1

Wir fordern: Abmahnung von Leonie Lieb muss zurückgenommen werden

Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (vernetzung.org), Infomail 1218, 29. März 2023

Der Münchner Stadtrat plante die Schließung der Geburtshilfestation im Klinikum Neuperlach im Jahr 2024. Das hätte einen Rückschritt für eine wohnortnahe, sichere und qualitativ hochwertige Geburtshilfe im Münchner Osten bedeutet. Die betroffenen Beschäftigen haben deshalb im November 2022 eine Petition für den Erhalt der Abteilung gestartet. Mehr als 22.000 Menschen stimmten ihren Argumenten zu und unterschrieben die Petition. Außerdem organisierten sie eine Kundgebung in Neuperlach, besuchten die Stadtratsparteien, um sie an ihr Anliegen zu erinnern und traten in der Presse auf. Durch diesen öffentlichen Druck konnten sie die Stadtratsfraktionen der SPD und der Grünen dazu bewegen, die Entscheidung über den Erhalt der Station bis 2028 zu verschieben.

In einem Interview mit der Tageszeitung junge Welt sprach Leonie über das Engagement für den Erhalt des Kreißsaals und den Zusammenhang zwischen der drohenden Zusammenlegung des Kreißsaals mit dem Klinikum Harlaching und einem profitorientierten Gesundheitssystem. Die Klinik reagierte darauf mit einer Abmahnung, die sie formal mit einem angeblichen Verstoß gegen eine Dienstanweisung begründete. Wir verstehen die Abmahnung von Leonie als Einschüchterungsversuch gegen das Engagement für den Erhalt der Geburtshilfeabteilung. Wir fordern die Klinikleitung deshalb dazu auf, die Abmahnung zurückzunehmen. Wir rufen insbesondere Betriebsgruppen, Gewerkschaften, Parteien und Verbände dazu auf, sich mit Leonie und dem gesamten Team zu solidarisieren.

Mit der folgenden Unterschrift erkläre ich mich mit einer Veröffentlichung einverstanden.

* Bis zum 23. März haben über 300 Personen die Petition unterzeichnet. Die Unterschriften werden in den kommenden Tagen gesammelt und veröffentlicht.

Auswahl an Unterzeichenenden:

Yasmin Fahimi, DGB-Vorsitzende, IGBCE

Ates Gürpinar, MdB, die LINKE, ver.di / GEW

Stefan Jagl, Fraktionsvorsitzender der Fraktion DIE LINKE/Die PARTEI im Münchner Stadtrat, ver.di

René Arnsburg, Landesbezirksvorstand Berlin-Brandenburg, ver.di

Seija Knorr-Köning, Barmherzige Brüder, ver.di

Inés Heider, Kepler-Schule Berlin-Neukölln, GEW

Rojhat Altuntas, FAKS Giesing, GEW

Yunus Aktas, Vivantes Neukölln Azubi, ver.di

Anika Rzepka, Vivantes Service Gesellschaft, ver.di und KGK

Unterzeichnen:

https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLSf4Xt-ZR0cRuqg7hxtdthyfET1Foymxw-1YF_PvyaVrTLyBHw/viewform




Chinas zwei Seiten: Diktatur und Widerstand

Peter Main, Infomail 1217, 15. März 2023

Die letzte Woche hat zwei Seiten des heutigen Chinas gezeigt: die falsche parlamentarische Fassade der Diktatur der KPCh und die wortgewaltige Auflehnung der Hongkonger Demokratieaktivistin Chow Hang-tung gegen diese Diktatur in ihrer Rede auf der Anklagebank nach der Verurteilung, die wir im Folgenden wiedergeben.

KP-Tagung

In Peking ist die jährliche „Zwei-Sitzungen“-Tagung zu Ende gegangen, an der 2.900 „Delegierte“ teilnahmen, die alle von der Kommunistischen Partei handverlesen wurden, um den Mythos einer demokratischen Verfassung aufrechtzuerhalten. Die Zwei Tagungen, die so genannt werden, weil sie den Nationalen Volkskongress und die Politische Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes zusammenbringen, sind verfassungsmäßig das höchste gesetzgebende Organ Chinas. Je komplizierter der Name, desto nichtssagender das eigentliche Gremium, so scheint es, denn die Aufgabe der Tagung besteht lediglich darin, die bereits von der Führung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) getroffenen Entscheidungen zu bestätigen.

Dieses Jahr war insofern etwas anders, als die KPCh im vergangenen Oktober ihren alle fünf Jahre stattfindenden Kongress abhielt und Xi Jinping zum dritten Mal zu ihrem Generalsekretär berief. Gleichzeitig wurden neue Mitglieder des Politbüros und des Ständigen Ausschusses ernannt, die alle als Unterstützer:innen von Xis Fraktion innerhalb der KPCh anerkannt waren. Infolgedessen musste die Versammlung in der vergangenen Woche die gleichen Personen in die Gremien, die das Land formell regieren, wie den Staatsrat, berufen. Alle 2.900 Delegierten stimmten daher pflichtbewusst für Xi als Präsident – nicht, dass es irgendwelche alternativen Kandidat:innen gegeben hätte.

So vorhersehbar all diese Ernennungen auch waren, sehen professionelle China-Beobachter:innen, das heutige Äquivalent zu den „Kremlastrolog:innen“ des ersten Kalten Krieges, eine gewisse Bedeutung in der Beibehaltung von Yi Gang als Gouverneur der Zentralbank. Dies wird als ein beruhigendes Bekenntnis zur Stabilität für die Interessen des Großkapitals gedeutet, das durch das Gerede über größere wirtschaftliche „Reformen“, die die staatliche Kontrolle verstärken werden, beunruhigt ist. Die Ernennung von He Lifeng, dem Vorsitzenden der staatlichen Planungsabteilung (Staatliche Kommission für Entwicklung und Reform), zum Vizepremier, deutet jedoch darauf hin, dass tatsächlich Veränderungen auf der Tagesordnung stehen.

Der Aufstieg von Li Qiang, Xis Nummer zwei in der KPCh und nun zum Ministerpräsidenten Chinas ernannt, veranschaulicht drei wesentliche Merkmale der KPCh-Politik: die anhaltende Unterstützung des Großkapitals, die unanfechtbare Macht der Partei und die völlige Unterordnung unter Xi Jinping. Li war der Shanghaier Parteichef, der Elon Musk dazu überredete, seine Mega-Tesla-Fabrik in der Stadt zu bauen, aber auch die umfassendste und oft tödliche Abriegelung von Chinas Wirtschaftsmetropole auf Anweisung von Xi durchsetzte.

Währenddessen wurde in Hongkong die wahre Bedeutung von „Ein Land, zwei Systeme“, auch bekannt als „Hongkong regiert, Peking herrscht“, vor den Gerichten und auf der Straße demonstriert. 47 Mitglieder von Oppositionsparteien, viele von ihnen ehemalige Mitglieder des Legislativrats der Stadt, stehen vor Gericht, weil sie die Frechheit besaßen, „Vorwahlen“ abzuhalten, um ihre Kandidat:innen für eine Wahl im September 2020 auszuwählen, die dann verschoben wurde.

Anklagen

Wie die Staatsanwaltschaft erklärte, hatten die Angeklagten geplant, ihre Wahlbeteiligung zu maximieren und so ihre Chancen zu erhöhen, genügend Sitze zu gewinnen, um von der Regierung unterstützte Gesetze zu blockieren. Dies stellte eine Verschwörung im Sinne des am 20. Juni 2020 erlassenen Gesetzes über die nationale Sicherheit dar!

Am 8. März, dem Internationalen Frauenkampftag, wurde Mitgliedern der Liga der Sozialdemokrat:innen der Stadt mit Verhaftung gedroht, falls sie an einem Marsch für die Rechte der Frauen teilnähmen – und die Demonstration wurde abrupt abgesagt. Am selben Tag wurde Elizabeth Tang, die frühere Vorsitzende einer Hausangestelltengewerkschaft und Ehefrau von Lee Cheuk-yan, einem der 47 vormaligen Mitglieder des Legislativrats, wegen des Verdachts auf „Zusammenarbeit mit dem Ausland“ verhaftet.

Am Samstag, den 11. März, wurden drei Anführer:innen der Hongkong-Allianz, die die große Demonstration zum Gedenken an das Tiananmen-Massaker 2019 organisiert hatte, zu viereinhalb Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie es versäumt hatten, auf ein Ersuchen der Nationalen Sicherheitspolizei um Daten zu antworten. Die Bedeutung des Prozesses liegt nicht so sehr in der Verurteilung, sondern in seiner möglichen Verwendung als Vorbereitung für eine weitere Strafverfolgung wegen Subversion und Handelns als Agent:innen „einer ausländischen Macht“ – bei der der Schuldspruch zweifellos als „Beweis“ vorgelegt werden wird.

Rede von Chow Hang-tung

Eine der drei, Chow Hang-tung, weigerte sich, vom vorsitzenden Richter zum Schweigen gebracht zu werden, und bestand darauf, ihre Handlungen in einer letzten Rede von der Anklagebank aus zu rechtfertigen. Wir geben diese Rede wieder, sowohl als Geste der Solidarität als auch als Anerkennung für ihren Mut:

„Euer Ehren, wir wissen ganz genau, dass wir keine ausländischen Agent:innen sind, und in dieser einjährigen Prozedur hat sich nichts ergeben, was das Gegenteil beweist. Uns unter solchen Umständen zu verurteilen, bedeutet, Menschen dafür zu bestrafen, dass sie die Wahrheit verteidigen.

Die Wahrheit ist, dass die nationale Sicherheit als hohler Vorwand benutzt wird, um einen totalen Krieg gegen die Zivilgesellschaft zu führen. Die Wahrheit ist, dass unsere Bewegung für Menschenrechte und Demokratie im eigenen Land gewachsen ist und nicht von einem finsteren ausländischen Implantat stammt. Die Wahrheit ist, dass die Menschen hier eine eigene Stimme haben, die nicht zum Schweigen gebracht werden wird.

Dem Bündnis sind die Kosten nicht fremd, die entstehen, wenn man der Macht die Wahrheit sagt. Wir sollten es wissen, da wir seit über 30 Jahren die Wahrheit über das Tiananmen-Massaker bewahren und uns für viele derjenigen eingesetzt haben, die inhaftiert, schikaniert und gedemütigt wurden, weil sie die Wahrheit gesagt haben. Wir sind seit langem bereit, den Preis dafür zu zahlen.

Mit den Bekanntmachungen und der erniedrigenden Einstufung als ausländische Agent:innen wollte die Regierung uns sagen: Geht in die Knie, verratet eure Freund:innen, verratet eure Sache, akzeptiert die absolute Autorität des Staates, der alles weiß und alles entscheidet, und ihr werdet Frieden haben!

Was wir mit unserer Aktion sagen, ist ein einziges Wort: NIE. Ein ungerechter Frieden ist überhaupt keiner. Niemals werden wir unsere Unabhängigkeit vom Staat aufgeben. Niemals werden wir dazu beitragen, unsere eigene Bewegung zu delegitimieren, indem wir das falsche Narrativ der Regierung gutheißen. Niemals werden wir uns selbst und unsere Freund:innen als potenzielle Kriminelle behandeln, nur weil die Regierung uns das vorwirft.

Stattdessen werden wir das tun, was wir schon immer getan haben, nämlich Falschheit mit Wahrheit, Demütigung mit Würde, Geheimhaltung mit Offenheit, Wahnsinn mit Vernunft und Spaltung mit Solidarität bekämpfen. Wir werden gegen diese Ungerechtigkeiten angehen, wo immer wir müssen, sei es auf der Straße, im Gerichtssaal oder in der Gefängniszelle. Dieser Einsatz, einschließlich dessen, was wir in diesem Fall getan haben, ist ein Kampf, den wir hier, in dieser Stadt, die wir unser Zuhause nennen, führen müssen. Denn unsere Freiheit, wir selbst zu sein, steht auf dem Spiel. Es geht um die Zukunft unserer Stadt und sogar um die der ganzen Welt.

Euer Ehren, die heutige Anhörung findet zu einem ironischen Zeitpunkt statt. Während die falschen Volksvertreter:innen in Peking ihre große Versammlung abhalten und damit beschäftigt sind, die Wünsche eines Mannes als die der Nation anzuerkennen, wird den echten Stimmen des Volkes diese Anerkennung in diesem Gerichtssaal verweigert. Wenn die Interessen der Nation von einer Partei oder gar einer Person definiert werden, wird die so genannte ‚nationale Sicherheit’ unweigerlich zu einer Bedrohung für die Rechte und die Sicherheit des Volkes, und zwar auf nationaler und sogar auf globaler Ebene, wie die Beispiele Tiananmen, Xinjiang, die Ukraine und sogar Hongkong zeigen.

