100 Milliarden für Gesundheit, Klima und Soziales statt für Aufrüstung!

Bündnis Soziales statt Aufrüstung, Infomail 1189, 20. Mai 2022

Demonstration anlässlich der Abstimmung über ein 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr | Berlin, Sonntag, 29. Mai 14:30 Uhr | Startpunkt: Hermannplatz (U7/U8), Endpunkt: Willy-Brandt-Haus

Seit über zwei Monaten tobt der Angriffskrieg in der Ukraine nach dem Einmarsch Putins. Unter dem Vorwand, den Krieg und damit das Leid zu verkürzen, greifen die NATO-Staaten und die Bundesregierung mit der Lieferung von schweren Waffen inzwischen aktiv in den Krieg ein. Die Möglichkeit einer direkten militärischen Konfrontation zwischen der NATO und Russland rückt immer näher.

Die Bundesregierung nimmt den Krieg in der Ukraine zum Anlass, das deutsche Militärbudget massiv zu erhöhen. Mit dem geplanten Sonderetat von 100 Milliarden Euro würde sich Deutschland auf den dritten Platz der weltweiten Militärausgaben katapultieren. Doch den Menschen in der Ukraine wird damit nicht geholfen. Ebensowenig wird die Welt sicherer, wenn sich Deutschland für neue Kriege rüstet.

Als Gewerkschafter:innen und Linke sind wir der Meinung, dass wir dem deutschen Militarismus nicht einmal den kleinen Finger geben dürfen. Nein zum 100-Milliarden-Euro-Sonderhaushalt, nein zur Erhöhung der Militärausgaben auf das NATO-2-Prozent-Ziel!

Trotzdem sollen wir am Ende des Tages das Geld dafür zahlen: Die Milliardenausgaben holt sich der Staat früher oder später durch Einsparungen in der öffentlichen und sozialen Infrastruktur zurück. Dabei wäre jeder Euro besser im Gesundheitssystem, in der Bildung, im Klimaschutz oder bei der Armutsbekämpfung angelegt, um den Pflegenotstand zu beenden, kleinere Klassen durchzusetzen oder die Industrie auf erneuerbare Energien umzustellen.

Zugleich steigen die Lebenshaltungskosten unaufhörlich. Die aktuellen Tarifrunden wie im Sozial- und Erziehungsdienst und die kommenden Tarifrunden in der Stahlindustrie, der chemischen Industrie und im öffentlichen Dienst sind wichtige Ansatzpunkte, um die Inflation zu bekämpfen und die steigenden Preise zu stoppen.

Aus diesem Grund demonstrieren wir am 29. Mai um 14:30 Uhr in Berlin und rufen dazu auf, zeitgleich dezentrale Aktionen bundesweit organisieren, bevor der Bundestag dem neuen Budget zustimmt.

Lasst uns eine große Antikriegsbewegung der Arbeiter:innen und der Jugend aufbauen, um die Aufrüstung und das Bundeswehrsondervermögen zu stoppen und den kommenden Sozialkürzungen und den steigenden Preisen den Kampf anzusagen.

  • Keine 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr!
  • Nein zum 2-Prozent-Ziel der NATO!
  • Nein zum Krieg in der Ukraine! Solidarität mit allen Kriegsbetroffenen sowie allen Geflüchteten! Solidarität mit den Antikriegsprotesten in Russland und Belarus!
  • 100 Milliarden für Gesundheit, Bildung, Klima und Soziales statt für Rüstung!!

Für Sofortmaßnahmen gegen die Inflation! Preisstopp für Lebensmittel, Heizung, Strom und Mieten! Automatische Anpassung der Löhne, Renten, Arbeitslosengelder und Sozialhilfe an die Preissteigerungen – finanziert durch Vermögensabgaben.

Demonstration

Sonntag, 29. Mai 14:30 Uhr

Startpunkt: Hermannplatz (U7/U8)

Endpunkt: Willy-Brandt-Haus

Wenn eure Gruppe oder Organisation diese Demonstration ebenfalls unterstützen will, schreibt uns an sozialesstattaufruestung@protonmail.com oder kontaktiert uns auf Instagram oder Facebook.

Unterstützende Personen und Gruppen

Ferat Kocak – MdA, DIE LINKE

Antikapitalistische Linke Berlin

Gruppe Arbeiter:innenmacht

DIE LINKE. Neukölln

marx21

Klasse Gegen Klasse

Revolution

Revolutionär Sozialistische Organisation

ROSA Berlin

Sozialistische Alternative – SAV

Sozialistische Organisation Solidarität – Sol

Solid Berlin

Solid Nordberlin

Stadtpiraten – Leerstand zu Obdach

VKG Berlin – Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften




#LinkeMeToo: Aus den Fehlern lernen!

Jaqueline Katherina Singh, Infomail 1185, 18. April 2022

Der SPIEGEL-Artikel „Entweder wir brechen das jetzt, oder die Partei bricht“ und unzählige Tweets unter dem Hashtag #LinkeMeToo sorgen für Aufregung. Es wird von Missbrauchsvorfällen berichtet innerhalb des hessischen Landesverbandes der Linkspartei sowie der Linksjugend. Unter den zehn Betroffenen, mit denen der SPIEGEL gesprochen hat, ist auch eine Person, die zum Zeitpunkt der Vorfälle 2017/18 minderjährig war. Besonders sticht dies heraus, da mehrere Betroffene sagen, dass führende Mitglieder von den Vorfällen gewusst, aber nichts getan hätten – darunter auch Janine Wissler, aktuelle Bundesvorsitzende der Linkspartei. Ein paar Worte zur beginnenden Debatte.

Sexualisierte Gewalt in linken Strukturen

Zuerst muss klar gesagt werden: Lasst uns bitte nicht schockiert tun! Sexismus und sexualisierte Gewalt sind niemals „das Problem der anderen“. Sie sind Alltag in der gesamten Gesellschaft. Politik und linke Strukturen bilden keine Ausnahme. Sie sind keine Inseln der Freiheit, wo alle unbefangen miteinander leben können.
Das ist auch logisch. Wir alle sind von der bürgerlichen Gesellschaft geprägt, verinnerlichen dementsprechend Rollenbilder sowie Stereotype, die nicht einfach so verschwinden. Gerade in großen Organisationen sind unterschiedliche Wissens- und Bewusstseinsstände normal, auch, weil neue und neu politisierte Menschen hinzukommen. Entsetzt zu sein, dass „so etwas überhaupt jemals passieren konnte“, ist Teil des Problems. Es geht davon aus, dass es sichere Räume geben könne, aus denen ein für alle Mal rückständige Ideen und Verhalten verbannt sein könnten. Das gibt es leider nicht. Gleichzeitig sorgt diese Annahme auch dafür, dass gewaltausübende Personen (Täter:innen) es leichter haben, sich aus der Anklage zu ziehen. Denn wenn es so unglaublich, so unfassbar ist, dass Gewalt stattgefunden hat, ist es auch leichter, Betroffenen nicht zu glauben, zu zweifeln und keine Schritte zur Klärung einzuleiten.

Lasst uns deswegen sagen: Sexismus und sexualisierte Gewalt sind Probleme der Gesellschaft und deswegen ist die Linke nicht frei davon. Das senkt die Hemmschwelle für Betroffene, sich zu erkennen zu geben, und bricht mit der Schweigekultur. Die Frage ist nicht, ob es die Übergriffe überhaupt gibt, sondern welche Strukturen aufgebaut werden, um dagegen anzugehen.

Stellungnahmen und Konsequenzen

Der hessische Landesvorstand hat am 15. April eine kurze Stellungnahme herausgegeben. In dieser wird davon gesprochen, dass dieser Ende November 2021 Kenntnis erlangte und begonnen hat, auf allen Ebenen das Geschehene aufzuarbeiten. Perspektivisch sollen Vertrauenspersonen eingesetzt sowie ein Workshop zur Sexismussensibilisierung organisiert werden. Im Statement der Bundespartei, ebenso vom 15. April, wird klar gemacht: „Patriarchale Machtstrukturen finden sich überall in der Gesellschaft. DIE LINKE ist davon nicht ausgenommen.“ Ebenso wird festgehalten, dass der Parteivorstand im Oktober 2021 die Vertrauensgruppe innerhalb des Parteivorstandes gegründet hat, um Menschen, die innerhalb der LINKEN Erfahrungen mit Sexismus, Übergriffen oder Diskriminierung machen, beratend zur Seite zu stehen. Im SPIEGEL wird dies zwar erwähnt, näher beleuchtet wird die Arbeitsweise und Zusammensetzung dieses Gremiums aber nicht. In den Fokus gestellt wird dafür ein Handout zu den „Vorwürfen sexualisierter Gewalt“ – geschrieben von einem mutmaßlichen Täter.

Es ist gut, dass es die Schritte gegeben hat. Der Kritikpunkt, der intern aufgearbeitet werden muss, lautet: Warum braucht es für die Einrichtung solcher Dinge erst den öffentlichen Druck von Betroffenen? Welche Annahmen hat es gegeben, dass diese nicht schon früher eingeleitet wurden?

Als Antwort auf die Artikel hat auch der Jugendverband einen offenen Brief verfasst, den bisher 500 Mitglieder unterschrieben haben. In diesem werden u. a. gefordert:

  • Transparente und lückenlose Aufklärung aller Vorfälle.
  • Verpflichtende Awarenessstrukturen, deren Mitglieder nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Partei stehen oder Abgeordnete sind.
  • Verpflichtende Seminare zum Thema Awareness und Feminismus für Funktionär:innen und Angestellte.
  • Finanzielle Unterstützung durch DIE LINKE für alle Betroffenen, wenn sie juristische oder auch psychologische Beratung und Hilfe in Anspruch nehmen.
  • Eine Vertrauensperson für Mitarbeitende von Partei, Mandatsträger:innen und Fraktionen, die von Sexismus, verbalen Übergriffen und sexualisierter Gewalt betroffen sind.

Dies sind unterstützenswerte Forderungen. Die Aufarbeitung scheint begonnen zu haben und die Forderung nach Strukturen, die nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Funktionen stehen, ist enorm wichtig. Auf weitere Punkte, die sinnvoll sein könnten, gehen wir im späteren Teil des Artikels ein. Zuerst wollen wir uns jedoch mit einer anderen Frage beschäftigen:

Rücktritt als Lösung?

Ebenso wird in dem offenen Brief auch der Rücktritt aller beteiligten Personen gefordert – ob sie nun selber Täter:in sind oder die Taten anderer gedeckt haben. Dazu soll an der Stelle gesagt werden: Ein Wechsel von Personen bedeutet nicht immer, dass der Umgang sich verbessert und nachhaltige Strukturen geschaffen werden. Vielmehr kommt es auf Einsicht an. Damit ist nicht gemeint, dass alle, die jetzt aufschreien, aus dem Schneider sind. Das heißt: Jene, die beiseite treten, die offen Fehler eingestehen, jene, die den Raum für Aufklärung freimachen, sollten bedacht werden – denn es ist ein Zeichen, mit den Strukturen brechen zu wollen. So hat Janine Wissler selbst eine Stellungnahme verfasst, in der sie zu den aufgeworfenen Fragen des SPIEGEL Stellung bezieht und klarmacht, dass sie nicht wusste, dass es sich für die Betroffene um eine Grenzüberschreitung gehandelt hat. Ob diese ausreichend ist oder nicht, sollte eine Kommission entscheiden – nicht nur bei ihr, sondern allen, die involviert waren. Besagte Kommission sollte aus FLINTA-Mitgliedern bestehen, die unabhängig vom Parteiapparat sind und die verschiedenen politischen Strömungen der Partei repräsentieren. Auch kann so verhindert werden, dass solche Fälle für politische Machtkämpfe um Posten benutzt werden können.
Aber Achtung: Das Problem bei Awarenessstrukturen und Meldestellen liegt immer darin, dass diese nur so effektiv sind wie das Bewusstsein der Leute dort selber. Denn ein Problem, warum Diskriminierungen totgeschwiegen werden und man auf soviel Widerstand bei der Aufklärung stößt, sind die unklaren Konsequenzen. Wer Angst hat, für jeden Fehler abgestraft zu werden, wird das Beste versuchen, diese Fehler unter den Teppich zu kehren, insbesondere wenn Einkommen und Karriere davon abhängig sind. Das ist an der Stelle kein Appell für einen Freifahrtschein für Täter:innen und jene, die sie schützen. Es ist ein Appell dafür, künftig mit den Konzepten von Transformative Justice zu arbeiten, wo es Sinn macht.

Der Kampf für Verbesserung ist ein gesamtgesellschaftlicher

Viele Dinge müssen geschehen. Die Diskussion in DIE LINKE und [‚solid| könnte so einen Beitrag leisten im Kampf gegen Sexismus und Gewalt in der Linken und in der Arbeiter:innenbewegung. Aber wie? Gesamtgesellschaftlich brauchen wir einen anderen Umgang mit sexualisierter Gewalt. Zuerst braucht es eine politische Kampagne, die konkrete Verbesserungen erkämpft. Forderungen, die dringend notwendig sind:

1. Flächendeckende Meldestellen für sexuelle Gewalt!

Für flächendeckende Anlaufstellen zur Meldung von sexueller Gewalt, die ebenso, wenn gewünscht, kostenlose psychologische Beratung anbieten. Dies muss damit verbunden werden, dass es breite Aufklärungskampagnen bezüglich Gewalt an Frauen an Schulen, Universitäten und in Betrieben gibt.

2. Finanzielle Unterstützung für Betroffene!

Im Falle eines konkreten gerichtlichen Prozesses braucht es besondere Unterstützung für die Betroffenen. Dabei reden wir nicht nur von psychologischer, sondern kostenloser Rechtsberatung und Übernahme der Prozesskosten, unabhängig von dessen Ausgang. Darüber hinaus bedarf es längerfristige Hilfeangebote für Betroffene von sexueller Gewalt, finanziert durch den Staat. Solche Verfahren sind keine Kleinigkeit. Deswegen bedarf es des Rechts auf mehr bezahlte Freistellung, zusätzliche Urlaubstage sowie eine Mindestsicherung, angepasst an die Inflation! Dies ist notwendig, um die ökonomische Grundsicherung für Betroffene zu gewährleisten, ihnen überhaupt die Möglichkeit zu geben, sich so einem aufreibenden Prozess zu stellen.

3. Öffentliche Untersuchungen und Verfahren unter Kontrolle der Betroffenen und der Arbeiter:innenbewegung!

Die ersten beiden Forderungen wären im Hier und Jetzt einfach umzusetzen. Die dritte ist nicht so einfach, aber die substantiellste. Solange der bürgerliche Polizei- und Justizapparat die Untersuchungen und Rechtsprechung beherrscht, werden Verbesserungen immer wieder an diesen Strukturen scheitern oder bestenfalls auf halbem Wege steckenbleiben. Es braucht daher vom Staatsapparat unabhängige Untersuchungskommissionen sowie von den Betroffenen gewählte Richter:innen. Diese sollten mehrheitlich aus Frauen und geschlechtlich Unterdrückten zusammengesetzt sein.

Ebenso sollten sie für den Umgang mit Betroffenen von Gewalt sensibilisiert und geschult worden sein. So kann man gewährleisten, dass Entscheidungen hinterfragt werden und nicht abhängig von der männlichen Sozialisierung der Richtenden und Untersuchenden sind. Im Zuge dessen könnte auch das Sexualstrafrecht überarbeitet werden und festhalten, dass das Konsensprinzip „Nur Ja heißt Ja“ eine sinnvolle Grundlage wäre. Warum? Dies liegt dem Ansatz zu Grunde, dass Polizei und Staat zum einen kein materielles Interesse an der Verfolgung solcher Vorwürfe hegen. Zum anderen sind diese Formen wesentlich fortschrittlicher, als wenn jede/r für sich alleine bestimmt, was richtig ist und nicht. Ausführlicher leiten wir das in diesem Artikel her: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/03/17/kampf-gegen-sexuelle-gewalt-abseits-des-staates-gegen-oder-mit-ihm/

Und in linken Strukturen?

Der Kampf für so eine Kampagne ist essentiell. Denn linke Strukturen sind aus sich heraus nicht nur meist zu schwach, dauerhafte und professionelle Hilfe für Betroffene zu gewährleisten – was es diesen wiederum erschwert, wieder in politischen Zusammenhängen aktiv zu werden. Sie können und sollen auch keinen Ersatz die Herstellung allgemeiner gesellschaftlicher Rechte im Kampf gegen Unterdrückung bilden. Doch das heißt nicht, dass man bis dahin nichts tun kann. Präventionsarbeit durch beispielsweise regelmäßige Debatten über sexuellen Konsens sind ein Beispiel – unabhängig davon, ob es Übergriffe gegeben hat oder nicht. Dabei braucht es das Verständnis, insbesondere für männlich Sozialisierte, dass ein Ausbleiben eines Ja keine Zustimmung ist. Nur Ja heißt Ja und aktives Nachfragen ist nicht nur nett, sondern notwendig. Zudem braucht es eine Sensibilisierung für den Umgang mit Machtverhältnissen wie Alter, Herkunft oder auch Stellung in der eigenen Gruppe. Für weiblich sozialisierte Menschen macht es Sinn, sich dessen bewusst(er) zu werden und zu lernen, wie die eigenen Bedürfnisse artikuliert werden können. Darüber hinaus braucht es eigene Treffen – Caucusse – für gesellschaftlich diskriminierte Gruppen, die sich über Missstände innerhalb von linken Strukturen austauschen und Veränderungen einfordern.

