetzt werden können, potenziert sich dieses Argument nur bei solch machtlosen Organen wie der Bezirksvertretung.

Den zweiten Grund stellt die Übermacht der SPÖ in den meisten Vertretungen in Kombination mit bürokratischen Hürden für kleine Parteien dar. Das hat sich besonders in der umfassenden Ablehnung der Resolutionen gegen den Lobautunnel und die Stadtstraße, mit Ausnahme des Alsergrunds, gezeigt.

An dritter Stelle ist das Vorgehen der Bezirksrät:innen selbst zu nennen. Dieses war zwar, wie erwähnt, in manchen Punkten koordiniert, jedoch nicht in dem Ausmaß, in dem es angedacht war und sinnvoll wäre. Die Mandatar:innen arbeiteten viel in ihren eigenen Bezirken mit ihren eigenen Schwerpunkten und unterschiedlichen Herangehensweisen. Eine gemeinsame, von den aktuellen LINKS-weiten Schwerpunkten abgeleitete Strategie war bisher kaum zu erkennen. So eine Strategie sollte die Vertretungskörper als Bühne für aktuelle und zentrale Inhalte nutzen und dabei die Gewinnung neuer Aktivist:innen auf Basis offen antikapitalistischer Agitation in den Mittelpunkt stellen. Unmittelbare Verbesserungen für Arbeiter:innen und Unterdrückte sind zwar wichtig, aber auf bezirkspolitischer Ebene noch weniger zu erreichen als generell durch Parlamentarismus – und darin dürfen wir keine Illusionen schüren.

Themen gesetzt …

Die erwähnten gesamtorganisatorischen Schwerpunkte haben sich meistens in Form von Kampagnen ausgedrückt. Die erste davon fand rund um die Forderung nach einer 30-Stunden-Arbeitswoche statt. Unter dem Motto „Mach ma 30“ wurde die Stadt Wien aufgefordert, die Normalarbeitszeit ihrer Bediensteten bei vollem Lohn- und Personalausgleich entsprechend zu senken – eine durchaus gute Forderung um die es wert wäre zu kämpfen. Als erste Jahreskampagne setzte sie sich gegen eine Reihe anderer Vorschläge (u. a. knapp gegen eine von AST-Mitgliedern initiierte, offen antikapitalistische Kampagne gegen die Wirtschaftskrise im Zuge der Coronapandemie) durch, mit dem Anspruch, in der Folge von der gesamten Aktivist:innenschaft getragen zu werden. Das Ziel der Kampagne, als nächstes großes Projekt nach der Wahl die gesamte Organisation hinter sich zu versammeln, wurde jedoch nicht erreicht. Hier zeigte sich das Fehlen von zentralistischen Zugängen und Führungsansprüchen in der Partei. Das Herzstück von „Mach ma 30“, eine Petition an die Stadt Wien, wurde beim Wahlbüro abgegeben, danach ist aber nichts weiter passiert. Mit Sicherheit ist es ein Versäumnis, dass diese Kampagne nach ihrem Ende keine Bilanzierung innerhalb von LINKS erfahren hat, auch weil unter den Mitgliedern keine Einigkeit über ihren Erfolg besteht.

Dieser erste Jahresschwerpunkt war allerdings die bisher einzige Kampagne, die von der gesamten Organisation über einen langen Zeitraum hinweg getragen werden sollte. Die zweite, die ein bundesweites „Ausländervolksbegehren“ zum Ziel hatte (als Gegenprojekt zum „Ausländervolksbegehren“ von Haider vor 30 Jahren), wurde, noch bevor sie tatsächlich ins Laufen gekommen war, wieder auf Eis gelegt. Sie war nicht realistisch umsetzbar. Außerdem hatte sich das Thema Teuerung bedeutsam aufgedrängt. Stattdessen verstärkten einzelne Bezirke ihre eigenen Schwerpunkte: Ottakring und Penzing beispielsweise behandelten die Pflegekrise in Flugblättern und Diskussionsveranstaltungen, Rudolfsheim-Fünfhaus und Brigittenau führten öffentliche Veranstaltungen durch, um die Forderung nach dem Wahlrecht für alle populärer zu machen.

Im Zuge der steigenden Inflation wurde dann das Thema Teuerung immer wichtiger. Schon bei der Aktivist:innenkonferenz im Februar 2022 gab es einen Antrag, der sich strategisch damit auseinandersetzte. Im Sommer gab es dann die Initiative, die gesamte Organisation mehr auf das Thema auszurichten. LINKS beteiligte sich am Wiener Bündnis gegen Teuerung „Es reicht“ und veranstaltete eine interne Schulung samt Diskussion zu Inflation sowie den Forderungen dazu. Zukünftig wäre es gut, solche Schwerpunktdiskussionen früher zu planen und durchzuführen, weil eine Beteiligung an der öffentlichen Diskussion zur Teuerung dadurch erst verspätet möglich war. Insgesamt begrüßen wir aber solche Veranstaltungen zur gemeinsamen Diskussionsfindung. Nun war man nämlich nicht auf das Bündnis angewiesen und konnte auch selbstständig tätig werden. Die Notwendigkeit dafür zeigten die schlecht besuchten Demonstrationen und Straßenfeste des Bündnisses, bei denen LINKS deutlich weniger Mobilisierung verzeichnete als aus den Vorjahren gewohnt, dabei aber noch deutlich mehr als andere beteiligte Organisationen. Teil der Kampagne waren außerdem Aktionen solidarischer Praxis wie mehrere „Küchen für alle“ und Solidaritätsaktionen bei Arbeitskämpfen. Diese wurden generell positiv aufgenommen.

