Frühlingsbeginn in Jordanien?

Jona Everdeen, Infomail 1250, 6. April 2024

Die meisten von uns freuen sich vermutlich gerade sehr, dass der Frühling wieder kommt und Sonnenschein und wärmere Temperaturen mit sich bringt. Doch kann es sein, dass die Freude bald noch viel größer ausfällt, wenn auch der Arabische Frühling zurückkehrt und revolutionäre Erhebungen und internationale Solidarität mit sich bringt? Die Massenproteste, die gerade in Jordanien gegen die de facto Unterstützung Israels durch die Haschimitenmonarchie stattfinden, könnten zumindest zum Auslöser eines solches Prozesses werden.

Die Lage in Jordanien

Während die Lage im Land zwischen Jordan und Mittelmeer, in Palästina, noch immer in vielen Medien Thema ist und sich auch in den westlichen Metropolen zahlreiche Menschen mit den Palästinenser:innen solidarisieren, die noch immer unter Israels genozidalem Krieg leiden, erfährt man kaum etwas über das Land östlich des Jordans. Dabei könnten die aktuellen Ereignisse in Jordanien für die Lage in Palästina und der ganzen Region eine große Bedeutung gewinnen.

Seit etwas mehr als einer Woche demonstrieren in unmittelbarer Nähe zur israelischen Botschaft, einer von wenigen überhaupt in einem arabischen Land, täglich zigtausende Jordanier:innen in Amman, der Hauptstadt des Landes. Ihre Forderungen: die Schließung der Botschaft und das Ende der Kooperation der herrschenden Regierung um den Haschimitenkönig Abdullah II. bin al-Hussein mit Israel. Konkret fordern sie auch die Aufhebung des Friedensvertrags zwischen Israel und Jordanien, der 1994 geschlossen wurde und die Beziehungen normalisierte.

Diese Proteste sind nicht die ersten im von König Abdullah II. bonapartistisch regierten Jordanien, so war dieses bereits ein Nebenschauplatz des (ersten) Arabischen Frühlings. Massive Proteste zwangen den König, einige Reformen zuzugestehen, was damals die Lage beruhigen konnte. Im vergangenen Jahr gab es jedoch erneut große Proteste in Jordanien, die sich, wie bereits die des Arabischen Frühlings, gegen die Folgen der Krise richteten, die die Jordanier:innen hart trafen.

Wie in fast allen arabischen Ländern gab es auch hier in den ersten Wochen des Krieges riesige Solidaritätsdemonstrationen mit den Menschen in Gaza. Allerdings litten auch diese unter demselben Problem wie in anderen Ländern, indem sie sich zu großen Teilen nicht gegen die eigenen Regierungen richteten, die, mal mehr, mal weniger versteckt, mit Israel und dessen Verbündeten kooperieren.

Heute sieht das anders aus. Doch nicht nur richten sich die Demonstrationen jetzt in Amman gegen die Politik der Regierung, auch scheinen sie gut organisiert zu sein. So bilden gezielt Ärzt:innen und Anwält:innen die ersten Reihen in der Hoffnung, die Demos so vor Gewalt durch Repressionskräfte zu schützen. Diese antworten nämlich mit Härte. In den letzten Tagen kam es zu zahlreichen Verhaftungen von Demonstrierenden. Doch gelang es auch immer wieder, die Polizei zurückzudrängen. Auch sieht es nicht so aus, als würden sich die Proteste schnell beruhigen, sondern eher, als hätte die Bewegung gerade erst begonnen. Doch wer sind überhaupt die Haschimiten, die in Jordanien die Politik bestimmen? Und in welchem Verhältnis stehen sie zu Israel und der Besetzung und Unterdrückung Palästinas?

Die Haschimiten, Palästina und Israel

Jordanien und Palästina teilen sich nicht nur einen Fluss, sondern auch eine lange, gemeinsame Geschichte. Die Haschimiten spielten in dieser jedoch nie eine rühmliche Rolle. So erlangten sie die Macht über das Gebiet Transjordanien, nachdem sie eine zentrale Rolle in der arabischen Revolte gegen das Osmanische Reich gespielt hatten, welche Britannien nutzen konnte, um die mit Deutschland verbündete Regionalmacht im Ersten Weltkrieg zu besiegen. Anders jedoch als versprochen, wurde das „befreite“ arabische Gebiet nicht unabhängig, sondern in ein französisches und ein britisches Mandatsgebiet aufgeteilt, letztendlich nur ein anderes Wort für Kolonie. So wurde auch Jordanien nicht unabhängig, sondern lediglich zu einem Emirat der Haschimiten, die die Oberhoheit Britanniens anerkannten. Nach der Unabhängigkeit 1946 als Königreich intervenierte Jordanien zwar in den Krieg gegen das neu gegründete Israel, das gerade die Nakba begonnen hatte, allerdings eher aus Machtinteresse denn aus internationaler Solidarität. So verleibten sich die Haschimiten nach dem Krieg, unter Verurteilung anderer arabischer Staaten, die Westbank als eigenes Territorium ein. Im Angriffskrieg Israels gegen seine Nachbarn (Sechstagekrieg) im Jahr 1967 verlor Jordanien zwar die Westbank, seine verräterische Rolle jedoch nicht. In das Land waren nach Beginn der Nakba und im Zuge des Sechstagekriegs hunderttausende Palästinenser:innen geflohen, die einen signifikanten Teil der Bevölkerung stellten. So wurde Jordanien zum Schwerpunkt der PLO, die von hier aus den palästinensischen Befreiungskampf zu organisieren versuchte. Der Haschimitenkönig Hussein I. sah in der nationalistischen PLO eine Gefahr für seine Macht und führte einen brutalen Bürgerkrieg gegen die Palästinenser:innen (Schwarzer September 1970). 1994 dann unterzeichnete Jordanien mit Israel einen Friedensvertrag, der die Beziehungen der beiden Länder normalisierte und die israelische Herrschaft über Palästina anerkannte. Jordanien wurde zum engsten Verbündeten Israels in der Region. Das Haschimitenkönigshaus pflegt ebenfalls enge Beziehungen mit den USA. So unterhält der US- Imperialismus wichtige Militärbasen in Jordanien, die für seine Kontrolle über den Nahen Osten zentral sind.

Doch während das bonapartistische Haschimitenregime, aus Gründen seines Machterhalts, mit den Feind:innen der arabischen Völker klüngelt, sind die jordanischen Menschen mit Palästina solidarisch, nicht zuletzt auch deshalb, weil so viele wie in keinem anderen Land selber ihre Wurzeln in Palästina haben, ihre Großeltern während der Nakba vertrieben wurden und ihre Familienangehörigen heute in Gaza bombardiert oder in der Westbank von Siedler:innen angegriffen werden.

Die Haschimiten haben bisher alles getan zu verhindern, dass die Menschen östlich des Jordans ihre Geschwister westlich des Flusses in ihrem Befreiungskampf unterstützen, haben sich aktiv mit deren Unterdrücker:innen zusammengetan, um ihre Macht zu erhalten und auszubauen. Jetzt ist es an der Zeit, die Macht dieses korrupten Clans endlich zu brechen!

Nur der Frühling kann den Winter beenden

Wenn die Proteste in Jordanien siegen, die mit westlichem Imperialismus und Zionismus kooperierende Bourgeoisie absetzen wollen, muss die Bewegung Organisationen der Gegenmacht aufbauen, sich anders als die Massenproteste des Arabischen Frühlings in den Betrieben und Stadtteilen, an den Schulen, Universitäten organisieren. Die in Jordanien durchaus relevante Gewerkschaftsbewegung kann hier die entscheidende Rolle spielen, denn nur eine massive Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse ist in der Lage, einen dauerhaften Sieg des Volkes gegen seine Unterdrücker:innen zu erringen! Dabei könnte diese Bewegung zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: endlich zu einer Politik der internationalen Solidarität und Unterstützung der Palästinenser:innen aus Jordanien führen und auch die Folgen der kapitalistischen Krise für die Bevölkerung reduzieren und deren Lebensbedingungen mittels einer gezielten Planung der wirtschaftlichen Produktion verbessern. Dabei spielen die Gewerkschaften zwar ein wichtige Rolle, aber im Kampf ist es vor allem Zentral, eine politische Kraft, eine Revolutionäre Arbeiter:innenpartei aufzubauen, die den Kampf gegen die Dynastie mit dem Kampf für eine sozialistische Revolution verbindet.

Doch kann dies nicht isoliert geschehen, eine kleine jordanische Arbeiter:innenrepublik wäre kaum lebensfähig, sondern nur als Teil einer erneuten revolutionären Massenbewegung im Nahen Osten und darüber hinaus – letztlich in einer Föderation sozialistischer Staaten des Nahen Ostens.

Während Jordanien vielleicht das extremste Beispiel für Kooperation eines arabischen Landes mit Israel verkörpert, ist es nicht das einzige. Auch Ägypten hat seine Beziehungen mit Israel im späten 20. Jahrhundert normalisiert und trägt die Unterdrückung der Palästinenser:innen faktisch mit. Doch auch Regierungen, die Solidarität mit Palästina vorgeben, tun dies in der Regel nur, um ihre Bevölkerung ruhigzustellen. Von praktischer Solidarität sieht man wenig. De facto haben sich alle Staaten des Nahen Ostens mit der Existenz des israelischen Staates in seiner derzeitigen Form abgefunden, das heißt mit Apartheid und Besatzung, und akzeptieren auch den genozidalen Krieg in Gaza größtenteils, bei lediglich symbolischer Verurteilung. Schließlich will man es sich ja auch nicht mit Israels westlichen Verbündeten verderben. Denn die bonapartistischen Regierungen der Region sind vom Wohlvollen imperialistischer Mächte abhängig, deren Vormachtstellung sie stützen, und von denen sie, im Gegenzug für die Durchsetzung der Ausbeutung der eigenen proletarischen Massen und die Plünderung ihrer Ressourcen durch internationale Konzerne, eine Teil der Beute erhalten.

Für eine sozialistische Föderation des Nahen Ostens!

Diese Unterdrückung beenden können die Ausgebeuteten und Unterdrückten im Nahen Osten, auf der arabischen Halbinsel und in Nordafrika sowie in jeder Region der Welt nur, indem sie ihre eigenen Regierungen stürzen und Regierungen der Arbeiter:innen und Kleinbäuer:innen errichten, die in Räten die Kontrolle über Politik und Wirtschaft übernehmen. Um gegen Imperialismus und von diesem unterstützte Konterrevolution gewappnet zu sein, müssen sich diese zu einer sozialistischen Förderation zusammenschließen und gemeinsame Wirtschaftsplanung und Verteidigung in Form von Arbeiter:innen- und Bäuer:innenmilizen etablieren. So kann ein zweiter Arabischer Frühling die Macht des Imperialismus in der Region brechen und zur Inspiration für Unterdrückte auf der ganzen Welt werden. Die derzeitigen Massenproteste in Jordanien haben zumindest das Potential, eine solche Dynamik anzustoßen.




Die Stimme der Frauen ist eine Revolution, keine Schande – صوت المرأة ثورة وليس عارًا

Dilara Lorin, Fight 12! Revolutionäre Frauenzeitung, März 2024

Tunesien, 17. Dezember 2010: Mohamed Bouazizi, ein Gemüsehändler, zündet das Feuer über seinen abgemagerten und ausgebeuteten Körper an, gegen die Perspektivlosigkeit und Polizeigewalt, die er und andere erfuhren. Die Flammen verbrennen ihn, er stirbt. Doch dieses Feuer war der Funken, der in der arabischen Welt die Flammen der Revolutionen entfachte.

Der Arabische Frühling

Der Arabische Frühling, die Revolutionen von Tunesien über Ägypten bis nach Syrien und in den Jemen haben Generationen von Arbeiter:innen, Jugendlichen und Frauen geprägt. Für eine gewisse Zeit schien das revolutionäre Aufbegehren unaufhaltbar zu sein. Massendemonstrationen, die sich gegen autoritäre Regime richteten und ein würdevolles Leben, Menschenrechte und demokratische Mitbestimmung forderten, sowie Streiks einer sich erhebenden Arbeiter:innenklasse ließen die Ben Alis, Assads, al-Gaddafis und Mubaraks erzittern.

In Tunesien führten örtliche Gewerkschaften, Angestellte und insbesondere die oppositionellen Kräfte im Dachverband UGTT (Union Générale Tunisienne du Travail) die Proteste an, die auch stark von Jugendlichen und Arbeitslosen getragen wurden. Am 10. Januar 2011 riefen Branchengewerkschaften der UGTT, darunter die Lehrer:innen, zu einem zweitägigen Generalstreik und Massendemonstrationen im ganzen Land auf, wobei die Führung der Gewerkschaften massiv von ihrer Basis und den Protesten unter Druck gesetzt wurde.

Am 14. Januar floh Präsident Ben Ali aus dem Land. Sein Sturz befeuerte in der gesamten Region einen revolutionärer Prozess. Dabei verliefen die Proteste anfangs ähnlich. Ägypten sollte als nächstes dran sein. Dabei spielten Facebook und Social-Media-Kanäle zur Mobilisierung und Dokumentierung eine essenzielle Rolle. Obwohl die Protestierenden am 25. Januar und an den Tagen danach massiv und brutal angegriffen und zahlreiche Menschen von Regierungseinheiten ermordet wurden, konnten die Barrikaden und Einsatzkräfte von Polizei oder Armee die Massen nicht stoppen.

Atemberaubend muss der Moment gewesen sein, als von Hunderttausenden der Slogan der Revolution aus Tunesien in den Straßen Ägyptens wiederhallte: „Das Volk will den Sturz des Regimes“. Vor allem der Tahrir-Platz in Kairo wird zum großen Symbolbild der Revolution in diesem Land und Monate lang besetzt gehalten und von Aktivist:innen selbstverwaltet. Auch Streiks erschüttern die Herrschenden dieses Landes. Soziale Forderungen wurden nach der Ansprache Mubaraks am 10. Februar, als er die schrittweise Übergabe seiner Amtsgeschäfte ankündigte, mit der anwachsenden Streikwelle immer stärker: Lohnerhöhung, Arbeitsplatzsicherheit und Gewerkschaftsrechte. Der halbe Rücktritt kommt zu spät, die Revolution weitet sich noch mehr aus und Mubarak muss am 11. Januar endgültig gehen.

In Syrien beginnt die Welle der Revolution ebenfalls blutig: Jugendliche aus Dar’a schreiben im März an ihre Schulwand, inspiriert vom Sturz der Regime in Tunesien und Ägypten: „It’s your turn doctor“. (Baschar al-Assad ist Augenarzt). Sie werden inhaftiert und gefoltert, einer stirbt. Aber Massen gehen auf die Straßen. Die Massenproteste mit mehreren 100.000 Teilnehmer:innen in ihrer Höchstphase fanden schnell Unterstützung von Soldat:innen, welche dem Regime und dessen bewaffnetem Arm den Rücken kehrten und zurück in ihre Stadtteile gingen. Dort beschützten diese anfänglich die Demonstrationen gegen Angriffe des Staates. Im gleichen Zeitraum entstehen Stadtkomitees und eine Organisierung von Arbeiter:innen mit basisdemokratischen Strukturen. Die noch zum Teil unkoordinierte Organisierung der bewaffneten Teile verteidigt bald schon ganze Stadtteile und drängt Armee und regimetreue Milizen zurück. Dies sind nur einige kurze Ausführungen über die Massenproteste und ihre allgemeinen Auswirkungen.

Außerdem sind dies Teile der „1. Welle“ des Arabischen Frühlings, als sich die Regime in der Defensive befanden, Diktatoren wie Ben Ali und Mubarak gestürzt wurden. In dieser Phase spielten Frauen eine wichtige Rolle, da auch sie an vorderster Front gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit kämpften. Sie übernahmen wichtige und notwendige Rollen während der Proteste, welche von Sanitätsaufgaben, über journalistische Arbeit bis hin zur Mobilisierung und Organisierung reichten. Dabei muss angemerkt werden, dass vor allem in dieser Phase geschlechtsspezifische Forderungen keine essenzielle Rolle spielten. Denn egal ob männlich oder weiblich, alt oder jung, der Schrei gegen Unterdrückung, nach sozialen Forderungen, die ein menschenwürdiges Leben ermöglichen könnten, und für den Sturz der Regime und Demokratie betraf alle.

Doch die weitere Entwicklung des Arabischen Frühlings – sowohl seine Ausweitung in andere Länder wie auch die Reaktionen der Staatsapparate, die weiter bestanden, und der herrschenden Klassen, die sich auf sie stützen – veränderte auch die Forderungen. Darin wurden auch mehr geschlechtsspezifische Fragen laut. In einigen Ländern übernahmen auch weibliche Personen wichtigere Rollen. Dabei konnten z. B. im Libanon Frauenorganisationen an Masse gewinnen und im Sudan wurden Videos von protestierenden jungen Frauen in weißen Hidschabs immer verbreiteter. Doch die Konterrevolution – egal in welcher Welle des Arabischen Frühlings und in welcher Form, ob durch offene brutale Repression und Bürger:innenkrieg oder durch eine Mischung aus Repression und Inkorporation – rief überall nach der Einschränkung von Frauenrechten und der Rolle der Frauen, die in den Revolutionen sichtbar wurde. Wir wollen diese exemplarisch in einigen Ländern genauer betrachten.

Wir kämpfen – wir sind nicht Opfer

Sehen wir in den westlichen Medien etwas über den Arabischen Frühling, scheinen fast ausschließlich nur männliche Personen vor die Linse der Kamera zu treten. Beim Lesen von vor allem liberalen Berichten und Analysen zum Arabischen Frühling werden weibliche Personen oft als Opfer von Gewalt und Vergewaltigungen dargestellt. Und auch wenn dies leider tragische Wahrheit ist, so ist dies nicht das Einzige, welches die Rolle der Frauen in den Revolutionen widerspiegelt.

So spielten Frauen als Aktivist:innen und Medienschaffende eine große Rolle: Asmaa Mahfuz in Ägypten, Arwa Othman im Jemen, Lina Ben Mhenni in Tunesien, um nur einige Namen zu nennen. Durch die gewerkschaftliche Organisierung von Frauen in Tunesien konnte hier eine starke Präsenz von weiblichen Personen verzeichnet werden. Dabei waren sie nicht nur Journalistinnen, sie waren Teil von Volkskomitees, welche tunesische Wohnviertel schützten, vor allem in Phasen, als der Staat kollabierte.

Nach dem Sturz von Bin Ali wählte Tunesien 2011 die verfassunggebende Versammlung, in welcher mehr als 20 % der Abgeordneten aus Frauen bestanden. Dies zeigt die allgemeine Tendenz, welche von den Aufständen verursacht und errungen wurde, dass sich Frauen vermehrt an öffentlichen Debatten und Entscheidungen beteiligten. Es entstehen viele neue NGOs, Organisationen, und viele Frauen lassen sich in unterschiedlichen Ländern zur Wahl aufstellen.

Es wurden zum Teil Räume und Möglichkeiten geschaffen, in welchen das Bild der Frau, ihre Rolle und die Frage der Sexualität immer mehr Gegenstand der Debatten wurden.

Dabei mussten Frauen für diese kleinen Errungenschaften viel leisten: In praktisch allen Ländern wandten die Kräfte des alten, erschütterten, aber letztlich nicht gestürzten Regimes systematisch sexuelle Gewalt gegen protestierende Frauen an. Dadurch sollte ihre Moral gebrochen werden, um ihre Präsenz und die Bewegung insgesamt zu schwächen. So gibt es Berichte darüber, dass in den Truppen in Libyen, welche loyal zum Diktator al-Gaddafi standen, Viagra verteilt wurde.

In Ägypten versammeln sich am 8. März 2011 Frauen auf dem Tahrir-Platz, um den Frauenkampftag zu feiern. Sie werden von Gegendemonstrant:innen eingekreist und brutal angegriffen. Am darauffolgenden Tag erfolgt die systematische Schikane seitens der Armee. Diese stürmt zusammen mit Polizei und bezahlten Schlägertrupps den Platz. Von den Protestierenden werden 18 Frauen inhaftiert und bei 7 von ihnen wurden im Gefängnis „Jungfräulichkeitstest“ durchgeführt. Die Gewalt gegenüber Frauen nahm am 17.12.2011 eine neues Höchstmaß an, beim „Vorfall mit dem blauen BH“, bei welchem das ägyptische Militär eine protestierende Frau verprügelte. Videos wurden veröffentlicht, in welchem man die ohnmächtige Frau erkennt, wie sie an ihren Armen durch die Straße gezerrt wird, ihre Abaya (Überkleid) zerrissen und ihr nackter Körper mit einem blauen BH wird deutlich. Daraufhin versammelten sich am 20.12.2011 Tausende Frauen und Männer auf dem Tahrir-Platz. Dies wird als einer der größten Frauenproteste der vergangenen Jahre in die Geschichte eingehen.

Die systematische sexualisierte Gewalt durch staatliche und reaktionäre Kräfte führte dazu, dass Frauen einheitlicher auftraten, Frauenorganisationen gegründet wurden und diese eine Koalition aufbauten. Frauen waren notwendige Akteur:innen der Proteste, welches ihnen Legitimität und Aufmerksamkeit verlieh. Dies versuchten Diktatoren wie Salih im Jemen zu unterbinden. In einer Ansprache am 15.04.2011 versuchte er durch den Satz „Der Islam verbietet die Vermischung von Männern und Frauen in der Öffentlichkeit“, die großen Sit-ins und Platzbesetzungen zu diskreditieren.

