Wir sind alle linx: Rechte und staatliche Gewalt gemeinsam stoppen!

Jaqueline Katherina Singh, Infomail 1224, 5. Juni 2023

Am Mittwoch, dem 31. Mai, wurde die Antifaschistin Lina E. zu mehr als 5 Jahren Haft verurteilt. Weitere Angeklagte erhielten mehrjährige Haftstrafen. Das Urteil ist ein Hohn, der Prozess ein politischer Schauprozess. Er soll mahnen und zeigen, wer hier die Oberhand hat und was passiert, wenn man sich gegen die politische Rechte in Deutschland wehrt. Ähnlich rabiat wurde mit den Solidaritätsprotesten verfahren: Die Versammlungsfreiheit wurde einfach mal so eingeschränkt. Hunderte wurden gekesselt und werden nun des schweren Landfriedensbruchs beschuldigt. Handys wurden eingesackt und obendrauf gab’s noch Polizeigewalt und Repression, die nicht für alle kostenlos sein wird.

Die Frage der Selbstjustiz

Unter dem Hashtag #LinaE wurde tausendfach getwittert. Ganz vorne mit dabei: Liberale und Bürgerliche wie Bundesjustizminister Marco Buschmann von der FDP, die uns erklären wollen, dass rechte Gewalt ja schlimm ist, die „Selbstjustiz“ von Lina aber gar nicht gehe. Und da sind dann eben solche Urteile gerecht. Dass die Verurteilung wesentlich auf der sog. „Kronzeugenregelung“ basiert, die weniger der „Wahrheitsfindung“ dient, wohl aber Denunziation durch Interessen geleitete und zweifelhafte Aussagen fördert, findet keine Erwähnung. Dass bei der Indizienlage das Prinzip „Im Zweifel für die Angeklagte“ keine große Rolle gespielt hat, wird halt unter den Tisch gekehrt. Im Verfahren reicht es mitunter, eine „weibliche“ Stimme zu haben, um als Täterin identifiziert zu werden.

Doch darüber hinaus stößt etwas auf. Man möchte in die unendlichen Weiten des Internets schreien, dass es alle Buchstaben durcheinanderwirbelt: Wer von Selbstjustiz gegen Faschist:innen redet, aber von rechter Gewalt sowie dem Unwillen des deutschen Staates, diese zu verurteilen, schweigt, sollte einfach mal die Fresse halten.

Was geschah, als der NSU mehr als 10 Menschen ermordet hat? Was war, als vor 2 Jahren der Faschist einen Journalisten angegriffen hat? Was passierte in Hanau? Das war rechte Selbstjustiz und der Spruch im Kopf hallt: „Wo, wo, wo wart ihr in Rostock? Wo, wo, wo wart ihr in Hanau?“

Wer also über Linas Selbstjustiz redet, aber sonst über rechte Gewalt schweigt, der macht klar, dass migrantische Leben weniger wert sind. Macht klar, dass die Wohnungslosen, die angezündet wurden, halt einfach Kollateralschäden sind. Wer glaubt, dass „linke“ Gewalt schlimmer ist als rechte, legitimiert Gewalt und Tod von uns, die wir nicht ins Weltbild der Faschist:innen passen. Und es ist auch irgendwo klar, warum gegen Lina E. gehetzt wird. Denn wer sich gegen rassistische Gewalt wehrt, wehrt sich irgendwann auch gegen die, die der bürgerliche Staat tagtäglich in Form von Abschiebungen, Arbeitsverboten, Racial Profiling und Armut ausübt. Und wo würden wir da nur hinkommen, wenn man aufhören würde, in Hufeisenform zu denken? Man würde sehr schnell zur Erkenntnis gelangen, dass der bürgerliche Staat schlichtweg wenig Interesse hat, rassistische Morde und rechte Gewalt zu bekämpfen – weil er selber Rassismus reproduziert.

Antifa ist Handarbeit: Was braucht es?

Nein, die Perspektive sollte nicht sein, dass wir alle in den Baumarkt rennen und Hämmer kaufen. Sie kann auch nicht darin bestehen, dass für jede weitere Haftstrafe, die im Zusammenhang mit den Tag-X-Protesten verhängt wird, noch mehr Sachschäden verursacht werden. Das hilft nicht gegen die rechte Gewalt und auch nicht gegenüber der Ohnmacht, die viele von uns erleben. Die Wut in Bahnen lenken, heißt, sich aktiv Gedanken zu machen, wie wir eine gesamtgesellschaftliche, eine Klassenperspektive aufwerfen können gegenüber Faschist:innen und staatlicher Gewalt.

Wenn wir schlagkräftig auftreten wollen, dann reicht es nicht nur, wenn diejenigen stellvertretend handeln, die sportlich, kräftig und mutig genug sind, Rechte in ihre Schranken zu weisen. Unsere Aufgabe muss es sein, demokratisch organisierte Selbstverteidigungskomitees aufzubauen, die flächendeckend agieren können. Das ist nur möglich, wenn es mit Rückhalt von breiteren Teilen der Bevölkerung – und das heißt vor allem der Lohnarbeiter:innen – passiert. Denn Einzelaktivist:innen, die machen natürlich einen Unterschied, können aber auf Dauer kein gesellschaftliches Kräftemessen gewinnen. Denn man muss ja nicht nur gegen Rechte, sondern auch gegen den bürgerlichen Staat kämpfen. Und vor allem heißt Antifaschismus und -rassismus, die Ursachen zu bekämpfen, die sie immer wieder hervorbringen.

Deswegen müssen wir uns fragen: Wie kommen wir aus der Situation der Schwäche, wo rechte Positionen spätestens seit 2015 salonfähig sind, heraus? Wie können wir die Debatte umdrehen und aus der Defensive kommen?

Perspektive: 2 Kampagnen, ein Weg

Die Kunst liegt darin, Forderungen aufzustellen, die eine/n aus der Defensive bringen und gleichzeitig unterschiedliche Kämpfe miteinander verbinden. Das bedeutet leider auch, dass man sich anschauen muss, was die aktuelle politische Lage prägt. Ich hätte gerne eine Kampagne für offene Grenzen, Staatsbürger:innenrechte für alle und Selbstverteidigungskomitees, weil dies schon mehr als notwendig ist, als es 2014/2015 war, als die Proteste gegen die Festung Europa und gegen die AfD noch Zehntausende auf die Straße gebracht haben, aber in Chemnitz Menschen von Faschist:innen gejagt wurden. Ich hätte sie gerne, denn ich bin mit den Schulstreiks gegen Rassismus politisiert worden, die in Solidarität mit den Geflüchteten des Oranienplatzes in Berlin oder der Gerhart-Hauptmann-Schule stattfanden. Doch die politische Lage ist vom Rechtsruck geprägt, aber nicht nur durch die zunehmende rechte Gewalt oder innere Militarisierung, sondern die Inflation und den Krieg. Aber was heißt das in der Praxis?

1. Kampf gegen Krise ist ein Kampf für uns alle

Entgegen manch populistischer Ansichten muss, ja darf man Antirassismus nicht aussparen oder gar explizit chauvinistische Hetze betreiben, um Leute für eine Bewegung zu begeistern. Für höhere Löhne, gegen Aufrüstung und Waffenlieferungen – all das geht, ohne bei der AfD fischen gehen zu müssen. Auf der anderen Seite darf man aber auch keine Angst haben und erst gar nicht zu Aktionen gehen, weil ja Rechte da sein könnten. Rechtspopulist:innen und Faschist:innen kann man aus Demos schmeißen und damit klar Stellung beziehen.

Darüber hinaus müssen wir beim Aufbau einer Antikriegs- und -krisenbewegung klar Stellung beziehen: Offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte sollten nicht nur für ukrainische Geflüchtete gelten, sondern für alle, die fliehen müssen. Sei es, weil Kriege Länder verwüsten oder die Inflation die Preise so hoch schießen lässt, dass man sich nichts mehr zu essen kaufen kann, oder seien es andere Gründe zu fliehen. Wir ziehen keine Trennlinie. Auch nicht im Kampf dafür, dass Löhne an die Inflation angepasst werden sollten. Bei Streiks oder sonstigen Protesten gegen die Inflation müssen wir dafür eintreten, dass Geflüchtete in die Gewerkschaft eintreten können, von unseren Kämpfen profitieren – und auch als Aktivist:innen eingebunden werden können. Nur wenn wir so gemeinsame Kämpfe schaffen mit den Beschäftigten, Aktivist:innen und Geflüchteten können wir existierende Vorurteile abbauen. Dabei machen es Klimaaktivist:innen vor, die zu den Beschäftigten in Betriebe gehen und das Gespräch suchen. Denn im Rahmen von solchen Bewegungen können Vollversammlungen an Schulen, Unis und in Betrieben stattfinden, wo wir in Debatten gemeinsam Verbindungen eingehen können.

Darüber hinaus muss die Linke in Deutschland sich einer weiteren Frage annehmen:

2. Gemeinsamer Kampf für demokratische Rechte

Was haben die Letzte Generation, Lina E. und die Palästinaproteste gemeinsam? Sie alle sind einer medialen Hetzkampagne sowie staatlicher Repression ausgesetzt worden. Die sonst so hochgelobten demokratischen Grundrechte wurden eingeschränkt. Man möchte fragen: Und das ist die angebliche Freiheit des Westens, die in Kiew verteidigt wird? Die Freiheit, die Klimaaktivist:innen in Präventivhaft schickt und in der Münchner Innenstadt das Mitführen von Sekundenklebern verbietet? Die Freiheit, die Antifaschist:innen zu 5 Jahren verurteilt, während Mithelfer:innen beim NSU, die mehrere Menschen ermordet haben, weniger bekommen haben? Die Freiheit, die einfach mal Tausend Menschen für rund 11 Stunden kesselt und versucht, politische Äußerungen zu unterbinden?

Da wird klar: Tolle Freiheit, aber definitiv nicht unsere. Denn ob beim Kampf gegen Umweltzerstörung, Faschismus oder die Interessen des deutschen Imperialismus: Sobald die eigene Ansicht nicht mehr deckungsgleich mit der des bürgerlichen Staats ist, kann es für Aktvist:innen unbequem werden. Das bedeutet für die Praxis: Die Verteidigung demokratischer Grundrechte wie das Demonstrations- und Versammlungsrecht – oder im Falle der EVG das zu streiken – wird in Zukunft eine größere und bedeutendere Rolle einnehmen. Und das heißt eben auch, dass man zwar auf Gerichtsurteile warten kann – aber viel Hoffnung sollte nicht reingesteckt werden, sondern vielmehr in den Willen, dass es auch Momente gibt, in denen sich Organisationen zusammenschließen und absprechen müssen, um gewisse Grundrechte praktisch durchzusetzen.