DIE LINKE hat sicher Mist gebaut. Aber sie hat die Chance, ja die Pflicht, ihre Politik zu ändern. Sie verfügt über die Ressourcen, eine Kampagne zu starten, wie sie hier umrissen ist. Das würde nicht nur den Betroffenen am ehesten gerecht werden. Es kann auch dafür sorgen, dass DIE LINKE mal wieder irgendeinen ernstzunehmenden Kampf führt, was zur Zeit sicher keine/r behaupten kann.




Kampf gegen sexuelle Gewalt: Abseits des Staates, gegen oder mit ihm?

Jaqueline Katharina Singh, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 10, März 2022

Sexuelle Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig, aber nicht unbedingt sichtbar. Auch wenn sich der Mythos, dass diese draußen auf dunklen Straßen stattfindet, hartnäckig hält, sieht die Realität anders aus. Denn meistens findet sie hinter der harmonisch-schönen Fassade von Arbeit, Familie und Freundeskreisen statt. So wird in Deutschland jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von physischer und/oder sexualisierter Gewalt. Etwa jede vierte wird mindestens Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt durch ihren aktuellen oder früheren Partner. Die letzten zwei Jahre haben zudem eine dramatische Verschärfung bedeutet. Eingesperrt im Lockdown oder Homeoffice waren Frauen wie Kinder männlich-väterlichen Gewalttätigkeiten – physischer und psychischer Art – noch mehr als sonst ausgeliefert. Das führt uns zu der Frage: Was tun gegen sexuelle Gewalt?

Der bürgerliche Staat ist dabei überwiegend Teil des Problems. Aus Angst vor öffentlicher Stigmatisierung und Angriffen (victim blaming), Retraumatisierungen sowie zusätzlichen Gewalterfahrungen werden die wenigsten Täter vor Gericht gebracht – und dort häufig auch noch freigesprochen, da Beweise fehlen, der Staat Gewalt ganz anders definiert, als Betroffene sie erlebten, oder einfach, weil der Richterstuhl mit einem überzeugten weißen, männlichen Hintern besetzt ist. In Deutschland stellen laut Kriminologe Christian Pfeiffer rund 85 % der Frauen keine Anzeige „und von den 15 Prozent die übrig bleiben, werden letztendlich nur 7,5 Prozent der Täter verurteilt. Das ist indiskutabel.“ (https://www.tagesschau.de/investigativ/report-muenchen/verurteilungen-vergewaltigung-101.html)

Lösungsansätze?

Einen Lösungsansatz liefert die Idee, dass Bildung und Erziehung eine maßgebliche Rolle dabei spielen, sexuelle Gewalt zu verhindern, wie der recht bekannte Spruch „Warnt nicht eure Töchter, erzieht eure Söhne!“ aufzeigt. Obwohl dieser Slogan zwar richtigerweise den Blick auf die männlichen Täter richtet, so reduziert er das Problem auf eine Erziehungsfrage in einer ansonsten aufgeklärten Gesellschaft. Aber mit der „richtigen“ Erziehung ist es leider nicht getan. Diese Annahme ignoriert ebenso wie die strukturalistische Auffassung, dass Männer gemäß ihrer genetischen Veranlagung aggressiver und gewalttätiger und Frauen biologisch eher zurückhaltend und friedliebend seien, die entscheidende Rolle, die gesellschaftliche Verhältnisse bei der Entstehung und auch Veränderung von Geschlechterrollen spielen.

Deshalb kann auch eine gewaltfreiere Erziehung von Jungen das Problem nicht lösen. In einer Gesellschaft, die selbst auf Konkurrenz, Klassenherrschaft und damit verbundener Unterdrückung beruht, kann schließlich der Zweck von Erziehung nur darin bestehen, die Menschen dahingehend auszurichten. Für den Kapitalismus ist darüber hinaus die Trennung von bezahlter Lohnarbeit von der als wertlos betrachteten privaten Reproduktionsarbeit in der „Freizeit“ prägend. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bildet die Frauenunterdrückung und damit Abhängigkeit von Männern heraus, die wiederum auf dem Arbeitsmarkt selbst reproduziert und gefestigt wird. Auf dieser materiellen Basis der sexistischen Unterdrückung fußen reaktionäre Bewusstseinsformen, die uns im Alltag häufig als stereotype Geschlechterrollen begegnen. So wichtig es ist, diese zu kritisieren und zu bekämpfen, so können sie letztlich nur zurückgedrängt und beseitigt werden durch den gemeinsamen Kampf gegen die materiellen Verhältnisse, die diesen Ideologien zugrunde liegen.

Einen weiteren, ähnlichen Lösungsansatz stellte die #MeToo-Bewegung, die 2017 für viel Aufsehen sorgte, dar. So griff die US-amerikanische Schauspielerin Alyssa Milano die bereits vorher existierende Kampagne der Aktivistin Tarana Burke mit folgendem Satz über Twitter auf: „Wenn alle Frauen, die sexuell belästigt oder angegriffen wurden, ‚Ich auch‘ als Status schrieben, könnten wir den Menschen ein Gefühl für das Ausmaß des Problems geben.“ Es folgten über 12 Millionen Beiträge in zahlreichen „sozialen“ Netzwerken, in denen sexuelle Gewalt gegen Frauen, oft mit sehr privaten Erlebnissen verbunden, thematisiert wurde. Dieses Beispiel zeigt klar, dass die Benennung von sexueller Gewalt wichtig ist, und brachte zumindest in Hollywood kurzfristige Konsequenzen mit sich. Doch was bleibt heute davon? Leider nicht viel. Denn die Lösung, dass die betroffenen Personen individuell aufstehen und ihre Erlebnisse äußern, mag zwar für diese empowernd sein. Das grundlegende Problem der sexuellen Gewalt sowie den rückschrittlichen Umgang mit dieser innerhalb des Staates hat dieser Ansatz nicht geändert. Dass dies alleine nicht reicht, zeigt das Beispiel von Nika Irani. Das Model veröffentlichte 2020 auf Instagram ihr Vergewaltigungsouting gegen den Rapper Samra und löste damit in der deutschen Hip-Hop-Szene eine längst überfällige Debatte über sexualisierte Gewalt aus. Der Rapper erwirkte  eine einstweilige Verfügung gegen sie, die es ihr untersagt, über die Vorwürfe weiterhin öffentlich zu sprechen, da sie nicht die notwendigen Beweise erbringen konnte. Mehr muss also möglich sein. Aber wie?

Der bürgerliche Staat als Schutz?

Für uns als Marxist:innen ist klar, dass der bürgerliche Staat der der herrschenden Klasse ist und daher deren Interessen verteidigt. Er wurzelt also in der Gesellschaft selbst, stellt sich aber als über ihr und den verschiedenen Klassen stehende Macht dar. Er ist Ausdruck der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und daher umgekehrt ein Beweis, dass der Kapitalismus selber nicht fähig ist, die Klassengegensätze zu überwinden. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass seine Gewaltorgane wie die Polizei vorherrschende Diskriminierung weiter reproduzieren. Doch was heißt das im Umkehrschluss für den Kampf gegen sexuelle Gewalt?

Viele Linke lehnen es ab, Forderungen an den bürgerlichen Staat zu stellen. Stattdessen bedient man sich individueller Outings, Gewalt gegenüber den gewaltausübenden Personen oder der Definitionsmacht-Ansätze. Diese erscheinen sehr radikal, weil sie außerhalb der bestehenden Ordnung „Gerechtigkeit“ schaffen wollen. Doch wenn man sie auf die gesamte Gesellschaft anwendet, sind es entweder Nischenlösungen für eine kleine Minderheit oder sie fallen sogar hinter das aktuelle bürgerliche Recht zurück. So stellen die Unschuldsvermutung und das Recht auf Verteidigung vor Gericht fortschrittliche Elemente der bürgerlichen Justiz dar, die in Kämpfen gegen den Feudalismus und reaktionäre Kräfte errungen wurden.Die Unschuldsvermutung erfordert, dass die einer Straftat verdächtigte oder beschuldigte Person nicht ihre Unschuld beweisen muss, sondern die Strafverfolgungsbehörde ihre Schuld. Dies liegt daran, dass es aufgrund dieses Prinzip nicht so einfach möglich ist, ohne einen Prozess Menschen für Verbrechen abzuurteilen. Ebenso ermöglicht es den Beschuldigten, sich zu verteidigen. Dies macht grundsätzlich Sinn, denn ohne dieses Prinzip wäre es möglich, Menschen ohne Beweise für Verbrechen haftbar zu machen, ohne dass diese sich rechtfertigen könnten. Es würde staatlicher Willkür Tür und Tor öffnen und die Klassenherrschaft der Bourgeoisie stärken, ob das nun gewollt ist oder nicht.

Aber diese Überlegungen zum Staat bedeuten keinesfalls, dass Revolutionär:innen gesetzlichen Reformen neutral gegenüberstehen. So treten wir beispielsweise für staatlich garantierten Arbeitsschutz oder Mindestlöhne und viele andere Reformen im Interesse der Ausgebeuteten und Unterdrückten ein, ohne uns deshalb der Illusion hinzugeben, dass dies am grundlegenden Charakter des Staates etwas ändern würde. Im Gegenteil, wir begreifen dies  als Teil des Klassenkampfes gegen die Bourgeoisie. Das trifft auch auf Reformen im Bereich der Gerichte und Rechtsprechung zu. Als Revolutionär:innen müssen wir uns Gedanken machen, um die Lage von Frauen im Hier und Jetzt zu verbessern, und dies als Schritt zu grundlegend anderen Verhältnissen begreifen. Das heißt, unser Ziel ist es, eine gesamtgesellschaftliche Perspektive zu entwickeln.

Um den Unterschied zu Formen der Selbstjustiz zu illustrieren, stellen wir uns vor, dass linke Kleinstgruppen oder generell irgendwer auf beispielsweise Outings reagieren, indem sie Gewalt anwenden, um die Gefahr seitens des Täters abzuwenden. Damit werden folgende Fragen aufgeworfen: Wenn wir uns das Recht herausnehmen zu richten, warum sollten es dann nicht andere Gruppen auch tun? Warum nur die radikale Linke? Und wer legt die Grundlage fest, auf der solche Entscheidungen gefällt werden?

Solange es keine Massenbewegung der Arbeiter:innenklasse gibt, sondern nur Kleingruppen, führen solche Entscheidungen nur zu Willkür untereinander. Gerechtigkeit ist also nicht nur eine moralische Frage, sondern auch eine der gesellschaftlichen Verhältnisse. In der aktuellen bürgerlichen Rechtsprechung profitieren bei sexueller Gewalt gegenüber Frauen von diesen Errungenschaften oft auch Täter. Doch das heißt nicht, dass die Prinzipien an sich falsch sind, sondern es stellt sich vielmehr die Frage, wie diese umgesetzt und kontrolliert werden.

Wie kann eine gesamtgesellschaftliche Perspektive aussehen?

Die erste Hürde für viele Betroffene ist die Anzeige an sich. Wie oben bereits erwähnt, sind die Prozesse hierzulande oftmals retraumatisierend und viele Betroffene trauen sich erst gar nicht, die erfahrene Gewalt zu thematisieren. Deswegen ist es notwendig, unmittelbar für flächendeckende Anlaufstellen zur Meldung von sexueller Gewalt einzustehen, die ebenso, wenn gewünscht, kostenlose psychologische Beratung anbieten. Dies muss damit verbunden werden, dass es breite Aufklärungskampagnen bezüglich Gewalt an Frauen an Schulen, Universitäten und in Betrieben gibt – schlicht an den Orten, an denen sich die meisten von uns tagtäglich aufhalten müssen. In diesem Rahmen wäre es möglich, auf der einen Seite die oben erwähnte Bildung für männliche Personen einfließen zu lassen. Auf der anderen Seite kann man diese für Empowermenttraining nutzen sowie besagte Beratungsstellen bekanntmachen und klar kommunizieren, dass die Erfahrungen der Betroffenen ernst genommen werden.

Im Falle eines konkreten gerichtlichen Prozesses braucht es ebenso eine besondere Unterstützung für die Betroffenen. Dabei reden wir nicht nur von psychologischer, sondern von kostenloser Rechtsberatung und Übernahme der Prozesskosten, unabhängig von dessen Ausgang. Darüber hinaus bedarf es längerfristige Hilfeangebote für Betroffene von sexueller Gewalt, finanziert durch den Staat. Solche Verfahren sind keine Kleinigkeit. Deswegen bedarf es des Rechts auf mehr bezahlte Freistellung, zusätzliche Urlaubstage sowie eine Mindestsicherung, angepasst an die Inflation! Dies ist notwendig, um die ökonomische Grundsicherung für Betroffene zu gewährleisten, ihnen überhaupt die Möglichkeit zu geben, sich so einem aufreibenden Prozess zu stellen.

Das sind Punkte, die im Hier und Jetzt – wenn gewollt – umgesetzt werden könnten. Die Frage, wer die Umsetzung der Gesetzgebung kontrolliert, ist damit jedoch noch nicht geklärt. Da wir die Polizei als verlängerten Arm des bürgerlichen Staates verstehen, der kein materielles Interesse verfolgt, sich gegen die existierenden Unterdrückungen wie Rassismus oder Sexismus zu stellen, haben wir oben die Meldestellen für sexuelle Gewalt erwähnt. Diese sollten im Idealfall zusammengesetzt werden aus sozial Unterdrückten – gewählt von Vertreter:innen der Arbeiter:innenklasse.

Diese sollten auch die Möglichkeit bekommen, Untersuchungskommissionen zu gründen, bestehend aus Gewerkschaften und Betroffenenvertretungen, die vollen Zugang zu den Akten der Polizei und Rechtsmedizin erhalten, um die Fälle zu klären. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass die Aussage über sexuelle Gewalt bereits als Indiz dieser gewertet werden sollte. Ebenso sollte es nicht nur Aufgabe der Betroffenen sein, die Schuld des Beschuldigten zu beweisen – auch der Beschuldigte sollte an der Stelle dazu verpflichtet werden, aktiv an der Aufklärung teilzunehmen.

Darüber hinaus bedarf es auch Veränderungen auf der gerichtlichen Ebene. Statt Berufsrichter:innen, von denen die Mehrheit aus alten, weißen Männern besteht, die es sich leisten konnten zu studieren, bedarf es rechenschaftspflichtiger, demokratisch wähl- und abwählbarer Tribunale, die sich aus der Arbeiter:innenklasse und Menschen mit verschiedenen Unterdrückungserfahrungen zusammensetzen. Diese sollten für den Umgang mit Betroffenen von Gewalt sensibilisiert und geschult worden sein. So kann man gewährleisten, dass Entscheidungen hinterfragt werden und nicht abhängig von der männlichen Sozialisierung der Richtenden sind. Des Weiteren macht es ebenfalls Sinn, dass die Gesetzgebung von einem solchen Gremium zusammen mit Betroffenenvertretungen überarbeitet wird. So stellt die Reform des Sexualstrafrechtes 2016 zwar eine beschränkte Verbesserung dar, die jedoch vor dem Hintergrund frauenfeindlicher Gesetze, Untersuchungsbehörden und Gerichte nur sehr wenig Wirkung zeigen kann. Weiter liegt die Beweispflicht immer noch nur bei der Betroffenen und geht ebenso von einem falschen Bild aus. Denn oftmals ist es auch nicht möglich „Nein“ zu sagen. Stattdessen wäre es sinnvoll, das Konsensprinzip „Nur Ja heißt Ja“ anzuwenden. Das verstärkt gleichzeitig den Druck auf den Beschuldigten, denn dieser muss dann auch versuchen, glaubhaft zu machen, dass die Betroffene einverstanden gewesen ist.

Und darüber hinaus?

Neben diesen Forderungen müssen wir für den flächendeckenden Ausbau von psychologischer Beratung sowie Frauenhäusern kämpfen, damit Betroffene sich unmittelbar vor weiterer Gewalteinwirkung schützen können. Es braucht jedoch auch eine Debatte über den Umgang mit Gewalt ausübenden Personen. Das Gerechtigkeitsverständnis des bürgerlichen Staates beruht vor allem auf dem Konzept von „Wiedergutmachung durch Strafe“. Doch durch Isolation im Knast wird wohl keine tiefgreifende Besserung im Bewusstsein des Täters einsetzen. Immerhin hat der Staat noch einen kleinen Anspruch von Resozialisierung der Täter, seine Methoden dazu erweisen sich aber erstens als unwirksam und zweitens sollen die Täter ja überhaupt nur wieder zurück in dieselben Verhältnisse resozialisiert werden, in denen sie erst dazu geworden sind. Alternativen dazu wären Einrichtung und Ausbau von Rehabilitationsprogrammen für sexuelle Gewalttäter wie auch eine gesicherte Integration ins Arbeitsleben.