Oftmals kämpften Aktivistinnen auch gegen ihre eigenen Familien und Verwandtschaftskreise, da diese sich gegen ihren Aktivismus stellten. Ein Beispiel hierfür ist die bekannte syrische Schauspielerin Fadwa Soliman. Trotz Gefahr von Tod oder Gefängnis wollte sie an den Protesten teilnehme, um die ihrer Meinung nach in der Öffentlichkeit vorherrschende Meinung zu widerlegen, dass alle Mitglieder der alawitischen Gemeinschaft, die etwa 10 % der syrischen Bevölkerung ausmachen, die Regierung ihres alawitischen Landsmanns Baschar al-Assad unterstützen. Sie wollte auch die Darstellung der Regierung widerlegen, dass diejenigen, die an den Protesten teilnahmen, entweder Islamist:innen oder bewaffnete Terrorist:innen seien. Dabei wurde sie jedoch von ihrer Familie ausgeschlossen und exkommuniziert.

Es ist nicht unüblich, dass in solchen spontan auftretenden Protesten Forderungen nach Würde, Regimewechsel, Freiheit vordersten Rang einnehmen. Dabei kämpften überall Frauen und Männer Seite an Seite für den Sturz „ihrer“ Regime. Auch wenn sich die patriarchale Unterordnung von Frauen in der Region allein durch den Arabischen Frühling nicht auflösen konnte, ermöglichte er ein Aufsprengen und Hinterfragen vieler traditionelle patriarchaler Gedanken, Ideologien und Geschlechterrollen. Dabei sitzen diese tief und lassen sich nicht durch einen Regimewechsel und einige demokratische Gesetze überwinden.

Mit dem Eintreten der Welt in die imperialistische Epoche kämpften die Massen in den Kolonien gegen ihre Unterordnung, Ausbeutung und Fremdherrschaft. Antikoloniale Kämpfe führten jedoch nicht zu einer kompletten Unabhängigkeit dieser Länder. Es entstanden Halbkolonien, Staaten, die zwar formal politisch unabhängig sind, aber wirtschaftlich und letztlich auch politisch abhängig von imperialistischen Staaten und ihrer Weltordnung. Diese Abhängigkeit führte dazu, dass halbkoloniale Länder systematisch unterentwickelt gehalten wurden, sich Ungleichheit im Rahmen der globalen Arbeitsteilung verfestigte, wenn nicht sogar verstärkte. Vorkapitalistische Herrschaftsformen und patriarchale Strukturen wurden nicht zerschlagen, sondern vielmehr in den halbkolonialen Kapitalismus und den Weltmarkt integriert. Wir erinnern daran, dass die USA unter anderem an Stammesführer in Afghanistan, Irak oder Syrien Waffen lieferten und diese als Partner eher akzeptierte als andere, wodurch sie auch den Fortbestand dieser Strukturen unterstützten. Während des Arabischen Frühlings konnte beobachtet werden, dass für viele Frauen der Aktivismus von ihren Familien und Freund:innen ungern gesehen war und ihnen viele Steine in den Weg gelegt wurden.

Forderungen, die vermehrt genderspezifisch aufgeworfen wurden, wurden vor allem in den Nachwehen des Arabischen Frühlings populär. So spielten Aktivistinnen 2019 in den Oktoberprotesten im Irak eine wesentliche Rolle. Aktivistin Amira Al-Jaber erzählt in einem Interview mit Al Jazeera (Al Dschasira), dass die Präsenz von Frauen in den Protesten dazu beigetragen hat, die von der Gesellschaft auferlegten Beschränkungen, unsere Stimme nicht zu zeigen, zu brechen. Wir haben den Slogan: „Die Stimme der Frauen ist eine Revolution, keine Schande“ erhoben.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die objektive Lage von Frauen sich nicht verbessert hat, sondern konterrevolutionäre Parteien und Regime, Bürgerkrieg und, im Extremfall, der Aufmarsch von Daesch (Islamischer Staat) immer mehr ihre Rechte einschränkten. Aber der Arabische Frühling verlieh zugleich vor allem Frauen Erfahrungen, Kampfgeist und Sichtbarkeit in öffentlichen Räumen.

Wie kämpfen wir für einen neuen Arabischen Frühling? Wie tragen wir den Kampf gegen Frauenunterdrückung in die Massen?

Der Arabische Frühling, egal ob in Tunesien, Bahrain, Irak oder Sudan war eine fortschrittliche Erhebung der Massen, welche sich gegen Verarmung und repressive Regime richtete. Dabei darf die Rolle von imperialistischen Mächten, die die Region systematisch in Abhängigkeit halten, um die wirtschaftliche Ausbeutung von Menschen und Natur zu garantieren, und die deshalb blutige Regime unterstützen, nicht vergessen werden. In vielen Raps, die in Phasen der Massenproteste aus dem Untergrund als Ausdruck der Wut der Jugend bekannter wurden, tritt eine Imperialismuskritik immer mehr in den Vordergrund.

Die Forderung nach grundlegenden demokratischen Rechten ist eine wichtige, kann jedoch nur durch Revolutionen umgesetzt werden, welche die Diktatoren und ihre Milizen und Armeen zerschlagen. Auch wenn die Revolutionen in vielen dieser Länder als „demokratische“ beginnen, so können sie ihre Ziele nur erreichen, wenn sie auch die Grundstrukturen der Gesellschaft, Kapitalismus und Imperialismus, infrage stellen, mit einer sozialistischen Umwälzung verbunden werden. Die Revolution muss permanent werden – oder sie wird nicht fähig sein, die alten Regime und ihre Grundstrukturen vollständig zu beseitigen.

Der Arbeiter:innenklasse kommt dabei eine Schlüsselrolle hinzu. Die aufkommenden Streiks bis hin zu Generalstreiks waren wichtige und notwendige Mittel, um die aufgeworfenen Forderungen umsetzen zu können. Jedoch können uns demokratische Systeme keine Sicherheit geben, und ein Rückfall in autoritäre Regime mit ihren Diktator:innen kann immer wieder erfolgen und hat immer wieder mit Unterstützung der Imperialistischen Mächte stattgefunden. Wir müssen die Revolution in eine soziale umwandeln, welche die Machtverhältnisse umstürzt und die Klassenverhältnisse, welche zur Ausbeutung und Anhäufung des Reichtums einiger weniger beitragen, zerschlägt. Dabei war es einer der großen Fehler im Arabischen Frühling, dass die Massen und Streikenden keine Organe der Doppelmacht errichteten.

Damit die Revolution siegreich sein kann, muss sie in den Streiks, Massenaufständen und Erhebungen eigene demokratische Kampfstrukturen – Streik- und Aktionskomitees – aufbauen, die sich zur Räten entwickeln können und landesweit zentralisiert werden. Nur so können sie dem zentralisierten Staats- und Machtapparat die gebündelte Kraft der Revolution entgegenstellen und damit auch Organe einer neuen, revolutionären Ordnung schaffen, die den alten Staatsapparat zerschlägt und an seine Stelle tritt.

Um diese Streiks, Demonstrationen, Versammlungen, Räte, Gewerkschaften und Parteien der Unterdrückten zu verteidigen, braucht es auch eine eigene, von Komitees der Arbeiter:innen und Unterdrückten kontrollierte Miliz. Um die einfachen Soldat:innen, die sich nicht in den Dienst der Reaktion stellen wollen, zu gewinnen, braucht es den Aufbau von Soldat:innenräten, die sich mit jenen der Arbeiter:innen und Bäuerinnen/Bauern verbinden.

Damit eine solche Perspektive Fuß fassen und erfolgreich umgesetzt werden kann, braucht die Revolution eine politische Kraft, die sie anführen kann, eine revolutionäre Partei. Diese muss die kämpfenden und fortschrittlichsten Teile der Unterdrückten und Arbeiter:innen sowie Frauen und Jugendlichen organisieren. Es braucht dabei das Recht von geschlechtlich Unterdrückten, Caucusse zu bilden, welches ihnen ermöglicht, sich in den eigenen Reihen unabhängig vom anderen Geschlecht zu treffen. Dabei soll einerseits ein Ort geschaffen werden, an welchem über den Sexismus in den eigenen Reihen geredet werden kann und Forderungen und Analysen in die Partei zurückgetragen werden können. Die revolutionäre Partei muss dabei Taktiken für den Kampf diskutieren und entwickeln, ein Programm erarbeiten, welches den Kampf für eine Revolution bündelt. Essentiell ist für das Überleben dieser revolutionären Partei die Verbindung mit Revolutionär:innen in den anderen halbkolonialen Ländern sowie den imperialistischen Staaten.

Die Unterdrückung der Frau kann zwar letztlich nur aufgehoben werden, wenn der Kapitalismus zerschlagen ist. Dies bedeutet aber nicht, dass in Revolutionen und Aufständen weibliche Aktivist:innen keine wesentliche Rolle spielen. Sie sind Speerspitzen kommender Proteste, welches die Frauenrevolution in Iran aufgezeigt hat. Der Kampf um demokratische Rechte und für soziale Forderungen muss immer zusammen mit dem gegen die Unterdrückung von Frauen gedacht werden. Die aktuelle Situation in den beschriebenen Ländern schreit nach einem 2. Aufflammen des Arabischen Frühlings. Die Zeit ist reif. Lasst uns dabei nicht nur lose Bewegungen aufbauen, sondern organisiere dich schon jetzt für den Aufbau revolutionärer Parteien und einer neuen revolutionären Internationale!




Unser Körper, unsere Entscheidung

Aktionsprogramm für trans Jugendliche

Jaqueline Katherina Singh, Gruppe Arbeiter:innenmacht / Revolution, Fight 12! Revolutionäre Frauenzeitung, März 2023

Weltweit werden trans Menschen unterdrückt.  Ob nun Konservative, die in Talkshows deren Existenz leugnen, Radikalfeminist:innen, die Geschlecht allein an Genitalien ablesen wollen oder CDU-Poliker:innen, die Gendern für das größte Problem unserer Zeit halten, weil sie die Klimakrise nicht ernst nehmen. Es wird deutlich: Die Sichtbarkeit von trans Personen in der Öffentlichkeit hat sich in den letzten Jahren zwar verbessert, doch an der Unterdrückung hat sich wenig geändert. Schließlich ist diese in der gesamten Gesellschaftsstruktur verankert. Das Erstarken der Rechten bringt zudem gesellschaftliche Rollbacks mit sich wie in den USA oder Pakistan, die dafür sorgen, dass Queer- und insbesondere Transfeindlichkeit weiter zunehmen. Das beginnt mit reaktionären Argumentationen bezüglich Dragqueens und angeblicher „woker” Indoktrination in der Schule, kann dann auch zur Rücknahme erkämpfter Rechte und schließlich auch zu einer Zunahme von körperlichen Übergriffen gegen trans Personen führen. Dass diese Stimmung längst auch in Deutschland angekommen ist, können wir daran sehen, dass 2023 die Meldungen von körperlichen Angriffen auf Paraden zum Christopher Street Day (CSDs) die Nachrichten fluteten, während die CSU in Bayern diesen Kulturkampf der US-Amerikaner:innen versuchte zu adaptieren, indem auch sie gegen Auftritte von Dragqueens hetzten.  Im Folgenden wollen wir uns daher die Situation von trans Jugendlichen anschauen, die von vielen Unterdrückungsmechanismen nochmal stärker betroffen sind.

Unterdrückung in der Familie

Probleme mit der Familie sind für viele Jugendliche Alltag. Doch trans zu sein, kann diese noch mal verschärfen. Denn es geht nicht darum, einfach „nur” nicht verstanden zu werden.  Stell dir vor: Du kannst dich nicht so kleiden, wie du willst. Alle sprechen dich mit einem Namen an, der nicht dein eigener ist. Kurzum – man sieht dich nicht so, wie du wirklich bist. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass laut einer Studie des Deutschen Jugendinstituts 69,4 % der trans Jugendlichen befürchten, dass ihre Familie sie nicht akzeptieren wird. Doch was bedeutet das konkret?

Das Coming-out kann eine große Hürde sein, da die finanzielle und juristische Abhängigkeit von der Familie es nahezu unmöglich machen kann, sich frei auszudrücken oder notwendige medizinische Behandlungen wie Hormontherapie zu erhalten. Denn letzten Endes bestimmst nicht du über deinen Körper, sondern deine Erziehungsberechtigten. Das ist der Kern des Problems: Wenn deine Eltern kein Verständnis haben (wollen), dich nicht ernst nehmen – oder einfach nur hilflos sind, dann wird es schwierig. Die juristische, sowie finanzielle Abhängigkeit erschwert es vielen trans Personen massiv, einfach so das Elternhaus zu verlassen und auszuziehen. Ganz zu schweigen von der emotionalen Belastung, die damit einhergeht, wenn die eigenen Eltern/Erziehungsberechtigten einen nicht unterstützen können oder wollen. rans Menschen, v.a. Jugendliche haben eine viel zitierte enorm hohe Rate an Suizidversuchen (je nach Studie um die 40%). Wenn mindestens eine erwachsene Person sie unterstützt, sinkt die Wahrscheinlichkeit um etwa 30% Doch die Beratungsangebote für trans Jugendliche sowie ihre Eltern sind selten – und die wenigen, die es gibt, sind oft überlastet oder gar nicht unvoreingenommen. Deswegen treten wir nicht nur für den Ausbau von Beratungsstellen ein, für Jugendliche braucht es auch die Möglichkeit, bei Bedarf ihr Leben unabhängig vom Elternhaus gestalten zu können!

  • Für die ökonomische Unabhängigkeit von Schüler:innen, Studierenden und Jugendlichen in Ausbildung! Für ein monatliches Mindesteinkommen, angepasst an die Inflation, von 1.100 Euro plus Warmmiete, finanziert durch Besteuerung von Reichtum und Kapital!

  • Für selbstverwaltete Freiräume für Jugendliche, den massiven Ausbau von Jugendzentren und kostenlose Zugang zu einem ausgebauten Freizeit- und Kulturangebot, bezahlt durch die Besteuerung der Reichen!

  • Ausbau von flächendeckenden Beratungsstellen von und für LGBTIA+ und ihre Angehörigen!

  • Für den Ausbau von Schutzhäusern für Kinder und Jugendliche! Niemand soll bei seiner Familie bleiben müssen, wer das nicht möchte! Für die Förderung neuer Formen des Zusammenlebens, beispielsweise durch den Ausbau und die Weiterentwicklung des sozialen Wohnungsbaus!

Schule und Ausbildung

Doch nicht nur in der Familie, sondern auch an Orten, wo man den Großteil seiner Lebenszeit verbringen muss – also Schule oder Ausbildungsstätte – wird man eingeschränkt. Eine weitere Studie des Bundesverbands Trans* aus dem Jahr 2017 zeigt, dass fast 90 % der trans Schüler:innen in Deutschland in der Schule diskriminiert werden. Dazu gehören u. a. die Verwendung des Deadnames und von falschen Pronomen, Belästigungen, Mobbing und auch physische Übergriffe. Die Studie zeigt auch auf, dass nur ein Bruchteil der betroffenen Schüler:innen sich an Lehrkräfte oder Schulleitungen wendet, da sie Angst haben, dadurch noch stärker stigmatisiert zu werden. Denn die wenigsten Schulen bieten Unterstützung gegen Mobbing und Diskriminierung an, auch wenn sich viele von ihnen das Abzeichen von Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage ans Tor hängen lassen. Aus einer weiteren Studie des Bundesverbandes geht hervor, dass nur 18 % der trans Schüler:innen das Gefühl haben, dass ihre Schule ein sicherer Ort für sie ist. Dies liegt auch daran, dass die Idee des binären Geschlechtersystems in der Gesellschaft vorherrschend ist und ebenso in der Schule reproduziert wird. Sei es durch Unterrichtsinhalte, bei denen Frau Meier den Wocheneinkauf für ihre Familie tätigt als Einleitung für eine Textaufgabe in Mathe, die klassische, heteronormative Sexualkunde im Biologieunterricht, lediglich ausgelegt auf Verhütung und Reproduktion, oder die Abwesenheit von queeren Lebensrealitäten in der Pflichtlektüre, die wir in Deutsch oder Englisch lesen müssen. Das gilt auch für Regelungen, die über den bloßen Unterricht hinausgehen, aber den Schulalltag prägen wie z. B. fehlende geschlechtsneutrale Toiletten oder Umkleideräume sowie die allgemeine Adressierung der Schüler:innenschaft in Rundbriefen. Das Verbot. an Schulen zu gendern, wie es in Sachsen und Sachsen-Anhalt bereits umgesetzt wurde, oder in Berlin durch die CDU-Regierung zumindest diskutiert wird, tut sein Übriges. Auch wenn Gendern nicht automatisch zur Befreiung von trans Personen führt, so ist dennoch die Repräsentation in der Sprache auch ein mögliches Kampffeld.

  • Schluss mit Deadnames auf Klassenarbeiten, Schüler:innenausweisen und Klassenbüchern!

  • Für die Möglichkeit, den Namen und Geschlechtseintrag in der Schule einfach und unbürokratisch zu ändern!

  • Wir bestimmen, was wir lernen wollen: Rahmenlehrpläne unter Kontrolle der Lernenden, Lehrenden, Arbeiter:innenbewegung und Vertreter:innen von Diskriminierten! Für angemessenen, verpflichtenden Aufklärungsunterricht vor der Geschlechtsreife und die gleichberechtigte Darstellung aller Formen von Geschlecht, Geschlechtsidentität, Sexualität und des einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs!

  • Kampf der Diskriminierung an der Schule: Für breite Aufklärungskampagnen durch die Gewerkschaften von Lehrkräften und Schüler:innen und für eine von der Schulleitung unabhängige Antidiskriminierungsstelle, kontrolliert von Lernenden, Lehrenden und Organen der Arbeiter:innenklasse, die jederzeit wähl- und abhwähbar sind!

  • Von Schüler:innen selbstorganisierte Freiräume, die in den Pausen für alle frei zugänglich sind, an jeder Schule und den Ausbau von Unisextoiletten sowie Umkleideräumen!

Ähnlich sieht die Situation in der Ausbildung aus. Hier kommt jedoch der ökonomische Druck hinzu, der es vielen erschwert, sich selbst auszuleben oder dies sogar komplett unmöglich macht. Eine Studie – ebenfalls aus dem Jahr 2017 – von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat ergeben, dass trans Personen in der Ausbildung häufiger diskriminiert werden als ihre cis-geschlechtlichen Kolleg:innen. 48 Prozent der befragten trans Personen gaben an, bereits Diskriminierung am Arbeitsplatz erlebt zu haben, während es bei cis Personen nur 24 Prozent waren.

Die Diskriminierung reichte von Mobbing über das Ausgrenzen aus dem Team bis hin zu sexueller Belästigung. Dabei ist klar: Ob nun Kolleg:innen, die durch mangelndes Wissen mit Stammtischparolen um sich werfen, oder beispielsweise Kund:innen, die eine/n missgendern oder gar offen ausgelebte Transfeindlichkeit: Als Azubi für die eigenen Rechte einzustehen, ist um ein Vielfaches vertrackter. Das liegt aber nicht (nur) am Alter an sich, sondern der Status als Azubi ist hier das entscheidende Moment – Lehrjahre sind schließlich keine Herrenjahre. Dass man als ungleiche Arbeitskraft angesehen wird, die erstmal „richtig ausgebildet” werden muss, bevor man als gleichrangig angesehen wird, wirkt sich auch auf den Umgang miteinander aus. Herablassende Bemerkungen, gar Beleidigungen statt konstruktiver Kritik sind in bestimmten Branchen ganz offen an der Tagesordnung, in anderen existieren sie eher versteckt. Das kann soziale Unterdrückung verstärken und den Rahmen, wie man sich dagegen wehren kann, erheblich einschränken. Wenn wir also in der Ausbildung gegen Transfeindlichkeit kämpfen wollen, dann müssen wir das mit dem Kampf für bessere Ausbildungsrechte verbinden!

  • Tarifliche und rechtliche Gleichstellung aller Auszubildenden! Mindestausbildungsvergütung in Höhe des Mindestlohns und Anhebung dessen auf 15 Euro die Stunde!

  • Gegen alle Versuche und Regelungen wie „Job aktiv“ und „Kombilohn“, die den Billiglohnsektor ausweiten! Übernahme aller befristeten und Leiharbeits- in Normalarbeitsverhältnisse statt Ausdehnung der Flexibilisierung und des Niedriglohnsektors!

  • Probezeit? Nein Danke: Volle wirtschaftliche Rechte – inklusive des auf Streik – für Azubis!

  • Übernahme garantiert: Volle und unbefristete Übernahme aller Jugendlichen nach der Ausbildung – bei Verweigerung der Übernahme Strafzahlung! Für die Abschaffung aller Quoten, die die Übernahme beschränken!

  • Für das Recht, in Job und Ausbildung den gewählten Namen zu nutzen, auch wenn dieser noch nicht im Ausweis steht!

