Deutschland vor Gericht

Martin Suchanek, Infomail 1250, 10. April 2024

„Begünstigung zum Völkermord“: So lautet die Anklage gegen Deutschland, die seit dem 8. April vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag verhandelt wird. Die „werteorientierte“ und „feministische“ Außenpolitik , die nicht nur Außenministerin Baerbock gern allen Bösewichten der Weltpolitik als Leuchtfeuer der Demokratie vorhält, steht nun selbst vor Gericht.

Über Jahre redet nicht nur sie gebetsmühlenartig jede Waffenlieferung, jede Intervention, jede Sanktion gegen andere Staaten, jede Interessenpolitik „demokratisch“ schön. Und über Jahre galt der IGH als ein, wenn auch eher symbolisch-moralisches, Mittel in der innerimperialistischen Konkurrenz, das Deutschland gern gegen die Konkurrenz aus Russland oder anderswo in Stellung brachte. So applaudierte man im März 2022, als der Gerichtshof Russland aufforderte, seinen reaktionären Angriffskrieg gegen die Ukraine zu stoppen. Und man empörte sich darüber, dass Putin und seine Militärmaschinerie die Anhörung boykottierten und das Urteil in den Wind schlugen.

Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern

Frei nach Konrad Adenauer verfährt auch die Bundesregierung heute. Was kümmert uns, die Baerbocks, die Scholzs, die Habecks und Linders (und natürlich auch die konservative Opposition) unser Geschwätz von gestern.

Internationale Gerichtshöfe gelten offenbar nur dann als wirkliche „demokratische“ Errungenschaft, wenn sie im Sinne einer Weltordnung Anklagen verfolgen und Urteile fällen, die der geopolitischen Ausrichtung Deutschlands, der USA, der EU und ihrer Verbündeten entsprechen. Außerdem trat die Bundesrepublik für eine weite Auslegung des Begriffs Genzoid ein, als sie sich im November 2023 der Klage Gambias gegen Myanmar anschloss, dessen Regime Völkermord an den Rohingya vorgeworfen wird.

Offenbar rechnete niemand damit, dass mit Israel ein enger geostrategischer Verbündeter und wirtschaftliche Partner auf derselben Anklagebank landen könnte. Dabei hatten die rechten Minister im Kabinett Netanjahu aus ihren reaktionären, pogromistischen Absichten nie ein Hehl gemacht. Rund 40.000 Tote seit Beginn der israelischen Angriffe und Besatzung, die Vertreibung von weit mehr als einer Million Menschen in Gaza sowie eine drohende Hungerkatastrophe sprechen eine klare Sprache.

Von einem laufenden Genozid will die deutsche Bundesregierung jedoch partout nichts wissen. Die zur Staatsräson erhobene bedingungslose Solidarität mit Israel umfasst offenbar auch die Pflicht zur Realitätsverweigerung, zur Doppelmoral sowieso. Allenfalls werden regelmäßig Aufforderungen zur Mäßigung an Israel gerichtet, während zugleich Mittel für das UN-Flüchtlingshilfswerk für Palästina gesperrt werden und die Lieferungen von Rüstung an Israel 2023 auf einen Wert von 326,5 Millionen Euro verzehnfacht wurden.

Wie Deutschland reagiert

Nachdem der IGH nach der Klage Südafrikas die Gefahr eines Genozid in Gaza bejahte, folgt Deutschland verdientermaßen Israel auf die Anklagebank. Der Vorwurf lautet „Begünstigung zum Völkermord“ durch Waffenlieferungen und Blockade von Hilfe für Flüchtlinge. Eingebracht wurde er von Nicaragua.

Die Reaktion darauf? Man weist nicht nur jede Schuld von sich. Bezüglich der Kritik am IGH, den man ja noch gegen missliebige Regime brauchen könnte, hält man sich zurück, auch wenn man dessen Zuständigkeit bezweifelt. Umso heftiger soll, wie schon im Fall Südafrika, der Kläger, in diesem Fall das Regime in Nicaragua, diskreditiert werden. Keine Frage, sowohl die Regierung Südafrikas als auch jene Nicaraguas unterdrücken die eigene Bevölkerung, vor allem die Arbeiter:innenklasse und die Armen. Keine Frage, ihre Klagen entbehren nicht eines guten Schusses Doppelmoral. Doch damit befinden sie sich in der internationalen Staatengemeinschaft, nicht zuletzt mit der Bundesrepublik, in guter Gesellschaft.

Gegenüber der Öffentlichkeit versucht die Regierung, der angeblich Rechtsstaatlichkeit und besonders das humanitäre Völkerrecht über alles gehen, den Gegenstand der Klage durch die Diskreditierung des Klägers zu „entkräften“. Das wäre etwa so, als würde ein/e des Mordes Beschuldigte/r argumentieren, das Gericht müsse die Anklage zurückweisen, weil der/die Klagende in der Vergangenheit Verbrechen begangen hätte. Dabei sollten die Bundesregierung und ihre Rechtsvertreter:innen wissen, dass jede/r Beschuldigte vor einem bürgerlichen Gericht damit Schiffbruch erleiden muss. Und das wissen natürlich auch die Jurist:innen, die Deutschland verteidigen.

Eine Fiktion als Verteidigungsstrategie

Doch gegenüber der eigenen Bevölkerung halten die Regierung, ihre Sprecher:innen und der Großteil der Medien an einer Verteidigungs„strategie“ fest, die vor allem darin besteht, Nicaragua jedes Recht auf Klage abzusprechen. Und das hat einen guten Grund. Sich ernsthaft auch nur auf den Vorwurf der Beihilfe zum Genozid einzulassen und generell mit Kriegsverbrechen zu beschäftigen, würde die gesamte ebenso verlogene wie moralistisch aufgeladene Rechtfertigung Deutschlands für die „bedingungslose Solidarität mit Israel“ in Frage stellen. Es würde offenlegen, dass diese nicht dem Kampf gegen den Antisemitismus dient, sondern einerseits der billigen Entschuldigung für den Holocaust und die Verbrechen der Nazis, andererseits den eigenen geostrategischen Interessen.

Daher muss die Bundesregierung an ihrer eigenen Fiktion festhalten, dass schon der Vorwurf des Völkermordes gegenüber Israel, bereits die Verhandlung einer Klage eine „Ungeheuerlichkeit“ darstellen würden.

Doch die Ungeheuerlichkeit findet in Gaza statt – mit der Hilfe und den Waffen aus Deutschland. Während selbst andere westliche bürgerliche Staaten aufgrund der Barbarei der Bombardements auf Distanz gehen und wie z. B. Kanada oder Gerichte in den Niederlanden Waffenlieferungen an Israel stoppen, hält die Bundesregierung an der Fiktion fest, dass der zionistische Staat unter Netanjahu eine Art Verteidigungskrieg führen würde. Der größte Teil der Menschheit kann darüber nur den Kopf schütteln. Auch eine Mehrheit der Deutschen folgt der Bundesregierung längst nicht mehr. Obendrein kann auch eine wachsende Minderheit der israelischen Bevölkerung ob der Nibelungentreue der deutschen Regierung zum israelischen Kriegskabinett nur ungläubig staunen.

Auch wenn sich die Verhandlung der Klage Nicaraguas über Wochen hinziehen wird und der Ausgang eng damit verbunden ist, ob der IGH Südafrikas Klage gegen Israel recht gibt, so bewirkt der Prozesse zumindest eines: Er trägt dazu bei, die Rechtfertigungsideologie des Krieges gegen Gaza in der Öffentlichkeit weiter zu unterminieren. Und das stellt für den herrschenden Kurs der Regierung ein wirkliches Problem dar. Auf Dauer lassen sich Waffenlieferungen für einen Genozid und bedingungslose Solidarität mit einem Staat, der ihn gerade durchführt, durch eine weitgehende mediale Gleichschaltung, Repression und Aushebelung demokratischer Rechte nur schwer durchhalten, wenn eine immer größere Mehrheit der Bevölkerung diese Politik dennoch ablehnt.

Hinzukommt, dass es keineswegs ausgeschlossen ist, dass der IGH Nicaraguas Klage folgt. Selbst wenn er Deutschland „nur“ in Teilen schuldig sprechen würde, stünde die Regierung vor einem Dilemma. Der IGH verfügt zwar über keine materiellen Mittel, seine Urteile gegen den Willen verurteilter Staaten zu erzwingen – und insofern könnte Deutschland weitermachen wie bisher. Das tun schließlich auch andere Staaten, wie Israel, China, Russland oder die USA. Doch diese haben nie ein Hehl daraus gemacht, dass für sie das nationale Interesse über jedem Urteil steht, das diesem zuwiderläuft. Deutschland hingegen ging über Jahre damit hausieren, dass das humanitäre Völkerrecht über allem stünde und für alle verbindlich wäre. Natürlich war das immer eine Lüge, wie man jüngst an der Reform genannten, faktischen Abschaffung zentraler Elemente des Asylrechts in der EU sehen kann.

Bei einer Verurteilung durch den IGH müsste Deutschland jedoch eine Entscheidung treffen. Entweder es folgt dem Entscheid und brüskiert damit seinen Verbündeten Israel, dem man ständig „bedingungsloser Solidarität“ versichert hat. Oder man ignoriert den Rechtsspruch und macht damit deutlich, dass man nur solange das humanitäre Völkerrecht, Demokratie und Menschenrecht hochhält, als sie den eigenen außenpolitischen Zielen dienen.

Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass eine Verurteilung durch das Gericht in Den Haag die deutsche Unterstützung des zionistischen Regimes stoppen wird. Aber der Prozess, die öffentliche Klage und erst recht eine mögliche Verurteilung unterminieren die ohnedies immer brüchiger werdende Legitimität der deutschen Politik. Es ist eine Aufgabe der Palästinasolidaritätsbewegung, genau diese Legitimitätskrise zu vertiefen, indem sie die Bundesregierung und die imperialistischen Mächte an den Pranger stellt. Denn dies stellt eine wichtige Voraussetzung dafür dar, die zunehmende Ablehnung der Regierungspolitik in der Bevölkerung zu einer Bewegung auf der Straße und in den Betrieben werden zu lassen, die diese Politik wirklich stoppen kann.