Im Vergleich zu diesen eingebildeten Agent:innen nicht identifizierbarer ausländischer Körperschaften ist die konkrete, aber nicht rechenschaftspflichtige Staatsmacht sicherlich die gefährlichere Bestie. Die Regierung betont stets die Priorität ‚Ein Land, zwei Systeme’, aber das bedeutet nicht, dass wir als Bürger:innen dieses Landes die Hauptverantwortung dafür tragen, diese Bestie, die die Welt bedroht, zu zügeln. Deshalb haben wir getan, was wir getan haben, und deshalb dürfen wir niemals aufgeben.

Herr Vorsitzender, verurteilen Sie uns für unseren Ungehorsam, wenn Sie müssen, aber wenn die Ausübung der Macht auf Lügen beruht, ist Ungehorsam die einzige Möglichkeit, menschlich zu sein. Dies ist meine Unterwerfung.“




Peru: Die Massen verstärken den Widerstand gegen die Machthaber:innen

KD Tait, Infomail 1213, 13. Februar 2023

Peru ist in eine tiefe Krise gestürzt, nachdem der linke Präsident Pedro Castillo am 7. Dezember durch einen Staatsstreich des Parlaments (Kongress) abgesetzt worden war.

Bereits seit sechs Wochen protestieren und blockieren Arbeiter:innen sowie Bäuerinnen und Bauern im ganzen Land und fordern die aktuelle „Präsidentin“ Dina Boluarte – Castillos ehemalige Stellvertreterin – dazu auf, Neuwahlen und die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung anzuordnen.

Die Reaktion der Regierung bestand darin zu versuchen, die Bewegung in Blut zu ertränken. Mehr als 50 Menschen wurden bisher getötet, darunter vor allem Mitglieder der bäuerlichen Selbstverteidigungsgruppen, der so genannten rondas campesinas, aber auch Unbeteiligte, wurden von der skrupellosen Polizei erschossen, die die Bevölkerung durch Terror zur Aufgabe zwingen will.

Zusammenstöße und Proteste

Am Mittwoch, den 18. Januar 2023, wurden die 35-jährige Sonia Aguilar und der 60-jährige Salomon Valenzuela nach einem friedlichen Protest in der südlichen Provinzhauptstadt Macusani von Scharfschütz:innen der Polizei erschossen. Diese kaltblütigen Morde haben die örtliche Bevölkerung derart aufgebracht, dass sie das Justizgebäude und die Polizeistation niederbrannte und die Polizei aus der Stadt vertrieb.

Dies ist nur einer von vielen vergleichbaren Vorfällen, die die Zustimmung zu den Protesten verstärken, die bisher am stärksten von den indigenen Aymara und Quechua im ländlichen Süden und in den Hochebenen der Anden getragen wurden, welche ihrerseits 2021 in großer Zahl für Castillo gestimmt haben.

Am 19. Januar kam es jedoch zu einer Ausweitung der Proteste, als die Campesinos ihren Kampf im Rahmen eines landesweiten Generalstreiks, der von den wichtigsten Bauernorganisationen und dem Gewerkschaftsverband CGTP unterstützt wurde, auf die Straßen der Hauptstadt Lima brachten.

Diese Demonstration wurde in Anlehnung an die Proteste aus dem Jahr 2000, die die neoliberale Fujimori-Regierung zu Fall brachten, als „Kundgebung der 4 Suyos“ bezeichnet. Ab Montagabend versammelten sich Zehntausende Bäuerinnen/Bauern und Arbeiter:innen in Lima, wo sie solidarisch von Anwohner:innen empfangen und in Universitätsgebäuden untergebracht wurden.

Die Regierung Boluarte, die von der politischen, juristischen und militärischen Elite des Landes unterstützt wird, hatte zuvor den Ausnahmezustand verhängt, Blockaden an den Hauptzufahrten zur Hauptstadt errichtet und ein Aufgebot von 12.000 militarisierten Polizist:innen, ausgerüstet mit Gewehren, Tränengas und gepanzerten Fahrzeugen, zusammengezogen.

All dies konnte die Delegationen aus den Provinzen jedoch nicht abschrecken, denen sich bei der Demonstration eine große Zahl von Arbeiter:innen und Jugendlichen aus der Hauptstadt anschloss. Ein Versuch, zum Kongress zu marschieren, wurde durch Polizeibarrikaden und Tränengas verhindert. Die Demonstration wurde von der Polizei angegriffen und artete in eine Schlägerei aus, bei der sich die Demonstrant:innen mit selbstgebauten Schilden verteidigten.

Der Aktionstag wurde darüber hinaus im ganzen Land begangen, mit Massenprotesten in vielen regionalen Hauptstädten. Im Süden des Landes wurden Versuche, die örtlichen Flughäfen zu besetzen, mit Schüssen beantwortet: Dabei wurde in der zweitgrößten Stadt der Region Arequipa der 30-jährige Jhancarlo Condori Arcana durch einen Bauchschuss getötet.

Am späten Abend des 19. Januar hielt Boluarte eine Fernsehansprache, in der sie die Proteste als einen Versuch von Gesetzesbrecher:innen bezeichnete, Unruhe zu stiften und die Macht an sich zu reißen. Sie erklärte, ihre Regierung bleibe „fest und geschlossener als je zuvor“. Als Reaktion auf das weitere Erstarken der Opposition weitete sie aber den Ausnahmezustand auf drei weitere Regionen aus und stellte damit fast ein Viertel des Landes unter Kriegsrecht.

Ein Putsch der herrschenden Klasse

Peru befindet sich seit dem Ende des Rohstoffbooms im Jahr 2014 in einer tiefgreifenden sozialen und politischen Krise. Das Land ist der zweitgrößte Kupferproduzent der Welt und ein bedeutender Lieferant von wichtigen Mineralien wie Gold, Zinn und Zink sowie von Gas. Allerdings ist seine Landwirtschaft stark von Getreide- und Düngemittellieferungen abhängig, die durch den Krieg zwischen Russland und der Ukraine und die von den USA verhängten internationalen Sanktionen unterbrochen wurden.

Die akute Wirtschaftskrise wurde bereits durch die Coronapandemie weiter verschärft. Der Anteil der im informellen Sektor beschäftigten Bevölkerung stieg fast über Nacht von 75 % auf 90 %. Das überforderte Gesundheitssystem brach faktisch zusammen, so dass Peru die weltweit höchste Coronatodesrate pro Kopf aufwies. Der Mangel an lebenswichtigen Gütern, der in den von der indigenen Bevölkerung bewohnten ländlichen Gebieten bereits gravierend war, breitete sich auf die Armenviertel der Großstädte aus.

Die großen Parteien gerieten zunehmend in Verruf, wurden von Korruptionsvorwürfen erschüttert, lösten und stellten sich bei jedem Amtsenthebungsverfahren und jeder Parlamentsauflösung neu auf.

Vor diesem Hintergrund wurde Pedro Castillo, ein Lehrer und Gewerkschaftsführer, im Juli 2021 gewählt, wobei er Keiko Fujimori, die Kandidatin der Oligarchen und multinationalen Bergbauunternehmen, knapp besiegte. Seine Wahl bedeutete eine Revolte der indigenen und städtischen Armen gegen die neoliberale Politik, die die ländlichen Gebiete weiter verarmt und die Mittel- und Oberschicht bereichert hat.

Castillos Anziehungskraft beruhte weitgehend auf seinem Ruf als unbestechlicher Außenseiter und Kämpfer für die Interessen der Armen, den er sich als Anführer des Lehrerstreiks 2017 erworben hatte. Sein politisches Programm war vage. Es beschränkte sich darauf, eine neue Verfassung vorzuschlagen, den Bergbausektor zu verstaatlichen und dies mit einem konservativen, gesellschaftspolitischen Programm zu verbinden, das sich u. a. gegen die Liberalisierung des Abtreibungsrechts, die gleichgeschlechtliche Ehe, die Abschaffung der Privilegien der katholischen Kirche aussprach.

In der Verfassung von 1993 ist das neoliberale Modell verankert, mit dem die riesigen natürlichen Ressourcen Perus von ausländischem Kapital und seinen peruanischen Agent:innen geplündert wurden. Reformen waren bereits früher vorgeschlagen worden, aber nie zustande gekommen. Trotz dieses zaghaften Programms und der schwachen, von einer Koalition abhängigen Partei waren die peruanischen Eliten, die Oligarch:innen, die Grundbesitzer:innen, der Unternehmerverband und ihre ausländischen Agent:innen entschlossen, nicht das Risiko einzugehen, dass Castillos Anhänger:innen seine Wahl als Signal verstehen könnten, sich das zu nehmen, was ihnen rechtmäßig gehört. Er musste mit allen Mitteln verschwinden.

Nachdem es der Oligarchie mit ihrer hysterischen antikommunistischen Kampagne nicht gelungen war, die Wahl Castillos zu verhindern, griffen sie auf die Methoden rechter Möchtegerndiktatoren wie Donald Trump und Jair Bolsonaro zurück: Sie prangerten die Wahl als Fälschung an, ungeachtet von Beweisen.

Die Anhänger:innen der rechten Parteien, die sich überwiegend aus spanischsprachigen Mittelschichten aus Lima und den Küstenstädten zusammensetzen, Nachfahr:innen der alten Siedlerelite, veranstalteten eine Reihe gewaltsamer Kundgebungen, bei denen das Konquistadorenkreuz und der Hitlergruß ihre rassistische Angst vor einer Übernahme des „europäischen“ Peru durch kommunistische „Indianer:innen“ zum Ausdruck brachten.

Das Scheitern der „Rosa Welle“

Von Anfang an war Castillo ein Gefangener der peruanischen Kapitalist:innen und ihrer Justiz, Polizei und ihres Militärs. In 16 Monaten ernannte er fünf verschiedene Kabinette, ernannte 80 Minister:innen, überstand zwei Amtsenthebungsverfahren und verließ seine Partei Perú Libre (Freies Peru).

Seine immer weiter nach rechts gerückten Ernennungen, darunter auch vom IWF vorgeschlagene „Expert:innen“, führten zu immer neuen Vorwürfen der Vetternwirtschaft und Korruption. Sein Versuch, sich die Gunst Washingtons zu sichern, indem er gemeinsam mit anderen Präsidenten der links-populistischen „Rosa Welle“ wie Gabriel Boric in Chile und Gustavo Petro in Kolumbien die venezolanische Regierung als „undemokratisch“ anprangerte, unterstrich nur seine Schwäche und Abhängigkeit vom Imperialismus.

Dies wurde durch seine Zustimmung zu einer neuen US-Militärmission auf peruanischem Boden zur Ausbildung der Armee und der Polizei des Landes noch verstärkt: eine auf Jahrzehnte angelegte Maßnahme, die die Kontrolle der USA über einen repressiven Sicherheitsapparat zementiert, auf den man sich bei der Verteidigung der Interessen des US-Imperialismus und seiner Verbündeten in der Region verlassen kann.

Anstatt seine Anhänger:innen zu mobilisieren, um den Widerstand der Oligarchie durch die Besetzung und Enteignung ihres Eigentums zu brechen, versuchte Castillo, die Kräfte zu beschwichtigen, die sich für seinen Sturz einsetzen. Im November bat er die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), eine Abteilung des US-Außenministeriums, die für ihre Beteiligung an von der CIA organisierten Staatsstreichen berüchtigt ist, ihn gegen „eine neue Art von Staatsstreich“ zu verteidigen.

Ihre Antwort vom 1. Dezember, in der sie zu einem „politischen Waffenstillstand“ aufrief und davor warnte, dass die Aktionen beider Fraktionen „den demokratischen Institutionalismus“ Perus gefährdeten, wurde von allen Seiten als Weigerung gewertet, Castillo zu unterstützen, und gleichzeitig als Signal, dass man sich seinem Sturz nicht widersetzen würde.

Am 7. Dezember, angesichts seiner Lähmung und eines dritten Amtsenthebungsverfahrens gegen ihn, handelte Castillo mit unwahrscheinlicher Entschlossenheit, aber seiner charakteristischen Naivität: Er verhängte den Ausnahmezustand, um per Dekret bis zu Neuwahlen zu regieren. Doch ohne die Unterstützung von Armee und Polizei war Castillos 18. Brumaire ein Fiasko, das in einer Gefängniszelle endete, nachdem die Präsidentengarde, die ihn zu seinem Asyl in der mexikanischen Botschaft eskortieren sollte, ihn stattdessen im Polizeipräsidium ablieferte.

Castillos schmachvolles Ende beweist drei Dinge:

Erstens, dass die neue sogenannte „Rosa Welle“ der Linkspopulist:innen ebenso wenig willens oder fähig ist, notwendige Maßnahmen zu ergreifen, um ihre Länder von imperialistischen Plünderungen zu befreien, wie ihre Vorgänger:innen.