Organisation statt Einzelkampf

Antifaschismus, Antirassismus und Antikapitalismus können nur erfolgreich sein, wenn sie Hand in Hand gehen. Das heißt: Einzelkampagnen sind sinnvoll, um zu versuchen mehr Menschen zu erreichen und die Kräfte für ein Ziel zu bündeln, aber letzten Endes braucht es eine Organisation, die nicht nur unterschiedliche Kampagnen organisiert und dadurch miteinander verbindet, dass man Kampagne X bei Kampagne Y vorstellt und sich dann dafür feiert. Doof in Zeiten der Krise der Linkspartei und der radikalen Linken. Viele, die in den letzten Jahren aktiv gewesen sind, haben eher das Gefühl bekommen, dass alles wegbricht (weil auch alles ein bisschen eingebrochen ist). Statt also zu sagen, dass es weitergehen muss wie bisher (vielleicht mit ein bisschen mehr Methoden wie Mapping oder mit weniger Inhalt, um sich nicht noch mehr zu streiten), braucht es innerhalb der Linken eine politische und inhaltliche Diskussion darüber, was revolutionäre Klassenpolitik, revolutionäres Programm, revolutionäre Organisation heute bedeuten und wie wir sie konzipieren und aufbauen können. Es braucht, Mut neue Wege auszuprobieren, anstatt alte Fehler zu wiederholen. Ansonsten fehlt die Kraft, obige Bewegungen zu schaffen und mehr Teile der Bevölkerung anzusprechen.  Denn sowas fällt nicht vom Himmel oder passiert zur „richtigen Zeit“ von alleine, sondern wird auch durch Organisationen vorangetrieben und aufgebaut. Passiert das nicht, bleiben Wut und Ohnmacht zurück – und ein Staat, der voranschreitet, seine Meinung durchzusetzen, sowie eine Rechte, die immer aggressiver wird. Also lasst uns gemeinsam vorwärtsgehen!




Interview zur Lage in Kurdistan

Interview mit Gulistan, Verband von Frauen aus Kurdistan in Deutschland, Infomail 1223, 27. Mai 2023

Morgen, am 28. Mai, findet die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen in der Türkei statt. Das folgende Interview wurde bereits vor der ersten Runde gemacht. Es kann daher nicht auf den Ausgang des ersten Wahlgangs eingehen, wirft aber ein deutliches Licht auf das Erdogan-Regime, seine Verbindungen zum westlichen Imperialismus und die Lage in Kurdistan. Auch wenn wir nicht alle Positionen der Interviewten teilen, so halten wir es für notwendig, authentische Berichte auch auf dieser Seite zu verbreiten.

Wir haben Gulistan von YJK-E (Verband von Frauen aus Kurdistan in Deutschland) zu einem Gespräch getroffen. Sie ist in München geboren, aber ihre Wurzeln liegen in den von der Türkei besetzen Gebieten in Nordkurdistan.

Sie bezeichnet sich selbst als Aktivistin für Frauen- und Menschenrechte.

arbeiter:innenmacht: Was ist es für eine Struktur, in der du aktiv bist? Welchen Austausch gibt es mit Kurd:innen international?

Gulistan: Unser vollständiger Name lautet „Verband von Frauen aus Kurdistan in Deutschland e. V.“. Wir kurdischen Frauen sind bundesweit mit lokalen Vereinen in jeder größeren Stadt als YJK-E vertreten. International gehören wir der Dachorganisation „Kurdische Frauenbewegung in Europa“ an. Als Verein sind wir außerdem Teil der TJK-E.

Unsere Frauenstrukturen sind zwar größtenteils kurdisch, aber auch offen für Frauen türkischer Herkunft und alle, die sich einbringen möchten.

In München haben wir etwa 20 aktive Mitglieder, die kurdische Community ist jedoch wesentlich größer. Unser Verein ist hier gut vernetzt und beteiligt sich u. a. an Bündnissen zum 8. März oder 25. November (Tag gegen Gewalt an Frauen und Mädchen), aber auch an weiteren Aktionen mit Bezug zu frauenpolitischen Themen.

Einmal im Jahr treffen sich unsere lokalen bzw. nationalen Verbände zu einer internationalen Konferenz. Dieses Jahr fand sie in Hamburg statt und fast die ganze Welt war zugegen, was uns wegen der teils schwierigen Lage vor Ort besonders freut.

Einen weiteren Schwerpunkt bildet unsere Öffentlichkeitsarbeit mit Fokus auf Kurdistan und hier insbesondere Rojava.

arbeiter:innenmacht: Rojava ist vielen Aktivist:innen in Deutschland ein Begriff. Bitte schildere uns aus deiner Sicht, durch was es sich auszeichnet!

Gulistan: In Rojava, bestehend aus den 3 Kantonen Efrîn, Kobanê und Cizîrê, wird Basisdemokratie gelebt!

Die Schriften Abdullah Öcalans bilden die Grundlage unserer politischen Arbeit. Die von ihm formulierten Thesen zu (Basis-)Demokratie und Alternativen zum Kapitalismus, Frauenbefreiung und Ökologie bilden auch die 3 Säulen, die beim Aufbau und im Kampf um Rojava eine zentrale Rolle einnehmen.

Trotz des anhaltenden Krieges der Volksverteidigungseinheiten YPG und YPJ gegen den IS und den türkischen Staat ist eine autonome Region entstanden, die als eine Art Räterepublik konzipiert und nach dem Prinzip des demokratischen Konföderalismus aufgebaut ist. Das bedeutet, dass jede/r stimmberechtigt ist, um die jeweilige Kommune nach seinen/ihren Bedürfnissen aufzubauen, frei von jeder Machtherrschaft. Die Menschen stimmen z. B. über Wasserversorgung oder Weizenanbau ab, was in dieser Region (über)lebenswichtigen Entscheidungen gleichkommt.

Im täglichen Leben der Menschen vor Ort zeigt sich dabei auch die Verbindung politischer und ökologischer Fragestellungen. Efrîn z. B. verfügt über mediterranes Klima und ist daher besonders für den Anbau von Oliven geeignet. Deshalb wurde die Entscheidung getroffen, dort Kooperativen zu gründen. Die vorhandenen Ressourcen werden mit Rücksicht auf die Natur genutzt, nach den Bedürfnissen der Menschen anstatt wie in der kapitalistischen Verwertungslogik durch Ausbeutung von Mensch und Natur unter Profitzwang.

In Sachen Frauenbefreiung hat unsere Revolution schon früh begonnen. Bereits in den 1980er Jahren, kurz nach Gründung der PKK, haben sich Mädchen, die nicht wie vorgesehen verheiratet werden wollten, dem Kampf angeschlossen. Es entstand eine Bewegung, die wiederum eine eigene Dynamik entwickelt und Frauen dazu gebracht hat, Forderungen nach Selbstbestimmung zu formulieren. Schon Öcalan hat dazu formuliert und aufgerufen, dass Frauen sich eigenständig organisieren. Zusätzlich zu den eigenen Strukturen haben wir kurdischen Frauen uns auch in Seminaren ideologisch gebildet und führen nun seit mehr als 40 Jahren den Kampf weiter, den unsere Schwestern begonnen haben.

Uns ist es wichtig, Sichtbarkeit zu schaffen und zu verdeutlichen, warum dieser Kampf Menschen und besonders Frauen weltweit betrifft und deshalb interessieren sollte.

Im Kampf der Frauen in Iran wird deutlich, was auch Öcalan bereits formuliert hat: „Jin – Jiyan – Azadi“ ist für uns nicht nur ein Slogan, sondern eine Lebensweise, Lebenseinstellung, eine grundsätzliche Haltung.

Der Befreiungskampf in und um Rojava steht für uns deshalb stellvertretend für alle emanzipatorischen Bewegungen und soll ein Exempel statuieren, indem er Aufmerksamkeit für die gesamte Weltregion erzeugt.

arbeiter:innenmacht: Welche Auswirkungen hatte das schwere Erdbeben in der Türkei und in Syrien? Es gab eine große Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft, auch aus Deutschland.

Gulistan: ANF (kurdischer Nachrichtendienst) Deutsch berichtet von 250.000 Toten, die türkische Regierung hingegen gibt offizielle Zahlen um die 50.000 heraus. Dabei darf nicht vergessen werden, dass viele der nicht geretteten und gestorbenen Menschen weiterhin unter Trümmern begraben liegen und bisher keine Bergung stattgefunden hat.

Es gab zusätzlich viele Tote durch Erfrierungen. Sofern sie konnten, sind die Menschen zu Verwandten in andere Metropolen oder Nachbarstädte geflohen.

Als Sofortmaßnahmen sind zwar Zeltstädte entstanden, diese sind aber keine Dauerlösung, da es dort keinen stabilen Zugang zu Wasser, Strom, Medikamenten und Nahrung gibt.

Von der AFAD (türkische Katastrophenschutzbehörde) als zuständiger und dem Innenministerium beigeordneter Organisation kam nicht die erforderliche Hilfeleistung.

Stattdessen hat die Zivilbevölkerung Nothilfe geleistet. Auch viele Menschen aus Deutschland mit Familie oder Verbindungen vor Ort haben hier Menschen bei sich aufgenommen und eine enorme Solidarität gezeigt.

Dies ist umso wichtiger, da das AKP-Regime Konvois daran gehindert hat zu passieren und Hilfsgüter beschlagnahmt hat. Um diesen Kontrollen zu entgehen, haben einige Konvois die türkische Fahne angebracht, um auf diese Weise getarnt durchgewunken zu werden.

Mehr als eine Woche lang kam keine Hilfe an, was nur zum Teil der korrupten AKP-Regierung geschuldet ist. Seit dem letzten schweren Beben 1999 wird zwar speziell für solche Fälle eine Steuer erhoben, die Kassen sind aber leer und es wurden keine ausreichenden Vorkehrungen getroffen. Es gibt auch viel zu wenig Personal, welches schlecht geschult ist. Die Gelder sind versickert und vermutlich zu einem großen Teil in die türkische Kriegsmaschinerie sowie die Unterstützung des IS geflossen.