Nahost: Israel und der Westen missachten Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs

Rose Tedeschi und Alex Rutherford, Infomail 1248, 19. März 2024

Am 26. Januar erließ der Internationale Gerichtshof (IGH) ein Zwischenurteil in einem von Südafrika gegen Israel angestrengten Verfahren. Der IGH wurde ersucht zu entscheiden, ob Israel im Gazastreifen einen Völkermord begeht. In diesem Urteil wird festgestellt, dass sich Israel einer „plausiblen“ Anklage wegen Völkermordes zu stellen habe, und der IGH hat eine einstweilige Verfügung erlassen, in der dem Land Auflagen gemacht werden.

Die Anordnung verpflichtet Israel, alle Handlungen zu unterlassen, die unter die Völkermordkonvention fallen könnten, und sicherzustellen, dass seine Truppen im Gazastreifen keine völkermörderischen Handlungen begehen. Außerdem wird es aufgefordert, öffentliche Aufforderungen zu Völkermord zu verhindern und zu bestrafen und Beweise für den Vorwurf des Völkermords zu sichern. Darüber hinaus wurde Israel angewiesen, Maßnahmen zur Verbesserung der humanitären Lage der palästinensischen Einwohner:innen in der Enklave zu ergreifen, Beweise dafür aufzubewahren und dem Gericht innerhalb eines Monats einen Bericht vorzulegen.

Israel Bericht ist fällig. Es wird jedoch erwartet, dass er kurz und voller Beschimpfungen sein wird, die die Welt von der Regierung um den Premierminister Benjamin Netanjahu zu erwarten gewohnt ist. Israels Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara machte dies Ende Februar deutlich, als sie die Anschuldigungen Südafrikas als „skandalös“ und die Behauptungen als „absurd“ bezeichnete. Sie fuhr fort:

„Das entschlossene Handeln der israelischen Verteidigungskräfte beruht auf der Reinheit der Waffen und der allgemeinen Einhaltung des nationalen und internationalen Rechts, die Ausdruck der Stärke unseres Landes sind.“

Israel weiß, dass es sich hier auf zweifelhaftem Boden befindet und wird sich wahrscheinlich auf die Lieferung humanitärer Hilfe konzentrieren und behaupten, dass nicht es den Fluss der Hilfsgüter behindert, sondern die Palästinenser:innen, die den freien Durchgang blockieren. Die israelische Belagerung zwingt die hungernden Bewohner:innen des Gazastreifens, die wenigen Konvois, die durchkommen, zu plündern.

Natürlich gibt es einen Berg von Beweisen dafür, dass Israel die Hilfe durch zahlreiche Kontrollpunkte und Verzögerungen blockiert, wie die Aufnahmen von an der Grenze gestauten Lastwagen zeigen, ganz zu schweigen von der Belagerung von Rafah, dem Hauptzugangsort für die Hilfe. Der Norden soll frei von Hamas-Kämpfer:innen sein, doch wurden dort keine Grenzen geöffnet.

In Bezug auf die beiden anderen Forderungen muss Israel einige ernste Fragen beantworten. Genau zwei Tage nach dem IGH-Urteil nahmen neun Mitglieder des israelischen Parlaments (Knesset), darunter zwei Minister, an einer rechtsextremen Siedler:innenkundgebung teil, bei der die Vertreibung der Palästinenser:innen aus dem Gazastreifen und der Zuzug von Siedler:innen gefordert wurde. Die Minister selbst riefen dazu auf, das nördliche Westjordanland zu besiedeln. Die Regierung hat es versäumt, irgendwelche Abgeordneten dafür zu „bestrafen“, geschweige denn, dies zu „verhindern“.

Seine Militäraktionen im Februar bestätigen ebenfalls Israels Bereitschaft, mit einer Invasion in Rafah zu drohen und gleichzeitig Schulen und Krankenhäuser zu bombardieren. Tausende von Menschenleben stehen auf dem Spiel; wenn Panzer und Kanonen es nicht erreichen, könnten Krankheiten diese Aufgabe für die Israelis übernehmen. Die Bedrohung durch einen Völkermord ist näher gerückt, nicht weiter weg.

Israel und das Gesetz

Entscheidend ist jedoch, dass das Gericht keinen sofortigen Waffenstillstand anordnete. Die Hauptbegründung hierfür ist das von Israel vorgebrachte rechtliche Argument, dass es an einer „völkermörderischen Absicht“ fehle. Da die Hamas beschuldigt wird, die Gewalt durch ihren Angriff am 7. Oktober angezettelt zu haben, ist das Gericht der Ansicht, dass Israel argumentieren kann, dass seine Handlungen in Selbstverteidigung erfolgten, was eine Rechtfertigung für den Krieg und somit keine Anordnung einer sofortigen Waffenruhe darstellt.

Dies ignoriert die 75 Jahre der Unterdrückung, Enteignung und Apartheid, die Israel den Palästinenser:innen angetan hat. Für revolutionäre Kommunist:innen kann jedoch die Gewalt eines unterdrückten Volkes niemals mit der Gewalt des Unterdrückers gleichgesetzt werden. Das palästinensische Volk ist seit der Gründung des zionistischen Staates im Jahr 1948 Opfer einer schrecklichen nationalen Unterdrückung. Der Gazastreifen ist praktisch ein Freiluftgefangenenlager für eine der am meisten benachteiligten und überfüllten Bevölkerungen der Welt.

Diese Entscheidung ist nur vorläufig; bis zur endgültigen Entscheidung in diesem Fall werden Monate oder sogar Jahre vergehen. Die Entscheidungen des IGH sind endgültig und unanfechtbar, aber das Gericht hat keine Möglichkeit, sie durchzusetzen. Der Nachweis eines Vorsatzes ist jedoch bekanntermaßen schwer zu erbringen, da die rechtliche Messlatte für Beweise sehr hoch angesetzt ist.

Netanjahu bekräftigt Israels „unerschütterliches Engagement“ für das Völkerrecht und bezeichnet den Vorwurf des Völkermords als „empörend“. Der israelische Verteidigungsminister Yo’aw Galant zeigte sich „bestürzt“ darüber, dass die Klage nicht rundheraus abgelehnt wurde, und der Minister für Nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir twitterte spöttisch „Haag-Schmach“. Es wurde berichtet, dass andere hochrangige israelische Minister das Urteil als „antisemitisch“ bezeichnet haben.

Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa sagte, er erwarte, dass Israel sich an das Urteil hält und Maßnahmen zur Verhinderung eines Völkermords ergreift. Bislang sieht es nicht danach aus. Südafrikas Außenministerin Naledi Pandor war näher an der Wahrheit und warf Israel vor, das Urteil zu ignorieren. In der Woche nach dem Urteil des IGH wurden fast 1.000 weitere Palästinenser:innen getötet. Die Zahl der Todesopfer beläuft sich nun auf mehr als 30.000.

Israel hat seine Militäroperationen auf Rafah ausgeweitet, obwohl es die Stadt zu einer „sicheren Zone“ erklärt hat. Die UNO hat Rafah als „Druckkochtopf der Verzweiflung“ bezeichnet. Krankenhäuser sind weiterhin Ziel israelischer Angriffe; Berichten zufolge wurden Panzer in der Nähe des Nasser-Krankenhauses – dem größten funktionierenden Krankenhaus in Gaza – gesehen.

Kluft zwischen imperialisiertem Süden und imperialistischem Westen

War es das wert, den Fall vor den Weltgerichtshof zu bringen? Ja! Dieser Fall steht eindeutig für ein Massengefühl der Rebellion in der halbkolonialen Welt gegen den westlichen Imperialismus. Ramaphosa, der berüchtigte Mörder der südafrikanischen Bergarbeiter:innen von Marikana, ist sicher kein antiimperialistischer Kämpfer – und seine Gründe mögen in einem Wahljahr zynisch sein.

Aber es war der Druck der internationalen Bewegung für die Befreiung der Palästinenser:innen, auf den die Machthaber:innen reagierten. Südafrikaner:innen sind seit langem Verbündete des palästinensischen Volkes, und die internationale Rechtsexpertin Heidi Matthews sagte, dass ihr historischer Kampf für die Beendigung der Apartheid dem Fall gegen Israel „Glaubwürdigkeit und moralisches Gewicht“ verleiht.

Das Gefühl des Hasses gegenüber dem Westen, den ehemaligen Kolonialherr:innen Afrikas und Asiens, wird durch die Reaktion auf das Urteil des IGH noch geschürt. Innerhalb weniger Stunden nach der Entscheidung stellten die USA ihre Finanzierung des UN-Hilfswerks UNRWA ein, und Kanada folgte diesem Beispiel rasch. Es überrascht nicht, dass auch das Vereinigte Königreich und sechs weitere europäische Länder, darunter auch Deutschland,  sowie Japan ihre Mittel für das UNRWA aussetzten.

Das Hilfswerk der Vereinten Nationen ist die einzige Organisation, die derzeit in der Lage ist, die humanitären Mittel bereitzustellen, zu deren Gewährung sich US-Präsident Joe Biden und der britische Außenminister David Cameron „verpflichtet“ haben. Die EU schätzt, dass sich die insgesamt ausgesetzten Mittel auf mehr als 440 Millionen US-Dollar belaufen – die Hälfte des Haushalts der Organisation für 2024. In einer Zeit, in der die Menschen im Gazastreifen gezwungen sind, Gras zu essen und verschmutztes Wasser zu trinken, um zu überleben, ist dies absolut verachtenswert.