Zweitens, dass der US-Imperialismus und seine lokalen Agent:innen in der Zeit drastischen wirtschaftlichen Abschwungs und zwischenimperialistischer Rivalität immer brutalere Mittel zur Unterdrückung der steigenden Flut von Kämpfen vorbereiten, die diese „pinken Linken“ vorerst auf die Chefsessel gebracht haben.

Drittens: Wenn die Arbeiter:innen, die Armen in den Städten und auf dem Lande, nicht mit dem Populismus brechen und ihre eigenen, bewussten politischen und kämpferischen Organisationen aufbauen, werden sie in die Vernichtung geführt, da demokratische Methoden von den aktuellen Machthaber:innen des Kontinents aufgegeben werden.

Sackgasse

Peru wird heute von einer Koalition aus Machthaber:innen regiert, die vordergründig zwar von Castillos ehemaliger Stellvertreterin Dina Boluarte angeführt wird, in Wirklichkeit aber von den rechtsextremen Fujimoristas, den Konzernmedien und der Nationalen Vereinigung für Bergbau, Erdöl und Energie (Sociedad Nacional de Minería, Petróleo y Energía; kurz: SNMPE) gesteuert wird, auf deren Unterstützung sie angewiesen ist.

Trotz der weit verbreiteten Unzufriedenheit mit Castillo zum Zeitpunkt seiner Verhaftung – Forderungen nach seiner Freilassung sind nicht mit solchen nach seiner Rückkehr an die Macht verbunden – erkennen die Armen auf dem Land und in der Stadt, insbesondere in den indigenen Gebieten, den eigentlichen Charakter der Ereignisse: Ein vom Volk gewählter Präsident, der sabotiert und in eine ohnmächtige Marionette der Oligarch:innen und Konzerne verwandelt wurde, ist abgesetzt worden, um Platz für die Rückkehr der verhassten Fujimoristas und Faschist:innen zu machen, die sich der Verteidigung der Profite des Monopolkapitals verschrieben haben, indem sie die Verarmung der Indigenen, der Arbeiter:innen und der Armen verschlimmern.

In jeder Hinsicht folgen die herrschende Klasse und ihre CIA-Berater:innen dem Drehbuch, das während des Putsches gegen den bolivianischen Präsidenten Evo Morales im Jahr 2019 ausgearbeitet wurde – der selbst beschuldigt wird, in Peru den „Separatismus“ zu schüren –, was einen klaren Angriff auf die von ihnen verachtete indigene Bevölkerung darstellt.

Auf Betreiben der Bergbauunternehmen, die am 20. Januar die Rückkehr zur „Rechtsstaatlichkeit, zum Prinzip der Autorität und der Regeln in einem Umfeld des sozialen Friedens“ forderten, hat die Regierung das Kriegsrecht auf weite Teile des Landes ausgedehnt und Polizeikräfte eingesetzt, die Dutzende unbewaffnete Demonstrant:innen massakrierten. Hunderte von Menschen wurden verhaftet. Bei der jüngsten Razzia wurden mehr als 200 Personen in der Universität San Marcos in Lima verhaftet, wo sich Student:innen und Demonstrant:innen aus dem Landesinneren versammelt hatten.

Die mörderische Repression hat es jedoch nicht geschafft, die Opposition zu unterdrücken, und die diskreditierten etablierten Parteien können keine Unterstützung der Bevölkerung für eine neue Regierung erreichen. Die „demokratische“ Lockvogeltaktik, Castillo durch einen gefügigeren Abgeordneten zu ersetzen, hat die Massen nicht täuschen können. Boluarte sah sich bereits gezwungen, vorgezogene Neuwahlen anzukündigen – allerdings erst für 2024.

Neuwahlen zum jetzigen Zeitpunkt hingegen würden der Rebellion einen unzulässigen moralischen und politischen Sieg bescheren. Auch die Forderungen der Bewegung nach einer verfassunggebenden Versammlung sind einem großen Teil der herrschenden Elite ein Dorn im Auge, die sich auf die „Wirtschaftsklauseln“ der Verfassung stützt, um ihren Raubzug zu legalisieren.

Gleichzeitig ist der Widerstand, obwohl er mit jedem Massaker an Größe zunimmt, heterogen und unkoordiniert. Die Führer:innen des größten Gewerkschaftsverbandes CGTP haben sich durch den Druck der Bewegung gezwungen gesehen, deren Forderungen nach Wahlen aufzugreifen und an den Aktionstagen zu Streiks aufzurufen, aber ihre Perspektive sind vorgezogene Wahlen, um die Situation zu entschärfen.

Vom Widerstand zur Revolution

Die Forderungen der Bewegung sind klar: die Absetzung der putschistischen Regierung, die Auflösung des Parlaments und Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung.

Aber die Institutionen der peruanischen „Demokratie“ sind die der Wirtschaftsdiktatur der Oligarchie. Zuzulassen, dass dieses oder ein neu gewähltes Parlament den Widerstand in eine bürgerliche verfassunggebende Versammlung lenkt, die von den offiziellen Institutionen organisiert wird, wäre ein fataler Fehler, der es dem Feind ermöglicht, sich neu zu formieren und für eine neue Offensive aufzurüsten.

Eine solche „legale“ verfassunggebende Versammlung, die unter den Bajonetten der Armee und der Propaganda der Konzernmedien inszeniert wird, wird niemals in die Eigentumsrechte und die militärische Gewalt des Regimes von 1993 eingreifen dürfen. Was wir jetzt brauchen, ist ein Kampfplan, um den Widerstand der Regierung, der Unternehmer:innen und der Sicherheitskräfte zu brechen.

Nach wochenlangem Zögern hat der mit mehr als 800.000 Mitgliedern größte Gewerkschaftsverband CGTP (Allgemeiner Dachverband peruanischer Arbeiter:innen) endlich zu einem unbefristeten, landesweiten Generalstreik aufgerufen, der am 9. Februar beginnen soll. Er fordert unter anderem den Rücktritt von Dina Boluarte als Präsidentin, eine Übergangsregierung, vorgezogene allgemeine Wahlen, ein Referendum über die Verfassung und ein Ende der Tötung protestierender Bürger:innen. Bei dem gewaltsamen Vorgehen der Polizei gegen die Demonstration vom 4. Februar in Lima wurden Dutzende Menschen verwundet.

Dennoch kann auf die Führung der CGTP kein Verlass sein. Da sie vor allem die Beschäftigten des öffentlichen Sektors vertritt, muss der Streik auf die Beschäftigten im Bergbau, in der Erdöl-, Gas- und Stahlindustrie ausgedehnt werden, wenn er die Räder des Profits zum Stillstand bringen soll. Er muss unter der Leitung einer nationalen Koordination stehen, die aus Vertreter:innen der kämpfenden Organisationen der Arbeiter:innen, Bäuer:innen und indigenen Massen gewählt wird. Kurz gesagt, die dringende Aufgabe besteht darin, eine Führung aufzubauen, die mit der Perspektive und der Strategie der Revolution gegen die Ausbeuter:innen und ihr System bewaffnet ist.

Die gesamte Logik des Kampfes zum Sturz des Boluarte-Regimes weist jetzt auf die Vorbereitung der Aufstandsbewegung hin, um eine Regierung der Arbeiter:innen, Bäuer:innen und Indigenen zu installieren, die den Volksmassen verantwortlich ist und von einer Arbeiter:innenmiliz gegen die Konterrevolution verteidigt wird.

Nur unter einer solchen Kontrolle wäre es möglich, eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen, die die Autorität und Fähigkeit besäße, das gesamte reaktionäre Gebäude der Oligarchenverfassung hinwegzufegen, indem sie die politische und soziale Macht in die Hände von Räten und einer Volksmiliz legt. Dies wiederum würde den Weg für eine sozialistische Revolution nicht nur in Peru, sondern auf dem gesamten Kontinent ebnen.




„Erfahrungen, die mich prägen und bleiben werden“

Interview mit Aktivist:in der Lützerath-Besetzung, Infomail 1213, 12. Februar 2023

Vor rund drei Wochen wurde Lützerath geräumt. Welche Eindrücke und Gedanken haben Aktivist:innen von dort mitgenommen? Eines unserer Mitglieder war selbst im Dorf und hat sich nach der Räumung und den Aktionen nochmal mit einem Menschen aus seiner Bezugsgruppe getroffen und unterhalten.

GAM: Es ist jetzt ein bisschen her, dass Lützerath geräumt wurde. Aber alle, die da waren, haben viele und intensive Erinnerungen mitgenommen. Du warst sowohl im Dorf, wurdest geräumt und bist am Samstag auf der Großdemo gewesen. Was bleibt da für dich persönlich von Lützerath?

S: Also im Großen und Ganzen habe ich eine positive Erinnerung an die Zeit in Lützerath selber. Ich habe viele tolle Menschen kennengelernt und hatte sehr gute Gespräche dort. Auch den Kampf habe ich als empowernd wahrgenommen. Wir haben gemeinsam an Barrikaden gebaut und uns zusammen in einem Haus verschanzt, um die Räumung zu verzögern. Mir gibt das generell Energie, dort diese Gemeinschaft gespürt zu haben und in ihr etwas zu erreichen. Wir sind in der ganzen Welt in die Medien gekommen, haben es geschafft, auf Lützerath und das Thema aufmerksam zu machen. Das war auch von Anfang an das Ziel. Ich denke, den meisten Aktivistis war klar, dass es nicht möglich sein wird, die Räumung zu verhindern. Aber wir haben es versucht und alle, die da waren, hatten das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Auch für mich, den Widerstand zu spüren, in dem Haus gewesen zu sein, zusammen zu kochen, zu essen, zu singen, sich auf die Räumung vorzubereiten, sich um einander zu kümmern und dann auch die Räumung gemeinsam durchzustehen. Das sind auf jeden Fall Erfahrungen, die mich weiter prägen und bleiben werden.

GAM: Ja, so ein Gefühl ein bisschen jenseits des Kapitalismus. Auf der anderen Seite der Barrikade passierte das Gegenteil, die Polizei hat RWEs Interessen mit krasser Gewalt durchgesetzt. Wie hast du das wahrgenommen?

S: Ich musste leider auch selbst Polizeigewalt erleben. Am Anfang der Räumung stand ich mit anderen in einer Menschenkette, wo dann ein Polizist auf mich zugerannt ist und mir seine Faust ins Gesicht gehauen hat, wovon ich dann eine blutige Lippe davongetragen habe. Das war unangenehm und im Endeffekt hätte er mich auch einfach zurückdrängen können. Das hätte genau die gleiche Wirkung gehabt. Ich hatte aber den Eindruck, dass er das so machen wollte. Und auch generell hatte ich den Eindruck, dass die Polizei in Lützerath Gewalt angewendet hat, wo es eigentlich nicht nötig gewesen wäre, es überstürzt um Einschüchterung ging und scheinbar auch einfach darum, Gewalt auszuleben. Für die Räumung selbst war das nicht notwendig.

Auch nach meiner Räumung wurde ich zwei Stunden im kalten Regen festgehalten, was sich auch als Gewalt bezeichnen lässt.

Im späteren Verlauf der Großdemo, nach der Räumung, wurde ich dann mit einem Schlagstock am Kopf getroffen, wovon ich eine sechs Zentimeter lange Platzwunde davongetragen habe, was für mich dann im Krankenhaus endete. Im Großen und Ganzen empfand ich das Auftreten der Polizei also sehr unangenehm und gewaltvoll.

GAM: Mhm. Wirklich vielen Aktivist:innen geht es ja so, eine wahrscheinlich dreistellige Zahl an Verletzten und Herbert Reul sagt dann noch „Zeigt euch doch!“, nur um dann noch eine Strafverfolgung hinterherzuschicken. Im Endeffekt sind dann alle mit Verletzungen dem Staat gegenüber alleine und haben nichts gegen die Polizei in der Hand.

Jetzt ist der Kampf ja auch noch nicht vorbei. Die Kohle ist noch im Boden, auch wenn Lützerath zerstört ist. Was denkst du, braucht der Protest noch, damit er erfolgreich werden kann?

S: Also ich verbuche Lützerath schon als Erfolg, einfach weil es medial weltweit und in Deutschland so stark präsent war. Nichtsdestotrotz ist es natürlich so, dass die Räumung durch RWE und Polizei innerhalb kürzester Zeit durchgezogen wurde und auch ohne größere Schwierigkeiten, abgesehen vom Tunnel. Und da kann man sich natürlich die Frage stellen, was hätte helfen können, damit die Räumung hätte verhindert werden können. Einerseits ist da natürlich die Vorstellung, was wäre, wenn Hunderttausende nach Lützerath gekommen wären. Das hätte sicherlich einen Unterschied ausgemacht. Zum andern denke ich aber, dass es einen großen Unterschied machen würde, die Arbeiter:innen von RWE auf unsere Seite zu ziehen und dann gemeinsam mit ihnen diesen Kampf zu führen. Denn sie sind letztlich diejenigen, die im Konzern RWE wirklich was erreichen können. Das  wäre natürlich ein Ziel für die Zukunft, mithilfe von Streiks und der Solidarisierung unter Aktivistis und Mitarbeitenden gegen RWE zu kämpfen.