Die vorhergehende inhaltliche Schulung der Mitgliedschaft hat nicht nur eine eigenständige Kampagne zur Teuerung möglich gemacht, sondern auch den Grundstein für die für 2023 geplante Kampagne zu Klimakrise und Umverteilung gelegt. Thematisch befindet sich LINKS damit in genau den Gebieten, auf denen es in den vergangenen Jahren nicht nur sein Profil schärfen konnte, sondern auch auf medial öffentliches Interesse gestoßen ist. Hier sind nun Führung und Planungsgruppe aufgerufen, die Basis von Anfang an sowohl mit einzubinden als auch inhaltlich anzuleiten, damit schlagkräftige antikapitalistische Klimapolitik gemacht werden kann, die eine wirklich systemkritische Alternative zur Politik scheinbar radikaler Gruppen wie Extinction Rebellion oder der Letzten Generation darstellt.

 … und Kämpfe beeinflusst

Der Gegensatz zu diesen Gruppen hat sich bereits bei der Besetzung der Baustelle für die Stadtstraße in Hirschstetten aufgetan. Hier konnte LINKS – gemeinsam mit anderen antikapitalistischen Kräften wie System Change not Climate Change, dem Jugendrat oder REVOLUTION – dezidiert antikapitalistische Forderungen in einen bestehenden Kampf hineintragen und diesen damit verändern. Die LINKS-Arbeitsgruppe Lobau konnte glaubhafte Antworten auf Fragen liefern, die von Seiten der bürgerlichen Umweltbewegung nicht thematisiert werden. Das muss als Erfolg gewertet werden, auch wenn die Verankerung in der Bewegung seit der Baustellenräumung deutlich geschrumpft ist. LINKS konnte sich sowohl in der öffentlichen Debatte profilieren als auch in einen Kampf einbringen, ihn mitgestalten, daran wachsen und in den antikapitalistischen Klimaorganisationen Verbündete für weitere Kämpfe gewinnen.

Der zweite von außen angestoßene Kampf, in den LINKS helfend intervenieren konnte, war die Solidarität mit Menschen aus und in Afghanistan. Wenngleich sie keine eigene Struktur innerhalb der Organisation verkörpert, stellt die nach der Machtübernahme der Taliban 2021 gegründete Soligruppe Afghanistan einen genutzten Rahmen für die Arbeit der Community in Wien dar. Die LINKS-Aktivist:innen haben diese nur initiiert, um einen Raum zu schaffen, der weiterhin stark genutzt wird und um den herum Aktionen wie Demonstrationen organisiert werden. Kritisch zu betrachten ist hier aber, dass – trotz der berechtigten Verachtung der Taliban – sehr oft ein unkritischer Bezug auf die Zeit der NATO-Besatzung sowie die liberalen Kräfte in der Diaspora besteht.

Dies sind Beispiele dafür, wie Gruppen innerhalb von LINKS es geschafft haben, durch ihre organisatorischen Fähigkeiten Räume zu eröffnen und Kämpfe nicht nur zu stärken, sondern auch zu beeinflussen. Das muss LINKS auch beibehalten und dabei klassenkämpferische Perspektiven überall dort einbringen, wo diese fehlen oder nicht genug Raum bekommen. Weniger passiert ist das etwa im Widerstand gegen den Bau der Markthalle beim Naschmarkt. In dieser von den Grünen angeleiteten Initiative konnte LINKS nur mitschwimmen und kaum eigene Inhalte einbringen.

Stark auf der Straße

Die Höhepunkte in der noch kurzen Geschichte von LINKS bestehen, wie ausgeführt, bisher weniger in der erfolgreichen Durchführung lang angelegter Kampagnen. Die einzige Ausnahme stellt dabei der Wahlkampf dar. Dort fehlte zwar der konkrete thematische Fokus, stattdessen gab es aber ein großes gemeinsames Ziel, auf das mit kollektiven Kräften hingearbeitet wurde. Wenn auch der Sprung auf die große Bühne des Gemeinderats nicht geglückt ist, fiel das Wahlergebnis durchaus ansehnlich aus. Diese Arbeit schaffte ein Gemeinschaftsgefühl, das LINKS bisher nicht erneut herstellen konnte. Im Oktober 2020 stand LINKS selbstbewusst, einigermaßen konsolidiert und mit Tatendrang am Ende eines anstrengenden Wahlkampfs da.

Dass LINKS unter anderem aus der Organisation größerer, regelmäßiger Demonstrationen gegen eine von Sebastian Kurz geführte Regierung hervorgegangen war, hat später zu einem weiteren Erfolgsmoment geführt. Selbst wenn der reale Einfluss auf die Rücktrittsentscheidung nicht allzu groß zu bemessen ist, hat LINKS es zuallererst geschafft, die Forderung nach dem Rücktritt des gescheitertsten österreichischen Bundeskanzlers der vergangenen Jahrzehnte effektiv, schnell und laut auf die Straße zu befördern. Dabei wurden auch Vereinnahmungen durch Coronaleugner:innen, die immerhin den Slogan „Kurz muss weg“ an sich gerissen hatten, gekonnt verhindert, um die eigene Glaubwürdigkeit beizubehalten.

Zwar nicht so groß, aber ähnlich spontan und wichtig war die Demonstration für das Recht auf sicheren Schwangerschaftsabbruch nach dem Fall von Roe vs. Wade in den USA. Auch hier war es LINKS, das schnell reagierte und Initiativen auf die Straße brachte.

Außerdem hat LINKS es 2022 geschafft, sich mit einem Gassenlokal dauerhaft ansprechbar zu machen. Die „Vero“ (Veronikagasse) ist zwar aktuell noch kein Anlaufpunkt, an dem zu den wochentäglichen Journaldiensten dauerhaft Menschen ein- und ausgehen. Aber sie ist ein weiterer Punkt für eine Organisation, die auf Arbeit in der Nähe der Menschen und in den Grätzln setzt. Diese Ansprechbarkeit ist als positiv zu bewerten.