Aus diesem Grund hat die kurdische Community gezielte Spendenaufrufe für Medico International, Ärzte ohne Grenzen und den Kurdischen Roten Halbmond gestartet. Letzterer wurde 1993 als kurdische Nichtregierungsorganisation bewusst unabhängig vom türkischen Staat gegründet. Bisher sind weltweit allein dort rund 2 Millionen Euro an Spenden eingegangen.

Das Ausmaß an Korruption und die zynische Skrupellosigkeit der türkischen Regierung zeigen sich auch daran, dass Spenden an DITIB-Moscheen und andere türkische Institutionen bei Erdogan gelandet sind anstatt bei den Menschen, die dringend Hilfe benötigen (DITIB: Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V.).

Das Erdbeben am 6. Februar 2023 war eine Naturkatastrophe, aber eine korrupte Regierung ist keine Naturkatastrophe. Man kann und muss etwas gegen sie unternehmen.

arbeiter:innenmacht: Welche Rolle spielen vor diesem Hintergrund die türkischen Präsidentschaftswahlen?

Gulistan: Für mich ist klar, dass diese Wahlen weder demokratisch noch frei sind.

Interessant im Vergleich zu früheren Wahlen ist aber, dass durch das schwere Erdbeben viele Menschen die Verlogenheit und Korruption des Regimes erkannt haben. Sie haben die oben beschriebene Selektion bei der Vergabe von Hilfen bemerkt, wodurch die Spaltung zwischen Kurd:innen und Türk:innen sichtbarer denn je wurde. Die Menschen selbst waren untereinander solidarischer als die Politik, die selektiert und in großen Teilen versagt hat.

Eine wichtige Rolle spielt auch das Parteiverbot der HDP (Demokratische Partei der Völker; linksgerichtete Partei in der Türkei, die sich für Minderheitenrechte insbesondere der Kurd:innen einsetzt). Dies ist raffiniert, weil ein Vorgespräch bei Gericht und die Verhandlung erst nach den Wahlen angesetzt sind. Wegen anhaltender Repression wurde schon vor einigen Jahren die Yeşil Sol Parti (Grüne Linke Partei; YSP) als Alternative zur HDP gegründet. Diese grüne Linkspartei ist zur Wahl zugelassen und konnte antreten, unabhängig vom Ausgang des Gerichtsverfahrens gegen die HDP. Es gab daher den Aufruf an alle Kurd:innen, diese Partei zu wählen.

Aus den genannten Gründen wird dieses Mal ein knapper Wahlausgang prognostiziert. Erdogan wird aber sicher alle Hebel in Bewegung setzen, um durch Manipulationen das Ergebnis zu seinen Gunsten zu drehen. Er wird seinen Posten nicht einfach räumen.

Erwähnenswert ist noch, dass die YSP international um unabhängige Wahlbeobachter:innen gebeten hatte, dies aber vom EU-Parlament abgelehnt wurde. Leider zeigt sich auch hier der Einfluss des Erdogan-Regimes und seine Verflechtungen auf internationaler Ebene. Die Türkei wollte dies schlicht nicht. Doch auch ohne unabhängige Wahlkommission sind solidarische Menschen als Delegation ins Land gereist und haben diese Aufgabe übernommen.

arbeiter:innenmacht: Die kurdische Geschichte ist stark von Krieg und Vertreibung geprägt. Inwiefern sind auch Deutschland, die EU und die NATO daran beteiligt?

Gulistan: Man darf die Interessen der einzelnen Länder untereinander nicht vergessen. Noch im Osmanischen Reich, schon vor dem Genozid an den Armenier:innen, gab es enge Beziehung zwischen Deutschland und der Türkei. An der wirtschaftlichen Zusammenarbeit wird dies am deutlichsten: Rund 7.000 deutsche Unternehmen profitieren von Steuervorteilen in der Türkei.

Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Zugeständnisse der Vergangenheit durch die EU als Ganzes sowie einzelne europäische Staaten Erdogan erst dazu verhalfen, der Autokrat und Diktator zu werden, der er heute ist.

Der sogenannte Flüchtlingsdeal zwischen Deutschland und der Türkei sowie der Krieg gegen kurdische Gebiete, den die Türkei mit ihren NATO-Verbündeten führt, zeigen deutlich, dass es nicht Erdogan alleine ist, der Politik gegen uns Kurd:innen und andere Gruppen oder Minderheiten betreibt. Er ist vielmehr Mittel zum Zweck: Erdogan und seine AKP sind gewissermaßen die Türsteher:innen des Nahen Ostens. Erdogan hat eine Schlüsselfunktion darin, was er zulässt und was nicht.

Daher wird der völkerrechtswidrige Krieg von Erdogan gegen kurdische Gebiete nicht von Deutschland kritisiert. Vielmehr lässt man ihn gewähren.

Wir Kurd:innen in der Diaspora merken das sehr: Angela Merkel oder Olaf Scholz z. B. können sich ja schlecht hinstellen und sagen, dass sie Blut an ihren Händen kleben haben. Trotz vermeintlichen Stopps von Waffenlieferungen gab und gibt es diese weiterhin. Dies wurde nicht zuletzt durch die Recherchearbeit kurdischer Aktivist:innen und Politiker:innen aufgedeckt.

Allgemein kommen kurdische Anliegen sehr wenig in deutschen Medienberichten vor, hauptsächlich dann, wenn es wirklich schwerwiegende Angriffe in der Region gibt. Es müsste ein wesentlich größeres Politikum sein, wenn Menschen in Iran und auch im Nordirak bei Drohnenangriffen getötet werden.

Im Schatten des Kriegs Russlands gegen die Ukraine und mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen hat Erdogans korruptes und faschistisches Regime das Gebiet um Rojava unter Beschuss genommen. Dabei kommen nachweislich auch Chemiewaffen zum Einsatz, die teilweise von Deutschland bzw. deutschen Rüstungsfirmen geliefert wurden.

Unser Anliegen ist daher auch, gezielte Kriegsgewalt gegen Zivilist:innen überall auf der Welt sichtbar zu machen und zu versuchen, sowohl Femizide als auch Ekozide, also Verbrechen an Natur und Umwelt, zu stoppen.

arbeiter:innenmacht: Wie beurteilst du die Bedingungen für eure politische Arbeit?

Gulistan: Bundesweit erleben wir Kurd:innen allgemein und wir Aktivist:innen im Besonderen eine Verstärkung von Repression. Dies ist aber nur die Fortsetzung einer anhaltend strikten Vorgehensweise gegen uns Kurd:innen.

In München gab es Probleme mit der Präsidentschaftswahl, da das türkische Konsulat uns Kurd:innen vielfach als nicht wahlberechtigt anerkannt hat. Wahllokale wurden nicht geöffnet und Menschen, die als Aktivist:innen bekannt sind, wurden aktiv am Wählen gehindert.

Wenn kurdische Personen z. B. die Versammlungsleitung bei Demonstrationen übernehmen, kommt es immer wieder vor, dass ihre Aufenthaltsgenehmigung oder der Pass nicht verlängert wird. Dadurch werden wir Kurd:innen in Deutschland illegalisiert. Das türkische Regime setzt die deutsche Regierung über seine Konsulate stark unter Druck.

Auslieferungen eben auch politischer Gefangener zwischen Deutschland und der Türkei finden regelmäßig statt. Die Zusammenarbeit deutscher mit türkischen Geheimdiensten ermöglicht erst die bundesweite Repression gegen Kurd:innen.

Menschen, die mutig sind und sich zeigen, setzen sich der Gefahr aus, dass neben dem türkischen Staat auch die Bundesrepublik mit Ablehnung und, schlimmer, Repressalien reagiert.

Dies dient eindeutig der Einschüchterung der kurdischen Bewegung als Ganzer und soll unseren Widerstand klein halten oder gar brechen.

arbeiter:innenmacht: Was sind angesichts der vielen Brandherde in der Welt eure aktuellen Schwerpunkte? Was hoffst du persönlich, mit deinem politischen Engagement zu bewirken? Was ist dein wichtigster Appell?

Gulistan: Aktuell liegt unser Fokus auf unseren gemeinsamen Kämpfen mit „Women Defend Rojava“. Wir sind außerdem Teil der Initiative „Defend Kurdistan“. Vor kurzem begann im Rahmen unserer internationalen Konferenz auch unsere Kampagne „1.000 Gründe, den Diktator anzuklagen“. Anlässlich der Wahlen in der Türkei haben wir u. a. nochmals kritisiert, dass Erdogan verfügt hat, aus der internationalen Istanbulkonvention für Frauenrechte auszutreten.

Unser Anliegen ist, die Vernetzung sowohl kurdischer Frauen untereinander als auch den gemeinsamen Kampf für unsere Ziele mit anderen Organisationen voranzutreiben. Für uns als Internationalist:innen bedeutet das, weltweit unsere Forderungen zu vertreten und ein Bewusstsein für unsere Themen zu schaffen. Ein wichtiger Schritt für uns Kurd:innen ist dabei, an politischem Einfluss zu gewinnen und dadurch die Möglichkeit zu bekommen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Ich persönlich wünsche mir für alle Menschen ein würdevolles Leben in Freiheit, Gleichberechtigung und eine Welt ohne Kriege.

Wir haben eine einzige Welt, machen wir das Beste daraus!

arbeiter:innenmacht: Wir danken dir für das Gespräch und freuen uns über die weitere solidarische Zusammenarbeit.




Razzien gegen Letzte Generation: Mut soll kriminalisiert werden

Georg Ismael, Infomail 1223, 24. Mai 2023

Der Klimawandel und die Umweltzerstörung sind bekanntermaßen eine, wenn nicht die zentrale Herausforderung für die Menschheit des 21. Jahrhunderts. Insbesondere die deutsche Regierung ist sich ihrer Verantwortung bewusst wie keine andere. Die Aufgabe ist klar, bei aller Zustimmung zur Rettung der Menschheit müssen natürlich vor allem die Profite und Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitals und die Unantastbarkeit seines bürgerlichen Staates selbst geschützt werden.

Sagen darf in Deutschland freilich jede/r, dass der Kapitalismus die Umwelt und das Mensch-Natur-Verhältnis grundlegend zerstört. Handeln – darüber hinaus mit friedlichen Mitteln und zugunsten rational vollkommen nachvollziehbarer Forderungen –, hier hört die Freiheit auf. Das gilt für den effektiven Streik scheinbar genauso wie für die direkte Aktion.

