Frankreich: Peitscht Macron seine Reform durch?

Martin Suchanek, Neue Internationale 273, Mai 2023

Ohne Rücksicht auf Verluste peitscht Präsident Macron die Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre durch – gegen eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, den Widerstand der Lohnabhängigen, der Gewerkschaften und der Jugend.

Seit dem 19. Januar gingen an 12 Aktionstagen Millionen auf die Straße, beteiligten sich an Streiks und legten zeitweilig das Land lahm. Anders als in vielen Klassenkämpfen der letzten Jahre gelang es Regierung und Unternehmen nicht, die Einheit der Gewerkschaften zu spalten. Nicht nur die radikaleren Verbände wie die CGT und SUD, sondern auch die notorisch kompromisslerischen wie die CFDT ließen sich bislang auf keinen Kuhhandel mit Macron ein und blieben beim „Non“ zur Rentenreform.

Dabei konnten und können sie sich auf eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung stützen. Rund zwei Drittel lehnen Macrons Politik als Affront ab – und zwar in einem Maße, dass der Präsident und seine Regierung im Parlament keine Mehrheit für die Reform finden konnten.

Klassenkrieg

Doch all das vermochte die Reform nicht zu stoppen. Denn im Gegensatz zu seinen Gegner:innen mangelt es Macron an einem nicht: am Willen, einen zentralen Angriff auf die Arbeiter:innenklasse und alle Unterdrückten im Interesse des französischen Kapitals konsequent durchzuziehen. Dazu ist er auch bereit, die tradierten Spielregeln der Auseinandersetzung zu verlassen und selbst jene der heiligen bürgerlichen Demokratie über Bord zu werfen.

Macron führt einen Klassenkrieg. Er ist nicht nur entschlossen, sich selbst ein politisches Denkmal zu setzen – ganz so wie Margaret Thatcher im Bergarbeiter:innenstreik oder Gerhard Schröder mit der Agenda 2010. Schließlich verbanden diese Politiker:innen ihren Namen nicht einfach mit historischen Niederlagen der Arbeiter:innenklasse. Entscheidend ist vielmehr, dass sie dazu bereit waren, ein höheres Risiko im Klassenkampf einzugehen, eine Konfrontation mit der Arbeiter:innenklasse zu suchen, die ihnen selbst Kopf und Kragen hätte kosten können, wenn die Gegenseite ebenso entschlossen gehandelt hätte. Doch die TUC-Gewerkschaften und Labour weigerten sich, dem Bergarbeiter:innen mit einem Generalstreik zu Hilfe zu kommen. Schröder war nicht nur bereit, den Rückhalt der SPD in großen Teilen der Arbeiter:innenklasse für Jahrzehnte zu opfern, die DGB-Gewerkschaften bauten ihm letztlich auch die politische Mauer, indem sie die Agenda 2010 allenfalls symbolisch angriffen, ansonsten aber „kritisch“ begleiteten und die Montagsdemos bekämpften.

Macron verhält sich ähnlich. Er nutzt die bestehenden bonapartistischen Elemente der französischen Verfassung, der Republik, um das Gesamtinteresse des Kapitals in einer Krise durchzusetzen. Dabei bildet die sog. Rentenreform ein Herzstück seines Vorhabens, den französischen Imperialismus auch ökonomisch konkurrenzfähiger zu machen. Und dafür geht er weiter als frühere Regierungen und Präsidenten.

Angriff auf die Demokratie

Nachdem sich abzeichnete, dass er für die Gesetzesvorhaben im Parlament keine Mehrheit finden würde, umging er es einfach, indem er sich auf Artikel 49.3 der Verfassung berief. Dieser erlaubt ihm, das Parlament zu übergehen und Gesetze zu verabschieden, ohne dass er sich auf eine Mehrheit unter den Abgeordneten stützt, geschweige denn auf ein Mandat des Volkes.

Bewusst nahm er dafür nicht nur die Diskreditierung seiner eigenen Partei bei Millionen Wähler:innen in Kauf, sondern auch die Ausweitung der Proteste. Er erhöhte den Einsatz im Klassenkampf, indem er die Angriffe auf die Rente mit einem auf die bürgerliche Demokratie und ihre Gepflogenheiten verband.

Am 16. März brachte Macron seine Reform unter Berufung auf Artikel 49.3 durch. Das darauf folgende Misstrauensvotum scheiterte am 20. März äußert knapp. 278 Parlamentarier:innen entzogen der Regierung das Vertrauen. 287 stimmten gegen den Misstrauensantrag. Neben Macrons „Ensemble pour la majorité présidentielle“, die über 245 Sitze verfügt, votierte die Mehrheit der Abgeordneten der konservativen, neoliberal-gaullistischen Les Républicains dabei für den Präsidenten.

Auch die folgende Prüfung durch den Verfassungsrat (Conseil Constitutionnel) passierte das Gesetz. Das neunköpfige Gremium, von dem je drei Vertreter:innen vom Präsidenten, von der Nationalversammlung und vom Senat ernannt werden, gilt als Hüter der Verfassung. Faktisch hütet es aber den französischen Kapitalismus. Es setzt sich aus „respektablen“ Vertreter:innen der herrschenden Klasse zusammen wie den beiden ehemaligen Premierministern Laurent Fabius, einem rechten Sozialisten, und dem Konservativen Alain Juppé.

Wenig überraschend erklärte der Verfassungsrat die Reform für rechtens, monierte aber die Streichung von 6 Punkten – und zwar von solchen, die es zugunsten der Lohnabhängigen abgemildert hatten. Darüber hinaus verwarf er eine von der linkspopulistischen NUPES angestrengte Volksabstimmung.

Das soll nicht verwundern. Es war von Beginn an klar, dass Macron den antidemokratischen Paragraph 49.3 ziehen könnte, die Reformen durch parlamentarische Manöver – z. B. versuchte Obstruktionspolitik von Abgeordneten von La France Insoumise – nicht zu verhindern sein würden.

Seit den ersten Anläufen zur Reform in Jahr 2020 und spätestens Ende 2022 ließ Macron keinen Zweifel daran, dass er sein politisches Schicksal an die Maßnahmen knüpfte, sodass sie nur auf der Straße und in den Betrieben gestoppt werden könnten.

Höhepunkt der Mobilisierung

Die Umgehung des Parlamentes am 16. März läutete aber auch den Höhepunkt der Streiks und Protestwelle ein. Vom 19. Januar bis Mitte März beteiligten sich ein bis eineinhalb Millionen Menschen an den jeweiligen Aktionstagen. Hunderttausende legten zeitweilig die Arbeit nieder.

Mit dem Artikel 49.3 griffen Macron und die Regierung Borne auf die antidemokratischen, bonapartistischen Elemente der französischen Verfassung zurück und machten damit den Kampf um die Renten auch zu einem um die Demokratie. Dies verbreitete und intensivierte die Auseinandersetzung enorm.

Am 23. März beteiligten sich 3,5 Millionen Menschen an den Demonstrationen im ganzen Land. Auch kleinere und mittelgroße Städte wurden in die Bewegung gezogen. In den Zentren des Landes fluteten Demonstrant:innen geradezu die Straßen. Rund eine Woche lang kam es zu täglichen Auseinandersetzungen vor allem von jugendlichen Demonstrant:innen mit der Polizei.

Zugleich breitete sich auch die Streikwelle aus – bei der Bahn, in Häfen und an Flughäfen, in den Raffinerien und in der Energiewirtschaft, an Schulen und Universitäten oder bei der städtischen Müllabfuhr. Allerdings erfassten die Streiks im wesentlichen nur Sektoren der Avantgarde, der bewussteren und gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen, nicht jedoch die Masse, vor allem nicht jene der Unorganisierten. Dazu hätte es eines einheitlichen Aufrufs von außen, von den Führungen der Intersyndicale bedurft, der jedoch während der ganzen Zeit ausblieb.

Generalstreik lag in der Luft

Schon im Januar und Februar war die Losung des Generalstreiks unter den Aktivist:innen der Bewegung populär. Nach dem 23. März lag er in der Luft.

Mit seinen antidemokratischen Maßnahmen hatte Macron selbst die Auseinandersetzung weiter politisiert, mit der Frage seines Regimes direkt verknüpft. Er stellte die Machtfrage.

Doch die parlamentarische Linke NUPES entpuppte sich als vollkommen unfähig, diesen Fehdehandschuh aufzugreifen. Nachdem das Parlament umgangen war, versuchte sie es beim Verfassungsrat mit der Einleitung eines monatelangen Volksbegehrens, während Millionen nicht nur wütend, sondern auch kampfbereit waren.

So kam die politische Schlüsselrolle der Führung der Gewerkschaften, der Intersyndicale, eines Zusammenschlusses aller größeren Verbände, zu – und hier besonders der linkeren, klassenkämpferischen wie der CGT und der SUD.

Nach zahlreichen Aktionstagen und angesichts des massiven Anwachsens der Aktionen in der Woche um den 23. März war die Stunde der Entscheidung  gekommen. Entweder würde die Bewegung massiv ausgeweitet werden und die Gewerkschaften und die Arbeiter:innenklasse würden ihrerseits die Machtfrage stellen – oder Macron droht, sämtliche weitere Proteste auszusitzen, indem er auf die Ermüdung und finanzielle Ausdünnung von Streikenden setzt und gegen die militanteren Demonstrant:innen mit immer brutaleren Polizeieinsätzen vorgeht. An seiner Entschlossenheit konnte niemand mehr ernsthaft zweifeln.

Rolle der Apparate

Macron spekulierte außerdem auf die Gewerkschaftsführungen. Ihm war bewusst, dass sie keine politische Generalkonfrontation wollten, sie auf seine Zuspitzung des Kampfes mit keiner eigenen antworten wollten, die die Machtfrage aufwarf. Der Generalstreik lag Ende März in der Luft, aber die Spitzen der Intersyndicale wollten davon nichts wissen – und zwar weil ihnen bewusst war, dass ein Generalstreik gegen die Rente unwillkürlich auch einer zum Sturz von Präsident und Regierung gewesen wäre; weil ihnen bewusst war, dass er die Frage aufgeworfen hätte, wer anstelle von Macron und Borne regieren würde.

Die kompromisslerischen Held:innen vom rechten Flügel der Gewerkschaften wie Laurent Berger, der Vorsitzende der CFDT, standen im Grunde immer schon für Verhandlungen mit der Regierung bereit, wenn diese denn nur mit dem nötigen „Respekt“ verbunden wären, also in den Tretmühlen der Sozialpartner:innenschaft stattfänden. Doch mit diesen Gepflogenheiten hat Macron gebrochen, weil er den Angriff ohne weitere Zugeständnisse durchziehen will.

Die Spitze der radikaleren Gewerkschaften wie jene der CGT setzen darauf, dass, ähnlich wie Anfang der 1990er Jahre, eine Reihe von massenhaften Streik- und Aktionstagen die Regierung oder das Parlament zum Einlenken zwingen würde. Sie gingen im Grunde davon aus, dass der Kampf eine, für das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen entscheidende Frage, im Rahmen der Austragungsform gewerkschaftlicher Auseinandersetzungen bleiben würde. Auch wenn sie nicht alles verhindern würden, so hofften sie doch darauf, dass sie auch vorzeigbare Zugeständnisse erreichen könnten. Auch ihnen hat Macron einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Die Intersyndicale hatte insgesamt keine Antwort auf die Verschärfung des Klassenkampfes durch den Präsidenten. Sie war auf diese Zuspitzung nicht vorbereitet – und sie vermochte es daher auch nicht, ihrerseits Macron mit voller Wucht entgegenzutreten.

Was nötig gewesen wäre

Dazu wäre es nötig gewesen, nach dem antidemokratischen Verfassungscoup offen den Generalstreik auszurufen – einen Generalstreik, der auch im Bewusstsein der gesamten Bevölkerung unmittelbar einen politischen Charakter gehabt hätte.

Das hätte aber erfordert, dass sich die Spitzen von CGT und anderen Verbänden bewusst ihrer Führungsaufgabe hätten stellen müssen, aufhören hätten müssen, als bloße Gewerkschaften, also ökonomische Interessenvertretungen zu handeln. Sie hätten als politische Führung der Arbeiter:innenklasse fungieren müssen.

Angesichts von 3,5 Millionen Demonstrierenden, Hunderttausenden Streikenden und einer Massenempörung im ganzen Land hätte ein Generalstreik auch die unorganisierten Beschäftigten, die Erwerbslosen, die Jugend und Rentner:innen erfassen, mit der Bildung von Streik- und Aktionskomitees eine gigantische Bewegung schaffen können. Diese hätte nicht nur die Rentenreform kassieren, sondern auch die Regierung stürzen können und die Machtfrage aufgeworfen – und zwar nicht in einem bloß parlamentarischen Sinne, sondern im Sinne einer Arbeiter:innenregierung, die sich auf die Organe des Generalstreiks und Selbstverteidigungsorgane der Arbeiter:innenklasse stützt. Kurzum, ein solcher Kampf hätte eine revolutionäre Dynamik entwickeln können.

Doch die Gewerkschaftsführungen – rechte wie linke – zogen es vor, der Zuspitzung des Kampfes auszuweichen. Ende März, in den Tagen, ja in der Woche nach der Umgehung des Parlamentes wäre es möglich gewesen, die Bewegung auf eine neue Stufe zu heben, Schichten der Lohnabhängigen, aber auch des Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten in den Kampf zu ziehen, die normalerweise nicht unter Führung der Gewerkschaften und der bewussteren Teile der Arbeiter:innenklasse mobilisierbar sind.

Ein solcher Schritte hätte auch sicherstellen können, dass die Bewegung breiter und stärker wird und siegen kann. Sie hätte auch den Rechten um Le Pen, die demagogisch versuchen, von der aktuellen politischen Krise zu profitieren, und in den Umfragen vorne liegen, das Wasser abgraben können.

Doch diese Chance wurde vertan. Am bislang letzten Aktionstag am 13. April beteiligten sich nach Gewerkschaftsangaben rund 1,5 Millionen Menschen. Das stellt natürlich noch immer ein enorm hohes Niveau an Aktivität dar. Aber zugleich ging auch die Streikbewegung massiv zurück. Der Kampf gegen die Rentenreform hat seinen vorläufigen Höhepunkt überschritten.

Der nächste Aktionstag wird erst am 1. Mai stattfinden – also mehr als zwei Wochen nach dem 13. April. Das wäre der größte Abstand zwischen Aktionstagen seit Beginn der Bewegung. Da der Erste Mai ein traditioneller Kampftag ist, wird die Beteiligung enorm sein – aber zugleich wird es an dem Feiertag kaum Streiks geben.

Die Gewerkschaftsführungen geben sich natürlich kämpferisch, ja geradezu unnachgiebig. Selbst Laurent Berger will von Gesprächen mit einer Regierung, die ihm keinen Respekt zollt, nichts wissen. Die CGT-Vorsitzende Sophie Binet weist Macrons Einladung an die Gewerkschaften zu Gesprächen, bei denen nichts besprochen wird, als lächerlich zurück.

Aber all das darf uns nicht davor die Augen verschließen lassen, dass die Gewerkschaftsführungen über keine effektive Kampfstrategie verfügen, nachdem der institutionelle Weg abgeschlossen und die Rentenreform beschlossen ist.

Angesichts dieser strategischen Krise kommt das linkspopulistische Wahlbündnis NUPES, bestehend aus Jean-Luc Mélenchons La France Insoumise, aus PS, Grünen und KPF, mit einem neuen Vorschlag um die Ecke. Ein neuer Anlauf zu einer Volksabstimmung soll genommen und beim Verfassungsrat eingebracht werden, der über dessen Zulassung Anfang Mai entscheiden würde. Sollte er dies für rechtens erklären, müssten innerhalb von knapp neun Monaten 5 Millionen Unterschriften gesammelt werden. Das Parlament könnte dann das Vorhaben ein halbes Jahr lang prüfen und würde dann darüber abstimmen – ein Verfahren, das allein angesichts der Stimmenmehrheit, die Macrons Ensemble pour la majorité présidentielle und Les Républicains auf sich vereinen, faktisch zum Scheitern verurteilt ist.

In Wirklichkeit ist das Referendum eine Ablenkung von der Frage, wie der Kampf gegen die Rentenreform und die anderen Angriffe der Regierung noch zum Erfolg geführt werden kann und welche Lehren aus der bisherigen Bewegung zu ziehen sind.

Ganz sicher sind es nicht jene, die Fabien Roussel, der nationale Sekretär der KPF, zieht. So erklärte er: „Durch ein solches Referendum könnte das Land mit demokratischen Mitteln aus der gegenwärtigen Krise erhobenen Hauptes hervorgehen.“ Das Zitat illustriert, wie tief diese sog. Kommunist:innen gesunken sind, wie wenig ihre ganze Politik über den demokratischen Tellerrand „ihres“ Landes hinauszureichen vermag.