Zudem braucht es eine klare Präventionsstrategie: Einen kleinen Teil davon sollte die Integration von Konsens-Workshops im Sexualkundeunterricht ausmachen, denn sexuelle Aufklärung hört nicht bei Verhütungsmethoden auf! Des Weiteren braucht es die stetige Thematisierung sexueller und sexualisierter Gewalt an Schulen, in Erziehungswesen und Betrieben, um diese zurückzudrängen.

Wie kann das möglich werden?

Kritiker:innen werden nun einwenden, dass das zwar viele schöne Ideen sind, diese aber nicht umsetzbar wären. Diesen wollen wir an dieser Stelle antworten, dass es zum einen Forderungen gibt, die unmittelbar umsetzbar wären – wenn man genügend Druck auf die Straße bringt, damit diese finanziert werden. Ebenso sind auch tiefgehendere Veränderungen  möglich. Schließlich müssen wir diesen Kampf um Verbesserungen und Kontrolle selbst im Rahmen einer Übergangslogik verstehen. In der Tat verändern selbst die besten Reformen die Grundstrukturen der Gesellschaft nicht. Daher begreifen wir diese Kämpfe um Verbesserungen auch als Teil einer umfassenderen Mobilisierung für eine andere Gesellschaft.

Nur weil das aktuelle gesellschaftliche Bewusstsein nicht „reif“ genug für diese Forderungen erscheint, heißt das nicht, dass diese nicht umsetzbar sind. Damit dies gelingt bedarf es einer breiten Massenbewegung der Arbeiter:innenklasse. Aufgabe von Revolutionär:innen kann es an der Stelle nicht sein, rückschrittliche, scheinradikale Lösungen zu unterstützen. Vielmehr muss geschaut werden, wo Ansatzpunkte für diese Forderungen zu finden sind.

An dieser Stelle wollen wir die Kampagne „#NotYourPorn – Missbrauch auf Pornoplattformen muss verfolgt werden“ erwähnen. Sie spricht ein Thema an, das kaum bis gar nicht vom Staat verfolgt wird, nämlich die Verbreitung von Bildern und Videos von Frauen auf Plattformen wie xHamster ohne deren Zustimmung. Teilweise sind diese von Facebook kopiert, teilweise sogar heimlich aufgenommen worden. Auch das fällt unter sexuelle, weil psychische Gewalt. Einige Betroffene haben sich selbst zusammengetan und eine Petition gestartet, die das Strafrecht und den Umgang mit Plattformen wie xHamster verbessern soll.

So eine Vernetzung, wie es im Rahmen dieser Kampagne oder auch der von #DeutschrapMeToo gegeben hat, sind unterstützenswerte Initiativen und erste Ansatzpunkte. Sexuelle Gewalt wird in der Gesellschaft oftmals als „Einzelfall“ und individuelles Problem dargestellt, obwohl es ein gesamtgesellschaftliches ist. Statt also diese Individualisierung sexueller Gewalt auch auf deren Bekämpfung anzuwenden – die Geschehnisse als Einzelfälle zu betrachten – braucht es besagten kollektiven Lösungsweg. So wäre es beispielsweise möglich, mit vernetzten Betroffenen Forderungen aufzustellen und Organisationen der Arbeiter:innenbewegung zur Unterstützung dieser aufzufordern wie beispielsweise DIE LINKE oder Gewerkschaften. Als ersten Schritt könnte man sich auch hier an Frauen- und Queerstrukturen wenden.

Wenn Betroffene bereit sind, Prozesse im aktuellen bürgerlichen Staat zu führen, sollten diese mit einer Kampagne begleitet werden. Dabei ist es wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass das Problem vor allem im Rahmen des Prozesses liegt, der dazu führt, dass sexuelle Gewalt oftmals nicht verurteilt wird. Dies kann Mobilisierungen beinhalten, die an Schulen, Unis und in Betrieben beworben werden können. So existiert die Chance,  hier Aktionskomitees zu gründen, die vor Ort mobilisieren – und Debatten führen, welche Probleme es mit sexueller Gewalt dort gibt. Gleichzeitig würden diese Strukturen dann auch den Kern stellen, wenn es darum geht, Forderungen mit Streiks durchzusetzen.

Wir vertrauen also nicht auf den bürgerlichen Staat. Im Gegenteil. Wenn wir Forderungen an ihn stellen, uns für die demokratische Reform von Justiz, Strafrecht, finanzielle und materielle Unterstützung von Opfern einsetzen, dann nicht, weil wir den Rechtsstaat als letztes Wort der Geschichte betrachten. Es geht darum, ihn als Kampffeld für eine zukünftige, andere Gesellschaft zu nutzen, die ihn und den Kapitalismus als Grundlagen, auf denen sich sexuelle Gewalt und Sexismus reproduzieren, überwunden hat und klassenlos ist. Dies muss aber damit verbunden werden, im Hier und Jetzt für konkrete Verbesserungen für Betroffene von sexueller Gewalt gemeinsam zu einzutreten und diese Aufgabe nicht auf „nach der Revolution“ zu verschieben!




Ampelkoalition und Abtreibung: Grünes Licht für die Selbstbestimmung?

Emilia Sommer (REVOLUTION, Deutschland), Fight! Revolutionäre Frauenzeitung No. 10, März 2022

Im Koalitionsvertrag der Ampel (SPD, FDP und Grüne) werden allerhand Verbesserungen zu Schwangerschaftsabbrüchen versprochen, die auf den ersten Blick gar nicht mal so schlecht klingen. So wirbt sie mit der Streichung des Paragrafen 219a StGB, welcher das öffentliche Bereitstellen von Infos zu diesen durch Ärzt_Innen bisher kriminalisiert hatte (Werbeverbot) , einem Ausbau der Beratungsstellen sowie der Integration von Schwangerschaftsabbrüchen in die medizinische Aus- und Weiterbildung. Was davon in der Realität umgesetzt wird, bleibt abzuwarten. Feststeht jedoch, dass all dies noch lange nicht ausreichend ist.

Aktuell ist die Lage für Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen möchten, im als Paradebeispiel für legale Abtreibungen geltenden Deutschland prekär. Durch den Paragrafen 218 ist ein Abbruch illegal und bleibt nur dann straffrei, wenn 1.) die Schwangere den Abort verlangt und dem/r Arzt/Ärztin durch eine Bescheinigung nach § 219 Abs. 2 Satz 2 nachgewiesen hat, dass sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen, 2). der Schwangerschaftsabbruch von einem/r MedizinerIn vorgenommen wird (der/die nicht die Beratung durchführt) und 3.) seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind. Beratungsstellen bilden hierbei eine große Hürde: In vielen Fällen sind sie nicht flächendeckend ausgebaut und bieten vor allem keine objektive Aufklärung. Zudem sind kirchliche Träger nicht dazu verpflichtet, einen Beratungsschein auch tatsächlich auszuhändigen. Erschwerend kommt der aktuell noch geltende Paragraf 219a hinzu, welcher das „Werben“ für Schwangerschaftsabbrüche untersagt und es Betroffenen somit extrem schwer macht, Kliniken für Abbrüche zu finden.

Ursprung der Paragraphen

Paragraf 218 wurde im Jahre 1871 in das Strafgesetzbuch aufgenommen und war Ergebnis von bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts geführten Diskussionen. Neben der Frage nach Rechten des (ungeborenen) Kindes bzw. der Frau spielten immer auch bevölkerungspolitische Interessen eine entscheidende Rolle. Das ungeborene Kind wurde als Vorstufe eines Menschen gewertet und dem Staat eine Berechtigung zu dessen Schutz erteilt. Paragraf 219a wurde im März 1933 aufgrund des Ermächtigungsgesetzes ohne parlamentarische Beratung eingeführt als Resultat einer langen rechtspolitischen Debatte seit dem deutschen Kaiserreich. Er sollte angeblich Frauen vor einer Kommerzialisierung ihrer Notlage schützen und dem Entstehen eines Marktes für Schwangerschaftsabbrüche entgegentreten. Tatsächlich haben aber beide Paragrafen zum Ziel, das Selbstbestimmungsrecht von weiblichen Körpern stark einzuschränken. Dies nutzt in erster Linie der herrschenden und besitzenden Klasse, denn die bürgerliche Familie, also Mutter-Vater-Kind mit Fokus auf Monogamie und geschlechtlicher Arbeitsteilung, dient der sicheren Vererbung von Eigentum. Aber auch auf die Arbeiter_Innenklasse wirkt sich dies aus. Zwar hat das Proletariat in der Regel nicht sonderlich viel zu vererben, dennoch haben Kapitalist_Innen ein großes Interesse daran, dass es weiterhin Arbeitskräfte gibt, die sie ausbeuten können.

Aber wir können nicht davon sprechen, dass die bürgerlichen Staaten eine demographische Strategie der Bevölkerungszunahme um jeden Preis verfolgen. So hat z. B. die UNO im Interesse der imperialistischen Staaten eine Geburtenkontrollkampagne in Ländern der sog. 3. Welt verfolgt (Sterilisation von Frauen), also ganz das Gegenteil. Die Bevölkerungszunahme in Europa zur Zeit des frühen Industriekapitalismus ist mehr auf die Aufhebung der Bindung der Eheschließung an eine eigene Wirtschaft in Dorf und Stadt zurückzuführen als auf ein geltendes Abtreibungsverbot. Sie schuf erst das Eherecht auch für Besitzlose, v. a. Proletarier_Innen. Außerdem sorgt die Kapitalakkumulation durch Ersatz von Arbeitskräften durch Maschinen für eine Reservearmee von Arbeitslosen und ruiniert den Kleinbesitz. Auch damit schafft sie ein zusätzliches Lohnangebot. Die Arbeitsmigration ist eine Folge davon. Schließlich geht es dem Kapital auch um die Mobilisierung zusätzlicher Lohnarbeit durch weibliche Arbeitskräfte, insbes. hoch qualifizierter. Das steht im Widerspruch zur Rolle der proletarischen Frau „nur“ als Hausfrau mit zahlreicher Nachkommenschaft am Rockzipfel. Das Koalitionspapier bewegt sich mit seinen Reförmchen innerhalb dieses Widerspruchs. Zu guter Letzt führte die von der Arbeiter_Innenbewegung erkämpfte gesetzliche Rentenversicherung dazu, dass auch innerhalb der proletarischen Familie das Interesse an vielen Nachkommen zwecks Altersversorgung der „Nachproduktiven“ nebensächlich geworden ist.

Also bestehen Verbote wie das der Abtreibung vor allem deshalb, um die auf geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung basierende Unterdrückung der Frau in der Familie durch eine repressive Sexualmoral, Geschlechternormen, Einschränkungen der Kontrolle über den eigenen Körper, Fixierung der weiblichen Sexualität auf das Gebären von Kindern usw. aufrechtzuerhalten. Reproduktionsarbeit ist fürs Kapital v. a. Privatsache und soll es auch bleiben. Kurz gesagt, um die repressive, frauenfeindliche Struktur auch in der Arbeiter_Innenklasse zu reproduzieren. Die vorurteilsbehaftete Unterteilung der Klasse in Geschlecht, Nationalität, Religion etc. hilft hierbei, sie zu spalten und die verschiedenen Kämpfe damit zu schwächen.

Es gibt einen weiteren Klassenunterschied in der Abtreibungsfrage: Während es sich Frauen der herrschenden Klasse leisten können, den Eingriff auch in anderen Ländern durchführen zu lassen, beispielsweise nach Überschreitung der 12-Wochen-Frist, müssen die Arbeiter_Innen diesen in der Illegalität über sich ergehen lassen. Auch legal erfolgende Abbrüche erfordern aufgrund des Mangels an Kliniken und Praxen oft einen weiten Anreiseweg, welcher sowohl logistischen Aufwand bedeutet als auch eine finanzielle Belastung darstellt. Daher galt der Paragraf 218 schon kurze Zeit nach seiner Einführung als „Klassenparagraf“, da vor allem Proletarierinnen vom Verbot der Abtreibung betroffen waren. Besonders hart trifft die repressive Abtreibungsgesetzgebung auch Jugendliche, da diese nicht nur ökonomisch und sozial abhängig, sondern auch noch rechtlich benachteiligt sind.

Warum diese Problematik erst mit der neuen Ampelkoalition angegangen wird, lässt sich am ehesten mit der WählerInnenschaft der beiden Parteien FDP und Grüne beantworten. Beide haben einen starken Zuspruch im akademischen Milieu. Diese Frauen gilt es, weiterhin stärker in den Produktionsprozess einzubinden und ein Rollback zurück in die 1950er Jahre zu verhindern. Dies könnte schließlich wichtige WählerInnenstimmen kosten.

Aktuelle Lage

Im Jahre 2020 fanden in Deutschland 99. 948 statt, 96,2 % davon mit der Beratungsregelung, d. h. nicht durch medizinische (gefährdete Gesundheit der austragenden Person) oder kriminologische Indikation (Schwangerschaft beruht medizinisch feststellbar auf einem Sexualdelikt). Es ist nicht klar herauszufinden, wie viele Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen es aktuell in Deutschland gibt, allerdings ist von ca. 1.600 auszugehen. Dabei beschäftigen sich diese nicht ausschließlich mit der Konfliktberatung. Sie bildet nur einen Teilbereich von Verbänden wie Pro Familia. Ebenso ist ein beachtlicher Anteil konfessionsgebunden. Ähnlich verhält es sich mit Kliniken und Ärzt_Innen, welche Abtreibungen durchführen. In der offiziellen Liste der Bundesärztekammer sind aktuell 360 Praxen und Kliniken zu finden. Die Aufnahme in diese Liste ist freiwillig und man kann davon ausgehen, dass viele dies bewusst nicht tun, da noch immer eine ernstzunehmende Gefahr von Abtreibungsgegner_Innen ausgeht. Im Medizinstudium wird das Verfahren eines Schwangerschaftsabbruchs kaum bis gar nicht behandelt. Studierende müssen sich nötiges Wissen durch zusätzliche Seminare und Workshops selbst erarbeiten.

Schauen wir uns die Zahlen nun an, so fällt sehr schnell ein massiver Notstand auf. Zu wenige Beratungsstellen und Abbruchsmöglichkeiten sowie mangelnde Informationen erschweren Betroffenen die ohnehin nervenzerrende Prozedur noch weiter. Hinzu kommt, dass bislang die Kosten von selbstbestimmten Abbrüchen nur in selten Fällen teils oder ganz übernommen werden.

Zwar verspricht die Ampel wichtige Verbesserungen wie zum Beispiel einen flächendeckenden Ausbau von Beratungsstellen und Kliniken, dass Abbrüche Teil von ärztlicher Fort- und Weiterbildung werden sollen und diese kostenfrei möglich sein müssen, sie verrät jedoch nicht, wann und in welcher Form das passiert. Dies soll sich wohl in einer „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ entscheiden, welche bislang allerdings keine konkreteren Formalien hat. Der Paragraf 219 a soll zwar abgeschafft werden, von Paragraf 218 jedoch, welcher Abtreibungen eigentlich kriminalisiert, ist keine Rede.

Der Kampf für das Selbstbestimmungsrecht und gegen das Abtreibungsverbot ist also noch lange nicht gewonnen. Gerade jetzt ist es umso wichtiger, dass wir als Arbeiter_Innen und Schüler_Innen selbst Strukturen schaffen, die über die Zusammenhänge zwischen Abtreibungsverboten und dem kapitalistischen System aufklären und dafür kämpfen, dass auch für Arbeiter_Innen und ärmere Menschen Verhütung und Schwangerschaftsabbruch auf Verlangen kostenlos und ohne Zwangsberatung zugänglich sind. Dafür ist es wichtig, durch den Aufbau von basisoppositionellen Strukturen innerhalb der Gewerkschaften Druck auf die Gewerkschaftsbürokratie aufzubauen. Wir müssen uns auch innerhalb der Schule oder Uni organisieren und gemeinsam auf die Straße gehen, um gegen den Kapitalismus und die darauf fußenden Unterdrückungsmechanismen zu protestieren.

Daher fordern wir:

  • Hände weg von unseren Körpern! Raus mit der Kirche und anderen Religionen aus Gesundheitssystem und Gesetzgebung! Für Abschaffung aller Abtreibungsparagrafen sowie der Beratungspflicht ohne Altersbegrenzung!
  • Für den flächendeckenden Ausbau an Beratungs- und Behandlungsstellen! Vollständige Übernahme der Kosten für eine Abtreibung, egal in welchem Monat, und aller Kosten für Verhütungsmittel durch den Staat!
  • Für die Abschaffung von Fristen, bis zu denen abgetrieben werden darf! Für die ärztliche Entscheidungsfreiheit, lebensfähige Kinder zu entbinden!
  • Gegen leibliche Zwangselternschaft, wenn Frauen durch die momentanen Umstände zur Entbindung gedrängt werden! Für einen Ausbau staatlicher Kinderversorgungs- und Adoptionsmöglichkeiten!
  • Für den Ausbau von Schutzräumen für Opfer sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter!



EMMA auf die Müllhalde der Geschichte: Solidarität mit trans Frauen!