Umso mehr muss dies natürlich der Fall sein, wenn jenes Handeln die Passivität nicht nur der unmittelbaren Akteur:innen selbst durchbricht, sondern auch den Raum der öffentlichen Debatte zu bestimmen, zumindest aber zu verändern beginnt. Immerhin sind gerade in bürgerlichen Demokratien nebst dem Gewaltmonopol des Staates die Vorherrschaft von Gedanken, die die Interessen des Kapitals stärken oder schützen, ein hohes Gut.

In diesem Sinne muss man jenes feststellen: Eine der erfolgreichsten Bewegungen der vergangenen Jahre in Deutschland, die die Hegemonie der herrschenden Diskurse unter Druck setzte und klimapolitische Forderungen anhand ihrer allgemeinen Sinnhaftigkeit und nicht ihrer Verträglichkeit mit aktuellen Kapitalinteressen in die Debatte trug, ist fraglos die Letzte Generation.

Ihren Aktionen schlossen sich zahlreiche junge und alte Menschen an, die sich seit 2019 über drei Jahre restlos hatten überzeugen können, dass die Fakten gepaart mit letztlich symbolischen Massendemonstrationen wie von Fridays for Future keine oder deutlich unzureichende Maßnahmen durch Staat, Kapital und Regierung zur Folge hatten.

Es ist eben nicht eine vermeintlich kriminelle Energie, die die Aktiven der Letzten Generation antreibt. Ihren Mut ziehen sie aus der faktisch absehbaren Überschreitung der Kipppunke in den Umweltsystemen. Dieser Prozess ist bereits im vollem Gange, mit Folgen, die einen dystopischen und bisher kaum absehbaren Charakter annehmen werden.

Nachdem anderthalb Jahre vergangen sind und eine energische Kampagne der bürgerlichen Medien gegen die Letzte Generation zwar die Spaltung der öffentlichen Meinung, keinesfalls aber eine Minderung der Popularität der Bewegung herbeiführte, nachdem Inhaftierungen und eine erste Inszenierung der Letzten Generation als krimineller Vereinigung scheiterten, konnte die Bewegung einen, wenn auch kleinen Erfolg vorweisen. Die Zustimmungswerte zu Tempolimits auf deutschen Autobahnen steigen in der deutschen Bevölkerung.

Damit kommt genau der richtige Zeitpunkt für Staatsanwaltschaft und Polizei, eine großangelegte Razzia gegen die Bewegung durchzuführen. Fünfzehn Wohnungen wurden am Mittwochmorgen des 24. Mai im Bundesgebiet durchsucht. Die Internetseite der Letzten Generation wurde abgeschaltet.

Besonderes Interesse galt auch ihren Spendengeldern. Immerhin kann es in einem Rechtsstaat nicht angehen, dass Arbeiter:innen wie auch Angehörige der Mittelschichten, aus denen sich ihre Aktiven zusammensetzen, auf kollektiven Beistand hoffen dürfen, wenn sie sich der individuellen Kriminalisierung durch den bürgerlichen Staat ausgesetzt sehen.

Ziel der Razzia ist es, die Letzte Generation organisatorisch zu schwächen und über die Kriminalisierung der Bewegung vielleicht nicht unmittelbar ihre bisher Aktiven an weiteren Aktionen zu hindern, sicherlich aber den Zustrom weiterer Aktiver zu hemmen und mögliche Spender:innen zu verunsichern.

Den Inhalt der Bewegung selbst nicht vergessen wollend, etwas, dessen sich viele Medien und Politiker:innen regelmäßig schuldig machen: aus rationaler, ökologischer, sozialer und volkswirtschaftlicher Sicht sind ihre Forderungen nach einem 9-Euro-Ticket und einem Tempolimit von 100 km/h vollkommen berechtigt. Die Forderung, einen Gesellschaftsrat technokratisch einzusetzen, hat einen utopischen Charakter, der auch die politischen Schranken dieser Gruppierung deutlich macht.

Dass die sogenannte „Fortschrittskoalition“ insbesondere auch diesen zwei Forderungen nicht nachgeben möchte, weil dann womöglich ein Teil der oberen Mittelschichten sich von dieser abwenden könnte, vermutlich noch wichtiger, weil man einer sozialen und ökologischen Bewegung zu ihren Bedingungen entgegenkäme, das lässt tief blicken.

Es mag in der Debatte über die Strategie der Letzten Generation selbst viele unterschiedliche Meinungen geben. Wir haben etliche unserer Gedanken und auch Kritik an anderer Stelle geäußert. Ganz sicher entblößt sie aber durch ihr Handeln die innere Dynamik sowohl des bürgerlichen Diskurses als auch Staates.

Wir fordern daher ein sofortiges Ende der Kriminalisierung der Letzten Generation und rufen zu Solidaritätsaktionen auf. Ebenfalls denken wir, dass sich die ökologischen und sozialen Bewegungen in Deutschland eines ganz gewiss von der Letzten Generation abschauen können: mutig und selbstgewiss im Angesicht von öffentlicher Diffamierung als auch Gewalt durch Staat und Wutbürger:innen ihren berechtigten Anliegen nachzugehen.




Für ein sozialistisches und demokratisches Palästina!

Arbeiter:innenmacht-Rede, Infomail 1223, 23. Mai 2023

In Berlin wurden in den letzten Wochen alle Veranstaltungen in Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf von der Versammlungsbehörde und den Gerichten verboten oder, wie am 20. Mai, von der Polizei aufgelöst. Unsere Rede konnte daher an diesem Tag nicht vollständig gehalten werden. Wir veröffentlichen sie hier im Wortlaut.

Liebe Genossinnen und Genossen!

Ich stehe hier vor euch als eine kurdische Frau, die den Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit, gegen Unterdrückung, Vertreibung, Landraub und Besetzung genauso kennt, wie ihr.

Uns trennen vielleicht tausende Kilometer, aber egal ob in Rojava oder in Palästina, wir als Kommunist:innen verstehen den Kampf um Freiheit als einen Kampf um die grundlegenden Rechte eines jeden Menschen auf ein Leben in Würde, ein Leben in Freiheit, ein Leben ohne Herrschaft und Unterdrückung.

Und auch wenn wir heute hier sind, um der Vertreibung und Ermordung von Millionen Palästinenser:innen zu gedenken, sind wir vor allem hier, um den Widerstand nicht nur in unseren Herzen weiter aufrecht zu erhalten, sondern um uns die Straßen wieder zurück zu holen. 75 Jahre Nakba heißt 75 Jahre Vertreibung, Mord und Unterdrückung. Im palästinensischen Gedächtnis ist das Jahr 1948 das Jahr der Katastrophe, in welchem innerhalb eines Jahres mehr als 750.000 Palästinenser:innen aus ihrer Heimat entwurzelt und in die Flucht getrieben wurden. Dabei sollte nicht vergessen werden, die Nakba war eine geplante, systematische ethnische Säuberung Palästinas, die nach der UN Teilungsresolution im November 1947 begann und ihren Höhepunkt in den Monaten vor der Staatsgründung Israels hatte. Die Motive für die ethnische Säuberung sind dabei klar, ein jüdischer Staat in welchem Palästinenser:innen nicht wie historisch gesehen in der Mehrheit sondern in der Minderheit oder gar nicht vorhanden sind. Ziel war es, dass ganze Mandatsgebiet Palästinas zum Staat Israel zu machen. Die Massaker, welche in der Nakba an der arabischen Bevölkerung verübt wurden, waren und sind bis heute Staatsräson Israels und laut Aussagen von Politiker:innen wie Menachem Begin, hatten all die Massaker von Deir Yassin bis zur Staatsgründung Israels seine Berechtigung. Ich frage mich: Wie können die Massaker an der einheimischen Bevölkerung je eine Berechtigung haben, und welcher Staat wurde auf diesem blutigen Boden gegründet? Die Auswirkungen dieser Vertreibung sind immens: Etwa die Hälfte der Palästinenser:innen, fast 6 Millionen Menschen, lebt heute in der Diaspora – mehr als 50 % der gesamten palästinensischen Bevölkerung sind Geflüchtete. Und dieser Zustand hat sich bis heute nicht verbessert. Alleine diese Woche sind mehr als 13 Menschen in Gaza ermordet worden, damit sind seit Jahresbeginn mehr als 110 Menschen ums Leben gekommen. Das heißt, dass alle 3-4 Tage ein Mensch in Palästina ums Leben kommt.

Aktuell scheint die Lage in Israel und Palästina zu eskalieren. Zehntausende Israelis gingen gegen die Angriffe der israelischen Regierung gegen die vermeidliche demokratische Verfassung des Landes auf die Straße! Auch wenn bestimmt einige mutige Menschen unter den Demonstrierenden sind, so finden wir Heuchelei und Doppelmoral in ihrer Bezeichnung von „Demokratie“. Denn gegen die Massaker in Dschenin gingen nur einige Hundert auf die Straßen.

Menschen in Israel versuchen eine „Demokratie“ zu retten, die es nie gab! Denn es sind 75 Jahre andauernde, militärische Besatzung, welche die Grundsätze von Demokratie und Freiheit mit Füßen tritt und nie auch nur ein bisschen geachtet hat. Dass die Wut, die Reaktionen und auch der bewaffnete Widerstand der Palästinenser:innen gegen dieses systematische Morden und Vertreiben nicht gleich zu setzen ist mit dem was der israelische Staat verübt, ist für uns eindeutig. Denn die Gewalt der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker:innen kann in keiner Weise mit der Barbarei der militärischen und zivilen Besatzungstruppen gleichgesetzt werden. Und revolutionäre Kommunist:innen müssen im Kampf gegen den rassistischen, israelischen Siedler:innenkolonialstaat an der Seite der palästinensischen Widerstandsbewegung und der arbeitenden Massen stehen, während sie gleichzeitig die Ideologie, Strategie und Taktik der Führung der Bewegung schonungslos kritisieren müssen. Denn egal ob in Gaza unter einer islamischen Führung, im Westjordanland unter der bürokratischen Fatah oder in Israel unter einer reaktionären und konservativen Führung: Keine dieser Führungen hat das Interesse, die Unterdrückten und Arbeiter:innen zu befreien und diesen Kampf zu vereinen. Dies muss Aufgabe von uns sein! Wir müssen uns zusammenschließen und gemeinsam kämpfen, für eine Welt in welcher die Bedürfnisse der Menschen über denen der Reichen und Besitzenden stehen.