Um die Situation am Arbeitsplatz nachhaltig zu verbessern, muss sich auch was in den Gewerkschaften ändern. Es ist ein erster Schritt gewesen, dass man auch „divers” im Mitgliedsausweis angeben kann – aber mal ehrlich, ausreichend ist das nicht. Erstmal sollte es nicht verpflichtend sein, das eigene Geschlecht überhaupt angeben zu müssen. Darüber hinaus müssen Gewerkschaften an Betrieben und Berufsschulen präsent sein. Das heißt, zum einen Aufklärungskampagnen gegen Diskriminierung an Betrieben, Schulen und Unis organisieren und zum anderen auch, die Präsenz durch Beratungsstellen an Berufsschulen sowie die Vertrauenskörperstruktur in den Betrieben flächendeckend auszubauen. Zusätzlich ist es ein Problem, dass für Länder wie Deutschland Datenerhebungen fehlen, wenn es darum geht, die Verbindung von Einkommen und Unterdrückung zu erfassen. Zahlen aus den USA belegen, dass dort insbesondere schwarze trans Frauen weniger als der US-Durchschnitt verdienen. Solche Erhebungen wären ein erster Schritt, um auch passende Forderungen aufwerfen zu können und würde zudem klar zeigen, dass Gewerkschaften sich bewusst positionieren.

  • Flächendeckender Ausbau der Vertrauenskörperstrukturen und Antidiskriminierungsstellen!

  • Für das Recht auf gesonderte Treffen in den Organisationen der Arbeiter:innenbewegung, um den Kampf für Gleichberechtigung voranzutreiben und gegen diskriminierendes und chauvinistisches Verhalten vorzugehen!

  • Breite Kampagnen zur gewerkschaftlichen Organisierung von Jugendlichen! Wir wollen uns nicht bevormunden lassen: Gerechte Repräsentanz in den Gremien der Gewerkschaften!

  • Regelmäßige Erhebungen bzgl. Einkommen und Diskriminierungserfahrungen, kontrolliert durch Gewerkschaften!

Medien, Alltag und Gewalt

Ob Bahnhofstoiletten, Behördengänge, Bekleidungsgeschäfte oder das umfangreiche Sortiment an Waren, die man erwerben kann: Wenn man mal darauf achtet, dann wird deutlich, wie viel in unserer Gesellschaft eigentlich von der binären Geschlechterordnung bestimmt wird. Daraufhin einfach mal abschalten und eine Serie schauen, um den Stress in der Schule oder Familie zu vergessen? Das ist aber nur bedingt möglich. In den letzten Jahren wurden zwar immer mehr trans Charaktere in Serien und Filme integriert. Dennoch: Die Sichtbarkeit ist umkämpft und noch längst nicht ausreichend. Diversität heißt übrigens nicht, so viele unterdrückte Gruppen wie möglich zu zeigen, sondern auch eine Varianz dieser mit einzubeziehen.

Ansonsten werden immer wieder Stereotype reproduziert. Was bedeutet das in der Praxis? Es ist legitim, sich mit dem Thema Transition auseinanderzusetzen. Aber genauso notwendig ist es, unterschiedliche Erfahrungen mit einzubeziehen: Nicht-binäre trans Personen sind eher unterrepräsentiert und Menschen, die trans sind, aber sich nicht in die jeweilige Geschlechterrolle stecken lassen wollen, werden meistens negativ dargestellt. Die Charaktere, die am positivsten wegkommen, sind jene, die der binären Geschlechterordnung am meisten entsprechen. Das zu zeigen, ist nicht per se falsch, das ausschließlich zu zeigen, allerdings schon. Flache Charakterarchs hin zur Akzeptanz der eigenen Transidentität oder das bloße Darstellen von körperlicher und sozialer Transition oder dem Umgang mit Diskriminierung sind vielleicht für cis Personen interessante Geschichten, aber für trans Menschen ist das einfach unser selbstverständlicher Alltag und damit totlangweilig. Wir wollen trans Held:innen, Bösewichte, Mütter, Nebencharaktere, Kolleg:innen etc. in Serien und Filmen, deren Transidentität sie nicht definiert – aber eben selbstverständlicher Teil ihrer Geschichte und Lebensrealtität ist.

Besser wird es jedoch auf keinen Fall, wenn man die meisten Nachrichtenseiten aufruft. Die vermehrte Repräsentation von trans Personen, die Bevormundung von Jugendlichen, die Krise der bürgerlichen Familie, der allgemeine gesellschaftliche Rechtsruck und der Misserfolg des bürgerlichen Feminismus hinsichtlich der Überwindung von Frauenunterdrückung, haben unter anderem dazu geführt, dass (vermeintliche) Feminist:innen wie Alice Schwarzer vom „Transtrend“ sprechen. In Nachrichten – insbesondere in populistischen Blättern –   werden fiktive Szenarien beleuchtet, in denen angebliche Feminist:innen vor allem trans Frauen unglaubliche Dinge unterstellen, anstatt über die reale Gewalt, die trans Personen angetan wird, zu berichten. Die Kriminalstatistik zeigt jedoch: Zwischen 2018 und 2021 hat sich die Gewalt gegen queere Menschen mehr als verdoppelt. Das führt uns zur eigentlichen Gefahr: Während man in größeren Städten zwar etwas „sicherer” als in ländlicheren Gegenden ist, so ist es nicht gegeben, dass man mal „einfach so” Bahn fahren kann. Komische Blicke, Beleidigungen und die Angst vor Gewalt gehören in der Regel dazu, wenn man nicht so aussieht, wie die klassischen Geschlechterrollen es verlangen.  Das wird verstärkt durch den stetigen Rechtsruck, den wir erleben, und so steigt auch die Gefahr für gezielte Übergriffe. Selbst in vermeintlich „queerfreundlichen” Großstädten wie Berlin kommt es mittlerweile nicht nur zu verbalen, sondern auch körperlichen Angriffen.

  • Enteignet die „kulturschaffende“ Industrie (Gameentwickler, Filmproduktionen, …) und organisiert die Produktion durch Räte aus Arbeiter:innen, Zuschauer:innen und Unterdrückten!

  • Gewalt stoppen: Demokratisch organisierte und gewählte Selbstverteidigungskomitees gegen Übergriffe auf LGBTIA+! Für den Ausbau von Schutzräumen für LGBTIA+ und Unisexorte in der Öffentlichkeit!

Medizinische Versorgung

Arz-/Ärztinttermine sind generell ein rares Gut. Wer versucht hat, einen Beratungstermin beispielsweise beim/bei der Endokrinolog:in zu bekommen, weiß, dass Wartezeiten von über einem halben Jahr keine Seltenheit sind. Deswegen bedeutet der Kampf für Selbstbestimmung auch ein Kampf für die Verbesserung des Gesundheitssystems insgesamt. Das bedeutet:

  • Weg mit Privatisierung der Krankenhäuser! Nein zu deren Schließungen auf dem Land!

  • Für einen höheren Personalschlüssel und Verkürzung der Arbeitszeit für alle Beschäftigten bei  vollem Lohnausgleich!

Finanziert werden sollte das Ganze durch die Abschaffung des DRG-Systems, Abschaffung des Zweiklassen-Gesundheitssystems (also nur gesetzliche Krankenkassen statt privater), Besteuerung der Reichen und Enteignung der Klinik- und Pharmaziekonzerne. So können eine schnellere Terminvergabe sowie qualitativ bessere Betreuung gewährleistet werden. Doch nicht nur Termine sind ein Problem: Arzt-/Ärztinbesuche bei Gynäkolog:innen sowie Urolog:innen sind für viele nicht nur mit emotionalem Stress verbunden sind – sondern können auch mit Ablehnung und Unverständnis seitens Praxismitarbeitenden oder anderen Patient:innen begleitet werden. So hat laut einer Studie der deutschen AIDS-Hilfe und des RKI von 2023 fast jeder fünfte nicht-binäre oder trans Mensch (17 Prozent) bereits aus Angst vor Diskriminierung lieber auf bestimmte medizinische Leistungen verzichtet. Auch in der Apotheke kann es unangenehm werden, wenn die Mitarbeiter:innen beispielsweise einem trans Mann keine Pille danach rausgeben möchten, da in manchen Apotheken die Vorgehensweise üblich ist, dass sie Pille nur an die betroffene Frau verkauft wird. In einer Situation, wo sich viele sowieso schon gedemütigt aufgrund des gesellschaftlichen Stigmas bei Notfallverhütung fühlen, müssen trans Personen nun auch noch ihr Anliegen zusätzlich begründen.

Die Transition an sich ist auch mit vielen Hindernissen verbunden. So müssen sich trans Menschen vor einer Hormonbehandlung oder chirurgischen Eingriffen in zwei unabhängigen Gutachten unangenehmen psychosozialen Befragungen stellen, wo unter anderem intime Details über das Sexualleben und den mentalen Gesundheitszustand abgefragt werden, damit Ärzt:innen bestätigen können, dass die Person für eine solche Behandlung in Frage kommt. Das kann auch dazu führen, dass nicht-binäre trans Personen, welche den Wunsch nach einer Hormonbehandlung hegen, ihre Ärzt:innen anlügen müssen, da sie diese Hormone nur bei einer binären Transgeschlechtlichkeit verschreiben (können). Mit diesem unnötigen und beschämenden Herumstochern im Privatleben muss Schluss sein! Beratungsstellen müssen ausgebaut werden, aber die Beratung sollte sich nicht wie eine Prüfung anfühlen und letztendlich sollte es keine Fremdbestimmung durch das ärztliche Personal geben.

Für trans Jugendliche spielt auch die Frage von Pubertätsblockern eine Rolle, die verhindern sollen, dass sie in die Pubertät kommen und diesem Leidensdruck, der damit einhergeht, ausgesetzt werden, obwohl sie bereits beginnen, ihre Geschlechtsidentität zu hinterfragen. Es zu begrüßen, dass trans Jugendlichen so eine Möglichkeit geboten wird, die Selbstbestimmung über die Entwicklung ihres Körpers erlangen zu können. Statt Panikmache von Alice Schwarzer und Co. und Bevormundung durch die Eltern, braucht es gute Aufklärung über die bestehenden Studien (die existieren, da Hormonblocker schon seit Jahrzehnten in anderen medizinischen Fragen eingesetzt werden) und einfach medizinische Studien für Hormon Replacement Therapie.

Zudem ist – wie auch woanders – die Medizin von gesellschaftlicher Unterdrückung geprägt. Das wird deutlich daran, dass viele Patient:innenstudien, Symptome und Medikamentenvorgaben auf Basis cis-männlicher Körper stattfinden – was beispielsweise dazu führt, dass Personen mit biologisch weiblichem Körper vermehrt an Herzinfarkten sterben, weil sie andere Symptome aufweisen oder nicht ernst genommen werden, insbesondere wenn sie nicht-weiß sind. Falsche Kategorisierung des Geschlechts der Betroffenen oder die Annahme, es würde sich um einen cis Körper handeln, können auch fatale Folgen hinsichtlich der Beratung bei Verhütungsmethoden sowie der Behandlung von Geschlechtskrankheiten oder der HIV-Prävention haben, da manche Beratungen aufgrund der Vermutung einer Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung nicht durchgeführt werden und auch hier die Präparate unterschiedlich auf die Körper wirken. Nach einer Personenstands- und Namensänderung zahlt die Krankenkasse teilweise „geschlechtsspezifische“ Behandlungen wie HPV Impfungen nicht mehr (bzw. man muss sich ihnen extra erklären und damit rumschlagen).

Viele Ärzt:innen wissen außerdem schlicht nicht, was eine HRT (Hormone Replacement Therapy) an einem Körper ändern kann und ignorieren z.B. dass bei einer Testosterontherapie das Risiko von Herzerkrankungen auf das eines cis Mannes steigt, andere körperliche Vorgänge eher wie bei cis Frauen funktionieren und wieder andere Dinge mit beidem nur noch wenig zu tun haben. Faktisch führt das dazu, dass trans Menschen oft zu Ärzt:innen gehen und ihnen erstmal ihren Körper erklären müssen. Da an der Stelle aber zu wenig Forschung existiert, es sehr kompliziert werden kann, die Beschäftigung mit dem eigenen Körper mental schwierig sein kann und die Ressourcen begrenzt sind, sind viele trans Menschen dazu verständlicherweise nicht in der Lage. Der erschwerte Zugang führt aber dazu, dass manche trans Personen sich über inoffizielle Wege Hormone besorgen müssen. Ohne medizinische Überwachung der Dosierung und Nebenwirkungen kann das aber auch sehr gefährlich für die Betroffenen enden. Das heißt, wir brauchen Forschung, Lehre und Praxis, die die Auswirkungen gesellschaftlicher Diskriminierung mit einbeziehen, sowie eine Medizin, die eine biologische Bipolarität  der Geschlechter anerkennt! Des Weiteren brauchen wir auch eine Auseinandersetzung mit der Produktion von Medikamenten und Präparaten in der Pharmazie. Die Devise heißt hier Enteignung unter Arbeiter:innenkontrolle und die Aufhebung des Patentrechts, um zu gewährleisten, dass die Produktion von Pubertätsblockern und Hormonpräparaten nicht unter Profitinteresse steht und sie auch in einer Langzeitanwendung so sicher wie möglich sind!

  • Für Selbstbestimmung über den eigenen Körper: Für das Recht auf kostenfreien und unbürokratischen Zugang zu medizinischer Geschlechtsangleichung!

  • Schluss mit Diskriminierung: Rahmenlehrpläne in der medizinischen Ausbildung unter Kontrolle von Ärzt:innen, Arbeiter:innen und Vertreter:innen von Unterdrückten! Für breite Sensibilisierungskampagnen gegen Diskriminierung im Gesundheitssystem und den Ausbau von Gesundheitszentren speziell für Frauen und LGBTIA+!

  • Intersex vollständig legalisieren: Verbot medizinisch nicht notwendiger, kosmetischer Genitaloperationen an Kindern!

  • Rekommunalisierung und Verstaatlichung aller privatisierten Kliniken unter Kontrolle der Beschäftigten und Patient:innen, die ein Interesse an guten Arbeitsbedingungen und guter Gesundheitsversorgung haben!

  • Freier und kostenloser Zugang zu Verhütungsmitteln! Massiver Ausbau der Beratung und Forschung in diesem Bereich!

Staatliche Diskriminierung

Seit August 2023 ist das TSG (Transsexuellengesetz) Geschichte und wurde durchs sogenannte „Selbstbestimmungsgesetz” ersetzt. Erst einmal das Positive: Das Selbstbestimmungsgesetz ermöglicht es trans, intergeschlechtlichen und nicht-binären Menschen, ihren Namen und Geschlechtseintrag auf Antrag beim Standesamt zu ändern. Während man früher vor Gericht gehen musste sowie zwei psychologische Gutachten brauchte , nur um die Personenstandsänderung durchzusetzen, kann man ab Herbst 2024 Namen und Geschlecht angleichen, indem man sich 3 Monate vor der sogenannten „Erklärung mit Eigenversicherung“ beim Standesamt anmeldet. Doch für Minderjährige ist der Prozess der „Selbstbestimmung“ weitaus weniger frei und eigenständig möglich. Personen ab 14 Jahren haben zwar das Recht, ihren Antrag auf Geschlechtsänderung selbst einzureichen. Seine Wirksamkeit hängt jedoch von der Zustimmung der sorgeberechtigten Person oder des Familiengerichts ab.

Alle jüngeren Personen dürfen nicht mal den Antrag selber einreichen und haben wenig mitzureden, welches Geschlecht oder welcher Name angegeben wird. Ausgeschlossen werden ebenso Personen, deren Visum bald abläuft – um zu verhindern, dass sie sich vor der Abschiebung „drücken” können. Auch im „Spannungs- und Verteidigungsfall“ kann die Angleichung auch „ausgesetzt” werden, um Menschen in den Wehrdienst einzuziehen. Besonders fatal ist, dass mit dem Selbstbestimmungsgesetz eine Liste erstellt wird. Das heißt: Alle trans Personen (mit ihren Deadnames und Adressen) sind den staatlichen Strukturen wie BKA, Polizei und Geheimdienst bekannt. Man benötigt keine Datenschutzexpertise, um zu wissen, dass das überhaupt nicht nötig ist, sondern vielmehr eine Gefährdung darstellt .

  • Für Selbstbestimmung über die eigene Geschlechtsidentität: Für Recht auf kostenfreien und unbürokratischen Zugang zur offiziellen Namens- und Personenstandsänderung! Gegen den Zwang, das Geschlecht in amtlichen Dokumenten anzugeben!

  • Keine Weitergabe dieser Informationen an Bundeskriminalamt (BKA), die Landeskriminalämter, die Bundespolizei, das Bundesamt für Verfassungsschutz und den Militärischen Abschirmdienst!

  • Volle rechtliche Gleichstellung von LGBTIA+! Gleichstellung aller Partnerschaften und Lebensgemeinschaften mit der Familie! Für die automatische Eintragung queerer Eltern auf die Geburtsurkunden ihrer Kinder: mit ihren gewünschten Namen und Geschlecht!

Ursprung der Unterdrückung

Die Beispiele zeigen: Die Unterdrückung von trans Menschen ist überall zu finden. Doch wenn wir sie nicht nur oberflächlich bekämpfen wollen, müssen wir uns fragen: Woher kommt sie eigentlich?  Für uns als Marxist:innen ist die Diskriminierung von trans und anderen queeren Personen eng mit der Frauenunterdrückung verbunden. Letztere wird in der kapitalistischen Gesellschaft durch die Auslagerung von Reproduktionsarbeit (beispielsweise Kindererziehung, Pflege, Kochen, Waschen etc.) ins Private manifestiert. Kollektive Küchen, Waschhäuser oder auch Pflege könnte man gesamtgesellschaftlich organisieren und dadurch massiv Zeit einsparen (und so auch die Qualität verbessern). Doch um Kosten zu sparen, wird diese Arbeit in das Privatleben von Individuen gedrängt. Frauen tragen dabei oftmals die Hauptlast der reproduktiven Arbeit aufgrund der geschlechtlichen Arbeitsteilung, die vorherrscht. Der Stereotyp der bürgerlichen Familie macht das besonders deutlich:

Hier hat „alles seine Ordnung” und die Rollen sind klar verteilt: Der Mann ernährt als Hauptverdiener die Familie, während die Frau bestenfalls noch etwas dazuverdienen darf, sich aber hauptsächlich um den Haushalt und die Kindererziehung kümmert. Wer sich jetzt denkt, dass die 1960er Jahre angerufen haben und ihre verstaubte Lebensrealität zurückhaben wollen, hat recht. Jedoch wird diese Aufteilung nach wie vor vielerorts reproduziert: Sei es in Medien, durch Religionen, konservative Politiker:innen oder durch Gesetze, die Hetero-Zweierbeziehungen bevorzugen. Kurzum: Die bürgerliche Familie nimmt im Kapitalismus einen ideologischen Stellenwert ein, der geschützt wird. Dies geschieht nicht rein zufällig, sondern ist einfach eine Ideologie und Praxis, die für den Kapitalismus besonders profitabel ist. So werden durch das Idealbild der Familie die Erbschaftsverhältnisse der Herrschenden geregelt, während die ganze Reproduktionsarbeit der Arbeiter:innenklasse unentgeltlich im Privaten stattfindet. Menschen, die nun nicht in dieses cis- und heteronormative Gesellschaftsbild hineinpassen, sind der bürgerlichen Gesellschaft natürlich ein Dorn im Auge. Denn mit ihrer bloßen Existenz stellen sie eine Gesellschaftsordnung in Frage, in der es „natürlich„ scheint, dass Männer arbeiten, Frauen Hausarbeit verrichten, und es normal ist, dass nur heterosexuelle Paare Kinder bekommen. Das erklärt auch, warum insbesondere Rechte und andere Reaktionär:innen so vehement gegen Queers eintreten.  Gleichgeschlechtliche Partner:innen lieben, mehr als eine/n Partner:in haben oder eben das eigene Geschlecht angleichen lassen – all das greift die geschlechtliche Arbeitsteilung an. Diese ist jedoch notwendig, um die Familie und somit die Auslagerung der Reproduktionsarbeit ins Private aufrechtzuerhalten und somit auch der Ursprung der Unterdrückung von LGBTIA+.

  • Kampf für Reduzierung der Arbeitszeit für die gesamte Arbeiter:innenklasse, damit die Reproduktionsarbeit auf alle  verteilt werden kann und den Frauen die Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben erleichtert wird!

  • Kampf den Geschlechterrollen: Schluss mit geschlechtlicher Arbeitsteilung: Für die Vergesellschaftung der Haus- und Reproduktionsarbeit; gleichmäßige Aufteilung der übrigbleibenden privaten Tätigkeiten!

Was tun?

All diese Forderungen zu erkämpfen, wäre ein wichtiger Schritt in der Verbesserung der Situation von trans Personen. Unser Ziel muss jedoch sein, der Unterdrückung die materielle Grundlage zu entziehen. Deswegen ist für uns der Kampf für die Befreiung von LGBTIA+ verbunden mit der Notwendigkeit, die Reproduktionsarbeit zu vergesellschaften und die kapitalistische Gesellschaft zu zerschlagen!

In der Praxis setzen wir uns für einen gemeinsamen Kampf von Frauen-, LGBTIA+- und Arbeiter:innenbewegung ein. Zum einen, weil Erstere genauso Teil der Arbeiter:innenklasse sind und das Bild des „Arbeiters im Blaumann” als diese vollständig repräsentierendes veraltet ist. Zum anderen nimmt die Arbeiter:innenklasse eine Schlüsselposition ein, wenn es darum geht, Forderungen durchzusetzen. Durch ihre Stellung im Produktionsprozess kann sie durch Streiks ökonomischen Druck aufbauen und so sichern, dass Reformen durchgesetzt werden können. Sie ist auch zentral, wenn es darum geht, den Kapitalismus zu zerschlagen. Deswegen ist es unsere Aufgabe, revolutionäres Bewusstsein in die Klasse zu tragen und den gemeinsamen Kampf zu führen, um gegen existierende Vorurteile sowie Diskriminierung zu kämpfen und letzten Endes die Grundlage von LGBTIA+-Unterdrückung zu beseitigen. Um das zu ermöglichen, glauben wir, dass es notwendig ist, dass in den Organisationen der Arbeiter:innenklasse – ob nun Gewerkschaft, revolutionärer Organisation oder Partei – das Recht für gesellschaftlich Unterdrückte besteht, einen Caucus zu bilden, d. h. einen Ort, an dem sie sich unter ihresgleichen treffen können, um sich über erlebte Unterdrückung auszutauschen, ob nun innerhalb oder außerhalb der Strukturen. Dafür benötigen wir auch ein revolutionäres Programm, welches alle Forderungen, die sich auf die unterschiedlichen Ausgebeuteten und Unterdrückten beziehen, zu einem gemeinsamen Kampf verbindet.




