Proteste gegen Inflation und Energiekrise: Klare Kante gegen rechts!

Christian Gebhardt, Neue Internationale 268, September 2022

Die Inflationsrate steigt und steigt. Betrug sie im August 2022 in Deutschland 8,8 %, wird im Herbst schon eine zweistellige Steigerungsrate erwartet. Bürgerliche Ökonom:innen sprechen zwar davon, dass die Spitze der Inflation bald erreicht sein solle und es sich wieder „zu den normalen“ 2 % hin entwickeln würde. Eins ist aber sicher: die Preise werden oben bleiben und mit ihnen der finanzielle Druck im Alltag etlicher Menschen. Vergleicht man die Inflationsraten mit denen anderer Länder, wird deutlich, wohin die Reise gehen könnte: Österreich 9,2 %, Estland 25,2 % sowie die Türkei mit satten 80,1 % im August 2022 weisen alle eine höhere Inflation auf.

Somit ist es nicht verwunderlich, dass die stark ansteigenden Preise nicht nur Gesprächsthemen in Politshows und bürgerlichen Kolumnen einnehmen, sondern auch täglich für Gesprächsstoff an den Frühstückstischen, in den Pausenräumen und Betrieben sorgen. Die Arbeiter:innenklasse bekommt die Auswirkungen täglich durch gestiegene Lebensmittel- und Energiepreise zu spüren und der Unmut darüber wird immer lauter. Auch wenn es noch nicht überkocht, die Stimmung scheint zu brodeln und die Menschen suchen nach Aktivitätsmöglichkeiten, um ihren Unmut auf die Straße zu tragen. Einen Hinweis darauf stellen zum Beispiel die Teilnehmer:innenzahlen bei den ersten Montagsdemonstrationen wie z. B. 4.000 Teilnehmer:innen in Leipzig dar.

Rechte Mobilisierungen

Neben den Mobilisierungen linker Kräfte versuchen auch rechte wie die AfD oder „Freie Sachsen“, das Thema für sich zu besetzen und mit ihren reaktionären Perspektiven zu verbinden. Auch wenn sich daraus noch keine regelmäßig mobilisierende Massenbewegung wie gegen Corona entwickelt hat, wird die bundesweit beworbene AfD-Kundgebung am 8. Oktober in Berlin ein Gradmesser dafür sein, wie stark rechte Organisationen oder Strukturen dieses Thema für sich nutzen können. Schon jetzt dominieren rechte und faschistische Kräfte in Sachsen viele lokale Demos.

Der Herbst wird also auch ein Kräftemessen zwischen rechts und links, zwischen reaktionärer kleinbürgerlicher Demagogie und der Arbeiter:innenklasse. Schon jetzt erfolgt dieses: Die jeweilige Größe von Demonstrationen wie jene des linken Bündnisses Brot Heizung Frieden am 3. Oktober, der Mobilisierung der Sozialverbände, Umweltorganisationen und Gewerkschaften am 22. Oktober wird für den Stand des Einflusses ebenso wesentlicher Indikator wie die AfD-Kundgebung am 8. Oktober werden.

Währenddessen werden die bürgerlichen Medien nicht müde, gemäß der Hufeisentheorie die linken wie rechten Proteste in einen Topf zu werfen und zu diffamieren. Alle Proteste gegen die Inflation und ihre Auswirkungen soll als putinfreundlich, rechtsradikal oder antisemitisch gebrandmarkt werden.

Wie umgehen mit rechten Gegenprotesten?

Diese rechten Mobilisierungen zeigen aber auch Auswirkung auf die Diskussionen innerhalb der (radikalen) Linken im Umgang damit. Hier unterscheiden sich drei Ansätze: 1) Entweder es wird der Kampf gegen rechts in den Vordergrund gestellt und Blockaden der rechten Demonstrationen als oberstes Ziel ausgerufen; 2) es wird sich in populistischer Natur rechts offen gegeben und darauf hingewiesen, dass auch reaktionäres Gedankengut zunächst innerhalb einer breiten, populären Massenbewegung gegen die Inflation ausgehalten werden müsse; und 3) die Notwendigkeit einer unabhängigen Massenbewegung der Arbeiter:innen aufzubauen betont, die aus ihrer Perspektive heraus nicht nur den proletarischen Kampf gegen die Inflation und Teuerung, sondern auch gegen rechts in einer Massenbewegung vereinen könne.

Diese Ansätze werfen direkt die Frage des Charakters einer solchen – dringend notwendigen – Massenbewegung auf. Soll sie einen populistischen Charakter tragen? Eine Bewegung, die vor klaren Klassenpositionen wie Internationalismus und Antirassismus zurückschreckt, um Teile „des Volkes“ nicht zu verprellen und für die Bewegung zu gewinnen? Oder soll sie einen internationalistischen, proletarischen Charakter besitzen? Eine Bewegung, die sich an den Kampforganen sowie -formen der Arbeiter:innenklasse orientiert? Die sich auf Basisstrukturen der Arbeiter:innenklasse in Betrieben, Nachbarschaften und an Schulen zur Mobilisierung, Diskussion und Verbreitung der Bewegung stützt und ihr dadurch einen basisdemokratischen, multiethnischen Charakter verleiht?

Wir argumentieren für den Aufbau einer internationalistischen, proletarischen Massenbewegung – die einen Attraktionspol für die Menschen darstellen und gleichzeitig einen Ausweg im Interesse der arbeitenden Bevölkerung aufzeigen kann. Nur durch eine klare Positionierung können breite Teile der Arbeiter:innenklasse für eine solche Bewegung gewonnen und Gegenmacht gegen die rassistische Demagogie der Rechten formiert werden.

Dies bedeutet, auch innerhalb der linken Mobilisierung einen offenen und solidarischen Kampf gegen politische Konzeptionen von Kräften wie „Aufstehen“ rund um Sahra Wagenknecht, gegen kleinbürgerliche Politiken von Umweltverbänden zu führen – und natürlich auch gegen Sozialpartnerschaft und Kompromisslerei auf Seiten der Gewerkschaftsbürokratie oder der Reformist:innen in der Linkspartei. Letztlich wird die entscheidende Frage im Kampf gegen rechts sein, ob es der Arbeiter:innenklasse gelingt, der Bewegung ihren Stempel aufzudrücken und eine Perspektive zu weisen. Daher ist es auch so zentral, die Gewerkschaften in die Aktion zu ziehen, denn die aktuellen Angriffe können letztlich nicht wegdemonstriert, sondern müssen weggestreikt werden.

Rechte Aktionen und Provokationen

Zweifellos ist es auch richtig, sich rechten Mobilisierungen entgegenzustellen wie am 5. September in Leipzig oder sich am 8. Oktober an den Gegenaktionen zum AfD-Aufmarsch zu beteiligen. Den Kampf um die Massen, die jetzt eine Perspektive und eine Bewegung gegen Inflation und Verarmung brauchen, können wir aber durch diese Aktionen alleine nicht führen. Mehr noch. Wenn sich die Linke auf die Verhinderung von rechten Aufmärschen fokussiert, wird sie selbst keine attraktive Kraft werden können, sondern überlässt letztlich den Rechten die Opposition zur Regierung.

Gänzlich verfehlt und problematisch wird die Sache, wenn beispielsweise der Demonstration am 5. September in Leipzig von der antideutschen Antifa vorgeworfen wird, dass diese eine „Querfront“ gewesen wäre, weil DIE LINKE und andere eine eigene Veranstaltung durchgeführt haben, statt sich auf die Blockade der Rechten und Nazis zu konzentrieren. In Wirklichkeit offenbart diese Anschuldigung nicht nur einen albern dümmlichen Gebrauch des Querfrontvorwurfs, sondern auch die politische Perspektivlosigkeit vieler Antifa. Selbst hat man keinen Plan, keine Vorschläge, keine Forderungen, wie gegen Preissteigerungen und die Kriegspolitik der Regierung vorzugehen wäre. Was als besonders „militant“ daherkommt, stellt im Grunde eine politische Bankrotterklärung dar.

Ein gänzlich anderes Problem wirft freilich die Frage auf, wie organisierte rechte Präsenz, Provokationen oder Infiltrationsversuche auf linken Demos effektiv gestoppt werden können. Natürlich spielen auch hier die Forderungen und klassenpolitische Ausrichtung selbst schon eine wichtige Rolle. Darüber hinaus braucht es klare Stellungnahmen, dass rechte Organisationen, Faschismus, Rassismus und Antisemitismus auf den linken Kundgebungen und Aktionen keinen Platz haben.

Bei Ankündigungen darf es dabei natürlich nicht bleiben. Es braucht einen organisierten Ordner:innendienst und Schutz der Aktionen, die organisierte rechte oder rechts offene Kräfte von den Demonstrationen und Kundgebungen auch entfernen können. Solche Ordner- und Selbstverteidigungsstrukturen müssen von den linken Aktionsbündnissen gebildet und diesen auch verantwortlich sein.

Dies ist vor allem notwendig, weil wir es nicht nur, in etlichen Städten wahrscheinlich nicht einmal in erster Linie, mit organisierten rechten, faschistischen oder rechtspopulistischen Strukturen zu tun haben. Diese haben bei den Aktionen nichts verloren und müssen rausgeschmissen werden.

Anders stellt sich das Problem bei bisher kaum mobilisierbaren Lohnabhängigen und Kleinbürger:innen mit politisch diffusem Bewusstsein dar, die die reale Existenzangst auf die Straße treibt. Wir wollen diese Menschen in die Bewegung ziehen und für unsere Aktionen gewinnen, denn auch im politischen Kampf um deren Herzen und Hirne wird entschieden, ob die Rechte oder die Linke zur hegemonialen Kraft im Kampf gegen Preissteigerungen, Energiekrise und Regierungspolitik wird.

Schließlich kann und darf eine „richtige“ Positionierung zum Ukrainekrieg keine Vorbedingung zur Teilnahme an einer Bewegung gegen die Teuerung darstellen. Das gilt natürlich noch mehr, wenn die vom DGB, den Sozialverbänden und Umweltorganisationen für den 22. Oktober geforderte Position die falsche ist. Versuche, eine Kritik an den reaktionären Sanktionen zu untersagen, haben mit einem Kampf gegen rechts nichts zu tun, sondern stellen bloß eine politische Flankendeckung für die Regierung und ihren imperialistischen Kurs dar. Sie schrecken Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende potentielle Unterstützer:innen ab, vor allem im Osten.

Die klare Kante gegen rechts, die klare Abgrenzung von AfD und Co. wird nur dann eine scharfe politische Waffe sein, wenn sie auch eine gegen Kapital und Regierung, gegen Krieg und Krise, gegen den deutschen Imperialismus beinhaltet.




Wahlen in Brasilien – der Kampf geht in eine neue Etappe

Markus Lehner, Neue Internationale 268, Oktober 2022

Seit fast einem Jahrzehnt befindet sich die brasilianische Wirtschaft in der Krise. Das einstige „Schwellenland“ wird von Stagnation, Inflation und Arbeitslosigkeit gebeutelt. Weit über die offiziellen Zahlen hinaus sind über 50 Millionen Brasilianer:innen ohne Arbeit, weitere mehr als 30 Millionen prekär beschäftigt – für einen großen Teil der brasilianischen Bevölkerung ist das tägliche Überleben damit zur Hölle geworden.

Diese Situation hat sich durch den teilweisen Zusammenbruch des Gesundheitssystems während der Pandemie noch verschärft. Nicht nur, dass über 700.000 Menschen im Gefolge von Corona gestorben sind, haben sich durch die praktisch nicht vorhandene Pandemiepolitik die Arbeitsausfälle so gehäuft, dass auch wirtschaftlich ein schwerer Einbruch erfolgte. Zu dieser ökonomischen, sozialen und gesundheitspolitischen Krise kommt die Verschärfung der ökologischen, die neben der wahnwitzigen Abholzung im Amazonas-Regenwald auch vermehrt zu durch den Klimawandel bedingten Katastrophen führt. Die soziale Spaltung in Brasilien betrifft auch verstärkt Indigene, Nicht-Weiße, Frauen und LGTBIAQ+-Menschen, die nicht erst seit der Bolsonaro-Regierung unter verstärkten Angriffen auf ihre Rechte leiden.

Politische Dauerkrise

Zu dieser Gemengelage gesellt sich seit dem Sturz der letzten PT-Regierung (Partido dos Trabalhadores; Partei der Arbeiter:innen) die politische Krise. Das mit dem „Übergang“ von der Militärdiktatur in den 1980er Jahren geschaffene politische System funktioniert nur durch ein komplexes Geflecht an politischen Parteien, die über mehr oder weniger offene Korruption mit den unterschiedlichen Kapitalgruppen verbunden sind. Über diese Form der „Kooperation“ wird ihre Unterstützung für Regierungen vermittelt.

Während des Wirtschaftsaufschwungs der frühen 2000er Jahre war die PT unter Lula in der Lage, für eine gewisse Zeit die Arbeiter:innenklasse in dieses System einzubinden und somit die sozialen, ökologischen und politischen Konflikte zu kanalisieren. Weil sie im Gegensatz zu den meisten offen bürgerlichen Parteien über eine Massenorganisation verfügte, war sie unter Kontrolle einer reformistischen Führung sogar eine gewisse Stabilitätsgarantin für den brasilianischen Kapitalismus.

Mit Beginn der Krise zwischen 2012 und 2015 setzte die Bourgeoisie jedoch zunehmend auf den Bruch mit der PT und eine neoliberale Radikalkur. Der Putsch gegen Dilma ermöglichte unter Temer „Reformen“ der Arbeitsbeziehungen (weitgehende Informalisierung der Arbeitsverträge), Austrocknung der öffentlichen Haushalte (Verankerung von Schuldenbremsen in der Verfassung) und eine Beschleunigung von Privatisierungen. Die Unbeliebtheit Temers und die wachsende Protestbewegung drohten, 2018 die PT wieder an die Macht zu bringen – worauf die Bourgeoisie auf die Karte des Rechtspopulismus in Gestalt des bis dahin unbedeutenden Rechtsaußen Jair Bolsonaro setzte.