Der aktuelle Niedergang der Bewegung bedeutet nicht, dass der Kampf gegen die Rentenreform schon verloren ist. Wohl aber ändern sich die Bedingungen, unter denen ein neuer Aufschwung, eine neue Situation entstehen kann, wo der Generalstreik wieder auf die Tagesordnung rückt.

Wir dürfen schließlich nicht vergessen, dass die gesamte Politik Macrons vor dem Hintergrund einer anhaltend hohen Inflation und geopolitischen Konfrontation, einer tiefgehenden sozialen, politischen und ökologischen Krise stattfindet. Daher kann seine Rentenreform wie die gesamte Regierungspolitik rasch durch andere Einschnitte der Lebensbedingungen der Massen erschüttert werden. Auch wenn Macron seine Rentenreform durch die Institutionen gebracht hat, so hat er längst nicht den französischen Kapitalismus wieder in fit gemacht. Die Beschädigung der bürgerlichen Demokratie, die Desillusionierung von Millionen und Abermillionen, die er billigend als Preis sozialer Verschlechterungen in Kauf nimmt, könnten sich dann als politischer Bumerang erweisen.

Daher gilt es nicht nur, die Bewegung aufrechtzuerhalten, sondern sie vor allem auf die unvermeidlichen nächsten Konfrontationen vorzubereiten.

Dies bedeutet erstens, klar zu erkenne und auszusprechen, dass weder die parlamentarische Linke noch die Führungen der Gewerkschaften eine politische und strategische Antwort auf die großen Angriffe der Regierung des Kapitals formulieren.

In den Gewerkschaften bedarf es jedoch nicht nur des Kampfes um Basisversammlungen und demokratische Aktionskomitees – es bedarf auch einer organisierten, gewerkschaftsübergreifenden klassenkämpferischen Opposition gegen die Bürokratie.

Doch eine betriebliche und gewerkschaftliche Alternative reicht nicht. Eine klassenkämpferische Opposition muss auch eine enge Verbindung mit den sozialen Bewegungen gegen Krieg, Imperialismus, Rassismus, Sexismus und Umweltzerstörung herstellen. Dazu bedarf es einer neuen revolutionären Arbeiter:innenpartei, die sich auf ein Aktionsprogramm stützt, das den Kampf gegen die Angriffe auf demokratische Rechte, auf die Arbeiter:innenklasse mit dem für den Sturz des Kapitalismus verbindet.

Anhang: Warum ist die Rentenfrage so bedeutsam?

Die sog. Rentenreform stellt ein Kernstück der Angriffe des Kapitals nicht erst seit der Präsidentschaft Macrons dar. Schon 1995 versuchte die damalige konservative Regierung Juppé, das Rad der Zeit zurückzudrehen und das Renteneintrittsalter auf 64 Jahre zu erhöhen. Doch sie scheiterte am massiven Widerstand der Arbeiter:innenklasse und der Jugend und musste nach wochenlangen Protesten ihre Gesetzesreform zurückziehen.

Seither probierten sich faktisch alle Präsidenten und Regierungen, ob Sozialist:innen oder Konservative, an einer grundlegenden neoliberalen „Reform“ der Arbeitsbeziehungen und/oder der Sozialversicherung, der Sécurité Sociale, zu der neben der Rentenversichung öffentliche Krankenkassen, Unfallversicherung und die Kasse für Familienzulagen gehören.

Die Sécurité Sociale bildet somit ein zentrales Element der Klassenbeziehungen in Frankreich. Über sie wird ein großer Teil des „Soziallohns“ reguliert, also ein zentraler Teil des Gesamtlohns der Arbeiter:innenklasse.

Schon am Beginn seiner ersten Amtszeit peitschte Macron im Jahr 2017 eine Änderung des Arbeitsgesetzes, des Code du Travail durch – damals noch gestützt auf eine massive Mehrheit im Parlament und ohne großen Widerstand. Darauf sollte die Rentenreform folgen. Doch die Streiks der Eisenbahner:innen im Jahre 2018 gegen wichtige Schritte zu Privatisierung und Verschlechterungen der Arbeitsbeziehungen, die Bewegung der Gilets Jaunes und schließlich die Pandemie zwangen Macron zur Verschiebung seiner von Beginn an angekündigten Rentenreform.

Die Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre enthält dabei zwei Aspekte. Zum einen stellt sie einen grundlegenden Angriff auf errungene Rechte der Arbeiter:innenklasse dar. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit stellt wie alle ähnlich gelagerten Verschlechterungen zugleich auch eine massive Rentenkürzung dar für alle, die aus gesundheitlichen Gründen oder wegen Arbeitslosigkeit nicht bis zum Renteneintrittsalter Vollzeit arbeiten können. Darüber hinaus sieht die „Reform“ auch Abschläge für alle vor, die bis 64 nicht genügend volle Erwerbsjahre auf dem Buckel haben.

Zum anderen stellt sie nicht nur eine wichtige Errungenschaft der Lohnabhängigen dar, sondern spiegelt auch ein Kräfteverhältnis wider, eine klassenpolitische Stellung der Arbeiter:innenklasse. Wird die Rente geschleift, fällt auch diese Stellung, verschiebt sich auch das Kräfteverhältnis zugunsten des Kapitals.




Frankreich: Generalstreik gegen die „Rentenreform“! Nieder mit Macron und der antidemokratischen Fünften Republik!

Marc Lassalle, Infomail 1217, 24. März 2023

Seit zwei Monaten wird Frankreich von Streiks und Protesten gegen den Versuch, das Rentenalter zu erhöhen, erschüttert. Doch nun ist die Krise in eine neue Phase eingetreten.

Nach monatelangen Verhandlungen, in denen versucht wurde, die Stimmen der Abgeordneten des rechten Flügels der Republikaner:innen zu kaufen, konnte die Regierung immer noch keine Mehrheit erlangen – ein Zeichen für den Druck, den die Massen auf alle Abgeordneten ausübten.

Präsident Emmanuel Macron berief sich daraufhin auf Artikel 49.3 der Verfassung, der es ihm erlaubt, das Parlament zu übergehen und Gesetze zu verabschieden, ohne dass es eine Mehrheit unter den Abgeordneten gibt, geschweige denn ein Mandat des Volkes.

Dieser ungeheuerliche Eingriff in die Demokratie löste mehr als eine Woche lang eine neue Serie nächtlicher Proteste aus. In diesen Kämpfen mit den Sicherheitskräften stehen immer mehr junge Menschen an vorderster Front: Sie lassen sich nicht ihrer demokratischen Rechte berauben!

An den Arbeitsplätzen fällt das Tempo des Kampfes uneinheitlich aus. Einige Sektoren wie die Eisenbahnen, die Energiewirtschaft, die Docks und die Müllabfuhr werden seit Wochen bestreikt. Auf den Straßen von Paris türmen sich 10.000 Tonnen Müll. Die Häfen von Marseille und Rouen sind blockiert, ebenso wie mehrere Raffinerien. Die Benzinknappheit ist im Süden des Landes sehr groß und weitet sich unaufhaltsam auf das ganze Land aus.

Der Aktionstag am 23. März brachte 3,5 Millionen Arbeit„nehmer“:innen mit hunderten Demonstrationen auf die Straße. Die Erfahrung der letzten Wochen zeigt jedoch, dass selbst eine Mobilisierung dieses Ausmaßes nicht ausreicht, um die Regierung zum Rückzug zu zwingen, geschweige denn, um sie vollständig abzusetzen, was die notwendige Voraussetzung für die Aufhebung des Gesetzes und eine angemessene Bestrafung für ihre Missachtung der Demokratie wäre.

Alle Gewerkschaftsverbände erklärten, sie würden das Land im März zum Stillstand bringen. Die Realität sieht jedoch bislang anders aus. Einige gut organisierte Sektoren führen zwar erneuerbare Streiks durch (die jeden Morgen in Betriebsversammlungen abgestimmt werden), aber es gibt keine generelle Arbeitsniederlegung. An den Aktionstagen (neun seit Januar) werden Millionen auf die Straße gebracht, aber die Zahl der Streikenden außerhalb dieser Tage ist eher gering.

Was ist hier los? Die Gewerkschaftsführer:innen haben ihre Glaubwürdigkeit in diesem Kampf aufs Spiel gesetzt – sie können heute nicht einfach nachgeben oder sich zurückziehen. Aber sie wollen auch nicht über die aktuelle Strategie hinausgehen. Da die Rentenreform nach allgemeiner und richtiger Auffassung den Lohnabhängigen zwei Jahre ihres Ruhestands vorenthält, würde eine Niederlage bedeuten, dass sie zugeben müssten, dass sie nicht in der Lage sind, die bestehenden Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter:innen zu verteidigen, geschweige denn für Verbesserungen zu kämpfen.

Doch trotz des hohen Einsatzes weigern sich die Gewerkschaften, zu einem Generalstreik aufzurufen. Sie bestehen auf Blockaden, auf Verallgemeinerungen, aber sie haben nicht dazu aufgerufen, dass alle organisiert und gemeinsam das Land in einem unbefristeten politischen Streik lahmlegen. Der Grund dafür ist einfach. Die Zahl der gewerkschaftlich Organisierten in Frankreich ist gering, weniger als 10 Prozent. Die Führungen ziehen es daher vor, gut kontrollierte Streiks in einigen strategischen Sektoren mit „Aktionstagen“ für alle anderen zu kombinieren. Sie ziehen diese konkreten Aktionen einem unbefristeten Generalstreik vor, der zwangsläufig die Organisation alternativer lokaler, regionaler und nationaler Führungen zur Koordinierung erfordern würde. Angesichts eines politischen Kampfes, der eine politische Aktion in gleichem Umfang erfordert, sind die Gewerkschaftsspitzen unschlüssig und verhalten sich zu dieser Aufgabe passiv. Doch dies ist eine Strategie der Niederlage.

Viele Arbeiter:innen betrachten die Gewerkschaftsführer:innen immer noch als die legitime Führung, auch weil die Gewerkschaftsfront (die Intersyndicale) bislang geschlossen bleibt und die Reden der Führer:innen einen radikalen Ton anschlagen. Doch bevor Macron ein Misstrauensvotum knapp überstand, war die Zahl der Streikenden rückläufig. Das hat sich nach dem 16. März zwar wieder geändert. Aber ohne einen ernsthaften Tempo- und Richtungswechsel wird sich nach einiger Zeit wieder dasselbe Problem stellen.

Deshalb müssen wir den Schwung des aktuellen Kampfes nutzen. Dieser ist noch nicht vorbei, er ist vielmehr in eine entscheidende Phase getreten. Die nächsten Tage und Wochen werden von größter Bedeutung sein. Die Entschlossenheit der Streikenden, kombiniert mit der noch zu entfesselnden Kampfbereitschaft der Massen, ist unermesslich stärker als die Regierung und ihre Polizei. Die Jugend nimmt den Kampf auf: Universitäten in Paris und Toulouse sind besetzt. Überall versuchen Aktivist:innen, die Betriebe zu vernetzen, Streikkomitees zu bilden und für einen Generalstreik zu werben.

Das jüngste Interview von Macron, das von einer ungezügelten Verachtung für die Lohnabhängigen geprägt war, hat die Situation noch zugespitzt. Die Gewalt der Polizei und die Forderungen der Minister:innen nach einem harten Durchgreifen gegen die Demonstrant:innen verstärken den Hass der Bevölkerung auf die Regierung nur noch. Millionen von Menschen fühlen, dass Demokratie und Gerechtigkeit auf ihrer Seite sind.

Der Generalstreik ist der einzig mögliche Schritt. In jedem Betrieb sollten die Aktivist:innen die Führung übernehmen und ihre Kolleg:innen davon überzeugen, die Streiks auszuweiten, die Profitmaschine zu stoppen und die öffentlichen Dienste zu schließen. Generalversammlungen und Streikkomitees in den Betrieben sollten die Führung übernehmen und Aktionsräte bilden, die regional und national vernetzt sind, um die Verallgemeinerung von Streiks zu organisieren.

Dieser Kampf geht über die Renten hinaus. Auf Macrons Umgehung des Parlaments kann es nur eine Antwort geben: einen Generalstreik, um die Rentenreform zu stoppen, um Macron zu stürzen und vor allem, um die 5. Republik und ihre bonapartistische Verfassung zu Fall zu bringen.

Macron wird nicht der erste Tyrann sein, der von den französischen Arbeiter:innen auf der Straße besiegt wird. Aber er könnte der letzte sein, wenn die französische Arbeiter:innenklasse sich auf eine Endabrechnung mit dem Kapitalismus vorbereitet.




Frankreich: Schlüsselposition der Gewerkschaften im Kampf gegen Erhöhung des Renteneintrittsalters

Marc Lassalle, Infomail 1216, 9. März 2023

Nach sechs Tagen Streiks und Demonstrationen in Frankreich erreicht die Konfrontation zwischen den Arbeiter:innen und der Regierung in der Frage der „Rentenreform“ einen entscheidenden Moment. Am 7. März beteiligten sich rund 3,5 Millionen Menschen an den Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen – ein neuer Höhepunkt der Mobilisierung. Faktisch findet in vielen wichtigen Sektoren ein mehrtägiger Streik statt.

Den Gewerkschaften ist es seit Beginn des Jahres gelungen, sehr große Demonstrationen zu organisieren, nicht nur in Großstädten, sondern in Städten im ganzen Land, und, was noch bemerkenswerter ist, dies einen ganzen Monat lang mit einer Großdemonstration pro Woche fortzusetzen. Die Ablehnung der so genannten Reform der Regierung ist in der gesamten Bevölkerung und vor allem unter der Arbeiter:innenschaft massiv.

Strategischer Angriff

Die Regierung verteidigt weiterhin ihr Vorhaben, das Rentenalter auf 64 Jahre anzuheben, um jeden Preis. Es handelt sich nicht einfach um eine technische Maßnahme oder eine Episode innerhalb eines Gesamtplans. Für Präsident Macron ist dies die „Reform“ schlechthin. Da er während seiner letzten Amtszeit durch die Pandemie blockiert wurde, besteht er auf dieser Reform als Symbol seiner Präsidentschaft und seines Vermächtnisses. Für ihn müssen die Lohnabhängigen mehr arbeiten, um die Subventionen zu bezahlen, die der Staat den Unternehmer:innen während der Pandemie und danach großzügig gewährt hat (Energiekosten usw.).

Wie der neoliberale Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire sagt, sollten die Bosse diese Reform „mit Begeisterung und Entschlossenheit“ unterstützen. Es geht um 8 bis 9 Milliarden Euro für die Wirtschaft! Je mehr die Minister:innen versuchen, die Reform zu erklären, desto kruder erscheint ihre Realität in den Augen der Lohnabhängigen. Trotz aller Behauptungen der Regierung, die Änderung sei „frauenfreundlich“, hat sich herausgestellt, dass sie vor allem für Frauen nachteilig ist, da sie länger arbeiten müssen. Die Reform wird auch Beschäftigte im unteren Lohnsegment besonders hart treffen, insbesondere diejenigen, die ihre Arbeit vor dem 20. Lebensjahr aufgenommen haben.

Angesichts der Zielsetzung von Macron und der Entschlossenheit der Bosse ist die derzeitige Strategie der Gewerkschaften jedoch völlig unzureichend. Sie haben in den letzten zwanzig Jahren in vielen Konflikten eine Reihe von eintägigen Streiks durchgeführt und das Ergebnis war unweigerlich dasselbe: eine Niederlage. Nach einem anfänglichen Erfolg erschöpft sich Dynamik eintägiger Demonstrationen ab einem gewissen Zeitpunkt. Dann macht sie  Ermüdung und Unzufriedenheit Platz, was wie in einem Teufelskreis wachsende Demoralisierung und Unklarheit der Arbeiter:innen über die weitere Strategie provoziert. Die Zahl der Streikenden schrumpft, bis die Gewerkschaften den Streik einfach beenden oder, wie sie es manchmal ausdrücken, „den Kampf mit anderen Mitteln fortsetzen“.

Unterschied

Dieses Mal ist die Situation in zweierlei Hinsicht anders. Erstens sind die Zahl der Streikenden und die Stärke der Demonstrationen so hoch wie seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr. Zweitens lehnen alle Gewerkschaften, einschließlich der sehr gemäßigten CFDT, die Reform ab, und es gibt bisher keine Anzeichen für eine Schwächung der „Intersyndicale“ (der Front von acht Gewerkschaften und Verbänden, die gegen die Reform sind). Dies stellt natürlich ein Zeichen für die Entschlossenheit und den Kampfgeist der Arbeiter:innenklasse dar.