Nein zum Gender Verbot an Schulen

Erik Likedeeler, REVOLUTION, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Es klingt absurd, ist aber wahr: Sachsens Kultusministerium hat sich dazu entschieden, eine geschlechtergerechte Sprache in Form von Sternchen, Doppelpunkt und Binnen-I an Schulen und deren Behörden zu verbieten. Der thüringische Landtag hat beschlossen, dass Landesregierung, Ministerien, Schulen, Universitäten und der öffentliche Rundfunk nicht mehr „gendern“ dürfen. Auch in Niederösterreich haben ÖVP und FPÖ durchgesetzt, dass die Nutzung von Sternchen und Binnen-I in den Landesbehörden untersagt wird. Ein FPÖ-Sprecher betonte, es gehe darum, den „Wahnsinn des Genderns“ zu beenden. Diese Gender-Verbote stellen eine weitere Folge des gesamtgesellschaftlichen Rechtsrucks in unseren Schulen dar. Sie sind eingebettet in einen internationalen Rollback gegen die Rechte von FLINT-Personen, wie die Angriffe auf das Recht auf Abtreibung in den USA oder Italien oder gesetzliche Verbote für geschlechtsangleichende Maßnahmen oder Verbote von gleichgeschlechtlichen Ehen/Partnerschaften in osteuropäischen Staaten. So haben Rechtspopulist:innen auf der ganzen Welt die sogenannte „Trans- und GenderLobby“ zu einem ihrer Hauptfeinde erklärt. Auch unsere Schulen werden zur Zielscheibe ihrer Angriffe. Die zunehmenden Verwerfungen der kapitalistischen Krisen machen Teile des Kleinbürgertums und deklassierter Arbeiter:innen anfällig für diese Ideologie. So sorgen Inflation, zunehmende Konkurrenz, drohender Arbeitsplatzverlust und Sozialabbau dafür, dass viele Cis-Männer ihre zugewiesene Rolle des heldenhaften und starken Ernährers nicht mehr erfüllen können. Die Angst vor dem männlichen Macht- und Identitätsverlust wird zu einem rechten Kulturkampf umgeformt. Die Rückkehr zu konservativen Wertvorstellungen, zu einer Welt in der doch alles noch besser war, wird ihnen dabei als Lösung verkauft. Der Wirbel um den angeblichen „Wahnsinn des Genderns“ dient als Ablenkung vom eigentlichen sozialen Elend. Die klassenlose Individualisierung des Kampfes um symbolische Repräsentation soll uns davon abhalten, die eigenen Klassenunterdrückung zu erkennen.

Den Rechtspopulist:innen geht es also nicht um eine vermeintlich „richtige“ oder „einfachere“ Sprache. Es geht ihnen darum, Frauen und Queers unsichtbarer zu machen und zurückzudrängen. Dabei greifen sie tief in die Mottenkiste der homophoben und sexistischen Vorurteile, indem sie ihre Gender-Verbote damit begründen, dass es angeblich die Kinder verwirre oder in ihrer Entwicklung beeinträchtige. Unter dem Schlagwort „Frühsexualisierung“ wird nicht nur Jagt auf Gender-Sternchen, sondern auch auf die gleichberechtigte Darstellung gleichgeschlechtlicher Beziehungsmodelle im Unterricht gemacht. Die angeblichen Interessen der Schüler:innen werden hier argumentativ ins Feld geführt, ohne dass überhaupt die Schüler:innen gefragt wurden. Für den Kampf in der Schule bedeutet dies, dass wir uns nicht auf die Bildungsministerien verlassen können. Jede Errungenschaft kann scheinbar mit einem Regierungswechsel wieder zunichte gemacht werden. Schüler:innen müssen also selbst die Frage der Kontrolle über Lehrpläne und Verhaltensregeln in den Schulen stellen, um das Vordingen rechter und queerfeindlicher Ideologie in unsere Schulen zu stoppen. Was wir für eine gerechte und inklusive Bildung wirklich brauchen, sind Lehrpläne unter demokratischer Kontrolle von Organisationen der Arbeiter:innenklasse sowie Lehrer:innen und Schüler:innen. Selbige müssen selbstverwaltete Antidiskriminierungsstellen an den Schulen erkämpfen, um den Schutz von Mädchen, Frauen und queeren Personen an den Schulen zu garantieren. Es nicht das Gendern, was Schüler:innen Probleme bereitet, sondern es ist ein kaputtgespartes Bildungssystem, Lehrer:innenmangel und steigender Leistungsdruck. Doch das sächsische Bildungsministerium oder die FPÖ denken nicht einmal im Traum daran, an dieser Bildungsmisäre etwas zu verändern. Dieser Umstand entlarvt nur noch mehr, dass es ihnen lediglich im den Kampf um ideologische Vorherrschaft und das Zurückdrängen von Frauen und LGBTIA geht. Doch auch Sachsens Lehrerverband (nicht jedoch die Gewerkschaft GEW!) sieht positiv, dass das Gender-Verbot „Klarheit“ und „Barrierefreiheit“ bringen würde. Der Sprecher der FPÖ führte sogar die „Integration“ von Migrant:innen als Grund dafür an, wieso die Partei es bei „einfachen und verständlichen“ Sprachregeln belassen will.

In sprachwissenschaftlichen Studien konnte das Argument jedoch widerlegt werden, dass Gendern für das Gehirn mühsam wäre oder zusätzlichen Aufwand bedeuten würde. Anders als häufig angenommen führen geschlechtergerechte Formulierungen nicht zu langsamerer Verarbeitung, schwächerer Erinnerungsleistung oder schlechterer Lesbarkeit. Das Maskulinum hingegen führt durchaus zu Zögern bei der Verarbeitung und langsamer Reaktion, sobald es geschlechtsübergreifend gemeint ist.  Gleichzeitig sollten wir auch als Linke nicht der Illusion verfallen, dass ein bloßes Ändern unserer Sprache automatisch zu einer tatsächlichen Überwindung gesellschaftlicher Unterdrückungsverhältnisse führt. Selbst, wenn nun mehr Leute geschlechtergerechte Sprache benutzen, ändert dies leider wenig am Gender Pay Gap oder der Tatsache, dass Frauen immer noch einen Großteil der Haus- und Care-Arbeit leisten. Anstatt jedoch wie manche Linke den “Kampf um eine inklusive Sprache” abzulehnen, sollten wir diesen viel eher in den Klassenkampf einbinden. Denn in Begriffen stecken implizite Sichtweisen und Wertungen, die beeinflussen können, wie wir bestimmte Gruppen und Ereignisse betrachten. Im besten Fall kann das Verwenden einer bestimmten Sprache unsere Sichtweisen einer breiteren Masse leichter zugänglich machen. Zudem vermittelt inklusive Sprache zusätzlich diskriminierten Personen, dass wir ihre Unterdrückung anerkennen und unsere Befreiungsbewegungen zusammendenken. In diesem Sinne dürfen wir uns keinesfalls der rechten Verbotskultur beugen, sondern müssen dem Gender-Verbot den Kampf ansagen! Denn das, was der bürgerliche Staat als Vertreter des Kapitals am meisten zu fürchten hat, ist eine Arbeiter:innenklasse und Jugend, die sich ihrer gemeinsamen Interessen bewusst ist und gegen die wahren Ursachen ihres Elends ankämpft.
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1848 und die Linke

Martin Suchanek, Infomail 1237, 15. November 2023

Der folgende Text ist ein Redemanuskript, das dem Beitrag bei der von Platypus Leipzig am 2. Oktober durchgeführten Veranstaltung zu „1848 und die Linke“.

„Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eigenen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus.“ (Marx, 18. Brumaire des Louis Bonaparte)

Betrachten wir die Revolution von 1848, so brachten wir sie als Revolutionär:innen vom Standpunkt der Revolution des 20. und 21. Jahrhunderts, ihre Verwerfungen, Aufgaben – nicht und nie bloß in einer geschichtlichen Rückschau.

Diese Bemerkung erklärt aber, warum ein großer Teil der sog. Linken – inklusive derer, die sich selbst radikal nennen, so wenig Interesse an der Revolution von 1848 und auch anderen Revolutionen der Vergangenheit haben. Nehmen wir nur den Oktober 1923, dessen Niederlage einen weltgeschichtlichen Wendepunkt darstellte.

Die Revolution von 1848 stellt auch einen solchen weltgeschichtlichen Wendepunkt dar, weil sie die Parameter der Klassenverhältnisse und revolutionärer Politik damals und bis heute mitprägt. Worin besteht das, dazu thesenhaft.

1. Die REVOLUTION von 1848 war eine internationale Revolution

Auch wenn sie – wie viele Revolutionen – unvorhergesehen, wenn sie, in Marx Worten, in Frankreich mit einer „Überrumpelung“ beginnt, so breitet sie sich über ganz Europa aus.

Sie ist kein nationales Ereignis, sondern ein internationales, auch wenn es Deutschland und Osteuropa um den die Nachvollziehung der bürgerlichen Revolution geht.

2. Die Revolution von 1848 ist zwar eine gescheiterte bürgerliche Revolution, zugleich aber geht sie schon über diese hinaus und zwar in mehrfacher Hinsicht.

– Erstens verbindet die Entwicklung in England und jene auf dem Kontinent die Frage der sozialistischen mit der bürgerlichen Revolution.

  • Zweitens zeigen alle Revolution und Erhebungen in Europa, dass das Bürger:innentum nicht mehr zu einer entschlossenen, konsequenten Revolution gegen die Dynastien und das alte Regime fähig ist. Die bürgerliche und kleinbürgerlichen Parteien Deutschland, Frankreich, Österreich usw. ziehen letztlich die Niederlage einer zu weit gehenden Revolution vor.

  • – Dies hängt drittens untrennbar mit der Entwicklung des Klassenkampfes und dem Hervortreten der Arbeiter:innenklasse als eigenständiger, unabhängiger revolutionärer Kraft zusammen, vor allem und zuerst in Frankreich. Die Klasse der Lohnabhängigen trägt auch gemeinsam mit den unteren Schichten des städtischen Kleinbürger:innentums die Hauptlast der Revolution.

  • Daher enthalten viertens das Programm der Arbeiter:innenklasse – wie im Kommunistischen Manifest, aber sehr viel genauer in den Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland im März 1848 dargelegt – sehr radikale Eigentumsforderungen und Übergangsforderungen.

  • Die Revolution enthält also fünftens schon wichtige Aspekte der permanenten Revolution, der Revolution in Permanenz, der Verbindung von demokratischen Aufgaben – nationale Einheit, Demokratie und Republik, Landfrage, Abschaffung aller feudalen Überreste – mit Fragen der proletarischen Revolution. Schon im Kampf treten letztlich Proletariat und Bürger:innentum als Kräfte auf, die um die Führung der Revolution im Streit liegen.

  • Die Revolution zeigt die Notwendigkeit der Organisierung der Arbeiter:innenklasse als eigenständige politische Kraft, als Partei, im Gegensatz zu anderen Klassen – auch als Voraussetzung für Taktik und Bündnispolitik gegen die Reaktion.

3. Das Scheitern der Revolution führt Marx und Engels zu einer schonungslosen und nüchternen Neubestimmung der Aufgaben von Revolutionär:innen.

Das schließt natürlich auch ein, dass wir heute in der Politik und Analyse von Marx und Engels auch wichtige Schwächen und Fehler kritisch benennen müssen. Das bezieht sich z. B. auf die falsche Konzeption von historischen und geschichtslosen Völkern, die sie, wie Rosdolsky in „Friedrich Engels und das Problem der ‚geschichtslosen’ Völker“ zeigt, von Hegel letztlich unkritisch übernehmen. Es bezieht sich aber auch auf die Frage der eigenständigen Arbeiter:innenorganisation, deren Wichtigkeit erst mit dem Niedergang der Revolution deutlicher hervorgehoben wird.

Jetzt aber zu den positiven Lehren:

  • Anerkennung der Niederlage der Revolution. Ablehnung der Vorstellung, dass diese künstlich wiederbelebt werden könne.

  • Hinwendung zur tieferen, ökonomischen Analyse der Verhältnisse. Die Niederlage wird nicht einfach aus politischen Fehlern und Verrat erklärt, sondern auch aus einer Unreife der Arbeiter:innenklasse, die ihrerseits durch die Unreife der bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung in Deutschland, tw. in Frankreich verursacht ist.

  • Zugleich tritt das Proletariat schon so sehr in Erscheinung, dass das Bürger:innentum als revolutionäre Klasse ausfällt, vor dem Kampf zurückschreckt, weil das Proletariat zu weit gehen könnte, den bürgerlich Rahmen der Verhältnisse in Frage stellen könnte. Umgekehrt betrachten Marx und Engels die bürgerliche Revolution nur als Übergangsstadium.

  • Die Konterrevolution kann sich auf die Erschöpfung der revolutionären Klassen stützen – unreifes Proletariat, zögerliche bürgerlich/kleinbürgerliche demokratische Kräfte – aber auch auf „Mittelklassen“ und die Bäuer:innenschaft auf dem Land. Der Sieg der Konterrevolution nimmt eine spezifische Form an, führt zur Etablierung eines bonapartistischen Staatsapparates oder Regimes. Am klarsten in Frankreich, aber auch in Preußen.

  • Die gescheiterte Revolution macht auch deutlich, dass die Arbeiter:innenklasse die bürgerliche, bürokratische Staatsmaschinerie, die mehr und mehr perfektioniert wird, nicht einfach in Besitz nehmen kann für ihre Zwecke. Der bürgerliche Staat muss vielmehr zerschlagen werden, damit eine wirkliche Volksrevolution mit dem Proletariat an der Spitze siegen kann.

4. Warum kräht 2023 kaum jemand nach der Revolution 1848?

Das hängt sicher nicht nur damit zusammen, dass 175 Jahre ein etwas sperriger Jahrestag sind. Auch die Revolution von 1923 interessiert wenig, ob wir den 100. Jahrestag erleben.

Der Grund ist eine andere. Für Marxist:innen ist die Betrachtung vergangener Revolution untrennbar mit der Betrachtung zukünftiger verbunden. Oder wie Marx formuliert: die soziale Revolution schöpft ihre Poesie auf der Zukunft.

Für eine Linke jedoch, für deren große Mehrheit die Revolution ein toter Hund, eine Utopie, eine bloße Erinnerung an die Vergangenheit geworden ist, gibt es auch keine Lehren aus der Revolution.

Die heutige Linke steht in ihrem Verhältnis zur Revolution von 1848 allenfalls auf dem Standpunkt des radikalen Kleinbürger:innentums von 1848, das die Revolution irgendwie wollte, aber auch nicht zu viel und zu radikal. Heute will man eine entschlossene, transformatorische Reformpolitik, Sozialismus, aber im Rahmen des bürgerlich-demokratischen Staatsgebäudes.

Nur wenn die sozialistische Umwälzung, nur wenn die Revolution als reale Möglichkeit und Aufgabe unserer historischen Periode begriffen wird – als einzige wirkliche Antwort auf die Krise des Kapitalismus, auf den Krieg, auf die ökologische Zerstörung, auf Rassismus und zunehmende Reaktion in allen Formen – nur dann können überhaupt die Lehren vergangener Revolutionen fruchtbar gemacht werden.




1923: Niederlage der Revolution

Bruno Tesch, Neue Internationale 277, Oktober 2023

1923 ergab sich in Deutschland nach 1918 die zweite große Möglichkeit, das Blatt der Geschichte zu wenden und durch eine siegreiche Arbeiter:innenrevolution sogar den Lauf der Weltgeschichte zu verändern. Dass dies nicht eintrat und welche Implikationen hierbei zu beachten waren, soll Gegenstand des folgenden Beitrags sein.

Revolutionäre Zuspitzung

Mitte 1923 haben wir in Deutschland alle zentralen Elemente einer revolutionären Situation: eine kapitalistische Ökonomie im Hyperinflationskollaps, Hungerrevolten und spontane Emeuten, eine schwere politische Krise auf Regierungsebene und eine gut organisierte revolutionäre KPD, die tatsächlich auf dem Sprung war, die jahrzehntelange Vorherrschaft der SPD über die deutsche Arbeiter:innenklasse zu beenden.

In Sachsen und Thüringen bildete die linke SPD mit Duldung der KPD eine Regierung, welche die Bildung bewaffneter Arbeitermilizen zuließ. Auf der anderen Seite der Barrikade stand die bewaffnete Reaktion zum Losschlagen bereit.

Einerseits wartete der Oberbefehlshaber der Reichswehr, von Seekt, auf die Ausrufung des Notstands durch den Reichspräsidenten Ebert (SPD), um eine Militärdiktatur zu errichten. Andererseits war der Notstand in Bayern schon vollzogen und ein autoritäres Regime errichtet, das sich unabhängig von der Reichsregierung erklärte. Hinter diesem Notstandsregime in Bayern versammelten sich auch offen faschistische Kampftruppen um Hitler und Ludendorff, die auf das Signal zum „Marsch auf Berlin“ (in Analogie zur Machtergreifung der Faschist:innen in Italien) warteten. Im Herbst 1923 marschierten bayrische Reichswehrverbände in Nordbayern auf. Alles lief auf eine Entscheidungsschlacht zwischen der revolutionären Arbeiter:innenschaft und der Reichswehr und den Faschist:innen hinaus.

Rückblickend ist die Zuspitzung der Situation, die nur als revolutionäre bezeichnet werden kann, seit August 1923 mit dem Sturz der Cuno-Regierung klar (siehe hierzu NI 276). Es ist daher lächerlich, wenn heute vielfach behauptet wird, die KPD habe sich auf Drängen der Komintern im Herbst 1923 auf ein „putschistisches Abenteuer“ eingelassen, in Deutschland wäre nie so etwas wie ein russischer Oktober denkbar gewesen.

Generalstreik und neue Regierung

Im Grunde erreichte die Krise nicht erst im Oktober, sondern im Sommer 1923 ihren ersten Höhepunkt. Die Kämpfe verdichten sich zum Generalstreik gegen die verhasste Cuno-Regierung im August 1923. Der Streik begann am 10. des Monats in Berlin mit dem Ziel, die rechtskonservative Reichsregierung zu stürzen. Dieses wurde erreicht, das Kabinett unter Cuno demissionierte am folgenden Tag. Der Streikaufruf hatte inzwischen etliche Arbeiter:innenzentren des Reichs erfasst.

Am selben Tag noch, dem 11. August, erfolgte der Ausruf einer neuen Regierung unter der Kanzlerschaft Stresemanns, der der liberal-konservativen Deutschen Volkspartei vorstand, die eine Koalition mit den bürgerlichen Partnerinnen Zentrum, der Deutschen Demokratischen Partei und der reformistischen Arbeiter:innenpartei SPD einging. Der Generalstreik flaute praktisch schon gegen Abend des darauffolgenden Tages, dem 12. August, ab.

Mit dem erzwungenen Rücktritt der alten Regierung hatte die Arbeiter:innenbewegung nur scheinbar triumphiert. Der Generalstreik war zwar von einer Reihe von Forderungen und der nach Bildung einer Arbeiter:innenregierung begleitet, aber die entscheidende Frage, wer konkret bereitstand, um diese Verantwortung zu übernehmen, wurde nicht gestellt. Sie beantwortete stattdessen die herrschende Klasse. Dass dies im Handumdrehen geschah, kann kein spontaner Zufall, sondern muss vorbereitet gewesen sein.

Der Bourgeoisie war längst klar geworden, dass das wirtschaftspolitische Steuer herumgerissen werden musste. In der Frage der Reparationszahlungen mussten neue Verhandlungen aufgenommen und die Politik des „passiven Widerstands“, die von der alten Regierung ausgegeben worden war, beendet werden. In der Währungspolitik musste möglichst bald die Reißleine gegen die Hyperinflation gezogen werden, selbst auf Kosten des Ruins großer Teile des Kleinbürger:innentums. Nicht zuletzt auch deswegen, weil aufgrund der Teuerung und Lebensmittelknappheit die Arbeiter:innenklasse sich seit dem Frühsommer 1923 zu einer herrschaftsbedrohlichen Bewegung emporgeschwungen hatte. Um aber diese einzubremsen und den neuen Kurs durchzusetzen, brauchte sie zwei verlässliche Kräfte, auf die sie sich stützen konnte, denn politisch war sie stark fraktioniert und angezählt: die Schaltstellen der Reichswehr als Garantin für die staatliche Ordnung, auch gegen partikularistische Bestrebungen in Bayern, und die Sozialdemokratie als politische Flankendeckung.