Bolsonaro und die Bourgeoisie

Auch wenn die Ideologie Bolsonaros und seine Rhetorik Anklänge an den Faschismus aufweisen, so hatte er bei der Wahl keine Massenbewegung und faschistische Milizen in einer Zahl hinter sich, die notwendig gewesen wäre, um tatsächlich ein faschistisches Regime zu errichten. Auch wenn Kräfte im bewaffneten Staatsapparat seine rechte Politik unterstützen und auch in der Regierung die Zahl der Militärs anstieg, so wurde doch in Brasilien keine faschistische Diktatur errichtet, die die Arbeiter:innenbewegung insgesamt zerschlägt und atomisiert, auch wenn die wachsende Zahl an repressiven Aktionen und politischen Morden nicht verharmlost werden darf.

Die Regierung Bolsonaro war zudem durch große Widersprüche zwischen den verschiedenen bürgerlichen Kräften geprägt, die dieses Regime unterstützen. Der Rechtsaußen war nie in der Lage, diese divergierenden Interessen und Machtzentren zu einer einheitlichen Politik zu formen. Das Ergebnis war ein absurdes Chaos von halbherzigen Maßnahmen, die ihren Gipfel in der völlig wirren Coronapolitik fanden. Es ist kein Wunder, dass auch große Teile der Bourgeoisie inzwischen Bolsonaro nicht mehr als Präsidenten haben wollen. Im Vorlauf zur Präsidentenwahl kam es bei einschlägigen Meetings von Unternehmer:innen und Vertreter:innen der US-Administration zu eindeutigen Stellungnahmen gegen eine erneute Präsidentschaft Bolsonaros, die zunächst in der Suche nach einem/r „dritten“ Kandidat:in mündeten. Als dies scheiterte, kam die PT wieder ins Spiel.

Nach dem Dilma-Putsch wurde versucht, die PT auszugrenzen, wenn nicht gar zu zerschlagen. Zentral dabei waren der Prozess und die Inhaftierung von Lula. Als wenn die Korruption nicht im Zentrum des politischen Systems des Kapitalismus in Brasilien stünde, wurden die PT und allen voran Lula zu ihrem Zentrum erklärt und ihr dafür stellvertretend der Prozess gemacht („Lava Jato“-Prozesse, benannt nach der sog. Autowaschaffäre). Doch die PT überlebte und blieb sogar Kern von Protesten gegen die Temer-Reformen und ihre Fortsetzung unter Bolsonaro.

PT, Lula und Alckmin

Die PT und der von ihr geführte Gewerkschaftsdachverband CUT erwiesen sich auch als wichtig, um die wachsenden Massenproteste zu kanalisieren und wieder in Richtung Alternativen bei Wahlen zu lenken. Die Angst vor weiteren Protesten und die Unzufriedenheit mit Bolsonaro führten die Bourgeoisie wohl dazu, die PT wieder als Teil der Lösung ihrer Probleme zu sehen. Plötzlich wurde „entdeckt“, dass bei den Prozessen gegen Lula Unregelmäßigkeiten passiert waren. Das oberste Gericht annullierte seine Verurteilung und stellte seine vollen politischen Rechte wieder her.

Lula begann danach, sofort die Karte des „Anti-Bolsonaro“ zu spielen. Unter dem Motto, dass es vor allem darauf ankomme, eine weitere Präsidentschaft Bolsonaros zu verhindern, sollte es oberstes Ziel der PT und ihrer Unterstützer:innen sein, nicht auf die Straße zu gehen, sondern ein „breites Bündnis“ für die kommende Präsidentschaftswahl zu schmieden. Für dieses fand sich denn auch einer der wichtigsten Vertreter der brasilianischen Bourgeiosie, Geraldo Alckmin, als „running mate“ für die Kandidatur zur Präsidentschaft (für die nun die Liste Lula-Alckmin von der PT unterstützt wird).

Alckmin ist nicht nur einer der prominentesten Politiker der wichtigsten Partei der brasilianischen Bourgeoisie, der PSDB (auch wenn er formell für die Wahl zu einer kleineren bürgerlichen Partei übergetreten ist). Er war für diese nicht nur 2006 Präsidentschaftskandidat gegen Lula, sondern auch langjähriger Gouverneur der wichtigsten Region Brasiliens, Sao Paulo. In Sao Paulo unterdrückte er nicht nur auf brutale Weise Streiks (wie den großen Lehrerstreik) und Demonstrationen (wie die gegen Preiserhöhungen im öffentlichen Verkehr), er war auch Mitverantwortlicher für das „Pinheirinho-Massaker“ bei der Zwangsräumung einer der größten Favelas in der Region. Alckmin ist nicht nur als Wirtschaftsliberaler bekannt, er bringt auch eine entsprechende Koalition von Parteien (oder besser gesagt Abgeordneten) in das „breite Bündnis“ ein, die letztlich bei einer Regierung Lula-Alckmin die wesentlichen politischen Linien vorgeben werden (d. h. ohne die die PT nicht die Spur einer Mehrheit im Kongress haben würde). Zudem verkörpert Alckmin als Vizepräsident wieder die Möglichkeit, im Ernstfall den Dilma-Putsch diesmal gegen Lula durchzuführen.

Polarisierung und Putschgefahr

Die Wahl ist klar zwischen Lula/Alckmin und Bolsonaro polarisiert. Andere Kandidat:innen werden es nicht in den zweiten Wahlgang schaffen, sollte Lula nicht sowieso schon im ersten Wahlgang gewinnen. Natürlich stellt eine zweite Amtszeit von Bolsonaro eine große Bedrohung dar, da er inzwischen beachtliches repressives Potenzial angesammelt hat. Er hat seine Stellung im Staatsapparat und gegenüber den bewaffneten Organen genutzt, um nicht nur dort seine Anhängerschaft auszubauen, sondern auch große bewaffnete Unterstützerorganisationen aufzubauen (von pensionierten Militärpolizist:innen, über Jägervereine, bis zu Biker:innen und bewaffneten Milizen der Agrobosse). Ein Sieg Bolsonaros würde daher sicherlich eine Steigerung der Repression bedeuten.

Für den wahrscheinlichen Fall einer Wahlniederlage wird jetzt von immer abenteuerlicheren Putschdrohungen aus dem Bolsonaro-Lager berichtet. Ein solcher Putsch wäre angesichts der mangelnden Unterstützung durch große Teile der Bourgeoisie und der US-Administration zwar tatsächlich reines Abenteurertum – ist aber deswegen nicht ausgeschlossen. Gegen diese rechte Gefahr muss die Arbeiter:innenklasse ihre Einheitsfront aufbauen und sie mit ihren Mitteln bekämpfen (inklusive dem Aufbau von Selbstverteidigungskräften und eigenen Milizen). Sollte es tatsächlich zu einem Putsch und einer folgenden Repressionswelle kommen, müsste sofort eine Massenbewegung bis hin zum Generalstreik diesen sofort zu Fall bringen. Es wäre hier fahrlässig, auf die „demokratischen“ Teile in Armee, Parteien, Gerichten und Staatsapparat zu setzen (wie jetzt in den verschiedenen offenen Briefen suggeriert wird). Die Gefahr eines solchen halbfaschistischen Putsches könnte nur durch entschlossene Massenaktion gestoppt werden. Diese würde zugleich die Allianz von PT und CUT mit der Bourgeoise massiv unter Druck bringen, weil Alckmin ganz sicher keine bewaffneten Selbstverteidigungseinheiten der Arbeiter:innenklasse auf der Straße sehen will.

Volksfront und Wahltaktik

Eine Lula/Alckmin-Regierung dagegen würde tatsächlich eine Fortsetzung der Temer’schen „Reformen“ bedeuten. Auch wenn Lula eine Revision der Arbeitsmarkt- und Haushaltsdekrete verspricht, ist angesichts seines Bündnisses klar, dass dies höchstens Kosmetik bleiben wird. Dies betrifft auch die Fortsetzung der Privatisierungspolitik und lässt angesichts der Haushaltslage auch keine wesentliche Verbesserung der Sozialleistungen für die Millionen von notleidenden Brasilianer:innen erwarten. Angesichts der zu erwartenden weiteren Verschlimmerung der wirtschaftlichen und ökologischen Krise wird somit die Enttäuschung über die nächste Lula-Präsidentschaft sehr schnell einsetzen.

Mit Lula als Präsident werden zugleich die PT und die CUT wachsende Massenproteste noch weiter zurückzuhalten versuchen. Wenn es dann der Linken nicht gelingt, eine alternative Führung zu PT/PCdoB aufzubauen, wird der Massenunmut notwendigerweise wiederum den rechtsextremen Rattenfänger:innen in die Hände spielen (ob mit Bolsonaro, seinen Söhnen oder welchem Clown auch immer an der Spitze).

Wie Trotzki schon an Hand der Volksfront in Frankreich in den 1930er Jahren nachgewiesen hat, stellen diese und ihr Elektoralismus samt bürgerlicher Koalitionspolitik die beste Vorbereitung für die nächste Welle der rechten Mobilisierung bis hin zum Faschismus dar. Für Volksfronten als solche kann es daher niemals auch nur eine kritische Wahlunterstützung geben. Das trifft aber wie in Frankreich in den 1930er Jahren natürlich nicht für die Kandidat:innen der reformistischen Parteien in der Volksfront zu, sofern deren Wahl möglich ist, ohne die offen bürgerlichen gleich mitzuwählen. Revolutionär:innen können daher nicht für die Liste Lula/Alckmin bei den Präsidentschaftswahlen stimmen, weil diese nur im Paket ankreuzbar ist. Eine Stimme für Lula/Alckmin kommt daher unwillkürlich nicht nur einer für Lula, sondern auch für den bürgerlichen Kandidaten, also die gesamte bürgerliche Koalition, gleich.

Anders verhält es sich mit einzelne Kandidat:innen der PT, aber auch der mit ihr verbündeten PCdoB oder der PSOL für Sitze im Kongress. Für die Wahl dieser Kandidat:innen fordern wir ihre Wähler:innen jedoch auf, sie zum Bruch mit der bürgerlichen Koalition, zum Widerstand gegen die neoliberale Regierungspolitik unter welcher Führung auch immer und zur Unterstützung der Massenproteste gegen Krise und rechte Gefahr zu zwingen. Wir fordern von PT, PCdoB, PSOL und CUT, eine Minderheitsregierung gestützt auf die Mobilisierung ihrer Anhänger:innen zu bilden.

Brasilianische Linke

Die brasilianische Linke hat eine intensive Auseinandersetzung mit der Kandidatur Lulas hinter sich. Ausgehend von den Kampagnen zu seiner Befreiung haben sich nach seiner Entlassung bald Initiativen zu „Lula Presidente“ gebildet, die das mit Massenprotesten und einer reinen PT-Kandidatur verbinden wollten (z. B. so die PCO). Tatsächlich war dies auch geeignet, um dann gegen die sich abzeichnende Lula/Alckmin-Liste Widerstand in der PT und den anderen Parteien (insbesondere der PSOL) zu entfalten. Dieser fand tatsächlich breite Resonanz, wurde jedoch letztlich durch die undemokratischen Manöver von Parteiapparat und Lula selbst umgangen und kaltgestellt.

In der PSOL trat deren bekannteste Führungsfigur, Guilherme Boulos (ihr letzter Präsidentschaftskandidat und Kandidat als Gouverneur für Sao Paulo), sofort mit Begeisterung für die Unterstützung der Lula/Alckmin-Koalition ein. Doch in der Partei gab es beträchtlichen Widerstand, der auch in der Frage der Aufstellung einer eigenen Kandidatur kumulierte. So argumentierte eine der 25 Tendenzen innerhalb der PSOL, die „Esquerda Marxista“ (in der die Sektion der IMT aktiv ist), dass es gegen die Volksfront notwendig sei, im ersten Wahlgang eine/n eigene/n Kandidat:in aufzustellen – um dann im zweiten Wahlgang notwendigerweise gegen Bolsonaro für Lula/Alckmin, also auch für den offen bürgerlichen Kanidaten, zu stimmen. Die MAIS (aus der PSTU 2016 wegen deren Weigerung, gegen den Temer-Putsch zu mobilisieren, ausgeschlossen und heute eine PSOL-Tendenz) argumentierte dagegen, dass die Massenmobilisierungen zu schwach seien, und daher Lula/Alckmin zu wählen, zur Abwehr der faschistischen Gefahr nötig wäre. Letztlich wurde der Disput undemokratisch auf einer dazu eigentlich nicht legitimierten „Delegiertensitzung“ mit 35:25 Stimmen für die Lula-Unterstützung entschieden.

Als „linke Alternative“ zu Lula/Alckmin kandidiert jetzt vor allem (wie immer) die PSTU im Zusammenhang des „Revolutionär Sozialistischen Pols“. Die Kandidatinnen für die Liste (darunter mit Raquel Temembé die einzige indigene Vizepräsidentschaftskandidatin) haben im brasilianischen Wahlsystem keine Chance. Parteien, die nicht im Kongress vertreten sind, verfügen außerdem über keinen Zugang zu Medien und TV-Debatten. PCB und PU werden auch unter einem Prozent der Stimmen bleiben. Doch sind diese Parteien nicht nur ungenügend in der Klasse verankert (auch wenn die PSTU eine Rolle in den Gewerkschaften spielt), sie sind auch gegenüber den großen Illusionen der Massen in Lula und PT blind.