Jaqueline Katharina Singh, Infomail 1176, 24. Januar 2022

Auf dem Ticket der Grünen sind Nyke Slawik aus Nordrhein-Westfalen und Tessa Ganserer aus Bayern in den neuen Bundestag eingezogen. Somit sind das erste Mal in seiner Geschichte zwei (bekannte) trans Frauen Abgeordnete des deutschen Bundestages. Für viele aus der queeren Community war das ein Grund zur Freude und insgesamt sollte es kein Grund zur Aufregung sein, sollte man meinen. Gäbe es da nicht die bürgerlichen Feministinnen der EMMA.

Hetze gegen trans Frauen

In ihrem Artikel „Ganserer: Die Quotenfrau“ vom 19. Januar macht die EMMA mehr als deutlich, was sie davon hält. Ihrer Ansicht nach ist die Abgeordnete Tessa Ganserer ein Mann, der sich als Frau fühlt. Im Privaten wäre das vielleicht noch möglich, aber so die EMMA:

„Eine politische Dimension bekam diese private Angelegenheit, als Ganserer, zuvor acht Jahre für die Grünen im bayrischen Landtag, im Herbst 2021 für den Bundestag kandidierte: und zwar auf einem Frauenquotenplatz der grünen Liste. Statt einer Frau sitzt also jetzt ein Mensch auf diesem Platz, der körperlich und rechtlich ein Mann ist, sich jedoch als Frau ‚fühlt.’“

Von mehr Zitaten sehen wir an dieser Stelle ab. Es wird allerdings klar ersichtlich, dass für EMMA eine Frau nur Frau sein kann, wenn sie die entsprechenden Organe dazu hat. Zwischendurch wird auch noch Werbung für das neue Buch von Alice Schwarzer gemacht, welches im März rauskommt und sich ganz zufälligerweise mit „Transsexualität“ beschäftigt. Man könnte meinen, dass so eine Öffentlichkeitskampagne gestartet wurde, damit das Buch auch bloß Beachtung bekommt. Danach wird  die Initiative „Geschlecht zählt“ (https://geschlecht-zaehlt.de/) vorgestellt. Diese hat 14 Initiatorinnen, deren Namen und politische Zughörigkeit nach Recherche nicht herauszufinden waren, und laut EMMA zahlreiche UnterstützerInnen. Die Initiatorinnen haben  im November 2021 beim Wahlprüfungsausschuss des Bundestages Widerspruch gegen die offizielle Anerkennung von Ganserers Mandat eingelegt. Ihr Problem ist, dass die Grünen „innerhalb ihrer Partei einem Mann erlauben, als ‚Frau’ geführt zu werden“. (https://geschlecht-zaehlt.de/wahl-2021-frauen-erheben-einspruch/) Und das, obwohl nach deutschem Recht eine Selbstdefinition des Geschlechts nicht möglich ist. „Bei der Aufstellung von Kandidatinnen und Kandidaten für eine Bundestagswahl widersprechen diese Regel und deren Folgen jedoch dem Demokratieprinzip und dies verstößt gegen die Wahlgrundsätze laut Artikel 38 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz.“ (Ebenda) Kurzum: Die Grünen machen das Selbstbestimmungsgesetz zum Fakt, obwohl doch das alte, erzreaktionäre Transsexuellengesetz (noch) gilt. Letzteres basiert übrigens auf einer medizinisch-diagnostischen Vorstellung von Transsexualität als psychischer Erkrankung.

Am liebsten würde man sagen, dass Alice Schwarzer und die EMMA ihr Verständnis von Geschlecht aus der Steinzeit herüber gerettet haben. Leider stimmt das nicht. Je nachdem, welche Periode der Steinzeit wir betrachten, wurde das sogar dort fortschrittlicher gehandhabt. Aber was steckt hinter der eindimensionalen Auffassung, dass alleinig Geschlechtsorgane bestimmen, was Geschlecht ist? Bevor wir dazu kommen, wollen wir jedoch zuerst einmal klären, aus welchen Faktoren sich Geschlecht zusammensetzt.

Geschlecht ist mehr als die Summe von Körperteilen

Tradierte Geschlechterrollen und geschlechtliche Binarität sind selbst gesellschaftliche, historische Produkte. Es ist keineswegs „natürlich“, dass Frauen oder Männer dieses oder jenes tun oder wir nur in diesen zwei Kategorien denken. Geschlecht ist vielmehr eine multifaktorielle Kategorie, die weder rein biologisch, psychisch oder allein Ausdruck eines sozialen Konstrukts ist, sondern vielmehr ein Verhältnis aus biologischem Geschlecht (sex), Geschlechterrollen (gender) und der eigenen Identität (Geschlechtsidentität) zum Ausdruck bringt, geprägt und bestimmt von der jeweiligen Produktionsweise und Gesellschaftsformation.

Schon allein biologisch gesehen ist die geschlechtliche Binarität ein unzureichendes Konzept. Natürlich gibt es ein männliches und ein weibliches Geschlecht, doch finden wir zwischen diesen Polen, diesen „Reinformen“ viele Variationen, so dass es angemessener ist, von einer Bipolarität zu sprechen.

Das ist übrigens nicht die neuste historische Entdeckung. Bereits in den 1920er Jahren wurde von dem Biologen Richard Benedikt Goldschmidt das Thema angeschnitten. In den 1980er und 1990er Jahren forschten und veröffentlichen die beiden Naturwissenschafterinnen Anne Fausto-Sterling und Evelyn Fox wichtige Arbeiten zu dem Thema, darunter den Artikel „Die fünf Geschlechter: Warum männlich und weiblich nicht genug sind“ (1993 in der Zeitschrift Science publiziert). Gleichzeitig ist es aber auch wichtig herauszuarbeiten, dass es sich dabei um Facetten zwischen den zwei Polen von XX- und XY-Chromosomen handelt. Ein drittes Geschlecht wie etwa ein Z-Chromosom gibt es nicht.

Geschlechterrollen (gender) sind die Stereotype, in die man uns reinzupressen versucht. Wer kennt’s nicht? Männer sollen stark sein und arbeiten. Frauen sind emotional, schwach und können sich sooo gut kümmern. Diese Rollenbilder haben sich im Laufe der Geschichte verändert. Sie sind weder spontaner Ausdruck des inneren Wesens eines Individuums noch eine unvermittelte Darstellung der Biologie, sondern werden von der patriarchalen Rechtfertigung der Frauenunterdrückung geprägt. Im Kapitalismus haben sie bestimmte Grundlagen: die geschlechtliche Arbeitsteilung und die bürgerliche Familie. Sexismus und Transphobie dienen dazu, diese Verhältnisse zu rechtfertigen. Dass Hausarbeit vor allem „privat“ verrichtet wird, erscheint so als quasi natürlich, verbilligt die Ware Arbeitskraft, zwängt Frauen in die doppelte Ausbeutung und Unterdrückung im Reproduktionsbereich und vertieft zugleich die Spaltung unter den Lohnabhängigen.

Die geschlechtliche Arbeitsteilung und die bürgerliche Familie bilden nicht nur die Grundlage der Frauenunterdrückung, sondern auch von anderen Formen geschlechtlicher Unterdrückung wie beispielsweise jener von Schwulen und Lesben, sondern auch der Unterdrückung von Transpersonen.

Ein Kennzeichen dieser Form der Unterdrückung besteht darin, dass negiert wird, dass die Geschlechtsidentität einer Person und ihr biologisches Geschlecht nicht übereinstimmen müssen. Du kannst geboren werden und dein biologisches Geschlecht passt mit der Geschlechterrolle zusammen, die damit einhergeht. Du kannst aber auch teilweise oder komplett im Widerspruch dazu stehen oder diesen entwickeln. Welches ihre „richtige“ Geschlechtsidentität ist müssen die Menschen ganz wie ihre sexuelle Orientierung selbst bestimmen können. Die Unterdrückung von Transpersonen kennzeichnet aber gerade, dass ihnen dieses Selbstbestimmungsrecht über ihre eigene (Geschlechts-)Identität verwehrt wird. Das noch bestehende Transsexuellengesetz basiert auf dieser Verweigerung und ist daher transphob und reaktionär – ganz wie die Kampagne, die die EMMA und „Geschlecht zählt“ führen.

EMMAs Feminismus

So wie die bürgerliche Geschichtsschreibung auch gerne versucht zu vermitteln, dass Nationen, Volk und Vaterland immer existiert haben, wird durch die reine Fixierung auf Geschlechtsorgane das Geschlecht als eine rein biologische Kategorie naturalisiert, als eine unveränderliche Essenz festgeschrieben, die schon immer so gewesen wäre und bleiben müsste. Klar, durch die reine Existenz von Körpern wird es Kategorisierungen geben – aber sie sind nicht unveränderlich und werden wie bereits geschrieben von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen mit geprägt.

Dass die EMMA sich eines starren biologischen Bildes bedient, ist kein Zufall. Vielmehr ist sie sogar darauf angewiesen. Eine materialistische Erklärung, woher Frauenunterdrückung eigentlich kommt, ist sie uns nämlich bis heute schuldig geblieben. Von deren Verbindung mit der Klassengesellschaft will sie erst gar nichts wissen. Statt dem nachzugehen und einen Ausweg zu bieten, werden unkritisch Ursula von der Leyens Brief über Sexismus im Beruf veröffentlicht, schön die antimuslimische Organisation Femen unterstützt, Islamophobie, wo es möglich ist, und Zweifel an der Existenz von Transmenschen geschürt. Oder in anderen Worten: Die Wurzel von Frauenunterdrückung und LGBTIAQ-Diskriminerung anzugreifen, spielt für die EMMA keine Rolle. Vielmehr geht es ihr darum, im kapitalistischen System mehr mitsprechen zu dürfen. Ein paar Quoten mehr hier, ein paar feministische Projekte da. Die EMMA ist das Sinnbild der verstaubten, weißen, bürgerlichen Frauenpolitik, die sich am biologischen Geschlecht festkrallt, weil sie gar nicht das Interesse hat, die Verhältnisse grundsätzlich in Frage zu stellen.

So sind Frauen halt Frauen, weil sie einen Uterus haben, mit dem sie Kinder gebären können, und werden unterdrückt, weil es eben so ist. trans Personen hingegen greifen dieses biologistische, essentialistische Bild an und erscheinen ihr als männliche Attacke auf die hart erkämpften Rechte der Frau.

Welche Lösung?

Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass der Queerfeminismus richtig liegt. Ja, die reaktionären Geschlechterrollen gehören (genau wie die EMMA) auf den Müllhaufen der Geschichte. Das Problem ist jedoch, dass das nicht so einfach geht, nur weil man es erkannt hat. Performative Akte, parodistische Übersteigerungen und Karikatur bestehender Normen können zwar reaktionäre Denk- und Handlungsmuster kenntlich machen, streifen das Problem aber letztlich nur an der Oberfläche.

Die Queer Theory erklärt das biologische Geschlecht als solches zu einer Konstruktion. Sexismus und Heteronormativität erscheinen nicht als ideologischer Ausdruck und Ergebnis gesellschaftlicher Unterdrückung, die auf einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung beruht, sondern Einstellung und Haltung werden zur Ursache der Unterdrückung erklärt. Die „heteronormative Matrix“, das „binäre“ Bild der Geschlechter, produzierte der Ideologie des Dekonstruktivismus zufolge tatsächlich erst „die Geschlechter“, so wie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als Ergebnis des Geschlechterdiskurses erscheint und nicht umgekehrt. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung wird somit nicht als Ursache und Reproduktionsmechanismus der Frauenunterdrückung angesehen. Folgerichtig wird im Hier und Jetzt versucht, die vorhandene Kategorisierung abzuschaffen, statt die Verhältnisse zu bekämpfen und zu überwinden, deren Ausdruck sie sind. Dies ist letztlich eine Sisyphusarbeit, gerade so als würde man sich einbilden, kapitalistische Ausbeutung oder Unterdrückung dadurch abzuschaffen, dass die AusbeuterInnen über die Ausgebeuteten nicht mehr schlecht sprechen. Gerade hier wird deutlich, wie sehr der abstrakte Appell an „Respekt“ nicht nur ins Leere geht, sondern eigentlich in eine verkehrte Richtung. Schließlich besteht unser Hauptproblem nicht darin, dass die AusbeuterInnen und UnterdrückerInnen zu wenig Respekt zeigen, sondern dass die Ausgebeuteten und Unterdrückten ihren FeindInnen viel zu viel Achtung entgegenbringen.

RevolutionärInnen sollten dafür kämpfen, dass trans Frauen wie alle anderen Frauen behandelt werden – unabhängig davon, ob sie Operationen in Anspruch genommen haben oder Hormone nehmen.

Deswegen kämpfen wir für die Aufhebung aller diskriminierenden Gesetze gegen trans Personen, den Schutz vor Diskriminierung am Arbeitsplatz und im öffentlichen Leben. Wir stehen für das Recht auf Selbstidentifizierung der Geschlechtsidentität, soweit es den Staat betrifft, und auch beispielsweise auf kostenlose medizinische Beratung sowie, wenn gewünscht, Geschlechtsangleichung.

Gleichzeitig muss festgehalten werden: Im Kapitalismus kann zwar eine formale, rechtliche Gleichstellung erkämpft werden – wobei nicht zuletzt die hartnäckige Verteidigung des Transsexuellengesetzes zeigt, wie schwer selbst das ist. Aber eine Überwindung der gesellschaftlichen Wurzeln der Unterdrückung von Transpersonen erfordert letztlich die Überwindung des Kapitalismus selbst. Der Kapitalismus bringt die starre binäre Einteilung in Mann und Frau auf Basis biologischer Merkmale immer wieder hervor, um die geschlechtliche Arbeitsteilung zu rechtfertigen und aufrechtzuerhalten. Das muss klar benannt werden, um gegen die Auslagerung der Reproduktionsarbeit ins Private und für die Vergesellschaftung der Hausarbeit zu kämpfen. Gerade weil sie schon durch ihre bloße Existenz die heteronormativen Rollenbilder und Geschlechtsidentitäten – und somit indirekt auch die ihnen zu Grunde liegende Arbeitsteilung in Frage stellen – erfahren Transmenschen, insbesondere -frauen im Schnitt mehr Gewalt, Arbeitslosigkeit und schlechtere Arbeitsbedingungen als die Masse der Frauen und Ausgebeuteten. Das heißt: Wir kämpfen für die Gleichbehandlung von trans- und cis Frauen. Gleichzeitig macht es Sinn, Unterschiede wo sie vorhanden sind, zu benennen.

Anstatt Unterdrückte gegeneinander auszuspielen und zu spalten, sollte man die Kämpfe miteinander verbinden. Wenn Menschen meinen, dass sich trans Menschen zum Spaß zu ihrer unterdrückten Identität bekennen, gesellschaftliche Stigmatisierung, Diskriminierung oder gar Gewalt aussetzen, um so eine „feministische Bewegung“ zu unterwandern, dann will man am liebsten die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Stattdessen gilt es, den gemeinsamen Kampf auszuweiten und demokratische Forderungen mit sozialen zu verbinden, z. B. für ein Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten und für eine Arbeitszeitverkürzung. Konkurrenz kann nur durch einen sozialen und politischen Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung überwunden werden, durch die Schaffung einer ArbeiterInnenbewegung, die alle Formen der Ausbeutung und Unterdrückung bekämpft.




USA: Eine Geschichte von zwei Erschießungen

Andy Yorke, Infomail 1172, 5. Dezember

Nach dem Freispruch des rechtsgerichteten Selbstjustizlers Kyle Rittenhouse am 19. November in den USA ist es zu massiven Kontroversen gekommen. Videos zeigen, wie Rittenhouse in Kenosha, Wisconsin, während eines Protests gegen die Polizei am 25. August 2020 zwei Demonstranten erschießt und mindestens einen weiteren verwundet, indem er dem unbewaffneten Schwarzen Jacob Blake sieben Mal in den Rücken schießt und ihn dadurch lähmt. Nach dem angekündigten Freispruch twitterte der ehemalige National-Football-League-Spieler Colin Kaepernik: „Wir haben soeben erlebt, wie ein System, das auf weißer Vorherrschaft aufgebaut ist, die terroristischen Handlungen eines weißen Verteidigers dieser Vorherrschaft bestätigt hat“. Vorhersehbarerweise haben rechtsgerichtete Gruppen und sogar Donald Trump selbst Rittenhouse als Helden bezeichnet.

Erstaunlich und erschreckend ist jedoch, dass einige Linke argumentieren, er sei kein Rassist oder Faschist, sondern habe sich einfach nur verteidigt, und diejenigen, die das Gegenteil behaupten, seien nur in einen angeblichen linksliberalen „Kulturkampf“ verwickelt. Wenn wir den Fall isoliert, sondern im Kontext des Rassismus in den USA, der Polizeigewalt und des Wachstums der extremen Rechten betrachten wird deutlich, dass die Morde und der Freispruch Teil eines rassistischen, rechtsgerichteten Systems sind.