Faktor Sozialdemokratie

Die Sozialdemokratische Partei hatte sich im September 1922 durch die Fusion mit dem Rest der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei zahlenmäßig stärken können, damit aber linkere Elemente in ihre Reihen aufgenommen, die oft in Betrieben besser verankert waren. Im Laufe des Jahres 1923, v. a. zum Sommer hin, verschob sich das Kräfteverhältnis zugunsten der Kommunistischen Partei, die gerade in industriellen Zentren mit gezielter beharrlicher Einheitsfrontpolitik die SPD ein- und überholen konnte, weil sie Arbeiter:inneninteressen besonders durch Kampfmaßnahmen entschlossener und politisch pointierter wahrzunehmen wusste. Die KPD zog neben parteilosen, z. B. syndikalistischen Arbeiter:innen, auch ehemalige USPD-Anhänger:innen an.

Dies drückte sich bspw. auch in Wahlergebnissen auf parlamentarischer wie gewerkschaftlicher und Betriebsräteebene aus. Diese günstigen Zahlenverhältnisse – teilweise sogar mit Zweidrittelmehrheit gegenüber der SPD – dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der sozialdemokratische Parteiapparat weiterhin fest in der Hand der Kräfte lag, die 1918/1919 bereits die demokratische Konterrevolution erfolgreich gesteuert hatten. Nicht von ungefähr kam der Rückzug aus einer sozialdemokratischen Streikunterstützung bei der Beratung der Kommission der Berliner Gewerkschaften durch Intervention führender Parteivertreter:innen um Wels zustande.

Die SPD-Führung verfolgte offensichtlich das Ziel, durch einen raschen Eintritt in eine neue Regierungskonstellation der KPD zuvorzukommen und deren Bestrebung, die revolutionäre Bewegung in Richtung einer proletarischen Machteroberung voranzutreiben, zu unterbinden, und muss aus diesem Grund bereits frühzeitig Fühlung mit den möglichen bürgerlichen Koalitionspartner:innen für die unverzügliche Bildung einer neuen Regierung aufgenommen haben. Trotz ihrer schwindenden Dominanz spekulierte die SPD darauf, die Massen mit Sofortmaßnahmen wirtschaftlicher Art wie Herbeischaffung von Lebensmitteln und dem Versprechen, die gleitende Skala der Löhne gegen die Teuerung einzuführen, beschwichtigen zu können. Die Situation brachte sie in die Position, der Bourgeoisie diese Zugeständnisse abzuringen.

Aufstand

Nach der Regierungsumbildung ebbte die revolutionäre Bewegung deutlich ab. Dennoch konnten die Maßnahmen der Stresemann-Regierung, insbesondere gegen die Inflation, die sogar immer mehr an Fahrt aufnahm, nicht schlagartig greifen. Die Klassengegensätze wurden nicht eingeebnet, sondern spitzten sich weiter zu, insofern sich auch am rechten Rand der bürgerlichen Gesellschaft heterogene Teile von separatistischen, monarchistischen bis zu rechtsradikalen Kreisen formierten, die auch militärisch gerüstet waren.

Aus dieser Lage erwuchs die Einschätzung, dass Deutschland auf einen Bürger:innenkrieg zusteuern würde. Dazu musste sich die Arbeiter:innenbewegung rüsten. In dem Zusammenhang erhob sich unvermeidlich die Machtfrage. Die Exekutive der Kommunistischen Internationale rief Brandler vom Parteivorstand der KPD Mitte August zu sich und drängte auf die militärische Vorbereitung eines Aufstands, um die reaktionäre Gefahr abzuwenden, die Macht zu ergreifen und die Diktatur des Proletariats errichten zu können.

Der Anweisung kam die Parteizentrale, obwohl nicht wirklich davon überzeugt, nach und bereitete sich, da diese entscheidende Auseinandersetzung heranzunahen schien, für den Oktober auf den bewaffneten Aufstand vor. Der Erstschlag sollte in Sachsen geführt werden.

Dort hatte die KPD ein Hilfsersuchen der SPD-Landesregierung befolgt, die bereits im März 1923 als Ausdruck einer Linksentwicklung in der dortigen SPD gebildet worden war. Die Regierung Zeigner fürchtete den Einmarsch von reaktionären Verbänden aus der bayerischen Nachbarprovinz, der auch der ebenfalls von einer linkeren SPD geführten Regierung in Thüringen galt.

Gegen diese Bedrohung richtete sich auch der Appell im sächsischen Landtag zur Bewaffnung der Arbeiter:innen. Um einem eigenmächtigen Vorstoß aus Bayern zuvorzukommen und eine revolutionäre Bewegung im Keim zu ersticken, schickte der SPD-Reichspräsident Ebert zur Wiederherstellung der Ordnung die Reichswehrexekutive nach Sachsen.

Auf Anraten der Komintern-Exekutive war die KPD am 10. Oktober in die beiden Landesregierungen eingetreten. Dies spielte in der Aufstandsstrategie eine tragende Rolle. Die Länderregierungen sollten als Bastionen der Arbeiter:inneneinheitsfront  bewaffnet verteidigt werden und davon sollte eine Signalwirkung für das ganze Reich ausgehen.

Die KPD-Führung wollte jedoch noch das Votum einer Betriebsrätekonferenz in Chemnitz am 21.10. einholen. Doch ihr dort – einen Tag vor dem festgelegten Aufstandsdatum! – zur Abstimmung gestellter Aufruf zum Generalstreik und zum Aufstand stieß sogar bei den eigenen anwesenden KPD-Genoss:innen auf Ablehnung. Daraufhin sagte die Zentrale den Waffengang ab.

Dennoch kam es in Hamburg, weil dort diese Absage nicht rechtzeitig eintraf, zum Aufstand. Dieser wurde durch Polizei niedergeschlagen. In Sachsen rückten die Reichswehrtruppen des Generalleutnants Müller ohne Gegenwehr ein, brachten die Landesregierung zu Fall, in der sich die KPD in Koalition mit der SPD befand, und übernahmen die Exekutivgewalt. Das Gleiche geschah in Thüringen. Die KPD trat den Rückzug an, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden.

Politische Fehler

Die Hintergründe der Niederlage erschöpften sich nicht im organisatorischen Aspekt, sondern reichten wesentlich weiter zurück, sind politisch-strategischer Natur und hängen eng mit der Geschichte der Partei, aber auch mit ihrer Wahrnehmung durch die Komintern zusammen.

Schon in der Zeit der Ruhrbesetzung zeigte die KPD ein janusköpfiges politisches Antlitz. Während die Frontseite der Öffentlichkeit ein glattes, gesundes Bild durch Wachstum und Aktionsreichtum bot, das die scheinbare Einheitlichkeit der Partei nach außen unterstrich, war die Ebenmäßigkeit der Gesichtszüge auf anderen Seite durch andauernde Auseinandersetzungen zwischen im wesentlichen zwei Fraktionen entstellt.

Die Parteiführung um Brandler und Thalheimer, nach dem Märzabenteuer 1921 im Amt, befand sich im ständigen Widerstreit mit dem linken Flügel über Lageeinschätzung und Art des Vorgehens, setzte ihre Linie des steten Aufbaus durch Anwendung der Einheitsfronttaktik fort, reagierte jedoch nicht wendig auf die sich wandelnde politische Lage. Ihre Zielstrebigkeit beschränkte sich auf den Ausbau von Positionen v. a. in Betrieben und Gewerkschaften. Was die Parteizentrale an Möglichkeiten der Offensive unterschätzte, das überschätzte der linke Flügel tendenziell im Vertrauen auf die eigene Kraft und die Stimmung der Massen. Die entstandenen Kampforgane wie  die roten Hundertschaften, Fabrikausschüsse, Preiskontrollkomitees waren nur teilweise kommunistisch dominiert und nicht zentral organisiert.

Die Verantwortlichen der Komintern waren eher geneigt, den Berichten des linken Flügels der KPD über die Situation in Deutschland Glauben zu schenken, deren objektiv revolutionäre Reife gewiss unbestreitbar war, deren subjektive Voraussetzungen zum Zeitpunkt des anvisierten Aufstandes jedoch zu instabil waren und zu optimistisch beurteilt wurden.

Die von der KP-Führung landesweit gesetzten Aktionsakzente, namentlich der sogenannte Antifaschistische Tag Ende Juni und der Generalstreik gegen die Cuno-Regierung, waren  nicht Ergebnis einer vorbereiteten Kampagne und blieben auf halbem Wege stecken.

Die Forderung nach Machteroberung der Arbeiter:innenklasse als Konsequenz aus einem Programm von Übergangsforderungen tauchte gerade im Generalstreik erst nach dem Streikaufruf durch die Berliner Drucker:innen auf.

Diese inkonsequente Haltung äußerte sich schließlich noch in der Vorbereitung des Aufstands, wobei man nur die eigenen Genoss:innen bewaffnete und die Planung aus Furcht vor staatlichen Organen im Geheimen vor sich ging, da man wie schon bei den anderen Ereignissen vorzeitigen Zusammenstößen mit den Klassenfeind:innen aus dem Wege gehen wollte. Dies ging natürlich zu Lasten des Versuchs, einen großen Teil der Arbeiter:innenschaft im gesamten Reich zu mobilisieren. Als besonders fatal erwies sich, sich vom Zustandekommen einer sächsischen Betriebsrätekonferenz kurz vor dem festgelegten Aufstandstag abhängig zu machen.

Zusammengefasst kann gesagt werden: Der entscheidende Faktor für die Niederlage von 1923 war nicht eine „verräterische Führung“ oder eine mangelnde Kampfbereitschaft der Arbeiter:nnen. Entscheidend waren schwerwiegende Fehler in der politischen Einschätzung der Lage und Schwierigkeiten des Übergangs von einer defensiven, lange Zeit erfolgreichen Einheitsfrontpolitik zu einer offensiven Konfrontation mit der Reaktion. Nur in der Parteiführung einen solchen Beschluss zu fällen und konspirative Umsturzpläne zu schmieden, bedeutete auch einen Bruch mit der Politik, den gewonnenen Einfluss in den Basisorganisationen der Klasse für deren Mobilisierung zur Konfrontation zu nutzen. Fabrikkomitees, Regionalkonferenzen, proletarische Hundertschaften etc. hätten schon lange vor dem Oktober entsprechende Beschlüsse und Schritte diskutieren und beschließen müssen.

Eine solche Diskussion über einen entscheidenden Schritt zu einem Arbeiter:innenstaat hätte mit einer breiten Kampagne auf der Grundlage eines Programms für den Weg zur Machteroberung der Arbeiter:innenklasse verbunden sein und politisch zentralisierte Organe hätten frühzeitig formiert werden müssen.

Infolgedessen fehlte der Übernahme der Führung des Aufstands in Deutschland eine entsprechende Fundierung in Rätestrukturen in der Arbeiter:innenschaft. So blieb der KPD nur noch der mehr oder weniger geordnete Rückzug.

Manche Revolutionen werden nicht verraten – die Revolution von 1923 wurde schlicht verpasst und durch schwere politische Fehler in den Sand gesetzt. Dies ist ein wesentlicher Grund, warum die Beschäftigung mit diesen historischen Ereignissen heute noch wichtig für RevolutionärInnen ist. Sie zeigt klar die Bedeutung von revolutionären Organisationen und ihrer Führungen in sozialistischen Revolutionen, genauso wie die Möglichkeiten und Grenzen  der Einheitsfrontpolitik.




Einleitung zum Trotzkistischen Manifest

Das Trotzkistische Manifest, Einleitung, Sommer 1989

Das marxistische Programm basiert auf den Prinzipien des wissenschaftlichen Sozialismus. Es analysiert jede soziale und politische Entwicklung vom Standpunkt des dialektischen Materialismus. Dieser geht davon aus, daß der Klassenkampf der treibende Motor der Geschichte ist, und erkennt in der Arbeiterklasse die einzig durchgängig revolutionäre Klasse. Während jedoch das allgemeine marxistische Programm die theoretische Methode des dialektischen Materialismus und die strategischen Ziele des Sozialismus umfaßt, konzentrieren sich die großen programmatischen Beiträge in der Geschichte der marxistischen Bewegung auf die praktischen Aufgaben, die sich aus diesen grundlegenden Prinzipien ergeben. Sie beinhalten die Strategie und die Taktiken zur Erreichung der allgemeinen Ziele und trennen diese Fragen nicht vom Programm. Im marxistischen Programm besteht keine Mauer zwischen Strategie, Taktiken und Prinzipien. Dies ist vom Kommunistischen Manifest bis zum Übergangsprogramm von 1938 klar. Ausgehend von dieser Methode haben wir das Programm der LRKI entwickelt.

Die Sozialdemokratie geht noch immer mit dem Minimal-Maximal-Programm hausieren, das sich in der kapitalistischen Epoche des freien Wettbewerbs den Weg bahnte und durch die strikte Trennung von Minimalforderungen (wirtschaftlichen oder politischen Reformen, die im Rahmen des Kapitalismus erreichbar sind) und dem Maximalziels des Sozialismus gekennzeichnet war. Diese Trennung der zwei Elemente des Programms, niedergelegt im „Erfurter Programm“ der deutschen Sozialdemokratie, war die Grundlage seiner opportunistischen Auslegung und Anwendung durch den sich entwickelnden reformistischen Flügel der II. Internationale. Die heutige Sozialdemokratie unterscheidet sich von ihren klassischen Vorläufern nur in der immer größeren Schwächlichkeit ihrer Forderungen nach Minimalreformen und in den immer selteneren Sonntagsreden über das Fernziel des Sozialismus.

In der Epoche des Konkurrenzkapitalismus war die Arbeiterklasse, insbesondere in Europa, dazu gezwungen, für eine Reihe von wirtschaftlichen und politischen Rechten zu kämpfen, um eine organisierte Massenbewegung der Gewerkschaften und politischen Parteien aufzubauen. Im diesem Prozeß selbst bildete sich aus der Arbeiteraristokratie eine reformistische Bürokratie heraus, für die ausgewählte Elemente des Minimalprogramms, die durch rein friedliche, legale und parlamentarische Methoden erreicht werden sollten, bloßer Selbstzweck waren. Das stand in scharfem Widerspruch zu der Position Engels‘ und Lenins, die argumentierten, daß diese Reformen nur ein Mittel seien, um einen wirklichen Kampf für den Sozialismus zu entwickeln. Der Anbruch der imperialistischen Epoche stärkte die reformistische Bürokratie beträchtlich. Indem sie die methodische Schwäche des Minimal- Maximal-Programms ausbeutete, verstärkte sie die strikte Trennung des Kampfes um Reformen von jeder revolutionären Perspektive zum Sturz des Kapitalismus. Das strategische Ziel des Reformismus bestand also darin, sich selbst innerhalb des Kapitalismus eine einflußreiche Position zu sichern. Für diesen Zweck versuchten die Reformisten, Arbeiterkämpfe zurückzustellen, indem sie die parlamentarische Wahltaktik zu ihrer zentralen Strategie der Erreichung von Reformen im Kapitalismus umfunktionierten.

Andererseits führten auch der internationale Stalinismus und sogar Teile des kleinbürgerlichen Nationalismus die Massen mit einer Abart des Minimal-Maximal-Programms in die Irre: mit dem Programm der Etappen, das auf der Theorie des „Sozialismus in einem Lande“ aufbaut. Dieses Programm und diese Theorie wurden durch die konservative Bürokratie der UdSSR in den 20er Jahren während der Periode der politischen Konterrevolution gegen die Arbeiterklasse entwickelt. Gemäß diesem Etappenprogramm bedeutet die Existenz der Sowjetunion, daß es für Revolutionen möglich sei, vor einer friedlichen Entwicklung zum Sozialismus eine demokratische Etappe zu durchlaufen. Dabei sei diese demokratische Etappe (verschiedenermaßen fortgeschrittene Demokratie, Volksdemokratie, antiimperialistische Demokratie genannt) streng von einer sozialistischen Etappe getrennt. Der Kapitalismus müsse während dieser demokratischen Etappe aufrechterhalten werden, und dann könne sich der Sozialismus schrittweise und friedlich entwickeln – gemäß den spezifischen Gesetzen, die in jedem Land wirken.

Dieser wiederaufgewärmte Menschewismus ist eine zynische Politik seitens der Bürokratie, um die Kämpfe gegen den Kapitalismus zu beschränken und um für seine Dienste mit einer endlos langen Periode der friedlichen Koexistenz mit dem Imperialismus belohnt zu werden. Diese Abart des Minimal-Maximal-Programms (und da bildet auch die „linkeste“ Form, welche behauptet, daß die Durchführung der demokratischen Etappe nicht der Bourgeoisie überlassen werden könne, sondern vom Proletariat geführt werden müsse, keine Ausnahme) ist eine Schlinge um den Hals des Proletariats und der Unterdrückten. Ihre Konsequenz war und ist immer die Konterrevolution, entweder von seiten einer Kapitalistenklasse, die imstande war, sich während der „demokratischen“ Etappe neu zu gruppieren (Chile, Portugal) oder seitens einer stalinistischen Bürokratie, die gezwungen ist, den Kapitalismus zu liquidieren, um sich selbst zu verteidigen, allerdings nur unter der Bedingung der erfolgreichen politischen Entmachtung der Arbeiterklasse wie in Osteuropa, China, Indochina und Kuba.

Das Minimal-Maximal-Programm, ob in seinem stalinistischen oder sozialdemokratischem Gewand, hat also seine fortschrittliche Rolle überlebt und hat sich in ein Hindernis verwandelt, nicht nur im Kampf um den Sozialismus, sondern sogar im Kampf um die Gewinnung oder Verteidigung erfolgreicher Reformen. Denn der Kapitalismus kann weder permanente systematische soziale Reformen schaffen, noch kann er für eine dauernde und selbständige bürgerliche Demokratie sorgen. Um seine wiederkehrenden Krisen zu lösen, ist die Bourgeoisie daher gezwungen, jede ernste ökonomische Errungenschaft mitsamt den politischen Rechten der Arbeiterklasse anzugreifen. Der Kampf der Bürokratie zur Anpassung an ein solches System kann daher nur die Opferung selbst des Minimalprogramms an die Bedürfnisse des Profitsystems heißen. Die Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse erfordert aber ökonomische und politische Kriegsführung gegen den Kapitalismus – sogar zur Erzielung angemessener Löhne oder zur Sicherung der Arbeitsplätze.

Dabei sind die Grenzen des Minimal-Maximal-Programms in aller Welt erkennbar: Der Imperialismus ist unfähig, radikale und konsequente Agrarreformen zu sichern oder parlamentarische Demokratien in den meisten Halbkolonien aufrechtzuerhalten. Die offensichtliche Rechtfertigung des Minimalprogramms, daß mit Phasen des Aufschwungs die Gewährung von Reformen seitens des Kapitalismus an einige Teile der Arbeiterklasse verbunden sei, ist ebenfalls eine bloß oberflächliche. Selbst das Proletariat in den am höchsten entwickelten Ländern braucht immer mehr ein Programm, das die unmittelbarsten Verteidigungskämpfe mit der Hauptaufgabe der Epoche verbindet, nämlich dem Kampf um die Macht der Arbeiterklasse. Um den spontanen Klassenkampf zu sozialistischen Zielen weiterzuentwickeln, ist aber eine Brücke notwendig. Das Programm von Übergangsforderungen ist eine derartige Brücke.

Derartige Forderungen wurden erstmals systematisch in Trotzkis Übergangsprogramm dargelegt. Doch schon Marx und Engels hatten eine Reihe von Übergangsforderungen im Kommunistischen Manifest 1848 formuliert, später waren es Lenin und die Bolschewiki, gefolgt von der Kommunistischen Internationale (Komintern), die auf den ersten vier Kongressen zugespitzte Aktionsprogramme erarbeiteten. Doch Trotzkis Werk von 1938, die programmatische Grundlage der Vierten Internationale, war der klarste und vollständigste Ausdruck der programmatischen Entwicklung der vorangegangenen 90 Jahre des Marxismus. In jeder Phase wurden die programmatischen Erklärungen des Marxismus bereichert, da sich die kapitalistische Gesellschaft selbst entwickelte. Und in jedem Fall haben die Marxistinnen und Marxisten es für nötig empfunden, das Programm im Lichte der Erfahrung zu verfeinern und wiederzuerarbeiten. Diese ist – in Trotzkis Worten – das oberste Kriterium der Vernunft. 1938 erstellte Leo Trotzki ein scharf zugespitztes Aktionsprogramm, das die Schlüsselfragen des Tages ansprach und sie im Lichte der Erfahrung der vorangegangenen zwei Jahrzehnte des Kampfes und der weltweiten Krise beantwortete. Es verkörperte sowohl die Lehren aus dem Zusammenbuch der ersten drei Internationalen als auch die Weiterführung des Beitrags, den sie in ihren revolutionären Jahren geleistet hatten. Das Übergangsprogramm von 1938 war damit ein wiedererarbeitetes Programm des revolutionären Marxismus.

Mehr als fünf Jahrzehnte an tiefgreifenden Entwicklungen im Weltimperialismus und Weltstalinismus, in den Halbkolonien, den Kämpfen der Arbeiterklasse und der Unterdrückten, all das verpflichtet uns, das Übergangsprogramm wiederzuerarbeiten. Dies haben wir geleistet, und unser Programm ist, wie das von 1938, eine Entwicklung der vorangegangenen Programme des revolutionären Marxismus bis zum heutigen Tag, kein Bruch mit ihnen. Es steht also auf den Schultern der vorangegangenen Errungenschaften des revolutionären Marxismus. Es baut selbst auf dieser Methode auf und schließt alle wesentlichen Merkmale, und ebenso viele ihrer Forderungen, mit ein. Wie die vorangegangenen Programme wird es zu Aktionsprogrammen für einzelne Länder, für bestimmte historische Situationen oder für die jeweiligen Schichten im Kampf aufgegliedert werden müssen. Derartige Aktionsprogramme werden, wie Trotzkis eigenes Aktionsprogramm für Frankreich, alle Schlüsselelemente des allgemeinen Programms selbst enthalten, werden sie jedoch scharf auf eine einzelne Situation oder das betreffende Land zuspitzen.