Glücklicherweise haben nicht alle Länder ihre Finanzierung zurückgezogen; Spanien hat ein dringendes Hilfspaket in Höhe von 3,8 Millionen Dollar angekündigt, und Australien und Belgien werden ihre Finanzierung des UNRWA fortsetzen. Aber der Sonderpreis für Heuchelei geht sicherlich an Deutschland, das einerseits die Legitimität des IGH anerkannt, andererseits aber sämtliche Vorwürfe gegen Israel vor jeder Untersuchung zurückweise – und gleichzeitig Israel mit den Waffen versorgt, die es benutzt, um das „Völkerrecht“ mit Füßen zu treten.

Schlussfolgerung

Trotz der vielen Unzulänglichkeiten dieses vorläufigen Urteils und des IGH selbst stellt die Entscheidung einen Schlag sowohl für Israel als auch für die westlichen Mächte dar. Sie hat zu dem Schauspiel geführt, dass diese Mächte genau die Institutionen untergraben, die sie zuvor geschaffen hatten, um ihre imperialistische Herrschaft über die Welt zu verschleiern. Ihre Ansprüche auf Rechtsstaatlichkeit und das Recht auf Selbstbestimmung, die sie im Falle der Ukraine und Taiwans, d. h. bei der Verurteilung ihrer Rivalen Russland und China, so hochgehalten haben, haben in den Augen des globalen Südens erheblichen Schaden genommen.

Die Bewegung für die Befreiung Palästinas muss diese Orientierungslosigkeit der Regierenden ausnutzen und sich keinen Illusionen in Typen wie Ramaphosa hingeben und ihre Anstrengungen international koordinieren, wenn sie ihr Ziel, ein freies Palästina, erreichen will. Das Urteil des IGH kann eine Plattform bieten, um auf diesen Kampf hinzuweisen, aber es kann keine Gerechtigkeit schaffen. Das können nur die Palästinenser:innen selber und ihre Unterstützer:innen tun, indem sie für die revolutionäre Zerstörung des zionistischen Staates und seine Ersetzung durch ein einheitliches, säkulares und sozialistisches Palästina kämpfen, einschließlich des Rechts auf Rückkehr.




Demonstration vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag

Fabian Johan, Den Haag, Infomail 1242, 12. Januar 2024

Die südafrikanische Regierung hat beim Internationalen Gerichtshof (IGH), dem wichtigsten internationalen Gericht der Vereinten Nationen, formell Anklage wegen Völkermordes gegen den Staat Israel erhoben. Als Folge seines brutalen Krieges gegen die Palästinenser:innen hat die südafrikanische Regierung erklärt, Israel habe die „spezifische Absicht … die Palästinenser:innen in Gaza als Teil der breiteren palästinensischen nationalen und ethnischen Gruppe zu zerstören“. (https://www.theguardian.com/world/2024/jan/09/explainer-what-is-the-icj-and-what-is-south-africas-claim-against-israel) Die Initiative Südafrikas wurde von der Organisation für Islamische Zusammenarbeit unterstützt, der 75 Mitgliedsstaaten angehören. Sie wurde auch von Hunderten fortschrittlicher palästinensischer und Friedensorganisationen unterstützt.

Am 11. und 12. Januar fanden die ersten beiden Anhörungen vor dem IGH in Den Haag statt. Eine Delegation progressiver Aktivist:innen begleitete die südafrikanische Abordnung, zu der auch der ehemalige linke Labour-Vorsitzende und Antikriegsaktivist Jeremy Corbyn gehörte. Da Corbyn stets der palästinensischen Solidaritätsbewegung nahestand und im Unterhaus imperialistische Kriege anprangerte, wurde er eingeladen, der Delegation beizuwohnen. Die Organisator:innen der Delegation erklären, Corbyn habe „immer auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden, indem er eine Sache unterstützt hat, die darauf abzielt, die Rechte der Menschen zu schützen, unabhängig von ihrer Nationalität oder ethnischen Zugehörigkeit“.

Obwohl es ein Werktag war, waren viele Menschen am Donnerstagmorgen gekommen, um vor dem Gericht zu protestieren. Auffallend war die hohe Beteiligung der jüdischen Gemeinde, die seit Beginn des Krieges gegen den Gazastreifen am 7. Oktober begonnen hat, in den Niederlanden antizionistische jüdische Organisationen zu gründen. Einige Mitglieder der orthodoxen jüdischen Organisation Neturei Karta (deutsch: Wächter der Stadt Jerusalem) trugen Schilder mit den Worten „Der Staat Israel repräsentiert nicht das Weltjudentum“ und „Das Judentum verurteilt den Staat Israel und seine Gräueltaten“.

Ebenfalls anwesend waren Aktivist:innen von BDS Netherlands, Samidoun, Students for Palestine und Aktivist:innen von BIJ1 (Zusammen, einer antirassistischen linken Partei in den Niederlanden). Die große Menschenmenge versammelte sich um einen großen Bildschirm, auf dem die Live-Übertragung der Anhörung durch Al Jazeera zu sehen war. Als die südafrikanische Delegation die Palästinenser:innen verteidigte und Israel des Völkermords beschuldigte, brach die Menge in tosenden Applaus aus.

Wie der Guardian berichtet, kann das Verfahren Jahre dauern, aber „eine einstweilige Verfügung könnte innerhalb von Wochen erlassen werden“.  Wenn nachgewiesen werden kann, dass einige der israelischen Handlungen unter die Völkermordkonvention fallen, kann das Gericht innerhalb weniger Wochen vorläufige Maßnahmen ergreifen. Auch wenn ein Gerichtsurteil nicht vollstreckt werden kann, kann eine Erklärung der Vereinten Nationen zum Völkermord schwerwiegende Folgen haben, die zionistischen Angriffe weiter in den Augen der Öffentlichkeit delegitimieren, den palästinensischen Widerstand und die Solidaritätsbewegung stärken. Es würde der Gewerkschaftsbewegung helfen, zu einem Arbeiter:innenboykott gegen Israel aufzurufen, und jene Kräfte stärken, die für einen Stopp der Waffenlieferungen, der politischen und wirtschaftlichen Unterstützung Israels eintreten. Es ist daher wichtig, die internationalen Bemühungen zur Aufdeckung der Verbrechen Israels zu unterstützen, da sie die Solidaritätsbewegung mit Palästina stärken und uns so einem gerechten Frieden im Nahen Osten näherbringen.




Argentinien: Rechtsruck bei den Vorwahlen

Martin Suchanek, Neue Internationale 276, September 2023

Der Sieg des rechten, ultraliberalen Javier Milei bei den Vorwahlen am 13. August kommt einem politischen Erdbeben gleich. Überraschend ließ der Kandidat der rechten La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) die Vertreter:innen der großen bürgerlichen Parteiblöcke – der rechtsliberalen Allianz Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wechsel) und der peronistischen Unión por la Patria (Union für das Vaterland) hinter sich.

Umfragen prognostizierten Milei, dessen Partei erst 2021 gegründet worden war, zwar einen beachtlichen Zulauf von bis zu 20 % der Stimmen und damit den dritten Rang unter den Präsidentschaftskandidat:innen. Dass er gewinnen würde, hatte jedoch niemand auf dem Schirm.

Ergebnis der Vorwahlen

Die Vorwahlen dienen in Argentinien zwei Zwecken. Erstens dürfen nur Parteien oder Allianzen, die die 1,5 %-Hürde knacken, zu den Präsidentschaftswahlen, zur Wahl von 130 der 257 Parlamentssitze sowie von 24 der 72 Senator:innen antreten. Zweitens können für eine Partei zwei Kandidat:innenlisten zur Vorwahl antreten und das Ergebnis legt fest, wer die Liste anführt. Darüber hinaus fanden am 13. August auch noch Vorwahlen zu den Gouverneur:innenwahlen und der Legislative mehrerer Provinzen, darunter auch Stadt und Region Buenos Aires statt.

Bei den Vorwahlen zur Präsidentschaft erhielten Milei und die als Vizepräsidentkandidatin antretende Victoria Villarruel 30 % der Stimmen. Anders als bei den meisten anderen Listen gab es hier keine parteiinterne Konkurrenz Auf dem zweiten Platz folgte Juntos por el Cambio mit 28,3 %, wobei sich dort Patricia Bullrich, die Vorsitzende der Partei des ehemaligen Präsidenten Mauricio Macri (2015 – 2019) und einstige Sicherheitsministerin, mit 17 % durchsetzen konnte.

Die zur Zeit noch regierende peronistische Unión por la Patria errang nur 27,27 % – und verlor damit gegenüber den Vorwahlen 2019 rund 20 %! Der derzeitige Wirtschafts- und Finanzminister Massa, also der Kandidat vom rechten Parteiflügel, setzte sich mit 21,4 % klar durch. Der linkspopulistische Gegenkandidat Grabois errang gerade 5,89 %, obwohl er vom Papst und der ehemaligen Präsidentin Cristina Kirchner unterstützt wurde.

Nur zwei weitere Listen schafften es zu den Präsidentschaftswahlen, alle andere blieben unter 1,5 %. So treten neben den oben genannten drei großen Lagern noch die aus dem Peronismus kommenden Schiaretti und Randazzo an, die bei den Vorwahlen 3,8 % erhielten. Die Kandidat:innen der Frente de Izquierda y de Trabajadores – Unidad (FIT-U = Front der Linken und Arbeiter:innen – Vereinigte Front) vereinten 2,7 % auf sich. Insgesamt erhielt die FIT-U 630.000 Stimmen – ein deutlicher Rückgang gegenüber den letzten Vorwahlen 2021 (zur anderen Hälfte der Parlamentssitze), als sie fast eine Million Stimmen erhielt, aber auch gegenüber den Wahlen von 2019. In der FIT-U setzte sich die Liste der PTS/IS (Bregman und del Caño) mit 1,86 % gegenüber jener von PO/MST (Solano und Ripoll) durch, die 0,79 % erhielt. Andere linke Kandidaturen aus dem trotzkistischen Spektrum verfehlten mit 0,4 % (Nuevo MAS) und 0,3 % (Politica Obrera) die 1,5 %-Hürde.