Nach einer zweiwöchigen Pause – wegen der Schulferien – erklärten alle Gewerkschaften, dass eine entschlossenere Haltung erforderlich sei. „Die Intersyndicale bekräftigt ihre Entschlossenheit, Frankreich am 7. März lahmzulegen. Der 7. März sollte ein ,toter Tag’ (journée morte) in den Betrieben, Verwaltungen, Diensten, Schulen, Verkehrsmitteln sein … “ (Presseerklärung, 21/02).

Der CGT-Vorsitzende Philippe Martinez erklärte: „Wenn die Regierung trotz der Mobilisierungen weiterhin stur bleibt, dann müssen wir mit größeren Aktionen, längeren, härteren, zahlreicheren, massiveren und erneuerbaren Streiks vorankommen“. Dies ist eine raffinierte Art, einen Generalstreik zu beschreiben, ohne ihn zu benennen. Ein erneuerbarer Streik (grève reconductible) ist in der Tat die französische Art, einen unbefristeten Streik einzuleiten. In den Betrieben wird die Kampfmaßnahme dann Tag für Tag von den betrieblichen Generalversammlungen (AGs) beschlossen, und zwar jeden Morgen.

Das hört sich zwar sehr demokratisch an, ist aber dennoch eine ziemlich fragile Kampfmethode, da sie von der kontinuierlichen und starken Beteiligung aller an den Versammlungen abhängt. Jeden Tag könnte der Kampf enden, so dass trotz der großen Opfer der Streikenden die politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen eher begrenzt sind. Die Regierung weiß, dass sie ein Ende erzwingen kann, indem sie einfach geringfügige Zugeständnisse mit den gemäßigteren Gewerkschaften aushandelt, wodurch die Moral der Streikenden geschwächt und die Einheit des Kampfes gebrochen wird.

Warum vermeidet Philippe Martinez es, einen unbefristeten Generalstreik auch nur zu erwähnen? In der Vergangenheit, vor allem 1968, haben die französischen Arbeiter:innen einen Generalstreik initiiert, und die Situation entglitt dann völlig der Kontrolle der obersten Gewerkschaftsführung. Seitdem zieht sie es vor, jeden Schritt eines Kampfes sorgfältig zu kontrollieren. Wenn man sie unter Druck setzt, würden sie sogar eine Niederlage vorziehen, anstatt sich von der Aktion der Basis ins Abseits stellen zu lassen.

Trotz dieser Feigheit der Gewerkschaftsbürokratie ist der Ausgang des Kampfes noch lange nicht entschieden. Sicher ist, dass der 7. März einen weiteren großer Tag der Streiks und Demonstrationen markierte, an dem rund 3,5 Millionen Menschen auf die Straße gingen. Was kommt dann? Der 8. März war ein weiterer Tag der Demonstration für die Rechte der Frauen. Student:innenorganisationen riefen zu einem weiteren großen Protesttag am 9. März auf. Diese Verkettung von Terminen legt nahe, dass die Arbeiter:innen am 7. März in den Streik treten und dann draußen bleiben sollten! Mehrere wichtige kämpferische Gewerkschaften riefen für den 7. März und die folgenden Tage zu einem täglich zu erneuernden Streik auf. Dazu gehören die Beschäftigten der Pariser Verkehrsbetriebe (RATP), der Eisenbahnen, der Erdölraffinerien, der Häfen und Docks sowie die Beschäftigten der Kraftwerke. Die Frage ist: Wird dieser Funke stark genug sein, um einen Generalstreik zu entfachen?

Der Ausgang hängt von vielen Faktoren ab, aber einer der wichtigsten ist das aktive Eingreifen der politischen Parteien der Linken. Von der Front der Linksparteien, NUPES, ist nichts zu erwarten, ebenso wenig wie von ihrer führenden Kraft, der Partei von Jean-Luc Mélenchon, France Insoumise (FI). FI unterstützt formell die Aktionen der Gewerkschaften, konzentriert sich aber in Wirklichkeit auf das Parlament und die nächsten Wahlen. Im Parlament haben sie die Diskussion des Rentenreformgesetzes mit tausenden von Änderungsanträgen in einer ersten Sitzung zwar erfolgreich behindert. Der Entwurf wurde nun an den Senat weitergeleitet, wo die Rechten die Mehrheit haben, und wird wieder ins Parlament zurückkehren.

Die Taktik der Obstruktion reicht jedoch bei weitem nicht aus, um den Prozess zu stoppen. Die Regierung könnte versuchen, die Rechtskonservativen – Les Républicains – davon zu überzeugen, das Gesetz zu unterstützen, oder es einfach mit einer antidemokratischen Maßnahme zu verabschieden, die von der bonapartistischen Verfassung der 5. Republik ermöglicht wird. Zu Beginn des Streits versuchte die FI sogar, unabhängig von den Gewerkschaften eine Demonstration zu organisieren, was jedoch ein großer Flop war. Das soll nicht heißen, dass die Aktivist:innen von NUPES und FI nicht an den Demonstrationen und dem Kampf teilnehmen werden. Die meisten von ihnen sind gewerkschaftlich organisiert und ein fester Bestandteil der Mobilisierung. Aber auf politischer Ebene agieren alle diese Kräfte, FI, die Kommunistische Partei (PCF), die Sozialistische Partei (PS) und die Grünen ausschließlich auf parlamentarischer Ebene und überlassen die Durchführung von Streiks den Gewerkschaften.

Die radikale Linke

Alle Kräfte der radikalen Linken leiten den nächsten Schritt für den Kampf ein, aber sie sind sowohl gespalten als auch verwirrt.

Die Nouveau Parti Anticapitalistei (NPA = Neue Antikapitalistische Partei) ist durch die Abspaltung ihrer alten Führung geschwächt, die die Hälfte der Mitglieder mitgenommen hat. Dies führt zu der grotesken Situation, dass es zwei NPAs von ähnlicher Größe gibt, die auf den Demonstrationen präsent sind, Veranstaltungen organisieren und den gleichen Namen und das gleiche Logo verwenden. Die NPA-Plattform B (PFB), obgleich die Minderheit am letzten Kongress, hat die Kontrolle über den Apparat, die Presse, die Website, die Hauptamtlichen usw. behalten. Sie ist sichtbarer, da ihre Anführer:innen die Sprecher und ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Olivier Besancenot und Philippe Poutou waren. Das Timing könnte jedoch nicht unglücklicher sein. Nachdem die NPA-PFB die Weltlage in den dunkelsten Farben analysiert hat (die Arbeiter:innenklasse in der Defensive, der Aufstieg der extremen Rechten usw.), betont sie die Notwendigkeit der Einheit:

„Die NPA schlägt vor, eine politische Alternative zu Macron aufzubauen, die aus der Mobilisierung hervorgeht, mit all jenen, die der prokapitalistischen Politik ein Ende setzen wollen, hin zu einer Gesellschaft, die frei von Ausbeutung und Unterdrückung ist.“

Dies mag zwar radikal klingen, aber ähnliche Aussagen waren in den 1970er Jahren bei der PCF und sogar bei der PS durchaus üblich. Sie schlägt in vagen Worten eine breite linke Regierung vor, mit NUPES, und sogar ein Minimum-Maximum-Programm. Zuerst setzen wir der prokapitalistischen Politik der Regerierung ein Ende, und dazu verbünden wir uns mit Reformist:innen, dann gehen wir zu einer Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung über. In gewissem Sinne ist dies ein erster Schritt zur Lösung der Zweideutigkeit, auf der die NPA gegründet wurde, allerdings zugunsten einer reformistischen Politik heute und des Sozialismus in ferner Zukunft. Es ist klar, dass die NPA-PFB einen Weg eingeschlagen hat, der dazu führen wird, dass sie sich in eine reformistische Partei auflöst oder einfach irrelevant wird.

Die andere NPA, die NPA-Plattform C (PFC), ist nach wie vor ein heterogener Block, der sich aus zwei Tendenzen der vor der Spaltung bestehenden Partei zusammensetzt, nämlich L’Étincelle (Funke) und Anticapitalisme et Révolution, die nun versuchen, eine einheitliche Partei zu organisieren. Sie sind politisch sehr aktiv unter den Jugendlichen und an den Arbeitsplätzen. Sie verteidigen zu Recht die Perspektive eines Generalstreiks.

„Ja, wir müssen einen Generalstreik anstreben, um die Dinge wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Ohne Arbeiter:innen wird nichts produziert. Wenn wir streiken, wird nichts produziert und Profite und Dividenden sind dann Makulatur.“

Tatsächlich stehen ihre Aktivist:innen an vorderster Front, wenn es darum geht, die Selbstorganisation der Streikenden unter dem Motto „den Streik unter die Kontrolle der Streikenden stellen“ zu entwickeln. Oder, wie es Gael Quirante, Vorsitzender von A&R, auf ihrer nationalen Kundgebung im Februar ausdrückte: „Auch wenn der Beginn eines Generalstreiks nicht so einfach ist, wie auf einen Knopf zu drücken, müssen wir diesen Knopf auf jede Weise suchen, mit Generalversammlungen, mit Koordinierungen usw.“

Was jedoch in der Politik der NPA-PFC völlig fehlt, ist der Gedanke, dass alle Streikenden maximalen Druck auf die Gewerkschaften, also auch ihrer Führungen, ausüben sollten, um den Generalstreik auszurufen und diesen aktiv in den Betrieben, in allen lokalen, regionalen und anderen Strukturen der Gewerkschaften vorzubereiten und dafür offen und ausdrücklich zu werben. Eine der Widersprüchlichkeiten der derzeitigen Mobilisierungen ist in der Tat die geringe Beteiligung an den Betriebsversammlungen, trotz der zahlreichen Demonstrationen. Und ein weiteres Paradoxon ist die Tatsache, dass die Masse der Arbeiter:innen trotz aller früheren Niederlagen der landesweiten Führung der Gewerkschaften vertraut. Dies gilt umso mehr, als die meisten der mobilisierten Arbeiter:innen nicht zur Avantgarde gehören: Viele von ihnen streiken und demonstrieren zum ersten Mal in ihrem Leben. Das wird sich nicht von selbst ändern. Es bedarf der Initiative – der Führung – durch politisch bewusste und erfahrene Aktivist:innen.

Die Aufforderung an die Gewerkschaftsführungen, ihren Worten auch Taten folgen zu lassen, könnte dabei sehr wirksam sein. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil des Prozesses, den „Druckknopf“ für den Generalstreik zu finden. Selbst in der gemäßigteren Gewerkschaft CFDT ist die derzeitige Position ihrer Spitze darauf zurückzuführen, dass auf ihrer letzten Generalkonferenz eine Mehrheit für die Ablehnung von Macrons Reform gestimmt hat. In den meisten Gewerkschaften sind die lokalen und mittleren Führungsebenen, die unter direktem Druck von unten stehen, tatsächlich von der Notwendigkeit radikalerer Aktionen überzeugt. Während Revolutionär:innen also versuchen müssen, Organe der Selbstorganisation zu schaffen, müssen sie gleichzeitig einen ernsthaften, entschlossenen Kampf Innerhalb der Gewerkschaften führen. Leider würde die NPA-PFC dies als Ketzerei ablehnen. Für sie, wie auch für Lutte Ouvrière und sogar Révolution Permanente (RP; Fracción Trotskista, FT), sollte die Einheitsfront im Grunde nur auf der Ebene der Basis und nicht auf der der Forderungen an die nationale Führung geführt werden. Damit geben sie und die ihnen folgenden Arbeiter:innen eine entscheidende Waffe gegen den Reformismus aus der Hand.

Diese Linie unterscheidet sich wenig von Lutte Ouvrière. Sie schreibt:

„Einige Gewerkschaften rufen zu einem erneuten Streik ab dem 7. März auf. In der Tat müssen wir uns in diese Richtung bewegen. Aber was die Regierung und die Bosse wirklich erschrecken könnte, wäre, dass die Streiks von unten beschlossen werden, dass sie sich wie ein Lauffeuer verbreiten und dass sie über die von der Gewerkschaftsführung gesetzten Grenzen hinausgehen.

Generalversammlungen mit einer großen Anzahl von Arbeiter:innen müssen über die Weiterführung der Bewegung und der Streiks diskutieren. Sie müssen über alles diskutieren, natürlich über die Forderungen, aber auch über die Art und Weise, wie die Bewegung geführt werden soll.

Sich überall zu treffen, um über die Mittel zur Weiterführung und Ausbreitung der Bewegung zu diskutieren, das ist der Weg, um in der Arbeiter:innenklasse eine Kraft zu erneuern, die unbesiegbar werden kann.“ (LO, 15.2.2023)

Das Überstimmung ist keine Überraschung, denn L’Étincelle, die größte Gruppierung der NPA-PFC, ist eine Fraktion, die aus LO ausgeschlossen wurde, und innerhalb der NPA wurde die gleiche Linie fortgesetzt, mit wenig oder gar keiner politischen Ausarbeitung darüber, was bei LO falsch gelaufen ist.

Die RP bewegt sich auf ähnlichem Kurs: „Angesichts des Zögerns der Intersyndicale gilt es, keine Minute zu verlieren. Die Möglichkeit eines wiederholten Streiks hängt in hohem Maße von den Bemühungen der Streikenden ab. Die Organisation der Basis in jedem Betrieb, der gewerkschaftlich organisierten und nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen, muss sich im Dienste dieser Perspektive entwickeln.“ (RP, 22. Februar)

Auch wenn wir zustimmen, dass Initiativen von unten, die spontane Militanz der Arbeiter:Innen an der Basis von entscheidender Bedeutung sind, ist es auch von größter Wichtigkeit zu betonen, dass die Befreiung der Gewerkschaften von der reformistischen Bürokratie erfordert, auf dem Höhepunkt des Kampfes den Widerspruch zwischen Basis und Führung aktiv voranzutreiben. Die Losung eines von den Gewerkschaften ausgerufenen Generalstreiks (anstatt dies einfach der Basis zu überlassen) würde dazu beitragen, die Arbeiter:innen bei jedem Ausverkauf durch ihre Führung von diesen zu brechen und so die Grundlage für demokratische Massengewerkschaften zu legen, die in den Betrieben verwurzelt sind. Es ist sehr wichtig zu erkennen, dass die Massen sich auf die Bürokrat:innen als die Führung des Kampfes beziehen. Sie nur zu denunzieren oder, schlimmer noch, sie zu ignorieren, wird nicht reichen, um diese Situation zu ändern. Um diese Führung zu ersetzen, müssen wir Forderungen an die Gewerkschaftsführer:innen mit der Selbstorganisation des Streiks, Generalversammlungen, die Streikkomitees wählen, usw. und Koordinierungen zwischen verschiedenen Sektoren der Arbeiter:Innen kombinieren.

Offener Ausgang

Trotz dieser Schwäche der radikalen Linken ist der Ausgang des aktuellen Kampfes keineswegs von vornherein entschieden. Die Breite und die Stärke der Massenbasis ergeben sich aus dem Bewusstsein, dass es um viel mehr geht als um Renten. Alle haben die Inflation und steigenden Lebenshaltungskosten auf harte Art und Weise zu spüren bekommen. Die Jugend, sowohl in den weiterführenden Schulen als auch an der Universität, schließt sich der Bewegung gegen Macron und seine Politik an. Viele haben erkannt, dass vom Kapitalismus, seiner Wirtschaft, seinen Kriegen und seiner Zerstörung des Planeten nichts Positives für sie zu erwarten ist. All diese Kräfte können sich vereinen, um die Regierung zu besiegen, wie sie es 2006 getan haben.

Die Breite der mobilisierten Kräfte erfordert eine Ausweitung des Streiks. Der Weg zum Generalstreik erfordert ein Hinausgehen der Forderungen nach einem Stopp der aktuellen Reform. Forderungen nach Lohnerhöhungen, nach massiven Mitteln für die öffentlichen Dienste (Krankenhäuser, Schulen, Universitäten), nach offenen Grenzen, nach Steuern für die Reichen und auf Profite sollten von den Streikenden offen diskutiert werden und Teil eines Aktionsprogramms für Arbeiter:innen, einschließlich der stark ausgebeuteten Migrant:innen und der Jugend werden.

Doch trotz des historischen Niveaus der Kampfbereitschaft kann ein strategischer Sieg nur durch ein klares Bewusstsein für das Ziel des Kampfes gesichert werden. Zu diesem Zweck muss sich die großartig kämpferische Arbeiter:innenklasse in Frankreich mit einer revolutionären Partei und einem politischen Programm wappnen.




Frankreich: 2 Millionen auf den Straßen – was ist der nächste Schritt?