Herausforderungen

Es ist erkennbar, dass die Höhepunkte 2022 eher kleiner Natur waren. Das Jahr war geprägt von Krisen innerhalb der Organisation, die auch die Außenwirkung beeinträchtigt haben. Doch die Führungskrise begann nicht erst im vergangenen Jahr. Bereits in den Monaten nach der Wahl des Koordinationsteams bei der Aktivist:innenkonferenz 2021 schieden zwei Personen aus der Führung, die tendenziell dem linken Flügel innerhalb von LINKS zuzuordnen sind.

Spätestens mit den Anschuldigungen gegen den Sprecher Can und seinen anschließenden Ausschluss hatte die Koordination mit einer Mehrbelastung zu kämpfen. Diese war nicht nur ein Resultat der weggefallenen Ressourcen von Can, sondern mindestens genauso sehr der damit einhergehenden notwendigen Auseinandersetzung mit dem Thema nach innen und außen. In einer kapitalistischen Gesellschaft ist niemand – auch linke Gruppen nicht – vor solchen Vorfällen gefeit. Dennoch sind Vorwürfe sexueller Grenzüberschreitungen gegen zentrale Personen ein schwerer Schlag für jede linke Gruppierung und erfordern viel Aufarbeitung, die auch noch nicht abgeschlossen ist. Auch nach dem Sommer traten dann noch zwei weitere Mitglieder aus der gewählten Führung aus. Eine der Konsequenzen, die daraus gezogen wurden, ist, dass mit der Mitgliederkonferenz 2023 dann die Wahlperiode der Koordination von zwei Jahren auf ein Jahr verkürzt wurde.

Die Organisation hat es außerdem nicht geschafft, auch wenn der „Mach ma 30“-Kampagne so etwas manchmal nachgesagt wird, den Großteil der Aktivist:innen hinter einer gemeinsamen Aktivität oder einem thematischen Schwerpunkt zu vereinen. Zu sehr zersplittert erscheinen die einzelnen Teile der Organisation. Obwohl es dazu an der Basis durchaus ein Problembewusstsein und Rufe nach Austausch gibt, haben keine der bisherigen Versuche es geschafft, daran substanziell etwas zu ändern. Der Koordination ist es ebenfalls nicht ausreichend gelungen, eine politische Führung in dem Sinne zu sein, dass sie die zu bearbeitenden Kämpfe vorgab oder ausreichend nachdrücklich vorschlug. Eine Schwierigkeit dabei ist weiterhin, dass einige Bezirksgruppen zu sehr auf Bezirksarbeit beschränkt sind. Dadurch kann es ihnen schwerfallen, sich groß an übergreifenden Projekten zu beteiligen. Eine stärkere Verankerung der Koordination könnte diesem Problem entgegenwirken, wobei die Ressourcen dort wie erwähnt in den vergangenen Monaten mehr als knapp bemessen waren.

In den Flächenbezirken, die immerhin einen nennenswerten Teil der Wiener Arbeiter:innenklasse beherbergen, ist es großteils weiterhin nicht gelungen, eigenständig funktionierende Bezirksgruppen aufzubauen. Außerdem gingen einzelne Gruppen aus Stadtteilen innerhalb des Gürtels, in denen auch Bezirksvertretungsmandate erkämpft worden waren, verloren. Dies ist ein Arbeitsfeld, das seit mittlerweile zwei Jahren als Problem erkannt und bearbeitet wird, für das bisher aber noch keine funktionierende Lösung gefunden wurde.

Eine größere Schwierigkeit im Herbst 2022 lag darin, die einstige Stärke von LINKS wieder aufflammen zu lassen. War es vor zwei Jahren noch möglich bei kurzfristigen Mobilisierungen zu medial brisanten Themen, mehrere hundert Personen für eine Sache auf die Straße zu bewegen, gelang das im Zuge des Bündnisses „Es reicht“ nicht. Es gibt hier sicher eine Reihe mitspielender Faktoren, aber ein Zusammenschluss, der auf das brennendste Thema der Zeit reagiert und die eigenen Ansprüche, Großdemonstrationen zu organisieren, nicht erfüllen kann, ist eine Schwäche – ähnlich wie das gesamtlinke Versagen, eine annähernd verständliche und populäre Antwort auf die Covid19-Pandemie zu finden.

Verhältnis zu und Arbeit mit der KPÖ

Eine der größeren Partner:innen im Wahlkampf war die KPÖ. Mit dieser ist LINKS seit seiner Gründung, aber spätestens seit dem gemeinsamen Wahlantritt, stark verbunden. Mehrere Aktivist:innen sind auch Teil der KPÖ und einzelne würden sogar eine Verschmelzung der beiden Organisationen gutheißen. Mit dem Abkommen zum gemeinsamen Wahlkampf ging LINKS ein Abhängigkeitsverhältnis ein, in dem beide Seiten wussten, dass sie auf die jeweils andere angewiesen waren. Die junge Kraft brauchte die materiellen Ressourcen sowie die (wenn auch kleine) Verankerung der KPÖ in Wien. Die ältere Partei brauchte den Elan, die Neuartigkeit und Fähigkeit zur pointierten Formulierung radikaler Inhalte, um ihrem langsamen Fall in die Bedeutungslosigkeit entgegenzuwirken.