Sieg der Rechten und Krise

Betrachten wir nur die Stimmen zu den Präsidentschaftswahlen, so erzielten Kandidat:innen rechts von den regierenden Peronist:innen rund 60 %! Hinzu kommt, dass La Libertad Avanza auch in vielen Provinzen stark abschnitt, also nicht nur Milei als ernstzunehmender Kandidat, sondern auch seine Partei sich etablieren konnten. Die Stimmen für die regierenden Peronist:innen dürfen darüber hinaus auch keineswegs als „links“ gewertet werden. Vielmehr stellt der Peronismus den linken Flügel des bürgerlichen Spektrums dar, eine populistische politische Strömung, die letztlich die Interessen des Kapitals vertritt, auch wenn sie die Gewerkschaften und deren Führung über Jahrzehnte inkorporiert, gewissermaßen eine Volksfront in Parteiform darstellt.

In jedem Fall haben die beiden Hauptparteien des politischen Systems an Positionen verloren. Über Jahrzehnte stellten sie – und nur sie – Präsidentschaft und Regierung, wechselten sich gewissermaßen ab, wenn darum ging, die Staatsgeschäfte zu erledigen und die damit verbundenen Pfründe untereinander aufzuteilen. Dieses System war schon immer untrennbar mit Korruption, Vetternwirtschaft, Amtsmissbrauch und mehr oder weniger offener Plünderung staatlicher Gelder für eigene Zwecke oder im Interesse des inländischen und ausländischen Kapitals verbunden.

Doch Argentinien befindet sich seit Jahren in einer extremen ökonomischen und sozialen Krise, die eng mit der halbkolonialen Abhängigkeit des Landes verbunden ist. Schon um die Jahrhundertwende stand das Land infolge von Verschuldung, Bankcrash und Zusammenbruch der Währung vor dem Ruin. Nachdem diese vorübergehend überwunden werden konnte, dreht sich wieder die Schuldenspirale. Seit spätestens 2014 schrammt das Land nah an der Insolvenz vorbei.

Seit Jahren verhandelt Argentinien eine Umschuldung nach der anderen mit dem IWF, da es sonst kaum noch neue Kredite erhält. Im März 2023 betrugen die Schulden rund 276 Milliarden US-Dollar. Davon entfielen 148 Milliarden auf den Nationalstaat, der beim IWF mit rund 45 Milliarden in der Kreide steht. Gleichzeitig sanken die Devisenreserven der Zentralbank auf 36,5 Milliarden US-Dollar, den niedrigsten Stand seit 2016.

Die Inflation ist von Juni 2022 bis Juni 2023 von 64 % auf 115 % gestiegen, was auch dazu führt, dass viele versuchen, ihre Reserven in US-Dollar anzulegen. Extreme Dürren, begleitet von massiven Ernteeinbrüchen – Schätzungen gehen von 30 – 40 % für verschiedene Agrarprodukte aus –, haben die Situation weiter zugespitzt. Verschärfend kommen Energie- und Treibstoffknappheit hinzu. Für 2023 prognostiziert der IWF ein Schrumpfen der Wirtschaft um 2,5 % und eine Inflationsrate von 120 %.

Dabei leben schon heute rund 40 % der Bevölkerung in völliger Armut – und zwar mit massiver Steigerung. In den letzten Jahren sind Schätzungen zufolge rund 4,5 Millionen Menschen in die Armut abgerutscht, auch aus den Mittelschichten – nicht zuletzt infolge der Kürzungen, die für IWF-Kredite ausgehandelt wurden. Die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 7,5 %, die Jugendarbeitslosigkeit bei 18,3 %. Nur 43 % der Beschäftigten haben einen „regulären“ Arbeitsvertrag, die Mehrheit der Lohnabhängigen arbeitet ohne soziale Absicherung über Vertragsarbeit oder als Scheinselbstständige. Das führt auch dazu, dass die Gewerkschaften an potentiellem Einfluss verloren, weil mittlerweile die Mehrheit aller Arbeitsverhältnisse nicht über gewerkschaftliche Abkommen reguliert wird (was umgekehrt die Gewerkschaftsspitzen nicht hindert, sich weiter den Peronist:innen unterzuordnen).

Widerstand

All dies findet keineswegs ohne Widerstand und Protest statt. Im Sommer 2022 gab es bedeutende Demonstrationen gegen Preissteigerungen und umfangreiche Kürzungen an Sozialprogrammen durch die peronistische Fernández-Regierung. Mehrere landesweite Protesttage 2023 mobilisierten Hunderttausende – 160.000 am 7. Februar,

rund 350.000 Menschen am 18. Mai 2023 nach einem Sternmarsch nach Buenos Aires gegen Hunger und IWF-Sparpolitik. Maßgeblich organisiert wurden sie von einer  Koordination für die soziale Veränderung, einem Bündnis der Erwerbslosenorganisationen namens Unidad Piquetera.

Am 4. Juli 2023 fanden in mindestens 87 Orten Argentiniens Proteste statt, vielerorts wurden auch Straßen und Kreuzungen blockiert. Unter dem Banner „Unidad Piquetera“ (Vereinte Blockade) demonstrierten verschiedene soziale Bewegungen gemeinsam gegen die wachsende Ungleichheit im Land.

Die vier Forderungen der Unidad Piquetera: „20 Millionen Arme, und das Essen geht in den Wahlkampf. [1] Ganzheitliche Versorgung der Suppenküchen. 2) Lieferung der Hilfsmittel für selbstverwaltete Arbeit. 3) Teuerungsausgleichszulage. 4) Erhöhung der Sozialprogramme = Inflation.“

Ein anderes Beispiel für Proteste ereignete sich im Juni 2023 in der Nordwestprovinz Jujuy, wo der Gouverneur eine Verfassungsreform durchdrücken will. Die neue Verfassung verbietet es, Straßen zu blockieren oder andere Maßnahmen zu ergreifen, die in den letzten Wochen in der Provinz bei Demonstrationen gegen die Reform und für eine bessere Bezahlung der Lehrer:innen eingesetzt wurden.

„Die CGT von Jujuy hat einen 48-stündigen Streik ausgerufen. Alle zum Streik und zur Mobilisierung. Er muss andauern, bis die Reform fällt und sie auf alle Forderungen reagieren. Ein nationaler Streik der CGT und der CTA zur Unterstützung der Bevölkerung von Jujuy ist unerlässlich. Nach Tagen des Kampfes und der Repression in Purmamarca sind die Worte des Präsidenten und der Vizepräsidentin der Nation angekommen. Ihre Partei hat die Reform von Morales unterstützt und heute waren sie noch im Plenarsaal und haben geschworen, dass es eine schlechte Reform ist, während sie das Volk unterdrücken. Nieder mit der Reform. Hoch mit den Löhnen und Rechten. Freiheit für alle Verhafteten und Inhaftierten. Generalstreik, bis die Verfassungsreform von Morales und der PJ fallen gelassen wird“. (Aus einem Bericht des linken Wahlbündnisses FIT-U) (Gerardo Morales=Gouverneur von Jujuy)

Allerdings gingen die Proteste trotz beachtlicher Größe bislang nicht über Großdemonstrationen oder lokale, befristete Besetzungen und Streiks hinaus. Zweitens tragen viele auch einen defensiven, eher appellativen Charakter.

Warum siegte die Rechte?

So wichtig, diese Mobilisierungen daher sind, so schlägt in Argentinien das politische Pendel inmitten der kombinierten sozialen, wirtschaftlichen Krise massiv nach rechts aus. Zweifellos sind die Wahlbewegungen instabil und Momentaufnahmen. Sicherlich wählten viele Milei auch, um den etablierten Parteien einen Denkzettel zu verpassen, nicht weil sie von seiner Politik so überzeugt wären. Aber die Bilanz der Vorwahlen ist eindeutig (und wird sich bis zu den Wahlen auch nicht extrem verändern, selbst wenn Juntos por el Cambio oder Unión por la Patria besser abschneiden sollten. Der Rechtsruck ist deutlich – und wir müssen uns fragen, warum ein Kandidat wie Milei, der 2019 noch gar nicht zur Wahl stand, 30 % erreichen konnte.

Ähnlich wie Trump inszeniert sich der Wirtschaftswissenschafter und selbsternannte „Anarchokapitalist“ als Kandidat gegen das „korrupte“ Establishment. Er verspricht, mit der Korruption, mit dem „alten System“, zu dem auch die Gewerkschaften, Linke, Errungenschaften der Frauenbewegung und Unterdrückten gehören, aufzuräumen.

Den Peso will er abschaffen und durch den US-Dollar ersetzen, die Zentralbank würde dann nicht mehr gebraucht und folgerichtig geschlossen. Die Bindung an den US-Imperialismus würde verstärkt.

Milei hat Verbindungen zu bekannten rechten Organisationen wie z. B. der „Fundación LIBRE“ und findet lobende Worte für die ehemalige Militärdiktatur. Auch spricht er sich gegen Abtreibung aus. Seine wirtschaftliche Agenda ist eine besonders radikale Form des Neoliberalismus. Er will alle Sozialprogramme abschaffen und Unternehmen nicht mehr besteuern. Bildung und die öffentliche Gesundheitsversorgung sollen restlos privatisiert werden.

Kein Wunder also, dass er Unterstützung bei den reichsten Menschen sowie bei bedeutenden Teilen des Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten findet. Aber er erhielt paradoxerweise auch bei den ärmsten Menschen massiv Zuspruch.

Dies verdeutlicht nicht nur deren massive Entfremdung vom argentinischen politischen System und insbesondere auch vom Peronismus, der diese lange integriert hatte. Die Wahl der Rechten als „Protest“ verweist auch auf die Verzweiflung und teilweise Demoralisierung dieser Schichten. Gelingt es den Gewerkschaften und der Linken nicht, die Massen gegen die Krise zu mobilisieren und für diese einen Pol der Hoffnung darzustellen, so droht, sich diese Schicht zu einer rechten populistischen Bewegung zu verfestigen und im Falle zukünftiger Kämpfe sogar weiter zu radikalisieren.