GAM: Ja, das ist sicher eine wichtige – und große – Aufgabe für die Klimabewegung, auch weil dafür im Betrieb der Einfluss der IG-BCE-Führung gebrochen werden muss, um eine Auseinandersetzung rund um wirklichen Klimaschutz zu erreichen. Zum Schluss nochmal die Frage: Was war der positivste Moment für dich in Lützi?

S: Die Nacht vor der Räumung, sich zusammen vorzubereiten und nochmal eine gute Zeit zu haben. Das war natürlich eine aufregende Zeit, eine Achterbahn der Gefühle. Aber es war auch schön und diese Gemeinschaft wünsche ich mir natürlich manchmal zurück.

GAM: Das wünschen sich sicher viele zurück. Danke schön für das Interview und gute Besserung wegen der Kopfverletzung!

S: Danke schön!




Lützerath ist zerstört – wir sind es nicht

Lars Keller, Infomail 1211, 19. Januar 2023

Mir brutaler Gewalt haben Staat und RWE Fakten geschaffen, Lützerath innerhalb einer Woche gestürmt, geräumt und abgerissen. Hunderte Aktivist:innen wurden aus Baum- und besetzten Häusern vertrieben – Orte, die sie als Zuhause empfanden. 35.000 Klimaschützer:innen kamen am Wochenende und riefen laut: „Lützi bleibt!“ Viele rangen in Schlamm und Sturm mit der Polizei, einige mussten wegen hemmungslos prügelnder Cops ins Krankenhaus. Die Proteste gingen bis zum 18. Januar weiter, einige hundert beteiligten sich an einem dezentralen Aktionstag von Ende Gelände.

Trotzdem, und es tut weh, das zu schreiben – haben wir trotz eines großen Mobilisierungserfolgs und eines riesigen Rückhalts im ganzen Land und weltweit Lützerath an RWE verloren.

Wer noch da ist, sind wir. Wir werden Lützi nicht vergessen, und daraus lernen:

1. Besetzungen sind richtig, aber das Mittel hat Grenzen

Hambi, Danni, Lützi: drei Orte, die wie keine anderen in Deutschland für Kämpfe gegen den fossilen Kapitalismus stehen, gegen Braunkohleabbau und ein aberwitziges Verkehrssystem.

Weitgehend unbemerkt von einer breiten Öffentlichkeit gab und gibt es daneben eine Reihe weiterer, kleinerer Waldbesetzungen. Am 19. Januar räumte die schwarz-grüne Landesregierung Hessens den Fechenheimer Wald in Frankfurt für den Ausbau der A66. Man bleibt sich eben treu.

In Lützerath dauerte der Einsatz anstatt erwarteter bis zu vier Wochen dann doch nur einige Tage. Im Vergleich zum Danni und Hambi eine kurze Zeit (dort knapp 70 bzw. 35 Tage), obwohl die Anzahl der Besetzer:innen ähnlich hoch war. Klarer Weise liegt dieser Unterschied darin, dass ein kleines Dorf leichter zu räumen ist und die Polizei den Ort mit RWE abgesperrt hatte, während im nicht absperrbaren Dannenröder Wald viele Aktivist:innen, die heute geräumt wurden, morgen wieder vor Ort waren.

Dass die Polizei in Lützerath von einer Räumungsdauer von bis zu vier Wochen ausging, liegt sicher auch daran, dass sie mehr militante Gegenwehr erwartet hatte. Doch die Gewalt blieb auf Seiten der Aktivist:innen fast komplett aus, ging wesentlich nur von den Bullen aus, die dabei wiederholt Menschenleben gefährdeten.

Auch wenn es nur wenige Tage dauerte – Lützerath zu besetzen und zu verteidigen, war richtig. Jeder Kampf braucht wirkmächtige Symbole, und Lützi ist so eins. Viele Menschen wurden um diesen Kampf mobilisiert, entwickelten sich politisch weiter, brachen mit den Grünen und hinterfragen einen Staat, der ihnen auf die Fresse gab. Für viele, die durch FFF politisiert wurden, war das die erste größere Konfrontation mit organisierter Polizeigewalt.

Auch wenn die Räumung gelang, so ging das Ziel, die Bewegung zu spalten, nicht auf. Im Gegenteil: Die Repression führte zu einer massiven Solidarisierung mit der Besetzung, einem Gefühl der Gemeinsamkeit aller Demonstrant:innen, ob nun radikaler Linker, entschlossener Aktivist:innen, Gewerkschafter:innen, Mitgliedern von Umweltverbänden, der Linkspartei oder enttäuschten Basismitgliedern von Grünen und SPD. Aus Sicht antikapitalistischer Klimapolitik bedeutet Lützerath einen moralischen, inhaltlichen Sieg, weil eine breite, sich radikalisierende Massenbewegung sichtbar wurde, die nach der Räumung sicher nicht verschwinden wird.

Zudem war Lützi viel mehr als nur die Besetzung. Es gab und gibt eine breite Verankerung in der Region. Über die Grenzen Deutschlands hinweg wurden Menschen mobilisiert – weil es einen Ort, ein Symbol gab, um das sie sich sammeln konnten. Selten hat der Staat auf so einfach verständliche Weise Kapitalinteressen verteidigt, und immer mehr gerade jungen Aktivist:innen wird klar, dass es keine andere Wahl gibt, als sich dem zu widersetzen.

Lützi bedeutet aber auch die Erkenntnis, dass eine Besetzung alleine, selbst mit der Unterstützung von 35.000 Demonstrierenden, die fossile Profitimaschine nicht ausschalten kann.

2. Es knirscht in den Grünen

Lützerath bedeutet auch eine gewisse Zerreißprobe der Grünen. Die Wirkung dessen, dass schon wieder sie daran beteiligt sind, den Braunkohleabbau durchzusetzen, sollte nicht überschätzt werden. Gerade ihre Wähler:innenschaft zeichnet sich durch hohe opportune Elastizität aus, zumal es keine wirklich taugliche Wahlalternative für sie gibt. Sie sollte aber auch nicht unterschätzt werden.

Die Grüne Jugend alleine mobilisierte wahrscheinlich weit über tausend Menschen zur Großdemo und allen ist klar, dass dieser riesige Lochfraß wegen der Grünen passiert, auch wenn ihre Führer:innen noch so oft sagen, dass sie darüber nicht glücklich seien.

So was muss Spuren im Bewusstsein hinterlassen haben. Vor vier Jahren wuchsen die Grünen und besonders die Grüne Jugend auf der Welle von FFF an, auch ohne offen aufzutreten (im Hintergrund dafür umso mehr). Jetzt kommen Zweifel auf und das ist aus antikapitalistischer Sicht gut so. Denn letztlich sind die Grünen dem Kapitalismus verpflichtet, die Welt ist mit ihnen nicht zu retten. Der Bruch mit ihnen ist für alle, die ihnen Lützerath übelnehmen, notwendig und richtig.

Ob es jetzt zu größeren Brüchen mit den Grünen kommt, wird sich zeigen. Es hängt davon ab, ob die Linke eine Alternative formulieren kann und liegt auch an Figuren wie Luisa Neubauer, die dadurch, dass sie sich einerseits als Aktivist:innen verkaufen können, andererseits aber den Bruch mit den Grünen nicht vollziehen, diese Partei von links decken.

Nicht nur die Partei, auch die Ideologie vom grünen Kapitalismus, die Hoffnungen in den „Green New Deal“ der Bundesregierung wurden in Lützerath erschüttert.

So oder so. Wir bieten allen, die nach einer Alternative suchen, die offene Diskussion darüber an, wie wir gegen die Zerstörung unserer Lebensgrundlage kämpfen und gewinnen können.

3. Gewalt, die so nicht heißen darf

Alle, die in und um Lützerath unterwegs waren, nehmen auch eine gewaltvolle Erfahrung mit, die in der bürgerlichen Presse entweder sehr stark relativiert oder uns gleich ganz in die Schuhe geschoben wird.

Dabei belegen unzählige Videos, wie brutal die Polizei gegen uns vorgegangen ist. Viele tragen Platzwunden, Prellungen oder Knochenbrüche davon.

Es ist zynisch, dass wir in der Schule lernen mussten, der Staat verfüge über das Gewaltmonopol, aber wenn er es in aller Schärfe anwendet, soll die Gewalt nur von den anderen ausgegangen sein. Die Gewalt der Bullen wird nicht beim Namen genannt.

Zudem wird unser Protest auf die Frage der Rechtmäßigkeit gelenkt – und damit weg von unseren eigentlichen Forderungen und Zielen, einem effektiven Klimaschutz. Es heißt, die Bullen haben das Recht, Gewalt anzuwenden, RWE habe das Recht, die Kohle abzubaggern, wir hätten kein Recht, uns dem entgegenzustellen. Aber alles, was damit gesagt wird, ist, dass das bürgerliche Recht eben eines ist, das die Zerstörung von Dörfern und Wäldern für Profite zulässt. Es ist das Recht der Kapitalist:innen, ihre Macht zu behalten.

Dagegen zu protestieren, ist legitim, genauso wie, dagegen organisiert Widerstand zu leisten, solange wir untereinander Rücksicht nehmen und Gewalt kein Selbstzweck ist. Dann kann dieser auch der Arbeiter:innenklasse vermittelt, von dieser mitgetragen werden.

4. Antikapitalismus rocks, aber er braucht Klimaklassenkampf!

Womit wir wieder bei der Frage sind: Was sind eigentlich die Mittel, die uns das nächste Lützerath erfolgreich verteidigen lassen?

Eine Besetzung alleine ist es nicht, auch wenn, wie oben beschrieben, es verkürzt wäre, Lützi nur auf die Besetzung zu reduzieren. Wie auch im Danni hätte es sie nie ohne die breite Unterstützung insbesondere vor Ort gegeben.

Es gibt eine gewisse Geschichte von Protesten gegen Umweltzerstörung, die sogar als Massenbewegung auftraten, die – teilweise auch dank roher Polizeigewalt – sogar eine breite moralische Unterstützung genossen und die Umweltschäden trotzdem nicht verhindern konnten. Dazu zählen die Proteste gegen die Startbahn West Frankfurt, Stuttgart 21, die A49 (Danni) oder eben Lützerath. Gorleben und Wackersdorf waren demgegenüber zumindest halb erfolgreich, wobei keineswegs ein schnellstmöglicher Ausstieg aus Atomstrom erreicht wurde und auch nicht, dass die Energiekonzerne die Kosten für Endlagerung und Rückbau der Meiler zahlten.

Alle diese Proteste hatten zumindest zeitweise tausende, teilweise sogar über 100.000e Menschen mobilisiert. Aber warum wurden sie nicht von Erfolg gekrönt trotz aller Entschlossenheit, die Aktivist:innen vor Ort an den Tag legten? Der Kampfgeist vieler anarchistischer Klimaaktivist:innen oder Ende-Gelände-Teilnehmer:innen ist etwas, wovon sich große Teile der sozialistischen Linken eine Scheibe abschneiden könnten.

Aber auch das allein reicht noch nicht. Wir müssen uns klarmachen, dass ohne die Beschäftigten von RWE und anderen Energieunternehmen sowie generell aus der Großindustrie der Kampf gegen diese Kapitale kaum gewonnen werden kann. Auch wenn diese oft jene Schichten der Arbeiter:innenklasse verkörpern, die nicht als erste gegen die Umweltzerstörung aktiv werden, auch wenn sich etliche aus Angst um ihren Arbeitsplatz und ihre Existenz an die Seite „ihres“ Unternehmens stellen, so ist dies kein Naturgesetz. Im Gegenteil: Viele Arbeiter:innen fragen sich selbst, was in Zukunft überhaupt für wen produziert werden soll. Vielen dämmert es längst, dass die ökokapitalistische Transformation der Ampelregierung und EU ein Schwindel ist, der auf ihrem Rücken ausgetragen wird.

Hinzu kommt, dass diese Beschäftigten eine Schlüsselrolle nicht nur bei der Enteignung dieser Konzerne spielen müssen, sondern vor allem bei der Reorganisation der gesamten Energieproduktion unerlässlich sind. Schließlich reicht es nicht, wenn nach einer etwaigen Verstaatlichung von RWE und Co. Staatsbeamt:innen anstelle kapitalistischer Manager:innen den Laden kontrollieren.