Dabei spielt die PT auch aufgrund ihrer Rolle in der CUT eine entscheidende Rolle in der Organisierung und Kanalisierung aller klassenbasierten Proteste in Brasilien. Damit werden bestimmte Teile der PT natürlich auch bei Protesten gegen eine Lula/Alckmin-Regierung dabei sein. Es kann daher nicht nur darum gehen, eine eigenständige, neue Partei aufzubauen (oder wie die PSTU sich als solche zu präsentieren), sondern man muss auch Taktiken entwickeln, die Massen von ihrer bisherigen Führung zu brechen. Daher ist es ein Fehler, solche schlecht verankerten Eigenkandidaturen (auf letztlich linksreformistischen Programmen) auch noch mit einer sektiererischen Position gegenüber der Wahl einzelner PT/TCdoB/PSOL-Kandidat:innen für die Kongresswahlen zu verbinden. Dies trifft auch auf die MRT (brasilianische Sektion der FT) zu, die zwar eine richtige Kritik an der Lula/Alckmin-Liste (und auch an der falschen „Faschismus“-Analyse eines großen Teils der linken Lula-Untersützer:innen) übt, aber als Wahlposition nur die Option der Unterstützung der PSTU sieht – und natürlich der Vorbereitung der Kämpfe nach der Wahl. Die MRT-Vision der Verbindung aller gegenüber Lula kritischen Kräfte von MRT, PSTU, PCB, PU ist in diesem Zusammenhang nicht nur unrealistisch, sondern verkennt auch, dass beträchtliche Teile der Aktivist:innen und Avantgardeelemente, die jetzt mit Bauchschmerzen Lula wählen, entscheidend sein werden für den Kampf um den Aufbau der Protestbewegung nach der Wahl.

Letzteres mussten wir auch in der Diskussion mit unserer eigenen Sektion erkennen. Auch wenn wir programmatisch bezüglich der zentralen Forderungen eines revolutionären Aktionsprogramms mit ihr vollkommen übereinstimmen, gibt es taktische Differenzen. Nachdem der Kampf gegen die Unterstützung der Lula/Alckmin-Liste in der PT und PSOL verloren war, stellte sie fest, dass ein überwältigender Teil der Arbeiter:innenavantgarde und der Vertreter:innen sozial Unterdrückter nunmehr trotz aller Bedenken zur Wahl von Lula/Alckmin entschlossen ist, um Bolsonaro zu verhindern. Hinzu kommt, dass in der polarisierten Situation die Gefahr eines „faschistischen Putsches“ in der Linken (vor allem durch die PT) so überzeichnet wird, dass alle, die nicht für Lula/Alckmin stimmen wollen, sofort als indirekte Unterstützer:innen von Bolsonaro gebrandmarkt werden.

So richtig die Erkenntnis ist, dass die aktuelle Polarisierung massenhafte Illusionen in die PT befördert hat und diese große Teile der Klasse wie der Avantgarde organisiert, so begingen unsere Genoss:innen den Fehler, für eine kritische Unterstützung von Lula-Alckmin einzutreten, auch wenn sie gleichzeitig vor dem sicheren Verrat einer solchen Regierung warnen und zum Kampf dagegen aufrufen. Aus den oben genannten Gründen halten wir eine kritische Wahlunterstützung für eine Volksfront für einen schweren taktischen Fehler. Nachdem sich diese Differenz nicht lösen ließ, legte die Liga Socialista ihre Mitgliedschaft in der Liga für die Fünfte Internationale als Sektion nieder. Wir hoffen allerdings, dass sich im Zuge der Auseinandersetzungen nach der Wahl diese Differenzen wieder lösen lassen, und wir unterhalten weiter geschwisterliche Beziehungen zu den Genoss:innen. Ungeachtet dieser Differenz unterstützen wir sie jedoch im Kampf gegen rechts und die schweren Auswirkungen der Krisen in Brasilien. Wir rufen dazu auf, den Kampf der brasilianischen Arbeiter:innen und Unterdrückten gegen Verelendung und faschistische Gewalt weltweit vor und nach der Wahl zu unterstützen.




Dänemark: Scheitern der „neuen“ Sozialdemokratie

Markus Lehner, Neue Internationale 267, September 2022

Seit einigen Jahren wurde die „Modernisierung“ der dänischen Socialdemokraterne unter ihrer Frontfrau Mette Frederiksen als so etwas wie das Modell für die europäische Sozialdemokratie gefeiert. Jetzt deutet vieles darauf hin, dass bei vorgezogenen Neuwahlen im Herbst der Mette-Stern wieder im Sinken begriffen ist.

Rechtsruck

Auch Dänemark war im letzten Jahrzehnt durch das Aufkommen des Rechtspopulismus rund um die Migrationsfragen nach rechts gerückt. Bei der Folketingwahl 2015 hatte die Antimigrationspartei Dansk Folkeparti (Dänische Volkspartei), vergleichbar der AfD zu jener Zeit, um die 20 % der Stimmen bekommen und war so im bürgerlichen Lager zur stärksten Partei geworden. Die wichtigste offen bürgerliche Partei, mit dem irreführenden Namen Venstre (übersetzt eigentlich Die Linke, die wohl im 19. Jahrhundert als linksliberale galt) bildete unter Duldung auch der Rechtspopulist:innen eine Minderheitsregierung unter Løkke Rasmussen. Die in Opposition geschickte Sozialdemokratie „erneuerte“ sich daraufhin unter ihrer neuen Vorsitzenden Mette Frederiksen, indem sie weitgehend die rassistische Einwanderungspolitik der Rechtspopulist:innen übernahm, diese aber mit einem sozialen Programm nur für „einheimische“ Dän:innen koppelte. Tatsächlich konnte dann bei der Wahl 2019 die Sozialdemokratie wieder mit über 25 % zur stärksten Partei werden – gleichzeitig halbierten sich die Rechtspopulist:innen der Dänischen Volkspartei auf unter 10 %. Dies ging jedoch nicht nur zu Gunsten der Sozialdemokrat:innen – auch die anderen bürgerlichen Parteien, insbesondere Venstre und die Konservative Volkspartei waren nach rechts gerückt und gewannen Anteile von den Rechten. Insgesamt reichte es aber für eine Minderheitsregierung der Sozialdemokrat:innen.

In Dänemark sind Minderheitsregierungen der Normalfall. Es wird von einem roten Block um die Sozialdemokrat:innen, einem blauen Block um Venstre und die Konservativen ausgegangen, die abwechselnd Minderheitsregierungen bilden. Nach dänischem Recht bleiben diese im Amt, solange aus dem jeweiligen Block keine explizite Ansage getroffen wird, dass die Regierung nicht mehr unterstützt wird. Im roten Block befinden sich traditionell die Sozialistische Volkspartei (SF, die zwar aus einer eurokommunistischen Abspaltung der Kommunistischen Partei hervorgegangen ist, aber nicht zufällig im Europaparlament in der grünen Fraktion sitzt; sie bildet eine etwas linkere Version der deutschen Grünen) und die Rot-Grüne Einheitsliste (die Schwesterorganisation der deutschen LINKEN). Wesentlicher Bestandteil des Blocks ist aber immer auch eine offen bürgerliche Partei, die Radikale Venstre (vor Jahrzehnten als linksliberale Abspaltung aus Venstre hervorgegangen). Diese Radikalen sorgen jeweils dafür, dass die sozialdemokratischen Regierungen „maßvolle“ Sozial- und Steuerpolitik betreiben. Bei der Wahl 2019 ging es 52 % zu 48 % für den „roten Block“ aus. Somit war auch die Einheitsliste (mit ihrem 7 %-Anteil) durch ihre Tolerierung mitbeteiligt an solchen rassistischen Gesetzen wie der Unterbindung von „Ghettobildung“ durch Quoten für den Zuzug von MigrantInnen in bestimmte Gemeinden.

EU-Imperialismus

Die Regierung Frederiksen stand auch sonst während der Coronakrise und im Gefolge dem Ukrainekrieg ganz auf Linie der europäischen Bourgeoisie. Dänemark ist vorne dran bei Waffenlieferungen, Aufrüstung (insbesondere der Marine). Außerdem setzte Frederiksen per Volksabstimmung durch, dass Dänemark nun auch der europäischen Verteidigungsgemeinschaft beitritt, wogegen früher vehement opponiert wurde. Dänemark erreichte hierzu bei den europäischen Verträgen eine Ausnahme, die nun aufgehoben wird. Nur die Einheitsliste opponierte, hielt aber an der Tolerierung fest. Außerdem ist Frederiksen eine radikale Unterstützerin aller Aspekte der israelischen Politik und benützt dies regelmäßig zur Begründung rassistischer Politik gegen Migrant:inen aus arabischen Ländern und deren linke Unterstützer:innen mithilfe von Vorwürfen des auf Israel bezogenen Antisemitismus‘. Kurz gesagt war Frederiksen in fast allen Aspekten für die rechte Sozialdemokratie in Europa so etwas wie die Anti-Corbyn.

Dass sie jetzt gerade trotzdem von der dänischen Bourgeoisie in Gestalt der Radikalen gestürzt wird, ist bemerkenswert. Vordergründig geht es um eine Untersuchungskommission zur Schlachtung der Nerzbestände während der Coronakrise. Dabei kam wohl heraus, dass die Regierung (wie viele andere in der Coronakrise) im rechtlichen Graubereich agierte, als sie auf Studien der Übertragung von Coronaviren durch Nerze die Massenkeulungen anordnete. Offensichtlich ist dies ein Vorwand. Umfragewerte hatten seit einiger Zeit einen Umschwung zugunsten des blauen Blocks gezeigt. Die dänische Bourgeoisie sieht wohl die Notwendigkeit, in einer wirtschaftlichen Krisensituation möglichst nicht über eine Regierung zu verfügen, die Rücksichten auf Gewerkschaften und Linke nehmen muss. Sowohl Gewerkschaften wie Einheitsliste drängen auf Preiskontrollen, Mietpreisbremsen und in bestimmten Bereichen auch auf Verstaatlichungen – und finden dafür auch in Teilen der Sozialdemokratie breite Unterstützung. Die rechten Parteien setzen dagegen auf Steuererleichterungen, was auch die Radikalen für den besseren Weg sehen. Dafür haben sie jetzt die „Nerzaffäre“ genutzt, um zu erklären, dass sie die Regierung Frederiksen nicht mehr unterstützen werden. Da Steuerpolitik zugunsten der Reichen und Nerze allein sicher keine Wahlen gewinnen lässt, spielt zufällig auch der Rechtspopulismus wieder seine Rolle.

Neuwahlen

Auch wenn der Niedergang der Dänischen Volkspartei weitergeht, so ist doch eine neue rechtspopulistische Alternative aufgetaucht: Ein Mitglied der ehemaligen Venstre-Regierung, Inger Støjberg, hatte als Integrationsministerin gesetzeswidrig migrantische Eheleute getrennt und war dafür sogar zu 60 Tagen Gefängnis verurteilt worden. Nunmehr aus Venstre ausgetreten, gründete sie eine neue Partei, nach schwedischem Vorbild Dänemarkdemokraten genannt. Als „Heldin“ des Antimigrationskampfes und stramme EU-Establishmentkritikerin sammelte sie sofort eine große Anhängerschaft und katapultierte ihre Partei auf Anhieb auf 11 % in den Umfragen. Wiederum ist sich der blaue Block nicht zu schade, diese noch übleren Rechten in ihre Reihen aufzunehmen. Konservative und Venstre schachern gar schon darum, wer von beiden künftig den Ministerpräsidenten stellt (es gibt dafür nur zwei männliche Kandidaten). Entsprechend sind die Sozialdemokrat:innen auf 21 % abgesackt so wie der rote Block insgesamt auf 48 %. Allerdings durchkreuzt der ehemalige Ministerpräsident Løkke Rasmussen die Rechnung, da er mit seiner Abspaltung von Venstre, den Moderaten, aus beiden Blöcken ausscheiden und eine „große Koalition“ (wohl unter seiner Führung) erzwingen will.

Es sieht also nach „Zeitenwende“ in Dänemark aus, allerdings in jedem Fall nicht im Sinne der Arbeiter:innen und migrantischen Menschen. Die Sozialdemokrat:innen, statt aus dem Debakel ihrer Rechtswende zu lernen, werden weiterhin versuchen, sich als die Rassist:innen mit sozialem Antlitz und als getreue NATO-Kriegstreiber:innen zu präsentieren mit linker Flankendeckung durch die SF. Allerdings hat die Rechtswende ihnen gerade in den Großstädten wie Kopenhagen oder Odense starke Verlust nach links, insbesondere in Richtung Einheitsliste gebracht (in Kopenhagen wurden letztere zur stärksten Kommunalpartei). Auch in den Umfragen legen SF und Einheitsliste auf jeweils 9 % zu. Auch wenn die Einheitsliste sich in den letzten Jahren als Steigbügelhalterin der Rechtswende der Sozialdemokratie betätigt hat, vereinigt sie jetzt schon im Vorwahlkampf all diejenigen hinter sich, die für Antirassismus, Antimilitarismus und Forderungen nach Umverteilung von oben nach unten in Zeiten der Inflation kämpfen wollen. Es mag sein, dass ein größerer Teil der organisierten Arbeiter:innenklasse weiterhin Sozialdemokratie wählen will, aber mit Inkaufnahme oder gar Unterstützung des rassistischen Kurses der Partei. Die Einheitsliste vereinigt daher die fortschrittlichen Teile der Arbeiter:innenklasse hinter sich, und sollte daher im Wahlkampf auch kritisch unterstützt werden. Eine Antikrisenbewegung in Dänemark, die sich gerade gegen die rechte Frederiksen-Sozialdemokratie herausbildet, kann tatsächlich ein Zeichen für die ganze EU setzen. Dies erfordert aber auch letztlich, dass sich jenseits der Einheitsliste und der in ihr vertretenen zentristischen Organisationen in diesen Kämpfen wieder eine neue revolutionäre dänische Arbeiter:innenpartei herausbildet.




Proteste gegen Abtreibungsverbote in den USA

Interview mit einer Aktivistin, REVOLUTION (Zuerst veröffentlicht auf www.onesolutionrevolution.de), Infomail 1194, 28. Juli 2022

In den USA hat der Oberste Gerichtshof im Juni dieses Jahres ein Urteil erlassen, welches den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen einschränken und sogar verbieten kann. Mehrere Bundesstaaten haben bereits angekündigt, die Rechte auf Abtreibungen massiv anzugreifen. Als Reaktion kam es in vielen US-amerikanischen Städten zu Massenprotesten. Wir haben in diesem Interview mit der Aktivistin Lara (Instagram @Lara.islinger) vor Ort gesprochen.