Marc Lassalle, Neue Internationale 271, Februar 2023

Die Zahlen sprechen für sich. Mehr als zwei Millionen Arbeiter:innen demonstrierten am 19. Januar gegen den jüngsten Versuch von Präsident Emmanuel Macron, das Rentensystem zu reformieren. Ein Zeichen für den weit verbreiteten Widerstand unter den Lohnabhängigen war eine seltene Einheitsfront, bei der alle großen Gewerkschaftsverbände streikten und so den Verkehr, die Energieversorgung und die Schulen zum Stillstand brachten.

Heftiger Angriff

Die Reform ist ein schwerer Angriff auf die Arbeiter:innenklasse. Die Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre wird sich unverhältnismäßig stark auf Industriearbeiter:innen und weniger qualifizierte Arbeitskräfte auswirken, die bereits eine kürzere Lebenserwartung und weniger Rentenjahre haben.

Nachdem er einen früheren Versuch im Jahr 2019 wegen der Covid-Pandemie aufgegeben hatte, hat Macron beim aktuellen Projekt nicht um den heißen Brei herumgeredet: Die Beschäftigten müssen mehr arbeiten, um die verschiedenen Maßnahmen der Regierung zur Stützung der Wirtschaft zu bezahlen, sowohl während der Pandemie als auch in letzter Zeit wegen der steigenden Energiekosten.

Die Regierung argumentiert, dass die Reform notwendig ist, um ein prognostiziertes Defizit von 14 Milliarden Euro bis zum Ende des Jahrzehnts zu schließen. Aber während der Pandemie hat der „Präsident der Reichen“ nicht zehn, sondern hunderte von Milliarden Euro in die Stützung der kapitalistischen Wirtschaft gesteckt, und niemand hat das vergessen.

Während Macron mit einer Schwächung der Kampfbereitschaft der Arbeiter:innenklasse rechnete, hat der Aktionstag vom 19. Januar ihn und seine bürgerlichen Expert:innen eines Besseren belehrt. Selbst die gemäßigte Gewerkschaft CFDT, die die Reformen der ersten Regierung Macron zum Arbeitsschutz (Code du Travail) unterstützt hatte, verurteilte sie als „eine der brutalsten Rentenreformen seit 30 Jahren“. Philippe Martinez, Vorsitzender der linkeren Gewerkschaft CGT, sagte, der Plan bündele „die Unzufriedenheit aller“ mit der Regierung. Umfragen zufolge sind etwa 9 von 10 Arbeiter:innen gegen die Vorschläge.

Macron begründete seine beiden Präsidentschaftswahlen mit dem Versprechen, das zu tun, was früheren Regierungen in den letzten 30 Jahren nicht gelungen ist: den Widerstand der Gewerkschaften gegen die Rentenreform zu brechen. Der Präsident, dessen Partei der bürgerlichen Mitte La République en Marche (Die Republik im Vorwärtsgang) bei den letztjährigen Parlamentswahlen ihre Mehrheit im französischen Parlament verloren hat, ist auf die Stimmen der rechten Republikanischen Partei  angewiesen. Die Überreste des Gaullismus werden sich jedoch nicht so leicht dazu überreden lassen, die politischen Kosten für Macrons Reformvorhaben zu übernehmen.

Gelingt es ihm nicht, eine parlamentarische Mehrheit zusammenzuschustern, könnte der Präsident auf Notstandsgesetze zurückgreifen, die es ihm erlauben, das Parlament zu überstimmen, auch auf die Gefahr hin, Neuwahlen zu erzwingen. Macron hat die Zukunft seiner Regierung von der Verabschiedung dieser Reform abhängig gemacht. Der letzte Versuch im Jahr 2019 löste die längste Streikperiode seit dem Generalstreik von 1968 aus. Alle Seiten spielen um die höchsten Einsätze.

Entscheidender Kampf

Millionen von Arbeiter:innen bereiten sich jetzt auf einen entscheidenden Kampf mit der Regierung vor. Trotz des großen Erfolgs des ersten Tages muss die Arbeiter:innenklasse ernsthafte Schwächen in ihrem eigenen Lager überwinden. Während die Parole eines Generalstreiks auf den Demonstrationen weithin aufgegriffen wurde, steht sie nicht auf der Tagesordnung der Gewerkschaftsführungen – im Gegenteil. Sie drohen lediglich mit einer langen Kampagne und haben für den 31. Januar einen weiteren Aktionstag mit Streiks und Demonstrationen angekündigt.

Die Gewerkschaftsspitzen verfolgen ihre übliche, gefährliche und in der Regel tödliche Taktik gelegentlicher „Aktionstage“ mit Pausen dazwischen, die der Regierung nur zum Vorteil gereichen, die sie nutzen wird, um einen Deal mit der CFDT zu schließen, das Bündnis der Gewerkschaftsverbände zu schwächen und schließlich zu brechen.

Die beiden großen linken Parteien sind gegen die Reform, aber für die Arbeiter:innenschaft unzuverlässige Verbündete. Die Überbleibsel der Sozialistischen Partei haben die letzte Rentenreform 2014 eingeführt. Jean-Luc Mélenchon, Parteivorsitzender von France Insoumise (Unbeugsames Frankreich), fordert eine Senkung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre, ist aber mehr auf die parlamentarische Bühne konzentrierte, als einen ernsthaften sozialen Widerstand in den Betrieben und auf den Straßen aufzubauen. Die Schwäche der „Revolutionär:innen“ lässt sich an der prekären Lage der NPA (Neue Antikapitalistische Partei) ablesen. Nach einer Spaltung im vergangenen Dezember gibt es derzeit zwei NPAs mit demselben Namen, wenn auch sehr unterschiedlichen politischen Einschätzungen und Ausrichtungen. Keine von ihnen ruft zu einem Generalstreik auf.

Welche Strategie, welche Kampfmethoden?

Die Frage, die sich allen Lohnabhängigen und Jugendlichen stellt, ist, welche Organisation und Strategie erforderlich ist, um diesen Angriff abzuwehren. Diese Aufgaben müssen in den betrieblichen Vollversammlungen und in Arbeiter:innenausschüssen behandelt werden. Macrons Regierung steht und fällt mit der Frage, ob er diese Reform verabschiedet – aber unsere Bewegung muss die Lohnabhängigen für eine umfassende Antwort auf die Krise mobilisieren: nicht nur die Abschaffung der Rentenreform, sondern den Kampf für Lohn- und Rentenerhöhungen, einen massiven Plan für Investitionen in den öffentlichen Sektor, insbesondere in Schulen und Krankenhäuser, mehr hochwertigen bezahlbaren Wohnraum, einen speziellen Plan für junge Menschen und die Aufhebung der rassistischen Anti-Migrationsgesetze.

Die Beschäftigten der Ölraffinerien planen bereits, ihre Streiks Ende des Monats auszuweiten. Diesem Beispiel sollten wir folgen, aber angesichts der Tatsache, dass sich die Gewerkschaftsführer:innen der Verantwortung entziehen, indem sie die Entscheidung den verschiedenen Sektoren überlassen, müssen wir eine alternative Strategie und Führung im Hier und Jetzt vorbereiten.

Der 31. Januar muss zum Ausgangspunkt für eine Reihe eskalierender Streiks werden für die Bildung von Aktionsräten der Arbeiter:innenklasse zur Koordinierung und Kontrolle der sozialen Bewegung, die in einem Generalstreik gipfeln, um Macron und den Arbeit„geber“:innen eine umfassende Niederlage zuzufügen und den Weg für eine Arbeiter:innenregierung zu ebnen, die mit dem kapitalistischen System in seiner Gesamtheit abrechnen kann.

Eine schwere Niederlage Macrons würde den Weg weisen, den viele andere europäische Länder einschlagen sollten.




Altersarmut von Frauen in Deutschland

Helga Müller (Gruppe Arbeiter:innenmacht, Deutschland), Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 10, März 2022

Der Armutsbericht 2021 des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes macht deutlich, dass die Pandemie die Armutsquote in Deutschland nach oben getrieben hat: Insgesamt 16,1 % oder 13,4 Millionen Menschen waren 2020 von Armut betroffen. Seit 2006 – mit einer Quote von 14 % – ist ein stetiger Aufwärtstrend in Deutschland auszumachen. Und das in einer der reichsten Industrienationen der Welt. Die soziale Ungleichheit vertieft sich auch hier: 10 % der Reichsten in Deutschland verfügen über 67 % des Nettogesamtvermögens. (https://www.deutschlandfunkkultur.de/armut-in-deutschland-die-soziale-ungerechtigkeit-waechst-100.html). Sozialwissenschaftler:innen sprechen von einer relativen Armut in Deutschland, die nach EU-Standard so definiert ist: Als Arm gelten Menschen, die über weniger als 60 % des mittleren Einkommens verfügen. (nach: https://www.deutschlandfunkkultur.de/armut-in-deutschland-die-soziale-ungerechtigkeit-waechst-100.html)

Nach Meinung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes wäre die Armutsquote während der Pandemie noch schneller in die Höhe geschossen, hätte die Große Koalition nicht Maßnahmen wie die Verlängerung und Aufstockung des Kurzarbeitergeldes oder des Arbeitslosengeldes I ergriffen.

Unter Erwerbstätigen – vor allem bei den Selbstständigen – hat die Einkommensarmut auf derzeit 53 % zugenommen. Wie in den letzten Jahren tragen auch 2021 vor allem Alleinerziehende und kinderreiche Paarhaushalte das höchste Armutsrisiko. Unter den Armen sind besonders Rentner:innen und Pensionär:innen mit 17,6 % überproportional betroffen. Bis zum Jahr 2013 spielte Altersarmut dagegen statistisch gesehen nur eine untergeordnete Rolle.

Wenn man Armut nach Geschlechtern auswertet, dann wird deutlich, dass vor allem unter Frauen (16,9 %) eine höhere als unter Männern (15,3 %) herrscht, besonders bei den Älteren ab 65 Jahren. Dies ist gegenüber 2019 nochmal eine Steigerung um 1 Prozentpunkt. Selbst der Armutsbericht kommt zu dem Ergebnis „Die Altersarmut ist damit überwiegend weiblich.“ (alle Zahlen nach: Armutsbericht 2021)

Die Gründe dafür, dass vor allem Frauen von (Alters-)Armut betroffen sind, sind vielfältig, aber auch Politiker:innen der Ampelkoalition bekannt und haben sich seit Jahrzehnten nicht verändert. Die Vorhaben im Koalitionspapier werden zur Linderung nicht viel beitragen, sofern sie überhaupt umgesetzt werden. Alle sozialen Maßnahmen stehen ja bekanntlich unter dem Vorbehalt der Wiedereinführung der Schuldenbremse und keinerlei zusätzlichem Einkommen durch Steuererhöhungen – vor allem für die Superreichen und großen Konzerne, die auch während der Pandemie einen guten Schnitt gemacht haben. Hier konnte sich die FDP voll durchsetzen:

  • Alleinerziehende – dies sind nach wir vor vor allem Frauen – stehen oft gar nicht in Lohnarbeit und sind auf Hartz IV angewiesen, dessen Regelsatz zu einem existenzsichernden Leben nicht ausreicht. Wenn sie arbeiten, müssen sie aufgrund der nicht ausreichenden Betreuungsmöglichkeiten oft genug auf Teilzeitjobs oder gar Mini- oder Midijobs zurückgreifen. Mitte 2020 übten 4,1 Millionen Frauen und 2,9 Millionen Männer einen Minijob aus. (https://www.aerztezeitung.de/Panorama/Jede-vierte-Frau-arbeitet-im-Niedriglohnsektor-417694.html). Die Umbenennung von Hartz IV in Bürgergeld im Koalitionsvertrag, ohne kräftige Erhöhung des Regelsatzes und Abschaffung der Sanktionen ist – wie der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen in seinem Statement zum Armutsbericht sagt – nur eine Mogelpackung. Zu den Mini- oder Midijobs steht im Koalitionspapier lediglich, dass verhindert werden soll, dass reguläre Arbeitsverhältnisse in solche umgewandelt werden. Aber wie das konkret geschehen soll, bleibt unerwähnt.
  • Frauen verdienen nach wie vor deutlich weniger als Männer. Der Gender Pay Gap liegt 2020 lt. Statistischem Bundesamt noch bei 18 % (https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Qualitaet-Arbeit/Dimension-1/gender-pay-gap.html). Auch daran wird die Ampelkoalition nichts ändern. Das Einzige, was dazu im Koalitionspapier steht, ist, dass das Entgelttransparenzgesetz – das nur einen Auskunftsanspruch gegenüber dem/r Arbeit„geber“In zu den Gehaltskriterien einer Tätigkeit beinhaltet – weiterentwickelt und die Durchsetzung gestärkt werden soll.
  • Wenn Frauen auf Teilzeit angewiesen sind, ist dies oft unfreiwillig und reicht nicht für ein selbstständiges, existenzsicherndes Leben. Vor allem aber wirkt sich dies negativ auf die Altersrente aus. Im Koalitionsvertrag wird hierzu nur Bezug auf Mini- und Midijobs genommen, die nicht zur Teilzeitfalle für Frauen werden sollen. Wie, bleibt auch hier offen.
  • Mehr Frauen als Männer arbeiten im Niedriglohnsektor: Ende 2019 rund 25,8 %. Bei Männern hingegen liegt der Niedriglohnanteil nur bei 15,5 % (Zahlen nach: Bundesagentur für Arbeit, in: Ärztezeitung vom 7.3.2021, s.o.). Viele von ihnen sind entweder auf einen Zweitjob angewiesen oder gehören zu den sogenannten Aufstocker:innen. Die im Koalitionspapier angekündigte Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro, die am 1. Oktober kommen soll, ist sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Sie wird aber nicht ausreichen, um Frauen aus dieser Armutsfalle herauszuholen.
  • Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung – vor allem Frauen arbeiten in sogenannten sozialen Berufen wie Pflege, Erziehung u. ä. – spiegelt sich auch in einem geringerem Gehalt wider. Auch die aktuellen Tarifabschlüsse dienen nicht dazu, dort eine angemessene Bezahlung zu ermöglichen. Außer allgemeinen Floskeln, dass die Löhne für Pflegekräfte verbessert werden sowie die Zuschläge und Prämien (bis 3.000 Euro) steuerfrei sein sollen, steht dazu nichts im Koalitionsvertrag.
  • Unterbrechung der Arbeit aufgrund der Versorgung von Kindern oder zu pflegenden Angehörigen, was in den meisten Fällen von Frauen geleistet wird – oft schon allein deswegen, weil sie in der Regel weniger verdienen als ihre Männer –, bedeutet weniger Rentenanspruch. Im Koalitionsvertrag steht dazu, dass haushaltsnahe Dienstleistungen gefördert werden sollen und Brückenteilzeit in Zukunft mehr in Anspruch genommen werden kann. Das ist sicherlich etwas, dass dazu beitragen kann, Familie und Beruf besser zu vereinbaren, wird aber nichts Grundlegendes verändern.
  • Hinzugekommen ist eine gestiegene Arbeitslosenquote während der Pandemie, welche das Altersarmutsrisiko von Frauen noch weiter erhöhen wird. Dabei stieg sie im Zeitraum von Februar 2020 bis Januar 2021 bei Frauen mit 5,7 % stärker als bei Männern (1,8 %). (s.: Ärztezeitung vom 7.3.2021).

Vor diesem Hintergrund ist es mehr als zynisch, was die Ampelkoalition zur „Sicherung“ der Renten in Zukunft vorhat. Dazu „werden wir zur langfristigen Stabilisierung von Rentenniveau und Rentenbeitragssatz in eine teilweise Kapitaldeckung der gesetzlichen Rentenversicherung einsteigen. Diese teilweise Kapitaldeckung soll als dauerhafter Fonds von einer unabhängigen öffentlich-rechtlichen Stelle professionell verwaltet werden und global anlegen. Dazu werden wir in einem ersten Schritt der Deutschen Rentenversicherung im Jahr 2022 aus Haushaltsmitteln einen Kapitalstock von 10 Milliarden Euro zuführen.“

D. h. nichts anderes, als dass ein Teil der Rente in Zukunft von den Finanzmärkten abhängig gemacht werden soll. Das ist ein weiterer Schritt zur Privatisierung der gesetzlichen Rentenversicherung nach Einführung der Riesterrente durch die rot-grüne Koalition 2001. Diese zusätzliche „Säule“ ist alles andere als sicher und stabil. Zudem weiß niemand, wann angesichts der zunehmend instabilen internationalen Situation es zu einem neuen Börsencrash kommen wird. Darüber hinaus werden 10 Milliarden aus dem laufenden Haushalt dafür zur Verfügung gestellt, die dann anderswo fehlen. Diese „Anschubfinanzierung“ wird nach Aussagen des Rentenexperten des DIW, Johannes Geyer, nicht ausreichen: „Man bräuchte mindestens 300 Milliarden Euro. Dann könnte man hoffen, jährlich 15 Milliarden Kapitalerträge zu erzielen, die dann an Rentner ausgeschüttet werden.“ (zit. nach: Das Renten-Versprechen und der Bluff, NEUES DEUTSCHLAND vom 21.02.22).