Die in Oslo geplante und von den USA, Großbritannien und weiteren Staaten unterstützte „Zwei-Staaten-Lösung“ hat sich als Utopie erwiesen. Israel hat sie nie umgesetzt, sondern unter dem Deckmantel von Oslo den verbleibenden, zusammenhängenden Teil Palästinas mittels neuer Siedlungen weiter zerstückelt. Die einzige Lösung ist ein einheitlicher Staat für Israelis und Palästinenser:innen.

Dies hat jedoch nichts mit einer Vertreibung der jüdischen Bevölkerung zu tun, denn es muss auch in ihrem Interesse sein, in einem Land zu leben in Frieden mit all jenen, die ebenfalls dort wohnen. Es bedeutet aber auch das Rückkehrrecht für alle Palästinenser:innen in ihre Heimat und das Ende eines Staates, der ausschließlich von und für jüdische Israelis regiert wird. Wir glauben, dass nur die Arbeiter:innenklasse beider Nationalitäten und des gesamten Nahen Ostens eine fortschrittliche Lösung herbeiführen kann. Wir treten dafür ein, dass ein multiethnischer Staat ein sozialistischer sein sollte, da nur so die Beendigung der nationalen Unterdrückung mit einer gerechten Reorganisation der Wirtschaft im Interesse aller Lohnabhängigen, Bauern und Bäuerinnen verbunden werden kann. Und um es noch einmal deutlich zu sagen: Der Kampf um ein befreites Palästina wird und muss von der palästinensischen Arbeiter:innenklasse geführt werden! Die israelische Arbeiter:innenklasse muss den Zionismus abweisen und ihn vehement bekämpfen, und kann dann erst einen Kampf Schulter an Schulter mit den Palästinenser:innen führen. Das heißt die Führung einer neuen Intifada liegt in den Händen der unterdrückten Massen Palästinas und der Unterdrückten weltweit! Widerstand gegen Besatzung ist legitim, ob in Palästina, Kurdistan oder in der Ukraine!

  • Für ein sozialistisches und demokratisches Palästina!



Solidarität mit russischen Linken: Gemeinsam gegen die staatliche Repression und Verhaftung von Michail Lobanow!

Jaqueline Katherina Singh, Infomail 1223, 18. Mai 2023

Heute Morgen hat der russische Staat den linken Aktivisten und Gewerkschafter Michail Lobanow in Moskau verhaftet. Bereits in der Vergangenheit hatte er, Mathematikprofessor an der Moscow State Universitiy, Repression erdulden müssen: So wurde er am  am 7. Juni 2022  von der Polizei verhaftet, weil er ein Antikriegstransparent mit der Aufschrift „No War“ trug, und am 24. Juni 2022 wurde er von der russischen Polizei fünfzehn Tage lang festgehalten und zu einer Geldstrafe von 40.000 Rubel (ca. 464 Euro) verurteilt, weil er sich in den sozialen Medien gegen den russischen Einmarsch in die Ukraine im Jahr ausgesprochen hatte.

Diese Verhaftung reiht sich ein in die massive Repression, die seit Beginn des Einmarschs alle trifft, die sich gegen den russischen Angriffskrieg stellen. Laut OVD-Info (1) gab es für das gesamte Jahr 2022 mehr als 21.000 Festnahmen sowie mindestens 370 Angeklagte in Strafverfahren wegen Antikriegsäußerungen und -reden. Mehr als 200.000 Internetressourcen wurden gesperrt und 11 Urteile wegen Staatsverrats verhängt. Darüber hinaus haben Behörden bestätigt, dass bisher 141 Personen wegen Teilnahme an Antikriegsprotesten mittels Gesichtserkennungssystemen (z. B. in der Moskauer U-Bahn) ermittelt wurden.

Mit der massiven Repression hatte das Putin-Regime bisher Erfolg. Die Proteste wurden klein gehalten, große Teile der Bevölkerung eingeschüchtert und wichtige Aktivist:innen für den Widerstand haben mit Repression zu kämpfen oder mussten fliehen. Die Oppositionsgruppen haben in dieser Situation Aufrufe zu öffentlichen Kundgebungen eingestellt, weil sie beim aktuellen Kräfteverhältnis nur zum Verheizen ihrer Anhänger:innen führen würden.

Schluss mit staatlicher Repression!

Eines ist klar: Effektiver als alle Verhandlungen an Tischen der herrschenden Klassen kann eine breite, antikapitalistische Antikriegsbewegung in Russland diesen Krieg beenden. Das weiß auch das Regime Putin selbst, weswegen versucht wird, jede Form des Widerstands und der Kritik direkt zu unterbinden. Deswegen ist es unsere Aufgabe, uns mit den russischen Linken zu solidarisieren, die gegen den Krieg einstehen. Statt alle Bande mit russischen Einrichtungen zu kappen, brauchen wir international eine Solidaritätsbewegung mit den Linken und allen Kräften der Arbeiter:innenbewegung, die sich gegen den Krieg und Putins Regime stellen, sowie eine gemeinsame Debatte über deren Charakter und den nötigen Widerstand. Lasst uns also gemeinsam vorangehen, um den Krieg zu unseren Gunsten zu beenden!

  • Freiheit für Lobanow und alle anderen politischen Gefangenen! Schluss mit staatlicher Repression: für grundlegende demokratische Rechte wie Meinungs- und Pressefreiheit!

  • Für die Niederlage der russischen Aggression! Für den sofortigen Abzug aller russischen Truppen aus der Ukraine!

  • Nein zu allen Sanktionen und zur westlichen NATO-Intervention! Stattdessen Streiks zur Beendigung des Kriegs und für das Ende des Regime Putins!

  • Für die Umwandlung des Krieges in den Kampf um soziale Befreiung unter Führung einer unabhängigen Arbeiter:innenbewegung!

Endnote

(1) OVD-Info ist eine NGO, anlässlich der Proteste nach den Parlamentswahlen 2011 gegründet, und  betreibt eine Website, auf der politisch motivierte Verhaftungen dokumentiert werden. Die Abkürzung OVD leitet sich vom russischen Wort für Polizeistation her.

Mehr zum Krieg um die Ukraine und zur Antikriegsbewegung in Russland auf unserer Homepage

Ukraine: Auf dem Weg zum endlosen Stellungskrieg?

Antikriegsbewegung in Russland

Die verschiedenen Ebenen des Ukrainekriegs




Pakistan: Auf dem Weg in eine Verfassungskrise?

Minerwa Tahir, Infomail 1222, 12. Mai 2023

Die Verhaftung und anschließende Freilassung von Imran Khan, dem ehemaligen Premierminister und Vorsitzenden der Partei Pakistan Tehreek Insaf (PTI), verdeutlicht die tiefe Spaltung der herrschenden Klasse und der staatlichen Institutionen des Landes. Khan, der seit Monaten mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert ist, wurde nicht von der Polizei, sondern von den paramilitärischen Punjab Rangers festgenommen.

In vielen Städten brachen sofort Proteste aus. In Peshawar wurden acht Menschen getötet und mehr als 2.000 weitere verhaftet. Andere Parteiführer:innen wie Asad Umar, Shah Mehmood Qureshi, Fawad Chaudhry, Jamshed Iqbal Cheema, Falaknaz Chitrali, Musarrat Jamshed Cheema und Maleeka Bokhari wurden ebenfalls in Gewahrsam genommen. Ungewöhnlich ist, dass Demonstrant:innen in vielen Bezirken Einrichtungen der Armee angriffen.

Worum geht es?

Bewaffnete Kräfte wurden in Punjab, Khyber Pakhtunkhwa, Belutschistan und Islamabad eingesetzt. In Sindh erließen die Behörden eine Anordnung nach Section 144, die bis auf Weiteres alle Versammlungen von mehr als vier Personen sowie alle Proteste, Demonstrationen, Kundgebungen und Sitzstreiks in der Provinz verbietet. Die Medienabteilung der Armee (ISPR) gab eine Pressemitteilung heraus, in der sie davor warnte, dass jeder weitere Angriff auf die Armee, die Strafverfolgungsbehörden, militärische oder staatliche Einrichtungen und Besitztümer schwere Vergeltungsmaßnahmen nach sich ziehen würde.

Seit seiner Absetzung als Premierminister im vergangenen Jahr durch ein Misstrauensvotum des Parlaments, das nach weit verbreiteter Ansicht von der Armee inszeniert worden war, hat Khan das Land bereist und sich im Vorfeld der bevorstehenden Wahlen eine starke Unterstützung in der Bevölkerung erworben. Obwohl er offiziell wegen Korruptionsvorwürfen verhaftet wurde, liegt es auf der Hand, dass der Grund dafür politischer Natur war. Sowohl die Regierung von Shehbaz Sharif als auch zumindest Teile des Militärs und des Staatsapparats wollen ihn als potenziellen Herausforderer ihrer Herrschaft vollständig beseitigen.

Der Beschluss des Obersten Gerichtshofs, ihn freizulassen, weil seine Verhaftung an sich rechtswidrig war, wird wahrscheinlich nicht das letzte Kapitel in dieser Geschichte bleiben. Tatsächlich bedeutete dies nicht einmal, dass Khan seine Freiheit wiedererlangte, da das Gericht ihn aufforderte, „zu seiner eigenen Sicherheit“ in dem Gebäude zu bleiben, das als vorläufiger Gerichtssaal diente. Eine erneute Verhaftung unter Anwendung korrekter rechtlicher Verfahren ist nach wie vor möglich, und selbst ein hartes Durchgreifen gegen die PTI als Ganzes und ein Verbot der Partei sind nicht ausgeschlossen. Premierminister Sharif hat die Proteste der Partei bereits als terroristische Akte gebrandmarkt. Das Ziel seiner Gegner:innen ist nach wie vor, Khan als Kandidaten auszuschalten, und eine Verurteilung wegen eines der Korruptionsvorwürfe würde dies sicherstellen.

Selbst dann könnten die Krise der pakistanischen Gesellschaft, die verzweifelte Lage der Millionen Menschen, die bei den Überschwemmungen des letzten Jahres alles verloren haben, die Auswirkungen der Auflagen des Internationalen Währungsfonds für die finanzielle Unterstützung sowie die Wut der Anhänger:innen Khans die sehr fragilen demokratischen Institutionen des Landes erschüttern. Die derzeitige Regierung der Pakistan Muslim League (Nawaz), die nach der Absetzung Khans eingesetzt wurde, stellte immer nur eine Übergangslösung dar. Zweifellos existieren in der Armee bereits Elemente, die in einem Militärputsch den einzigen Weg zur „Wiederherstellung der Ordnung“ sehen.