Wer bist du? Wo bist du organisiert?

Ich bin Lara (sie/ihr) und wohne eigentlich in Hamburg. Ich verbringe den Sommer damit, in New York für Shout Your Abortion (SYA) zu arbeiten. SYA ist eine Organisation, die sich für die Entstigmatisierung des Schwangerschaftsabbruchs einsetzt – mit kreativen Aktionen und dadurch, dass wir Menschen eine Plattform geben, um ihre Erfahrungen zu teilen. Aufgrund der aktuellen Situation, also des Urteils des Supreme Court und der Abtreibungsverbote in vielen Staaten, fokussieren wir uns aktuell auf den Zugang zu sicheren Abtreibungen insbesondere durch Abtreibungspillen – egal ob legal oder nicht.

Seit einigen Wochen, bin ich bei New York City For Abortion Rights aktiv, ein sozialistisch-feministisches Kollektiv, das Demos und sogenannte Clinic Defenses organisiert.

Inwiefern bist/warst du Teil der Proteste gegen die neuen Abtreibungsverbote? Was ist dein Ziel?

Gemeinsam mit New York City For Abortion Rights und anderen linksfeministischen Gruppen habe ich einen Protest am Tag der Supreme-Court-Entscheidung organisiert, zu dem 20.000 Leute gekommen sind. Mir ging es bei der Demo vor allem darum, Solidarität auszudrücken mit Menschen in republikanischen Bundesstaaten, in denen nun Abtreibungsverbote und Einschränkungen gelten. Abgesehen von einem erhöhten Andrang in den Abtreibungskliniken wird sich in New York durch das Urteil wenig ändern. Trotzdem spüren wir auch hier den Einfluss von Abtreibungsgegner:innen, da wir sogenannte Clinic Defenses organisieren. Das sind Proteste und Blockaden gegen Abtreibungsgegner:innen, die zu Kliniken prozessieren, eskortiert vom NYPD, und dort Patient:innen belästigen – mitten in New York City.

Am Montag, dem 4. Juli, war ich mit Shout Your Abortion in Washington DC. Wir haben vor dem Supreme Court einen Stand aufgebaut, an dem wir Limonade verschenkt und Informationen zu Abtreibungspillen verbreitet haben, die man in allen 50 Staaten über die Organisation Aid Access bestellen kann – auch ohne schwanger zu sein (sog. advanced provision). Unser Motto lautet ,Fuck SCOTUS. We’re doing it anyway’. Dieses illegitime, undemokratische Gericht kann uns nicht aufhalten.

Dazu will ich unbedingt betonen, dass das Urteil natürlich Konsequenzen hat, die grausam und ungerecht sind. Unter der Kriminalisierung von Abtreibung (und Fehlgeburten) leiden am meisten Menschen, die marginalisierten Gruppen angehören – insbesondere Schwarze; Indigene und weitere People of Color; die LGBTQ+-Community; Menschen mit Behinderung; Menschen, die im ländlichen Raum leben; junge Menschen und arme Menschen.

Wie nimmst du die Proteste wahr? Welche Gruppen sind am Start?

Mir geben die Proteste Kraft. Ich finde es gut, dass wir uns den öffentlichen Raum nehmen, um unserer Wut Ausdruck zu verleihen, und als Zeichen der Solidarität mit allen Menschen, die von den Abtreibungsverboten betroffen sind. Die feministische Bewegung nehme ich als zersplittert wahr. Viele linke Aktivist:innen wenden sich vom liberalen, weißenMainstreamfeminismus ab. Andererseits spüren wir in New York eine starke Solidarität von anderen linken Gruppen sowie von den neu gegründeten Gewerkschaften (z. B. der Starbucks-Gewerkschaft), die sich unseren Protesten anschließen.

Wir distanzieren uns von Gruppen, die sogenannte die-ins organisieren, sich mit Blut beschmieren oder Kleiderbügel zu Protesten mitbringen. Unser Punkt ist ja: Wir gehen nicht zurück in die 1960er und frühen 1970er Jahre, bevor Roe entschieden wurde, und als viele Menschen aufgrund unsicherer, illegaler Abtreibungen gestorben sind. Wir wollen keine Angst schüren, sondern Hoffnung machen. Der große Unterschied ist, wir haben heute Zugang zu Abtreibungspillen und wir haben ein Netzwerk von Abortion Funds, das finanzielle Unterstützung leistet. Wir werden dieses Urteil nicht befolgen. Wir werden nicht aufhören abzutreiben. Wir werden nicht aufhören, uns gegenseitig zu helfen, und wir werden nicht aufhören, für reproduktive Gerechtigkeit zu kämpfen.

Kamala Harris hat als Antwort der Demokraten dazu aufgerufen, diese Entscheidung mit der Stimmabgabe bei den Zwischenwahlen doch noch zu kippen – hältst du das für realistisch?

Die Biden-Regierung und die Demokrat:innen betonen, dass sie Abtreibungsrechte verteidigen wollen, aber ihre Bemühungen auf Bundesebene halten nicht Schritt mit dieser Rhetorik. Die Tatsache, dass die Demokrat:innen in Washington nicht in der Lage sind, Abtreibungsrechte zu stärken, obwohl sie das Weiße Haus und beide Kammern des Kongresses kontrollieren, hat viele Wähler:innen enttäuscht. Ich spüre deutlich die Frustration über die Untätigkeit der Demokrat:innen auf Bundesebene und höre in linken, feministischen Kreisen immer wieder das Wort ‚desillusioniert‘.

Es stimmt: Das Supreme-Court-Urteil hat das Thema Abtreibung in den Mittelpunkt mehrerer wichtiger Zwischenwahlen katapultiert. Die Wahlen in den Bundesstaaten (etwa von Gouverneur:innen, Generalstaatsanwält:innen, Richter:innen und der Legislative) könnten nun darüber entscheiden, ob Millionen von Amerikaner:innen Zugang zu legalen Abtreibungen haben oder nicht. Viele haben aber das Gefühl, dass die Demokrat:innen – angesichts der hohen Inflation und der niedrigen Zustimmungsraten für Präsident Biden – den Unmut über das Urteil ausnutzen, um Wähler:innenstimmen zu erhaschen, ohne einen konkreten Plan zu haben, wie sie den Zugang zu Abtreibung in den USA gewährleisten und FLINTAs unterstützen werden.

Wenn aber doch noch nicht alles verloren ist: Welche Perspektive siehst du dann noch für FLINTAs in den USA?

Ich lege große Hoffnung in feministische Solidarität und Netzwerke – national und international. Anders als die Demokrat:innen haben wir uns spätestens seit dem Leak des Entwurfs im Mai darauf vorbereitet, dass Roe fallen wird. Wir verbreiten Informationen zu Abtreibungspillen, die per Post in alle 50 Staaten verschickt werden können und sehr sicher sind. Dabei hilft uns Plan C und die europäische Organisation Aid Access. Außerdem gibt es ein solides Netzwerk von regionalen Abortion Funds, das finanzielle Unterstützung für Abtreibungen leistet. Ich habe auch mitbekommen, dass als letzter Ausweg Abtreibungspillen aus Mexiko geschickt werden – kostenlos von dortigen feministischen Kollektiven als Akt der Solidarität mit FLINTAs in den USA. Unser Motto lautet: ‚We will save us.‘ Wir retten uns selber.

Was wünschst du dir von der Bewegung? Und wie können wir hier in Deutschland/der EU sie unterstützen?

Ich wünsche mir von der Bewegung, dass wir uns mehr auf praktische Fragen konzentrieren. Unser Fokus sollte sein: Wie können wir Menschen dabei helfen abzutreiben? Die vollständige Legalisierung von Abtreibung ist dabei natürlich ein wichtiger Faktor – aber nicht der einzige.

Wenn ihr wen aus den USA kennt, könnt ihr Ressourcen zu Abtreibungspillen und Advanced Provision teilen, zum Beispiel Plan C oder Aid Access. Ein großes Problem ist, dass nur 1 von 5 Amerikaner:innen darüber Bescheid weiß. Wenn ihr Geld übrig habt, könnt ihr spenden. Dafür empfehle ich das National Network of Abortion Funds, das Spenden auf regionale Abortion Funds aufteilt und Aid Access bzw. die europäische Mutterorganisation Women on Web. Meine DMs sind immer offen für Fragen. Bitte nicht vergessen: Wir kämpfen in Deutschland den gleichen Kampf: Der §218 muss weg, genau wie weitere Schikanen für ungewollt Schwangere wie Pflichtberatung, Wartezeit und die Gehsteigbelästigung durch Abtreibungsgegner:innen vor Praxen. Der Zugang muss verbessert werden, insbesondere durch die Schließung von Versorgungslücken. Wir sind nicht frei und gleichberechtigt ohne den bedingungslosen und legalen Zugang zu Abtreibung.

Für eine ausführlichere Analyse des Gerichtsurteils und dessen Folgen, aber auch der Frage, warum Abtreibungsrechte eigentlich so stark umkämpft sind und wie wir sie verteidigen können, schaut gerne in unseren Artikel dazu:http://onesolutionrevolution.de/usa-wie-wir-abtreibungsrechte-wieder-zurueck-erkaempfen-koennen/ .




USA: Oberster Gerichtshof versetzt Frauenrechten härtesten Schlag seit Generationen

Internationales Sekretariat, Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1191, 28. Juni 2022

Nun haben die reaktionären Kräfte es geschafft. Am 24. Juni wurden die amerikanischen Frauen nach fünfzig Jahren eines begrenzten verfassungsmäßigen Rechts auf Abtreibung dieses Rechts beraubt. Unter dem obszönen Slogan „Recht auf Leben“ und der wissenschaftsfeindlichen Behauptung, Abtreibung bedeute die Tötung von Babys, wurde den Frauen die Souveränität über ihren eigenen Körper entzogen. Kein Wunder, dass Frauen in dem Land, das fast einen halben Kontinent umfasst, auf die Straße gingen, um ihrer Wut und Ablehnung Ausdruck zu verleihen.

Mit einer 5:4-Mehrheit hat der Oberste Gerichtshof das von seinen Vorgänger:innen gefällte Urteil Roe versus Wade aus dem Jahr 1973 aufgehoben, das allen Frauen in den USA das Recht einräumte, eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden. Dieses war bereits durch andere Entscheidungen und durch Bundesstaaten mit reaktionären Mehrheiten in ihren Gesetzgebungen und Gerichten eingeschränkt worden, doch nun haben dieselben Kräfte freie Hand.

Sie werden zweifelsohne dazu übergehen, die schwächeren und partiellen Errungenschaften der LGBTIAQ-Menschen und der People of Color in Bezug auf den Grundsatz der persönlichen Autonomie zu beschädigen. Dies ist ein großer Triumph für die religiösen Fanatiker:innen aller Glaubensrichtungen, die die amerikanische Politik bevölkern, trotz einer der ältesten und fortschrittlichsten Errungenschaften der Verfassung, der Trennung von Kirche und Staat.

Die knappe Mehrheit der Fanatiker:innen in dem nicht gewählten Gericht wurde von Donald Trump geschaffen, dem dreistesten sexistischen Präsidenten seit vielen Jahrzehnten, einem Mann, der stolz zugab, dass er Frauen mehrmals sexuell belästigt hatte. Er besaß die Unverfrorenheit zu behaupten, dass „Gott die Entscheidung getroffen hat“ und dafür verantwortlich sei. Dass dieser obszöne Clown nicht wegen offener Aufwiegelung zum Umsturz der Anerkennung seines ordnungsgemäß gewählten Nachfolgers durch den Kongress im Gefängnis sitzt, sagt viel über den Anspruch der USA aus, das weltweite Vorbild für Demokratie darzustellen.

Wenn die fast zwei Drittel der Amerikaner:innen, die sich gegen die Aufhebung des Urteils Roe vs. Wade ausgesprochen haben, es durchgehen lassen, wird das Leben realer, lebender US-Bürgerinnen gefährdet sein. Das Urteil wird nicht das Ende von Abtreibungen bedeuten, sondern nur das Ende legaler und sicherer. Frauen werden in dem Moment sterben, in dem jeder Staat diese ekelhaft falsch benannten „Pro-Leben-Gesetze“ einführt.

Staaten mit republikanischer Mehrheit können nun Gesetze erlassen, die den Schwangerschaftsabbruch weiter einschränken oder ganz verbieten. 13 haben bereits Gesetze im voraus verabschiedet, die ihnen dies praktisch sofort ermöglichen. Einige, darunter Arkansas, Kentucky, Louisiana, Missouri, Oklahoma und South Dakota, haben dies bereits in Kraft gesetzt, und weitere 22 werden ihnen in Kürze folgen. Frauen in diesen Staaten werden versuchen müssen, in Staaten mit liberaleren Regelungen zu gehen, obwohl die reaktionären Staaten Gesetze vorbereiten, die selbst dies schwer bestrafen.

Abtreibungen werden in den meisten Teilen des Südens und des Mittleren Westens illegal sein, wo es für die Ärmsten, oft Women of Color, schwierig sein wird, in einen Staat zu reisen, in dem sie weiterhin legal bleiben. In vielen Staaten werden Gesetze erlassen, die die Frauen selbst kriminalisieren. Mehr als die Hälfte, 58 Prozent, aller US-Frauen im gebärfähigen Alter, etwa 40 Millionen Menschen, leben in diesen Staaten, und ihre Partner:innen und sogar Taxifahrer:innen die ihnen helfen, werden ebenfalls mit hohen Geldstrafen belegt. Der so genannten „Pille danach“ wird die Illegalisierung angekündigt, und sogar die Empfängnisverhütung wird von den Abtreibungsgegner:innen bedroht.