Die Mischung aus heterogenen Klassenkräften – von verarmten, deklassierten Schichten über das Kleinbürger:innentum bis hin zu Teilen des herrschenden Klasse – kann nur zusammengehalten werden, indem der anarchokapitalistische Führer sein Programm, das sich unmittelbar gegen die Masse seiner Wähler:innen richtet, mit rassistischer, reaktionärer, demagogischer und irrationaler Hetze gegen eine/n gemeinsame/n Feind:in verbindet. Sollte Milei in der Opposition bleiben, wird er in jedem Fall diese Strategie verfolgen. Aber auch, wenn er einen bedeutenden Einfluss auf die nächste Regierung erlangen oder gar, was unwahrscheinlich ist, die Präsidentschaft gewinnen sollte, wird er auf eine solche reaktionäre Mobilisierung weiter zurückgreifen müssen, will er seine Anhänger:innen bei der Stange halten.

Die radikale Linke

Vor diesem Hintergrund müssen die Ergebnisse der „radikalen Linken“ analysiert und deren Aufgaben bestimmt werden.

Die FIT-U hat mit 2,7 % (=620.000 Wähler:innen) ein Ergebnis erzielt, das in jedem anderen Land überaus beachtlich wäre. Die Wahlallianz FIT-U aus vier trotzkistischen Organisationen besteht aber bereits seit 2011 und die Ergebnisse pendeln seither um diesen Prozentsatz. Die FIT-U ist zwar etwas gewachsen, aber ihr gesellschaftlicher Einfluss stagniert seit Jahren.
Das liegt an mehreren Faktoren. Erstens bildet sie im Wesentlichen nur eine Wahlallianz. Außerhalb der Wahlen treten die vier Gruppierungen vor allem als verschiedene Organisationen auf.

Auch wenn alle gern betonen, dass die FIT-U mehr werden müsse als eine Wahlallianz – so hat auch niemand den Schritt, über diese hinauszugehen, ernsthaft versucht.

Dies würde nämlich bedeuten, offen und öffentlich über eine programmatische Vereinheitlichung und die programmatischen Differenzen zu debattieren. Es würde auch bedeuten, die FIT-U für Arbeiter:innen und Jugendliche zu öffnen, die deren Wahlprogramm unterstützen.

Das ist aber nicht möglich. Die Mitglieder der FIT-U sind vier Organisationen – Partido Obrero (PO), Partido de los Trabajadores Socialistas (PTS), Izquierda Socialista (IS) und Movimiento Socialista de los Trabajadores (MST). Wer mitbestimmen will, muss einer der vier betreten.

Hinzu kommt, dass das Programm der FIT-U aus dem Jahr 2011 (!) stammt und seither nicht aktualisiert wurde. Dabei wäre das dringend nötig. Erstens, weil das Programm nicht auf die aktuellen Aufgaben fokussiert ist, zweitens, weil es wichtige Schwächen aufweist, die es zu einem zentristischen, nicht-revolutionären Programm machen. So enthält es keine klare Orientierung auf eine Einheitsfrontpolitik gegenüber den bestehenden, vom Peronismus politisch dominierten Gewerkschaften. Das Programm spricht zwar die Forderung nach einer Arbeiter:innenregierung an, aber es lässt offen, auf welche Organe sich eine solche stützen müsste, wie überhaupt Räte und bewaffnete Selbstverteidigungsorgane der Arbeiter:innen und Unterdrückten (Milizen) nicht vorkommen.

Teile der FIT, z. B. Izquierda Socialista, halten dieses ungenügende Programm für ausreichend. Faktisch agieren die Kandidat:innen der FIT-U darüber hinaus mit ihren jeweils eigenen Wahlplattformen. Nicht nur zum Wahlprogramm gibt es massive Differenzen, auch zu anderen, für den Klassenkampf wichtigen Fragen (Charakterisierung von Russland und China, Krieg in der Ukraine, Verhältnis zu Kuba und Venezuela, Haltung zu den Piquetero-Organisationen und zum Peronismus).

Die Wahlen dürfen daher auch von der FIT-U nicht als Aufruf zu einem „Weiter so!“ verstanden werden. Vielmehr müssen zwei, miteinander verbundene strategische Aufgaben angegangen werden:

a) Aufbau einer Einheitsfront gegen die Angriff des Kapitals mit dem Ziel, auch die Gewerkschaften in den Kampf zu zwingen.

b) Ausarbeitung eines Aktionsprogramms, das im Kampf für eine Arbeiter:innenregierung gipfelt, die sich auf Räte und Milizen stützt, das Großkapital unter Arbeiter:innenkontrolle enteignet und einen Notplan gegen die Krise umsetzt.

Dies würde aber erfordern, dass die FIT-U selbst eine Kurskorrektur vornimmt, eine Diskussion um diese Fragen organisiert, um eine vereinte revolutionäre Arbeiter:innenpartei aufzubauen.




Gemeinsam gegen Arbeitsrechtsverletzungen: Arbeiterinnen und Arbeiter von Wolt, Lieferando, Flink sitzen zusammen

Minerwa Tahir, Infomail 1223, 17. Mai 2023

„Zwei Tage nachdem meine sechsmonatige Probezeit am 8. Mai endete, wurde ich am 10. Mai per E-Mail entlassen. Ich brauchte das Geld für meine Studiengebühren.“

Dies ist die Geschichte des 22-jährigen K*, der an der Berlin School of Business Innovation den Master in Finance studiert. Er kam aus Kerala, Indien, nach Deutschland. „Meine Eltern haben mich dabei unterstützt, hierherzukommen, aber was kann ich noch mehr von ihnen verlangen“, sagt er. „Es ist auch für sie schwierig, mich von Indien aus zu unterstützen. Ich habe aus der Not heraus angefangen, bei Flink zu arbeiten, auch, weil mir die Idee gefiel, mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Und jetzt, nach sechs Monaten guter Arbeit, wurde mir ohne Grund gekündigt.“

Versammlung

K* war am Montag, den 15. Mai, bei einer Versammlung der Wolt-Zusteller:innen anwesend. Das Treffen wurde mit dem Ziel organisiert, allen Zusteller:innen, die von Nichtbezahlung, Kündigungen ohne Grund, Entzug grundlegender Arbeitsrechte wie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und anderen Problemen betroffen sind, Rechtsbeistand zu leisten. Martin, ein Rechtsanwalt, war anwesend, um die Beschäftigten aus rechtlicher Sicht zu beraten, da er über Erfahrungen mit Fällen von Lohnabhängigen bei verschiedenen Lebensmittellieferant:innen wie Gorillas, Lieferando, Flink und Wolt verfügt. Andere, die für andere Lebensmittellieferant:innen als Wolt arbeiten oder gearbeitet haben, sowie einige Aktivist:innen waren ebenfalls anwesend.

Laut K* behandelt Flink seine Mitarbeiter:innen seit einigen Monaten auf unfaire Weise. „Flink hat nicht so viel Geld verdient, wie es erwartet hatte, und jetzt wälzen sie die Last ihrer Verluste auf die Beschäftigten ab, indem sie sie entlassen“, sagte er. „Ich verstehe, dass ein Unternehmen das manchmal tun muss, aber das Mindeste, was sie tun können, ist, uns eine 30-tägige Kündigungsfrist einzuräumen.“

Er teilt sich ein Zimmer mit einem anderen Freund, weil die Miete ohnehin schon so schwer bezahlbar ist. Jetzt, da ihm plötzlich gekündigt wurde, macht er sich Sorgen, wie er in diesen prekären Zeiten seine Finanzen regeln soll. „In meinem Vertrag steht, dass man innerhalb der sechsmonatigen Probezeit jederzeit gekündigt werden kann“, sagte er. „Aber mich nur zwei Tage nach Ablauf der Probezeit fristlos zu entlassen, ist geradezu grausam.“

Der Fall von K* ist weder neu noch ein Einzelfall. Eine andere Person, die bei dem Treffen anwesend war, berichtete von einer ähnlichen Erfahrung mit Flink. Inzwischen haben Wolt-Mitarbeiter:innen wie Mohamed nicht einmal einen Arbeitsvertrag. Zusammen mit einem anderen Wolt-Arbeiter hat er im Juli einen Termin für die Anhörung ihrer Fälle vor einem Gericht.

Mohamed sagte, dass der Eigentümer von Mobile World, der die Arbeiter:innen des Fuhrparks von Wolt als Subunternehmer:innen beschäftigte und ihnen Löhne im Wert von 3.000 Euro nicht zahlte, jetzt neue Leute einstellt. „Es gibt eine Anzeige auf Ebay unter Alis Namen“, sagte er. „Diesmal sind es aber nur Autofahrer:innen, die er einstellt.“

Arbeiter:innen von Lieferando, Wolt und Flink diskutierten ähnliche Probleme. Einige beschwerten sich darüber, dass sie für ihre erste Bestellung überhaupt und auch für die erste nach einer Pause nicht für die gefahrenen Kilometer entschädigt werden. R* sprach darüber, dass Wolt von ihm erwartet, dass er nachts zu ungewöhnlichen Zeiten arbeitet, obwohl er einen „flexiblen“ Vertrag gewählt hat, um sich um sein Kind zu kümmern.

Es wurde auch über die Bildung (und die damit verbundenen Schwierigkeiten) eines Betriebsrats für die Wolt-Beschäftigten diskutiert, da die Lieferando-Beschäftigten bereits einen haben. Schließlich wurde beschlossen, eine weitere Protestaktion zu organisieren, um Druck und Bewusstsein zu schaffen. Beim nächsten Treffen am 22. Mai sollen die Aktionspläne konkretisiert werden.