Unser Programm ist ein Weltprogramm für die Weltpartei der sozialistischen Revolution, zugespitzt auf die brennenden Probleme, die für die krisengeschüttelten Schlußjahre des 20. Jahrhunderts charakteristisch sein werden. Es ist ein Übergangsprogramm zur sozialistischen Revolution, und als solches besitzt es in gleichen Maßen für imperialistische und halbkoloniale Länder die volle Gültigkeit. Aber es ist gleichfalls ein Programm für den Übergang zum Sozialismus in den Arbeiterstaaten. Es spricht die brennenden Aufgaben an, denen sich die Arbeitenden in diesen Staaten gegenübersehen, in denen der Kapitalismus abgeschafft wurde, aber wo die stalinistische Bürokratie die Arbeiterklasse politisch enteignet hat und der eigentliche Übergang zum Sozialismus als Ergebnis dessen aufgehalten wurde. Es ist ein Aktionswegweiser für die Millionen, die um die Lösung der Probleme, denen die Menschheit gegenübersteht, kämpfen. Es ist ein Programm, das den Weg zu einer Gesellschaft, die auf der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse beruht, ebnet und im scharfen Gegensatz steht zu jenen Gesellschaften, die entweder auf der Gier nach Profit beruhen oder auf der Befriedigung der Bedürfnisse einer parasitären Bürokratie.

Während unser Programm in seinem Zentrum ähnlich dem Programm von 1938 ein zugespitztes Aktionsprogramm enthält, ist es heute aber auch notwendig, Probleme anzusprechen, die in diesem Dokument nicht behandelt wurden. Als wiedererarbeitetes Programm muß es der Tatsache ins Auge sehen, daß die Kontinuität der marxistischen Bewegung 1951 mit der Degeneration der Vierten Internationale in den Zentrismus unterbrochen wurde. Eine Periode von vier Jahrzehnten ist seit dieser Degeneration verstrichen. Die Fragen der Perspektiven, der Taktik und der Strategie wurden während dieser vierzig Jahre niemals in einer revolutionären Weise analysiert, geschweige denn in einem konsequent revolutionären Programm beantwortet. Die Lehren der zentralen Ereignisse in dieser Periode, die Schaffung degenerierter Arbeiterstaaten, der lange imperialistische Boom, die anti-imperialistischen Kämpfe, die zentralen Klassenkämpfe und revolutionären Situationen wurden nicht in einer Reihe von Programmen, Thesen und Dokumenten zusammengefaßt. Statt dessen besteht die Geschichte der aus der Vierten Internationale entstandenen Zentristen aus systematischen Irrtümern und verschiedenen opportunistischen oder sektiererischen Entstellungen des marxistischen Programms. Unser Programm basiert daher nicht auf einer ungebrochenen Vergangenheit revolutionärer Positionen und kann sich nicht wie das Programm von 1938 es noch vermochte, auf 15 Jahre von Dokumenten, Positionen, Thesen und Programmen (von der Linken Opposition bis zur Gründung der Vierten Internationale) stützen. Unser Programm ist daher notwendigerweise analytischer und umfassender, als das Programm von 1938 es sein mußte. Wenn Trotzki glaubte, daß es 1938 notwendig war, mehr Kommentare aufzunehmen, als es in einem Programm zweckmäßig ist, so mußten wir das in einem noch weit größeren Ausmaß tun. In diesem Sinne ist es ein Versuch, nicht nur den Kampf von Millionen anzuleiten, sondern ebenso die LRKI klar gegenüber den vielen Spielarten des Zentrismus, die sich auf den Trotzkismus berufen, zu definieren. Es muß auch den Militanten dieser Tendenzen, ebenso wie denen anderer Organisationen innerhalb der Weltarbeiterbewegung, zweierlei aufzeigen: die Lehren, die wir aus der vergangenen Periode ziehen müssen, und ebenso unsere Antworten, die wir auf die Krisen geben.

Klarerweise ist unser Programm weit davon entfernt, das letzte Wort zum internationalen Klassenkampf und zu Strategie und Taktik der Revolution zu sein. Seit 1984 hat die „Bewegung für eine Revolutionäre Internationale“ (jetzt die „Liga für eine Revolutionäre Kommunistische Internationale“ – LRKI) Resolutionen und Thesen zu den wichtigen Fragen des internationalen Klassenkampfs formuliert. Diese bilden eine Ergänzung zu diesem Programm. Zusätzlich erkennen wir an, daß die Diskussion mit Kämpfern aus Ländern, in denen die LRKI bislang nicht vertreten ist, uns zur Bereicherung und Entwicklung des internationalen Charakters unseres Programms weiter befähigen wird. Aber wir sind fest davon überzeugt, daß wir ein Programm erstellt haben, das als Grundstein für eine solche Entwicklung dient. Dieses Programm, das mit seiner Methode, seiner Analyse, seinen Forderungen und Taktiken und seiner Strategie den lebendigen Geist des revolutionären Marxismus verkörpert, legt die Grundlage für die Wiedererrichtung eines authentischen Trotzkismus auf Weltebene.




Die objektive Basis der sozialistischen Revolution

Das Trotzkistische Manifest, Kapitel 1, Sommer 1989

Das zwanzigste Jahrhundert wurde in einem Ausmaß Zeuge von Kriegen, Krisen und wirtschaftlicher Stagnation, das es in der Menschheitsgeschichte bisher nicht gegeben hat. Aber es hat auch ein noch nie dagewesenes Wachstum der Produktivkräfte gegeben. Diese herausstechenden Merkmale bezeugen alle die gleiche Tatsache: Der Kapitalismus ist in sein letztes Stadium eingetreten, die Epoche des Imperialismus. In dieser Epoche hat der Kapitalismus seine Zerstörung der Relikte früherer Produktionsweisen fortgesetzt und hat all die verschiedenen Ökonomien auf dem Erdball in einen großen Weltmarkt zusammengezogen. Gleichzeitig hat er jedoch die Unausgeglichenheit und Ungleichheit der Nationen zu ihrem höchsten vorstellbaren Punkt entwickelt. Eine Handvoll imperialistischer Mächte dominiert die große Mehrheit der kapitalistischen Länder und beutet sie aus. Diese sind daher in verschiedenem Ausmaß zu Rückständigkeit und Unterordnung verurteilt.

Auf seiner imperialistischen Stufe ist der Kapitalismus durch eine heftige, weltweite Konkurrenz zwischen den riesigen Monopolen gekennzeichnet. Dies drückt sich in der Rivalität zwischen den imperialistischen Mächten aus, deren Wirtschaft von diesen Monopolen kontrolliert wird. Die historische Tendenz des Falls der Profitrate treibt jedes Monopol zur weiteren Konzentration von Kapital und in immer größerem Maßstab zum Kapitalexport. Diese Kräfte haben zur Schaffung einer weltweiten Arbeitsteilung und zur Integration des Weltmarktes geführt. Dennoch bleibt die Welt in eine Reihe von Nationalstaaten aufgeteilt. Ihre herrschenden Bourgeoisien versuchen andauernd, Vorteile auf Kosten ihrer Rivalen zu erreichen. Die Widersprüche zwischen diesen Tendenzen zur Integration und jenen zum Konflikt führen zu wirtschaftlichen Krisen, langen Perioden der Stagnation, Kriegen und Revolutionen. Dies demonstriert auf klarste Weise, daß, obwohl in den Produktivkräften selbst eine Kapazität für unbeschränkte Expansion steckt, die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse – Privateigentum und Produktion für Profit – wie eine Fessel auf diese Kräfte wirken.

In großen Gebieten auf unserem Planeten wurde der Kapitalismus gestürzt, andererseits kostet seine Erhaltung anderswo das Leben von dutzenden und sogar hunderten Millionen Menschen in lokalen oder Weltkriegen; der Hunger fordert weiterhin zahllose Opfer in einer Welt, in der Lebensmittel“überschüsse“ verbrannt werden. Dies bezeugt die Tatsache, daß der Kapitalismus schon lang von seiner frühen Entwicklungsphase, als er ein relativ progressives System war, in seine letzte Phase übergegangen ist, in der er absolut reaktionär wurde – kurz gesagt, in jene Epoche, in der sein Todeskampf stattfindet.

Die Frage, die sich der Menschheit stellt, ist, ob der Imperialismus alle Klassen in den gemeinsamen Ruin ziehen wird oder ob die Arbeiterklasse die Ausgebeuteten und Unterdrückten in eine neue gesellschaftliche Ordnung führen kann; eine Ordnung, in der die demokratisch geplante Produktion für den Bedarf, die auf dem Gemeineigentum aufbaut, die Aussicht auf eine klassen- und staatenlose Welt eröffnet. Die objektiven Vorbedingungen dafür gibt es schon lange: Technologie, Wissenschaft, die Produktionsmittel und ein Millionen zählendes Weltproletariat.

Zweimal in diesem Jahrhundert, 1914-23 und 1939-47, wurde der Kapitalismus in solch akute weltweite Erschütterungen gestoßen, daß sein Ende in greifbarer Nähe schien. Zweimal haben seine eigenen Rivalitäten und Widersprüche das Schreckgespenst seiner eigenen Vernichtung durch das Proletariats erweckt. Bei zahllosen anderen Gelegenheiten hat das Proletariat einzelner Länder versucht, die Rechnung mit ihren Ausbeutern zu begleichen.

Doch bis jetzt hat das Proletariat eine Führung, die fähig wäre, die Aufgabe der Weltrevolution zu vollenden, nicht gefunden oder war nicht in der Lage, sich diese zu erhalten. Vor 1914 versammelte die Sozialistische Internationale eine weltweite Massenbewegung der Arbeiterklasse um sich, doch erlitt sie Degeneration und Verrat, noch bevor sie eine zentralisierte Führung schaffen konnte, die notwendig für einen Sieg in den herannahenden revolutionären Krisen gewesen wäre. Nur kurz, und zwar zwischen 1917 und 1923, besaß die internationale Arbeiterklasse eine solche Führung in Gestalt des Weltzentrums der Kommunistischen Internationale (Komintern). Die bürokratische Degeneration der UdSSR und der Triumph des Stalinismus beraubten das Proletariat dieser Führung. Will das Proletariat von weiteren Krisen und einem dritten und möglicherweise letzten, weltweiten Holocaust verschont bleiben, muß es sich auf die Lehren aus den vergangenen Fehlern und Erfolgen stützen und wieder in die Offensive gehen. Auf seinem Erfolg beruht die Zukunft der Menschheit.

Nur dank des Verrats der Führung der Weltarbeiterklasse konnte die imperialistische Epoche in den 20er, 30er und 40er Jahren dem drohenden Untergang entgehen. Im Zweiten Weltkrieg führte die stalinistische und sozialdemokratische Irreführung, Obstruktion und sogar Unterdrückung der Arbeiterklasse im Gefolge der Neuaufteilung der Welt zwischen den imperialistischen Mächten zur Abschlachtung von mehr als fünfzig Millionen Menschen.

In den imperialistischen Kernländern wurde die Arbeiterbewegung im Namen der Erlangung der Demokratie und des Weltfriedens davon abgehalten, mit ihrem Klassenfeind die Rechnung zu begleichen. In den Halbkolonien hat die Bourgeoisie den Bewegungen der Arbeiter und armen Bauern die Notwendigkeit einer längeren Entwicklungsetappe unter der Hegemonie der nationalen kapitalistischen Klasse gepredigt.

Doch bald nach dem Zweiten Weltkrieg brach in Osteuropa, China und Südostasien die stalinistisch inspirierte, utopische Koexistenz mit dem vom Imperialismus unterstützten lokalen Kapitalismus zusammen. Das Ergebnis war die Schaffung von Arbeiterstaaten, in denen eine parasitäre Bürokratie, die unfähig und unwillig war, eine Planwirtschaft in Richtung Sozialismus zu entwickeln oder die sozialistische Revolution auf eine internationale Ebene auszuweiten, von Beginn an die politische Macht an sich gerissen hatte. Diese Niederlagen des Proletariats und seiner Verbündeten, die von deren eigenen (Irre-)Führern eingefädelt worden waren, eröffneten für den Imperialismus die Möglichkeit einer ganzen, neuen Periode der wirtschaftlichen Expansion, einer Periode, die in merklichem Kontrast zu den Widersprüchen der Zwischenkriegsperiode stand.

Die „Drei Welten“ der Nachkriegsära

Die weitreichende Neuaufteilung der Welt war das Ergebnis eines veränderten Kräfteverhältnisses. Die USA, die ökonomisch schon vor dem Ersten Weltkrieg die stärkste imperialistische Macht gewesen waren, erreichten endlich nicht nur über die geschlagenen Imperialismen, Deutschland und Japan, sondern auch über die alten Kolonialmächte, Britannien und Frankreich, die Welthegemonie. Der „Preis“ für diesen Sieg war jedoch der „Verlust“ von Osteuropa und später von China, Nordkorea und Vietnam.

Die rivalisierenden Kolonialreiche der ersten Phase der imperialistischen Epoche machten einer Dreiteilung der Welt Platz. Die USA dominierten die Welt der großen und kleinen imperialistischen Mächte; Nordamerika, Westeuropa und den westlichen Rand der pazifischen Staaten von Japan bis Australien. Hier gab es antikommunistische, bürgerlich-demokratische Regimes, gestützt auf eine Arbeiterbürokratie, die in der „aristokratischen“ Oberschicht des Proletariats verwurzelt war. Sie führten einen „Kalten Krieg“ gegen die UdSSR und ihre Verbündeten und kämpften um die Sicherung der imperialistischen Ausbeutung der halbkolonialen Welt.

Nachdem die Sowjetunion die Bildung von degenerierten Arbeiterstaaten in der Mehrheit ihrer Nachkriegsbesatzungszonen kontrolliert hatte, beherrschte sie einen Block, zu dem China und Nordkorea hinzukamen. In jedem dieser Länder führten stalinistische Fünfjahrespläne zu einem anfänglichen Wachstum des Proletariats und zu einer gewissen Verbesserung der schrecklichen Bedingungen, die der Imperialismus hervorgebracht hatte. Trotz des stalinistischen Schmarotzertums, der Mißwirtschaft und der bürokratischen Diktatur über Arbeiter und arme Bauern erhöhte der wirtschaftliche Fortschritt das Ansehen des Stalinismus, besonders in der kolonialen und halbkolonialen Welt. Spätere stalinistische Siege, wie Vietnam und Kuba, verstärkten diese Tendenz.

In der unterentwickelten „Dritten Welt“ erreichten antikoloniale, nationale Befreiungsbewegungen formale politische Unabhängigkeit ihrer Staaten von den alten Kolonialmächten, jedoch fanden sie ihre Länder der Hegemonie der USA unterworfen. Die abhängige, nationale Bourgeoisie versuchte, ob in Form militärischer Diktaturen oder konservativer demokratischer Regimes, die Bedingungen für die Überausbeutung zu erhalten. Manche halbkoloniale Regimes benutzten die wachsende ökonomische und politische Macht des „sowjetischen Blocks“ und, indem sie dessen Hilfe suchten, schufen sie sich Raum für Manöver mit den imperialistischen Mächten. Doch wurde solche Hilfe nur in Unterordnung unter die außenpolitischen Ziele der stalinistischen Bürokratien bei ihren eigenen Manövern mit dem Imperialismus gegeben. Eine Reihe von regional einflußreichen halbkolonialen Regimes wurde ökonomisch und militärisch vom Imperialismus aufgebaut, um als seine Gendarmen in jenen Gebieten zu handeln, wo eine direkte imperialistische Intervention zu gefährlich oder zu kostspielig gewesen wäre. So sind die Halbkolonien und ihre herrschenden Klassen von verschiedenen Graden der Unabhängigkeit oder Unterordnung gezeichnet, ebenso wie es in deren ökonomischer Entwicklung verschiedene Grade der Entwicklung oder Rückständigkeit gibt.

Trotzki bemerkte in seinem Übergangsprogramm, daß „die Produktivkräfte der Menschheit stagnieren“. Diese Aussage ist Teil einer richtigen, perspektivischen Analyse der 1930er Jahre, die in der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges gipfelten. Doch hält keine konjunkturelle oder periodische Charakterisierung für einen unbegrenzten Zeitraum. Gerade die Katastrophe des Krieges setzte viele der explosiven Widersprüche, die zum Weltkrieg geführt hatten, frei und löste sie. Erstens entschärften die imperialistische Bourgeoisie und der Stalinismus die explosive Bedrohung ihrer eigenen Herrschaft in den Jahren 1943 bis 1947. Zweitens brachte die massive Zerstörung von Kapital und Arbeit im Krieg günstigere Ausbeutungsverhältnisse für den Kapitalismus mit sich. Tatsächlich diente der Ausbruch des Krieges als Katalysator für die Anwendung der wissenschaftlichen Entwicklungen der Vorkriegszeit, die dazu benutzt werden konnten, nach dem Krieg einen großen Markt für Konsumgüter zu schaffen. Atemberaubende Fortschritte in der Anwendung von Wissenschaft und Technologie erhöhten die Produktivität der Arbeit außerordentlich.

Die USA ging aus dem Krieg als die dominante Macht am Weltmarkt hervor. Die praktische Auflösung der kolonialen Reiche Frankreichs und Britanniens erlaubte ein Vorherrschen des Freihandels zum Vorteil der USA. Unter diesen Bedingungen war der US-Imperialismus fähig, eine ökonomische Weltordnung auf der Basis der Überlegenheit des Dollars und unter Kontrolle seiner Agenturen – IWF, Weltbank und GATT – herzustellen. Zusammengenommen bedeuteten diese Faktoren, daß für eine ganze Periode die nationale Aufsplitterung des Weltmarktes teilweise überwunden wurde. Die US-Kapitalexporte flossen in alle Ecken der kapitalistischen Welt und ermöglichten Superprofite in der neu entstehenden, halbkolonialen Welt, doch entwickelten sie auch die Produktivkräfte von neuem.

In einer Reihe von stärkeren und schwächeren imperialistischen Mächten kennzeichneten „Wirtschaftswunder“ den Boom der 50er und 60er Jahre. Selbstverständlich war das Gesetz der ungleichen und kombinierten Entwicklung weiterhin wirksam. Die lange Boomperiode, in der die zyklischen Krisen flach und die Aufschwünge stark und dauerhaft waren, wirkte sich auch auf die halbkoloniale Welt aus. Perioden fieberhafter Industrialisierung, extensiver Agrarreformen und Verstädterung, die von Stagnation und Krise gefolgt waren, haben die letzten vierzig Jahre gekennzeichnet. Doch mit Ausnahme von Südafrika hat diese stockende Entwicklung nicht zum Einholen der imperialistischen Länder geführt. Denn eigentlich war die Entwicklung einer komplexen, internationalen Arbeitsteilung untergeordnet, die von riesigen Monopolen diktiert wird. Deren groß angelegte produktive Investitionen folgten ihrem Verlangen nach Rohstoffen, Nahrungsmitteln und billigen Arbeitskräften. Diese Entwicklung eines in sich verknüpften Weltmarktes überwand regionale Isolation und Besonderheiten, indem das Schicksal weitgehend getrennter Ländern miteinander verbunden wurde. Gleichzeitig wurden die schreienden Ungleichheiten und das krasse Ungleichgewicht zwischen der imperialistischen und der imperialisierten Welt verschärft. Gewaltige Bevölkerungsverschiebungen ereigneten sich und schufen große Immigrantengemeinden in den imperialistischen Ländern. Die Schicksale der einzelnen Länder und der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen in ihnen ist stärker miteinander verbunden als je zuvor.

Die einseitige und äußerst abhängige wirtschaftliche Entwicklung der halbkolonialen Länder führte zwar zu Verstädterung, doch im allgemeinen nicht zu einer gleichzeitigen Industrialisierung. In Südamerika, Afrika und Asien übertreffen die sich ausweitenden Slumstädte in ihrer Größe die Industriestädte der imperialistischen Länder. Die Landwirtschaft, die vom westlichen Agrobusiness oder von reichen Farmern nur für ferne Märkte entwickelt wurde, vermag nicht, auch nur die grundlegenden Bedürfnisse der ländlichen und städtischen Massen zu befriedigen. Rücksichtslose Plünderungen der natürlichen Ressourcen und die skandalöse Vernachlässigung der ländlichen Infrastruktur und der Konsumbedürfnisse der Subsistenzbauern führten in Afrika und Asien zu schrecklichen Hungersnöten, Überschwemmungen und Seuchen, die nicht die Folge natürlicher Krisen sind, sondern der Unfähigkeit des Kapitalismus, auch nur die elementarsten Bedürfnisse von drei Vierteln der Weltbevölkerung zu erfüllen. Etwa 800 Millionen Menschen leben in kapitalistischen Nationen, die dabei versagen, die Produktion der lebensnotwendigen Güter dem Bevölkerungswachstum anzupassen.

Die meisten Halbkolonien waren nicht fähig, ein bürgerlich- demokratisches Regime zu stabilisieren, da ihre wirtschaftliche Entwicklung auf einem äußerst niedrigen Niveau verläuft und sie dem Imperialismus ein zermürbendes Tribut zahlen müssen. Die lokalen herrschenden Klassen und ihre bürokratischen und militärischen Büttel, die von den US-Botschaften und dem CIA unterstützt und begünstigt wurden, haben wiederholt Putsche organisiert, um blutige Militärdiktaturen zu errichten – Guatemala 1954, Indonesien 1965, Chile 1973 und Argentinien 1975.