Es gibt keinen Grund, die Rente immer mehr vom Kapitalmarkt abhängig zu machen. Sie müsste stattdessen mit einer besseren Einzahlungsstruktur und mehr Mitteln aus dem Haushalt finanziert werden: Das Pro-Kopf-Volkseinkommen ist trotz beginnender Krise im Jahr 2019 um das Doppelte gestiegen (Die Rente könnte sicher sein, NEUES DEUTSCHLAND 25.7.2020). Auch das Steuereinkommen könnte ohne weiteres erhöht werden: Eine einmalige Vermögensabgabe mit einer Laufzeit von 10 Jahren würde 300 Milliarden Euro einbringen. Auch die Wiedereinführung der Vermögenssteuer bei einem Steuersatz von 1 % könnte 20 Milliarden Euro auftun (a. a. O.).

Ganz klar zeigt sich hier, dass es nicht um eine Stabilisierung der Renten geht, sondern die Unternehmer:innen weiter von solch lästigen Dingen wie Lohnnebenkosten oder höheren Kapitalsteuern zu entlasten, um deren Wettbewerbsfähigkeit in der zukünftigen, krisenhaften Entwicklung nicht zu beeinträchtigen.

Es gibt jedoch Systeme, in denen Rentner:innen mehr erhalten und besser vor Altersarmut geschützt sind. Das bekannteste ist wohl Österreich: Die im Jahr 2018 in Ruhestand gegangenen Menschen erhielten hier ca. 1.700 Euro im Monat – in Deutschland waren das nur 1.000 (Zahlen nach Sozialwissenschaftler Florian Blank; in: Geteilter Genuss, NEUES DEUTSCHLAND vom 25.07.20). Das ist ein Unterschied von 70 %. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt fließt in Österreich mehr öffentliches Geld in Renten und Pensionen. Die Rentenbeiträge liegen seit Jahrzehnten stabil bei 22,5 %, 12,5 % davon zahlen die Arbeit„geber“:innen. Ein anderer entscheidender Grund ist, dass fast alle Erwerbstätigen einschließlich der Selbstständigen (außer den Beamt:innen) verpflichtend in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert sind. (a. a. O.) Aber auch in Österreich gibt es einen großen geschlechtsspezifischen Unterschied. Zudem ist auch hier damit zu rechnen, dass eine neoliberale Politik versuchen wird, diese Kosten zugunsten der Kapitalist:innen zu reduzieren.

Was wir brauchen, um Altersarmut zu verhindern:

  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit! Mindestlohn für alle Frauen, um ein Mindesteinkommen zu sichern, das die Reproduktionskosten deckt und ein Leben ohne Abhängigkeit vom (männlichen) Partner erlaubt!
  • Mindesteinkommen von 1.600 Euro/Monat für alle Arbeitslosen und Rentner:innen. Diese Regelung soll auf alle Freiberufler:innen, (Schein-)Selbstständigen, Studierende, Sexarbeiter:innen und andere ausgedehnt werden, die wegen der Pandemie ihre Dienste nicht verkaufen können!
  • Kostenloser Zugang zu Gesundheits-, Krankenversorgung, Pflegeeinrichtungen und gesicherte Renten für alle Frauen!
  • Kostenlose und bedarfsorientierte Kinderbetreuung, öffentliche Kantinen und Wäschereien – um eine gesellschaftliche Gleichverteilung der Reproduktionsarbeiten auf alle Geschlechter sicherzustellen!
  • Alle müssen in die gesetzliche Rentenkasse einzahlen – auch Selbstständige, Beamt:innen und Parlamentarier:innen!
  • Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden/Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich!
  • Umwandlung prekärer Beschäftigungsverhältnisse in tariflich gesicherte; Abschaffung der Leiharbeit und Übernahme der Leiharbeiter:innen!
  • Für ein Programm gemeinnütziger öffentlicher Arbeiten mit Vollzeitstellen und auskömmlichen Tariflöhnen für Frauen, bezahlt aus Unternehmerprofiten und Vermögensbesitz!
  • Keine Rettungspakete und keine Milliardengeschenke für die Konzerne! Die Reichen müssen zahlen! Progressive Besteuerung von privaten Vermögen und Unternehmensgewinnen zur Finanzierung der Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie und der Sicherung der Einkommen und Renten der arbeitenden Bevölkerung! Entschädigungslose Enteignung aller Unternehmen unter Arbeiter:innenkontrolle, welche Löhne kürzen, Arbeitszeit verlängern oder Standorte schließen wollen!
  • Für eine verstaatlichte, einheitliche Sozialversicherung unter Arbeiter:innenkontrolle (Gesetzliche Krankenversicherung, Bundesanstalt für Arbeit, Rentenversicherung, Unfallversicherung, Arbeitslosen- und Sozialhilfe), finanziert durch eine progressive Besteuerung!
  • Für kommunale, regionale, bundesweite und internationale Selbstverwaltung der Einheitsversicherung durch die Versicherten! Unternehmer:innen raus aus den Aufsichtsräten der Sozialversicherungen! Weg mit jeder Einmischung des bürgerlichen Staats!

Um dies zu erreichen, ist der Aufbau einer Einheitsfront der gesamten Arbeiter:innenklasse, einschließlich aller Arbeitslosen und Rentner:innen, notwendig. Der Kampf gegen Altersarmut muss mit dem gegen den Kapitalismus verknüpft werden.




Solidarität mit dem Kampf der französischen Kolleg*innen gegen die Rentenreform

Solidaritätserklärung der Strategiekonferenz für kämpferische Gewerkschaften, 26. Januar 2020, Infomail 1086, 31. Januar 2020

Die französische
Regierung unter ihrem „Sonnenkönig“-Modernisierer Macron will eine erzreaktionäre
Rentenreform durchsetzen. Sie beruht auf zwei Säulen: Zum einen soll ‒ nach deutschem
Vorbild ‒ ein Punktesystem eingeführt werden, zum anderen soll das
Renteneintrittsalter angehoben werden. Bei früherem Renteneintritt drohen dann
(ebenfalls nach deutschem Vorbild) empfindliche Abschläge.

In den Medien ‒
gerade auch in Deutschland ‒ wird die Reform als notwendige Vereinheitlichung
und als Abbau von Privilegien verkauft. In Wirklichkeit geht es aber darum,
dass die Renten für alle sinken werden, ganz besonders für diejenigen, die
aufgrund starker beruflicher Belastung (etwa wegen des Schichtdiensts in den
Verkehrsbetrieben) ein paar Jahre früher in Rente gehen können.

Nun hat die
Regierung unter dem Eindruck der wochenlangen Kundgebungen und Streiks ein
kleines Zugeständnis gemacht und will damit die Bewegung und die Gewerkschaften
spalten. In Wirklichkeit ist aber das Verschieben der Anhebung des
Renteneintrittsalters nur eine Nebensache, denn der Kern der Reform liegt in
der Einführung des Punktesystems. Allein damit werden die Renten im Schnitt um
25 Prozent sinken.1
Und der spätere Renteneintritt bleibt ja weiter das Ziel der Herrschenden und
kann schneller kommen als manche denken.

Der Systemwechsel
reiht sich ein in eine lange Reihe von Abbaumaßnahmen sozialer
Errungenschaften. Geht dieser Kampf verloren, wird dies sowohl in Frankreich
als auch in anderen Ländern die Herrschenden zu neuen Angriffen ermuntern. So
werden auch bei uns die Bestrebungen für eine Verlängerung der
Lebensarbeitszeit neuen Auftrieb bekommen. Letztlich geht es um nichts weniger
als um die weitere Aushöhlung der sozialen Sicherungssysteme und im selben
Aufwasch um die Zerschlagung gewerkschaftlicher Gegenmacht.

Trotz gewaltiger
Medienkampagnen gegen die Streikenden und trotz der Unannehmlichkeiten, die sie
mit den Streiks auch vielen Menschen der einfachen Bevölkerung bereiten, haben
die Kolleg*innen in Frankreich in dieser wichtigen Angelegenheit eine
beeindruckende Kampfkraft an den Tag gelegt. Sie streiken seit Wochen unter großen
Opfern und ohne Streikgeld! Die Organisierung der Solidarität ist an vielen
Stellen mustergültig.

Nicht nur weil
das Anliegen der Kolleg*innen in Frankreich auch für uns von großer politischer
Bedeutung ist, erklären wir unsere uneingeschränkte Verbundenheit mit ihrem
Kampf. Wir wenden uns gegen die Kriminalisierung der Streikenden und gegen die
brutale Gewalt der französischen Polizei. Wir betrachten es als die
vordringlichste Pflicht internationaler Solidarität, den französischen
Kolleg*innen unsere volle Sympathie und unsere besten Wünsche zu übermitteln.
Unsere Möglichkeiten, der materiellen Unterstützung sind zu bescheiden, als
dass wir sie euch, liebe Kolleginnen und Kollegen, als nennenswert wirksame Maßnahme
anbieten können. Dort, wo wir an verschiedenen Spendensammlungen teilnehmen können,
werden wir das tun.

Gleichzeitig aber wenden wir uns hiermit an die Vorstände unserer Gewerkschaften und des DGB und fordern vor allem eine politische, aber auch materielle Solidarität ein. Für den extrem wichtigen den Kampf der Kolleg*innen in Frankreich ist es von enormer Bedeutung, wie sich die deutschen Gewerkschaften, die ja im Kern mit den gleichen Fragen konfrontiert sind, in diesem Konflikt verhalten. Wir richten dieses Schreiben also sowohl an die französischen Kolleg*innen als auch an den DGB-Bundesvorstand und die Vorstände seiner Einzelgewerkschaften.

Der Aufruf Solidarität mit dem Kampf der französischen Kolleg*innen gegen die Rentenreform findet sich auf der Webseite der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften.

Dort findet ihr auch eine Übersetzung ins Französische: Solidarité avec la lutte des collègues français(es) contre la réforme des retraites




Kampf gegen Rentenkürzungen in Frankreich an einem Wendepunkt

Martin Suchanek, Neue Internationale 244, Februar 2020

Die Streikbewegung gegen die Rentenreform steht nach zwei
Monaten von Massenaktionen, die nicht nur Macron das Fürchten lehrten, sondern
auch zu einer Inspiration für Millionen in ganz Europa wurden, an einem
Wendepunkt. Die Regierung und die von ihr forcierten Angriffe sind unverändert
unpopulär, ja verhasst. Macron, der selbsternannte und selbstherrliche
Sonnenkönig eines „humanitären“ (Neo-)Liberalismus, enthüllt einmal mehr sein
arbeiterInnenfeindliches Gesicht. Alle Umfragen zeigen, dass seine „Reformen“
bei einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung weiter auf massive Ablehnung
stoßen.

An den Aktions- und Streiktagen, die von den Gewerkschaften
ausgerufen werden, beteiligen sich nach wie vor Hunderttausende, wenn nicht
Millionen. Die Demonstrationen offenbaren nicht nur tief sitzende Wut und
Empörung, sondern auch die Entschlossenheit, Dynamik, Kreativität und
Kampfbereitschaft der ArbeiterInnenklasse. Seit Anfang Dezember haben die
Streikenden bei der Bahn und Metro sowie die LehrerInnen im öffentlichen Dienst
gezeigt, dass Macron und seine Regierung in die Defensive gedrängt und sogar
gestürzt werden können, wenn die ArbeiterInnenklasse ihre ganze Kampfkraft in
die Waagschale wirft. Millionen Lohnabhängige aus allen Wirtschaftsbereichen,
SchülerInnen, Studierende, die Überreste der „Gilets Jaunes“, alt wie jung
betrachten den Streik als ihre Sache, solidarisieren sich bei den Aktionstagen
oder durch Spenden für Aktive, die seit Wochen die Stellung halten. Wie kaum
ein anderer Ausstand wird der gegen die Rentenkürzungen von unten, von der
Basis der Beschäftigten getragen – und er verdeutlicht damit die Stärken, die
allein schon aus dem spontanen Gewicht der Klassen erwachsen.

Zugleich offenbaren sich aber auch die Schwächen und
Probleme der Bewegung. Im Folgenden werden wir diese kurz darstellen, um dann
auf die Frage einzugehen, wie sie überwunden werden können.

Verrat der CFDT-Führung

Die Regierung Macron hat es geschafft, die Gewerkschaften zu
spalten, indem sie Anfang des Jahres der Streikbewegung ein „Gesprächsangebot“
machte und versprach, einen Aspekt der Reform „auszusetzen“.

Dies war natürlich nie ernst gemeint, was sich schon daran
zeigt, dass eigentlich nur die Aussetzung des „Scharnieralters“, ab dem
Menschen ohne Abschläge in Rente gehen können, für einen Teil der Bevölkerung
in Aussicht gestellt wurde. D. h. jene, die vor dem 64. Lebensjahr zur
Zeit mindestens 41,5 Betragsjahre (ab 2021 mindestens 43 Jahre) vorweisen
können, sollten auch schon früher ohne Verlust in Ruhestand gehen können.

Selbst diese Offerte, die bestenfalls die Verschlechterung
für eine kleiner werdende Gruppe von Lohnabhängigen für einige Jahre
aufgeschoben hätte, war nie mehr als ein unverbindliches Gesprächsangebot.

Der Kern der Reform, den das Unternehmerlager seit Jahren
einfordert, sollte ohnedies nie in Frage gestellt werden. Es geht um die
allgemeine Absenkung aller Renten durch eine Veränderung ihrer
Bemessungsgrundlage. Zur Zeit werden die finanziell besten 25 Beitragsjahre zur
Berechnung der Höhe der Renten herangezogen. Kommt die Reform durch, werden in
Zukunft 43 Beitragsjahre in die Ermittlung des Rentenniveaus für fast alle
Berufgruppen – ausgenommen sind nur wenige wie Militärs, Teile der Polizei,
PilotInnen, OperntänzerInnen – einfließen. Der Rentenklau betrifft also die
gesamte ArbeiterInnenklasse und alle Einkommensschwächeren, Prekären,
Erwerbslosen besonders hart. Dramatische Abschläge und ein besorgniserregender
Zuwachs der Altersarmut sind vorprogrammiert.

Das eigentliche Ziel der Regierung war also offensichtlich
und leicht zu durchschauen: der Streik sollte beendet oder zumindest geschwächt
werden. Die ArbeiterInnen sollten zurück zur Arbeit, während die
GewerkschaftsführerInnen über den Verhandlungstisch gezogen werden.

Die rechts-sozialdemokratische CFDT – nach Mitgliedern die
zweitgrößte, nach gewählten betrieblichen VertreterInnen die größte
Gewerkschaft des Landes – und einige kleinere Verbünde nahmen das „Angebot“
jedoch freudig auf. Der CFDT-Vorsitzende Berger verkündete gar den Sieg der
Streikbewegung, die er ohnedies nie gewollt hatte. Seine Gewerkschaft hatte
ihre Mitglieder und FunktionärInnen nie zum Streik aufgerufen. In den von ihr
organisierten Bereichen kam es kaum zu Arbeitsniederlegungen. Am Beginn hatte
sich die CFDT sogar gegen die Mobilisierung zu stellen versucht, musste dann
aber auf die Bewegung aufspringen und rief Ende 2019 gemeinsam mit anderen
Gewerkschaften zu den Aktionstagen auf, um noch Einfluss ausüben zu können.

Das Angebot der Regierung griff sie umso freudiger auf. Die Spitzen
kleinerer Gewerkschaften wie der UNSA, die vor allem bei der Pariser Metro
stark vertreten ist, folgten dem Kurs der CFDT. Sie stießen aber auf Widerstand
bei ihrer streikenden Basis, die sich gegen den Willen ihrer Vorstände weiter
am Arbeitskampf beteiligte.

Dass sich der Widerspruch zwischen Führung und Basis bei den
regierungsnahen Gewerkschaften manifestiert, zeigt, dass letztere durchaus von
den BerufsverräterInnen an der Spitze gebremst werden kann. Der Streikbruch
v. a. der CFDT verdeutlicht jedoch nicht nur deren verräterischen
Charakter, er hat auch der Regierung geholfen, selbst wieder die Initiative zu
ergreifen, indem sie die Gewerkschaften gegeneinander ausspielt.