Solidarität

Die Gruppe Arbeiter:innenmacht erklärt ihre volle Solidarität mit allen Zusteller:innen, die für ihre Rechte kämpfen. Ihr Kampf ist gerecht und mehr denn je absolut notwendig. Die Lebensmittellieferant:innen sind sich der begrenzten Möglichkeiten bewusst, die auf migrantische Student:innen aus südasiatischen Ländern aufgrund von Sprachbarrieren existieren. Die meisten dieser Studierenden kommen aus nicht sehr wohlhabenden Verhältnissen und müssen als Lieferfahrer:innen arbeiten, um über die Runden zu kommen.

Internationale Lebensmittellieferant:innen nutzen ihre prekäre Lage aus und halten sich dabei nicht einmal an die deutschen arbeitsrechtlichen Vorschriften. Das liegt daran, dass die meisten Migrant:innen ihre Rechte nicht kennen und viele, die sie kennen, Angst haben, das Unternehmen zu verklagen. Nicht wenige haben mit ihrem Studium und mehreren Gelegenheitsjobs kaum Zeit, sich kollektiv zu organisieren. Das stille Leiden der Mehrheit hat dazu geführt, dass sich diese blutsaugenden Unternehmen zu einem Monster entwickelt haben, das völlig ungestraft agiert.

Die Auslieferung von Lebensmitteln ist ein fester Bestandteil des Lebens in Deutschland, was zeigt, wie wichtig diese Lohnabhängigen heute sind. Jeden Tag sieht man Hunderte dieser jungen Männer und Frauen, die sich auf unseren Straßen mit dem Fahrrad fortbewegen. Wir rufen alle Lohnabhängigen und Gewerkschaften auf, die Kämpfe dieser sogenannten informellen Arbeiter:innenklasse zu unterstützen. Der Kapitalismus hat sie zu einer Unterklasse degradiert, und es ist eine Schande, dass die deutschen Behörden dies direkt vor ihrer Nase zugelassen haben.

Wir als Arbeiter:innen sind stärker, wenn wir geeint und organisiert sind. Aber diese Einheit und Organisation wird sich nicht von selbst ergeben. Es ist die Pflicht aller Sozialist:innen und Kommunist:innen, die bereits in Gewerkschaften organisiert sind, das Thema der Solidarisierung mit den Beschäftigten des informellen Sektors aufzugreifen und in ihren bestehenden Gewerkschaften dafür zu streiten. Es ist unsere Pflicht, an den Treffen und Veranstaltungen unserer Klassenbrüder und -schwestern teilzunehmen, um ihnen zu zeigen, dass wir an ihrer Seite stehen. Wir können nie wirklich wissen, wann solche „Ausnahmen“ zur Regel für alle werden könnten. Bereiten wir uns also schon jetzt darauf vor und stellen wir uns auf die richtige Seite der Geschichte.

Auch für die Beschäftigten des informellen Sektors wäre es von Vorteil, sich in der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) zu organisieren, aber auch Teil des klassenkämpferischen Netzwerks der Gewerkschaften, der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) zu werden, das im Januar 2020, kurz vor Beginn der Pandemie, gegründet wurde. Diese ist zwar offiziell „vorbei“, aber unser kollektives Leid ist es noch lange nicht. Deshalb müssen wir uns zusammenschließen und streiken!

* Namen zum Schutz der Identitäten verborgen.




Pakistan: Rechte versucht, minimalen Schutz für Transpersonen rückgängig zu machen

Revolutionary Socialist Movement (Pakistan), Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 11, März 2023

Während im Iran die Arbeiter:innenklasse gegen das diktatorische, patriarchale Regime auf die Straße geht, wird über die Attacke der fundamentalistischen Rechten auf Transpersonen in Pakistan, die ohnehin schon massiv unterdrückt werden, geschwiegen.

Ebenso wie die Mullahs im Iran versuchen, Frauen daran zu hindern, selbst zu entscheiden, was sie tragen, will das pakistanische Äquivalent mit seiner protofaschistischen Basis die kleinen Erfolge des Gesetzes zum Schutz von Transpersonen aus dem Jahr 2018 zurücknehmen. Es war zwar kein großer Wurf, kann jedoch als kleiner Fortschritt angesehen werden. Es gewährt Transpersonen zum Beispiel nicht das Recht, sich entgegen ihrem eingetragenen Geschlecht als Mann oder Frau zu identifizieren. Dennoch erlaubt es ihnen, sich selbst dem dritten Geschlecht im Unterschied zu ihrem bei Geburt zugeschriebenen zuzuordnen. Dies gilt auch für Ausweisdokumente.

Die religiöse Rechte begehrt, wie zu erwarten war, bewaffnet gegen dieses Gesetz auf und verbreitet eine Deutung, die wie gewöhnlich in Betrug und Verderbtheit wurzelt, die typisch für ihresgleichen ist. Als Begründung gibt sie an, dass die amtliche Änderung des Geschlechts als Möglichkeit genutzt werden könne, das Verbot von Eheschließungen gleichgeschlechtlicher Paare zu umgehen, indem sie vorgeben, ein anderes Geschlecht zu repräsentieren. Doch das ist unwahr.

Die Kräfte, die gegen dieses Gesetz mobilisieren, welches im Jahr 2018 verabschiedet wurde, sind dafür bekannt, seit langem protofaschistische Tendenzen zu umfassen. Sie sind ebenfalls dafür bekannt, ein extrem patriarchales und rückschrittliches Frauenbild zu vertreten. Die Partei Jamaat-e-Islami (Islamische Gemeinschaft; JI) spielte eine zentrale Rolle für die drakonischen Gesetze, die der Diktator Zia-ul-Haq (1978 – 1988) während der Militärdiktatur eingeführt hat. Die Jamiat Ulema-e-Islam (Fazl) (JUI-F; Versammlung Islamischer Kleriker), deren Führer Maulana Fazal-ur-Rehman ist, wurde vor kurzem, als die PDM (Pakistan Democratic Movement; Pakistanische Demokratische Bewegung; Parteienkoalition gegen Expremierminister Imran Khan, 2020 gegründet) in Opposition zu Imran Khan gegründet wurde, als  Held:in der reformorientierten und liberalen Linken Pakistans gefeiert. Doch sie pflegt die hässliche Tradition, die Gesichter von Frauen, die in öffentlichen Anzeigen zu sehen sind, mit schwarzer Farbe zu beschmieren. In der Zwischenzeit hat sich noch eine weitere Partei, die Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI; Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit) der widerwärtigen Hasskampagne angeschlossen. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass der Vorsitzende und ehemalige Premierminister Imran Khan ein Frauenhasser vom selben Schlag ist.

Senator Mushtaq Ahmad Khan von der Partei Jamaat-e-Islami steht an der Spitze der derzeitigen Hasskampagne gegen die Rechte von Transmenschen, die zumindest auf dem Papier bestehen. Er hat vorgeschlagen die Gesetzeslage dahingehend zu ändern, dass Gremien von Ärzt:innen geschaffen werden sollen, die dann wiederum die Entscheidungsmacht darüber hätten, ob eine Person „komplett“ männlich oder weiblich sei. Dies solle mit einer invasiven körperlichen Untersuchung einhergehen. In seiner Vorstellung sollten nur die, bei denen das Geschlecht auf Basis der Fortpflanzungsanatomie bei Geburt „unklar“ sei, das Recht dazu haben, über ihr Geschlecht zu entscheiden. Kurz gesagt sollten lediglich Menschen mit mehrdeutigen Genitalien (Anm.: in der Regel sog. Intersexuelle) wählen dürfen und auch nur, wenn sie sich vorher der Tortur einer Leibesuntersuchung durch eine ärztliche Instanz unterzögen. In einem Land, wo die meisten Ärzt:innen (Anm: in der Regel Männer) bereits massiv in die Privatsphäre ihrer Patient:innen durch wertende Kommentare eingreifen, bspw. wenn es um Themen rund um Sex geht, kann man sich ausdenken, was das für Leben und Gesundheit von Transpersonen an Belastung mit sich bringt.

Die Begründung Mushtaq Ahmad Khans hat gezeigt, dass sowohl Frauenunterdrückung als auch die Geschlechterungleichheit und die Diskriminierung von sexuellen Minderheiten eine Klassenfrage darstellen. So gab er bei Voice of America zu, dass die eigenständige Wahl des Geschlechtes „eine Gefahr für die Familie und das Erbschaftssystem darstellt“ und es „die Tür dafür öffnet, dass 220 Millionen Menschen auswählen zu können, irgendwas zu sein“. Die Familie ist in der bürgerlichen Gesellschaft der Garant für das Überleben des kapitalistischen Systems, denn sie dient in erster Linie dazu, das Privateigentum dort zu halten. Für Pakistan ist wichtig anzumerken, dass insbesondere in islamischen Gesellschaften Frauen den halben Anteil des Mannes am Erbe erhalten. Die mickrige Hälfte, die ihnen zusteht, wird dennoch als Teil angesehen, der der Familie des Mannes zustünde. Die Ängste, dass Privatbesitz anders verteilt würde, und die Bedrohung, die das Gesetz offensichtlich für das „Familiensystem“ darstellt, zeigen, wie die Institutionen der Familie, des Klerus und des Gesetzes zusammenwirken, um die Existenz und den Fortbestand des Systems des Privateigentums zu sichern. Dieses System sorgt dafür, dass die Reichen reich und die Armen arm bleiben. Es sorgt dafür, dass der Sohn eines Kapitalisten auch nach dem Tod des Vaters Eigentümer des Familienunternehmens bleibt und der Sohn eines Arbeiters auch nach dem Tod seines Vaters zu einem Hungerlohn arbeiten muss. Die regressive Anhäufung von Reichtum in wenigen Händen kann ohne Familiensystem nicht fortbestehen. Das derzeitige Gesetz zum Schutz von Transgendern sieht vor, dass eine Person, die sich als Transmann identifiziert, auch doppelt so viel Erbe erhält wie eine Transfrau. In einem Land, in dem es üblich ist, dass Brüder ihre Schwestern emotional so manipulieren, dass sie auf ihren ohnehin schon geringen Anteil am Erbe verzichten, oder es sich einfach ohne ihre Zustimmung aneignen, kann man sich vorstellen, welche Ängste das Gesetz bei reaktionären Männern auslöst, die nun mit der Bedrohung konfrontiert sind, dass ihre leiblichen Schwestern sich möglicherweise in Männer „verwandeln“. Auch wenn es keine Zahlen gibt, die solche lächerlichen Befürchtungen untermauern, ist die Klassenbasis dieser Ängste mehr als deutlich.