Auf weltpolitischer Ebene machte die Struktur der interimperialistischen Rivalitäten, die für die Periode vor 1914 und die Zwischenkriegsjahre typisch war, nach 1947 einem Kampf zwischen drei Teilen der Welt Platz. Die degenerierten Arbeiterstaaten versuchten durch groß angelegte Bewaffnungsprogramme derBedrohung durch den Imperialismus, einschließlich der durch einen Atomkrieg, entgegenzutreten und ihre Existenz zu sichern. Dies lud den Planwirtschaften dieser bisher rückständigen Länder eine enorme Last auf. Außerdem versuchten die degenerierten Arbeiterstaaten verschiedene nationale Befreiungsbewegungen und halbkoloniale Regimes, die im Konflikt mit dem Imperialismus standen, im weltweiten Kräftegleichgewicht auf ihre Seite zu ziehen. Das Ziel dieser Politik war nicht der Sturz der imperialistische Herrschaft als Weltsystem, sondern dieses zu bremsen und zu zwingen, mit den stalinistischen Bürokratien auf Dauer zu koexistieren. In der Karibik und in Zentralamerika, im Nahen Osten, im südlichen Afrika und in Südostasien unterstützten die UdSSR und China stalinistisch oder auch nicht-stalinistisch geführte nationale Befreiungsbewegungen in der reaktionären und utopischen Absicht, sie in kapitalistischen Grenzen zu halten. Im Fall von Kuba, Kambodscha und Vietnam entstanden gegen den Willen von Moskau und Peking, wenn auch mit deren widerwilliger Hilfe, neue degenerierte Arbeiterstaaten. Trotz Perioden erhöhter Spannungen (der erste Kalte Krieg, die kubanische Raketenkrise und der neue Kalte Krieg in den 80er Jahren) brachen offene militärische Konflikte mit imperialistischen Kräften nur in der halbkolonialen Welt aus.

Während des langen Booms herrschte in den imperialistischen Ländern eine längere Periode relativen gesellschaftlichen Friedens. Dieser gründete sich auf steigende Reallöhne, beinahe Vollbeschäftigung und, zumindest in Europa, auf ein beispielloses Sozialleistungssystem. Die sozialdemokratischen und Labour-Bürokratien banden die proletarischen Massenorganisationen an den Imperialismus. Aufgrund der diktatorischen Regimes in den Arbeiterstaaten und der zutiefst reformistischen Politik der „kommunistischen Weltbewegung“ übte der Stalinismus in den meisten imperialistischen Ländern wenig Attraktivität auf das Proletariat aus. Das Ansehen des Kapitalismus schien unantastbar.

In der halbkolonialen Welt war die Lage anders. Die wirtschaftliche Entwicklung löste die alten Produktionsweisen auf und vermehrte die Klasse der sozialistischen Revolution – das Proletariat – gemeinsam mit seinen potentiell revolutionären Verbündeten anderer unterdrückter Klassen – den armen Bauern und Bäuerinnen, den städtischen Kleinbürgern und dem Subproletariat. Das Ansehen der UdSSR, Kubas, Chinas und Vietnams war immens. Der Stalinismus beeinflußte den bürgerlichen Nationalismus, den kleinbürgerlichen Populismus und die Arbeiterbewegungen der Halbkolonien enorm. Außerhalb der privilegierten Eliten und der militärischen Kasten dieser Länder hatte der Imperialismus wenig Ansehen.

In den stalinistischen Staaten konzentrierte sich die Opposition gegen die bürokratischen Diktaturen auf die Länder, in denen es ein Element der nationalen Unterdrückung – oder der Unterdrückung des Rechts dieser Länder auf Selbstbestimmung – gab: das heißt in Osteuropa, besonders auf Polen und Ungarn. In Ostdeutschland 1953, in Ungarn und Polen 1956, in der Tschechoslowakei 1968 und wiederum in Polen 1970 und 1980-81 entwickelten sich politisch revolutionäre Situationen, die entweder von der Polizei und Armee der heimischen Bürokratie oder unter Verwendung sowjetischer Panzer niedergeschmettert wurde.

Eine neue Krisenperiode

Die großteils unterschiedlichen Bedingungen in den „drei Welten“ verminderten zwei Jahrzehnte lang die Wechselwirkung von Kämpfen. Gegen Ende der 60er Jahre verschärften sich jedoch die Widersprüche des langen Booms und der US-Hegemonie, auf der dieser aufbaute. Die US- Kapitalexporte führten im eigenen Land zu Unterinvestition, was niedrige Produktivität und folglich einen Fall der Profitrate zur Folge hatte. Die Voraussetzungen, die den langen Boom ermöglicht hatten (der Dollar als unangefochtene internationale Währung, unbegrenzter Zugriff für die USA auf die halbkoloniale Welt, Unterkapitalisierung in Japan und Europa infolge des Krieges), erschöpften sich in zunehmendem Ausmaß. Die Goldreserven der USA fielen, und ihre Handelsbilanz wurde negativ. Die Last, den Dollar auf einer fixen Austauschrate mit Gold zu halten, wurde durch die enormen Ausgaben für den Vietnamkrieg vergrößert. Die gewaltigste Supermacht, die die Welt je gesehen hatte, wurde von der unbezwinglichen Bevölkerung einer kleinen Nation im Kampf zum Stillstand gebracht, wurde von ihr geschlagen.

Das Ende der Periode allgemeiner imperialistischer Stabilität und die größere Wechselwirkung von Kämpfen auf weltweiter Ebene wurde durch die ’68er-Bewegung signalisiert, in der in vielen Ländern die Kämpfe der Studenten und die Mobilisierungen der Arbeiterklasse zusammenflossen. Die Radikalisierungen der Studenten spiegelten das Sich-Zuspitzen des antiimperialistischen Kampfes in Asien und Lateinamerika, den Klassenkampf in den imperialistischen Nationen selbst und die wachsenden Widersprüche in den degenerierten Arbeiterstaaten (z.B. die Kulturrevolution in China, der Prager Frühling 1968) wider.

Die USA waren gezwungen, sich von den wirtschaftlichen Lasten zu befreien, das heißt, sie mußten die Last auf die Schultern der einst völlig untergeordneten Imperialismen abwälzen, die nun in ihre Märkte eindrangen. Deshalb mußten sie den Druck auf ihre Verbündeten erhöhen. Gleichzeitig waren sie gezwungen sich aus dem Sumpf des Indochina- Krieges zu befreien. Um das zu tun, mußten sie den Druck auf die Bürokratien der UdSSR und Chinas verringern und sogar deren Unterstützung suchen, um die Welle des Widerstandes gegen den Imperialismus zu beschränken. Die daraus folgende Ära der Detente (Entspannung) war eine Periode politischer Rückzieher der USA. Das Ergebnis dieser sichtbaren Schwächung des nordamerikanischen Kolosses war ein Aufschwung der antiimperialistischen Kämpfe gegen die Gendarmenregimes der USA im Fernen und Mittleren Osten, im südlichen Afrika und in Zentralamerika.

Außerdem brachten die 70er Jahre das Ende des langen Booms und den Beginn einer neuen Periode, in der die Rezessionen tiefer und synchronisierter waren und Auswirkungen hatten, die in den darauffolgenden Aufschwünge nicht wieder verschwanden. Die Krise von 1973-74 führte zum Auftreten von Massenarbeitslosigkeit, die es seit den 30er Jahren in diesem Ausmaß nicht mehr gegeben hatte. Der Aufschwung nach der Krise war von einer steilen Inflationsspirale begleitet, während keynesianischen Krisenmanagement und die Notwendigkeit, die Sozialstaatlichkeit zu erhalten, Stagnation und Reallohnverlust in vielen imperialistischen Länder verstärkten. Eine Eruption des Klassenkampfes ereignete sich. Reformerische, liberale und sozialdemokratische Regierungen waren diskreditiert und unfähig, mit Mitteln des keynesianischen Krisenmanagements in den nationalen Ökonomien oder der Weltwirtschaft ein Gleichgewicht wiederherzustellen.

In der gleichen Periode brach die iranische Revolution aus, die zum Sturz des Schah-Regimes führte, während gleichzeitig Somoza gestürzt wurde und die Sandinistas in Nicaragua siegten. Zusammen mit der russischen Intervention in Afghanistan untergruben all diese Ereignisse die Detente. In Britannien (1979) und den USA (1980) kamen deflationäre kalte Krieger und Kriegerinnen an die Macht, die entschlossen waren, die Fäulnis zu stoppen, indem sie die folgende Krise dazu benutzten, um die Nachkriegserrungenschaften der Arbeiterklasse im eigenen Land auszuhöhlen und außerhalb der Grenzen ihrer Länder das, wie sie es sahen, „Fortschreiten des Kommunismus“ zurückzudrängen. Thatcher und Reagan nahmen sich vor, die Hegemonie der USA wiederherzustellen und das Ansehen ihres britischen Schildknappen zu erhöhen.

Reagans und Thatchers „Liberalismus“ des freien Marktes wurde in verschiedenem Ausmaß von allen wesentlichen imperialistischen Ländern, sogar jenen mit sozialdemokratischen Regierungen, nachgeahmt. Privatisierung der staatlichen Industrien, Angriffe auf die Gewerkschaften, Verwässerung der Gesetze und Regelungen, die die Sicherheit am Arbeitsplatz betrafen, und eine Aushöhlung der Sozialstaatlichkeit waren die Themen der 80er Jahre.

Trotz Thatchers und Reagans Erfolg, das Tempo für eine neue, antistaatliche, freie Markt-Strategie für die herrschenden Klassen der Welt festzusetzen, schafften sie es nicht, eine stabile US- Hegemonie wiederherzustellen. Bestenfalls haben sie die Geschwindigkeit ihres Verfalls verlangsamt. In Europa verfestigte Westdeutschland seine Position als ökonomischer Motor der Europäischen Gemeinschaft (EG). Es verwendete die 80er Jahre, um seine wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit von seinem amerikanischen Verbündeten weiter zu stärken. Es gab kaum verhüllte transatlantische Handelsauseinandersetzungen und -differenzen darüber, wie auf die Möglichkeiten, die sich durch die Krise der Arbeiterstaaten ergaben, reagiert werden sollte.

Japan profitiert am meisten vom Verfall der US-Hegemonie. In den 80er Jahren wurde es zu einer entwickelten imperialistischen Macht und sogar zum Bankier der USA. Es stärkte seinen Einfluß in Ostasien und fordert Europa und die USA in wachsendem Ausmaß in deren eigenen Zentren und Einflußsphären heraus. Bis jetzt mangelt es ihm aber am politischen und militärischen Gegenstück zu seiner wachsenden ökonomischen Macht, doch hat es seine Entschlossenheit dazu bereits angekündigt.

Obwohl die USA weiterhin der bei weitem stärkste imperialistische Staat bleiben, können sie die kapitalistische Weltwirtschaft nicht mehr alleine regeln: Keine der imperialistischen Mächte ist absolut dominant. Eine Koordination der Politik und internationale Regelungen sind erforderlich, doch die verschiedenen Bedürfnisse und Ziele von Japan, der EG und den USA machen dies schwieriger als in den 50er und 60er Jahren. Ab den frühen 70er Jahren waren die USA gezwungen, die EG-Länder als Co-Manager der Weltwirtschaft anzuerkennen. Nun müssen sie Japan einbeziehen.

Während des Aufschwungs hat sich – unter dem Druck der Notwendigkeit, die Produktion zu rationalisieren und die Kosten zu reduzieren, um den Anforderungen der Weltmärkte und Unternehmungen gerecht zu werden – die Konzentration und Zentralisierung des transnationalen Kapitals verstärkt. Doch gleichzeitig haben sich in Nordamerika und Europa Entwicklungen in Richtung integrierter und liberalisierter regionaler Wirtschaftsblöcke beschleunigt. Während sich dies als wesentlicher Bestandteil des weltweiten Aufschwunges der 80er Jahre erwies, würde eine weltweite Krise diese regionalen Einheiten in protektionistische Blöcke verwandeln, die eine gefährliche Verkleinerung der Märkte für die weltweit orientierten transnationalen Unternehmen schaffen würden.

Eine Reihe halbkolonialer Länder erfuhr in den 70er Jahren ein starkes Wachstum und begann Kredite in großem Ausmaß aufzunehmen, um den „Aufstieg“ zu einer fortgeschrittenen Industrienation zu versuchen. In den 80er Jahren stolperten sie tiefer in die lähmende Verschuldung. Eine weltweite Schuldenkrise wurde aber durch eine Umschuldung vermieden. Die Banken bewahrten sich auf Kosten der lateinamerikanischen und subsaharischen afrikanischen Massen, denen eine massive Sparpolitik auferlegt wurde, den Großteil ihrer Guthaben. Doch ein Ausfall von zwei oder drei wesentlichen lateinamerikanischen Schuldnern (Mexiko, Brasilien, Argentinien) könnte noch immer das amerikanische oder europäische Bankensystem zum Einsturz bringen.

In den stalinistischen Staaten entwickelte sich in den 60er und 70er Jahren eine chronische Stagnation. In China diskreditierte sich die Mao- Fraktion zweimal mit voluntaristischen Kampagnen – mit dem „Großen Sprung nach vorne“ und der Kulturrevolution. Der Triumph von Deng Xiaoping über die „Viererbande“ bedeutete, daß China den Prozeß der politischen Entspannung (= Detente) und der ökonomischen Liberalisierung anführte. Dies schloß die Lockerung der zentralen Planungsmechanismen und die Öffnung der Wirtschaft für Investitionen der USA und Japans mit ein. Die UdSSR erfuhr eine Stagnation in den 70er Jahren, doch die Schwierigkeiten, denen der US-Imperialismus, der gute Beziehungen mit der UdSSR in der ersten Phase der Detente anstrebte, gegenüberstand, überdeckten das Problem. Breschnew zerschlug die Dissidenten daheim und schien fähig, die Sowjetmacht und den Einfluß in Afrika und der Karibik auszuweiten.

Vom kalten Krieg zur Krise des Stalinismus

Unter Reagan griff die USA auf eine erprobte Taktik zurück: Kalter Krieg und Aufrüstung – eine massive Runde von hochtechnologischen Waffensystemen. Sollte die UdSSR versuchen mitzuziehen, würde die bereits stagnierende Wirtschaft in eine Krise geraten. Die starke Ausbreitung der UdSSR und ihrer Verbündeten in Afghanistan, im südlichen Afrika, in Zentralamerika und Südostasien ermöglichte es den USA, sie, oder ihre Verbündeten, in kostspielige Kriege zu zwingen: Afghanistan, Kampuchea, Angola und Mozambique, Äthiopien und der Contra-Krieg in Nicaragua. Außerdem gab es durch die politisch revolutionäre Krise in Polen einen schmerzhaften Druckpunkt der USA auf den Kreml in dessen unmittelbarer Umgebung. Obwohl die Kalte- Kriegs-Rhetorik und die Bewaffnungsprogramme von Reagan und Thatcher auf sie selbst zurückfielen, indem sie in Westeuropa eine große Friedensbewegung hervorbrachten – durch deren Druck Konflikte in der NATO und zwischen der EG und den USA wegen anderer Schauplätze der Weltpolitik entstanden (besonders dem Nahen Osten und Zentralamerika) -, entwickelte sich die politische und ökonomische Krise der UdSSR noch schneller. Die sowjetische Bürokratie versuchte mit autoritärer Disziplin mit der Korruption aufzuräumen. Sie kam nicht weit. Die Krise intensivierte sich und brachte die radikalere Fraktion rund um Gorbatschow an die Macht. Diese ist entschlossen, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen und mehr kapitalistische Marktmechanismen einzuführen.

Sowohl Glasnost Öffnung) und Perestroika (Umbau) sind drastische, in der Tat verzweifelte Mittel der Bürokratie, Mittel, die ihr ganzes System der Gefahr des Zerfalls aussetzen. Die größere Offenheit ermöglichte es nationalen Unzufriedenheiten und Widersprüchen, in der Form „sozialer Massenbewegungen“ der nationalen Minderheiten hervorzubrechen. Sie öffnete die sowjetischen Massen gegenüber dem westlichen bürgerlichen Einfluß, sei es nun Liberalismus, chauvinistischer Nationalismus oder verschiedene Formen von religiösem Obskurantismus. Dies erlaubte es, daß die soziale Konterrevolution zu einer realen Gefahr wurde. Die internationale Bourgeoisie setzt in eine solche Entwicklung große Hoffnungen und sieht darin die Möglichkeit eines langfristigen Auswegs aus den sich verschärfenden Widersprüchen des kapitalistischen Systems. Aber die anhaltende Schwächung der bürokratischen Kontrolle kann ebenso zu einem Wiederaufleben von subjektiv anti-kapitalistischen Strömungen, wie Anarchismus, Populismus, Sozialdemokratie führen und, allem voran, zu einer Wiedergeburt des revolutionären Kommunismus (Leninismus und Trotzkismus). Gorbatschow hat dabei versagt, die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse zu verbessern. Gleichzeitig hat er ihre historischen Errungenschaften attackiert. Dies schafft die objektive Basis für die Wiederauferstehung der Arbeiterbewegung in der Sowjetunion. Wenn die politische Revolution beginnt, die Grundmauern des Kremls zu erschüttern, wird nicht nur die UdSSR, nicht nur die degenerierten Arbeiterstaaten, sondern die ganze Weltordnung zu wanken beginnen.

Die führenden imperialistischen Länder sind in Bezug auf die sozialistische Revolution immer noch am meisten zurückgeblieben. Historisch waren die niedergehenden, aber immer noch mächtigen USA fähig, das US-Proletariat durch nationale und rassische Gegensätzen zu spalten und dies mit ständigen und massiven Verbesserungen des Lebensstandards ihrer aufgeblähten Arbeiteraristokratie zu verbinden. Die politische Impotenz des Proletariats, die fehlenden politischen Organisationen, sogar in einer reformistischen Form, sind ein Beweis für den Erfolg des US-Imperialismus. In Japan hat der Imperialismus ebenso den klassenweiten Widerstand durch Betriebsgewerkschaften und eine an die großen Monopole gebundene Arbeitsplatzsicherheit gespalten und gebrochen. Sogar in Westeuropa wurde der Klassenkampf, trotz der explosiven und politischen Dimensionen von Kämpfen in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren im allgemeinen innerhalb der Grenzen des reinen Gewerkschaftlertums und des elektoralen, also auf Wahlen fixierten Reformismus gehalten.

Trotz des Triumphes des Rechtskonservatismus in vielen imperialistischen Ländern und trotz der Orientierungskrise der Sozialdemokratie und des Stalinismus liegt eine revolutionäre Wiederbelebung der Arbeiterbewegung noch vor uns. Aber die objektive Grundlage der sozialistischen Revolution liegt noch immer in der Arbeiterklasse, einer Klasse, die zahlenmäßig über die letzten 40 Jahre gewachsen ist und nun – als ein Ergebnis der Entwicklung der lateinamerikanischen und asiatischen Halbkolonien – weltweit gleichmäßiger verteilt ist. Eine Milliarde stark und von einem Kern aus über hundert Millionen Industriearbeitern geführt, ist sie die einzige Klasse mit einem objektiven Interesse an der Führung der sozialistischen Revolution.

Jetzt wo dieses Jahrhundert der Kriege und Revolutionen zu Ende geht, muß die Weltarbeiterklasse sowohl mit der Bourgeoisie als auch mit der Bürokratie abrechnen. Niemals zuvor war das Potential für die Emanzipation der Menschheit größer. In den Jahrzehnten der Krise, die vor uns liegen, muß die sozialistische Weltrevolution sowohl über den niedergehenden ausbeuterischen Imperialismus als auch über den verbrauchten Stalinismus triumphieren. Es gibt keinen anderen Weg, die Zukunft der Menschheit zu sichern.




Schule muss anders! Aber wie?

REVOLUTION, Neue Internationale 276, September 2023

Warum das Bildungssystem in einer fundamentalen Krise steckt und was wir dagegen tun können

Nach 10 Stunden Frontalunterricht mit mindestens 25 Schüler:innen in einer Klasse kommen wir nach Hause und möchten uns einfach nur noch die Bettdecke über den Kopf ziehen und raus aus dieser Scheiße. Nachdem von den Französischvokabeln, den Anaphern im Goethe-Gedicht und der mathematischen Integralgleichung kaum noch was hängengeblieben ist, scheint wenigstens eins klar zu sein: Dieses Bildungssystem ist genauso marode wie das Schulgebäude, in dem es durch die Decke tropft und in der Umkleidekabine schimmelt.