Entscheidend ist vielmehr, welche Klasse die Energieproduktion lenkt. Eine Kontrolle durch die Arbeiter:innenklasse – die Beschäftigten wie Vertreter:innen aller Lohnabhängigen, also im Grunde die gesamte Gesellschaft – lässt sich nur mit den Arbeiter:innen von RWE, Vattenfall, LEAG, eon usw. ausüben. Sie sind es, die wir gewinnen, davon überzeugen müssen, dass nicht sie die Energiewende durch Jobverlust bezahlen sollen, sondern sie diese selbst gestalten und vollziehen können.

Die Hürden dafür sind hoch, insbesondere weil mit den Führer:innen der größten Gewerkschaft des Sektors, der IG BCE, große Verfechter:innen fossiler Energien in die Arbeiter:innenklasse wirken. Aber vielleicht müssen wir auch gar nicht dort anfangen, die Verbindung zur Arbeiter:innenklasse zu suchen. Der Bereich des öffentlichen Nahverkehrs, der eine große Interessenüberschneidung mit der Klimabewegung aufweist, bietet sich vielleicht eher als Anknüpfung.

Nächstes Jahr steht dort eine Tarifrunde an. Wir sollten nicht einfach nur eine arbeitsteilige Unterstützung anbieten, sondern mit den Kolleg:innen diskutieren – zum Beispiel darüber, wie ein kostenloser Nahverkehr erreicht werden kann. Hier liegt vielleicht ein Ansatz für Klimaklassenkampf: Arbeitskämpfe nicht nur für höhere Löhne, sondern auch für Streckenausbau und kostenlosen Nahverkehr.

Aber – das wäre ja ein politischer Streik?! Stimmt! Denn Lützi lehrt uns, dass es nicht darauf ankommt, was erlaubt ist und was nicht, sondern auf das, was richtig und wirksam ist.




Großer Alarm in Lützi: Cops stürmen den Ort

Lars Keller, Infomail 1210, 11. Januar 2022

Es wird endgültig Ernst. Heute Morgen wurden die Bewohner:innen und Aktivist:innen in Lützerath  von einem Großaufmarsch der Polizei geweckt. Eine endlose Schlange Bullenwannen zog sich durch den Tagebau Garzweiler. Ihr Ziel ist für heute wohl, einen Zaun um den Ort zu errichten und Barrikaden zu beseitigen. Damit sie dafür freie Hand erhalten, haben sie den Ort gestürmt. Die Besetzer:innen haben sich auf Baumhäusern und Häusern verschanzt, Tripods und Konstruktionen sind besetzt, Sitzblockaden wurden gebildet. Die Polizei arbeitet sich mit Schweißbrennern und schwerem Werkzeug an einbetonierten Stahlträgern ab, Klettercops räumen Strukturen.

Wir lassen uns nicht spalten!

Ideologische Helferin der Bullen und damit von RWEs Profitinteressen ist die Presse, insbesondere die aus dem Haus Springer und anderer Privater. Während im WDR eine Reporterin ihrem Kollegen im Studio noch versucht zu widersprechen, als dieser meinte, im Studio hätte man noch nichts von Polizeigewalt gehört, gibt es für WELT-Abonnent:innen die erwartbare einseitige Berichterstattung. Steinwürfe und Molotowcocktails von Aktivist:innen sind Gewalt. Prügeln, Pfeffern, Schmerzgriffe, Schläge, Stürmen, Schubsen – alles gegenüber friedlichen Aktivist:innen – werden nicht beim Namen genannt: Gewalt, ganz zu schweigen von der Brachialgewalt, die von Räumpanzern, Wasserwerfern, Abrissbaggern bis hin zu den Schaufelradbaggern RWEs ausgeht.

Diese Zerstörung Lützeraths und damit unserer Lebensgrundlagen ist nichts anderes als rohe kapitalistische Gewalt, deren Soldat:innen die Cops sind. Im Fernsehen und Internet wurden heute morgen auch gewerkschaftliche Vertreter:innen der Bullen interviewt. Es soll der Anschein entstehen, sie machen da nur ihren Job, so wie andere Beschäftigte auch. Aber Bullshit! Cop sein ist keine Arbeit wie alle anderen. Sie ist weder politisch neutral (die Politik war‘s, die entschieden hat, Lützerath zu räumen) noch demokratisch (oder gibt es irgendeine zivile Kontrolle über die Polizei?). Sie ist eine hörige gewalttätige Vollstreckerin der Manager:innen von RWE und deren Lakai:innen in der Berufspolitik, die wie schon im Danni und im Hambi Leben gefährdet. um die gewinnbringende Zerstörung der Erde voranzutreiben. Und daher: Bullen raus aus dem Deutschen Gewerkschaftsbund – ihr seid keine Arbeiter:innen!

Die ganze Unterscheidung zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit dient nur dazu, den Protest zu spalten. Herbert Reul forderte völlig zynisch bei der Einweihung einer Polizeiwache, dass sich „die, die das Klima und nicht Chaoten schützen wollen“ von den „Randalierenden distanzieren sollen“! Fallen wir nicht darauf rein! Reul und seine Knüppelgang sind es, die gerade in Lützerath randalieren und Strukturen angreifen!

Lützi ist ein solidarischer Ort. Ob Sitzblockade, Lockon oder auch, wenn Menschen aktiven Widerstand leisten (also Militanz, aka Gewalt), ist legitim und Lützerath hat Platz für alle, solange Rücksicht aufeinander genommen wird. Denn durch Lützi läuft die 1,5-Grad-Grenze. Ihre Verteidigung ist für viele Menschen überlebensnotwendig!

Viele Menschen waren in den letzten Tagen in Lützi, aber haben es wieder verlassen müssen, weil sie zur Arbeit müssen, sich Verhaftungen und Repression nicht leisten können, schlicht Angst vor behelmten Gewalttäter:innen haben. Aber sie waren da, haben sich eingebracht, sind immer noch da, unterstützen das „Unser aller Camp“ in Keyenberg, was nun zum Rückgrat von Lützi wird. Oder sie sind in Gedanken bei den Aktivist:innen, unterstützen sie finanziell oder planen ihre Anreise zur Großdemo am 14. Januar. Alles das ist wichtig! Lützi ist viel mehr als die Bilder, die die Presse zeigt! Es ist eine Bewegung, die sich von der Regierung und insbesondere von den Grünen verraten fühlt. Es sind Anwohner:innen des Tagebaus, die vielleicht selbst in ihrer Vergangenheit vertrieben wurden. Es sind die, denen FFF nicht genug war.

Wie gewinnen wir?

Wer es noch kann – auf nach Lützi! Es wird auch vom Camp in Keyenberg aus immer wieder Aktionen geben, um die Besetzung zu unterstützen. Wer sich da verständlicherweise nicht rein traut – auch kein Problem! Es gibt viele andere Aufgaben: Küfa, Shuttle fahren, Camp aufbauen und vieles mehr.

Die Klimabewegung geht mit Lützi einen wichtigen Schritt. Viele verlieren das Vertrauen in die Grünen, die hier ihre lange Tradition klimazerstörender, bürgerlicher Realpolitik fortsetzen. Der Danni und der Hambi grüßen genauso wie der Plan, eine Erdgasinfrastruktur hochzuziehen, die uns auf Jahre weiter an fossile Energie binden wird. Ob‘s die Welt ruiniert, ist den Grünen egal. Hauptsache es kommt nicht aus Russland!

Zurecht pragert die Vorsitzende der Linkspartei, Janine Wissler, den neuerlichen und sicher nicht letzten Verrat der Grünen (und natürlich auch der SPD) an. Doch sie schweigt sich darüber aus, dass auch Berliner Bullen trotz rot-grün-roter Landesregierung an der Räumung beteiligt sind. Wir fordern die Linkspartei auf, mit diesen Halbheiten zu brechen und den Kampf ohne Wenn und Aber voll zu unterstützen!

Viele Klimaaktivist:innen haben zudem in den letzten Jahren ihren Weg zum Antikapitalismus gefunden. Gut so, denn ohne diesen ist jeder Versuch eines Klimaschutzes im Endeffekt nur Zeit Schinden oder Greenwashing. Es gibt keinen grünen Kapitalismus. Dass Lützi auch den Versuch darstellt, eine andere, solidarische und rücksichtsvollere Art des Zusammenlebens im Kleinen umzusetzen, ist deswegen auch nur konsequent.

Aber Lützi alleine reicht leider nicht. Wir brauchen Klimaklassenkampf! Wir brauchen politische Streiks, die die Forderung nach einer schnellstmöglichen Energiewende durchsetzen – ohne die Kohle unter Lützi! Wir brauchen Betriebsbesetzungen, die für eine nachhaltige Produktion eintreten  (passiert gerade in Italien in einer kleinen Autoteilefabrik bei Florenz).

Die Gewerkschaftsspitzen von IG BCE oder IG Metall wollen davon natürlich nichts wissen. An den Tischen von RWE und VW frisst es sich gut. Umso wichtiger ist es, dass kämpferische Gewerkschafter:innen sich gegen diese Machenschaft organisieren, in den Gewerkschaften eine (klima-)klassenkämpferische Opposition aufbauen. Und umso wichtiger ist es, dass Lützerath auch einen Schritt hin zu einer engen, organischen Verbindung zwischen Klimabewegung und Arbeiter:innenbewegung setzt. Möglichkeiten gibt es viele: Dieses Jahr stehen Tarifrunden bei der Bahn, der Post und im öffentlichen Dienst an. Klimaaktivist:innen sollten hier den Kontakt und den Austausch suchen und Arbeitskämpfe unterstützen, sie politisieren. Besonders im Transportbereich von Bahn und Post bietet es sich an, Themen rund um die Klimakrise einzubringen. Umgekehrt stellt jetzt Lützerath eine große Chance dar. Alle Gewerkschaftslinken sollten sich auf den Weg dorthin machen, wenn sie können. Überlassen wir das Thema nicht den Bossen unserer Gewerkschaften!

  • Lützi bleibt, damit die 1,5-Grad-Grenze bleibt!

  • Freiheit für alle Aktivist:innen – Klima schützen ist kein Verbrechen!

  • Kein Zaun um Lützerath – sofortiger Abbruch des Polizeieinsatzes!

  • Kolleg:innen von der IG BCE: Brecht mit RWE!

  • Kommt am 14. Januar zur Großdemo nach Lützerath!

Unterstützung aus der Ferne

Spendet an die Bewegung vor Ort: Kontoinhaberin: Lützerath lebt, IBAN:  DE24 4306 0967 1204 1870 01, Verwendungszweck: Lützi Lebt.

Oder via PayPal: nutzt gerne den Weg der Überweisung, da wir bei Paypal Gebühren an Elon Musk zahlen müssen: https://cutt.ly/OJAyBsa

Achtet auf Solidemos in Euren Städten!

Macht Solifotos und schickt sie an https://luetzerathlebt.info/ticker/




Silvester 2022: Nach den Böllern kommt der Rassismus

Martin Suchanek, Infomail 1209, 5. Dezember 2023

145 Menschen hat die Polizei lt. Tagesschau bundesweit im Zusammenhang mit Silvesterkrawallen festgenommen, rund zwei Drittel entfielen auf Berlin. Diese sollen nicht nur Einsatzkräfte der Polizei, sondern auch der Feuerwehren, teilweise auch Passant:innen gezielt mit Böllern und Feuerwerkskörpern beschossen haben.

Silvesterkrawalle sind nun nichts total Neues in Deutschland – und erst recht nicht zahlreiche Verletzungen, Schlägereien, Unfälle bei den Neujahrsfeiern. Und ebenso wenig neu ist die fast schon alljährliche Debatte um das Verkaufsverbot von Böllern und Feuerwerkskörpern.

Es mag auch gut sein, dass die Zahl der Einsätze der Polizei und auch direkter bewusster Übergriffe und Angriffe auf Beamt:innen in diesem Jahr nach der Coronapandemie nach oben ging. Dass es sich dabei um eine neue Qualität handelt, muss aber in Zweifel gezogen werden. Bevor wir uns jedoch damit beschäftigen, müssen wir darauf eingehen, was wirklich neu ist: das Ausmaß an offen rassistischer Zuschreibung durch die bürgerliche Politik.