Es liegt auf der Hand, dass diese rechten Kräfte die Frauen in ihren reproduktiven Fähigkeiten einschränken wollen. Sie sind sich bewusst, dass die fehlende Kontrolle darüber durch die Frauen selbst die Grundlage für die Aufrechterhaltung einer patriarchalischen Gesellschaft ist, und dass sie die Uhr auf ihre archaischsten Versionen zurückdrehen. Die Religionen spüren instinktiv, dass das Leiden der Frauen unter diesem System die Zuflucht zu ihrem spirituellen Opium fördert und die Stimmen für die Rechten erhöht.

Aus all diesen Gründen ist das Recht der Frau auf körperliche Autonomie ein Menschenrecht, das historisch mit demselben Prinzip verbunden ist, das auch der Abschaffung der Sklaverei zugrunde lag: der persönlichen Freiheit. Kein Wunder also, dass die Staaten, die sich darauf vorbereiten, Frauen auf diese Weise erneut zu versklaven, oft diejenigen sind, in denen weiße Vorherrschaft und Polizeimorde an Schwarzen immer noch extrem stark ausgeprägt sind.

Aus demselben Grund sollte der Kampf um die Aufhebung dieses Urteils die Unterstützung aller Unterdrückten und Ausgebeuteten in den USA finden, einer Mehrheit, die sich im Obersten Gerichtshof überhaupt nicht widerspiegelt und im Senat, im Repräsentantenhaus und in den Verfassungen der Bundesstaaten, in denen die Unterdrückung der Wähler:innenschaft grassiert, in keiner Weise anerkannt wird.

Auf internationaler Ebene müssen die Frauen- und Arbeiter:innenbewegung und alle fortschrittlichen Kräfte zur Unterstützung unserer Schwestern in den USA mobilisieren. Die jüngsten Bewegungen in Spanien, Polen, Irland und Argentinien zeigen, was getan werden kann. Überall auf der Welt gibt es die gleichen reaktionären Mächte, die durch die Siege ihrer Gesinnungsfreund:innen in den USA ermutigt werden.

Die Botschaft von Vizepräsidentin Kamala Harris bringt die Antwort der Demokratischen Partei auf den Punkt: „Es ist noch nicht vorbei; die Wähler:innen werden das letzte Wort haben“. Mit Blick auf die Zwischenwahlen, die voraussichtlich die Kontrolle der Republikanischen Partei über den Senat stärken und ihr sogar das Übergewicht im Repräsentantenhaus verleihen werden, lautete ihre Botschaft: „Sie haben die Macht, Führer:innen zu wählen, die Ihre Rechte verteidigen und schützen werden.“

Nein! Die US-Frauen müssen antworten: „Wir haben eine viel größere Macht als das. Wir können dieses erzreaktionäre Urteil kippen und unsere Rechte auf der Straße und am Arbeitsplatz wiederherstellen, indem wir Kliniken und ihre Patient:innen, Pflegepersonal und Ärzt:innen durch direkte Massenaktionen verteidigen.“

Eine Massenbewegung von Frauen und ihren männlichen und transsexuellen Unterstützer:innen gegen das Urteil des Obersten Gerichts vom 24. Juni muss in einem ähnlichen Ausmaß ausbrechen wie die Black Lives Matter-Bewegung im Jahr 2020. Sie sollte sich auf die Forderung nach einer Revolution erstrecken, die alle reaktionären Organe und Gesetze hinwegfegt, die sogar den Anspruch der USA, eine demokratische Republik zu sein, entstellen.

Es ist die amerikanische Arbeiter:innenklasse, die diesen Kampf anführen muss, indem sie Massendemonstrationen mit Massenstreiks unterstützt, insbesondere in den Bundesstaaten, die diese abscheuliche Entscheidung anwenden – Staaten, die oft auch über drakonische gewerkschaftsfeindliche Gesetze verfügen.

Es geht dabei um mehr als nur um „Sicherheit in Zahlen“. Es gibt die Kraft, alle Säulen des Hauses der Unfreiheit zu stürzen, das von Republikaner:innen und Demokrat:innen gleichermaßen errichtet wurde, als sie die wirklichen Errungenschaften der amerikanischen Geschichte einschränkten und rückgängig machten: die Abschaffung der Sklaverei, die große Gewerkschaftsbewegung der 1930er Jahre, die Errungenschaften der Bürgerrechte der 1960er Jahre und die Errungenschaften der Frauen und LGBTQI in den 1970er Jahren. Aber nichts wird von Dauer oder sicher sein, bis die Klasse und das System, das diese Monster hervorgebracht hat, der sexistische und rassistische Kapitalismus, endlich auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt werden.




Kapitalistische Krise in Pakistan und die Arbeiter:innenklasse

Shehzad Arshad, Infomail 1191, 13. Juni 2022

Seit Imran Khan eine Vertrauensabstimmung im Parlament verloren hat und Shehbaz Sharif von der Pakistanischen Muslimliga (N) ihn als Premierminister abgelöst hat, scheint die politische Krise, die das Land erschüttert, noch schärfere Formen anzunehmen. Als Reaktion auf seine Absetzung drohte Imran Khan mit einem langen Marsch seiner Anhänger:innen nach Islamabad, um den Rücktritt der Regierung zu erzwingen und Neuwahlen durchzusetzen. Obwohl er jahrelang eine pro-kapitalistische Politik verfolgte, hat er nun auf rechtspopulistische und soziale Demagogie in Verbindung mit Pseudoantiimperialismus zurückgegriffen.

Doch der „lange Marsch“ scheiterte aufgrund der polizeilichen Repression und der Tatsache, dass Khans Partei, die PTI (Pakistan Tehreek-e-Insaf; Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit), sich als unfähig erwies, die Mobilisierung aufrechtzuerhalten und neue Kräfte zu sammeln. Vorläufig scheint die neue Regierung den Kampf innerhalb der herrschenden Klasse gewonnen zu haben, und die Regierung von Shehbaz Sharif fühlt sich relativ stabil an.

Es überrascht nicht, dass der erste Angriff auf die Arbeiter:innen und die Armen in den Städten und auf dem Land erfolgt, indem der Benzinpreis erhöht wird. Außerdem hat die Regierung die Mittel für die Hochschulbildung um 50 % gekürzt.

Widersprüche innerhalb der herrschenden Klasse

Shehbaz Sharif ist seit 11. April als Premierminister im Amt, und obwohl das Kabinett gebildet wurde, hatte es Probleme zu funktionieren, und innerhalb der Regierungskoalition herrschte Verwirrung darüber, ob die Nationalversammlung aufgelöst werden sollte oder nicht.

Der Grund für die Absetzung von Imran Khan und der PTI und die Bildung einer neuen Koalitionsregierung war offensichtlich, das System am Laufen zu halten und die tiefe Spaltung der staatlichen Institutionen zu beenden, einschließlich der Armee, die, wenn auch hinter den Kulissen, die Macht im Lande behält. Dennoch hat sich ein Teil der Mittelschicht auf Khans Seite geschlagen und droht, diese Spaltungen und Widersprüche in einen offenen Krieg zu verwandeln.

Obwohl die verbündeten Parteien, einschließlich Shehbaz Sharif, die Regierung verlängern wollten, befand Letztere sich eindeutig in einem Dilemma, da sie offensichtlich nicht in der Lage war, das System im Interesse des Kapitals zu führen, und die Anti-Khan-Fraktion in der Armee erkannte allmählich, dass das System in eine Sackgasse geraten war und nur Neuwahlen das Vertrauen im Interesse des Kapitals wiederherstellen konnten.

Das Problem für Khan, die PTI und ihren langen Marsch bestand darin, dass sie auf keine Tradition des Massenprotests auf der Straße zurückblicken konnten. Er konnte nicht einmal die Mittelschicht mobilisieren. Ironischer Weise wird die Verhaftung von PTI-Mitgliedern und die Gewalt in mehreren Städten langfristig wahrscheinlich den Ruf der Partei als entschlossene Opposition retten. Kurzfristig hat sie aber auch ihre Grenzen aufgezeigt.

In diese Auseinandersetzung hat der Oberste Gerichtshof eingegriffen und versucht, den Konflikt zwischen den verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse auszugleichen, damit er nicht in einen offenen Kampf ausartet. Dies hat Shehbaz Sharif die Möglichkeit gegeben, gemeinsam mit dem Internationalen Währungsfonds eine Politik im Interesse des Kapitals zu formulieren. Die wirtschaftliche, politische und soziale Krise in Pakistan ist jedoch so schwerwiegend, dass es für eine einzelne Regierung sehr schwierig ist, die zerstörerische Politik des IWF durchzusetzen. Daher sind Neuwahlen wahrscheinlich, und zwar eher früher als später.

Doch zunächst müssen Regierung und staatliche Institutionen die unmittelbare wirtschaftliche und finanzielle Krise des Landes in Angriff nehmen.

Wirtschaftskrise

Das pakistanische Leistungsbilanzdefizit (CAD) hat sich seit Beginn des laufenden Haushaltsjahres (Juli 2021 – April 2022) auf insgesamt 13,8 Milliarden US-Dollar ausgeweitet, verglichen mit einem Defizit von 543 Millionen im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Das pakistanische Handelsdefizit hat sich im Jahresvergleich um alarmierende 57,85 Prozent ausgedehnt und erreichte in den ersten 11 Monaten des Jahres 2021/22 bis Mai ein Allzeithoch von 43,33 Mrd. US-Dollar, da die Importe höher ausfielen als erwartet, wie Daten des Pakistanischen Statistikamts zeigen. Das 11-monatige Defizit hat bereits das höchste Handelsdefizit des gesamten Jahres 2018 von 41 Mrd. US-Dollar übertroffen.

Die Finanzbewertungsagentur Moody’s Investor Service stufte die Perspektive Pakistans von stabil auf negativ herab und begründete dies mit der „erhöhten externen Anfälligkeit“ und der „Ungewissheit, ob das Land in der Lage ist, den Bedarf an externer Finanzierung zu decken“. Die Entscheidung, den Ausblick auf negativ zu ändern, wird mit der erhöhten externen Anfälligkeit Pakistans und der Unsicherheit über die Fähigkeit des Landes begründet, zusätzliche externe Finanzmittel zur Deckung seines Bedarfs zu sichern. Nach Einschätzung von Moody’s hat sich die externe Anfälligkeit Pakistans durch die steigende Inflation verstärkt, die Druck auf die Leistungsbilanz, die Währung und die bereits stark dezimierten Devisenreserven ausübt, insbesondere vor dem Hintergrund erhöhter politischer und sozialer Risiken, heißt es in der Erklärung. Die Erklärung fügte hinzu, dass die Devisenreserven des Landes Ende April auf 9,7 Milliarden US-Dollar gesunken seien, was lediglich ausreiche, um „weniger als zwei Monate an Importen“ zu decken.

Die historische Erhöhung des Benzinpreises um 60 Rupien innerhalb einer Woche bedeutet, dass das IWF-Programm wiederbelebt wird und zusätzlich zum IWF Kredite von anderen Institutionen und Ländern aufgenommen werden müssen. Pakistan ist zwar dem Abgrund des Bankrotts entkommen, aber es ist sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich, für einen längeren Zeitraum den Weg der Erholung einzuschlagen.

Die Forderungen des IWF im Gegenzug für ein Rettungspaket in Höhe von rund 6 Milliarden Dollar, dessen genaue Bedingungen derzeit ausgehandelt werden, werden drastisch sein. Weitere Preiserhöhungen für Grundgüter, Kürzungen wie 50 % bei der Hochschulbildung sind wahrscheinlich. Eine massive Erhöhung des Grundtarifs für Strom – um bis zu 7 – 7,50 Rupien pro Verbrauchseinheit – ist in den nächsten 2 – 3 Wochen, zum 1. Juli, zu erwarten, was einen Anstieg um etwa 50 % gegenüber den derzeitigen Preisen bedeutet (von 16,64 auf 24,14 Rupien pro Einheit).

Darüber hinaus verspricht das Finanzministerium die Privatisierung von Energieversorgungsunternehmen und anderen Einrichtungen, was die inflationäre Bestrafung der arbeitenden Bevölkerung und der städtischen Armen noch verstärkt. Aber auch ihre Arbeitsplätze werden ihnen weggenommen, und es werden Programme ausgearbeitet, um Student:innen den Zugang zur Bildung zu verwehren.

Zum ersten Mal in seiner Geschichte ist der Wechselkurs für den US-Dollar in Pakistan auf dem Interbankenmarkt auf 202 Rupien gestiegen. Die Rupie hat in weniger als einem Monat 8 Prozent ihres Wertes gegenüber dem Dollar verloren. Pakistans Leistungsbilanz- und Handelsbilanzdefizit sind aufgrund der hohen Zahlungen gefährdet.

Die Inflation lag bereits im April bei 13,4 % und im Mai bei 14,5 %, und das bei den derzeitigen Benzinpreisen. Die Weizenimporte werden sie im Juni auf 16 % ansteigen lassen, und manche Schätzungen gehen davon aus, dass sie im Sommer weiter auf 23 % zunehmen wird. Innerhalb von anderthalb Monaten hat die pakistanische Zentralbank (State Bank of Pakistan, SBP) ihren Leitzins um 400 Basispunkte angehoben – zunächst um 250 auf 12,25 % am 7. April im Vorfeld der für den 23. Mai geplanten Überprüfung der Geldpolitik und dann noch einmal um 150 Basispunkte auf 13,75 % am Tag ihrer Überprüfung. Pakistan benötigt im nächsten Jahr 37 Milliarden US-Dollar, und das ist selbst mit dem IWF-Programm eine große Belastung. Der pakistanische Staat und die herrschende Klasse sind daher dringend auf IWF-Kredite angewiesen, um einen finanziellen Zusammenbruch wie in Sri Lanka zu vermeiden und zusätzliche Unterstützung von Ländern wie Saudi-Arabien oder China zu erhalten.