Doch mit der Zusammenarbeit kamen die Schwierigkeiten. Ein unterschiedliches Verständnis davon, was es heißt, Politik zu machen, führte schon im Wahlkampf zu Differenzen. In einigen Bezirksgruppen kam es zum Bruch mit den Aktivist:innen von Wien anders, mit denen zuvor rege Zusammenarbeit bestanden hatte. Immer wieder kam es auch aufgrund von unreflektiertem Verhalten, das gesellschaftliche Unterdrückungsmechanismen entweder kleinredete oder sogar in die Organisation hineintrug, zu Konflikten. Von Seiten der KPÖ gab es diesbezüglich wenig Konsequenzen. Gerade die alteingesessenen Bezirksräte verfügten darüber hinaus von Anfang an über den Vorteil, dass sie im Abkommen über den gemeinsamen Wahlantritt bei der Besetzung des ersten Listenplatzes und damit der Wiederwahl bevorzugt wurden.

Natürlich sind nicht vorrangig individuelle Differenzen dafür verantwortlich, dass sich LINKS als eigene Partei neben der KPÖ gegründet hat und nach genereller Meinung weiterhin keine Absichten hegt, mit ihr zu verschmelzen. Denn obwohl LINKS keine revolutionäre Partei ist, können revolutionäre Kräfte dort arbeiten und um ein revolutionäres Programm kämpfen. Wo die KPÖ fest auf (links-)reformistischem Kurs ist, vertraut LINKS deutlich weniger auf die Vertretungskörper und sieht sich in einer konsequenten Oppositionsrolle. Andererseits versucht LINKS aktiv, auch intern gegen gesellschaftliche Unterdrückungsformen anzukämpfen. Die Form, in der das geschieht, hat allerdings oft stark identitätspolitische Züge. Aus der KPÖ bekommen wir hingegen unsensiblen bis respektlosen Umgang mit Unterdrückungsmechanismen sowie die Leugnung von Hierarchien und der Rolle von Diskriminierung in linken Gruppierungen mit.

Generell ist in den vergangenen Monaten eine gewisse Abkehr von der Zusammenarbeit mit der KPÖ zu beobachten. Grund dafür sind auf der einen Seite Schwierigkeiten in der praktischen Zusammenarbeit in „Es reicht“ sowie allgemein auch der neue Kurs der KPÖ nach ihrem letzten Parteitag, wo eine neue Führung mit starkem Einfluss ehemaliger Mitglieder der Jungen Linken gewählt wurde, welche seitdem stärker versucht, sich von politischen Mitbewerber:innen in der Praxis abzugrenzen. Politische Differenzen werden hingegen wenig öffentlich diskutiert. Für eine eigenständige Entwicklung von LINKS ist diese Tendenz jedenfalls förderlich und damit auch für die Möglichkeit, die Organisation stärker in eine revolutionäre Richtung zu bewegen.

Antikapitalismus und Klassenstandpunkt

Diese stärkere Eigenständigkeit hält LINKS allerdings nicht davon ab, sich in andere reformistische Strukturen zu begeben. So wurde 2022 beschlossen, Partnerorganisation der Europäischen Linkspartei (EL) zu werden – derselbe Status, den auch der Wandel innehat. Dies führte auch zu einer Teilnahme am letztjährigen Kongress der EL, der den ehemaligen KPÖ-Vorsitzenden Walter Baier zum Präsidenten gewählt hat und LINKS weiter reichende Kontakte zu linksreformistischen und -populistischen Organisationen und Parteien Europas beschert hat. Diese Entwicklung ist kritisch und muss bei weiterem Fortschreiten zu einer klaren Konfrontation mit dem reformistischen Flügel führen.

Gleichzeitig ist eine deutlich klarere Stellung gegen den Kapitalismus als Wirtschafts- und Gesellschaftssystem positiv hervorzuheben, die gerade in den ersten Monaten noch nicht in dieser Form nach außen getragen wurde. Damit einher geht auch ein Bezug zur Arbeiter:innenklasse als jener Gesellschaftsschicht, mit der man gemeinsam Politik gegen das Kapital machen möchte. Ein Verständnis der Klasse als jenes revolutionäre Subjekt, das den gewünschten sozialen Umbruch bringen kann, zählt weiterhin nicht zu den programmatischen Grundpfeilern. Genauso fehlt eine nennenswerte Verankerung in der Arbeiter:innenklasse und insbesondere in den Gewerkschaften als massenhaftestem Ausdruck der organisierten Arbeiter:innenbewegung. Auch ist die Überwindung des Kapitalismus inzwischen zwar als klares gemeinsames Ziel etabliert, dass deswegen auf den Sozialismus hingearbeitet werden soll, jedoch weniger.

Der positive Bezug auf die Arbeiter:innenklasse zeigte sich in der vergangenen Zeit besonders in Form solidarischer Praxis. Besonders Arbeitskämpfe im Kontext der allgemeinen Teuerung boten Anlässe, sich trotz fehlender Verankerung solidarisch zu zeigen und Stellung zu beziehen. Das funktionierte einfach über das Auftauchen, eventuell Diskutieren und Ausschenken von Tee. Derlei Aktionen, gemeinsam mit der Auseinandersetzung mit der Rolle der Gewerkschaften und reformistischen Parteien als unzureichenden Vertretungen der Klasse können helfen, LINKS in der arbeitenden Bevölkerung zu verankern und in eine marxistische, revolutionäre Richtung zu bewegen. Auch dass in der Kampagne für 2023 die Themen Klimakrise und Antikapitalismus bzw. Umverteilung im Mittelpunkt stehen, zeigt das Bewusstsein, sich mit Themen grundlegend aus einer Klassenperspektive heraus auseinanderzusetzen.

Und jetzt?