Rassismus und Law and Order

Nachdem sich der Rauch der Feuerwerke längst verzogen hat, legen Politiker:innen und sog. Expert:innen nach. CDU-Fraktionsvize Spahn, einst ein Shootingstar seiner Partei, bringt sich mit rassistischen Zuschreibungen und Law-and-Order-Parolen ins Gespräch – und macht auch gleich die Ursachen für eine angeblich neue Qualität von Rowdytum aus: „ungeregelte Migration, gescheiterte Integration und fehlenden Respekt vor dem Staat“. Die Berliner CDU und FDP legen nach:

„Der CDU-Bezirksstadtrat für Soziales in Neukölln, Falko Liecke, wurde der Berliner Zeitung gegenüber deutlicher. In Neukölln sei eine ‚komplette Parallelgesellschaft herangewachsen, die mit unseren Staatsorganen, der Polizei und unserem Bildungssystem nichts zu tun hat’. Die FDP-Bundesabgeordnete Katja Adler sprach auf Twitter von ‚kultureller Überfremdung’. Der innenpolitische Sprecher der Jungen Union NRW, Manuel Ostermann, ging noch weiter. Das Problem seien ‚nicht die Böller, sondern der asoziale Mob, der damit nicht umgehen kann’, schrieb er. Im Gespräch mit der Bild-Zeitung bedauerte er den Mangel deutscher Grenzkontrollen. Der CDU-Abgeordnete Christoph de Vries scheint bisweilen die Rassentheorie für sich wiederentdeckt zu haben: Wollen wir Krawalle in Großstädten bekämpfen, schrieb er auf Twitter, ‚müssen wir auch über die Rolle von Personen, Phänotypus: westasiatisch, dunklerer Hauttyp sprechen’.“ (https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/silvesternacht-die-boeller-debatte-ist-rassistisch-li.303337)

Der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft DPolG im Deutschen Beamtenbund, Rainer Wendt, stößt ins selbe Horn und verweist auf das „Migrantenmilieu“ als Hort mangelnder Staatstreue. Zudem fordern Polizei- und Feuerwehrgewerkschaften stärkere Überwachung und Videocams.

Da fällt es der AfD und wohl auch so manchem Hardcorenazi schwer, sich nach rechts abzusetzen. AfD-Vorsitzende und -Bundessprecherin Alice Weidel versucht es dennoch und wendet sich gegen jede Erleichterung der Einbürgerung: „Ab diesem Jahr werden all die ‚Menschen‘ eingebürgert. Dann können die Medien ohne schlechtes Gewissen schreiben, dass ‚Deutsche‘ Einsatzkräfte attackierten.“ (https://www.belltower.news/rassistische-narrative-nach-silvester-neues-jahr-alte-hetze-144885/)

Laut Weidel und Co. kann es sich beim „Mob“ überhaupt um keine echten Deutschen, allenfalls nur um „Passdeutsche“ gehandelt haben. Selbst von Menschen mag sie nur unter Anführungszeichen sprechen – und setzt so den rassistischen Zuschreibungen von Liberalen und Konservativen noch eins drauf.

Bürgerliche Öffentlichkeit und Expert:innen

Während ein Teil der bürgerlichen Medien vor rassistischen Zuschreibungen warnt, fordern sog. Qualitätsmedien wie die FAZ, dass nicht weiter abgewiegelt werde, wenn es um Gewalt und Migration gehe. So lobt ihr Redakteur Jasper von Altenbockum den „Mut“ von Spahn und NRW-Innenminister Herbert Reul. die entgegen einer angeblichen Relativierungskultur die „Wahrheit“ ausgesprochen hätten. Schelte gibt es für den Berliner Senat, dem „in solchen Situationen die Worte ‚Linksextremisten’ oder ‚Migranten’“ nicht über die Lippen kommen könnten.

Doch nicht nur die bürgerliche Presse verkehrt die Lage so, also würden über Jahre Migrant:innen oder auch „Linksextreme“ diskursiv geschont, also würden jene, die die veröffentlichte Meinung privatkapitalistisch oder staatlich kontrollieren, vor lauter „Gutmenschen“ nicht mehr zu Wort kommen.

In solchen Situationen werden auch vorgebliche Expert:innen wie der Psychologe Ahmad Mansour gern in der Tageschau und anderen Medien zu Rate gezogen. Sie fabulieren dann von einer „puren Lust an Gewalt“, die auf den Straßen ausgelebt würde. Und weiter: „Es hat aber auch mit patriarchalischen Strukturen zu tun, die dazu führen, dass diese Menschen unseren Rechtsstaat, unsere Polizei, unsere Rettungskräfte als etwas Schwaches wahrnehmen, das man attackieren darf.“ (https://www.tagesschau.de/inland/silvester-gewalt-gegen-polizisten-101.html)

Lassen wir einmal beiseite, dass es an „patriarchalen Strukturen“ auch in „deutschen Milieus“ nicht mangelt, so erhebt sich doch die Frage, warum „unsere Polizei“ nur für wenige Stunden zu Silvester als „etwas Schwaches“ wahrgenommen wird, warum beim racial profiling in Neukölln und anderswo migrantische Jugendliche schikaniert, unterdrückt und Opfer von polizeilicher Gewalt werden?

Die These von der „Schwäche“ des Staates stellt die realen Verhältnisse einfach auf den Kopf. In Wirklichkeit leben die Menschen in keiner „Parallelgesellschaft“, sondern am Rand einer Gesellschaft, die sie nur als Marginalisierte, als billige, entrechtete Arbeitskräfte braucht, deren Wohnviertel gentrifiziert werden (auf Berlin-Kreuzberg folgt zur Zeit Neukölln). Nicht mangelnde „Integrationsbemühungen“, sondern systematische Diskriminierung und Verweigerung realer Integration prägen den Alltag. Die „Silvesterkrawalle“ sind kein Zeichen der Machtlosigkeit des Staates, sondern kurzfristige, emeutenhafte Äußerung der realen Machtlosigkeit Jugendlicher.

Verkehrung

Das polizeiliche, konservative, liberale und rassistische Narrativ stellt das faktisch auf den Kopf. Wer auf gesellschaftliche Ursachen auch nur im bürgerlich-demokratischen Sinn verweist, wird von der FAZ und anderen der Relativierung bezichtigt.

Zugleich werden einzelne, aus der Lebenssituation entrechteter und marginalisierter Jugendlicher entstehende gewaltsame Ausbrüche zu einem „kriminellen Migrantenmilieu“ konstruiert, das vorzugsweise vom Islam geprägt sein soll. Kriminalität, Angriffe auf die Polizei werden zur Tat von Migrant:innen.

Warum eigentlich sollen Menschen einen Staat und seine Repressionsorgane „respektieren“ und schätzen, der sie bei der streng reglementierten Einreise bürokratisch schikaniert und als Menschen 2. Klasse behandelt? Warum sollen Menschen einen Staat „respektieren“, der Geflüchteten über Jahre einen sicheren Aufenthaltsstatus, einen freien Zugang zum Arbeitsmarkt und gleiche demokratische Rechte verwehrt? Warum sollten Menschen einen Staat „respektieren“, der Immobilienhaie schützt, wenn sie deren Wohnungen räumen? Warum sollen Menschen einen Staat „respektieren“, dessen Beamt:innen in der Regel als verlängerter Arm der Unterdrückung fungieren?

Es ist nichts „Überraschendes“ an solchen gelegentlichen Gewaltausbrüchen. Auch dass diese unter anderem in Berlin-Neukölln und Kreuzberg stattfanden, sollte niemanden verwundern – schließlich sind dies auch Zentren der Verdrängung der Armen. Im Grunde handelt es sich dabei um eine gewaltsame Äußerung von Wut und Frustration Marginalisierter, um einen, wenn auch blinden Ausbruch gesellschaftlicher Ohnmacht. Daher auch deren politisch unbestimmter Charakter, daher auch Angriffe nicht nur auf die Polizei, sondern auch auf Feuerwehren oder sogar einzelne Passant:innen. Sie sind Zeichen von Perspektivlosigkeit sowie einer systematischen rassistischen und damit verbundenen sozialen Marginalisierung eines Teils der Arbeiter:innenklasse und eines entstehenden Subproletariats. Der Hass auf „den Staat“, der selbst ihre Unterdrückung exekutiert und täglich befestigt, ist nicht verwunderlich, ja durchaus nachvollziehbar, auch wenn er politisch ohnmächtig in Erscheinung tritt.

Der Trick der rassistischen, konservativen und polizeilichen Zuschreibung besteht nun gerade darin, diese spezifischen, gewaltsamen Ausbrüche von Wut herzunehmen und als Ausdruck der Kriminalität und Asozialität „integrationsunwilligen“, „kulturfremden“, „islamisch“ und „patriarchal“ geprägten „Migrantenmilieus“ zuzuschreiben.

So wird eine direkte Linie zur Silvesternacht von Köln gezogen, so wird der Jahreswechsel herangezogen, um vorzugsweise jungen, männlichen Migranten Kriminalität zuzuschreiben.

Die Jahresstatistik spricht eine andere Sprache. Lt. einem Lagebericht des Innenministeriums wurden 2021 rund 88.600 Übergriffe auf Polizeibeamt:innen erfasst. „Von den bekannten Tätern seien 84 Prozent männlich und 70 Prozent deutsche Staatsbürger.“ (https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-01/silvester-gewalt-jens-spahn) Von einem besonders hohen migrantischen Anteil an den Angriffen auf Polizist:innen kann also keine Rede sein.

Doch das kümmert nicht weiter. Schließlich geht es bei der aktuellen politischen Diskussion um die Silvesternacht nicht um Fakten, sondern um rassistische Stimmungsmache. Die Verschärfung bestehender Gesetze, die geradezu obligatorische Forderung nach rascherer und härterer Aburteilung der Täter:innen bildet dabei nur einen Teilaspekt.

Nicht minder wichtig ist es, den Verweis auf gesellschaftliche Ursachen der Ausschreitungen und auf den staatlichen Rassismus selbst zu diskreditieren. Beispielhaft dafür schlussfolgert ein Kommentar der FAZ:

„Der Gipfel der Relativierung ist erreicht, wenn nicht die Minderheit der Kriminellen, sondern ‚die Gesellschaft’ verantwortlich gemacht wird. Geht es um Migranten, soll das wohl heißen: Staat und Polizei sind selbst schuld, weil sie nicht genug Willkommenskultur gezeigt haben. Das eigentliche Übel beginnt aber in dem Augenblick, in dem politisch nicht wichtig genommen wird, was im Leben ganzer Stadtteile nicht wichtiger sein könnte. ( …  )

Kriminelle Jugendliche, die ‚ihren’ Kiez in Geiselhaft nehmen, rückt man weder mit Wattebäuschchen noch mit der Schweigespirale zu Leibe. Nichts feuert Respektlosigkeit in diesen Milieus mehr an als ein Opfer, das selbst keine Selbstachtung ausstrahlt. Selbstvertrauen, Durchsetzungsfähigkeit und Stärke zeigen Staat und Parteien aber viel zu wenig. Die Innen- ist in diesem Punkt ein Spiegel der Außenpolitik.“

Hier werden die Verhältnisse im Kiez noch einmal auf den Kopf gestellt, ganz so als würden Menschen, die sich als Billigjobber:innen oder Arbeitslose durchs Leben schlagen müssen, hierzulande mit „Wattebäuschchen“ angefasst. Dafür ereifert sich der FAZ-Autor schon über die Vorstellung, dass Staat und Polizei irgendwie für ihr Handeln, für eine rassistische Migrationspolitik und deren Umsetzung verantwortlich sein sollten. Die Schuldumkehr, die die FAZ beklagt, nimmt sie in Wirklichkeit selbst vor, indem in guter alter konservativer Manier gefordert wird, dass endlich Schluss sein müsse mit der Relativierung von Gewaltausbrüchen, die Migrant:innen und/oder Linksradikalen zugeschrieben werden.

Der Staat wird so zum „Opfer“, das endlich mehr „Selbstachtung“ an den Tag legen müsse, mehr Selbstvertrauen, Durchsetzungsvermögen, Stärke – mit anderen Worten mehr Willkür, und das nicht nur im Inland, sondern auch auf der ganzen Welt. Dort gibt es schließlich noch mehr „kriminelle Ausländer:innen“, die dem deutschen Imperialismus nicht den nötigen Respekt entgegenbringen.

Ohnmacht von Rot-Grün-Rot und das Böllerverbot

SPD und Grüne, aber im Grunde auch die Linkspartei stellen sich natürlich auch hinter „unsere Polizei“. Allzu offenen Rassismus der Marke CDU und Co. wollen sie aber auch nicht an den Tag legen. Daher folgen die üblichen Forderungen nach mehr Überwachung und verbesserter Ausrüstung der Polizei durch SPD und Grüne. Die Berliner Regierende Bürgermeisterin Giffey will außerdem auch einen „runden Tisch“ zur Kriminalitätsbekämpfung einberufen. Die Berliner Linkspartei hält sich mit total einseitiger Polizeilobhudelei etwas zurück.

Dafür setzen SPD, Grüne und Linkspartei umso euphorischer auf die Wunderwaffe „Böllerverbot“. Campact hat nach der „Nacht des Grauens“ auch einen Onlineappell für das Verbot gestartet.