Auf der anderen Seite wird das IWF-Programm Sparmaßnahmen und so genannte Anpassungsmaßnahmen auferlegen, die Millionen von Menschen Kürzungen, Verluste und regelrechtes Elend bescheren werden. Diese Situation treibt bereits jetzt Millionen in die Armut und es wird in den nächsten Jahren unter der Herrschaft der Bourgeoisie und dem Diktat des IWF keinen Ausweg aus dieser Situation geben.

Für die Arbeiter:innenklasse und die Armen in den Städten wird es schwierig sein, zweimal am Tag zu essen. Die Menschen erhalten schon jetzt keine medizinische Behandlung und sind gezwungen, ihre Kinder aus den Bildungseinrichtungen zu nehmen. Die Befolgung der IWF-Politik bedeutet, dass die pakistanische Wirtschaft schrumpfen wird und noch mehr Lohnabhängige arbeitslos werden. Diese Regierung hat eindeutig beschlossen, die Arbeiter:innen und Armen im Namen der wirtschaftlichen Erholung lebendig zu begraben.

Die Lösung der herrschenden Klasse

Trotz der Machtkämpfe der herrschenden Klasse sind sich alle Fraktionen einig, dass der einzige Weg zur Rettung der Wirtschaft darin besteht, sich an das IWF-Programm zu halten. Einem aktuellen UNDP (Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen)-Bericht zufolge werden die Vorteile und Subventionen für die pakistanische Elite auf 17,4 Milliarden geschätzt, einschließlich des Unternehmenssektors, der Großgrundbesitzer:innen, der mächtigen Politiker:innen und des Militärs, was etwa 6 % der Wirtschaft entspricht. Während die Arbeiter:innenklasse Schwierigkeiten hat zu überleben, steigen die Gewinne der Unternehmen um 50 %.

Der IWF als Hüter des globalen Kapitalismus äußert sich dazu nicht, weil er das gleiche Interesse an der Aufrechterhaltung dieses Systems hegt wie die Regierung und die Medien.

Die Bourgeoisie schiebt die Last der gegenwärtigen Wirtschaftskrise und der harten Entscheidungen den arbeitenden Menschen und den städtischen Armen zu, weil die Regierung die Klasseninteressen der Kapitalist:innenklasse vertritt und eine Politik verfolgt, die die Profite der Kapitalist:innen aufrechterhält und in deren Interesse formuliert wird.

In dieser Situation hat die Regierung von Shehbaz Sharif ein Hilfspaket von 28 Mrd. Rupien angekündigt, was gerade einmal 2.000 Rupien pro Familie ausmachen würde. Da diese Mittel jedoch nach dem Klientelprinzip verteilt werden, wird dies hauptsächlich, wenn nicht sogar ausschließlich, seinen politischen Anhänger:innen zugutekommen.

Was ist zu tun?

Jetzt müssen sich die Organisationen der Arbeiter:innenklasse, der Bauern- und Bäuerinnenschaft, der Armen und aller Unterdrückten – Opfer des IWF und der Regierung – auf ein Aktionsprogramm einigen. Die Gewerkschaften, linken Parteien und Organisationen müssen einen gemeinsamen Kampf gegen die Angriffe und für eine alternative Lösung der derzeitigen Krise führen. Dazu schlagen wir eine Reihe von Kernforderungen vor, um die Krise im Interesse der Arbeiter:innenklasse zu lösen.

Zum Beispiel sollte der Mindestlohn so hoch sein, dass er den Arbeiter:innen eine angemessene Lebensqualität ermöglicht. Ihre Löhne sollten an die Inflation gekoppelt werden. Für jede einprozentige Erhöhung der Inflation sollte es eine gleiche der Löhne geben.

Um eine solche Forderung durchzusetzen und zu kämpfen, werden die gegenwärtig zersplitterten Gewerkschaften, die nur einen kleinen Teil der 60 Millionen starken Arbeiter:innenklasse organisieren, und die sehr schwachen linken Organisationen nicht ausreichen. Sie müssen für Massenversammlungen und die Wahl von Aktionsräten an allen Arbeitsplätzen, ob privat oder öffentlich, in Arbeiter:innenwohnvierteln, in der Stadt und auf dem Land kämpfen.

Auf diese Weise können die derzeit Unorganisierten organisiert werden und gemeinsam mit den bestehenden Gewerkschaften und linken Parteien kämpfen – und die Arbeiter:innen und Armen zu Massendemonstrationen, Besetzungen und Massenstreiks mobilisieren, um das IWF-Programm aufzuheben und die Reichen für die Krise zahlen zu lassen. Solche Organe könnten auch die Körperschaften sein, die die Umsetzung von Forderungen wie einem Mindestlohn und der Indexierung von Löhnen und Sozialleistungen oder Renten kontrollieren.

Anstatt zu privatisieren, sollten die staatlichen Institutionen der demokratischen Kontrolle der Arbeiter:innenklasse übergeben werden. Alle Einrichtungen, die nach der Privatisierung geschlossen wurden, sollten unter Arbeiter:innenkontrolle wieder verstaatlicht werden. Diejenigen Einrichtungen, deren Verwaltung an den privaten Sektor übergeben wurde, sollten der demokratischen Kontrolle der Arbeiter:innenklasse unterstellt werden, wodurch alle Arten von Privatisierungen rückgängig gemacht werden.

Anstatt Arbeitsplätze abzubauen, sollte die Arbeitszeit verkürzt werden, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Die Bildungs- und Gesundheitsbudgets sollten aufgestockt werden, indem Kapitalist:innen, Großgrundbesitzer:innen, multinationale Unternehmen und andere reiche Teile der Gesellschaft mit einer Vermögenssteuer belegt werden. Auf dieser Grundlage könnten neue Gesundheitszentren und Bildungseinrichtungen eröffnet werden.

Es muss Schluss sein mit allen Steuerbefreiungen und Subventionen für die Kapitalist:innen- und Grundbesitzer:innenklasse. Massive Mittel sollten in die Steigerung der Produktivität der Landwirtschaft fließen, vor allem um den Konsum der Massen zu decken. Das Land der Großgrundbesitzer:innen sollte enteignet und an die Bauern- und Bäuerinnenschaft und die Landarbeiter:innen übergeben werden. Es sollten Preiskontrollkomitees eingerichtet werden, die die ländlichen Produzent:innen mit den Arbeiter:innen in den Städten verbinden.

Die Mittel für Entwicklungsprojekte müssen in großem Umfang aufgestockt werden, damit soziale Einrichtungen und kostenlose Wohnungen für die Arbeiter:innenklasse sowie für die Armen auf dem Land und in der Stadt gebaut werden können.

Unternehmen, die Strom produzieren, müssen vom Staat übernommen und unter die demokratische Kontrolle der Arbeiter:innenklasse gestellt werden.

Die Ablehnung des IWF-Programms, einschließlich der Weigerung, die Schulden der globalen Wirtschaftsinstitutionen zurückzuzahlen, ist eine Vorbedingung für die geplante und ausgewogene Entwicklung der Wirtschaft, aber all dies kann niemals von einer Regierung durchgeführt werden, die dem Kapitalismus verpflichtet ist. Wir brauchen eine Regierung, die sich auf die Arbeiter:innenorganisationen stützt, die im aktuellen Kampf geschaffen werden müssen, um die bestehende katastrophale Situation zu bewältigen und die Interessen der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung zu schützen.

Die Unterstützung für eine solche Strategie wird nicht spontan kommen, sie muss durch eine entschlossene Kampagne für eine Alternative gewonnen werden. Diejenigen, die die Notwendigkeit einer revolutionären Strategie erkennen, ob in linken Parteien oder Gewerkschaften, müssen sich organisieren, um in allen Organisationen der Arbeiter:innenklasse dafür zu kämpfen, ebenso wie unter den unterdrückten Schichten der Gesellschaft, den Frauen, der Jugend, den unterdrückten Nationalitäten. Sie müssen sich zusammenschließen, um die politische Grundlage für eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei zu diskutieren und ein Aktionsprogramm auszuarbeiten, das den Kampf gegen den IWF mit dem für eine Revolution der Arbeiter:innenklasse in Pakistan und der gesamten Region verbindet. Auf diese Weise können wir uns gegen die Krise der herrschenden Klasse und ihre Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse und die Armen in Pakistan zur Wehr setzen.




Frankreich: Macron oder Le Pen – keine Wahl für die Arbeiter:innenklasse

Dave Stockton, Infomail 1185, 23. April 2022

In der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen am kommenden Sonntag tritt der autoritäre neoliberale Amtsinhaber Emmanuel Macron gegen die rechtsextreme Veteranin und Rassistin Marine Le Pen an. Unmittelbar nach der Bekanntgabe der Ergebnisse der ersten Runde kam es in ganz Frankreich zu einer Reihe von Demonstrationen mit Tausenden von Teilnehmer:innen, vor allem jungen Menschen, Student:innen an Universitäten und Oberschulen, die sich gegen das wehren, was sie als eine Wahl zwischen „Pest und Cholera“ in der zweiten Runde betrachten.

Viele der Student:innen, die die Universitäten, darunter die Sorbonne in Paris, besetzt und auf der Straße demonstriert haben, verkünden offen, dass das, was sie ironisch als „die wirkliche dritte Runde“ der Wahlen bezeichnen, auf der Straße und in den Betrieben ausgetragen werden wird, egal wer im Präsident:innenpalast Elysée sitzen wird.

Zur Überraschung vieler Kommentator:innen liefert sich Le Pen mit Macron ein enges Rennen. Ein Grund dafür ist Macrons arroganter, monarchischer Stil und die Tatsache, dass er eine Reihe bösartiger Angriffe auf die verbleibenden sozialen Errungenschaften der Arbeiter:innenklasse, der Armen und der Migrant:innen durchgeführt und repressive Polizeieinsätze gegen Demonstrant:innen entfesselt hat, insbesondere gegen die Bewegung der Gilets Jaunes (Gelbwesten) im Jahr 2018.

Zu seinen neoliberalen Reformen gehörten die des Arbeitsgesetzbuchs (Code du Travail), der Arbeitslosenversicherung, die Abschaffung der direkten Vermögenssteuer (ISF), die Kürzungen der individuellen Wohnbeihilfe (APL) und die (gescheiterten) Rentenreformen. Zu seinen antidemokratischen Angriffen zählten die dauerhafte Übernahme der Bestimmungen des Ausnahmezustands nach den Terroranschlägen ins Gesetz und seine islamfeindliche Kampagne gegen den „Separatismus“.

Le Pen hat die letzten Jahre damit verbracht, das Erbe ihres faschistischen Vaters Jean Marie abzustreifen. Dazu gehört auch die Umbenennung ihrer Partei, der ehemaligen Front National (FN; Nationale Front), in Rassemblement National (RN; Nationale Sammlungsbewegung). Und in der Tat hatte sie damit einen gewissen Erfolg. Sie weiß, dass allein ihre Vergangenheit und das Versprechen, das Tragen der Hidschab als Kopfbedeckung in der Öffentlichkeit zu verbieten, weiterhin antimuslimische Wähler:innen anziehen wird.

In der Zwischenzeit hat sie eifrig um diejenigen geworben, die in der Vergangenheit nie die NF gewählt hätten, indem sie die sinkende Kaufkraft der Arbeiter:innenklasse und der unteren Mittelschicht thematisiert und politische Maßnahmen wie den Austritt aus der Eurozone oder der EU selbst fallenlassen hat. Problematischer, insbesondere im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine, sind ihre Verbindungen zu Putin und die Finanzierung durch russische Banken.

Ein weiterer großer Schrecken für Macron ist, dass ein größerer Teil der Wähler:innenschaft als je zuvor sich wahrscheinlich der Stimme enthalten wird – sogar mehr als die über 25 Prozent, die dies 2017 taten. Es scheint, dass die „republikanische Disziplin“ , die früher dafür sorgte, dass die Wähler:innen der Linken gegen die NF als antirepublikanische Partei stimmten und sogar für die Kandidat:innen der rechten Gaullist:innen, unter Macron, der weithin als Paradebeispiel für die politische Elite Frankreichs verabscheut wird, ein verlorenes Gut ist.

Die französischen Linken, die früher für die Sozialistische Partei (PS) oder die Kommunistische Partei (PCF) gestimmt hatten, schlossen sich diesmal Jean-Luc Mélenchons linkspopulistischer Partei La France Insoumise (Das ungehorsame Frankreich) an, die für diese Wahl in Union Populaire (Volksunion) umbenannt wurde, und gaben ihm im ersten Wahlgang 22 Prozent und etwa 7,7 Millionen Stimmen.

Mélenchon hat seine Anhänger:innen aufgefordert, auf keinen Fall für Le Pen zu stimmen, hat sich aber geweigert, Macron zu unterstützen. Eine Meinungsumfrage zeigt, dass sich bis zu zwei Drittel seiner Wähler:innen der Stimme enthalten werden. Er hofft, auf seinem Erfolg in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen für die Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni aufbauen zu können, für die er die offen gesagt lächerliche Idee hegt, sich Macron als Premierminister „aufzudrängen“.

In der Tat wäre es ein fataler Fehler, auf Mélenchon zu warten und sich auf den Wahlkampf zu konzentrieren. Wie verschiedene Bewegungen in den letzten zwei Jahrzehnten gezeigt haben, sind Massenstreiks, Besetzungen von Arbeitsplätzen und Bildungsstätten der Weg, um neoliberale Reformen zu stoppen.

Heute haben diejenigen Recht, die für eine Blankowahl plädieren. Bei dieser Wahl gibt es keine/n Kandidat:in, nicht einmal eine/n von den traditionellen reformistischen Arbeiter:innenparteien, der/die die Stimmen der Arbeiter:innenklasse, der Jugendlichen an den Gymnasien und Universitäten und derjenigen, die in den sozial benachteiligten Vorstädten, den Banlieues, wählen dürfen, auf sich ziehen könnte.