Wir sehen also weiterhin Hoffnung in LINKS, weswegen wir weiterhin Revolutionär:innen dazu aufrufen, sich an der Arbeit dort zu beteiligen. Ja, es gibt in LINKS verschiedene politische Flügel, deren Herangehensweisen und inhaltliche Positionierungen wir oft nicht teilen. Das bedeutet aber nicht, dass die Diskussionen und Kämpfe um die Zukunft der Organisation abgeschlossen sind. Ideen, Forderungen und besonders ernsthafte, beständige Arbeit werden wertgeschätzt. Das kommt gerade solchen Aktivist:innen zupass, die es gewohnt sind, auch Aufgaben zu übernehmen, die nicht unterhaltsam, aber notwendig zu erfüllen sind. Wer ein Aufgabengebiet für sich sieht, kann es bearbeiten und erhält von LINKS die Ressourcen dafür, solange man selbst die Verantwortung für die Durchführung übernimmt. Damit haben auch wir in den vergangenen Jahren Diskussionen führen und öffentliche Aktionen abhalten können, die ohne LINKS nicht möglich gewesen wären.

Gerade zum aktuellen Zeitpunkt ist es etwa wichtig, sich in den Prozess um die Neugestaltung des Programms einzubringen. Zwar ist abzusehen, dass dieser noch ein bisschen Anlaufzeit benötigt, bis es tatsächlich an die Formulierung der einzelnen Kapitel geht, doch wenn es um die Schärfung eines linken Profils geht, kann am Programm kein Weg vorbeiführen. Das bedeutet auch, einem Teil von LINKS klarzumachen, welche Bedeutung ein Programm als Grundlage für politisches Handeln besitzt. Dafür zu sorgen, dass diese Aktivist:innen damit eine solide Basis für schlagkräftige Aktionen in der Hand halten, ist sogar noch wichtiger.

Insgesamt gibt es in LINKS noch viele Spielräume für revolutionäre Politik. Es gibt noch keine Bürokratie, weil dafür aktuell die materielle Basis fehlt. Es gibt zwar immer wieder versuchte Anschlüsse an den Reformismus (wie zum Beispiel an die Europäische Linke), aber auch ehrliche Versuche, einen radikalen Antikapitalismus auf die Straße zu tragen. Die Zukunft von LINKS ist unserer Einschätzung nach noch nicht festgelegt und wir werden unsere Kräfte weiterhin dafür einsetzen, LINKS aufzubauen und für eine revolutionäre Ausrichtung in Theorie und Praxis zu kämpfen.




Frankreich: Schlüsselposition der Gewerkschaften im Kampf gegen Erhöhung des Renteneintrittsalters

Marc Lassalle, Infomail 1216, 9. März 2023

Nach sechs Tagen Streiks und Demonstrationen in Frankreich erreicht die Konfrontation zwischen den Arbeiter:innen und der Regierung in der Frage der „Rentenreform“ einen entscheidenden Moment. Am 7. März beteiligten sich rund 3,5 Millionen Menschen an den Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen – ein neuer Höhepunkt der Mobilisierung. Faktisch findet in vielen wichtigen Sektoren ein mehrtägiger Streik statt.

Den Gewerkschaften ist es seit Beginn des Jahres gelungen, sehr große Demonstrationen zu organisieren, nicht nur in Großstädten, sondern in Städten im ganzen Land, und, was noch bemerkenswerter ist, dies einen ganzen Monat lang mit einer Großdemonstration pro Woche fortzusetzen. Die Ablehnung der so genannten Reform der Regierung ist in der gesamten Bevölkerung und vor allem unter der Arbeiter:innenschaft massiv.

Strategischer Angriff

Die Regierung verteidigt weiterhin ihr Vorhaben, das Rentenalter auf 64 Jahre anzuheben, um jeden Preis. Es handelt sich nicht einfach um eine technische Maßnahme oder eine Episode innerhalb eines Gesamtplans. Für Präsident Macron ist dies die „Reform“ schlechthin. Da er während seiner letzten Amtszeit durch die Pandemie blockiert wurde, besteht er auf dieser Reform als Symbol seiner Präsidentschaft und seines Vermächtnisses. Für ihn müssen die Lohnabhängigen mehr arbeiten, um die Subventionen zu bezahlen, die der Staat den Unternehmer:innen während der Pandemie und danach großzügig gewährt hat (Energiekosten usw.).

Wie der neoliberale Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire sagt, sollten die Bosse diese Reform „mit Begeisterung und Entschlossenheit“ unterstützen. Es geht um 8 bis 9 Milliarden Euro für die Wirtschaft! Je mehr die Minister:innen versuchen, die Reform zu erklären, desto kruder erscheint ihre Realität in den Augen der Lohnabhängigen. Trotz aller Behauptungen der Regierung, die Änderung sei „frauenfreundlich“, hat sich herausgestellt, dass sie vor allem für Frauen nachteilig ist, da sie länger arbeiten müssen. Die Reform wird auch Beschäftigte im unteren Lohnsegment besonders hart treffen, insbesondere diejenigen, die ihre Arbeit vor dem 20. Lebensjahr aufgenommen haben.

Angesichts der Zielsetzung von Macron und der Entschlossenheit der Bosse ist die derzeitige Strategie der Gewerkschaften jedoch völlig unzureichend. Sie haben in den letzten zwanzig Jahren in vielen Konflikten eine Reihe von eintägigen Streiks durchgeführt und das Ergebnis war unweigerlich dasselbe: eine Niederlage. Nach einem anfänglichen Erfolg erschöpft sich Dynamik eintägiger Demonstrationen ab einem gewissen Zeitpunkt. Dann macht sie  Ermüdung und Unzufriedenheit Platz, was wie in einem Teufelskreis wachsende Demoralisierung und Unklarheit der Arbeiter:innen über die weitere Strategie provoziert. Die Zahl der Streikenden schrumpft, bis die Gewerkschaften den Streik einfach beenden oder, wie sie es manchmal ausdrücken, „den Kampf mit anderen Mitteln fortsetzen“.