Rittenhouse und die Realität

Nach den Schüssen auf Jacob Blake kam es in Kenosha zu Protesten – eine Fall in einer langen Reihe von Protesten seit Trayvon Martin, die eine breitere und wütendere Bewegung ausgelöst haben, die Gerechtigkeit fordert, die jedoch nur selten kommt. Der 17-jährige Rittenhouse nahm ein ArmaLite-AR-15-Gewehr und stand vor einer Tankstelle neben rechtsextremen Milizen Wache. Die Polizei gab ihnen sogar Wasser und dankte ihnen für ihr Kommen. Sie griff ihrerseits die DemonstrantInnen mit Tränengas und Gummigeschossen an, was zu einer wütenden Reaktion führte, bei der einige Gebäude verwüstet und in Brand gesetzt wurden. Ein völlig unbewaffneter, möglicherweise psychisch kranker Mann, Joseph Rosenbaum, sah Rittenhouse und „griff“ ihn an, möglicherweise um ihn zu entwaffnen. Er wurde von Rittnehouse in den Kopf geschossen, obwohl er wusste, dass Rosenbaum unbewaffnet war.

Andere, die den Mord sahen, identifizierten Rittenhouse als einen rechtsextremen „aktiven Schützen“ und versuchten, ihn zu entwaffnen. Anthony Huber wurde dabei erschossen, nachdem er Rittenhouse mit seinem Skateboard getroffen hatte – kaum eine tödliche Waffe. Gaige Grosskreutz, ein Sanitäter und Rechtsbeobachter der American Civil Liberties Union (Amerikanische Bürgerrechtsunion) auf der Demonstration, trug eine Handfeuerwaffe bei sich und sagte, er habe sich nicht dazu durchringen können, auf Rittenhouse zu schießen, und wurde seinerseits am Arm verwundet. Umstehende wiesen die Polizei auf Rittenhouse als den Schützen hin, der immer noch die Waffe trug, aber die Hände zum Aufgeben erhoben hatte, doch die Polizei fuhr vorbei, ohne ihn zu festzunehmen.

Manche sagen, es gehe nicht um Rassismus, weil er weiße AktivistInnen erschossen habe, die für „Black Lives“ protestierten – „Rassenverräter“ im Sprachgebrauch der extremen Rechten – oder sich nur verteidigt habe. Aber was gab Rittenhouse das Recht, sich zu „verteidigen“? Ist es nicht genauso vernünftig zu sagen, dass die DemonstrantInnen versuchten, sich und ihren Protest vor ihm zu verteidigen? Einige haben versucht, Rosenbaum für seinen eigenen Tod verantwortlich zu machen. Er hatte psychische Probleme und war gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden, verhielt sich aggressiv und es wurde in Frage gestellt, ob er überhaupt ein Demonstrant war, aber Tatsache ist, dass er niemanden bei der Demonstration angegriffen hat. Wenn Rittenhouse nicht nach Kenosha gefahren wäre, wäre niemand gestorben.

Der Prozess, der von einem rechtsgerichteten Richter geleitet wurde, zeigte, dass die gleiche Voreingenommenheit auch im amerikanischen „Justiz“-System herrscht. Der Richter verbot den StaatsanwältInnen, die drei erschossenen Männer als „Opfer“ zu bezeichnen und irgendetwas aus Rittenhouses Texten in sozialen Medien vor dem Mord zu erwähnen, was gezeigt hätte, dass er ein eifriger Pro-Trump- und Pro-Polizei-online-Aktivist war (er hatte eine Spendenaktion organisiert), der „Blue Lives Matter“ propagierte, die rechte, rassistische Unterstützung für die Polizei gegen „Black Lives Matter“. Ebenso wenig durften die AnwältInnen der Opfer ein Video anführen, an dem sie geltend machten, Rittenhouse habe vor einer CVS-Drogerie (CVS: Einzelhandelsunternehmen der Pharmaziebranche; Anm. d. Red.) zu schwarzen Menschen gesagt: „Junge, ich wünschte, ich hätte mein verdammtes Jagdgewehr und würde euch alle über den Haufen schießen.“ Seine Verteidigung hingegen durfte die Protestierenden als PlündererInnen und RandaliererInnen bezeichnen und damit im erweiterten Sinne auch die Opfer von Rittenhouse diffamieren, obwohl es keine Beweise dafür gibt, dass sie irgendetwas in dieser Richtung getan haben.

Dass Rittenhouse freigesprochen wurde, lag zum Teil an der Voreingenommenheit des Richters, zum Teil an den fast ausschließlich weißen Geschworenen und zum Teil an einem hochkarätigen Verteidigungsteam, das von der Rechten und von Polizeigruppen mit 2 Millionen US-Dollar ausgestattet wurde. Während des Prozesses zeigte er keine Reue gegenüber seinen Opfern. Als er im noch laufenden Verfahren gegen Kaution auf freiem Fuß war, wurde er in einer Kneipe mit Mitgliedern der faschistischen Proud Boys fotografiert, wobei er das auf dem Kopf stehende OK-Zeichen der weißen RassistInnen zeigte (er sagte, er wisse nicht, was es bedeute). Der Richter verbot auch dies, vor Gericht zu erwähnen. Ex-Präsident Trump beglückwünschte ihn und der Fox-Nachrichtensprecher Tucker Carlson verteidigte Rittenhouse und seine Taten und implizit auch jede/n, der/die seinem Beispiel folgt: „Wie schockiert sind wir darüber, dass 17-Jährige mit Gewehren beschlossen haben, die Ordnung aufrechtzuerhalten, wenn es sonst niemand tut?“

Fakten oder sozialer Kontext

„Fakten“ haben immer eine soziale Bedeutung, wie die Umkehrung dieser Rollen zeigt. Wenn ein/e junge/r Schwarze/r mit einem automatischen Gewehr auf die Straße und in einen rechten Aufmarsch gegangen wäre und drei TeilnehmerInnen erschossen hätte, wäre er/sie wahrscheinlich von der Polizei getötet worden, noch bevor sich die „DemonstrantInnen“ um ihn/sie kümmern konnten. Wäre diese Person verhaftet worden, hätte sie mit ziemlicher Sicherheit eine sehr lange Gefängnisstrafe oder in einem anderen Staat sogar die Todesstrafe erhalten. Wenn ein/e weiße/r Linke/r das Gleiche getan hätte, wäre er/sie mit Sicherheit viel schlechter behandelt worden als Rittenhouse. Es ist also nicht nur eine Frage des weißen Privilegs, sondern auch der inhärenten arbeiterInnenfeindlichen und gegen Linke voreingenommenen Haltung der „dünnen blauen“ Frontlinie des Staates, der Polizei und des dahinter stehenden Justiz- und Gefängnissystems im Kapitalismus.

Tragischerweise haben wir den Beweis dafür. Am 28. August 2020, drei Tage nach den vielbeachteten Morden in Kenosha, erschoss der antifaschistische Aktivist Michael Reinoehl in Portland, Oregon, den rechtsextremen Gegendemonstranten Aaron Danielson. Danielson war zu diesem Zeitpunkt mit gefährlichem Pfefferspray, einem ausziehbaren Polizeischlagstock und einem Gewehr bewaffnet. Nachdem er tagsüber an einem provokativen Pro-Trump-Konvoi teilgenommen und getrunken hatte, waren Danielson und ein weiterer, ebenfalls bewaffneter Angehöriger der rechtsextremen Gruppe Patriot Prayer absichtlich in eine Antipolizeidemonstration gelaufen. Reinoehl hatte das gleiche „Recht“, sich zu verteidigen wie Rittenhouse, und er erklärte vor und nach der Schießerei, er habe versucht, die DemonstrantInnen vor rechtsextremen Anschlägen zu schützen.

Aber das Ergebnis hätte nicht unterschiedlicher sein können. Bei der polizeilichen Fahndung nach Reinoehl wurde dieser einige Tage später von BundespolizistInnen erschossen, ohne dass ein Versuch unternommen wurde, ihn festzunehmen, wie Zeugen berichten, die auch sagen, dass er seine Waffe nicht gezogen hatte. Trump, der Reinoehl zuvor als „kaltblütigen Mörder“ bezeichnet hatte, sagte unter dem Jubel seiner Fans: „Wir haben ihn erwischt“: „Dieser Mann war ein gewalttätiger Krimineller, und die US-Marschalls haben ihn getötet. Und ich sage euch etwas, so muss es sein. Es muss Vergeltung geben.“

Trump hat wiederholt auf das Schreckgespenst des „linksradikalen Faschismus“ und der Antifagewalt eingehämmert, während er sich weigerte, die tatsächliche organisierte Gewalt der Rechten und der Polizei zu verurteilen, ja Kommentare wie der obige schüren sie sogar noch. Doch Danielsons Tod war die erste aufgezeichnete Tötung durch einen Antifaschisten, verglichen mit 329 Morden durch weiße RassistInnen und andere RechtsextremistInnen, wie aus einem 25 Jahre zurückreichenden Bericht des Zentrums für strategische und internationale Studien (CSIS) hervorgeht. Außerdem wurde festgestellt, dass die Rechte im Jahr 2020 für 67 Prozent der inländischen Terroranschläge und -komplotte verantwortlich war, wobei die Hälfte dieser Gewalt gegen DemonstrantInnen gerichtet war. Darüber hinaus ist die Polizei von weiß-suprematistischen Gruppierungen durchsetzt.

Trump, Fox News und die Rechten stellen die Realität auf den Kopf, indem sie eine ideologische Blase aus Bedrohung und linker Verschwörung aufpeitschen, um die Unterdrückung antirassistischer Proteste durch Polizei und Milizen zu entschuldigen und zu ermöglichen. Letztlich sind sie mitverantwortlich für die Morde Rittenhouses.

„Wir dürfen nicht voreingenommen sein“?

Einige haben behauptet, dass die Linke, wenn die Situation umgekehrt wäre, die Angeklagten verteidigen und ihren Freispruch unterstützen würde. Deshalb müssten wir Rittenhouse anders behandeln.

Die Wahrheit ist, dass Linke nicht auf rechtsextreme Demos schlendern, weil sie gelyncht würden. RechtsextremistInnen tun dies so selbstbewusst, um die DemonstrantInnen einzuschüchtern oder zu provozieren, weil sie wissen, was der Fall Rittenhouse bewiesen hat: Die Polizei, die Gerichte, republikanische PolitikerInnen und ein Großteil der Medien werden sie verteidigen. Trotz der Anwesenheit einzelner DemonstrantInnen mit Handfeuerwaffen ist die Linke im Allgemeinen unbewaffnet. Die kleinen, organisierten bewaffneten Reaktionen, die sich entwickelt haben, sind defensiv, eine schützende Antwort auf rechtsextreme Gewalt, aber auch unzureichend. Die Polizei wird sie angreifen, statt ihnen zu danken. In der Zwischenzeit bilden bewaffnete Mobilisierungen zur Einschüchterung oder zum Angriff auf die Linke und Minderheiten den einzigen Grund für die Existenz faschistischer Milizen.

Beide Ergebnisse, der Freispruch von Rittenhouse und der Polizistenmord an Reinoehl, wurden von der extremen Rechten gefeiert, allen voran von Trump. Ein Proud Boy erklärte, die Gewalt werde erst aufhören, wenn die Leichen der Linken „wie Klafter Holz aufgestapelt sind“. Die Lehre aus dem Fall Rittenhouse lautet, dass die Rechten unsere Demos ungestraft kontrollieren, einschüchtern und unterdrücken können, die aus dem Fall Reinoehl, dass das System sie verteidigen wird, wenn wir uns wehren. Die Urteile werden die Rechten nur ermutigen, die darin einen Freibrief sehen werden, ihre bewaffnete „Sicherheit“ auf unseren Protesten zu verstärken. Die einzige Antwort besteht in organisierter Selbstverteidigung.

SozialistInnen unterstützen das Recht der ArbeiterInnen und Unterdrückten, sich selbst zu verteidigen, von der Streikpostenkette bis zu den „Black Panthers“. Wir stellen uns nicht auf die Seite der Polizei und der Gerichte, wenn sie die Armen verurteilen und kriminalisieren, weil sie nach Polizistenmorden aufbegehren, Polizeistationen niederbrennen, auf denen sie festgesetzt, geschlagen und eingesperrt wurden, oder Geschäfte für die Dinge plündern, die der Kapitalismus anpreist, die sie sich aber nicht leisten können.

Ausschreitungen sind jedoch keine Lösung. Nur eine Massenbewegung, die sich auf Organisationen mit gewählten Delegierten aus Nachbarschaftskomitees, Gewerkschaftsgruppen und Betrieben, Hochschulen und Schulen sowie linken und antirassistischen Organisationen stützt, kann einen anhaltenden Massenkampf für Gleichheit und Gerechtigkeit führen. Dieser Kampf wäre zwar überwiegend politisch, um die Polizei zu entwaffnen und ihnen die Geldmittel zu entziehen und den Gefängnisstaat abzubauen, doch müsste eine solche Bewegung die Verteidigung ihrer Proteste und Gemeinden gegen rechtsextreme oder polizeiliche Gewalt „mit allen notwendigen Mitteln“ organisieren. Als Bewegung der Armen und der ArbeiterInnenklasse könnte sie zwangsläufig dazu beitragen, die Kräfte für die Beseitigung des Kapitalismus selbst aufzubauen, da dies der einzige Weg ist, die Welt von Rassismus und Polizei zu befreien.




Streit mit Polen: neue Zerreißprobe für die EU?

Aventina Holzer, Neue Internationale 260. November 2021

Der Konflikt zwischen der EU und Polen eskaliert. Das Parlament und die Regierung in Warschau weigern sich weiterhin, den übergeordneten Charakter des EU-Rechts gegenüber dem nationalen anzuerkennen. Das rechte, nationalistische PiS-geführte Kabinett wehrt sich gegen eine „schleichende Kompetenzerweiterung“ der EU. Ministerpräsident Morawiecki bezichtigt sie der Erpressung.

Das eigentliche Ziel der polnischen Regierung besteht vor allem darin, eigene rechte und reaktionäre Verfassungsreformen und Angriffe auf Frauenrechte gegen etwaige Einsprüche der europäischen Gerichtsbarkeit zu sichern. Das Ziel von Morawiecki und Co. ist also durchweg reaktionär.

Gleichwohl geht es natürlich auch der EU nicht um abstrakte, rechtsstaatliche Prinzipien, sondern vielmehr darum, die Vereinigung eines imperialistischen Blocks unter deutscher und französischer Vorherrschaft voranzutreiben. Und dazu gehört auch, dass nationales Recht dem der EU untergeordnet ist, um so auch über diesen Hebel die Dominanz der stärksten Staaten gegenüber ökonomisch und politisch untergeordneten zu sichern.

Nachdem die polnische Regierung nicht freiwillig nachgeben will, packt die EU die Keule aus. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) verurteilte Polen zu einem Zwangsgeld von einer Million Euro für jeden Tag, an dem die vom obersten europäischen Gericht gefällten Urteile nicht umgesetzt werden.

Diese Sanktionen sind finanziell noch leicht zu verkraften. Dramatisch würde es für Polen, wenn die EU die Auszahlung der Gelder aus dem Corona-Hilfsfonds, ingesamt 36 Milliarden Euro, ganz oder teilweise zurückhalten würde.

Was ist passiert?

Seit Jahren spitzt sich der Konflikt zwischen der EU und Polen immer mehr zu. Ursprung der Debatte ist eine 2017 verabschiedete Justizreform die im Widerspruch zum geltenden EU-Recht steht. Ihr Hauptpunkt befasst sich mit einer engeren Verzahnung von Legislative (Politik) und Judikative (Justiz), zum Beispiel die Möglichkeit für den/die JustizministerIn, Gerichtsvorsitzende inklusive StellvertreterInnen abzuberufen.

Der ursprüngliche Konfliktauslöser waren Wahlen von fünf neuen VerfassungsrichterInnen in Polen. Diese gerieten zum Anlass für sechs Gesetze zur Novellierung des Verfassungsgerichts, die fast alle die Möglichkeiten der Nachbesetzung oder Sanktionierung der RichterInnen durch die Politik betrafen. 2018 wurde eine Disziplinarkammer im Verfassungsgerichtshof eingerichtet, die jede/n RichterIn oder Staatsanwalt und Staatsanwältin entlassen kann.

Dies wurde explizit gegen Einwände der EU-Kommission beschlossen, die jetzt beim EuGH versucht, die Gesetzesänderungen in Polen durch Klagen rückgängig zu machen. Eine weitere Eskalation als Reaktion darauf inszenierte der polnische Verfassungsgerichtshof im Oktober 2021. Dieser entschied, dass Teile des EU-Rechts nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar seien, die ihrerseits über dem EU-Recht stehen würde.

Hintergründe

Solche Konflikte sind innerhalb der EU nicht neu. Im Grunde tauchen sie immer wieder auf, wenn die Integration des Staatenbundes vertieft, nationale Gesetze vereinheitlicht werden sollen – und Widerstand gegen EU-Recht, das mit dem eigenen im Widerspruch steht oder eigene nationale Ansprüche beschränkt, erfolgte in der Geschichte der EU keineswegs nur seitens Leuten wie Orbán oder Morawiecki. Denken wir nur an die sog. Flüchtlingskrise, bei der die GegnerInnen einer zeitweiligen Öffnung der EU-Grenzen ihrerseits Grenzkontrollen errichteten oder die Rettung von Menschen im Mittelmeer verhinderten. Diese Gewaltorgien, an denen sich etliche der heute schärfsten KritikerInnen Polens an vorderster Front beteiligten, verdeutlichen, dass es beim aktuellen Konflikt weder von Seiten Polens noch der EU um Demokratie und BürgerInnenrechte geht.