Aussetzen der Streikbewegung

Der offene Streikbruch verschärft ein letztlich noch
größeres Problem, nämlich die Tatsache, dass seit Wochen keine neuen Sektoren
in den Ausstand traten. Auch die großen Aktionstage im Jahr 2020 können nicht
über das Problem hinwegtäuschen, dass die Streikfront seit Ende Dezember
zahlenmäßig stagnierte und die Arbeitsniederlegungen in vielen Bereichen
langsam zurückgingen. Auch wenn die bürgerlichen Medien im Januar die
Entwicklung übertrieben, so nahm der Prozentsatz der fahrenden Züge und Metros
doch sichtbar zu.

Am 20. Januar beschloss eine Mehrheit der
Streikversammlungen (assemblées générales, AG) schließlich die „Aussetzung“ der
Arbeitsniederlegungen im Transportsektor. Der unbefristete Streik kam damit
vorerst zum Erliegen und er sollte nur noch an den großen, landesweiten
Aktionstagen aufrechterhalten werden. Auch wenn diese Taktik zu eintägigen
Streiks und Massendemos mit über einer Million führte, so kann und darf die
Aussetzung der Streiks nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bewegung nicht
mehr in der Lage ist, ihr wirksamstes und mächtigstes Kampfmittel gegen die
Regierung einzusetzen.

Dass viele Beschäftige von Bahn und Metro nach 45 Tagen des
intensiven Arbeitskampfes erschöpft sind und sich nicht mehr in der Lage sehen,
die Streikfront pausenlos zu halten, lässt sich leicht nachvollziehen. Die
Einkommensverluste der ArbeiterInnen, die die Bewegung tragen und deren Spitze
stellen, können außerdem nicht vollständig und dauerhaft durch Streikgelder und
durchaus beachtliche Solidaritäts-Spenden von mehreren Millionen Euro
aufgefangen werden.

Hinzu kommt, dass der Sektor, der neben den Beschäftigten
bei Bahn und Metro die meiste Streikaktivität aufwies, die LehrerInnen im
Bildungsbereich, selbst im Gegensatz zum Transportsektor nie flächendeckend und
unbefristet die Arbeit niedergelegt hat. Die LehrerInnengewerkschaft FSU und
die meisten AGs konzentrierten sich auf die Aktionstage, während die große
Mehrheit der LehrerInnen in der „Zwischenzeit“ ihrem Beruf nachging.

Die Erschöpfung der kampfstärksten Schichten der Klasse
kommt nach so langer Zeit nicht verwunderlich. Im Gegenteil, sie haben sehr
lange durchgehalten. Es zeigt sich aber, dass ein solch bedeutender politischer
Generalangriff der Regierung nicht zurückgeschlagen werden kann, wenn die
Streikfront nur auf die Avantgarde der Klasse beschränkt bleibt und keine neuen
ArbeiterInnenschichten in den Kampf treten.

Rolle der Gewerkschaftsbürokratie

Hier stellt sich jedoch die Frage: Woran lag es, dass eine
Ausweitung des Streiks nicht gelang? An Appellen von linken oder kämpferischen
AktivistInnen, an Aktionen wie Blockaden, Besetzungen usw. hatte und hat es
nicht gemangelt. Viele der AktivistInnen der AGs haben immer wieder darauf
gedrängt. Bei den Demonstrationen im Januar waren die Parolen des
„Generalstreiks“ und der Ausweitung des Kampfes wie der Forderungen durchaus
populär, was verdeutlicht, dass die Basis der Bewegung nach einer Lösung für
die aktuellen Problem sucht.

Um zu verstehen, warum der Streik dennoch nicht weiter
ausgeweitet wurde, müssen wir die Rolle der Gewerkschaftsführungen begreifen,
denen trotz der Dynamik von unten letztlich die Führung der Bewegung zufiel.

Anders als die StreikbrecherInnen im Vorstand der CDFT weisen bis heute die meisten Gewerkschaften die „Verhandlungsangebote“ der Regierung zurück. Die gemeinsame Gewerkschaftskoordination Intersyndical aus CGT, FO, FSU, Solidaires, FIDL, MNL, UNL und UNEF gibt letztlich den Takt der Bewegung vor, legt die Aktionstage fest. Sie hofft, mittels weiterer solcher Manifestationen die Regierung zum Einlenken zu bewegen.

Doch schon am Beginn der Streikbewegung zeigte sich die Rolle der Bürokratie dieser Verbände in mehrfacher Hinsicht.

Erstens riefen die meisten der Verbände ihre eigenen Mitglieder über die schon streikenden Sektoren hinaus nicht zu weiteren Arbeitsniederlegungen auf. Gewerkschaftszentralen wie z. B. die FO (nach CGT und CFDT die drittgrößte des Landes) unternahmen praktisch nichts, um den Streik auf jene Sektoren auszuweiten, wo sie stark sind, ihre Mitglieder zur Arbeitsniederlegung aufzurufen und dabei praktisch zu unterstützen.

So befanden sich tatsächlich nur einige Gewerkschaften der Intersyndical im Streik, namentlich CGT, SUD und die LehrerInnengewerkschaft FSU. Und selbst die CGT versuchte kaum, über den Transportsektor hinaus ihre Mitglieder in den Kampf zu rufen.

Zudem verzichteten die aktiveren, linken Gewerkschaften – und hier vor allem die CGT-Führung – darauf, jene, die nicht ständig streikten, dafür offen zu kritisieren, zum Kampf aufzufordern und sich nicht nur an andere Führungen, sondern auch an die Basis zu wenden. Zwischen den Zentralen bestand und besteht jedoch eine Art politisches Stillhalteabkommen, das für die Zeit ihrer formalen Kampfunterstützung auch die CFDT einschloss.

Diese Politik fällt nicht vom Himmel, sondern sie spiegelt auch die Zielsetzung und Taktik der Gewerkschaftsführungen wider, inklusive jener der de facto führenden Kraft CGT. Diese organisiert zweifellos die wichtigsten und kämpferischsten Streikenden im Transportsektor, auch wenn radikalere Gewerkschaften wie Solidaires (SUD) eine Rolle unter einer sehr militanten Minderheit spielen mögen.

Die Massenbewegung, die CGT-Spitze wie die gesamte Intersyndical kritisieren zurecht den politischen, gesamtgesellschaftlichen Charakter der Rentenreform. Doch bei aller kämpferischen Rhetorik führt die Gewerkschaftsführung die Schlacht um die Rentenreform nicht wie einen politischen Klassenkampf mit der Regierung, sondern wie einen besonders bedeutsamen gewerkschaftlichen, also wirtschaftlichen Konflikt.

Letztlich hoffte auch sie, die Regierung durch den Druck der
Aktion zu einem „wirklichen“ Verhandlungsangebot zwingen zu können.

Die Regierung Macron und die gesamte herrschende Klasse
Frankreichs hingegen führen den Kampf als das, was er ist: eine Klassenschlacht,
die nicht nur massive Rentenkürzungen durchsetzen, sondern auch das
Kräfteverhältnis nachhaltig zu ihren Gunsten verschieben soll.

Daher verweigerte sie „echte“ Verhandlungen und spaltete
vielmehr erfolgreich mit einem Scheinangebot. Nachdem der Streik schwächer
wird, tritt sie auch nach und rückt wieder von den Zugeständnissen ab, die der
CFDT versprochen wurden. So verkündete Gesundheitsministerin Agnès Buzyn am 24.
Januar, dem Tag der ersten Lesung des Gesetzesentwurfs im Parlament, dass das
Renteneintrittsalter von 64 „im Gesetzentwurf enthalten“ bleibe.

Gleichzeitig verschärft die Regierung die Tonart gegenüber
den Streikenden und Demonstrierenden. So wurde die Besetzung der CFDT-Zentrale
durch kämpferische ArbeiterInnen in der bürgerlichen Presse als „Terrorismus“
gebrandmarkt. Die Stimmung im Land soll zum Kippen gebracht, also gegen die
„Minderheit“ der Streikenden in Stellung gebracht werden, die alle anderen „in
Geiselhaft nehmen“ würden.

Die Gewerkschaftsführungen waren auf diese politische Gegenoffensive
nicht vorbereitet – nicht einfach aus politischer Unwissenheit oder
Blauäugigkeit, sondern weil sie, selbst wenn sie sich kämpferisch geben, eine
politische Entscheidungsschlacht mit der Regierung vermeiden wollten und
wollen. Denn genau eine solche würde eine Ausweitung des Streiks zu einem
politischen Massenstreik, letztlich zu einem unbefristeten Generalstreik
wahrscheinlich mit sich bringen. Natürlich wäre es auch möglich, dass die
Regierung selbst zeitweilig den Rückzug antritt. Aber angesichts des wichtigen,
strategischen Charakters der Reform für Macron konnte darauf nie spekuliert
werden. Ein Generalstreik hätte daher rasch die Frage seiner Verteidigung gegen
polizeiliche Repression oder gar gegen den Einsatz des Militärs im Inneren
aufwerfen können (wie die Besetzung der Raffinerien vor einigen Jahren) – somit
also nicht nur die Rentenreform, sondern auch die Frage der politischen Macht.

Da die Gewerkschaftsführungen diesem Kampf aus dem Weg gehen
wollten und wollen, spielen sie unwillentlich der Regierung in die Hände.
Sobald diese erkennt, dass die ArbeiterInnenklasse schwächelt, weil deren
Führung zögerlich und schwach ist, setzt sie nach.

Die Schwäche der Bewegung

Die Politik der Gewerkschaftsführungen wird jedoch auch
durch politische Schwächen der Basis erleichtert. Diese ist zwar weit
kämpferischer, betrachtet aber selbst den Kampf über weite Strecken als
gewerkschaftliche Auseinandersetzung, nicht als politischen Klassenkampf. Dies
zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie bislang die politische Führung der
Intersyndical überlässt.

Auch wenn der Streik von den Streikversammlungen, den
assemblées générales, in den Betrieben getragen wurde, so waren diese doch weit
davon entfernt, die Führung der Bewegung zu übernehmen.

Die AGs stimmten zwar jeden Tag über die Fortführung des
Streiks ab, aber nur ein kleiner Teil wählte oder bestimmte eine betriebliche
Streikleitung oder ein Streikkomitee. Eine über die Betriebe und Abteilungen
hinausgehende Koordinierung gab es nicht, allenfalls in Einzelfällen. In vielen
Fällen beschränkten sich die Versammlungen sogar nur darauf, den Bericht von
GewerkschaftsvertreterInnen zu hören, zu klatschen und auf dessen Vorschlag für
die Fortsetzung des Streiks zu stimmen.

D. h. die faktische Leitung des Arbeitskampfes lag
weiter bei einer, den AGs nicht verantwortlichen Führung, die von den
Gewerkschaftszentralen bestimmt wurde. Ohne Wahl und Koordinierung von
Streikkomitees konnten die AGs zu keinem Zeitpunkt zur Führung des Streiks
werden, schon gar nicht auf überbetrieblicher Ebene. Auf landesweiter Ebene
existiert erst recht keine alternative politische Führungskraft zur von der CGT
maßgeblich bestimmten Intersyndical.

Daran änderte auch das weit verbreitete und berechtigte
Misstrauen der Lohnabhängigen gegenüber der Gewerkschaftsspitze nichts. Diese
vermochte es vielmehr, die politische Verantwortung für die Ausweitung des
Streiks durch ein geschicktes Manöver auf die Basis abzuwälzen.

Da formal nur die AGs über die Durchführung und
Weiterführung des Streiks in einem Betrieb oder einer Abteilung entscheiden,
rechtfertigten die Gewerkschaftszentralen – so auch die linke CGT – ihre
Versäumnisse, aktiv weitere Sektoren in den Kampf zu ziehen und in weiteren
Betrieben und Branchen systematisch zu agitieren, damit, dass sie die
ArbeiterInnen nicht „bevormunden“ möchten. Nur die ArbeiterInnen in den
Betrieben dürften über ihren Streik und dessen Fortführung entscheiden. Das, so
die Bürokratie, würde großzügig respektiert werden. Daher würden sie auf
„bevormundende“ Aufrufe zu allgemeinen Streiks verzichten, dieser müsse „von
unten“ kommen.

Damit schob die Führung der Gewerkschaften jedoch bloß ihre
politische Verantwortung, den Kampf auszuweiten und zu verstärken, auf die
„Basis“ ab, d. h. auf voneinander weitgehend isolierte einzelne
Belegschaften oder Abteilungen.

In der Phase des Aufstiegs und der Ausweitung der
Streikbewegung treten diese Probleme einer solchen Struktur nicht so sehr in
Erscheinung. Getragen von der Nachricht großer Streikbeteiligung, riesiger Demonstrationen
und Solidarität der Bevölkerung stimmen natürlich auch viel leichter AGs für
den Streik. Sobald die Bewegung jedoch rückläufig ist, sobald sich
Ermüdungserscheinungen zeigen, schlägt die Dynamik leicht in ihr Gegenteil um –
mehr und mehr AGs werden, von der allgemeinen Stimmung beeinflusst, zum Rückzug
blasen. Wie der Beschluss zur Aussetzung des Streiks im Transportwesen, der in
vielen Betrieben zeitgleich erfolgte, zeigte, existierte natürlich zu jedem
Zeitpunkt in der Wirklichkeit auch eine überbetriebliche Verbindung – jedoch
keine von der Basis gewählte oder kontrollierte, sondern vom
Gewerkschaftsapparat.

Es ist also, wie bei jeder Bewegung, ein Mythos, dass es
keine Führung gebe. Die scheinbare Selbstständigkeit und Unabhängigkeit jeder Streikversammlung
bedeutet nur, dass die wirkliche Führung, der von der CGT kontrollierte
Gewerkschaftsapparat, schwierige Entscheidungen scheinbar großzügig an die
Basis abtritt. So kann die CGT-Zentrale jede Verantwortung für das Aussetzen
des Streiks abstreiten, indem sie auf die eigenständigen Beschlüsse der
Basisversammlungen verweist – und diese „respektiert“.

Zweifellos kommen der Gewerkschaftsbürokratie dabei
Illusionen der Basis zugute. Gegenüber der berechtigten Befürchtung vor
Bevormundung und Gängelung durch den Apparat erscheint die Demokratie der
Vollversammlung ein wirksames Mittel. Aber es ist ein politisch unzulängliches,
ja wirkungsloses Mittel. Der Zentralisierung des Kampfes durch die Bürokratie
stellt sie eine „Dezentralisierung“ entgegen, der Führung durch einen
reformistischen Gewerkschaftsapparat somit die Illusion des Verzichts auf eine
politische Führung überhaupt.

Die tragische Ironie dieser Selbsttäuschung besteht darin,
dass die Macht der Bürokratie über die Bewegung nicht beseitigt, sondern nur
weniger sichtbar wird, weniger offen und somit indirekt hervortritt. Sie wird
damit aber auch unfassbarer und letztlich auch schwerer zu bekämpfen.

Vor allem aber kann so keine alternative Führung zu jener
der Bürokratie aufgebaut werden, weil auch das Problem der Zentralisierung des
Streiks, der Koordinierung, der Ausweitung und Bündelung der Schlagkraft im
Kampf gegen Kapital und Regierung nicht gelöst werden kann.

Notwendig war und ist es, in der Bewegung gegen die
Rentenreform daher für zwei Forderungen einzutreten:

  • Von den Gewerkschaftsführungen eine konsequente Ausweitung des Kampfes zu fordern, bis hin zu einem politischen Generalstreik zur Rücknahme der Angriffe.
  • Die Wahl, Rechenschaftspflicht und Abwählbarkeit von Streikkomitees aus den AGs und deren Koordinierung zu lokalen, regionalen und landesweiten, der Basis wirklich verantwortlichen Aktions- und Streikleitungen zu fordern. Diese sollten auch jetzt, wo viele AGs den Streik ausgesetzt haben, gewählt werden, um so überhaupt erst eine organisierte Verbindung zwischen den kämpfenden Belegschaften zu bilden, die einen Mobilisierungsplan erarbeitet, um den Streik wieder auszuweiten und voranzubringen. Die Gewerkschaftsführungen müssten aufgefordert werden, sich voll hinter die Beschlüsse solcher Koordinierungen zu stellen.

In der aktuellen Situation müssten diese Forderungen mit
konkreten Schritten verbunden werden, wie das Rückfluten der Streikbewegung
gestoppt und eine neue Ausweitung vorbereitet, ja in Gang gesetzt werden kann. Auch
wenn die Reform wahrscheinlich nur mit einem Generalstreik gestoppt werden
kann, so kann dieser angesichts einer Bewegung, die mit rückläufigen
Streikzahlen kämpft, nicht einfach proklamiert werden. Schon gar nicht wird der
abstrakte Ruf nach einer „Ausweitung“ der Streikbewegung Betrieb für Betrieb zu
diesem Ziel führen können.