Unterschied

Dieses Mal ist die Situation in zweierlei Hinsicht anders. Erstens sind die Zahl der Streikenden und die Stärke der Demonstrationen so hoch wie seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr. Zweitens lehnen alle Gewerkschaften, einschließlich der sehr gemäßigten CFDT, die Reform ab, und es gibt bisher keine Anzeichen für eine Schwächung der „Intersyndicale“ (der Front von acht Gewerkschaften und Verbänden, die gegen die Reform sind). Dies stellt natürlich ein Zeichen für die Entschlossenheit und den Kampfgeist der Arbeiter:innenklasse dar.

Nach einer zweiwöchigen Pause – wegen der Schulferien – erklärten alle Gewerkschaften, dass eine entschlossenere Haltung erforderlich sei. „Die Intersyndicale bekräftigt ihre Entschlossenheit, Frankreich am 7. März lahmzulegen. Der 7. März sollte ein ,toter Tag’ (journée morte) in den Betrieben, Verwaltungen, Diensten, Schulen, Verkehrsmitteln sein … “ (Presseerklärung, 21/02).

Der CGT-Vorsitzende Philippe Martinez erklärte: „Wenn die Regierung trotz der Mobilisierungen weiterhin stur bleibt, dann müssen wir mit größeren Aktionen, längeren, härteren, zahlreicheren, massiveren und erneuerbaren Streiks vorankommen“. Dies ist eine raffinierte Art, einen Generalstreik zu beschreiben, ohne ihn zu benennen. Ein erneuerbarer Streik (grève reconductible) ist in der Tat die französische Art, einen unbefristeten Streik einzuleiten. In den Betrieben wird die Kampfmaßnahme dann Tag für Tag von den betrieblichen Generalversammlungen (AGs) beschlossen, und zwar jeden Morgen.

Das hört sich zwar sehr demokratisch an, ist aber dennoch eine ziemlich fragile Kampfmethode, da sie von der kontinuierlichen und starken Beteiligung aller an den Versammlungen abhängt. Jeden Tag könnte der Kampf enden, so dass trotz der großen Opfer der Streikenden die politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen eher begrenzt sind. Die Regierung weiß, dass sie ein Ende erzwingen kann, indem sie einfach geringfügige Zugeständnisse mit den gemäßigteren Gewerkschaften aushandelt, wodurch die Moral der Streikenden geschwächt und die Einheit des Kampfes gebrochen wird.

Warum vermeidet Philippe Martinez es, einen unbefristeten Generalstreik auch nur zu erwähnen? In der Vergangenheit, vor allem 1968, haben die französischen Arbeiter:innen einen Generalstreik initiiert, und die Situation entglitt dann völlig der Kontrolle der obersten Gewerkschaftsführung. Seitdem zieht sie es vor, jeden Schritt eines Kampfes sorgfältig zu kontrollieren. Wenn man sie unter Druck setzt, würden sie sogar eine Niederlage vorziehen, anstatt sich von der Aktion der Basis ins Abseits stellen zu lassen.

Trotz dieser Feigheit der Gewerkschaftsbürokratie ist der Ausgang des Kampfes noch lange nicht entschieden. Sicher ist, dass der 7. März einen weiteren großer Tag der Streiks und Demonstrationen markierte, an dem rund 3,5 Millionen Menschen auf die Straße gingen. Was kommt dann? Der 8. März war ein weiterer Tag der Demonstration für die Rechte der Frauen. Student:innenorganisationen riefen zu einem weiteren großen Protesttag am 9. März auf. Diese Verkettung von Terminen legt nahe, dass die Arbeiter:innen am 7. März in den Streik treten und dann draußen bleiben sollten! Mehrere wichtige kämpferische Gewerkschaften riefen für den 7. März und die folgenden Tage zu einem täglich zu erneuernden Streik auf. Dazu gehören die Beschäftigten der Pariser Verkehrsbetriebe (RATP), der Eisenbahnen, der Erdölraffinerien, der Häfen und Docks sowie die Beschäftigten der Kraftwerke. Die Frage ist: Wird dieser Funke stark genug sein, um einen Generalstreik zu entfachen?

Der Ausgang hängt von vielen Faktoren ab, aber einer der wichtigsten ist das aktive Eingreifen der politischen Parteien der Linken. Von der Front der Linksparteien, NUPES, ist nichts zu erwarten, ebenso wenig wie von ihrer führenden Kraft, der Partei von Jean-Luc Mélenchon, France Insoumise (FI). FI unterstützt formell die Aktionen der Gewerkschaften, konzentriert sich aber in Wirklichkeit auf das Parlament und die nächsten Wahlen. Im Parlament haben sie die Diskussion des Rentenreformgesetzes mit tausenden von Änderungsanträgen in einer ersten Sitzung zwar erfolgreich behindert. Der Entwurf wurde nun an den Senat weitergeleitet, wo die Rechten die Mehrheit haben, und wird wieder ins Parlament zurückkehren.

Die Taktik der Obstruktion reicht jedoch bei weitem nicht aus, um den Prozess zu stoppen. Die Regierung könnte versuchen, die Rechtskonservativen – Les Républicains – davon zu überzeugen, das Gesetz zu unterstützen, oder es einfach mit einer antidemokratischen Maßnahme zu verabschieden, die von der bonapartistischen Verfassung der 5. Republik ermöglicht wird. Zu Beginn des Streits versuchte die FI sogar, unabhängig von den Gewerkschaften eine Demonstration zu organisieren, was jedoch ein großer Flop war. Das soll nicht heißen, dass die Aktivist:innen von NUPES und FI nicht an den Demonstrationen und dem Kampf teilnehmen werden. Die meisten von ihnen sind gewerkschaftlich organisiert und ein fester Bestandteil der Mobilisierung. Aber auf politischer Ebene agieren alle diese Kräfte, FI, die Kommunistische Partei (PCF), die Sozialistische Partei (PS) und die Grünen ausschließlich auf parlamentarischer Ebene und überlassen die Durchführung von Streiks den Gewerkschaften.