Letztlich ist dieser Zwist nur ein Vorwand. Die EU-Kommission und die sie tragende Parlamentsmehrheit, hinter der der Mainstream der politischen Kräfte steht, nehmen die Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien, deren sich Polen oder auch Ungarn schuldig gemacht haben, zum Anlass, in der Staatengemeinschaft für klarere Verhältnisse zu sorgen.

Ziel ist dabei sicher nicht, Polen aus der EU zu treiben. Ebenso wenig will das eigentlich die Regierung in Warschau, denn nicht nur für die EU, sondern vor allem für das Land selbst wäre ein Austritt aus der Union eine politische und vor allem ökonomische Katastrophe.

Polen spielt wie ganz Osteuropa eine wichtige Rolle im Rahmen der Wertschöpfungsketten und Gesamtproduktion des deutschen Kapitals. Es ist integraler Bestandteil des halbkolonialen Hinterlandes des deutschen Imperialismus.

Wie in vielen anderen osteuropäischen Ländern haben die neoliberalen Reformen und die Zerstörung ganzer Strukturen nach der Restauration des Kapitalismus auch dazu geführt, dass große Teile des KleinbürgerInnentums, die Bauern-/Bäuerinnenschaft, aber auch die städtischen Mittelschichten und vor allem die ArbeiterInnenklasse diese „Reformen“ mit Arbeitslosigkeit, prekären Arbeitsbedingungen und sozialer Unsicherheit bezahlen mussten. Auf politischer Ebene drückte sich das darin aus, dass nach Jahren der wirtschaftsliberalen Regierungen und dem Abwirtschaften der aus den ehemaligen stalinistischen Parteien hervorgegangenen Sozialdemokratie der Rechtspopulismus als nationale und soziale Alternative erschien.

Auf ökonomischer Ebene erweist sich dieser als durchaus willfährig und rollt ausländischen InvestorInnen besonders aus Deutschland geradezu den roten Teppich aus, wenn es um Arbeitsrecht, Umweltschutz usw. geht. Umso schriller und aggressiver versuchen sich Nationalismus und Populismus, bei anderen Fragen in Szene zu setzen – z. B. den Angriffen auf Frauenrechte wie das auf Abtreibung, auf die Pressefreiheit oder in Verfassungsfragen. Garniert wird das Ganze mit demagogischen Angriffen auf die EU-Institutionen, die für alle Probleme des Landes verantwortlich gemacht werden, insbesondere auch die Zerstörung „polnischer“ oder „christlicher“ Werte.

Schließlich kommt hinzu, dass Polen in der EU seinen eigenen Spielraum zu erweitern trachtet, indem es sich als enger Verbündeter der USA und vor allem ihrer aggressiven Politik gegenüber Russland präsentiert. Schließlich arbeiten die maßgeblichen Parteienbünde und deren Stiftungen in der EU auch daran, in Ländern wie Polen und Ungarn bei zukünftigen Wahlen ihre engeren Verbündeten an die Macht zu bringen.

Reaktion der EU

Angesichts dieser Lage wird sich der Konflikt zweifellos verschärfen. Auch wenn die Staats- und RegierungschefInnen Deutschlands und Frankreichs, Merkel und Macron, die Lage nicht zu sehr eskalieren wollen, so gibt es letztlich wenig Kompromissspielraum.

Die EU, die bereits einige Sanktionen gegen Polen verhängt hat, wird auch weitere Methoden nutzen, um es unter Druck zu setzen. Unter anderem ist ein Vertragsverletzungsverfahren möglich, wobei schon eines im Juli wegen Verletzung von Grundrechten von LGBTQIA+-Personen eingeleitet wurde. Auch ein „Artikel 7“-Verfahren wäre denkbar. Dies kommt einer Suspendierung gleich und würde Polen das Stimmrecht kosten. Unmittelbar ist aber damit zu rechnen, dass Druck über die EU-Gelder (in diesem Fall zum Beispiel Covid-19-Hilfezahlungen, die um die 36 Milliarden Euro ausmachen) ausgeübt wird, bis bestimmte Gesetze (wie die Justizreform) zurückgenommen werden.

Alle diese Faktoren spitzen den Konflikt natürlich weiter zu. Wegen der langen oppositionellen Haltung zur EU wird auch schon länger spekuliert, ob Polen nicht auch mit dem Ausstieg aus der Föderation liebäugelt. Einige führende PolitikerInnen der PiS drohten schon konkret mit dem Austritt. Eine Person verglich die Rolle der EU mit der Besatzung durch „die Nazis und die Sowjets“. Das sind jedoch vereinzelte Stimmen und die Opposition versucht momentan stark, die PiS in eine Rolle der EU-skeptischen Partei zu drängen. Die polnische Bevölkerung ist überwiegend für einen Verbleib in der EU (über 80 %). Das wurde auch nochmal durch Donald Tusks Demonstrationen gezeigt, die sich für einen Verbleib von Polen in der EU stark machten. Morawiecki weiß, dass ein Polexit extrem unpopulär wäre. Daher erklärte er wiederholt, dass Polen mit Sicherheit nicht die Absicht hätte, die EU zu verlassen.

Die ökonomische Situation verdeutlicht auch, wie selbstmörderisch dieses Unternehmen wäre. Die EU muss hierbei als ökonomischer Block und nicht als „Wahrerin der Rechtsstaatlichkeit“ oder als „Friedensprojekt“ verstanden werden. Dann werden die Abhängigkeitsverhältnisse augenscheinlicher. Polen ist der größte Empfänger von EU-Geldern und stark abhängig vom Zugang zum Binnenmarkt. Als Zulieferer, speziell für Deutschland, bildet es ein wichtiges Glied in den Wertschöpfungsketten Europas.

Wie geht es weiter?

Der Austritt Polens bleibt also unwahrscheinlich, genauso aber die Rücknahme der Justizreform durch die gegenwärtige Regierung.

Vielmehr setzt die EU, ähnlich wie in Ungarn, auf ein breites, klassenübergreifendes Oppositionsbündnis, das die PiS-geführte Regierung bei den nächsten Wahlen ablösen kann. Betrachten wir den Charakter der Bewegungen für das Recht auf Abtreibung und gegen die Einschränkungen demokratischer Rechte in Polen, so ist eine solche Entwicklung nicht von der Hand zu weisen. Im letzten Herbst demonstrierten Hunderttausende gegen die Regierung. Die politische Führung der Opposition lag und liegt freilich bei der „Bürgerkoalition“ Koalicja Obywatelska (KO), die von Liberalkonservativen wie Donald Tusk, dem ehemaligen Minister- und EU-Ratspräsidenten, geführt wird.

Die ArbeiterInnenklasse, Gewerkschaften und linke Parteien wie die SLD (Bund der Demokratischen Linken) und Lewica Razem (Linke Gemeinsam) ordnen sich in diesen Bewegungen dieser faktisch politisch unter. In Polen erscheint der politische Konflikt als einer zwischen nationalkonservativem Populismus und EU-konformem Liberalismus. Genau darin aber besteht das zentrale politische Problem.

Die Lösung der politischen Krise kann und wird nicht darin bestehen, dass die EU Sanktionen gegen das Land verhängt. Im Gegenteil. Dies wird es der PiS erleichtern, den Unmut in der Bevölkerung zu kanalisieren und von ihrer reaktionären Politik abzulenken, indem sie z. B. die EU für fehlende Corona-Hilfen verantwortlich machen kann. Daher müssen Linke und die ArbeiterInnenklasse in der EU diese Politik der EU-Kommission zurückweisen.

Notwendig ist vielmehr, dass die linken Parteien und die Gewerkschaften sich selbst zu einer eigenständigen und führenden Kraft in der Bewegung gegen die PiS erheben, indem sie den Kampf gegen nationale Abschottung, die reaktionäre Flüchtlingspolitik, Angriffe auf die Rechte der Frauen mit dem gegen Armut, Entlassungen, Billigjobs und andere grundlegende Forderungen der ArbeiterInnenklasse verbinden.




Abtreibungsgesetz in Texas: Republikanischer Angriff auf Frauenrechte

Veronika Schulz, Neue Internationale 259, Oktober 2021

Texas hat Anfang September das geltende Abtreibungsrecht massiv verschärft. Die republikanische Mehrheit um Gouverneur Greg Abbott peitschte ein Gesetz durch, das Schwangerschaftsabbrüche fast unmöglich macht.

Das sogenannte „Heartbeat Law“ („Herzschlag-Gesetz“) verbietet Abtreibungen bereits ab der sechsten Woche, also dann, wenn ein Herzschlag des Fötus zu hören ist. Da viele Frauen bis zu diesem Zeitpunkt schlichtweg nicht einmal wissen, dass sie schwanger sind, egal ob geplant oder ungewollt, kommt es faktisch einem Verbot gleich. Selbst bei Schwangerschaften infolge von Vergewaltigung oder auch Inzest gibt es keine Ausnahmen mehr.

Ein weiterer perfider Bestandteil des Gesetzes besteht darin, dass es auf Denunzierung und in gewisser Weise Selbstjustiz setzt. Nicht etwa der Staat und seine Behörden sollen für die Einhaltung sorgen, sondern alle BürgerInnen. Jede/r ist aufgefordert, ÄrztInnen, Klinikpersonal und selbst diejenigen, die Schwangere zu einer Abtreibungsklinik fahren, wegen Beihilfe anzuzeigen. Damit nicht genug, winkt den DenunziantInnen sogar noch eine Belohnung von mindestens (!) 10.000 US-Dollar. KritikerInnen sprechen bereits von „AbtreibungskopfgeldjägerInnen“, die auf diese Weise ihre Chance wittern.

Vor diesem Hintergrund haben AbtreibungsgegnerInnen bereits Internetseiten eingerichtet, über die anonyme Hinweise eingereicht werden können. Dieses Vorgehen ist nicht nur moralisch und ethisch verabscheuungswürdig, sondern erschwert durch unklare Zuständigkeiten auch den Beklagten, sich zu wehren. Zusätzlich wird eine Atmosphäre der permanenten Bedrohung erzeugt, zumal Kliniken und ÄrztInnen, die Abtreibungen vornehmen, bereits in der Vergangenheit Ziel von Einschüchterungen und gewaltsamen Attacken durch AbtreibungsgegnerInnen waren. US-Justizminister Merrick B. Garland sah sich sogar gezwungen, den Schutz von Einrichtungen zu garantieren. Ein Gesetz von 1994 verbiete es, Menschen, die eine Abtreibung anbieten oder in Anspruch nehmen, an dem Eingriff zu hindern. Mit diesem ultrareaktionären texanischen Gesetz sind somit mehrere Angriffe auf die Rechte von Frauen und auch elementare demokratische Errungenschaften zu verzeichnen.

Bruch mit einer 50 Jahre alten Grundsatzentscheidung

Die bisherige Rechtslage beruht auf einem fast 50 Jahre alten Urteil. Im Jahr 1973 entschied der Supreme Court (Oberster Gerichtshof) der USA, dass Schwangerschaftsabbrüche landesweit unter das Recht auf Privatsphäre gestellt und legalisiert werden. Staatliche Gesetze, die Abtreibungen verbieten, verstoßen demnach gegen die US-Verfassung. Anlass war eine Sammelklage im Namen schwangerer Frauen gegen das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen – des Bundesstaates Texas. Der Supreme Court urteilte, dass die damaligen Gesetze nach dem 14. Zusatzartikel der Verfassung das Recht der Frauen, über die Fortführung oder Beendigung einer Schwangerschaft selbst zu entscheiden, verletzen.

Durch die Entscheidung des Supreme Court wurde verfügt, dass eine Schwangere ohne unterschiedliche Gewichtung von Gründen die Schwangerschaft abbrechen darf. Dies gilt bis zu jenem Zeitpunkt, an dem ein Fötus lebensfähig wird. Vom Moment der Lebensfähigkeit an, die ursprünglich mit der 28., heute mit der 24. Schwangerschaftswoche angesetzt wird, darf ein Bundesstaat Schwangerschaftsabbrüche verbieten. Letzteres gilt mit der Einschränkung, dass Schwangerschaftsabbrüche zu einem späteren Zeitpunkt aus medizinischer Notwendigkeit (Erhaltung des Lebens oder der Gesundheit der Frau) ebenfalls möglich bleiben müssen. Zusammengefasst sind gesetzliche Verbote und Gebote des Schwangerschaftsabbruches also im ersten Trimester der Schwangerschaft gar nicht und im zweiten Trimester nur eingeschränkt möglich, im dritten Trimester jedoch nur dann zulässig, solange nicht Leben oder Gesundheit der Schwangeren bedroht sind.

Diese Entscheidung steht nun auf der Kippe, sollte die texanische Gesetzesinitiative als rechtmäßig eingestuft werden. Dabei spielt die Zusammensetzung des Supreme Court eine wichtige Rolle. Ex-Präsident Trump hatte während seiner Amtszeit drei Posten neu besetzt, wodurch sich eine bedeutende Verschiebung ergeben hat. Von insgesamt neun RichterInnen sind sechs dem konservativen bzw. republikanischen Lager und nur noch drei dem demokratischen zuzuordnen. Insbesondere die Ernennung Amy Coney Barretts, einer erzkonservativen Katholikin, als Nachfolgerin der verstorbenen Ruth Bader Ginsburg, hatte seinerzeit für erhebliches Aufsehen gesorgt. Einige der konservativen RichterInnen haben bereits erklärt, dass sie das alte Grundsatzurteil kippen wollen. Daran zeigt sich exemplarisch, dass es keine objektive oder neutrale Justiz innerhalb des bürgerlichen Staates und seiner Institutionen gibt, erst recht keine Rechtsprechung im Sinne der ArbeiterInnenklasse.

Aktuell gibt es auch einen Rechtsstreit im Bundesstaat Mississippi, wo Abtreibungen nach der 15. Woche bis auf wenige Ausnahmen verboten werden sollen. Eine Entscheidung wird für diesen Herbst erwartet. Falls dies vom Supreme Court für rechtens erklärt wird, könnten weitere Staaten, vor allem konservativ geprägte unter republikanischer Führung, folgen.

Zwar ist eine Mehrheit der US-AmerikanerInnen Umfragen zufolge für sichere und legale Abtreibungen, auch wenn hierzulande medial häufig eine größere Rückständigkeit suggeriert wird. Dennoch versucht die Republikanische Partei besonders in Bundesstaaten mit traditionell konservativ-christlichem Bevölkerungsanteil, ihre religiöse Basis auf diese Weise für sich zu mobilisieren und sich von den durch die DemokratInnen dominierten, liberaleren Küsten abzugrenzen.

Fortschritt und Rückschritt

Rückschritte im Kampf um reproduktive und Selbstbestimmungsrechte von Frauen gab es auch jüngst in Polen. Anfang 2021 trat ein fast vollständiges Abtreibungsverbot in Kraft. Damit wurde eines der ohnehin restriktivsten Abtreibungsgesetze Europas weiter verschärft. Schon seit Jahrzehnten werden in Polen kaum legale Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt. Jährlich sind zehntausende Polinnen gezwungen, im Untergrund oder mit Abtreibungspillen zu Hause abzutreiben bzw. nach Deutschland oder Tschechien zu fahren. Nun dürfen nur noch Frauen, deren Gesundheit oder Leben gefährdet ist oder die infolge einer kriminellen Handlung schwanger wurden, legal Abtreibungen vornehmen lassen. Alle anderen, Frauen mit finanziellen, sozialen Hindernissen oder jene, die einfach kein Kind wollen, haben nicht das Recht, sich zu weigern, eines auf die Welt zu bringen. Die regierende rechtskonservative PiS-Partei (Prawo i Sprawiedliwość; deutsch: Recht und Gerechtigkeit) rühmt sich dabei als Lebensschützerin und verherrlicht diese Entscheidung mit dem Begriff „Pro Life“. Dieses faktische Totalverbot von Abtreibungen bindet die reaktionäre, kleinbürgerliche Massenbasis der PiS und bedient sich dabei des tief verwurzelten Katholizismus.

Ermutigend sind jedoch die massiven und lang anhaltenden Proteste, über die auch international berichtet wurde. Nachdem das polnische Verfassungstribunal bereits im Oktober 2020 die Rechtmäßigkeit des neuen Gesetzes bestätigt hatte, kam es durch kämpferische Demonstrationen und Aktionen zu einer mehrmonatigen Verzögerung bis zum Inkrafttreten.

Außerdem wurden sowohl in Mexiko, Argentinien als auch Irland, beides ebenfalls sehr religiös bzw. katholisch geprägte Länder, Fortschritte erzielt. Die bisherige irische Gesetzgebung, die der neuen in Polen nicht unähnlich war, wurde im Jahr 2019 durch ein Referendum zur Verfassungsänderung gekippt und durch eine neue ersetzt. Dieser Entscheidung war ein jahrzehntelanger Kampf vorausgegangen, an dessen vorläufigem Ende zumindest eine Fristenregelung steht. Der Einfluss der (katholischen) Kirche nimmt ab, ebenso zeigte sich ein Gefälle zwischen den Generationen. Lediglich die Altersgruppe der über 65-Jährigen war gegen eine Liberalisierung.