Die Taktik der Gewerkschaftsführungen und der Intersyndikal,
die Beschäftigten bei Bahn, Metro, im Bildungssektor und andere regelmäßig zu
Aktionstagen zu mobilisieren, spiegelt in dieser Lage einerseits den weiter
bestehenden Kampfwillen der ArbeiterInnen wider. Sie birgt aber andererseits
die große Gefahr in sich, dass sich die Streikbewegung nach und nach in
Aktionstagen erschöpft.

In dieser Situation kann jedoch die Forderung nach einem
landesweiten Aktionstag, der mit einem Generalstreik möglichst aller Sektoren
verbunden wird, eine wichtige Rolle spielen. Auch wenn eintägige
Arbeitsniederlegungen aufgrund ihres letztlich symbolischen Charakters oft und
leicht als Beruhigungspille missbraucht werden können, so kann ein solcher
eintägiger Streik im Fall einer rückläufigen Streikbewegung auch ein Mittel zur
erneuten Sammlung der Kräfte sein, um der ArbeiterInnenklasse vor Augen zu
führen, dass sie über die Mittel und Kampfkraft verfügt, den Angriff der
Regierung zurückzuschlagen. D. h. ein solcher eintägiger Streik dürfte
nicht als „Höhepunkt“ einer Auseinandersetzung verstanden werden, sondern als
Schritt zur Mobilisierung, zur Vorbereitung eines unbefristeten Generalsstreiks.

Ein solcher könnte nicht nur die Totenglocken für die
Rentenreform, sondern auch für die Regierung Macron läuten lassen – in jedem
Fall wäre er ein Fanal des Widerstandes der ArbeiterInnenklasse in ganz Europa
nach Jahren des Rückzugs, der faulen Kompromisse und des Aufstiegs der Rechten.




Frankreich: „Es ist genug – wir müssen den Kampf gewinnen!“

Marc Lassalle, Paris, Infomail 1080, 10. Dezember 2019

Anderthalb
Millionen Menschen bei mehr als 200 Demonstrationen in ganz Frankreich. Neun
von zehn Zügen ausgefallen, die Pariser U-Bahn lahmgelegt, zwei Drittel
der  LehrerInnenschaft,
FluglotsInnen, des Gesundheitspersonals, der Elektrizitätsangestellten (EDF),
Feuerwehrleute und StudentInnen wie SchülerInnen befinden sich im Streik…. Am
5. Dezember stand Frankreich still. Dies könnte schnell zur größten Streikwelle
und sozialen Bewegung seit 1995 werden. Die Streikenden äußerten ihre
Entschlossenheit, bei Bedarf bis Weihnachten fortzufahren!

Die Bewegung
wurde gegen eine weitere Reform des Rentensystems gestartet, die fünfte in 20
Jahren. Diesmal greift die Regierung nicht nur die EisenbahnerInnen und die
Pariser U-Bahn-Beschäftigten an, für die besondere Rentenbedingungen gelten,
sondern praktisch den gesamten öffentlichen Sektor und insbesondere die
LehrerInnen, die 500–600 Euro pro Monat aus ihren Pensionen verlieren werden,
und darüber hinaus ein breites Spektrum von ArbeiterInnen in 42 verschiedenen
Rentenversicherungssystemen.

Die Regierung
bereitet in der Tat eine „systemische“ Reform vor, die lächerlicherweise als
eine gerechte dargestellt wird, bei der jeder Euro auf dem Gehaltsscheck
angeblich die gleiche Wirkung auf die Rente durch ein „Punktesystem“ nach sich
zieht. Diese absolute Lüge verschleiert die Tatsache, dass viele ArbeiterInnen
lange Zeiträume von prekärer Arbeit oder in Arbeitslosigkeit leben, dass vor
allem Frauen kürzere Beschäftigungszeiten haben, so dass die Regierungsreform
am Ende eher zu einer weit verbreiteten Armut als zu Gerechtigkeit führen wird.
Darüber hinaus wird neben dieser systemischen Reform auch eine „parametrische
Reform“, d. h. eine längere Arbeitszeit vor der Pensionierung,
vorbereitet.

Druck von unten

Kein Wunder,
dass die ArbeiterInnenklasse seit September einen massiven Streik für den 5.
Dezember vorbereitet hat. Die Stimmung ist jetzt ganz anders als bei früheren
Bewegungen. Bereits im September wurde die Pariser Metro durch einen massiven
eintägigen Streik gelähmt. Im Oktober streikten ohne Vorwarnung
Zugwartungszentren mehrere Wochen lang. Ein Eisenbahner, der in einer Vollversammlung,
der assemblée generale (AG), sprach, erklärte:

„Wir drängten
sie (das Management) zum Rückzug. Sie haben ihr Projekt in diesem Zentrum
aufgegeben. Wie lange ist es her, dass wir sie zum Rückzug bewegen konnten?
Warum haben wir diesmal gewonnen? Ich denke, es liegt daran, dass diesmal alles
von der Basis ausging. Wir sagten: ,Wir hatten (den Gewerkschaftsspitzen) genug
gehorcht und warteten darauf, dass sie uns sagen, wir sollen mobilisieren. Wir
haben die Werkzeuge niedergelegt, dann haben sich die Belegschaften versammelt und
diskutiert. Durch diese Diskussion kamen wir zu einer Einigung und haben dann
alle gemeinsam gehandelt. Das ist es, was sie fürchten, dass wir uns selbst organisieren.
Und außerdem gibt es ein besonderes soziales Klima. Ein Jahr lang gibt es die
gelben Westen (gilets jaunes). Es gibt einen Streik in den Krankenhäusern. Es
gab einen Streik in der Pariser U-Bahn. Es ist wie ein Schnellkochtopf. Am 5.
Dezember wird ihnen das ins Gesicht geschleudert werden.“

Tatsächlich wurde
die ganze Bewegung unter sehr starkem Druck von der Basis in Gang gesetzt.
Viele Gewerkschaften zögerten anfangs, sich für den Streik zu organisieren,
einschließlich der CGT, aber sie mussten sich dem anschließen, weil der Druck
der Basis und die unglaubliche Wut von unten aufstiegen. Dies wurde bereits bei
den Streiks der Gesundheitsfachkräfte seit dem Frühjahr deutlich, wo der Streik
nicht von der Gewerkschaft, sondern von einer „Basiskoordination“ (Collectif
Inter-Urgence) geleitet wurde.

Zum ersten Mal
seit mehreren Jahren wird die von den GewerkschaftsführerInnen bevorzugte
Taktik des eintägigen Streiks oder der Aktionstage offen kritisiert. Im
vergangenen Jahr führten die EisenbahnerInnen einen längeren Streik mit einer
besonders selbstzerstörerischen Taktik durch: zwei Streiktage pro Woche über
zwei Monate lang. Infolgedessen wurden sie besiegt. In diesem Jahr haben sie
die Lektion gelernt und sich auf einen mehrwöchigen, anhaltenden Streik
vorbereitet. Die ArbeiterInnen haben in Vorbereitung auf den Streik Geld
gespendet. Für viele ist der Geldbetrag, den sie mit der Reform verlieren
werden, so hoch, dass die Entscheidung, sich dem Streik anzuschließen,
offensichtlich erschien.

Ein weiteres
Merkmal dieser Bewegung ist die Anzahl der Vollversammlungen, der AGs, die in
den Betrieben stattfinden, sogar noch vor Streikbeginn. In der Regel werden AGs
erst nach Ausrufung eines Streiks einberufen. Seit Wochen bereiten sich die
ArbeiterInnen jedoch in AGs vor und diskutieren darüber, und die am stärksten
Politisierten treffen sich in „berufsübergreifenden AGs“, die verschiedene
Sektoren und Gewerkschaften für die Streikplanung umfassen.

Selbst Lutte
Ouvrière (ArbeiterInnenkampf), eine der größten trotzkistischen Gruppen, die im
Streik 1995 keine Kritik an der Gewerkschaftsbürokratie geäußert hatte,
reagiert auf diese neue Stimmung:

„Viele von uns
trauen den Gewerkschaften und ihren bürokratischen Systemen nicht, bei denen
sie wiederholt die Interessen der ArbeiterInnen geopfert haben. In der Tat! Wir
müssen mit der Überzeugung kämpfen, dass wir uns organisieren können, um unsere
Bewegung auf demokratische Weise zu kontrollieren und zu führen. In der Überzeugung,
dass wir entscheiden und handeln können, ohne auf die Anweisungen der
Gewerkschaftsführung zu warten.“

Natürlich kämpfen
die meisten Streikenden wirklich nicht nur gegen die Rentenreform, sondern
gegen die gesamte neoliberale Reformpolitik zur Halbzeit der Präsidentschaft
von Emmanuel Macron, dessen Regierung heute schon geschwächt ist. Die
Gelbwestenbewegung hat trotz ihrer politischen Verwirrung, ihres
Organisationsmangels, ihrer schrecklichen inneren Widersprüche und ihres
kleinbürgerlich-populistischen Charakters vielen eine wichtige Lehre ziehen
lassen: Ein längerer Kampf kann die Regierung destabilisieren und den Weg für Erfolge
ebnen. Das ist wahr, vorausgesetzt, die Bewegung organisiert sich von unten und
behält eine strenge Kontrolle über Durchführung und Ergebnisse. Dieser Geist
der Selbstständigkeit ist heute in der ArbeiterInnenklasse weit verbreitet.

Gefahren…

Allerdings sind
die Einsätze für Macron sehr hoch. Sein Sieg würde bedeuten, dass er seine
neoliberalen Reformen an vielen anderen Fronten vorantreiben und ein massives
Programm von Angriffen gegen die ArbeiterInnenklasse im Allgemeinen abschließen
könnte wie die jüngste Reform, die das Arbeitslosengeld und insbesondere den öffentlichen
Sektor stark reduziert hat. Eine Niederlage für die Regierung würde allerdings eine
völlig neue Phase im Klassenkampf einleiten. Oder, mit den ziemlich deutlichen
Worten eines Ministers: „Die Rentenreform ist der große Test. Wenn wir uns zurückziehen,
ist die fünfjährige Amtszeit vorbei und wir können nichts anderes tun.“

Um dies zu
vermeiden, hat die Regierung mehrere Taktiken versucht. Im Oktober versuchte
sie, den Zorn abzulenken, indem sie die rassistische Karte spielte, mit einer
Debatte im Parlament über religiöse Kleidung und einer weiteren über das
Kopftuch. Darüber hinaus hat die Regierung den Inhalt der Reform versteckt,
indem sie Bereitschaft zur Konsultation vorgibt und darauf wartet, dass das
Schlimmste an sozialem Zorn vorbeigeht. Tatsächlich plant sie eine wichtige Ankündigung
für Mittwoch, den 11. Dezember.

Es ist möglich,
dass dadurch einige kleinere oder scheinbare Zugeständnisse gemacht werden, z. B.
dass die Reform nur für diejenigen gilt, die beispielsweise nach 1970 geboren
wurden. Die Regierung ist sicher, dass sie geheime Verhandlungen mit den
GewerkschaftsführerInnen fortsetzen wird, wo sie auf die Unterstützung der großen
Gewerkschaft, des Demokratischen Französischen Gewerkschaftsbundes, CFDT, zählen
kann. Obwohl dies zahlenmäßig der größte Verband ist, liegt er bei den Wahlen
in den Betrieben hinter der CGT.

Die CFDT hat
Bewegungen gegen frühere Rentenreformen sabotiert und Macron bei den Präsidentschaftswahlen
unterstützt. Tatsächlich hat sie den Verrat an den ArbeiterInnen seit mehreren
Jahrzehnten zu ihrem Markenzeichen gemacht. Am 5. Dezember bedauerte
Generalsekretär Laurent Berger, dass „die vorherrschende Logik darin besteht,
noch ein wenig Druck auf sich selbst auszuüben, bevor man mit der Diskussion
beginnt“.

Eine weitere
Karte ist natürlich die so genannte öffentliche Meinung. Die Medien beschreiben
die EisenbahnerInnen als „privilegiert“, die sich im Ausstand befinden, um ihre
großzügigen Leistungen zu verteidigen und „das Land als Geisel zu nehmen“. Laut
Meinungsumfragen, so unzuverlässig diese sind, unterstützen 60 Prozent die
Reform der speziellen Rentensysteme, aber die gleiche Zahl unterstützt auch den
Streik!

Schließlich kann
sich die Regierung auf staatliche Repression verlassen. Gestählt durch ein Jahr
der Zusammenstöße mit den gelben Westen haben die verschiedenen Polizeikorps
einen Vorrat an Munition aller Art angesammelt, von der einige, wie Tränengas,
tatsächlich unter Verletzung der internationalen Chemiewaffenabkommen verwendet
werden.

Bereits die
Pariser Demo wurde von Tausenden von paramilitärischen Spezialeinheiten stark „eskortiert“
und die meisten Marschierenden konnten den vorgesehenen Endpunkt aufgrund von
gewalttätigen Auseinandersetzungen dazwischen nicht erreichen. Ein Zeichen für
die Tiefe der sozialen Widersprüche ist jedoch, dass an diesem Tag auch viele
Polizeieinheiten gestreikt haben….

Stärken und
Schwächen

Die aktuelle
Bewegung, die um hohe Einsätze spielt, legt sowohl enorme Stärken als auch
enorme Schwächen an den Tag. Die Stärken bestehen vor allem in der Tatsache,
dass die Avantgarde der ArbeiterInnen, die EisenbahnerInnen, im Mittelpunkt des
Kampfes stehen und entschlossen sind, die Frontlinie zu halten, und die
Tatsache, dass die Wut groß ist und das Potenzial hat, viele andere Sektoren,
einschließlich des Privatsektors, hineinzuziehen. Die Initiative liegt derzeit
in den Händen der ArbeiterInnenschaft und ihrer AGs.

Überall zeugen
Berichte von der Größe und Entschlossenheit der AGs im ganzen Land. Einige von
ihnen beziehen nicht nur EisenbahnerInnen, sondern auch LehrerInnen und andere
ArbeiterInnen ein, berufsübergreifende AGs, die oft von Militanten der extremen
Linken, der Neuen Antikapitalistischen Partei, NPA, und Lutte Ouvrière
(ArbeiterInnenkampf), vorgeschlagen werden. Schwächen sind jedoch auch deutlich
zu erkennen, insbesondere in Bezug auf die Organisation und die Ziele der
Streiks.

Erstens gibt es
bisher keinen Versuch, diese AGs national zu koordinieren. Während die OberschülerInnen
und  StudentInnen daran gewöhnt
sind, landesweite Koordinationen aufzubauen, sind seit den 1980er Jahren fast
keine Beispiele dafür in den Kämpfen der ArbeiterInnen bekannt. Damit hat die
Gewerkschaftsbürokratie ein Vertretungsmonopol bei den Verhandlungen und somit
einen enormen Vorteil, wenn es darum geht, die Streiks abzubrechen und dann
einige kleinere Zugeständnisse zu behaupten.

Es liegt auf der
Hand, dass eine landesweite demokratische Koordinierung der Streikenden
erforderlich ist, da die Initiative ansonsten in den Händen der Regierung und
der GewerkschaftsführerInnen bleibt. Die Entscheidung, den Streik
aufrechtzuerhalten, wird von jeder AG an jedem Arbeitsplatz unabhängig
voneinander getroffen, in der Regel für den nächsten Tag oder einige Tage. Wenn
es kein entscheidendes Kräftemessen gibt, können weniger traditionell militante
Sektoren und ihre AGs den Mut verlieren, so dass die Bürokratinnen den Streik
Stück für Stück demobilisieren können.

Eine weitere
Schwäche liegt in der Tatsache, dass die EisenbahnerInnen und die Pariser
U-Bahn-Beschäftigten derzeit der einzige Sektor sind, der sich in einem
unbefristeten Streik befindet. Wenn sich die LehrerInnen national einem
unbefristeten Ausstand anschließen würden, würde dies die Bewegung enorm verstärken,
aber ob sie es tun werden, ist noch nicht klar. Dasselbe gilt für die StudentInnen,
die die sozialen Auswirkungen des Streiks enorm verstärken könnten. Einige
Universitäten sind geschlossen, um Besetzungen zu verhindern, andere sind
bereits mobilisiert.