Die radikale Linke

Alle Kräfte der radikalen Linken leiten den nächsten Schritt für den Kampf ein, aber sie sind sowohl gespalten als auch verwirrt.

Die Nouveau Parti Anticapitalistei (NPA = Neue Antikapitalistische Partei) ist durch die Abspaltung ihrer alten Führung geschwächt, die die Hälfte der Mitglieder mitgenommen hat. Dies führt zu der grotesken Situation, dass es zwei NPAs von ähnlicher Größe gibt, die auf den Demonstrationen präsent sind, Veranstaltungen organisieren und den gleichen Namen und das gleiche Logo verwenden. Die NPA-Plattform B (PFB), obgleich die Minderheit am letzten Kongress, hat die Kontrolle über den Apparat, die Presse, die Website, die Hauptamtlichen usw. behalten. Sie ist sichtbarer, da ihre Anführer:innen die Sprecher und ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Olivier Besancenot und Philippe Poutou waren. Das Timing könnte jedoch nicht unglücklicher sein. Nachdem die NPA-PFB die Weltlage in den dunkelsten Farben analysiert hat (die Arbeiter:innenklasse in der Defensive, der Aufstieg der extremen Rechten usw.), betont sie die Notwendigkeit der Einheit:

„Die NPA schlägt vor, eine politische Alternative zu Macron aufzubauen, die aus der Mobilisierung hervorgeht, mit all jenen, die der prokapitalistischen Politik ein Ende setzen wollen, hin zu einer Gesellschaft, die frei von Ausbeutung und Unterdrückung ist.“

Dies mag zwar radikal klingen, aber ähnliche Aussagen waren in den 1970er Jahren bei der PCF und sogar bei der PS durchaus üblich. Sie schlägt in vagen Worten eine breite linke Regierung vor, mit NUPES, und sogar ein Minimum-Maximum-Programm. Zuerst setzen wir der prokapitalistischen Politik der Regerierung ein Ende, und dazu verbünden wir uns mit Reformist:innen, dann gehen wir zu einer Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung über. In gewissem Sinne ist dies ein erster Schritt zur Lösung der Zweideutigkeit, auf der die NPA gegründet wurde, allerdings zugunsten einer reformistischen Politik heute und des Sozialismus in ferner Zukunft. Es ist klar, dass die NPA-PFB einen Weg eingeschlagen hat, der dazu führen wird, dass sie sich in eine reformistische Partei auflöst oder einfach irrelevant wird.

Die andere NPA, die NPA-Plattform C (PFC), ist nach wie vor ein heterogener Block, der sich aus zwei Tendenzen der vor der Spaltung bestehenden Partei zusammensetzt, nämlich L’Étincelle (Funke) und Anticapitalisme et Révolution, die nun versuchen, eine einheitliche Partei zu organisieren. Sie sind politisch sehr aktiv unter den Jugendlichen und an den Arbeitsplätzen. Sie verteidigen zu Recht die Perspektive eines Generalstreiks.

„Ja, wir müssen einen Generalstreik anstreben, um die Dinge wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Ohne Arbeiter:innen wird nichts produziert. Wenn wir streiken, wird nichts produziert und Profite und Dividenden sind dann Makulatur.“

Tatsächlich stehen ihre Aktivist:innen an vorderster Front, wenn es darum geht, die Selbstorganisation der Streikenden unter dem Motto „den Streik unter die Kontrolle der Streikenden stellen“ zu entwickeln. Oder, wie es Gael Quirante, Vorsitzender von A&R, auf ihrer nationalen Kundgebung im Februar ausdrückte: „Auch wenn der Beginn eines Generalstreiks nicht so einfach ist, wie auf einen Knopf zu drücken, müssen wir diesen Knopf auf jede Weise suchen, mit Generalversammlungen, mit Koordinierungen usw.“

Was jedoch in der Politik der NPA-PFC völlig fehlt, ist der Gedanke, dass alle Streikenden maximalen Druck auf die Gewerkschaften, also auch ihrer Führungen, ausüben sollten, um den Generalstreik auszurufen und diesen aktiv in den Betrieben, in allen lokalen, regionalen und anderen Strukturen der Gewerkschaften vorzubereiten und dafür offen und ausdrücklich zu werben. Eine der Widersprüchlichkeiten der derzeitigen Mobilisierungen ist in der Tat die geringe Beteiligung an den Betriebsversammlungen, trotz der zahlreichen Demonstrationen. Und ein weiteres Paradoxon ist die Tatsache, dass die Masse der Arbeiter:innen trotz aller früheren Niederlagen der landesweiten Führung der Gewerkschaften vertraut. Dies gilt umso mehr, als die meisten der mobilisierten Arbeiter:innen nicht zur Avantgarde gehören: Viele von ihnen streiken und demonstrieren zum ersten Mal in ihrem Leben. Das wird sich nicht von selbst ändern. Es bedarf der Initiative – der Führung – durch politisch bewusste und erfahrene Aktivist:innen.

Die Aufforderung an die Gewerkschaftsführungen, ihren Worten auch Taten folgen zu lassen, könnte dabei sehr wirksam sein. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil des Prozesses, den „Druckknopf“ für den Generalstreik zu finden. Selbst in der gemäßigteren Gewerkschaft CFDT ist die derzeitige Position ihrer Spitze darauf zurückzuführen, dass auf ihrer letzten Generalkonferenz eine Mehrheit für die Ablehnung von Macrons Reform gestimmt hat. In den meisten Gewerkschaften sind die lokalen und mittleren Führungsebenen, die unter direktem Druck von unten stehen, tatsächlich von der Notwendigkeit radikalerer Aktionen überzeugt. Während Revolutionär:innen also versuchen müssen, Organe der Selbstorganisation zu schaffen, müssen sie gleichzeitig einen ernsthaften, entschlossenen Kampf Innerhalb der Gewerkschaften führen. Leider würde die NPA-PFC dies als Ketzerei ablehnen. Für sie, wie auch für Lutte Ouvrière und sogar Révolution Permanente (RP; Fracción Trotskista, FT), sollte die Einheitsfront im Grunde nur auf der Ebene der Basis und nicht auf der der Forderungen an die nationale Führung geführt werden. Damit geben sie und die ihnen folgenden Arbeiter:innen eine entscheidende Waffe gegen den Reformismus aus der Hand.