Sicherlich lässt sich über Sinn und Unsinn von Feuerwerken und Böller streiten. Unbestreitbar gehören sie aber auch zu der Neujahrsfeier für breite Teile der Bevölkerung. Die Forderung nach einem Totalverbot trifft nicht nur diese Menschen und gängelt sie noch mehr. Sie zieht auch die Forderung nach Stärkung der polizeilichen Befugnisse und zur Vergrößerung des Personals zur Durchsetzung eines solchen Verbotes nach sich. Sie läuft also, ob gewollt oder nicht, auf eine Stärkung des Gewaltmonopols des bürgerlichen Staates hinaus.

Gegen unverantwortlichen und gefährlichen Umgang mit Feuerwerkskörpern und Böllern braucht es in Wirklichkeit keine Polizei – schließlich provoziert die Präsenz der sog. Sicherheitskräfte oft gerade jene Ausschreitungen, die sie angeblich verhindern soll. Statt der Polizei könnten von der Wohnbevölkerung selbst organisierte Selbstschutzgruppen, die von den verschiedenen Communities getragen werden, dafür sorgen, dass alle friedlich und ohne Polizei feiern können.

Der Ruf nach dem Böllerverbot stärkt hingegen die bürgerliche Polizei. Er erweist sich vor allem als völlig hilflos angesichts der rassistischen Hetze. Lahm fordern zwar Campact und Vertreter:innen von SPD, Grünen und Linkspartei ihre bürgerliche und offen rassistische Konkurrenz dazu auf, die Silvesterausschreitungen nicht zu rassistisch „aufzuladen“ oder zu „missbrauchen“. Doch dieser Appell erweist sich als wirkungslos, wenn die Ursache dieser ohnmächtigen Ausbrüche der Wut nicht thematisiert wird, wenn der Zusammenhang zwischen Zusammenstößen mit der Polizei, Rassismus, Ausbeutung migrantischer Arbeitskraft und Perspektivlosigkeit der Jugend selbst nicht in den Blick genommen wird.

Dies ist jedoch für die reformistischen und linksbürgerlichen Parteien schlechthin unmöglich. Schließlich haben sie selbst jene Politik mitzuverantworten, die Millionen rassistisch diskriminiert, die die Zahl der von Armut bedrohten Menschen in Deutschland auf 13 Millionen steigen ließ. Wer über Jahre der Immobilienlobby zuarbeitet, deren Enteignung bekämpft, den Billiglohnsektor ausweitet, hat auch keine Antworten, die Lage von Millionen in Armutsvierteln zu verbessern. Der ruft allenfalls nach dem Placebo Böllerverbot. Im Kampf gegen Rassismus, Armut und kapitalistische Ausbeutung brauchen wir keine Placeboparteien, wir brauchen Kampforgane und eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei, so dass anstelle der Wut, der Verzweiflung der Kampf der Unterdrückten treten kann.




Der Fall Orhan Akman – ein Sittenbild der ver.di-Bürokratie

Helga Schmid, Infomail 1208, 28. Dezember 2022

Seit Monaten würgen ver.di-Verantwortliche interne Kritik gegen überholte Strukturen und falsche politische Ausrichtung mit bürokratischen Mitteln ab. Dabei scheuen sie auch nicht davor zurück, den „Fall“, den sie selbst erst geschaffen haben, vor bürgerliche Gerichte zu bringen.

Mit schikanösen Vorwürfen und Maßnahmen geht der Apparat seit gut sechs Monaten gegen Orhan Akman, ver.di-Bundesfachgruppenleiter für Einzelhandel und Versand, vor. Dazu zählen: zwei Ermahnungen, zwei fristlose Kündigungen (sowie eine dritte, beabsichtigte Kündigung, die dann aus formalen Gründen nicht mehr ausgesprochen wurde), Zutrittsverbot in sein Büro, Abberufung von seiner Funktion als Bundesfachgruppenleiter Einzel- und Versandhandel und Widerruf aller ihm erteilten Tarifvollmachten.

Gericht entscheidet gegen bürokratischen Apparat

Am 13. Dezember hat nun das Arbeitsgericht Berlin die Klage von Orhan Akman gegen seine Kündigung zu seinen Gunsten entschieden und ihm in allen Punkt Recht gegeben (mehr unter: https://orhan-akman.de/).

Der Fall Orhan Akman hat in den letzten Monaten sowohl innerhalb ver.dis, aber auch in der Öffentlichkeit großes Aufsehen erregt. Viele Gliederungen der Gewerkschaft, Betriebsräte, vor allem aus dem Handel, und Einzelpersonen haben sich gegen die ungerechtfertigte Kündigung gewendet und sich für ihre Rücknahme ausgesprochen. Auch persönliche Vermittlungsangebote zwischen Bundesvorstand und Orhan Akman sind insbesondere bei ver.di-Chef Werneke auf Granit gestoßen.

Daraufhin ist Orhan vor Gericht gezogen und hat nun Recht bekommen. Vordergründig ging es um seine – in den Augen des Bundesvorstands – dreiste Kandidatur zum Bundesvorstand gegen seine Kollegin Silke Zimmer. Diese war, nachdem die bisherige Kollegin im Bundesvorstand und Leiterin des Fachbereichs Handel ihren Rücktritt erklärt hatte, vom Bundesfachbereichsvorstand als Kandidatin für den Bundesvorstand gewählt worden. Darüber hinaus werden ihm sein angeblich ungebührliches Verhalten seiner bisherigen „Chefin“ gegenüber vorgeworfen sowie die angebliche Weitergabe von ver.di-Interna an die Presse.

Politische Positionen

Selbst wenn all das der Fall gewesen sein sollte, ist dies kein Kündigungsgrund. In Wirklichkeit sind alle diese Gründe vorgeschoben. Im Wahrheit geht es um seine politische Position, die er mittlerweile auch über seine Website öffentlich gemacht hat. Dort spricht er sich dafür aus, dass sich ver.di nicht mehr einen teuer bezahlten bürokratischen Wasserkopf mit Doppelstrukturen leisten, sondern näher an den Konflikten und Bedürfnissen der Belegschaften und Betriebe sein sollte, um der Krise in den Gewerkschaften und insbesondere bei sich selbst entgegenzuwirken.

Weitere Gründe für den anhaltenden Mitgliederverlust sieht er darin, dass „das beitragszahlende Mitglied immer mehr entmachtet wird und sich in der eigenen Gewerkschaft immer weniger wiederfindet.“  Stattdessen müssen „Beteiligung und demokratische Strukturen“ nicht nur Teil der Satzung sein, sondern auch aktiv umgesetzt werden. Weiterhin schlägt er statt ständiger Umstrukturierungsprojekte, die letztlich nur darauf hinauslaufen, Geld einzusparen, eine andere Ausrichtung der Tarifpolitik vor, die sich an „Wertschöpfungs- und Lieferketten“ orientieren und den nationalen Rahmen auch verlassen müsse. Und dafür müssen die Fachbereiche auch entsprechend ausgerichtet werden. Auch fordert er, das politische Mandat neu aufzugreifen. Politische Streiks gegen Preissteigerungen dürfen kein Tabu sein oder nur auf dem Papier stehen, sondern müssen aktiv von ver.di forciert werden statt sinnloser Appelle an die Regierung wie derzeit wieder in der Konzertierten Aktion.

Alles Vorschläge und Argumente, die nicht nur wir unterstützen können, sondern die auch die gesamte Gewerkschaft und deren Strukturen ernsthaft diskutieren und entscheiden sollten. Dafür müssten die Gewerkschaftsverantwortlichen einen Rahmen schaffen. Ein Vorgehen, das „eigentlich“ ganz normal wäre, wenn man ernsthaft die Krise – sprich den ständigen Mitgliederschwund – in der Organisation bekämpfen will. Aber statt seine Kritik aufzunehmen und darum eine Diskussion in der gesamten Organisation anzuregen und einen Rahmen dafür zu bieten, reagiert der Bundesvorstand mit bürokratischen Maßnahmen gegen Orhan Akman, der seit 20 Jahren aktiv als Hauptamtlicher – unter anderem auch mehrere Jahre in Südamerika – versucht, ver.di als aktiv handelndes Organ der Kolleg:innen erfahrbar zu machen.

Lange hat Orhan Akman dies im politischen Rahmen der Gewerkschaftsbürokratie – als bislang akzeptierter linksreformistischer Teil – betrieben und damit durchaus eine integrative Rolle für den Apparat erfüllt. Aber dass selbst Kritik aus den eigenen Reihen – auch wenn Orhan als eine Persönlichkeit in ver.di bekannt ist, die immer gerne aneckt – versucht wird, mit bürokratischen Mitteln zu ersticken, wirft ein zweifaches Licht auf das Verhältnis der Gewerkschaftsverantwortlichen zur Organisation.

a) Wenn schon in den eigenen hauptamtlichen Reihen keine Kritik zugelassen wird, wie wird mit Kritik aus den Reihen der Ehrenamtlichen und „normalen“ Mitglieder umgegangen? Von einer demokratischen Diskussionskultur in ver.di kann damit nicht mehr gesprochen werden. Im Gegenteil, bürokratisches Abwürgen wird immer mehr die Regel werden. Orhan ist leider nicht der erste Fall, Kritik mit bürokratischen Mitteln bis hin zur Kündigung zu begegnen.

b) Seine Kritik zielt natürlich indirekt auch auf die Pfründe von vielen Hauptamtlichen, die es sich über Aufsichtsratsposten – auch wenn die Aufwandsentschädigungen laut Satzung an ver.di zurückbezahlt werden müss(t)en – oder eine im Vergleich zu vielen Kolleg:innen in den Betrieben bessere Bezahlung oder andere Annehmlichkeiten – sei es „nur“ die Anerkennung durch die Geschäftsführungen als zuverlässige/r Verhandlungspartner:in – in der bestehenden Gesellschaftsordnung gemütlich eingerichtet haben. Diese besondere Schicht von Gewerkschaftsbürokrat:innen will sich natürlich genau diese Annehmlichkeiten und ihre Funktion als Vermittler:in zwischen Lohnarbeit und Kapital nicht wegnehmen lassen und verteidigen diese bis aufs Messer.

Aber die Reaktion auf die völlig absurde Kündigung von Orhan Akman, die sich auch positiv auf seine Vorschläge zur Überwindung der Krise in ver.di bezieht, zeigt, dass es innerhalb der Mitgliedschaft ein großes Bedürfnis gibt, genau über diese Fragen zu sprechen und die Gewerkschaft wieder in ein Organ zur Verteidigung der Interessen der Kolleg:innen zu verwandeln. Eine demokratische Diskussion, die wir alle verteidigen müssen und die auch organisiert zu werden bedarf. Dabei dürfen wir uns aber nicht allein auf Orhan Akman verlassen – mit allem Respekt vor seinem Mut und seiner Beharrlichkeit, dem Druck von oben nicht nachzugeben – oder auf andere Gewerkschaftsverantwortliche, die durchaus mit seinen Positionen sympathisieren. Wir – die Gewerkschaftsmitglieder – müssen dies selbst in die Hand nehmen. Einige Gliederungen wie z. B. die Senior:innen aus München haben Orhan eingeladen, um mit ihm über seine Kündigung und Vorschläge zur Überwindung der Krise zu diskutieren.

Lasst uns Diskussionen örtlich, regional bundesweit in ver.di, aber auch außerhalb der Gewerkschaft organisieren! Bei diesen muss alles auf den Tisch kommen, angefangen von demokratisch gestalteten Tarifrunden, bei denen die Streikenden selbst über den Kampf und das Ergebnis diskutieren und entscheiden können müssen, bis hin zur Frage des politischen Streiks gegen NATO- und Bundeswehraufrüstung im Zuge des Krieges in der Ukraine oder gegen Preissteigerung, und wie dieses umgesetzt werden kann.

Das ist eine langwierige Auseinandersetzung. Was wir dafür brauchen, ist eine organisierte Kraft in ver.di und den anderen Gewerkschaften, die sich regelmäßig trifft und bespricht, welche Initiativen ergriffen werden können, um ver.di und alle Gewerkschaften wieder zu Klassenkampforganen umzugestalten, die die Interessen der Lohnabhängigen, Arbeitslosen, Frauen, Jugendlichen Migrant:innen, der sexuell Unterdrückten und Rentner:innen gegen Kapital und Regierung ohne Wenn und Aber verteidigen. Die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften bietet dafür einen Rahmen – und zugleich muss sie die Tarifrunde nutzen, um VKG-Gruppen vor Ort und in Betrieben aufzubauen.

Solidarität mit Orhan Akman! Lasst uns weitere Diskussionen in den Orten, Regionen und bundesweit über seine Positionen organisieren!




Bundesweite Razzia gegen „Letzte Generation“: Wer ist der Klimaterrorist?

Georg Ismael, Infomail 1206, 13. Dezember 2022

Seit diesem Jahr ist die Klimabewegung in Deutschland um eine neue Organisation und Aktionsform bereichert worden. Sie ist in aller Munde. Natürlich ist von der „Letzten Generation“ die Rede. Ihre Unterstützer:innen begannen sich auf Straßen und an Gemälden festzukleben. Ihre ursprünglichen zwei Forderungen: sofortige Durchsetzung eines Tempolimits von 100 km/h und allgemeine Durchsetzung eines 9-Euro-Tickets.