Die Idee, dass Macron ein Hindernis für den Aufstieg des Faschismus bildet, ist ein Witz oder vielmehr ein zynischer Trick, um die Wähler:innenschaft in Panik zu versetzen, damit sie ihn als das vermeintlich kleinere Übel wählen. Das Problem bei diesem Argument ist, dass die Wirtschaftspolitik und die soziale Verwüstung, die der frühere Präsident Sarkozy und dann Macron angerichtet haben, den Aufstieg der rassistischen Rechten begünstigt haben und weiter begünstigen werden.

Die einzigen Kräfte, die es wirklich sowohl mit einer rassistischen bürgerlichen Republik als auch mit der extremen Rechten aufnehmen können, sind die Arbeiter:innenklasse und die Jugend der Unis, der weiterführenden Schulen und Banlieues, die schon immer den Großteil der antirassistischen Kämpfer:innen ausmachten, die die NF-Schläger:innen in der Vergangenheit aus dem Weg geräumt haben und sie wieder aus dem Weg räumen können. Gewerkschaften und extreme Linke müssen sich vom ersten Tag der neuen Präsidentschaft an an die Spitze dieser Kräfte stellen.




Pakistan: Premierminister Khan gestürzt – die politische Krise geht weiter

Umar Javlad, Infomail 1184, 13. April 2022

Nach wochenlanger politischer Krise und einem Machtkampf zwischen seiner PTI-geführten Regierung und der Opposition endete die Amtszeit von Imran Khan als Premierminister am Samstag, den 9. April. Ein Misstrauensvotum, das von einer parlamentarischen Mehrheit um die traditionellen bürgerlichen Parteien Pakistan Muslim League – Nawaz (PML-N) und Pakistan People’s Party (PPP) durchgesetzt wurde, beendete schließlich die Regierung. 174 Abgeordnete – nur zwei mehr als die erforderliche Mehrheit der 342 Abgeordneten – sorgten für das vorläufige Ende von Khans Regierung.

Am Montag, den 11. April, wurde der PML-N-Vorsitzende Shehbaz Sharif mit denselben 174 Stimmen zum neuen Premierminister gewählt. Die Abgeordneten der PTI boykottierten die Abstimmung und Imran Khan rief zu Mobilisierungen gegen die neue Regierung auf.

Polarisierung

Dies ist ein klares Zeichen dafür, dass die Wahl von Sharif zwar die Frage, wer die Regierung führt, für den Moment klären mag, dass sie aber die Spaltungen und den Machtkampf innerhalb der herrschenden Klasse oder die Polarisierung in der pakistanischen Gesellschaft nicht beenden wird. Das Land befindet sich nicht nur im Zentrum eines Kampfes zwischen den alten, westlichen imperialistischen Mächten, den USA und den europäischen Ländern, und dem neuen chinesischen Imperialismus. Es steuert auch auf eine wirtschaftliche Katastrophe zu. Die Rupie hat während Khans Amtszeit 40 % gegenüber dem US-Dollar verloren.

Ironischer Weise hat die Pandemie dazu beigetragen, eine wirtschaftliche Katastrophe zu vermeiden, da Geld in die Wirtschaft gepumpt und die Rückzahlung von Krediten aufgeschoben wurde. Nun müssen die Bedingungen der chinesischen und Internationalen Währungsfonds-Kredite erfüllt werden, während die Wirtschaft unter Abwertung, Schulden und massiven Preissteigerungen für Benzin und Strom leidet, die vor allem die Armen und die Arbeiter:innenklasse, aber auch die Mittelschichten und die kapitalistische Produktion treffen.

Vor diesem Hintergrund war der Machtkampf zwischen Khan und der Parlamentsopposition drauf und dran, die politischen Institutionen und das Land als Ganzes noch weiter zu destabilisieren.

Nach einer Reihe gewagter Manöver, zu denen auch offene Verstöße gegen die Verfassung des Landes und die Einmischung sowohl des militärischen Oberkommandos als auch des Chefs des Geheimdienstes ISI gehörten, wurde Khans Regierung zumindest formell verfassungsgemäß beendet. Noch vor der Abstimmung trat der Sprecher der Nationalversammlung, Asad Qaiser (PTI), zurück, und das Verfahren wurde an Ayaz Sadiq (PML-N) übergeben.

In den Wochen zuvor hatte Khan versucht, das Misstrauensvotum zu verhindern, und damit eindeutig gegen die Verfassung des Landes verstoßen. In einer Sitzung der Nationalversammlung am 3. April bezeichnete der Justizminister den Misstrauensantrag der Opposition als Teil eines ausländischen Komplotts. Dies wurde vom stellvertretenden Parlamentssprecher Qasim Suri akzeptiert, der den Misstrauensantrag auf dieser Grundlage abwies. In seiner Fernsehansprache an die Nation drückte er seine Freude über das Scheitern der „Verschwörung“ aus und erklärte, er habe den Präsidenten um die Auflösung der Versammlung gebeten, was dieser auch sofort in die Tat umsetzte, indem er Neuwahlen versprach.

Die Art und Weise, wie das Misstrauensvotum niedergeschlagen wurde, zeigt, dass die Widersprüche der herrschenden Klasse nicht auf verfassungsmäßigem Wege gelöst werden können. Das militärische Oberkommando kritisierte Khan offen für seine prorussischen Äußerungen und Angriffe auf die USA. Der Oberste Gerichtshof, eine weitere mächtige staatliche Institution, erklärte die Ablehnung des Misstrauensvotums für verfassungswidrig und forderte die Wiedereinberufung der Nationalversammlung. Das Gleichgewicht der Kräfte verschob sich eindeutig gegen die PTI-Regierung.

Am Tag der Abstimmung im Parlament erhielt Khan „Besuch“ von den Chefs der Armee und des ISI, die ihm klarmachten, dass er nachgeben und seinen Widerstand gegen die Übergabe der Regierungsgewalt im Parlament aufgeben müsse. Dies wurde auch von wichtigen Teilen der Kapitalist:innenklasse unterstützt, die eine „stabile“ Regierung forderten, die die bevorstehende wirtschaftliche Katastrophe bewältigen und den politischen Machtkampf vorerst beenden könnte.

Es ist natürlich höchst fraglich, ob die neue Regierung tatsächlich in der Lage sein wird, eine wachsende Krise zu überwinden. Was die gesamte politische Entwicklung beweist, ist, dass es zunehmend unmöglich ist, das System auf die alte Art und Weise weiterzuführen.

Die Bilanz der Regierung Imran Khans

Mehr als drei Jahre lang basierte die Regierung Imran Khans auf extremer Tyrannei, und die Regierung regierte per Präsidialverordnung und nicht durch das Parlament. Sein Ziel war es, jede Opposition im Namen einer Kampagne gegen „Korruption“ zu zerschlagen. Dieser betrügerische „Kampf“ bildete den populistischen und zunehmend bonapartistischen Deckmantel für eine Politik im Namen der Reichen, wobei Khan eindeutig mehr dem chinesischen Imperialismus als den USA als Garanten für die künftige Entwicklung Pakistans zuneigte. Gleichzeitig musste Pakistan unter seiner Herrschaft das größte IWF-Paket in seiner Geschichte auf sich laden.

Seine Regierung war ganz klar eine Feindin der Arbeiter:innenklasse und der Armen. Mit ihrer Politik lieferte sie die pakistanische Wirtschaft dem chinesischen Kapital und dem IWF aus. Sie führte zur Verarmung von Millionen von Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen und verschaffte gleichzeitig den Kapitalist:innen Milliarden von Rupien. Große kapitalistische Exporteur:innen profitierten während der Pandemie von den staatlichen Hilfspaketen und Exportanreizen. Doch das Ende dieser kurzlebigen Wachstumsblase wird den Arbeiter:innen und den Armen in Stadt und Land das Leben zur Hölle machen. Der Sturm der Inflation hat ihr Leben zerstört. Infolgedessen wurden auch das Kleinbürger:innentum, die Freiberufler:innen und viele, die im informellen Sektor im Zuge der Urbanisierung arbeiten, weitgehend ruiniert.

In den Jahren der Regierung Khan ist die Zahl der Verschwundenen gestiegen und sie werden durch üble Propaganda beschuldigt. Denjenigen, die sich dem Terrorismus und der nationalen Unterdrückung widersetzen, wurde der Zugang zum Rechtswesen verweigert. Sie verloren ihre Arbeitsplätze und waren Gewalt und sogar Mordversuchen ausgesetzt. Gegen die Paschtun:innenschutzbewegung wurde eine bösartige Kampagne geführt, und die Frauen des Auratmarsches wurden der Blasphemie beschuldigt. Die Regierung war nicht bereit, irgendeine Art von Kritik zu dulden, und Imran Khan wollte das bestehende System diktieren. Eine Zeit lang genoss er die volle Unterstützung durch die militärische Führung.

Angesichts einer sich entwickelnden historischen Wirtschaftskrise wurde seine Regierung jedoch für die Bourgeoisie nutzlos und ihre Popularität in der Arbeiter:innenklasse und anderen Schichten sank rapide. Er versuchte, Unterstützung in Russland zu finden, wo Putins Modell eine Alternative zu den Vereinigten Staaten und Europa mit seinen Angriffen auf alle Arten von demokratischen Freiheiten und dem Einsatz von Krieg zur Überwindung seiner Krise bot.

Der Krieg in der Ukraine stellt das Ergebnis der Eskalation der imperialistischen Widersprüche dar und spaltet die Welt erneut in zwei Lager. In der aktuellen Situation zieht es ein großer Teil der herrschenden Klasse aufgrund der Handelsbeziehungen Pakistans und der Abkommen mit dem IWF sowie der Probleme des Chinesisch-Pakistanischen Wirtschaftskorridors (CPEC) vor, sich dem US-Lager anzuschließen. Das Ende der Herrschaft von Imran Khan ist das Ergebnis dieses Widerspruchs, der ihn zu einer Belastung für die herrschende Klasse machte.

Das Scheitern seines Projekts ist auch das der Generäle. Es ist gut, dass eine arbeiter:innen- und armenfeindliche Regierung zu Ende gegangen ist. Aber auch der Opposition darf man nicht trauen, obwohl sie von der Achtung der Demokratie spricht. Sie wird keinen grundlegenden Bruch mit der kapitalistischen und proimperialistischen Politik der Regierung Khan vollziehen. Sie wird versuchen, das Versagen seiner Regierung bei der Bewältigung der Wirtschaftskrise als Vorwand für Sparmaßnahmen, Kürzungen und Privatisierungen zu beschuldigen und die Massen für die Krise zahlen zu lassen. Es ist klar, dass die neue Regierung Massenwiderstand und Streiks gegen soziale Angriffe unterdrücken und angreifen wird. Sie wird demokratische und gewerkschaftliche Rechte abschaffen, wo es nötig ist. Sie wird weiterhin die Rechte von Frauen, nationalen und religiösen Minderheiten beschneiden. Und sie wird sich weiterhin auf einen Staatsapparat stützen, der von der Armee und dem ISI kontrolliert wird. Deshalb dürfen wir uns keinen Illusionen hingeben, dass die neue Regierung demokratische Freiheiten einführen wird.

Diejenigen Liberalen und Linken, die behaupten, die Absetzung Khans und die Wahl der neuen Regierung seien ein Sieg der Demokratie, irren sich. In Wirklichkeit handelte es sich um einen Kampf innerhalb der herrschenden Klasse, bei dem eine Fraktion vorläufig gewonnen hat.

Wohin jetzt?

Imran Khan und seine Partei stellen diese Situation als eine amerikanische Verschwörung dar. Er und seine Anhänger:innen haben Rücktritte aus den Parlamenten und eine Bewegung gegen die neue Regierung angekündigt, obwohl diese noch gar nicht gebildet ist.

Die PTI-Proteste vom 11. April deutlich gemacht, dass Stabilität nicht so schnell möglich ist.

Wichtige Teile der herrschenden Klasse fürchten sich vor dieser Situation, da sich die pakistanische Wirtschaft derzeit in einem Dilemma befindet. Sie glauben, dass die neue Regierung in dieser Situation besser in der Lage sein wird, eine Katastrophe zu verhindern. Sie hoffen, dass es möglich sein wird, bessere Bedingungen mit dem IWF auszuhandeln, so dass die Gewinne dieses Kapitals wiederhergestellt werden können. Aber, wie PML-N-Führer Miftah Ismail sagte, wird die Regierung schwierige Entscheidungen treffen müssen, um diese Krise zu lösen.

Kurzfristig könnte sie versuchen, die Massen durch einige Zugeständnisse wie die von Shehbaz Sharif angekündigte Erhöhung des Mindestlohns auf 25.000 Rupien pro Monat oder die Erhöhung der Renten ziviler und militärischer Beamt:innen um 10 % zu beschwichtigen. Aber das wird zu wenig sein, um auch nur die Einkommensverluste infolge der massiven Inflation der letzten drei Jahre auszugleichen.

Unter diesen Umständen sollten die Linke und Arbeiter:innenbewegung der neuen Regierung jegliche Unterstützung verweigern. Der Kampf für demokratische Freiheiten muss ausgeweitet werden und der demokratische Einsatz muss mit dem Ringen gegen die Wirtschaftskrise und die Angriffe auf die Arbeiter:innen verbunden werden. Ebenso müssen wir gegen die Kampagne der rechtspopulistischen PTI und Imran Khans kämpfen, die Antiamerikanismus und soziale Demagogie mit einer rechten, autoritären Agenda verbinden, die sich gegen die Arbeiter:innenklasse und die sozial Unterdrückten richtet.

Um eine Alternative zur neuen Regierung und ihren Unterstützer:innen sowie zur rechtspopulistischen PTI aufzubauen, müssen die Linke, Gewerkschaften, Frauenbewegung, Student:innen und national Unterdrückten ihre Kräfte für ein Aktionsprogramm um folgende Forderungen bündeln: einen Mindestlohn, der die Lebenshaltungskosten deckt; eine gleitende Skala von Löhnen und Renten; kostenlose soziale Dienste, Bildung und Gesundheit für alle; für Preiskontrollkomitees, die sich dagegen wehren, dass Arbeiter:innen und Arme zahlen müssen; für den Erlass von Schulden und die Enteignung von Großkapital und Finanzinstitutionen, um die Mittel daraus für einen Notfallplan gegen die Krise zu zentralisieren.