Diese Linie unterscheidet sich wenig von Lutte Ouvrière. Sie schreibt:

„Einige Gewerkschaften rufen zu einem erneuten Streik ab dem 7. März auf. In der Tat müssen wir uns in diese Richtung bewegen. Aber was die Regierung und die Bosse wirklich erschrecken könnte, wäre, dass die Streiks von unten beschlossen werden, dass sie sich wie ein Lauffeuer verbreiten und dass sie über die von der Gewerkschaftsführung gesetzten Grenzen hinausgehen.

Generalversammlungen mit einer großen Anzahl von Arbeiter:innen müssen über die Weiterführung der Bewegung und der Streiks diskutieren. Sie müssen über alles diskutieren, natürlich über die Forderungen, aber auch über die Art und Weise, wie die Bewegung geführt werden soll.

Sich überall zu treffen, um über die Mittel zur Weiterführung und Ausbreitung der Bewegung zu diskutieren, das ist der Weg, um in der Arbeiter:innenklasse eine Kraft zu erneuern, die unbesiegbar werden kann.“ (LO, 15.2.2023)

Das Überstimmung ist keine Überraschung, denn L’Étincelle, die größte Gruppierung der NPA-PFC, ist eine Fraktion, die aus LO ausgeschlossen wurde, und innerhalb der NPA wurde die gleiche Linie fortgesetzt, mit wenig oder gar keiner politischen Ausarbeitung darüber, was bei LO falsch gelaufen ist.

Die RP bewegt sich auf ähnlichem Kurs: „Angesichts des Zögerns der Intersyndicale gilt es, keine Minute zu verlieren. Die Möglichkeit eines wiederholten Streiks hängt in hohem Maße von den Bemühungen der Streikenden ab. Die Organisation der Basis in jedem Betrieb, der gewerkschaftlich organisierten und nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen, muss sich im Dienste dieser Perspektive entwickeln.“ (RP, 22. Februar)

Auch wenn wir zustimmen, dass Initiativen von unten, die spontane Militanz der Arbeiter:Innen an der Basis von entscheidender Bedeutung sind, ist es auch von größter Wichtigkeit zu betonen, dass die Befreiung der Gewerkschaften von der reformistischen Bürokratie erfordert, auf dem Höhepunkt des Kampfes den Widerspruch zwischen Basis und Führung aktiv voranzutreiben. Die Losung eines von den Gewerkschaften ausgerufenen Generalstreiks (anstatt dies einfach der Basis zu überlassen) würde dazu beitragen, die Arbeiter:innen bei jedem Ausverkauf durch ihre Führung von diesen zu brechen und so die Grundlage für demokratische Massengewerkschaften zu legen, die in den Betrieben verwurzelt sind. Es ist sehr wichtig zu erkennen, dass die Massen sich auf die Bürokrat:innen als die Führung des Kampfes beziehen. Sie nur zu denunzieren oder, schlimmer noch, sie zu ignorieren, wird nicht reichen, um diese Situation zu ändern. Um diese Führung zu ersetzen, müssen wir Forderungen an die Gewerkschaftsführer:innen mit der Selbstorganisation des Streiks, Generalversammlungen, die Streikkomitees wählen, usw. und Koordinierungen zwischen verschiedenen Sektoren der Arbeiter:Innen kombinieren.

Offener Ausgang

Trotz dieser Schwäche der radikalen Linken ist der Ausgang des aktuellen Kampfes keineswegs von vornherein entschieden. Die Breite und die Stärke der Massenbasis ergeben sich aus dem Bewusstsein, dass es um viel mehr geht als um Renten. Alle haben die Inflation und steigenden Lebenshaltungskosten auf harte Art und Weise zu spüren bekommen. Die Jugend, sowohl in den weiterführenden Schulen als auch an der Universität, schließt sich der Bewegung gegen Macron und seine Politik an. Viele haben erkannt, dass vom Kapitalismus, seiner Wirtschaft, seinen Kriegen und seiner Zerstörung des Planeten nichts Positives für sie zu erwarten ist. All diese Kräfte können sich vereinen, um die Regierung zu besiegen, wie sie es 2006 getan haben.

Die Breite der mobilisierten Kräfte erfordert eine Ausweitung des Streiks. Der Weg zum Generalstreik erfordert ein Hinausgehen der Forderungen nach einem Stopp der aktuellen Reform. Forderungen nach Lohnerhöhungen, nach massiven Mitteln für die öffentlichen Dienste (Krankenhäuser, Schulen, Universitäten), nach offenen Grenzen, nach Steuern für die Reichen und auf Profite sollten von den Streikenden offen diskutiert werden und Teil eines Aktionsprogramms für Arbeiter:innen, einschließlich der stark ausgebeuteten Migrant:innen und der Jugend werden.

Doch trotz des historischen Niveaus der Kampfbereitschaft kann ein strategischer Sieg nur durch ein klares Bewusstsein für das Ziel des Kampfes gesichert werden. Zu diesem Zweck muss sich die großartig kämpferische Arbeiter:innenklasse in Frankreich mit einer revolutionären Partei und einem politischen Programm wappnen.