In den letzten Wochen begann eine Kampagne, insbesondere getragen von der rechten und konservativen Presse sowie von Politiker:innen der AfD und CDU, die die „Letzte Generation“ und ihre Aktionsformen als Klimaterrorismus denunzierten. NRWs Innenminister Reul und andere Gleichgesinnte in Politik und Staat stellten sie einer kriminellen Vereinigung gleich. Unter diesem Verdacht können mit den Paragraphen 129 a und b Organisationen und Vereinigungen in Deutschland mit massiver Repression und Überwachung überzogen werden. Effektiv heben sie den sogenannten Rechtsstaat in Bezug auf die Betroffenen auf.

Hausdurchsuchungen

Nun entschied sich die Staatsanwaltschaft in Neuruppin, Untersuchungen unter diesem Paragraphen aufzunehmen. Das dortige Amtsgericht billigte Hausdurchsuchungen und mit großer Sicherheit auch Überwachung, Abhörungen und die Aufhebung des Postgeheimnisses durch die Polizei gegenüber realen oder angenommenen Mitgliedern der „Letzten Generation“. Heute, am 13.12., durchsuchte die Polizei mit zum Teil dutzenden Beamt:innen die Wohnungen von mindestens 11 Personen. In einem der „Neue Internationale“ bekannten Fall aus Berlin wurde ein Aktivist in Stahlhandschellen abgeführt.

Wir lehnen diese Repression ab. Unsere volle Solidarität gilt den Festgenommenen und der „Letzten Generation“ insgesamt. Wir fordern die sofortige Freilassung aller Festgenommenen, die Einstellung aller Verfahren und Rücknahme aller mit dem Paragraphen 129 verbundenen Schritte. Die vom Staat ergriffenen Maßnahmen kommen tatsächlich einer Aushebelung demokratischer Rechte gleich.

Es gilt aber an dieser Stelle weiterzugehen in der Kritik und Analyse. Der immer wieder aufgebrachte Vorwurf oder die „Fragestellung“ angeblicher Expert:innen der vergangenen Wochen war, ob und inwiefern die „Letzte Generation“ eine neue „Klima-RAF“ sei. Diese Frage so zu stellen, stellt bereits eine Form des Geschichtsrevisionismus dar. Die „Letzte Generation“ war in keinerlei Aktivitäten verwickelt, die jener der RAF gleichkämen.

Reaktionäres Narrativ

Viel entscheidender ist aber, was diese Expert:innen und die bürgerliche Presse, die dieses Narrativ fördert, verschweigen. Ab den 1968ern gab es eine wachsende und für antikapitalistische Ideen offene Jugendbewegung in Deutschland. Diese fand sich allerdings zwischen Hammer und Amboss wieder. Der Hammer waren insbesondere Politiker:innen der CDU, der FDP, aber auch der SPD sowie der Staatsapparat. Der Amboss war im wahrsten Sinne eine unbewegliche Arbeiter:innenbewegung. Die Gewerkschaften unter Führung der SPD verweigerten sich weitestgehend der Solidarität mit der Studierendenbewegung und verschlossen ihre Türen gegenüber den aktiven und motivierten Jugendlichen, die gemeinsam mit den Arbeiter:innen gegen das Kapital kämpfen wollten.

Begleitet wurde diese Entwicklung von einer massiven Hetzkampagne, insbesondere durch die Springerpresse. Diese war maßgeblich mit dafür verantwortlich, dass sich Rechte ermutigt fühlten, den Studentenführer Rudi Dutschke anzuschießen und Polizisten ohne Konsequenzen den Studenten Benno Ohnesorg erschießen konnten. Etliche weitere wurden durch die Berichterstattung in den persönlichen Ruin getrieben.

Wer einen Blick in Zeitungen wie die Welt, BILD oder auch „seriöse“ Publikationen wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung wirft, wird feststellen, dass diese eben nicht nur den oben beschriebenen Staatsterror gegenüber der „Letzten Generation“ befürworten und erbeten, sondern in ihren Kommentarspalten auch den diskursiven Nährboden für rechten Terror gegenüber der Klimabewegung legen.

Es war eine solche politische Atmosphäre, die in den 1970er Jahren einige verzweifelte Revolutionär:innen in den Linksterrorismus trieb. Unabhängig davon, dass dies nicht die Strategie von uns Kommunist:innen ist, muss dieser Umstand anerkannt werden, um die Möglichkeiten für die heutige Entwicklung zu bewerten.

Die Geschichte muss sich aber nicht immer und immer wieder gleich entwickeln. Sie kann es tatsächlich auch nicht, denn sie ist zum Besseren und Schlechteren von den Tätigkeiten der gesellschaftlich handelnden Menschen bestimmt, wird immer wieder von Zeitgenoss:innen neu geschaffen.

Neue Situation

Auch heute, im Jahr 2022, sind die zwei relevanten Hindernisse, mit denen sich bereits die demokratische und antikapitalistische Student:innenbewegung der 1968er konfrontiert sah, der metaphorische Hammer und Amboss, nach wie vor präsent. Gleichzeitig gibt es auch äußere Bedingungen, die sich maßgeblich unterscheiden. Es gibt eine tiefgreifende wirtschaftliche Krise. Es gibt eine zunehmende imperialistische Konkurrenz zwischen den USA, China, Russland und europäischen Industriestaaten wie Deutschland. Diese sind mittlerweile mit kriegerischen Auseinandersetzungen wie in der Ukraine verbunden. Und es gibt eine immer offensichtlicher werdende Klima- und Umweltkatastrophe.

Diese Faktoren werden nicht nur von Aktiven in der Klimabewegung zunehmend gesehen und diskutiert. Sie werden auch von der Arbeiter:innenklasse in Deutschland wahrgenommen. Es gibt eine wirkliche Möglichkeit, diese beiden Bewegungen zu einer Kraft zu verbinden, die echten Systemwechsel, also antikapitalistische Politik und Aktion ermöglicht. Dafür ist es aber unvermeidlich, die Politik der SPD und der Gewerkschaftsbürokratie in Frage zu stellen, die die Arbeiter:innenbewegung im Dornröschenschlaf gegen ihre eigenen Ausbeuter:innen hält und eine wirkliche Verbindung wie den Einsatz des effektivsten Kampfmittels, nämlich des politischen Streiks, mit aller Kraft blockiert.

Das wissen und fürchten letztlich auch die bürgerlichen Politiker:innen und das Kapital. Das ist der eigentliche Grund für die massive Hetzkampagne. Hier arbeiten die Herrschenden erneut an einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung. Kleine, von der Masse isolierte Gruppen lassen sich viel leichter stigmatisieren, auch oder gerade, wenn sie zu Verzweiflungstaten im Stile des individuellen Terrorismus greifen sollten. Was sie wirklich fürchten und verhindern wollen, ist eine antisystemische Verbindung zwischen Jugend und Arbeiter:innen.

Wir hingegen stehen an der Seite der Aktivist:innen der „Letzten Generation“, um diese geschichtliche Entwicklungsmöglichkeit zu eröffnen.

Ein Postskriptum sei noch angebracht. Die Bezeichnung Klimaterrorist stellt den kümmerlichen Charakter der herrschenden deutschen Ideologie zum Besten, die die Dinge immer wieder aufs Neue von den Füßen auf den Kopf stellt. So wie jene, die in Deutschland ihre Arbeit zum Verkauf anbieten, im öffentlichen Diskurs Arbeitnehmer:innen genannt werden, werden nun jene, die das Klima schützen wollen, als Klimaterrorist:innen diffamiert.

Die Wahrheit ist aber: Es ist der deutsche Imperialismus, es sind deutsche Banken, deutsche Unternehmen und die deutsche kapitalistische Gesellschaft, die die natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören drohen. Die arme, halbkoloniale Welt spürt dies bereits massiv. Wenn etwas Klimaterrorismus verkörpert, dann doch wohl, dass Länder wie Deutschland pro Kopf 15 Mal mehr zum globalen Ausstoß von Treibhausgasen beitragen als z. B. Pakistan. Gleichzeitig sind es letztere, die am stärksten betroffen sind. In Pakistan wurden 33 Millionen Menschen im Juni diesen Jahres aufgrund historischer Fluten zu Inlandsflüchtlingen. Währenddessen steigen die Nahrungsmittelpreise durch die Schuldendiktate u. a. des Internationalen Währungsfonds, in dem Deutschland drittgrößter Akteur ist, ins Unermessliche. Während nach wie vor Millionen Menschen allein in Pakistan obdachlos bei Wintereinbruch in Zelten ausharren, stieß Deutschland in diesem Jahr erneut eine Rekordmenge an Treibhausgasen aus. Wenn jemand sich des Klimaterrorismus schuldig macht, dann jene Politiker:innen, die von sich und ihren eigenen Schandtaten ablenken, indem sie jene Aktivist:innen denunzieren, die versuchen, sich dem Untergang der Zivilisation, wie wir sie kennen, entgegenzustemmen.




Solidarität mit den Klimaktivist:innen!

Redaktion, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

In den letzten Wochen ist die Bewegung mit dem Namen „Letzte Generation“ mit ihren Aktionen in aller Munde.

In Berlin laufen über 700 Ermittlungsverfahren gegen sie, über ein Dutzend sitzt im Gefängnis. Von Springer über AfD bis zum Staatsapparat hetzt alles, was Auto fährt und liebt gegen sie. Der Tod einer Radfahrerin wurde gegen die „Letzte Generation“ instrumentalisiert, obwohl nachweislich klar ist, dass dieser mit der Autobahnblockade nichts zu tun hatte. Während radikale Aktionen des zivilen Ungehorsams als Vorboten einer Klima-RAF diffamiert werden, wird dreist verschleiert, dass die Tausenden Verkehrstoten auf deutschen Straßen ein Massensterben sind, das Autoindustrie und Verkehrsministerium zu verantworten haben – nicht Klimaaktivist:innen.

Rechte und Konservative – allen voran AfD und CSU – rufen nach Gesetzesverschärfungen. Der Bayern macht den Vorreiter. Die Freiheit des Rasers wird zum letzte Refugium des Selbstbestimmung des kleinen Mannes verklärt, der ansonsten für die Profite in den Autobuden und an sonstigen Unternehmensstandorten schuftet. So wird einer Besetzerin der A9 nicht nur „Unverhältnismäßigkeit“ und „Störung des Mobilität“ vorgeworfen, sondern auch gleich ein Angriff auf „die Freiheit“ und ihre „Grundordnung“. Dem will die CSU durch die Verhängung von Präventivhaft von bis zu 30 Tagen für mögliche Störenfriede vorgreifen. Die AfD ruft nach der Überwachung der jungen „Verfassungsfeinde“.

Da hilft es den Aktivist:innen der „Letzen Generation“ nichts, dass sie auf Demokratie und Menschenrechte pochen. Längst haben sie bürgerliche Politiker:innen als Staatsfeinde ausgemacht. Für NRW-Innenminister Reul weist die Gruppe Züge einer „kriminellen Vereinigung“ auf, weil sie organisiert vorgeht – eine Begründung, die natürlich jederzeit gegen jede andere Besetzung z. B. sei es einer Braunkohlegrube, eine Straße oder eines Betriebes herangezogen werden kann.

Bei so viel konservativer und rechter Hetze gibt sich die Ampel-Koalition vergleichsweise nüchtern. Die Letzte Generation verdammen natürlich auch diese Parteien, die angesichts von Ukraine-Krieg und Profitinteressen den Klimaschutz auf die lange Bank schieben. Aber, so diese „Verteidiger:innen des Rechtsstaats: Man brauche keine Sondergesetze, die bestehenden würden schon ausreichen, um hunderter Aktivist:innen anzuklagen, zu verurteilen und finanziell auszubluten. Kriminalisierung light, also.

Gegen diese Angriffe braucht es die Solidarität der gesamten Linken und der Arbeiter:innenbewegung. Bei den Prozessen und Gesetzesverschärfungen geht es nicht darum, ob wir mit den Aktionsformen und der politischen der „Letzten Generation“ übereinstimmen, sondern um die Kriminalisierung von Protest und Widerstand der Umweltbewegung. Maßnahmen die heute gegen Klima-Aktivist:innen angewandt werden, können morgen ebenso gut Proteste gegen das Immobilienkapital oder „unverhältnismäßig“ hart geführte Arbeitskämpfe betreffen.

  • Freiheit für alle ihre Gefangenen, Niederschlagung aller Verfahren! Nein zu allen Gesetzesverschärfungen und Präventivhaft! Keine Repression gegen Klimaschützer:innen!