In Marseille war
die Zahl der Streikenden im Bereich der Ölraffinerien die höchste seit den
1970er Jahren, aber dies scheint im Moment ein Einzelfall zu sein. Die
Ausweitung weiterer unbefristeter Streiks auf den Privatsektor würde sowohl
eine effektive Organisation erfordern, um Streikposten zu errichten, mit den
Beschäftigten zu diskutieren und sie zu überzeugen, als auch ein Ziel, das über
die bloße Rücknahme der Rentenreform hinausgehen muss. Forderungen gegen den
Abbau der öffentlichen Dienste, für höhere Zuschüsse an Studierende, für höhere
Löhne und gegen Zeitarbeit und unsichere Arbeitsplätze (précarité) sollten
demokratisch diskutiert und demokratisch und landesweit in eine einheitliche
Forderungsplattform einbezogen werden.

Der Vorsitzende
der CGT, Philippe Martinez, hat wiederholt betont, dass die Streikenden durch
die AGs „selbst entscheiden“ werden, ob sie sich einer unbefristeten
Mobilisierung anschließen oder diese fortsetzen. Dies verzichtet jedoch auf die
Frage der Führung und einer Strategie zum Sieg. Die CGT sollte sich darüber im
Klaren sein, dass, wenn andere ArbeiterInnen nicht neben der Eisenbahn und den
anderen öffentlichen Verkehrsmitteln in Paris (RATP; Régie Autonome des
Transports Parisiens) uneingeschränkt unbefristete Maßnahmen ergreifen, diese
isoliert werden könnten und ihre Widerstandsfähigkeit erschöpft wäre. Dann könnte
ein mieser Deal zustande kommen, wie im letzten Jahr. Philippe Martinez hat
vielleicht eine „Verallgemeinerung der Streiks“ gefordert, aber er hat die
Losung eines unbefristeten Generalstreiks abgelehnt.

…und Chancen für
die Bewegung

Die offene
Agitation für einen Generalstreik ist der Weg, um den Streik auszudehnen, aber
auch, um ihm ein klareres politisches Profil zu verleihen, d. h. gegen die
ganze Reihe von Regierungsangriffen. Gerade in Bezug auf diese Aufgaben ist die
Bewegung der gelben Westen ein negatives Beispiel, dem man nicht folgen sollte.
Sie waren gewaltsam gegen jede Form von Delegiertenorganen oder
-vertreterInnen, irgendeine Art von Politik oder Partei und sogar jede
nationale Organisation. Deshalb ist die Bewegung gescheitert. Leider haben weit
links stehende Gruppen wie NPA und LO jede Kritik vermieden.

Die äußerste
Linke hat jetzt eine große Verantwortung. Wichtige Persönlichkeiten der
ArbeiterInnenbewegung sind in jüngster Zeit aus ihren Reihen hervorgegangen,
und sie haben eine starke und historische Verankerung in der SNCF. Heute
spielen sie eine wichtige Rolle bei der Organisation der AGs. Beide sind jedoch
zahlenmäßig und politisch schwach. Darüber hinaus ist die NPA in Bezug auf landesweite
Organisation besonders schwach, und es ist nicht klar, ob sie aufgrund ihrer
politischen Schwächen und ihrer tiefen internen Meinungsverschiedenheiten eine
führende Rolle auf nationaler Ebene spielen kann.

Viele andere
reformistische Kräfte wie die Parti Socialiste, die Kommunistische Partei
Frankreichs oder Mélenchons France Insoumise (Unbeugsames Frankreich) unterstützen
den Streik, überlassen ihn aber den GewerkschaftsführerInnen und hoffen
einfach, ihn für die nächste Runde der Kommunalwahlen, die im März 2020
stattfinden soll, zu nutzen. Mélenchon twitterte im Einklang mit seinem
Neopopulismus: „Selbst Madame Le Pen sagt, dass wir demonstrieren müssen. Das
ist ein großer Schritt nach vorne.“ Sicherlich ist das Letzte, was die Bewegung
braucht, die Unterstützung durch Le Pen und die Rassemblement Nationale, RN,
ehemals FN. Die Anwesenheit von RassistInnen und regelrechten FaschistInnen
unter den gelben Westen trug zum Zerfall und Scheitern dieser Bewegung bei.

Zusammenfassend
lässt sich sagen, dass die französische Bewegung 2019 an Stärke und Breite
historisch ist. Sie hat das Potenzial, den Hochgeschwindigkeitszug der
neoliberalen Reformen von Macron zu blockieren und entgleisen zu lassen.
Angesichts des besonderen internationalen Zusammentreffens solcher Bewegungen
auf der ganzen Welt, Chile, Irak, Hongkong, kann sie eine starke internationale
Resonanz auslösen und sicherlich andere Bewegungen der ArbeiterInnenklasse in
Europa fokussieren und inspirieren. Die Bewegung wächst heute noch und hat ihr
Potenzial noch nicht voll ausgeschöpft. RevolutionärInnen sollten sie nachdrücklich
unterstützen und dazu beitragen, ihren organisatorischen und politischen Inhalt
zu verstärken, damit sie ihr Ziel, die Regierung zu besiegen, erreichen kann.

Wir brauchen:

  • Sektorenübergreifende AGs und Koordinationen in jeder Stadt, um unbefristete Streiks auf alle Arten von Beschäftigten im öffentlichen Sektor auszuweiten und den Privatsektor mit seinen eigenen Forderungen einzubinden.
  • Eine landesweite Koordination der Delegierten der AGs mit der Kontrolle über alle Verhandlungen mit Macron und der Regierung.
  • Einen allumfassenden und unbefristeten Generalstreik, um Macrons gesamtes Programm zu besiegen und ihn von der Macht zu vertreiben.
  • Eine breit angelegte Diskussion darüber, wer an die Stelle der Macron-Regierung treten soll, d  h. die Frage einer ArbeiterInnenregierung muss auf die Tagesordnung gesetzt werden.



Bundesbank fordert Rente mit 70. Was für eine geniale Idee!

Eine Glosse von Kuno Benz, Infomail 1074, 25. Oktober 2019

Endlich ist die Non-Plus-Ultra-Lösung gegen Wirtschaftskrise,
Altersarmut, Demoskopie und Demenz gefunden! Keine geringere Institution als
die Bundesbank darf sich als Retterin der Nation fühlen! Man erhöht einfach das
Renteneintrittsalter und schon floriert die Wirtschaft wieder. Die Arbeitslosen
verschwinden wie von selbst, denn sie dürfen ja nun bis 70 arbeiten! Die
Gewerkschaften beschäftigen sich endlich statt mit
Arbeitskämpfen-aus-dem-Weg-Gehen mit der Frage des
Kampf-gegen-die-Rente-mit-70-Vermeiden. Immerhin hat man darin ja noch den
Erfahrungsschatz des Rente-mit-67-durchgehen-Lassens.

Die KollegInnen in den Betrieben sind da bereits weiter. Schon gibt es
Vorschläge, spezielle Pflegestationen einzurichten mit krankengerechten
Bildschirm-Arbeitsplätzen. Die Pflegekräfte (viele neue Arbeitsplätze!) kommen
dann in den Bildschirmpausen, um die MitarbeiterInnen zu füttern und die Windeln
zu wechseln. Es gibt keine chronisch fehlenden Pflegeheimplätze mehr, die
Pflege verlagert sich einfach in die Betriebe – und schon sind wir dem uralten
Wunsch des generationenübergreifenden gemeinsamen Lebens und Arbeitens ein
Stück nähergekommen.

Dumm nur, dass viele KollegInnen solche Chancen gar nicht sehen wollen
und sich womöglich daran erinnern, wie mit spontanen Streiks 1996 die
Lohnfortzahlung im Krankheitsfall verteidigt wurde und die Gewerkschaften nur
mit viel Mühe die Bewegung wieder einfangen konnten.

Noch schlimmer aber wird es um so geniale Ideen wie der Rente mit 70
bestellt sein, wenn die ArbeiterInnenbewegung erst Ernst macht mit Forderungen
wie „gleitende Arbeitszeitskala“ – also Reduzierung der Arbeitszeit so lange,
bis es keine Arbeitslosen mehr gibt – verbunden mit einer
ArbeiterInnenkontrolle über die Produktion.

Wenn dann 70-jährige BundesbankpräsidentInnen und
WirtschaftsministerInnen auch noch in der Produktion mitarbeiten, dann können
sie erst richtig zeigen, was in ihnen steckt. Ob sie aber dann
noch immer so geniale Ideen produzieren?




Brasilien: Politisches Lumpenpack!

Liga Socialista, Infomail 1063, 25. Juli 2019

Mit einer entscheidenden Abstimmung billigte das
brasilianische Repräsentantenhaus am 8. Juli 2019 mit 379 Ja-Stimmen und 131
Nein-Stimmen den Grundtext der „Reform“ der sozialen Sicherheit. Die Debatte
war im Plenum heftig geführt worden, wobei die Opposition große Anstrengungen
unternahm, um diese Katastrophe zu vermeiden.

Die Umsetzung der Reform würde die Zerstörung des
Sozialversicherungssystems des Landes bedeuten. Von nun an müssen die
Arbeit„nehmer“Innen etwa zehn Jahre länger arbeiten, um mit einer Rente in den
Ruhestand zu gehen, von der sie leben können. Darüber hinaus könnte die Höhe
der Rente der Hälfte des bisherigen Gehalts entsprechen. Die Renten, die
Ehemänner für ihre Witwen hinterlassen, betragen die Hälfte des Mindestlohns.
Damit droht eine verheerende Situation im Land.

Wir müssen die Mitglieder des Parlaments unter die Lupe
nehmen, die für diese Reform gestimmt haben. Während der gesamten Debatte
bestanden sie darauf, dass Privilegien abgeschafft werden sollten und die
Reform notwendig sei, um zu verhindern, dass das Land auseinanderfällt.

Dieses Lumpenpack! Gleichzeitig mit ihren Reden, in denen
sie scheinheilig erklärten, dass BeamtInnen und LehrerInnen privilegiert seien,
wurde die Tatsache verschleiert, dass die Sonderkommission des Parlaments, die
die Reform der Sozialversicherung analysierte, die Steuerbefreiung für die
AgrarexporteurInnen wieder eingeführt hat, was ohne dieses Geschenk zu einem
Steueraufkommen von rund 84 Milliarden Real geführt hätte.

Viele dieser Abgeordneten, die sagen, dass das Land vor
einem finanziellen Zusammenbruch stand und es sich einfach nicht mehr leisten
konnte, die Renten zu zahlen, verteidigten und genehmigten das Repetro-Gesetz,
das während der Regierung Temer verabschiedet wurde, das Ölgesellschaften, die
das Gebiet über und unter den Salzschichten ausbeuten, Steuervorteile gewährte
und bis 2040 wirksam ist. Diese Befreiungen werden zu Steuerausfällen von rund
1 Billion Real führen.

Wenn es dem Land an Geld mangelt, was ist dann mit dem
Vermögen von hohen RegierungsbeamtInnen, Abgeordneten und SenatorInnen? Werden
sie ihre Rentenansprüche und andere Privilegien aufgeben? Also, für wen war die
Reform wirklich notwendig?

Diese Reform wurde durchgeführt, um den Bedürfnissen von
Geschäftsleuten und Bankiers gerecht zu werden, denen dieser Ausgabenposten des
Haushalts immer ein Dorn im Auge war. Ein Sozialhaushalt, der den ArbeiterInnen
im Alter, bei Unfällen oder Krankheiten helfen sollte, wurde von den wirklich
Privilegierten – Geschäftsleuten, Bankiers und AgroexporteurInnen –, die ihn in
die Finger bekommen wollten, immer als Hindernis angesehen. Jetzt wird der
Staat mehr Geld haben, um es auf Kosten der Gesellschaft an diese ParasitInnen
zu verteilen.

Klassenwahl

Offensichtlich war die Abstimmung im Parlament eine
Klassenwahl: eine Abstimmung für die Reichen und Superreichen, für das
bürgerliche Establishment, für die Bankiers, Industriellen und das
Agrobusiness, für das brasilianische und internationale Kapital. Es ist kein
Wunder, dass alle bürgerlichen Parteien, die Stützen der Regierung sowie die
traditionellen Parteien der brasilianischen Elite für die „Reform“ gestimmt
haben. Es ist auch kein Zufall, dass eine beträchtliche Anzahl der „Mitte-Links“-Mitglieder
von PDT (Demokratische ArbeiterInnenpartei) und PSB (Partido Socialista
Brasileiro) ebenfalls dafür gestimmt hat, obwohl die Führungen dagegen
sprachen. Nur die Abgeordneten der reformistischen und linken Parteien PT
(ArbeiterInnenpartei), PSOL (Partei für Sozialismus und Freiheit) und PCdoB
(Kommunistische Partei von Brasilien), die behaupten, die ArbeiterInnenklasse
zu vertreten und historisch und organisatorisch mit den ArbeiterInnen- und
Gewerkschaftsbewegungen verbunden sind, stimmten gegen diesen historischen
Angriff auf die sozialen Rechte.

Unser Kampf kann und darf nicht hier enden. Wir müssen den
Widerstand der ArbeiterInnenklasse weiterhin organisieren und mobilisieren. Die
Abstimmung im Kongress war nur der erste Akt. Es wird nun eine längere Zeit der
Änderungen und Ergänzungen geben, bis am 6. August eine weitere Abstimmung im
Kongress stattfinden wird. Wenn es noch eine Mehrheit dafür gibt, wird das
Gesetz an den Senat, die zweite Kammer des Parlaments, am 8. August übergeben.

Natürlich können wir nicht erwarten, dass der Kongress,
geschweige denn der Senat, die Rentenkürzungen aufgibt. Es wird viel „Kuhhandel“
geben, wo dieser oder jener Beruf (z. B. Lehrerschaft und Polizei)
zusätzliche Regeln erhalten wird, wo das Mindestalter für den Ruhestand oder
die Formel für die Beziehungen zwischen Beitragsdauer und Rentenniveau
angepasst wird. Wir können mit Sicherheit erwarten, dass dies zum Schaden der
Bevölkerungsmehrheit geschieht, auch wenn es einige Verbesserungen für
Schichten der Gesellschaft geben wird, die von bestimmten Parlamentsfraktionen
unterstützt werden. Wir können uns bei diesen Verhandlungen keinerlei
Illusionen machen! Nur Massenmobilisierungen an den Arbeitsplätzen, in den
Büros und auf den Straßen können die derzeitige Offensive von Regierung und
Bürgertum stoppen.

Die CUT, der größte und wichtigste Gewerkschaftsdachverband des
Landes, hat zu Massenversammlungen im Juli und zu einer Protestwoche vom 5. bis
12. August aufgerufen, die am 13. August in einem „Tag des Kampfes gegen die
Rentenreform“ gipfelt, um das Land zum Stillstand zu bringen.

Es liegt auf der Hand, dass sich alle linken und
ArbeiterInnenparteien und die sozialen Bewegungen, die StudentInnen, die
Frauenbewegung, die Landlosen, die Bauern/Bäuerinnen und indigenen Völker sowie
die Obdachlosenbewegung zusammenschließen sollten, um eine massenhaft vereinte
Front gegen die Rentenreform aufzubauen. Wir, die Liga Socialista, schlagen
vor, Aktionsräte an allen Arbeitsplätzen und in allen Büros, an den Schulen,
Universitäten, in den ArbeiterInnensiedlungen, den Favelas, in Stadt und Land
zu bilden, um die Aktion vorzubereiten, zu organisieren und zu leiten. Die Räte
sollten von Massenversammlungen gewählt werden, ihrer Basis
rechenschaftspflichtig und von ihr abrufbar sein und die Grundlage für eine
nationale, demokratische Koordination des Kampfes bilden.

Die „Aktionswoche“ ist ein positiver Schritt nach vorne.
Aber aus der Vergangenheit wissen wir, dass temporäre und begrenzte Maßnahmen,
auch wenn es sich um einen eintägigen Generalstreik handelt, die Regierung und
die Bosse nicht aufhalten werden. Wir müssen einen unbefristeten Generalstreik
zur Rücknahme des Gesetzes einleiten und organisieren und er muss auf den
Aktionsräten basieren. Um Provokationen und Angriffe der extremen Rechten,
paramilitärischen bzw. (proto)faschistischen Kräfte oder der Polizei zu
stoppen, muss die Bewegung eine Selbstverteidigung in großem Stil organisieren.

Eine solche Bewegung könnte natürlich nicht nur die
Rentenreform stoppen, ein solcher unbefristeter Generalstreik würde auch die
Frage der Macht aufwerfen, die Frage, welche Klasse die Gesellschaft führt und
in wessen Interesse.

Wichtig ist, dass wir wissen, wie wir den Kampf gegen das
Gesetz zu einem für eine sozialistische Gesellschaft eskalieren können, dass
wir bereit sind, einen Verteidigungskampf und einen Generalstreik in einen
Machtkampf zu verwandeln. Vom Widerstand zur Revolution!