Wenn Khan seine Freiheit wiedererlangt, wird er natürlich wieder in den Wahlkampf ziehen und seine Anhänger:innen angesichts der unrechtmäßigen Art und Weise seiner Verhaftung aufstacheln. Die PTI stützt sich weitgehend auf die „Mittelschicht“, hat aber, was für eine populistische Partei nicht überrascht, auch an die verarmten Massen appelliert. Die aktuellen Umstände werden diese Wendung noch verstärken, da Khan die mangelnde Unterstützung für Obdach- und Arbeitslose anprangert und die Verbrechen der Reichen und die Unterdrückung durch die Sicherheitskräfte angreift. Dies ist jedoch alles Demagogie. Seine Differenzen mit anderen Fraktionen der herrschenden Klasse und des Staatsapparats haben eher mit der Außenpolitik Pakistans zu tun, die sich an China und Russland anlehnen oder zu den USA und „dem Westen“ zurückkehren soll.

Krise

Angesichts einer sich entwickelnden Verfassungskrise muss man feststellen, dass die Arbeiter:innenklasse Pakistans schlecht darauf vorbereitet ist, ihre Interessen und Rechte zu verteidigen. Obwohl Imran Khan keine politische Unterstützung gewährt werden sollte, gab es allen Grund, gegen das barbarische Verhalten der Sicherheitskräfte, die ihn verhaftet haben, zu protestieren.

Darüber hinaus sind sich alle Fraktionen der herrschenden Klasse einig, dass die brutalen Bedingungen des IWF-Abkommens umgesetzt werden müssen und allen Versuchen, die Löhne gegen die Inflation und die Arbeitsplätze gegen Kürzungen und Privatisierungen zu verteidigen, widerstanden werden muss.

In dieser Situation ist es umso notwendiger, dass die Kräfte der pakistanischen Linken, die Frauenbewegung und die Bewegungen der nationalen Minderheiten mobilisieren und eine aktive Alternative bieten. Wir rufen die Labour-Qaumi-Bewegung (LQM), andere Gewerkschaften, linke, feministische, Jugend- und andere fortschrittliche Organisationen sowie die unterdrückten Nationalitäten und anderer sozialer Gruppen auf, sich gegen die zunehmende autoritäre Herrschaft und die steigende Inflation zusammenzuschließen. Die wichtigsten Themen und Forderungen sollten sein:

  • Ein Mindestlohn, der für ein besseres Leben der Lohnabhängigen ausreicht. Die Löhne sollten an die Preisinflation für lebenswichtige Güter gekoppelt werden. Für jeden Anstieg der Inflationsrate um ein Prozent sollten die Löhne um ein Prozent steigen.

  • Alle privatisierten Konzerne sollten unter Arbeiter:innenkontrolle wieder verstaatlicht werden.

  • Anstatt Arbeitsplätze abzubauen, sollte die Arbeitszeit ohne Lohneinbußen verkürzt werden, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden.

  • Aufstockung der Bildungs- und Gesundheitsbudgets durch Einführung einer Vermögenssteuer für Kapitalist:innen, Großgrundbesitzer:innen, multinationale Unternehmen und andere reiche Teile der Gesellschaft.

  • Abschaffung aller Privilegien und Steuervergünstigungen für Großgrundbesitz und Kapital.

  • Massive Subventionen sollten in der Landwirtschaft eingeführt werden. Außerdem sollte das Land den Großgrundbesitzer:innen weggenommen und den Bäuer:innen und Landarbeiter:nnen übergeben werden.

  • Die Mittel für Entwicklungsprojekte sollten massiv aufgestockt werden, damit soziale Einrichtungen und Wohnungen für die Arbeiter:innenklasse und die Armen auf dem Land und in der Stadt gebaut werden können.

  • Verstaatlichung der Stromerzeugungsunternehmen unter demokratischer Kontrolle durch die Arbeiter:innenklasse.

  • Ablehnung des IWF-Programms. Weigerung, die Schulden der internationalen Wirtschaftsinstitutionen zu bezahlen.

Der Kampf für solche Forderungen erfordert Organisation. Wo es Gewerkschaften gibt, sollten sie diese Forderungen aufstellen, aber wo dies nicht der Fall ist, muss die Priorität auf dem Aufbau demokratischer Betriebsorganisationen liegen, in erster Linie, um den Ausbeuter:innen entgegenzutreten, aber auch als Schritt zum Aufbau dauerhafter Industriegewerkschaften. In den proletarischen Bezirken sollten sich Sozialist:innen für die Bildung lokaler Räte einsetzen, die sich aus Delegiert:innen dieser betrieblichen Organisationen und Gewerkschaften zusammensetzen, um die Organisation zu verbreiten, Solidarität zu organisieren und eine Politik zu formulieren, die der Entwicklung der Ereignisse entspricht.

Sollte das Oberkommando der Armee beschließen, die gegenwärtige politische Krise durch einen Militärputsch selbst zu lösen, wie es das in der Vergangenheit getan hat, sollten Sozialist:innen zu einem Generalstreik aufrufen, für den von den bestehenden Gewerkschaften und betrieblichen Organisationen mobilisiert wird. Anders als die Massendemonstrationen der letzten Tage beinhaltet ein Generalstreik das Potenzial, das Land zum Stillstand zu bringen und die Frage aufzuwerfen, wer regieren soll, das Volk oder die Militärspitze?

Auch ohne Putsch ist es immer wahrscheinlicher, dass sich das Land auf eine Verfassungskrise zubewegt, die die gleiche Frage aufwirft. Unsere Antwort darauf sollte der Ruf nach einer verfassunggebenden Versammlung sein, einem demokratischen Forum, in dem genau das entschieden werden soll: Wer soll regieren? Eine solche Versammlung kann ihren Zweck nicht erfüllen, wenn sie von den bestehenden Eliten und ihren Parteien kontrolliert und einberufen wird. Ihre Wahl und Einberufung muss von Komitees der Arbeiter:innen, Bäuer:innen sowie Armen kontrolliert werden.

In einer verfassunggebenden Versammlung werden Sozialist:innen nicht nur das volle demokratische Programm gleicher Rechte für alle Bürger:innen und die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts nationaler Minderheiten fordern, sondern auch die zentralen Forderungen der Arbeiter:innenklasse, die notwendig sind, um mit dem Aufbau des Sozialismus zu beginnen: die Enteignung des Großkapitals, die Vergesellschaftung des Bodens und der natürlichen Ressourcen, die Beschlagnahmung des imperialistischen Vermögens, die Ablehnung von Schulden bei imperialistischen Institutionen und die Einführung von Planung.

Ein solches Programm kann nur durch Massenkämpfe verwirklicht werden, an deren Ende eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung steht, eine Regierung, die sich auf ihre eigenen Organisationen stützt, um die derzeitige katastrophale Situation zu bewältigen und die Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung zu verteidigen. Alle, die sich einer solchen Strategie verschreiben, sollten sich zu einer revolutionären Partei der Arbeiter:innenklasse zusammenschließen.




Verbote gegen Palästinasolidarität: Diktatorische Allüren im demokratischen Wolfspelz

Jan Hektik, Neue Internationale 273, Mai 2023

Solidarität mit Israel ist in Deutschland Teil der Staatsräson. Jede Person, die schon einmal mediale Berichterstattung oder Bundestagsdebatten zum Thema des palästinensischen Widerstandes mitbekommen hat, weiß genau, was das heißt. Am 15.05. ist wieder die alljährliche Nakba und wie letztes Jahr stehen die Uhren des deutschen Rechtsstaats auf Verbot.

So wurden in Berlin am 15. und 16. April zwei Demonstrationen in Solidarität mit den politischen Gefangenen in Palästina verboten. Eine weitere Kundgebung am 17. April wurde ebenfalls untersagt.

Während in Palästina der Widerstand gegen die israelische Apartheid hochkocht und sich auch von der Palästinensischen Autonomiebehörde nicht mehr kontrollieren lässt, demonstrieren gleichzeitig über 100.000 Menschen allein in Tel Aviv gegen die demokratiefeindlichen Reformen der Regierung Netanjahu auf der Straße. Eine Verbindung der Kämpfe bleibt jedoch aus – nicht zuletzt, weil die Bewegung gegen die reaktionäre Regierung selbst den Kampf für die demokratischen Rechte der Palästinenser:innen letztlich ablehnt.

Hetze und Repression

Doch hier in Deutschland, im ach so demokratischen Westen, wo man eine solche Perspektive der gemeinsamen Solidarität und der Kämpfe gegen israelische Besatzung und die weitere Beschneidung demokratischer Rechte in der Region leichter verbinden könnte, wurden Demonstrationen in Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf am Wochenende von der Polizei verboten und vom Verwaltungsgericht bestätigt.

Auslöser dessen ist ein Shitstorm der Presse aufgrund eines Ausrufs auf einer Demo „Tod Israel! Tod den Juden!“ Es wird wegen Volksverhetzung gegen Unbekannt ermittelt und die Demonstrationen eine Woche später wurden verboten mit der Begründung, es sei wahrscheinlich, dass es zu weiteren volksverhetzenden Straftaten und gewaltsamen Ausschreitungen kommen könnte. Zu letzteren kam es übrigens auf erstgenannter Demo nicht.

Darüber hinaus „vergisst“ die bürgerliche Berichterstattung zu erwähnen, dass sich die Organisator:innen der Demonstration entschieden gegen reaktionäre antisemitische Parolen aussprachen. Solche müssen natürlich entschieden abgelehnt werden. Wer einmal Demonstrationen organisiert hat, weiß jedoch auch, dass Veranstalter:innen von Aktionen mit hunderten oder tausenden Teilnehmer:innen keine Verantwortung für reaktionäre Äußerungen Einzelner übernehmen können.

Doch der bürgerlichen Hetze geht es genau darum, eine solche Äußerung eines/r Unbekannten, die/der durchaus auch ein/e Provokateur:in sein kann, den Organisator:innen wie überhaupt der gesamten Palästinasolidarität in die Schuhe zu schieben. Dies läuft über die falsche und reaktionäre Gleichsetzung von Antisemitismus mit Antizionismus.

Zweierlei Maß

Hinzu kommt, dass, nebenbei, auch mit zweierlei Maß gemessen wird, wenn es um linke und rechte Demonstrationen geht.