Veränderung ist möglich und nötig, wie diese Beispiele zeigen. Doch nur eine massenhafte Bewegung, die vor allem von den lohnabhängigen Frauen getragen wird, kann sich gegen Verschlechterungen erfolgreich zur Wehr setzen und die bisherigen Errungenschaften verteidigen – in Fragen der körperlichen und sexuellen Selbstbestimmung wie auch in anderen sozialen Auseinandersetzungen. Deshalb fordern wir:

  • Hände weg von unseren Körpern! Raus mit der Kirche und anderen Religionen aus Gesundheitssystem und Gesetzgebung!
  • Abschaffung aller Abtreibungsparagraphen sowie der Beratungspflicht! Kostenlose und frei zugängliche Abtreibung auf Wunsch, ohne Fristen und Einschränkungen!
  • Flächendeckender Ausbau an Beratungs- und Behandlungsstellen! Ausbau von Schutzräumen für Opfer sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter!
  • Verteidigung von Frauen, ÄrztInnen und Beschäftigten gegen Angriffe von AbtreibungsgegnerInnen durch organisierten Selbstschutz der Frauen- und ArbeiterInnenbewegung!
  • Ausbau von Schutzräumen für Opfer sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter!
  • Für eine proletarische Frauenbewegung zum Kampf gegen Sexismus und Ausbeutung!



Definitionsmacht – eine politische Sackgasse

Martin Suchanek, Infomail 1157, 3. August 2021

In den letzten Jahren erfreut sich das Konzept der Definitionsmacht einer immer weiteren Verbreitung in der linken Szene, vor allem unter autonomen, postautonomen und feministischen Gruppen und Zusammenhängen. Auf den ersten Blick scheint es auch Probleme im Kampf gegen sexuelle Grenzüberschreitungen, Gewalt oder Vergewaltigungen zu lösen, die uns in einer Gesellschaft auf Schritt und Tritt begegnen, in deren Grundstruktur die Unterdrückung von Frauen und LGBTIAQ-Personen eingeschrieben ist.

Diese systematische Unterdrückung spielt sich in regelmäßiger sexueller und sexualisierter Gewalt vor allem gegen Frauen ab. So wurde allein in Deutschland rund ein Drittel aller Frauen Opfer körperlicher und/oder sexueller Gewalt. In den letzten Jahren müssen wir zudem in vielen Ländern einen Anstieg dieser Verbrechen registrieren.

Gleichzeitig wissen wir alle, wie erniedrigend und retraumatisierend Ermittlungsverfahren und Prozesse ablaufen, wie es erst gar nicht zur Anklage gegen zumeist männliche Täter kommt oder wie oft Prozesse mit einem Freispruch mangels Beweisen enden. Opfer sexueller Gewalt erleben ihre Erniedrigung, Misshandlung, Vergewaltigung gewissermaßen ein zweites Mal. Die oft sexistischen Strukturen bei Ermittlungsbehörden, bei Staatsanwaltschaft und Polizei sowie vor Gericht führen dazu, dass viele Opfer die Tat erst gar nicht zur Anzeige bringen. Hinzu kommt, dass Frauenfeindlichkeit und Sexismus auch das vorherrschende Bewusstsein prägen, so dass v. a. Formen häuslicher Gewalt erst gar nicht als sexuelle oder gewaltsame Übergriffe erscheinen, auch wenn dies rechtlich anerkannt ist.

Grundannahme der Definitionsmacht

Angesichts dieser Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft erscheint das Konzept der Definitionsmacht als Lösung oder zumindest als klare Kräfteverschiebung zugunsten der Opfer, die ansonsten ungehört und nicht anerkannt bleiben. Auch wenn sich die VertreterInnen dieses Konzepts in etlichen Punkt, z. B. hinsichtlich dessen Reichweite oder der Konsequenzen, unterscheiden, so gibt es einen grundlegenden gemeinsamen Ausgangspunkt:

Nur die betroffene Person kann definieren, ob wann und welche sexuelle Grenzüberschreitung stattgefunden hat.

So heißt es beispielsweise in einer zusammenfassenden Darstellung:

„1. Definition durch Betroffene

Sexualisierte Gewalt ist das, was ein betroffener Mensch als solches erlebt.

Es gibt keine objektiven Kriterien dafür, was sexualisierte Gewalt ist und was nicht.

Insbesondere sollte kein_e Betroffene_r irgendwem Details mitteilen müssen, wenn sie oder er es nicht selbst möchte.

Details sind nicht nötig, um irgendwem zu glauben oder sich „ein Bild machen“ zu können.

Es sollte ausreichen, wenn Betroffene definieren, was passiert ist und was für einen Umgang sie sich damit wünschen.“

(Thesen zur Definitionsmachtsdiskussion; https://www.kommunikationskollektiv.org/wp-content/uploads/2014/07/Thesen-zur-Definitionsmachtsdiskussion-bei-Koko.pdf)

Oder in einem anderen Papier: „Dieses Konzept sieht vor, dass die betroffene Person die einzige Person ist, welche definieren kann, wann ein Übergriff oder eine Grenzüberschreitung stattfindet. Situationen werden von Mensch zu Mensch anders wahrgenommen, deshalb kann es keine allgemeingültige Definition eines Übergriffs geben.“ (https://awarenetz.ch/wp-content/uploads/2018/07/Glossar.pdf)

Die Tatdefinition der Betroffenen gilt also als gleichbedeutend mit der Definition der Tat selbst. Es geht also nicht nur um die berechtigte und unserer Meinung nach selbstverständliche Forderung, die subjektive Einschätzung und das Empfinden des Opfers als solches anzuerkennen. Vielmehr geht es bei der Definitionsmacht darum, das subjektiv Erfahrene oder Erlebte zu einer allgemeinen Bestimmung zu machen, das Einzelne mit dem Allgemeinen gleichzusetzen.

Die Stärke der Definitionsmacht und ihre Attraktivität macht gerade die Betonung der Erfahrung der Betroffenen aus. Sie verspricht dadurch, das Opfer sexistischer, gewalttätiger, rassistischer, sozial stigmatisierender Handlungen ein Stück weit aus seiner real erlebten und empfundenen Ohnmacht zu erheben. Auch wenn diese Machtumkehr nur auf individueller Ebene stattfindet und noch keine Perspektive der Abschaffung der Gewalt an sich inkludiert, kann man leicht nachvollziehen, dass sie als situativ hilfreiches Mittel wahrgenommen wird, auch wenn sie sich längerfristig und grundsätzlich als problematisches Mittel darstellt.

Hinzu kommt, dass sie das Opfer keinen Befragungen und Nachfragen aussetzt. Gerade angesichts des sexistischen und rassistischen Charakters von Polizei, Justiz und aufgrund der vorherrschenden Ideologie erspart das den Betroffenen tatsächliche weitere Verletzungen, jedenfalls solange der Wirkungsrahmen der Definitionsmacht auf außergerichtliche Auseinandersetzungen und ein bestimmtes Submilieu der Gesellschaft, eine Szene, begrenzt bleibt.

Subjektivismus und Relativierung

Den VerteidigerInnen der Definitionsmacht ist durchaus bewusst, dass diese auch dazu führen kann, dass Menschen zu Unrecht beschuldigt und verurteilt werden. Sie verweisen jedoch darauf, dass der allen Untersuchungen zufolge relative geringe Prozentsatz von falschen Beschuldigungen bedeutet, dass dieser Nachteil durch den Vorteil einer Stärkung der Opfer wettgemacht würde. Hinzu kommt, dass die Anwendung der Definitionsmacht in der Regel auf linke Milieus beschränkt wird und das Verhältnis zur bürgerlichen Gerichtsbarkeit und Staatlichkeit dabei merkwürdig unreflektiert bleibt. Bevor wir jedoch darauf näher eingehen und den Rückfall der Definitionsmacht hinter bürgerliche Rechtsvorstellungen betrachten, müssen wir noch ein anderes Problem betrachten, das sich aus der inneren Logik des Konzepts selbst ergibt.

Gemäß ihm wird die Tat, deren Charakter und Umfang nur vom Opfer bestimmt. Die inkludiert aber auch, dass die Tat selbst gemäß der jeweiligen subjektiven Definition relativiert wird, sobald verschiedene Opfer einer bestimmten Tat verschiedene Definitionen zugrunde legen. Nehmen wir an, dass drei verschiedene Betroffene Opfer eines sexuellen Übergriffs wurden, dass diese drei jedoch verschiedene Definitionen von Vergewaltigung vertreten.

  • Opfer A definiert das Nichtbeachten eines Ja = Ja als Vergewaltigung
  • Opfer B definiert das Ignorieren eines klaren Nein als Vergewaltigung
  • Opfer C definiert nur einen physisch erzwungenen Geschlechtsverkehr als Vergewaltigung

Nehmen wir weiter an, die Täter hätten gegenüber den Opfern A bis C denselben Übergriff begangen. Nehmen wir an, alle drei Täter haben das Ja = Ja nicht beachtet, wohl aber ein klares Nein akzeptiert. So würde Opfer A die Tat als Vergewaltigung definieren, die Opfer B und C nicht.

Die Parameter für obiges Beispiel sind recht einfach definiert. Das reale Leben kennt jedoch noch viele Abstufungen zwischen diesen, die zeigen, dass die Definition im Einzelfall nicht so einfach ist. Wenn wir den Ausgangspunkt der Definitionsmacht zugrunde legen, dass letztlich das jeweilige Opfer definiert, ob ein sexueller Übergriff oder eine Vergewaltigung stattfand, so erhalten wir im obigen Beispiel 3 Definitionen und je mehr wir differenzieren, umso mehr ergeben sich.

Wenn wir die Definitionsmacht ernst nehmen und in ihren Konsequenzen zu Ende denken, so bedeutet das nicht nur, dass das Opfer Tat und Täter definieren kann, es bedeutet auch, dass ein Mensch, der dieselbe Tat begangen hat, in einem Fall Täter, in einem anderen kein Täter wäre. Damit wird ihm letztlich ein Mittel zur Relativierung der eigenen Tat in die Hand gegeben.

Allgemein gültige Kriterien für eine Definition von Vergewaltigung oder eine Kategorisierung sexueller Übergriffe können wir auf Basis der Definitionsmacht nicht erhalten. Auch wenn wir in Rechnung stellen, dass die Abgrenzung verschiedener Arten   sexueller Grenzüberschreitungen schwierig ist, dass es Übergangsformen gibt, so setzt die Bezeichnung einer bestimmten Tat als schwere sexuelle Grenzüberschreitung oder gar als Vergewaltigung immer schon einen allgemein geprägten Begriff ebendieser voraus.

Nur so können andere Menschen überhaupt verstehen, was die Betroffene meint und welche Tat der Täter begangen hat bzw. was ihm vorgeworfen wird. Natürlich kann dieser Begriff selbst einem Bedeutungswandel unterzogen sein und es mag verschiedene Auffassungen über diesen geben (z. B. weitere und engere Definitionen von Vergewaltigung oder sexueller Grenzüberschreitung), aber auch diese finden im Rahmen eines gesellschaftlichen Diskurses statt. Unwillkürlich werden andere Menschen die Bezeichnung der Tat auf ihren gesellschaftlich vorherrschenden Begriff beziehen.

Werden Vergewaltigungen oder andere Formen schwerer sexueller Grenzüberschreitungen nur noch rein subjektiv gefasst und wird ihre Bedeutung dementsprechend ausgeweitet, so werden die Begriffe notwendigerweise schwammiger und inhaltsleerer. In unserem Beispiel wären sowohl ein physisch erzwungener Geschlechtsverkehr als auch ein Nichtbeachten eines Ja = Ja eine Vergewaltigung. Der Vorwurf und die Tatbezeichnung umfassen eine so große Bandbreite, dass es Dritten unklar sein muss, was eigentlich vorgefallen ist. Je weiter der Begriff einfach subjektiv aufgeweitet wird, umso vieldeutiger würde er werden. Zugleich würde das Vergewaltigern erlauben, sich hinter diesem vagen Begriff zu verstecken. Die Definitionsmacht würde also paradoxerweise zu einer Entschuldung gerade der schlimmsten Täter beitragen. Selbst ihr Versprechen, die Opfer zu empowern/ermächtigen, würde sich als hohl und letztlich unmöglich erweisen, wenn ihre Grundsätze allgemein würden.

Die Behauptung, dass es keine objektiven Kriterien für eine Vergewaltigung geben und dass diese nur subjektiv von der Betroffenen definiert werden könne, erweist sich bei näherer Betrachtung als hochproblematisch. Aus der Tatsache, dass die Definition dieser Tat (wie jeder anderen Form sexueller Grenzüberschreitung) immer auch von gesellschaftlich vorherrschenden Normen und damit von Klasseninteresse und Patriarchat geprägt ist, folgt keineswegs, dass es daher nur eine subjektive Definition dieser Taten geben könne. Die vorherrschende Definition (auch die strafrechtliche) muss vielmehr selbst als Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzung, des Kampfes gegen Frauen- und geschlechtliche Unterdrückung sowie des Klassenkampfes in allen seinen Dimensionen begriffen werden. Dieser Kampf verläuft bekanntlich zäh und langwierig, aber kann auch zu Teilerfolgen führen. So wurde die Vergewaltigung in der Ehe erst 1992 überhaupt als Straftat rechtlich anerkannt und 2004 schließlich zu einem Offizialdelikt. Diese rechtliche Verbesserung, die auch mit einer Bedeutungsausweitung des Begriffs der Vergewaltigung einherging, wäre mit einem rein subjektivistischen Begriff nicht möglich. Folgt man der Eigenlogik der Definitionsmacht, könnte eine Vergewaltigung allenfalls ein Antragsdelikt sein, dürften Ermittlungsverfahren und Prozess erst nach Anzeige durch die Betroffenen einsetzen. Darüber hinaus lässt sich der Kampf um politische und soziale Reformen (geschweige denn um eine andere Gesellschaft) ohne verallgemeinernde Begriffe und Forderungen nicht führen.

Dieses Problem wird besonders deutlich, wenn wir aus dem Kreis der Debatten in linken Szenemilieus heraustreten und das Verhältnis der Definitionsmacht zum bürgerlichen Recht und zur Gesellschaft insgesamt betrachten.

Definitionsmacht und bürgerliches Recht

Die Definitionsmacht geht notwendigerweise auch mit einer Absage an bestimmte Normen des bürgerlichen Rechts einher. Gemäß dem Grundsatz, dass nur der Betroffenen ein Recht auf die Definition der Tat zukommt, gibt es auch kein Recht auf Stellungnahme, geschweige denn auf Verteidigung für den Beschuldigten. Je nach Interpretation des Konzepts gibt es verschiedene Vorstellungen darüber, ob über etwaige Sanktionen (z. B. Ausschluss, Outing des Beschuldigten, Bedingungen eines weiteren Verbleibs im Zusammenhang) ebenfalls das Opfer oder die Gruppe entscheidet.

Solange dieser Umgang auf eine linke Kleingruppe beschränkt bleibt, so halten sich die Konsequenzen noch im Rahmen. Schließlich steht es jeder Gruppierung frei, die Kriterien für ihre Mitgliedschaft selbst festzulegen, mögen diese Umgangsnormen auch das Recht auf Verteidigung eines Beschuldigten aushebeln.

Weitaus problematischer wird es freilich, wenn dieses Prinzip über eine noch relative genau definierte Kleingruppe hinaus für ein ganzes Milieu, ein Bündnis oder eine Bewegung zur Anwendung kommen soll. Auch wenn die AnhängerInnen der Definitionsmacht oft betonen, dass sie Gültigkeit für dieses Konzept außerhalb des bürgerlichen Rechtssystems beanspruchen, so wird hier deutlich, dass es um allgemeine gesellschaftliche Gültigkeit geht, die sich im Idealfall auf alle oppositionellen Kräfte und Bewegungen erstrecken und irgendwann zum vorherrschenden gesellschaftlichen Modell werden soll.

Die Definitionsmacht präsentiert sich dabei als Schritt vorwärts gegenüber dem bürgerlichen Recht. Zu Recht werden die sexistischen und frauenfeindlichen Praktiken von Ermittlungsbehörden und Gerichten angeprangert, das bürgerliche Recht als solches verdammt.

Übersehen wird dabei jedoch, dass die Definitionsmacht in Wirklichkeit hinter Errungenschaften des bürgerlichen Rechts, vor allem die Unschuldsvermutung des Beschuldigten und des Rechts auf Verteidigung gegen die Beschuldigung, zurückfällt.

Auf den ersten Blick erscheint das vielleicht nicht so dramatisch. Schließlich ist die Zahl von falschen Beschuldigungen gemäß vorliegenden Untersuchungen relativ gering, so dass man falsche Verurteilungen unter „ausgleichende“ Gerechtigkeit verbuchen könnte. Dies ist aber nicht nur reichlich zynisch und unglaubwürdig für Menschen, die eine Gesellschaft frei von Ausbeutung und Unterdrückung (und damit auch von Willkür) erkämpfen wollen – es verkennt auch die grundlegenden Probleme.

Ironischerweise wird an dieser Stelle davon abstrahiert, dass Staat und Öffentlichkeit selbst einen Klassencharakter haben. Die Durchsetzung der Definitionsmacht im Rahmen des bürgerlichen Staates oder auch nur deren Akzeptanz im allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs würde natürlich der herrschenden Klasse auf staatlich/rechtlicher Ebene, aber auch im Betrieb zusätzliche Möglichkeiten zum Kampf gegen die ArbeiterInnenklasse in die Hand geben.