Obwohl sie unbegründet sind, bedeuten sie in der Realität eine Bedrohung für das Leben und die Sicherheit von Transpersonen. Im Jahr 2021 wurden nachweislich mindestens 20 Transpersonen in Pakistan umgebracht. Das pakistanische Religionsgericht sowie der ständige Ausschuss für die Überprüfung im Senat prüfen die Argumente zum Gesetz. Der Rat für Islamische Ideologie (ein weiteres Verfassungsorgan Pakistans), dessen Aufgabe es ist, die pakistanischen Gesetze im Lichte des Islam zu überprüfen, hat das Gesetz aus dem Jahr 2018 für unislamisch erklärt. Wenn das Gesetz geändert wird, um die religiöse Rechte und ihre frauenfeindlichen Verbündeten in fast allen etablierten Parteien Pakistans zu besänftigen, käme das einer großen Niederlage für die Arbeiter:innenklasse und die unterdrückten Menschen in Pakistan gleich. Heute haben sie es auf die Transgender abgesehen. Morgen könnten sie versuchen, den Hidschab (Verschleierung oder Kopfbedeckung nach islamischem Gesetz) im Namen des Islam durchzusetzen wie ihre benachbarten Kleriker im Iran. Es ist ein Teufelskreis, in dem die imperialistischen Mächte diese Beispiele nutzen werden, um zu Hause weiter mit der Islamophobie hausieren zu gehen, während die arbeitenden Massen sowohl in den imperialistischen Kernländern als auch in den Halbkolonien weiter leiden.

Daher rufen wir Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen, Gewerkschaften und alle fortschrittlichen Kräfte in Pakistan auf, sich gegen diese dogmatischen Kräfte zu stellen. Wir können nur selbst etwas bewirken, denn die Bourgeoisie wird keinen Finger rühren. Mushtaq Khan hatte bereits 2021 versucht, seine unsägliche Agenda durchzusetzen. Doch es schlug damals dank des Einsatzes von Shireen Mazari (pakistanische Politikerin und Menschenrechtsaktivistin, Vorsitzende der Parlamentskommission für die Ernennung der/s Chef:in der Wahlkommission und ihrer Mitglieder) fehl. Gegenwärtig braucht die pakistanische Bourgeoisie eine Angst, die sie über ihre Medien und Kleriker in den Köpfen der Massen hervorrufen kann, um von den wirklichen Problemen der Wirtschaftskrise, den verheerenden Überschwemmungen und der ständig wachsenden Auslandsverschuldung abzulenken. Jamaat-e-Islami spielt langjährig die Rolle der Schutzmacht eines sich auflösenden kapitalistischen Systems. Ohne selbst je an die Macht kommen zu können, besteht darin ihr einziger Job, um sich ihren Anteil an den Pfründen zu sichern. Denn die Gruppe, auf die sie sich in der Gesellschaft stützt, ist überschaubar. Es sind vor allem kleine Geschäftsleute und Händler:innen, also Kleinbürger:innen. Historisch gesehen sind das genau diejenigen, die dazu mobilisiert werden können, auch mit Gewalt gegen die Arbeiter:innenklasse und ihre Organisationen vorzugehen. Genau deswegen ist es unsere Aufgabe, sie nicht gewähren zu lassen und uns mit all unserer Kraft gegen diese Attacken (auf Transsexuellenrechte) als Ausdruck patriarchaler Gewalt durch reaktionäre Kräfte zu stellen. Unsere Brüder und Schwestern im Iran weisen uns den Weg!




Der Fall Orhan Akman – ein Sittenbild der ver.di-Bürokratie

Helga Schmid, Infomail 1208, 28. Dezember 2022

Seit Monaten würgen ver.di-Verantwortliche interne Kritik gegen überholte Strukturen und falsche politische Ausrichtung mit bürokratischen Mitteln ab. Dabei scheuen sie auch nicht davor zurück, den „Fall“, den sie selbst erst geschaffen haben, vor bürgerliche Gerichte zu bringen.

Mit schikanösen Vorwürfen und Maßnahmen geht der Apparat seit gut sechs Monaten gegen Orhan Akman, ver.di-Bundesfachgruppenleiter für Einzelhandel und Versand, vor. Dazu zählen: zwei Ermahnungen, zwei fristlose Kündigungen (sowie eine dritte, beabsichtigte Kündigung, die dann aus formalen Gründen nicht mehr ausgesprochen wurde), Zutrittsverbot in sein Büro, Abberufung von seiner Funktion als Bundesfachgruppenleiter Einzel- und Versandhandel und Widerruf aller ihm erteilten Tarifvollmachten.

Gericht entscheidet gegen bürokratischen Apparat

Am 13. Dezember hat nun das Arbeitsgericht Berlin die Klage von Orhan Akman gegen seine Kündigung zu seinen Gunsten entschieden und ihm in allen Punkt Recht gegeben (mehr unter: https://orhan-akman.de/).

Der Fall Orhan Akman hat in den letzten Monaten sowohl innerhalb ver.dis, aber auch in der Öffentlichkeit großes Aufsehen erregt. Viele Gliederungen der Gewerkschaft, Betriebsräte, vor allem aus dem Handel, und Einzelpersonen haben sich gegen die ungerechtfertigte Kündigung gewendet und sich für ihre Rücknahme ausgesprochen. Auch persönliche Vermittlungsangebote zwischen Bundesvorstand und Orhan Akman sind insbesondere bei ver.di-Chef Werneke auf Granit gestoßen.

Daraufhin ist Orhan vor Gericht gezogen und hat nun Recht bekommen. Vordergründig ging es um seine – in den Augen des Bundesvorstands – dreiste Kandidatur zum Bundesvorstand gegen seine Kollegin Silke Zimmer. Diese war, nachdem die bisherige Kollegin im Bundesvorstand und Leiterin des Fachbereichs Handel ihren Rücktritt erklärt hatte, vom Bundesfachbereichsvorstand als Kandidatin für den Bundesvorstand gewählt worden. Darüber hinaus werden ihm sein angeblich ungebührliches Verhalten seiner bisherigen „Chefin“ gegenüber vorgeworfen sowie die angebliche Weitergabe von ver.di-Interna an die Presse.

Politische Positionen

Selbst wenn all das der Fall gewesen sein sollte, ist dies kein Kündigungsgrund. In Wirklichkeit sind alle diese Gründe vorgeschoben. Im Wahrheit geht es um seine politische Position, die er mittlerweile auch über seine Website öffentlich gemacht hat. Dort spricht er sich dafür aus, dass sich ver.di nicht mehr einen teuer bezahlten bürokratischen Wasserkopf mit Doppelstrukturen leisten, sondern näher an den Konflikten und Bedürfnissen der Belegschaften und Betriebe sein sollte, um der Krise in den Gewerkschaften und insbesondere bei sich selbst entgegenzuwirken.

Weitere Gründe für den anhaltenden Mitgliederverlust sieht er darin, dass „das beitragszahlende Mitglied immer mehr entmachtet wird und sich in der eigenen Gewerkschaft immer weniger wiederfindet.“  Stattdessen müssen „Beteiligung und demokratische Strukturen“ nicht nur Teil der Satzung sein, sondern auch aktiv umgesetzt werden. Weiterhin schlägt er statt ständiger Umstrukturierungsprojekte, die letztlich nur darauf hinauslaufen, Geld einzusparen, eine andere Ausrichtung der Tarifpolitik vor, die sich an „Wertschöpfungs- und Lieferketten“ orientieren und den nationalen Rahmen auch verlassen müsse. Und dafür müssen die Fachbereiche auch entsprechend ausgerichtet werden. Auch fordert er, das politische Mandat neu aufzugreifen. Politische Streiks gegen Preissteigerungen dürfen kein Tabu sein oder nur auf dem Papier stehen, sondern müssen aktiv von ver.di forciert werden statt sinnloser Appelle an die Regierung wie derzeit wieder in der Konzertierten Aktion.

Alles Vorschläge und Argumente, die nicht nur wir unterstützen können, sondern die auch die gesamte Gewerkschaft und deren Strukturen ernsthaft diskutieren und entscheiden sollten. Dafür müssten die Gewerkschaftsverantwortlichen einen Rahmen schaffen. Ein Vorgehen, das „eigentlich“ ganz normal wäre, wenn man ernsthaft die Krise – sprich den ständigen Mitgliederschwund – in der Organisation bekämpfen will. Aber statt seine Kritik aufzunehmen und darum eine Diskussion in der gesamten Organisation anzuregen und einen Rahmen dafür zu bieten, reagiert der Bundesvorstand mit bürokratischen Maßnahmen gegen Orhan Akman, der seit 20 Jahren aktiv als Hauptamtlicher – unter anderem auch mehrere Jahre in Südamerika – versucht, ver.di als aktiv handelndes Organ der Kolleg:innen erfahrbar zu machen.