Der Heßmarsch ist eine von Neonazis jährlich veranstaltete Demonstration zu Ehren und in Gedenken des NSDAP-Mitglieds Rudolf Heß, der nach dem Krieg auf Nachfrage sagte, er bereue nichts, und tatsächlich an der Ermordung von Millionen Jüdinnen und Juden mitgewirkt und diese politisch bis zu seinem Tod verteidigt hat. 2019 verhöhnte der Veranstalter die Opfer des NSU und sagte, dass für Rudolf Heß kein Denkmal gebaut werde, da er „kein Drogenhändler“ und „nicht schwul“ gewesen sei.

Wagt es nicht, uns diese Heuchelei als Kampf gegen Antisemitismus zu verkaufen! Wenn die absolute Mehrheit aller gegen Jüdinnen und Juden gerichteter Straftaten von weißen Nazis begangen wird, diese offen marschieren können und dann den davon Betroffenen mit der Begründung des Antisemitismus das Demonstrationsrecht genommen wird, ist das blanker Hohn. Noch widerlicher wird das Ganze, wenn man die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse mit einbezieht.

Solidarität!

Allein dieses Jahr wurden über 83 Palästinenser:innen durch IDF (Israel Defense Force) oder bewaffnete Siedlergruppierungen getötet. Das palästinensische Gebiet ist von allen Seiten eingezwängt. Die dort wohnenden Menschen leben wie in einem großen Freiluftgefängnis und sind immer wieder Angriffen seitens Israels ausgesetzt. Auch Amnesty International attestiert ihm die Klassifizierung als Apartheidstaat nach UN-Recht, weil es de facto zwei Klassen an Staatsbürger:innen gibt und die palästinensische Bevölkerung weitgehend entrechtet ist.

Die Gewalt der Unterdrücker und die der Unterdrückten sind außerdem nicht mit gleicher Elle zu messen! Aussagen wie „Tod den Juden“ sind gerade im Interesse eines fortschrittlichen Widerstandes zu verurteilen und wer sie verbreitet, muss von Palästinademos verwiesen werden. Doch wir glauben keine Sekunde, dass es dem deutschen Staat oder der Springerpresse um den Schutz des jüdischen Proletariats geht. Wir glauben keine Sekunde, dass es dem israelischen Staat um den Schutz des jüdischen Proletariats geht. Und wir glauben keine Sekunde, dass eine reaktionäre Äußerung eines/r Einzelnen einen gerechten Kampf um nationale Befreiung illegitim macht.

Wir sind solidarisch mit dem palästinensischen Befreiungskampf! Wir kritisieren zugleich die aktuelle Führung des Kampfes, seien es islamistische Kräfte wie die Hamas, seien es bürgerliche wie die Fatah. Aber verteidigen den Widerstand gegen alle heuchlerischen Angriffe des deutschen Staates und seiner Medien.

  • Schluss mit den Demonstrationsverboten! Schluss mit den Verboten palästinensischer Organisationen und Vereine!



Frankreich: Solidarität mit den Opfern des „Wasserkriegs im Département Deux-Sèvres“!

Redaktion, Infomail 1218, 31. März 2023

Am 25. März demonstrierten 30.000 Gewerkschafter:innen, Linke, Grüne und Umweltaktivist:innen gegen den Bau eines weiteren „Megabassins“ zur Bewässerung landwirtschaftlicher Großbetriebe in Sainte-Soline im westfranzösischen Département Deux-Sèvres.

Der Bau von sog. Megabassins, also riesigen Wasserspeichern, die aus den natürlichen Wasserreservoirs der verschiedenen Regionen gespeist werden, stellt seit rund 15 Jahren die von Behörden, Agrobusiness und Agrarindustrie bevorzugte Antwort auf zunehmende Dürren und ausbleibende Niederschläge dar. So soll die bestehende Produktion im Interesse der Konzerne sichergestellt werden – jedoch auf Kosten des Zugangs zu Trink- und Nutzwasser für die Bevölkerung der Region.

Des ökologisch desaströse Vorhaben bedient kurzfristige Profitinteressen auf Kosten weiterer Umweltzerstörung (siehe Dossier in Labournet: https://www.labournet.de/internationales/frankreich/lebensbedingungen-frankreich/der-wasserkrieg-der-deux-sevres-in-frankreich-kommt-es-bei-protesten-gegen-ein-oeffentlich-finanziertes-bewaesserungsprojekt-zu-dutzenden-verletzten/).

Die Massenproteste verdeutlichen, dass die Regierung Macron an allen Fronten ihre Agenda im Interesse des Kapitals durchsetzt. Wie im Kampf um die Rentenreform lässt sie dafür die Polizei ohne Rücksicht auf Leben und Gesundheit der Protestierenden von der Leine. Mit Wasserwerfern, CS-Gas, Einkreisungsgranaten und Prügelbullen gingen rund 1.500 Cops brutal vor, verletzten 200 Personen, davon 40 schwer. Eine, Genosse S., befindet sich im Koma. Er kämpft um sein Leben. Im Folgenden veröffentlichen wir das Kommuniqué von Genoss:innen des Aktivisten. Wir hoffen auf seine Genesung. Wir solidarisieren uns mit allen, die im Kampf gegen das Megabassin und die Rentenreform gegen die organisierte Staatsgewalt angehen – und den Kampf weiterführen gegen ein barbarisches, menschenverachtendes kapitalistisches System.

Kommuniqué bezüglich S., unserem Genossen, der in Folge der Demonstration in Sainte-Soline in akuter Lebensgefahr schwebt.

Unser Genosse S. wurde an diesem Samstag, den 25. März, im Zuge der Demonstration gegen die »Megabassins« in Sainte-Soline von einer Granate am Kopf getroffen. Die Präfektur verhinderte zunächst wissentlich das Eingreifen von Rettungskräften und den späteren Weitertransport in eine Spezialklinik – trotz seines kritischen Zustands.

Aktuell befindet sich S. auf der neurochirurgischen Intensivstation und schwebt weiterhin in akuter Lebensgefahr.

Der massive Ausbruch der Gewalt seitens der Polizeikräfte gegenüber den Demonstrierenden führte – wie unterschiedlichen Berichten zu entnehmen ist – zu hunderten Verletzten, darunter viele Schwerverletzte.

Die 30.000 Demonstrierenden in Sainte-Soline hatten sich versammelt, um das Bauprojekt der »Megabassins« zu blockieren. Hierbei handelt es sich um ein Projekt des Wasserraubs durch eine Minderheit im Interesse der mörderischen Logik des Profits. In der ausufernden Gewalt durch die bewaffneten Diener:innen des Staates tritt diese Logik deutlich hervor.

Die Polizei verstümmelt und versucht zu morden, um im Angesicht der Mobilisierung gegen die Rentenreform den Aufstand zu verhindern und die Bourgeoisie und ihre Welt zu verteidigen. Nichts davon kann unseren Willen aufhalten, ihre Herrschaft zu beenden. Geht am Dienstag, den 28. März, und an den Folgetagen auf die Straße, unterstützt Streiks und Blockaden.

Für S. und für alle Verletzten und Eingesperrten unserer Bewegungen.

Vive la révolution!

Die Genoss*innen von S.




Wir fordern: Abmahnung von Leonie Lieb muss zurückgenommen werden

Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (vernetzung.org), Infomail 1218, 29. März 2023

Der Münchner Stadtrat plante die Schließung der Geburtshilfestation im Klinikum Neuperlach im Jahr 2024. Das hätte einen Rückschritt für eine wohnortnahe, sichere und qualitativ hochwertige Geburtshilfe im Münchner Osten bedeutet. Die betroffenen Beschäftigen haben deshalb im November 2022 eine Petition für den Erhalt der Abteilung gestartet. Mehr als 22.000 Menschen stimmten ihren Argumenten zu und unterschrieben die Petition. Außerdem organisierten sie eine Kundgebung in Neuperlach, besuchten die Stadtratsparteien, um sie an ihr Anliegen zu erinnern und traten in der Presse auf. Durch diesen öffentlichen Druck konnten sie die Stadtratsfraktionen der SPD und der Grünen dazu bewegen, die Entscheidung über den Erhalt der Station bis 2028 zu verschieben.

In einem Interview mit der Tageszeitung junge Welt sprach Leonie über das Engagement für den Erhalt des Kreißsaals und den Zusammenhang zwischen der drohenden Zusammenlegung des Kreißsaals mit dem Klinikum Harlaching und einem profitorientierten Gesundheitssystem. Die Klinik reagierte darauf mit einer Abmahnung, die sie formal mit einem angeblichen Verstoß gegen eine Dienstanweisung begründete. Wir verstehen die Abmahnung von Leonie als Einschüchterungsversuch gegen das Engagement für den Erhalt der Geburtshilfeabteilung. Wir fordern die Klinikleitung deshalb dazu auf, die Abmahnung zurückzunehmen. Wir rufen insbesondere Betriebsgruppen, Gewerkschaften, Parteien und Verbände dazu auf, sich mit Leonie und dem gesamten Team zu solidarisieren.

Mit der folgenden Unterschrift erkläre ich mich mit einer Veröffentlichung einverstanden.

* Bis zum 23. März haben über 300 Personen die Petition unterzeichnet. Die Unterschriften werden in den kommenden Tagen gesammelt und veröffentlicht.

Auswahl an Unterzeichenenden:

Yasmin Fahimi, DGB-Vorsitzende, IGBCE

Ates Gürpinar, MdB, die LINKE, ver.di / GEW

Stefan Jagl, Fraktionsvorsitzender der Fraktion DIE LINKE/Die PARTEI im Münchner Stadtrat, ver.di

René Arnsburg, Landesbezirksvorstand Berlin-Brandenburg, ver.di

Seija Knorr-Köning, Barmherzige Brüder, ver.di

Inés Heider, Kepler-Schule Berlin-Neukölln, GEW

Rojhat Altuntas, FAKS Giesing, GEW

Yunus Aktas, Vivantes Neukölln Azubi, ver.di

Anika Rzepka, Vivantes Service Gesellschaft, ver.di und KGK

Unterzeichnen:

https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLSf4Xt-ZR0cRuqg7hxtdthyfET1Foymxw-1YF_PvyaVrTLyBHw/viewform




Chinas zwei Seiten: Diktatur und Widerstand

Peter Main, Infomail 1217, 15. März 2023

Die letzte Woche hat zwei Seiten des heutigen Chinas gezeigt: die falsche parlamentarische Fassade der Diktatur der KPCh und die wortgewaltige Auflehnung der Hongkonger Demokratieaktivistin Chow Hang-tung gegen diese Diktatur in ihrer Rede auf der Anklagebank nach der Verurteilung, die wir im Folgenden wiedergeben.