Als revolutionäre Organisation messen wir unsere Positionen nicht daran, ob sie sich in Kleinstgruppen anwenden und praktizieren lassen, sondern ob sie dazu taugen, eine gesamtgesellschaftliche Perspektive aufzuzeigen. Bezogen auf die gesamte Gesellschaft hebelt die Definitionsmacht eine historische Errungenschaft des bürgerlichen Rechts aus, nämlich das auf Verteidigung eine/r Angeklagten und auch die Unschuldsvermutung. Letztere wird zwar im bürgerlichen Recht selbst an einigen Stellen im Interesse der herrschenden Klasse – z. B. im Arbeitsrecht – relativiert. Im Strafrecht, wo der Staat als Ankläger auftritt, ist das üblicherweise jedoch nicht der Fall – und das stellt eine große und hart erkämpfte Errungenschaft dar. Würde die Definitionsmacht dort zu einem Rechtsgrundsatz werden, so würde das der staatsanwaltschaftlichen Willkür natürlich Tür und Tor öffnen. Nachdem wir wissen, dass die herrschende Klasse letztlich vor nichts zurückschreckt, um ihre Stellung zu verteidigen, wenn sie diese als gefährdet betrachtet, wäre es grob fahrlässig und dumm, ihr solche Möglichkeiten einzuräumen.

Einige VertreterInnen der Definitionsmacht behaupten ferner, dass sie mit diesem Konzept zwar nicht auf dem Boden des bürgerlichen Rechts, dafür aber auf jenem der Moral stehen. Doch auf welcher? Hat diese etwa keinen Klassencharakter? Und welchen Fortschritt soll eine Moral verkörpern, die Errungenschaften des bürgerlichen Rechts entstellt? Würde sie zu einer allgemeinen Regel, würde die Definitionsmacht schließlich keinen Schritt Richtung befreiter Gesellschaft, sondern ein Zurück zu vorbürgerlichen Zuständen darstellen, mit welcher Moral dies auch immer gerechtfertigt sein mag.

Die Definitionsmacht stellt, unabhängig von den Intentionen ihrer AnhängerInnen, ein reaktionäres Konzept dar, das die Linke und die ArbeiterInnenklasse kategorisch zurückweisen müssen.

Methodisches

Unsere Organisation hat die Definitionsmacht in den letzten Jahren abgelehnt – und wie wir gezeigt haben, aus guten Gründen. Das zentrale Problem besteht methodisch im Grunde darin, dass sie die Frage vom Standpunkt des Einzelindividuums aus betrachtet, vom Standpunkt von Opfer und Täter als Individuen, die einander gegenüberstehen. Für die Definitionsmacht besteht die Gesellschaft im Grunde aus einzelnen Individuen, deren subjektive Erfahrung wird zum entscheidenden Kriterium für Wahrheit. Unterdrückte Gruppen erscheinen auf dieser Grundlage bloß als eine Menge von Menschen, die gemeinsame Merkmale teilen, die ihnen z. B. eine gemeinsame diskriminierte (oder privilegierte) Stellung zukommen lassen. Aus dieser erwächst essentialistisch, quasi als Natureigenschaft von Opfern, ein privilegierter Zugang zur Wahrheit im Sinne der Identitätspolitik (zur ausführlichen Kritik: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/03/06/identitaet-als-politisches-programm-marxismus-und-identitaetspolitik/), deren Verlängerung das Konzept darstellt.

Für den Marxismus hingegen sind Klassen oder gesellschaftlich Unterdrückte nicht einfach eine Ansammlung vieler Individuen, sondern gesellschaftlich Gruppen, die durch ihre Stellung im Gesamtzusammenhang von Produktion und Reproduktion, also im Rahmen einer gesellschaftlichen Totalität bestimmt werden. Wo die bürgerliche Wissenschaft den Klassenbegriff verwendet, so stellt dieser jeweils voneinander abgegrenzte Gruppen (z. B. von EinkommensbezieherInnen in der Soziologie) dar. Für den Marxismus hingegen ist wesentlich, dass Klassen nur im Verhältnis zu anderen Klassen begriffen werden können (also kein Kapital ohne Lohnarbeit, keine Lohnarbeit ohne Kapital). Der Klassenantagonismus zwischen Kapital und Arbeit bildet den wesentlichen, grundlegenden  Widerspruch in der kapitalistischen Gesellschaftsformation, weil er sich auf die Stellung der Hauptklassen im Produktionsprozess bezieht. Die Pole des Gegensatzes stehen einander nicht nur gegenüber, sondern durchdringen sich auch, reproduzieren einander. Dies trifft, gesamtgesellschaftlich betrachtet, auch auf Unterdrückungsverhältnisse zu.

Betrachten wir Betroffene und Täter nur als einander gegenüberstehende Individuen, so verschwindet dieses gesellschaftliche Verhältnis tendenziell. Gleichwohl bestimmen diese auch die jeweilige konkrete Opfer-Täter-Relation immer schon mit, sind dieser letztlich vorausgesetzt. Opfer und Täter werden sie vor dem Hintergrund einer bestimmten geschichtlichen Entwicklung. Dazu gehören auch bestimmte Vorstellungen von Opfer und Täter, bestimmte Vorstellungen von Recht, Gerechtigkeit, Bestrafung, der Arten von Strafen (Gefängnis, Folter, Todesstrafe), dem Verhältnis von subjektiver Wahrnehmung der einzelnen AkteurInnen und allgemein als zu bestrafende Verbrechen anerkannter Taten.

Der Blick auf das jeweils individuelle Verhältnis von Opfer und Täter als einander ausschließende Bestimmungen hat durchaus ein gewisses Recht, solange wir nur den Einzelfall betrachten. Größere Unterdrückungszusammenhänge manifestieren sich zwar im Rahmen eines gesellschaftlichen Verhältnisses, aber natürlich ist jedes Opfer immer auch konkretes, einzelnes von einem oder mehreren konkreten Tätern. Zu Recht fordert zudem jedes Opfer auch eine individuelle Anerkennung der spezifischen Tat, eine besondere Form der Wiedergutmachung und den Schutz vor weiteren Übergriffen. Daher muss auch jeder einzelne Fall immer spezifisch untersucht werden. Dazu bedarf es auch gesellschaftlich allgemeiner, anerkannter Institutionen, um unter Berücksichtigung der spezifischen Umstände Recht zu sprechen.

Linke Organisationen, ArbeiterInnenbewegung und Gesellschaft

Gesamtgesellschaftlich bedarf es daher eines Schutzes der individuellen Opfer sowie von Strafen, der Prävention und Resozialisierung bezüglich der Täter (wie im Grunde bei allen anderen Verbrechen auch). Solange die ArbeiterInnenklasse nicht die politische Macht erobert und die bürgerlichen Gerichte ersetzen kann, repräsentiert der bürgerliche Staat das gesellschaftlich Allgemeine. In der bestehenden Gesellschaft ist dieses zwar immer ein falsches Allgemeines, weil der Staat selbst ein Klassenstaat ist und die Unterdrückungsverhältnisse der Gesellschaft reproduziert.

Das bedeutet jedoch keineswegs, dass der Linken oder der ArbeiterInnenklasse die bestehenden Institutionen, Verfahren, demokratischen und materiellen Rechte von Opfern sexueller Gewalt gleichgültig sein dürfen. Im Gegenteil. Anders als vielen VertreterInnen der Definitionsmacht geht es uns nicht darum, eine besondere, für eine linke oder „fortschrittliche“ Szene oder ein bestimmtes Milieu gültige Form des Umgangs mit sexuellen Grenzüberschreitungen oder sexueller Gewalt zu schaffen.

Natürlich sollen linke Organisation oder auch ArbeiterInnenorganisationen wie Gewerkschaften strenge Regeln einführen, die sexuelle Grenzüberschreitungen und Gewalt in den eigenen Organisationen sanktionieren – bis hin zum Ausschluss. Sie werden dabei strengere Kriterien anwenden als der bürgerliche Staat, aber sie werden bei internen Untersuchungen das Recht auf Verteidigung des Beschuldigten garantieren. Vor allem aber muss ihnen bewusst sein, dass sich ihre internen Strukturen erstens und vor allem darauf beziehen, sexistisches (und anderes rückschrittliches) Bewusstsein und Verhalten zu problematisieren und zurückzudrängen, um die gemeinsame Kampfkraft zu stärken. Das schließt auch ein, dass gesellschaftlich Unterdrückte das Recht auf eigene, gesonderte Treffen haben müssen, um den Kampf gegen Sexismus auch in den eigenen Organisationen voranzubringen. Zweitens müssen Vorwürfe von schwerem oder wiederholtem sexistischen Verhalten von Untersuchungskommissionen geprüft werden, die mehrheitlich aus Unterdrückten zusammengesetzt sind. Diese müssen darauf abzielen, vor allem die Betroffenen zu stärken, und, für den Fall einer erwiesenen Schuld, Maßnahmen in besonders erschweren Fällen ergreifen, bis hin zum Ausschluss.

Forderungen und bürgerlicher Staat

Diese Vorgehensweise in der ArbeiterInnenklasse, in sozialen Bewegungen oder in linken Organisationen sollte jedoch nicht als Ersatz für den Kampf gegen sexuelle Gewalt und sexuelle Übergriffe in der Gesellschaft betrachtet und auch nicht damit verwechselt werden.

Wenn wir Forderungen an den bürgerlichen Staat stellen, uns für demokratische Reformen von Justiz, Strafrecht, finanzielle und andere materielle Unterstützung von Opfern einsetzen, so nicht weil wir den Rechtsstaat als letztes Wort der Geschichte, sondern als Teil des umstrittenen Kampffeldes für eine zukünftige Gesellschaft betrachten. Dies würde folgende Aspekte inkludieren:

a) Schutz der Opfer sexueller und sexualisierter Gewalt durch Aufbau von Frauenhäusern; Ausbau von Hilfeeinrichtungen. Diese müssten durch den Staat voll finanziert und von den betroffen Frauen und sexuell Unterdrückten selbst verwaltet werden. Die Betreuung der Betroffenen erfordert auch den massiven Ausbau und den kostenlosen Zugang zu Beratungsstellen und therapeutischen Einrichtungen, so dass die Betreuung der Opfer professionell und durch geschultes Personal erfolgen kann.

b) Kontrolle aller Schritte der Ermittlung durch VertreterInnen von Gewerkschaften und Frauenorganisationen. Betroffene müssen das Recht auf Beistand von Personen ihres Vertrauens bei Befragungen und auf Ablehnung der befragenden BeamtInnen haben.

c) Wahl von LaienrichterInnen aus den Reihen von Frauenorganisationen, sexuell Unterdrückten und der arbeitenden Bevölkerung statt zumeist männlicher, weißer Berufsrichter.

d) Ausbau von Programmen zur Resozialisierung von Gewalttätern unter Kontrolle von Gewerkschaften und Frauenorganisationen.

e) Thematisierung von sexueller und sexualisierter Gewalt an Schulen, in der Erziehung, in den Betrieben, um diese zurückzudrängen, Opfer zu schützen und bei der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen zu helfen. Selbstverteidigung sowie das Caucusrecht für Unterdrückte auf allen Ebenen innerhalb der ArbeiterInnenbewegung sind zusätzlich nötig.




Ungarn: Erneuter Vorstoß gegen LGBTIQ-Personen

Heidi Specht, Neue Internationale 257, Juli/August 2021

Gesetze, die massive Verschlechterungen für LGBTIQ-Personen bedeuten, sind unter der Regierung Viktor Orbáns keine Seltenheit. Mitte Juni ging ein neues Gesetz durch das ungarische Parlament. Ursprünglich drehte sich der Entwurf ausschließlich um sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige und enthielt bereits Maßnahmen wie die Erstellung eines Pädophilenregisters. Kurzfristig gab es jedoch Abänderungen von Fidesz-Abgeordneten, nach denen sich dieses Gesetz klar in die Reihe der LGBTIQ-feindlichen Maßnahmen einordnen lässt.

Das neueste Gesetz

Kurz gesagt geht es darum, LGBTIQ-Personen und ihre Existenz weiter aus dem öffentlichen Raum und dem Bewusstsein zu verdrängen. Nicht nur wird jede aktive Aufklärung von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren über Homosexualität, Transsexualität und Geschlechtsanpassung, zum Beispiel im Rahmen von Unterricht oder Vorträgen an Schulen, verboten. Unter-18-Jährige sollen darüber hinaus auch keinen Zugang mehr zu Inhalten erlangen, die diese als Teil der gesellschaftlichen Normalität darstellen. Das beinhaltet Bücher und Filme, kann aber noch wesentlich umfassender ausgelegt werden. Ist das Tragen einer Regenbogenfahne in Gegenwart Minderjähriger noch legal? Brauchen Bibliotheken zukünftig riesige Abteilungen, die Minderjährigen unzugänglich sind? Darf Harry Potter nur noch ab 18 gezeigt werden? Dürfen homosexuelle Paare ihre Kinder noch gemeinsam von der Schule abholen? Diese und andere Fragen werden derzeit heiß diskutiert – das Gesetz birgt massives Potential, die Unterdrückung weiter zu verschärfen.

Allgemein betrachtet bedeutet das, dass eine Generation herangezogen werden soll, in der Queerness nichts Normales ist, in der das hart erkämpfte und immer noch unzureichende Bewusstsein wieder aktiv zurückgebildet wird.

Konkret bedeutet es vor allem für LGBTIQ-Kinder und -Jugendliche eine massive Gefährdung. Ihnen wird die Aufklärung über Geschlechtsidentitäten und sexuelle Vorlieben, die über die „klassische Familie“ hinausgehen, verwehrt. Ihnen wird suggeriert, dass ihre Identität etwas Abnormales und Verbotenes sei. All das passiert in einer Lebensphase, die selbst für viele Cis-Heteromenschen keine einfache ist. Konkret bedeutet es die aktive Gefährdung der geistigen Gesundheit bis hin zu der des Lebens von Kindern und Jugendlichen.

Bisherige Gesetze

Dieses Gesetz reiht sich ein in stetige Angriffe seit inzwischen fast 10 Jahren:

  • 2012 wurde die Ehe als Bund zwischen Mann und Frau festgelegt.
  • 2013 wurde der Begriff Familie im Grundgesetz neu definiert: „Grundlage der Familienbeziehung ist die Ehe sowie die Eltern-Kind-Beziehung.“
  • 2018 wurde das Studium Gender-Studies verboten.
  • 2020 wurde zuerst die juristische Geschlechtsänderung verboten, indem in allen amtlichen Dokumenten der Begriff „Geschlecht“ durch den Begriff „Geburtsgeschlecht“ ersetzt wurde. Später im selben Jahr wurden Homosexuelle vom Recht auf Adoption ausgeschlossen.

Internationaler Aufschrei

Das neue Gesetz ist ein heißes Thema in der EU – auch das nicht zum ersten Mal. Unterschiedliche Fraktionen und Länder ergreifen Position für oder gegen das Gesetz. Unter den BefürworterInnen ist das Argument stark, die EU habe sich nicht in die innerstaatlichen Gesetze Ungarns einzumischen. Der Hauptfokus der Kritik im In- und Ausland bezieht sich auf die Vermischung von Homosexualität mit Kindesmissbrauch, die durch das neue Gesetz vorgenommen wird. Doch vor Sanktionen scheut man sich immer noch. Bisher belässt man es bei kritischen Worten oder symbolischen Aktionen. Die österreichischen Grünen ließen es sich nicht nehmen, eine Protestaktion an der Grenze zu organisieren – jene Grünen, die in der Regierung mit der ÖVP nicht nur anfangs die EU-Resolution gegen das Gesetz nicht mitunterzeichneten, sondern auch im eigenen Land Regelungen wie das Blutspendeverbot für homosexuelle und bisexuelle Männer mittragen.

Friede, Freude, Regenbogen im Kapitalismus

Nicht nur die österreichischen Grünen üben sich in Scheinheiligkeit. Genau wie Frauenunterdrückung liegt auch die von queeren Menschen im ureigensten Interesse des Kapitalismus. Die bürgerliche Kleinfamilie dient der Reproduktion der menschlichen Gesellschaft im kleinen Rahmen und der Arbeitskraft – und diese wird gefährdet durch jene Menschen, die sich nicht so einfach darin eingliedern lassen. Während in manchen Ländern Zugeständnisse erkämpft wurden, ist die Unterdrückung in anderen Teilen der Welt noch sehr viel ausgeprägter. Doch die Ereignisse in Ungarn führen uns schmerzhaft vor Augen, dass uns jeder erkämpfte Erfolg wieder genommen werden kann. Konservative Kräfte werden immer gegen jene kämpfen, die ihrer Moral nicht entsprechen und das System gefährden. Echte sexuelle Freiheit kann es in dieser Gesellschaft, die auf Ausbeutung und Unterdrückung aufgebaut ist, niemals geben. Die Regenbogenfahne bringt erst dann echte Befreiung, wenn sie während der Revolution getragen wird, die dieses System endgültig zu Fall bringt.