Leistungsterror als Antwort auf Unterfinanzierung

Obwohl Bildungsstreikbewegungen, Jugendorganisationen und Gewerkschaften schon seit über 10 Jahren davon reden, scheint es nun auch bei der sogenannten Allgemeinheit angekommen zu sein, dass neben Unis und Kitas vor allem auch unsere Schulen in einer fundamentalen Krise stecken. Von FAZ bis taz verdrückt die bürgerliche Presse eine dicke Krokodilsträne nach der anderen darüber, dass immer neue Vergleichsarbeiten bestätigen, dass es den Schüler:innen an elementaren Grundkenntnissen wie Rechnen, Lesen und Schreiben mangelt. Kein Wunder, denn die PISA-Studie hat bestätigt, was wir schon lange wussten: Bildungserfolg hängt in Deutschland vor allem vom Einkommen unserer Eltern ab. Und das in Deutschland in sogar noch stärkerem Maße als in Mexiko, Ungarn oder Polen. Aber anstatt das Problem der massiven Unterfinanzierung unserer Schulen anzugehen, wird uns Schüler:innen eingeredet, wir würden uns halt einfach nicht genug anstrengen und seien demnach auch selber schuld, wenn wir den ganzen Tag nur am Handy „daddeln“ (Boomersprache für „das Handy benutzen“; Boomer: über 50 Jahre alte Person, die sich über das Verhalten der Jugend  aufregt). Aber nachdem nun auch die bürgerliche Presse auf die Probleme in den schulischen Leistungen hingewiesen hat, mussten die Landesregierungen handeln. Anstatt eines Investitionspakets Bildung, der Einstellung neuer Lehrkräfte und der Bereitstellung von kostenloser Nachhilfe hat man sich gedacht: „Wenn die Schüler:innen zu faul zum Lernen sind, müssen wir halt den Druck und die Vergleichbarkeit erhöhen.“ Praktisch bedeutet das für uns eine schärfere Selektion im 3-gliedrigen Schulsystem, die Erhöhung der Anzahl von Prüfungen und eine Verkürzung der Regelschulzeit von 13 auf 12 Jahre im Rahmen des sogenannten „G8“-Abis. Corona hat diesem Prozess noch das Sahnehäubchen aufgesetzt. Der durch die Lockdowns verpasste Lernstoff soll jetzt einfach noch zusätzlich draufgepackt werden. Dieser künstlich erzeugte Leistungsdruck geht auf unsere (mentale) Gesundheit. So ist die Anzahl derer von uns, die sich in psychotherapeutischer Behandlung befinden, in den letzten 10 Jahren um mehr als das Doppelte angestiegen.

Mit Privatisierung gegen die Bildungskrise?

Obwohl die klassisch neoliberale Antwort „Der Markt wird’s schon lösen“ bereits in der Coronapandemie, der Klimakrise, der Wohnungskrise und der Inflationskrise nicht funktioniert hat, wird sie nun auch in der Bildungskrise versucht, indem auf die „unternehmerische Initiative des freien Marktes“ gesetzt wird. Praktisch heißt das: Privatisierung statt stabiler öffentlicher Ausfinanzierung. Eine Öffnung unserer Schulen für den freien Markt findet heute insbesondere unter den Vorzeichen der „Digitalisierung“ statt. Klingt ja erstmal eigentlich ganz gut, denn während der Coronapandemie haben wir gemerkt, dass weder unsere 70 Jahre alte Mathelehrer:in noch unsere 70 Jahre alte Technik für das Homeschooling bereit waren. Doch unter Digitalisierung versteht der Staat keine flächendeckenden Investitionen in eine auf Open Source basierte digitale Infrastruktur unserer Schulen, sondern eine Öffnung des öffentlichen Sektors für die Privatwirtschaft. Über Sponsoringverträge mit Softwarekonzernen kann eine Schule ein nagelneues Computerkabinett oder eine Schulcloud bekommen, wenn sie sich nur dazu verpflichtet, das Konzernlogo gut sichtbar aufzuhängen und alle weiteren Update- und Softwarepakete von derselben Firma zu erwerben. Wenn sich Schulen weigern, geht’s halt weiter mit dem Mathebuch, mit den Bildern, auf denen die coolen Kids aus den 1990ern Spaß beim Lernen haben. Doch auch die Schulbücher werden nicht vom Staat kostenlos bereitgestellt, sondern wir müssen natürlich dafür zahlen. Für die meisten Familien, die unter inflationsbedingtem Reallohnverlust leiden, ist jedoch am Monatsende kaum noch Geld für Schulbücher da. Dazu kommen dann auch noch die ganzen anderen privatisierten Kosten für Kunstmaterial, Sportzeug, Klassenfahrten, Mensaessen, Arbeitsmaterial usw. Hinzu kommt, dass wir auch mit dem ganzen neu gekauften Kram nicht lernen können, denn entweder gibt es nicht genügend Räume für alle Klassen oder die Klassenräume sind so ekelhaft, dass man lieber raus geht für den Unterricht. Bei speziellen Fachräumen mit besonderem Equipment zum Beispiel für Chemie, Physik, Informatik, Musik und Kunst sieht die Lage noch schlimmer aus. Sportunterricht kann teilweise nicht stattfinden, weil es im Winter keine beheizten Hallen gibt. Ein Grund für den massiven Unterrichtsausfall ist also auch der Mangel an Räumen. Auch wenn Unterrichtsausfall erst einmal immer nach mehr Spaß und Freizeit klingt, heißt das im Umkehrschluss, dass diese ausgefallene Unterrichtszeit privatisiert wird, indem sie nach Hause verlagert wird. Eigentlich praktisch, denn da muss der Staat weder Wasser noch Heizung noch Miete noch Personal bezahlen. Meistens passiert das durch die Berge von Hausaufgaben, die eigentlich nur ins Private verlagerte Unterrichtszeit darstellen. Dasselbe gilt für „Online-Unterricht“, der uns dann auch als Schulung digitaler Kompetenzen schmackhaft gemacht werden soll.

Angriffe auf die Arbeitsbedingungen von Lehrkräften

Nicht nur aus uns Schüler:innen wird versucht, alles Verwertbare auszupressen, auch aus unseren Lehrer:innen. Diese sollen bei gleichbleibendem Lohn nun immer mehr Schüler:innen in einer Klasse unterrichten und immer mehr zusätzliche Aufgaben wie Inklusion, Digitalisierung, Berufsorientierung und Verwaltung übernehmen. Kein Wunder, dass laut einer Studie der Bildungsgewerkschaft GEW über ein Drittel unserer Lehrer:innen im Laufe ihrer Berufslaufbahn ein Burnout oder Anzeichen dafür entwickeln. Immer weniger Menschen wollen diesen Job machen, so dass es in den letzten 10 Jahren bis zu 14 Prozent weniger Lehramtsstudiumsabsolvent:innen gab. Für uns wird das am massiven Unterrichtsausfall deutlich und daran, dass das Wort „Vertretungsunterricht“ aus dem Stundenplan in die Geschichtsbücher geflüchtet ist. Prognosen nehmen an, dass aktuell bis zu 100.000 Lehrkräfte fehlen. Für unsere Lehrer:innen heißt das, dass sie die Arbeit von den fehlenden 100.000 Lehrkräften zusätzlich tragen müssen und das natürlich zum gleichen Lohn.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Neben der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für Lehrkräfte spielt auch die Demographie eine wichtige Rolle: So gehen aktuell die geburtenstarken Jahrgänge der sogenannten „Babyboomer“ in Rente, während die geburtenschwachen Millennials jetzt in das Berufsleben eintreten und zahlenmäßig nicht ausreichen, um die Pensionierungswelle der Boomer auszugleichen. Hinzu kommt, dass die jetzt eingeschulten Jahrgänge wieder angewachsen sind durch stärkere Geburtenraten und Migration aus der Ukraine. Während die Bildungsstreikbewegung und die GEW diese Entwicklung bereits Anfang der 2000er Jahre prognostiziert haben, haben Land und Bund das Problem systematisch kleingerechnet und als „unnötige Panikmache“ abgetan. Das ist nun nicht mehr so leicht möglich. So hat die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusminister:innenkonferenz (kurz KMK, hier treffen sich die Verantwortlichen für Bildung und Kultur aller Bundesländer) ein Papier veröffentlicht, das bestätigt, dass es einen massiven Lehrkräftemangel in Deutschland gibt. Man könnte jetzt denken, dass die Landesregierungen sich nun Maßnahmen überlegen, wie man wieder an mehr Lehrkräfte kommt, um uns Schüler:innen unser verfassungsmäßig verbrieftes Recht auf Bildung zu gewähren. Doch die dafür nötigen 100 Milliarden werden für die Bundeswehr gebraucht. Also hat die KMK Vorschläge erarbeitet, nicht wie unsere Schulen an mehr Lehrer:innen kommen (denn das kostet Geld), sondern wie sie mit weniger Lehrer:innen besser zurechtkommen können. Die dort vorgeschlagenen Maßnahmen sind eine dicke Schelle ins Gesicht von uns allen: Die Klassengröße soll erhöht werden, pensionierte Lehrer:innen sollen aus dem Ruhestand zurückgeholt werden, die Pflichtzahl an wöchentlichen Unterrichtsstunden für Lehrkräfte soll erhöht werden und durch Online-Unterricht soll eine Lehrkraft mehrere Klassen gleichzeitig unterrichten können. Und das ist keine dunkle Fantasie einer dystopischen Hölle: In NRW, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt wurden Teile davon sogar schon umgesetzt. In Berlin wird derweil laut darüber nachgedacht, angeblich weniger wichtige Fächer wie Geschichte, Politik, Ethik, Sport, Musik und Kunst einzukürzen.

Lasst uns unsere Schulen zurückholen!

Dass wir in einer tiefen Bildungskrise stecken, müssen wir nicht mehr diskutieren, das sieht mittlerweile auch die FDP ein. Offen bleibt nur, wer die Kosten dieser Krise zahlen soll. Sind es wir Schüler:innen durch mehr Leistungsterror, größere Klassen und schärfere Selektion oder Regierungen und Kapital, die tiefer in die Tasche greifen müssen, um Geld für unsere Bildung lockerzumachen. Ersteres zu verhindern und Zweiteres zu erreichen, stellt den zentralen Kampf dar, den wir führen müssen. Krise heißt ebenso wie beim Klima oder der Wirtschaft auch immer Potenzial für eine Bewegung dagegen.

Einen Ansatzpunkt dafür bietet der Aktionstag von „Schule muss anders“ (SMA) am 23.9.! Wir unterstützen die Hauptforderungen der Initiative nach 1. kleineren Klassen, 2. mehr Investitionen in die Bildung, 3. multiprofessionellen Unterrichtsteams und 4. einer unabhängigen Beschwerdestelle gegen Diskriminierung zu 100 Prozent und schließen uns mit allen unseren Ortsgruppen der Aktion an. Doch gehen uns diese Forderungen noch nicht weit genug. Um die Dynamik des Aktionstages zu nutzen und weitere Schritte im Aufbau einer bundesweiten Bildungsbewegung zu gehen, müssen wir die 4 Forderungen von SMA in unseren Schulen diskutieren und erweitern. Wir brauchen dafür Vollversammlungen der gesamten Schüler:innenschaft und Komitees an den einzelnen Schulen, die weitere Forderungen erarbeiten. Indem wir unsere Forderungen auf Schilder schreiben, auf dem Protesttag lautstark vertreten und vor allem in die Schule durch kleinere Aktionen und Versammlungen hineintragen, können wir verhindern, dass wir auf ewig ignoriert und totgeschwiegen werden. Beispiele für sinnvolle Forderungen in Ergänzung zu SMA könnten die folgenden sein:

  • Kostenloses und ökologisches Mensaessen! Selbstverwaltete Speisepläne von uns Schüler:innen!
  • Bildung eines Kontrollausschusses aus Schüler:innen, Eltern und Lehrer:innen, der eine Maximalgrenze für Hausaufgaben festlegt!
  • Gegen jede Einflussnahme auf und Präsenz der Bundeswehr an unsere/n Schulen!
  • Für die Möglichkeit, den Namen und Geschlechtseintrag in der Schule einfach und unbürokratisch zu ändern! Schluss mit Deadnames auf der Klassenarbeit!
  • Von Schüler:innen selbstorganisierte Freiräume, die in den Pausen für alle frei zugänglich sind, an jeder Schule!
  • Für eine flächendeckende Modernisierung und energetische Sanierung aller Schulgebäude sowie ihrer Heizungs-, Wasser- und Belüftungssysteme! Bezahlt werden soll das von denen, die vom Krieg und den steigenden Energiepreisen profitieren!
  • Für eine demokratische Kontrolle des Lehrplans durch Schüler:innen, Eltern, Lehrer:innen und Organisationen der Arbeiter:innenklasse! Wir bestimmen selbst, was wir lernen wollen!
  • Schluss mit dem 3-gliedrigen Schulsystem! Eine Schule für alle und Abschaffung aller Privatschulen!
  • Für den Aufbau einer Schüler:innengewerkschaft und ein volles Streikrecht für Schüler:innen, damit wir Verbesserungen erkämpfen können!

Die Forderungen von SMA sind nur der Ausgangspunkt, von dem aus wir uns fragen müssen, wessen Schulen das eigentlich sind. Es sind unsere Schulen, denn es sind wir und nicht Bettina Stark-Watzinger (Bundesbildungsministerin, FDP), die unter zu großen Klassen leiden. Es sind wir Schüler:innen, Lehrer:innen, Sozialarbeiter:innen und Schulpsycholog:innen, die diese Bildungskrise ausbaden müssen. Dann sollten wir doch auch darüber entscheiden können, wie viele Schüler:innen in einer Klasse erträglich sind. Wir wollen nicht in einem Geschichtsunterricht sitzen, in dem einfach nicht über deutsche Kolonien gesprochen wird. Wir wollen im Sexualkundeunterricht auch etwas über nicht-heterosexuellen Sex lernen. Wir wollen an einem Ort lernen, den wir auch selbst gestalten dürfen. Und das zusammen mit unseren Friends, auch wenn ihre Eltern Toiletten putzen oder kein Deutsch sprechen.

Dafür gehen wir nicht nur selbst zum SMA-Aktionstag, sondern fordern alle linken Jugendorganisationen von [’solid], den Jusos, bis hin zur SDAJ und Young Struggle auf, sich daran zu beteiligen. Und zwar nicht nur symbolisch mit Fahne, sondern durch die Mobilisierung der kompletten Basis. Die von SMA geforderte Bildungskonferenz bietet einen wichtigen Ansatzpunkt, wo wir unsere Forderungen miteinander diskutieren und weitere Aktionen gemeinsam planen können. Ebenso gilt es, den Schüler:innenprotest mit dem der Lehrer:innen zu verbinden. In Berlin streiken Lehrer:innen bereits seit über einem Jahr für kleinere Klassen und einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz. Diesen Kampf gilt es, durch eine Unterstützung ihrer Streiks gemeinsam zu führen und außerhalb Berlins durch Diskussionen mit der GEW auszuweiten. Ebenso wird im Oktober in der Tarifrunde der Länder über die Höhe des Lehrer:innenlohns verhandelt. Auch bei diesen Streiks im gesamten Bundesgebiet braucht es unsere Solidarität und unsere Initiative, um weitere Aspekte der Bildungskrise und eine volle Ausfinanzierung unserer Schulen in die Debatte zu tragen. Darüber hinaus gilt es, den Protest gegen die Bildungskrise mit den aktuellen Bewegungen rund um die Klimakrise zu verbinden, denn betreffen tun uns beide und ihre kapitalistische Ursache ist dieselbe! Lasst uns gemeinsam für eine Zukunft kämpfen, in der die Schulen uns gehören!




Kampf der Homo-, Inter- und Transphobie weltweit!

Arbeiter:innenmacht-Rede bei der Kundgebung #idahobit in Berlin am 17. Mai, Infomail 1223, 18. Mai 2023

Der Kampf für die Rechte von Lesben und Schwulen, von bi, inter und trans Personen stellt weltweit für uns alle eine zentrale Aufgabe im Kampf gegen Unterdrückung dar.

Noch heute werden in 69 Staaten – also rund einem Drittel aller Länder der Erde – LGBTIA+-Personen allein wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität strafrechtlich verfolgt. In 11 Ländern droht Homosexuellen bis heute die Todesstrafe.

Doch auch in den meisten Ländern, wo LGBTIA+-Personen nicht direkt kriminalisiert werden, werden sie rechtlich benachteiligt, wenn es um die Anerkennung von Partner:innenschaften oder ihrer Geschlechtsidentität geht. Gerade trans Personen werden auch hier systematisch im Alltag diskriminiert, leiden verstärkt unter sozialer Ausgrenzung und ihren Folgen, haben schlechtere Chancen am Arbeitsmarkt, geringere Einkommen.

In den letzten Jahren wurden zwar einige rechtliche Fortschritte und mehr Sichtbarkeit erkämpft, aber wir wissen: Von echter Gleichstellung sind wir noch weit entfernt. Mehr noch: In vielen Ländern – darunter in den auch ach so fortschrittlichen Demokratien wie den USA – findet ein Rollback auf etlichen Ebenen statt. Auch wenn es in den USA rechtliche Verbesserungen gab, so wurden vor allem in zahlreichen von den Republikaner:innen dominierten Staaten allein seit Beginn 2023 467 Gesetzesentwürfe eingereicht, die sich gegen LGBTIA+-Personen richten.

Michael Knowles, ein Sprecher der US-amerikanischen Konservativen, formuliert das Ziel mit einer reaktionären Offenheit, die deutlich macht worum es geht. Zitat: „Trans muss aus dem öffentlichen Leben vollständig ausradiert werden.“

Viele reaktionäre Gesetze richten sich gegen die Anerkennung der Geschlechtsidentität von Jugendlichen. Es geht dabei darum, ihnen jegliche Unterstützung zu versagen, was auch heißt, Eltern zu kriminalisieren oder das Sorgerecht zu entziehen, die ihren Kindern medizinische oder psychotherapeutische Unterstützung ermöglichen wollen.

Dafür nehmen Rechte, die sich ansonsten gern als „Lebensschützer:innen“ inszenieren, billigend Leiden und Ausgrenzung in Kauf.

Ein Blick in die USA – aber im Grund in jedes Land – verdeutlicht auch, wie eng die Unterdrückung von trans Personen mit der sozialen Frage verbunden ist. In den Vereinigten Staaten leben 29 % aller trans Personen in Armut gegenüber 14 % im Durchschnitt der Bevölkerung. Nach Untersuchungen waren rund 20 % aller jugendlichen LGBTIA+- Personen mindestens obdachlos (gegenüber 3 % aller Cisjugendlichen).

Doch was dagegen tun?

Wir müssen für unseren Kampf gleich mehrere Schlüsse ziehen:

Erstens findet die Unterdrückung von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität nicht zufällig statt. Sie bleibt bis heute ein wichtiger Bestandteil aller Unterdrückung im Kapitalismus.

Zweitens bildet der Angriff auf LGBTIA+-Personen ein wesentliches Merkmal des Programms reaktionärer Regime und des globalen Aufstiegs von rechten, populistischen bis hin zu faschistischen Organisationen, oft in Verbindung mit reaktionären religiös-fundamentalistischen Kräften jeder Art.

Drittens hat die Vergangenheit gezeigt, dass wir uns auf bürgerliche Regierungen und Kräfte nicht verlassen können. Ihre Reformen sind allenfalls halbherzig. Vor allem aber bieten sie keinen Schutz gegen das nächste rechte Rollback und ändern nichts am grundlegenden Problem.

Viertens sind Menschen aus der Arbeiter:innenklasse, rassistisch Unterdrückte und Jugendliche besonders betroffen. Armut und Ausbeutung treffen sie härter und somit ist der Kampf gegen Unterdrückung auch eine soziale Frage, gerade wenn es um Löhne, Einkommen, Wohnen und medizinische Versorgung geht.

Lasst uns also nicht dabei stehenbleiben, uns an den Angriffen der Rechten abzuarbeiten! Lasst uns in die Offensive gehen und eine Bewegung aufbauen, die den Kampf gegen die rechte Gewalt und das Rollback mit dem für Verbesserungen von LGBTIA+-Personen weltweit verbindet! Ob nun in den USA oder auch anderen Ländern wie Pakistan oder hier in Deutschland, wo die CDU auf die Hetze gegen queere Kultur aufspringt.

Statt nur darauf zu warten, ob mehr Bundesstaaten wie Florida sexuelle Selbstbestimmung aus den Schulen verbannen, brauchen wir die Aufhebung aller diskriminierenden Gesetze an Schulen, Arbeitsplätzen und im öffentlichen Leben!

Statt stumm zusehen zu müssen, wie die Programme, die es gibt, gestrichen werden, lasst uns gemeinsam dafür kämpfen, dass Geschlechtsangleichungen kostenlos und ohne bürokratischen Aufwand stattfinden können. Statt Konzepten wie „Ehe für alle“ brauchen wir die rechtliche Gleichstellung aller Lebensgemeinschaften.

Statt die Hetze der Rechten ertragen zu müssen, immer mehr Gewalt und Polizeikontrollen zu erleiden, brauchen wir demokratisch organisierte Selbstverteidigungskomitees zusammen mit der Arbeiter:innenklasse!

Um erfolgreich zu sein, müssen wir den Kampf dorthin tragen, wo wir lernen, studieren, arbeiten – an die Schulen, Unis und in die Betriebe. Wir müssen dafür kämpfen, dass Schüler:innenvertretungen, Betriebsräte und Gewerkschaften den Kampf aufnehmen – gegen Diskriminierung, Homo-, Inter- und Transphobie, aber auch reaktionäre Einstellungen unter Jugendlichen und Arbeiter:innen.

Das machen wir am besten, indem wir unsere Forderungen mit denen von anderen verbinden und gemeinsam für höhere Mindestlöhne oder kostenlosen Zugang zum Gesundheitssystem für alle wie in den USA eintreten und gleichzeitig gegen die Wurzel des Problems kämpfen: den Kapitalismus.

Lasst uns also den Kampf für eine sozialistische Gesellschaft frei von jeder Ausbeutung und Unterdrückung gemeinsam aufnehmen! Für eine Welt, in der das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper, über die eigene sexuelle Orientierung, über die eigene Geschlechtsidentität zur Selbstverständlichkeit wird!