KP-Tagung

In Peking ist die jährliche „Zwei-Sitzungen“-Tagung zu Ende gegangen, an der 2.900 „Delegierte“ teilnahmen, die alle von der Kommunistischen Partei handverlesen wurden, um den Mythos einer demokratischen Verfassung aufrechtzuerhalten. Die Zwei Tagungen, die so genannt werden, weil sie den Nationalen Volkskongress und die Politische Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes zusammenbringen, sind verfassungsmäßig das höchste gesetzgebende Organ Chinas. Je komplizierter der Name, desto nichtssagender das eigentliche Gremium, so scheint es, denn die Aufgabe der Tagung besteht lediglich darin, die bereits von der Führung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) getroffenen Entscheidungen zu bestätigen.

Dieses Jahr war insofern etwas anders, als die KPCh im vergangenen Oktober ihren alle fünf Jahre stattfindenden Kongress abhielt und Xi Jinping zum dritten Mal zu ihrem Generalsekretär berief. Gleichzeitig wurden neue Mitglieder des Politbüros und des Ständigen Ausschusses ernannt, die alle als Unterstützer:innen von Xis Fraktion innerhalb der KPCh anerkannt waren. Infolgedessen musste die Versammlung in der vergangenen Woche die gleichen Personen in die Gremien, die das Land formell regieren, wie den Staatsrat, berufen. Alle 2.900 Delegierten stimmten daher pflichtbewusst für Xi als Präsident – nicht, dass es irgendwelche alternativen Kandidat:innen gegeben hätte.

So vorhersehbar all diese Ernennungen auch waren, sehen professionelle China-Beobachter:innen, das heutige Äquivalent zu den „Kremlastrolog:innen“ des ersten Kalten Krieges, eine gewisse Bedeutung in der Beibehaltung von Yi Gang als Gouverneur der Zentralbank. Dies wird als ein beruhigendes Bekenntnis zur Stabilität für die Interessen des Großkapitals gedeutet, das durch das Gerede über größere wirtschaftliche „Reformen“, die die staatliche Kontrolle verstärken werden, beunruhigt ist. Die Ernennung von He Lifeng, dem Vorsitzenden der staatlichen Planungsabteilung (Staatliche Kommission für Entwicklung und Reform), zum Vizepremier, deutet jedoch darauf hin, dass tatsächlich Veränderungen auf der Tagesordnung stehen.

Der Aufstieg von Li Qiang, Xis Nummer zwei in der KPCh und nun zum Ministerpräsidenten Chinas ernannt, veranschaulicht drei wesentliche Merkmale der KPCh-Politik: die anhaltende Unterstützung des Großkapitals, die unanfechtbare Macht der Partei und die völlige Unterordnung unter Xi Jinping. Li war der Shanghaier Parteichef, der Elon Musk dazu überredete, seine Mega-Tesla-Fabrik in der Stadt zu bauen, aber auch die umfassendste und oft tödliche Abriegelung von Chinas Wirtschaftsmetropole auf Anweisung von Xi durchsetzte.

Währenddessen wurde in Hongkong die wahre Bedeutung von „Ein Land, zwei Systeme“, auch bekannt als „Hongkong regiert, Peking herrscht“, vor den Gerichten und auf der Straße demonstriert. 47 Mitglieder von Oppositionsparteien, viele von ihnen ehemalige Mitglieder des Legislativrats der Stadt, stehen vor Gericht, weil sie die Frechheit besaßen, „Vorwahlen“ abzuhalten, um ihre Kandidat:innen für eine Wahl im September 2020 auszuwählen, die dann verschoben wurde.

Anklagen

Wie die Staatsanwaltschaft erklärte, hatten die Angeklagten geplant, ihre Wahlbeteiligung zu maximieren und so ihre Chancen zu erhöhen, genügend Sitze zu gewinnen, um von der Regierung unterstützte Gesetze zu blockieren. Dies stellte eine Verschwörung im Sinne des am 20. Juni 2020 erlassenen Gesetzes über die nationale Sicherheit dar!

Am 8. März, dem Internationalen Frauenkampftag, wurde Mitgliedern der Liga der Sozialdemokrat:innen der Stadt mit Verhaftung gedroht, falls sie an einem Marsch für die Rechte der Frauen teilnähmen – und die Demonstration wurde abrupt abgesagt. Am selben Tag wurde Elizabeth Tang, die frühere Vorsitzende einer Hausangestelltengewerkschaft und Ehefrau von Lee Cheuk-yan, einem der 47 vormaligen Mitglieder des Legislativrats, wegen des Verdachts auf „Zusammenarbeit mit dem Ausland“ verhaftet.

Am Samstag, den 11. März, wurden drei Anführer:innen der Hongkong-Allianz, die die große Demonstration zum Gedenken an das Tiananmen-Massaker 2019 organisiert hatte, zu viereinhalb Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie es versäumt hatten, auf ein Ersuchen der Nationalen Sicherheitspolizei um Daten zu antworten. Die Bedeutung des Prozesses liegt nicht so sehr in der Verurteilung, sondern in seiner möglichen Verwendung als Vorbereitung für eine weitere Strafverfolgung wegen Subversion und Handelns als Agent:innen „einer ausländischen Macht“ – bei der der Schuldspruch zweifellos als „Beweis“ vorgelegt werden wird.

Rede von Chow Hang-tung

Eine der drei, Chow Hang-tung, weigerte sich, vom vorsitzenden Richter zum Schweigen gebracht zu werden, und bestand darauf, ihre Handlungen in einer letzten Rede von der Anklagebank aus zu rechtfertigen. Wir geben diese Rede wieder, sowohl als Geste der Solidarität als auch als Anerkennung für ihren Mut:

„Euer Ehren, wir wissen ganz genau, dass wir keine ausländischen Agent:innen sind, und in dieser einjährigen Prozedur hat sich nichts ergeben, was das Gegenteil beweist. Uns unter solchen Umständen zu verurteilen, bedeutet, Menschen dafür zu bestrafen, dass sie die Wahrheit verteidigen.

Die Wahrheit ist, dass die nationale Sicherheit als hohler Vorwand benutzt wird, um einen totalen Krieg gegen die Zivilgesellschaft zu führen. Die Wahrheit ist, dass unsere Bewegung für Menschenrechte und Demokratie im eigenen Land gewachsen ist und nicht von einem finsteren ausländischen Implantat stammt. Die Wahrheit ist, dass die Menschen hier eine eigene Stimme haben, die nicht zum Schweigen gebracht werden wird.

Dem Bündnis sind die Kosten nicht fremd, die entstehen, wenn man der Macht die Wahrheit sagt. Wir sollten es wissen, da wir seit über 30 Jahren die Wahrheit über das Tiananmen-Massaker bewahren und uns für viele derjenigen eingesetzt haben, die inhaftiert, schikaniert und gedemütigt wurden, weil sie die Wahrheit gesagt haben. Wir sind seit langem bereit, den Preis dafür zu zahlen.

Mit den Bekanntmachungen und der erniedrigenden Einstufung als ausländische Agent:innen wollte die Regierung uns sagen: Geht in die Knie, verratet eure Freund:innen, verratet eure Sache, akzeptiert die absolute Autorität des Staates, der alles weiß und alles entscheidet, und ihr werdet Frieden haben!

Was wir mit unserer Aktion sagen, ist ein einziges Wort: NIE. Ein ungerechter Frieden ist überhaupt keiner. Niemals werden wir unsere Unabhängigkeit vom Staat aufgeben. Niemals werden wir dazu beitragen, unsere eigene Bewegung zu delegitimieren, indem wir das falsche Narrativ der Regierung gutheißen. Niemals werden wir uns selbst und unsere Freund:innen als potenzielle Kriminelle behandeln, nur weil die Regierung uns das vorwirft.

Stattdessen werden wir das tun, was wir schon immer getan haben, nämlich Falschheit mit Wahrheit, Demütigung mit Würde, Geheimhaltung mit Offenheit, Wahnsinn mit Vernunft und Spaltung mit Solidarität bekämpfen. Wir werden gegen diese Ungerechtigkeiten angehen, wo immer wir müssen, sei es auf der Straße, im Gerichtssaal oder in der Gefängniszelle. Dieser Einsatz, einschließlich dessen, was wir in diesem Fall getan haben, ist ein Kampf, den wir hier, in dieser Stadt, die wir unser Zuhause nennen, führen müssen. Denn unsere Freiheit, wir selbst zu sein, steht auf dem Spiel. Es geht um die Zukunft unserer Stadt und sogar um die der ganzen Welt.

Euer Ehren, die heutige Anhörung findet zu einem ironischen Zeitpunkt statt. Während die falschen Volksvertreter:innen in Peking ihre große Versammlung abhalten und damit beschäftigt sind, die Wünsche eines Mannes als die der Nation anzuerkennen, wird den echten Stimmen des Volkes diese Anerkennung in diesem Gerichtssaal verweigert. Wenn die Interessen der Nation von einer Partei oder gar einer Person definiert werden, wird die so genannte ‚nationale Sicherheit’ unweigerlich zu einer Bedrohung für die Rechte und die Sicherheit des Volkes, und zwar auf nationaler und sogar auf globaler Ebene, wie die Beispiele Tiananmen, Xinjiang, die Ukraine und sogar Hongkong zeigen.

Im Vergleich zu diesen eingebildeten Agent:innen nicht identifizierbarer ausländischer Körperschaften ist die konkrete, aber nicht rechenschaftspflichtige Staatsmacht sicherlich die gefährlichere Bestie. Die Regierung betont stets die Priorität ‚Ein Land, zwei Systeme’, aber das bedeutet nicht, dass wir als Bürger:innen dieses Landes die Hauptverantwortung dafür tragen, diese Bestie, die die Welt bedroht, zu zügeln. Deshalb haben wir getan, was wir getan haben, und deshalb dürfen wir niemals aufgeben.

Herr Vorsitzender, verurteilen Sie uns für unseren Ungehorsam, wenn Sie müssen, aber wenn die Ausübung der Macht auf Lügen beruht, ist Ungehorsam die einzige Möglichkeit, menschlich zu sein. Dies ist meine Unterwerfung.“