Es liegt auf der Hand, dass ein solches Programm, das die Imperialist:innen und die herrschende Klasse Pakistans zur Kasse bittet, auf offene Feindseligkeit und Angriffe seitens aller imperialistischen Mächte, der alten wie der neuen, seitens der neuen Regierung wie der falschen PTI-Opposition stoßen wird. Eine solche Bewegung kann in den Betrieben, in den Arbeiter:innenvierteln, in der Stadt und auf dem Land aufgebaut werden, indem Aktionskomitees gebildet werden, die den Kampf mit Streiks, Streikposten, Massendemonstrationen und durch die Organisation von Selbstverteidigung im Falle eines Angriffs organisieren.

Alle, die ein solches Vorgehen unterstützen, müssen nicht nur die Initiative für eine Einheitsfront für eine Arbeiter:innenantwort auf die Krise ergreifen – sie müssen auch die Initiative ergreifen, um ein politisches Instrument der Arbeiter:innenklasse zu schaffen, eine Arbeiter:innenpartei, die den Kampf gegen die drohende Katastrophe mit dem für eine sozialistische Revolution in Pakistan und darüber hinaus verbindet.




Kanada: „Freiheitskonvois“ als rechtsradikales Straßentheater

Andy Yorke, Infomail 1182, 16. März 2022

Die „Antiimpfbewegung“ nahm Anfang des Jahres mit dem Start des „Freiheitskonvois“ in Kanada eine neue Wendung, ausgelöst durch eine neue gesetzliche Verpflichtung, die ungeimpfte Frächter:innen (weniger als 15 Prozent) ab dem 15. Januar für zwei Wochen in Quarantäne stellte.

Die liberale Regierung von Justin Trudeau sah sich zum Handeln gezwungen, da in den ersten 40 Tagen von Omikron mehr Fälle auftraten als im gesamten Jahr 2020, eine Rekordzahl von Krankenhausaufenthalten zu verzeichnen war und die Zahl der Todesfälle stark anstieg.

Weniger als eine Woche später machte sich ein „Freiheitskonvoi“ von Antiimpf-Trucker:innen von Vancouver an der Westküste Kanadas aus auf den Weg in die Hauptstadt Ottawa, um das Parlament zu blockieren, bis das Gesetz aufgehoben war. Als der Konvoi nach Osten fuhr, kamen Unterstützung und Geld herein, mit 5,5 Millionen Dollar an Solispenden. Die Bewegung entwickelte sich zu einem Protest gegen alle Beschränkungen wegen Covid oder, für einige, zum Sturz der Regierung Trudeau.

Bis zu 3.000 Schwerlaster und andere Fahrzeuge sowie 15.000 Demonstrant:innen legten Ottawa ab dem 28. Januar lahm, bevor sich Hunderte von Lastwagen und ihre Anhänger:innen niederließen, um das Parlament für die nächsten drei Wochen zu umzingeln.

Die Bewegung blockierte auch mehrere Grenzübergänge, wobei sich zu den Lastwagenfahrer:innen ebenfalls die Traktoren, Kleinlastwagen und Autos der UnterstützerInnen gesellten. Sechs Tage lang war die Ambassadorbrücke zwischen Kanada und Detroit (USA) blockiert, über die ein Viertel des gesamten Güterverkehrs zwischen den beiden Ländern im Wert von bis zu 400 Millionen Dollar pro Tag abgewickelt wird.

Unter dem massiven Druck der Wirtschaft berief sich Trudeau am 14. Februar auf das Notstandsgesetz, das es der Polizei erlaubt, Protestler:innen zu verhaften, Geld- und Haftstrafen zu verhängen, LKW-Fahrerlizenzen auszusetzen und Fahrzeuge zu beschlagnahmen sowie Bankkonten von Einzelpersonen und Einlagen aus Finanzierungskampagnen einzufrieren. Am 18. Februar fand in Ottawa eine groß angelegte Polizeiaktion statt, bei der mindestens 191 Personen verhaftet und zahlreiche Fahrzeuge abgeschleppt und beschlagnahmt wurden.

Sozialist:innen sollten repressive Gesetze oder deren Anwendung durch den kapitalistischen Staat nicht unterstützen, da diese immer mit zehnmal mehr Gewalt gegen die Linke eingesetzt werden. Aber in Wirklichkeit ermutigte das sanfte Vorgehen der örtlichen Polizei gegen die Trucker:innen, wobei einige Polizist:innen offen mit ihrer Sache sympathisierten, den Protest, während die Regierung wochenlang nichts unternahm.

Und das, obwohl Umfragen zeigten, dass eine solide Mehrheit der Kanadier:innen gegen die Proteste war, auch wenn viele angesichts der schlechten Arbeitsbedingungen und schlechten Bezahlung der meisten Fahrer:innen anfangs mit einigen ihrer Ziele sympathisierten.

Am 13. Februar gingen die Einwohner:innen von Ottawa gegen die Schließung ihrer Stadt und ihrer Lebensgrundlage vor und schüchterten Gruppen von Blockierer:innen ein. Bis zu 1.000 Anwohner:innen umzingelten stundenlang einen Konvoi, der in Richtung Parliament Hill unterwegs war, bevor sie die Autos und Kleintransporter in die Flucht schlugen, denen sie ihre Flaggen und Aufkleber des Freiheitskonvois abnahmen.

Ein Aktivist der Gemeindesolidarität Ottawa (CSO), der auch lokale Gewerkschaften angehören, erklärte: „Wir sind ernsthaft besorgt darüber, wie die Regierungen mit der Pandemie umgegangen sind, aber wir lehnen es ab, wie die extreme Rechte diese Unzufriedenheit mobilisiert. Wir bauen eine Bewegung der Arbeiter:innenklasse auf, die unsere Gemeinschaften und unsere Rechte verteidigen kann.“

Zweifellos war die Bedrohung durch eine Arbeiter:innenbewegung, die sich der extremen Rechten entgegenstellt und arbeiter:innenfreundliche Maßnahmen gegen Covid-19 fordert, mitverantwortlich für Trudeaus Entscheidung, endlich zu handeln.

Jetzt machen sich Freiheitskonvois in anderen Ländern auf den Weg, da die in den „sozialen Medien“ vernetzte Antiimpfbewegung diese Taktik in Frankreich, Neuseeland und nun auch in den USA kopiert hat. Ein Konvoi verlässt Kalifornien, um Washington DC rechtzeitig zu Bidens Rede zur Lage der Nation am 1. März zu erreichen. Aktivist:innen sollten dem Beispiel der CSO und der Gegendemonstrant:innen in Ottawa folgen.

Kleinbürgerliche Reaktion

Zu dem Konvoi gehörten einige Lastwagen mit Konföderierten- oder sogar Naziflaggen (die Protestierenden behaupteten, letztere seien gegen die Regierung gerichtet). Die kanadische antirassistische Gruppe AntiHate hat dokumentiert, dass die Rechtsextremen den Kern des Konvois bilden, nicht seine Ränder. James Bauder, der Gründer von Canada Unity, dem Dachverband rechtsextremer Organisationen, der den Konvoi ins Leben gerufen hat, unterstützt die QAnon-Verschwörungstheorie und behauptet, Covid-19 sei „der größte Betrug der Geschichte“.

Sprecher Benjamin J. Dichter kandidierte für die Konservative Partei gegen die „zunehmende Islamisierung Kanadas“. Bei der Blockade des Grenzübergangs nach Montana (USA), Coutts in Alberta, nahm die Polizei 13 Personen im Zusammenhang mit einem großen Waffenlager mit dem faschistischen „Diagonalsymbol“ fest. Es überrascht nicht, dass Donald Trump, Tucker Carlson von Fox News und viele Politiker:innen der republikanischen Partei in den USA den Konvoi unterstützt haben. Die rechten Unterstützer:innen aus der Mittelschicht sind ihre Zielwähler:innen.

Die „Freiheitskonvois“ gehören weder zur Arbeiter:innenklasse noch sind sie fortschrittlich. Bei den großen Lastwagen handelt es sich meist um Eigentümer:innen und Kleinunternehmer:innen, während die Traktoren Landwirt:innen repräsentieren. Einige Arbeiter:innen mögen zwar in den Kleintransportern, Geländewagen und anderen Fahrzeugen gekommen sein, aber als Einzelpersonen, die für eine rechtsextreme Kampagne mobilisiert wurden. Zwar sollte niemand entlassen werden, weil er nicht geimpft ist, doch ist es reaktionär, mitten in einer weltweiten Pandemie die Covid-Kontrollen abschaffen zu wollen.

Populistische Bewegungen, ob links oder rechts, werden immer legitime Themen aufwerfen (wie die Entlassung von Ungeimpften), die einige Arbeiter:innen anziehen. Anstatt sich auf diese Bewegungen zu konzentrieren, sollten die Sozialist:innen darauf drängen, dass die Gewerkschaftsbewegung, die in der Pandemie zu passiv war, wenn es um proletarische Klassenfragen ging, aktiv wird.

Das wird sich als wesentlich erweisen, wenn wir von einer Pandemie zu einer Spar- und Lebenshaltungskostenkrise übergehen, was der Linken die Möglichkeit gibt, der extremen Rechten die Initiative zu entreißen und die Arbeiter:innenklasse in einem Kampf zur Verteidigung unseres Lebensstandards zu vereinen.




Corona-Demos in Österreich: Neue alte Rechte in der Pandemie

Alex Zora, Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1178, 15. Februar 2022

Seit einigen Wochen gibt es wieder regelmäßige Massendemonstrationen auf den Straßen Wiens. Demonstriert wird gegen allerlei Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie. Die Impf- wird ebenso abgelehnt wie die Maskenpflicht, vorgeschriebene Testungen im Zuge der 3G-Regel am Arbeitsplatz oder aber auch unterschiedliche Ausformungen des Lockdowns. Die Stimmung der Teilnehmer:innen schwankt zwischen einem Leugnen der Pandemie und der Sorge über die Einschränkung der persönlichen Freiheit. Auf dem Höhepunkt erreichten die Mobilisierungen eine Stärke von an die 50.000 Menschen.

Im Wesentlichen werden die Demonstrationen von einigen „prominenten“ Persönlichkeiten der „corona-kritischen“ Szene organisiert. Die Hauptstützen haben sich seit den Demonstrationen im letzten Winter – als eine gesetzliche Impfpflicht noch bei weitem nicht ins Haus stand – nicht wesentlich geändert. Zu nennen sind beispielsweise der weit rechts stehende Martin Rutter oder auch Hannes Brejcha. Der entscheidende Unterschied zu letztem Winter ist aber, dass sich die FPÖ – jetzt geführt von Herbert Kickl – aktiv in die Mobilisierungen einbringt und organisatorisch führend auftritt. Sorgte damals seine Unterstützung für die Demonstrationen noch für Unmut in der FPÖ, steht die Partei nun zumindest nach außen nahezu geschlossen hinter der neuen Linie. Organisatorisch steht hinter den corona-skeptischen Demonstrationen also ein rechtes Spektrum, das von der FPÖ über einzelne weit rechts stehende Einzelpersonen und die faschistischen Identitären bis hin zu Neonazis (Gottfried Küssel und Co.) und Nazi-Hooligans aus der Fußballszene reicht. Daneben gibt es auch eine sehr große Anzahl an nicht-ideologischen Menschen auf der Straße, aber diese sind entweder politisch nach rechts offen oder legen bewusste Ignoranz der Tatsachen an den Tag.

Was die soziale Zusammensetzung der Demonstrationen betrifft, ist vor allem eines sehr auffällig. In Wien kommt die große Mehrheit der Menschen immer aus den Bundesländern (teilweise auch aus dem Ausland) angereist. Es liegen dazu zwar keine wissenschaftlich erfassten Zahlen vor, aber diese Tatsache ist aus den vielen Bundesländerfahnen auf den Demos ersichtlich, den Reaktionen der Demonstrationsteilnehmer:innen auf Redner:innen („Wo sind die Wiener?“) sowie insbesondere aus den Erfahrungen regionaler Mobilisierungen. So riefen etwa am 1.12.2021 diverse Vertreter:innen der Bewegung zum „Warnstreik“ gegen die Maßnahmen auf. Dabei gab es Mobilisierungen in den diversen Landeshauptstädten. Die größten davon waren in Linz (1.500 – 2.000), Graz (bis zu 1.500) und Innsbruck (1.500). In Wien waren es hingegen nur „einige Hundert“ (orf.at).

Die politische Richtung, in die sich die Demonstrationen seit mehr als einem Jahr entwickeln, ist ganz eindeutig nach rechts. Die Impfpflicht wird abgelehnt, aber nicht weil die Umsetzung der Bundesregierung sozial ungerecht ist, sondern aus einer individualistischen, chauvinistischen und wissenschaftsfeindlichen Haltung heraus. Die mehr als zehntausend Todesopfer der Pandemie alleine in Österreich werden entweder relativiert bzw. geleugnet oder damit gerechtfertigt, dass es „eh nur“ alte bzw. schon vorher kranke Leute betroffen hätte. International reiht sich die Bewegung in Österreich ganz klar in Mobilisierungen der Rechten in Deutschland oder den USA mit den dazugehörigen Verschwörungsmythen ein.

Als Linke muss man dieser Bewegung zweierlei entgegensetzen. Einerseits braucht es klare Gegenmobilisierungen auf der Straße, damit Faschist:innen nicht ungehindert dort die Oberhoheit  übernehmen und zur physischen Bedrohung werden. Andererseits ist der Regierungspolitik eine brauchbare linke Alternative entgegenzustellen und sichtbar zu machen. Anstatt rechtzeitig wirkungsvolle Maßnahmen gegen die Pandemie zu treffen und die Menschen dabei sozial und gesundheitlich abzusichern, wird nämlich leider lieber der Profit für den Wintertourismus gesichert und die Durchseuchung der Gesellschaft forciert.