Lange hat Orhan Akman dies im politischen Rahmen der Gewerkschaftsbürokratie – als bislang akzeptierter linksreformistischer Teil – betrieben und damit durchaus eine integrative Rolle für den Apparat erfüllt. Aber dass selbst Kritik aus den eigenen Reihen – auch wenn Orhan als eine Persönlichkeit in ver.di bekannt ist, die immer gerne aneckt – versucht wird, mit bürokratischen Mitteln zu ersticken, wirft ein zweifaches Licht auf das Verhältnis der Gewerkschaftsverantwortlichen zur Organisation.

a) Wenn schon in den eigenen hauptamtlichen Reihen keine Kritik zugelassen wird, wie wird mit Kritik aus den Reihen der Ehrenamtlichen und „normalen“ Mitglieder umgegangen? Von einer demokratischen Diskussionskultur in ver.di kann damit nicht mehr gesprochen werden. Im Gegenteil, bürokratisches Abwürgen wird immer mehr die Regel werden. Orhan ist leider nicht der erste Fall, Kritik mit bürokratischen Mitteln bis hin zur Kündigung zu begegnen.

b) Seine Kritik zielt natürlich indirekt auch auf die Pfründe von vielen Hauptamtlichen, die es sich über Aufsichtsratsposten – auch wenn die Aufwandsentschädigungen laut Satzung an ver.di zurückbezahlt werden müss(t)en – oder eine im Vergleich zu vielen Kolleg:innen in den Betrieben bessere Bezahlung oder andere Annehmlichkeiten – sei es „nur“ die Anerkennung durch die Geschäftsführungen als zuverlässige/r Verhandlungspartner:in – in der bestehenden Gesellschaftsordnung gemütlich eingerichtet haben. Diese besondere Schicht von Gewerkschaftsbürokrat:innen will sich natürlich genau diese Annehmlichkeiten und ihre Funktion als Vermittler:in zwischen Lohnarbeit und Kapital nicht wegnehmen lassen und verteidigen diese bis aufs Messer.

Aber die Reaktion auf die völlig absurde Kündigung von Orhan Akman, die sich auch positiv auf seine Vorschläge zur Überwindung der Krise in ver.di bezieht, zeigt, dass es innerhalb der Mitgliedschaft ein großes Bedürfnis gibt, genau über diese Fragen zu sprechen und die Gewerkschaft wieder in ein Organ zur Verteidigung der Interessen der Kolleg:innen zu verwandeln. Eine demokratische Diskussion, die wir alle verteidigen müssen und die auch organisiert zu werden bedarf. Dabei dürfen wir uns aber nicht allein auf Orhan Akman verlassen – mit allem Respekt vor seinem Mut und seiner Beharrlichkeit, dem Druck von oben nicht nachzugeben – oder auf andere Gewerkschaftsverantwortliche, die durchaus mit seinen Positionen sympathisieren. Wir – die Gewerkschaftsmitglieder – müssen dies selbst in die Hand nehmen. Einige Gliederungen wie z. B. die Senior:innen aus München haben Orhan eingeladen, um mit ihm über seine Kündigung und Vorschläge zur Überwindung der Krise zu diskutieren.

Lasst uns Diskussionen örtlich, regional bundesweit in ver.di, aber auch außerhalb der Gewerkschaft organisieren! Bei diesen muss alles auf den Tisch kommen, angefangen von demokratisch gestalteten Tarifrunden, bei denen die Streikenden selbst über den Kampf und das Ergebnis diskutieren und entscheiden können müssen, bis hin zur Frage des politischen Streiks gegen NATO- und Bundeswehraufrüstung im Zuge des Krieges in der Ukraine oder gegen Preissteigerung, und wie dieses umgesetzt werden kann.

Das ist eine langwierige Auseinandersetzung. Was wir dafür brauchen, ist eine organisierte Kraft in ver.di und den anderen Gewerkschaften, die sich regelmäßig trifft und bespricht, welche Initiativen ergriffen werden können, um ver.di und alle Gewerkschaften wieder zu Klassenkampforganen umzugestalten, die die Interessen der Lohnabhängigen, Arbeitslosen, Frauen, Jugendlichen Migrant:innen, der sexuell Unterdrückten und Rentner:innen gegen Kapital und Regierung ohne Wenn und Aber verteidigen. Die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften bietet dafür einen Rahmen – und zugleich muss sie die Tarifrunde nutzen, um VKG-Gruppen vor Ort und in Betrieben aufzubauen.

Solidarität mit Orhan Akman! Lasst uns weitere Diskussionen in den Orten, Regionen und bundesweit über seine Positionen organisieren!




Proteste gegen Abtreibungsverbote in den USA

Interview mit einer Aktivistin, REVOLUTION (Zuerst veröffentlicht auf www.onesolutionrevolution.de), Infomail 1194, 28. Juli 2022

In den USA hat der Oberste Gerichtshof im Juni dieses Jahres ein Urteil erlassen, welches den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen einschränken und sogar verbieten kann. Mehrere Bundesstaaten haben bereits angekündigt, die Rechte auf Abtreibungen massiv anzugreifen. Als Reaktion kam es in vielen US-amerikanischen Städten zu Massenprotesten. Wir haben in diesem Interview mit der Aktivistin Lara (Instagram @Lara.islinger) vor Ort gesprochen.

Wer bist du? Wo bist du organisiert?

Ich bin Lara (sie/ihr) und wohne eigentlich in Hamburg. Ich verbringe den Sommer damit, in New York für Shout Your Abortion (SYA) zu arbeiten. SYA ist eine Organisation, die sich für die Entstigmatisierung des Schwangerschaftsabbruchs einsetzt – mit kreativen Aktionen und dadurch, dass wir Menschen eine Plattform geben, um ihre Erfahrungen zu teilen. Aufgrund der aktuellen Situation, also des Urteils des Supreme Court und der Abtreibungsverbote in vielen Staaten, fokussieren wir uns aktuell auf den Zugang zu sicheren Abtreibungen insbesondere durch Abtreibungspillen – egal ob legal oder nicht.

Seit einigen Wochen, bin ich bei New York City For Abortion Rights aktiv, ein sozialistisch-feministisches Kollektiv, das Demos und sogenannte Clinic Defenses organisiert.

Inwiefern bist/warst du Teil der Proteste gegen die neuen Abtreibungsverbote? Was ist dein Ziel?

Gemeinsam mit New York City For Abortion Rights und anderen linksfeministischen Gruppen habe ich einen Protest am Tag der Supreme-Court-Entscheidung organisiert, zu dem 20.000 Leute gekommen sind. Mir ging es bei der Demo vor allem darum, Solidarität auszudrücken mit Menschen in republikanischen Bundesstaaten, in denen nun Abtreibungsverbote und Einschränkungen gelten. Abgesehen von einem erhöhten Andrang in den Abtreibungskliniken wird sich in New York durch das Urteil wenig ändern. Trotzdem spüren wir auch hier den Einfluss von Abtreibungsgegner:innen, da wir sogenannte Clinic Defenses organisieren. Das sind Proteste und Blockaden gegen Abtreibungsgegner:innen, die zu Kliniken prozessieren, eskortiert vom NYPD, und dort Patient:innen belästigen – mitten in New York City.

Am Montag, dem 4. Juli, war ich mit Shout Your Abortion in Washington DC. Wir haben vor dem Supreme Court einen Stand aufgebaut, an dem wir Limonade verschenkt und Informationen zu Abtreibungspillen verbreitet haben, die man in allen 50 Staaten über die Organisation Aid Access bestellen kann – auch ohne schwanger zu sein (sog. advanced provision). Unser Motto lautet ,Fuck SCOTUS. We’re doing it anyway’. Dieses illegitime, undemokratische Gericht kann uns nicht aufhalten.

Dazu will ich unbedingt betonen, dass das Urteil natürlich Konsequenzen hat, die grausam und ungerecht sind. Unter der Kriminalisierung von Abtreibung (und Fehlgeburten) leiden am meisten Menschen, die marginalisierten Gruppen angehören – insbesondere Schwarze; Indigene und weitere People of Color; die LGBTQ+-Community; Menschen mit Behinderung; Menschen, die im ländlichen Raum leben; junge Menschen und arme Menschen.

Wie nimmst du die Proteste wahr? Welche Gruppen sind am Start?

Mir geben die Proteste Kraft. Ich finde es gut, dass wir uns den öffentlichen Raum nehmen, um unserer Wut Ausdruck zu verleihen, und als Zeichen der Solidarität mit allen Menschen, die von den Abtreibungsverboten betroffen sind. Die feministische Bewegung nehme ich als zersplittert wahr. Viele linke Aktivist:innen wenden sich vom liberalen, weißenMainstreamfeminismus ab. Andererseits spüren wir in New York eine starke Solidarität von anderen linken Gruppen sowie von den neu gegründeten Gewerkschaften (z. B. der Starbucks-Gewerkschaft), die sich unseren Protesten anschließen.

Wir distanzieren uns von Gruppen, die sogenannte die-ins organisieren, sich mit Blut beschmieren oder Kleiderbügel zu Protesten mitbringen. Unser Punkt ist ja: Wir gehen nicht zurück in die 1960er und frühen 1970er Jahre, bevor Roe entschieden wurde, und als viele Menschen aufgrund unsicherer, illegaler Abtreibungen gestorben sind. Wir wollen keine Angst schüren, sondern Hoffnung machen. Der große Unterschied ist, wir haben heute Zugang zu Abtreibungspillen und wir haben ein Netzwerk von Abortion Funds, das finanzielle Unterstützung leistet. Wir werden dieses Urteil nicht befolgen. Wir werden nicht aufhören abzutreiben. Wir werden nicht aufhören, uns gegenseitig zu helfen, und wir werden nicht aufhören, für reproduktive Gerechtigkeit zu kämpfen.

Kamala Harris hat als Antwort der Demokraten dazu aufgerufen, diese Entscheidung mit der Stimmabgabe bei den Zwischenwahlen doch noch zu kippen – hältst du das für realistisch?

Die Biden-Regierung und die Demokrat:innen betonen, dass sie Abtreibungsrechte verteidigen wollen, aber ihre Bemühungen auf Bundesebene halten nicht Schritt mit dieser Rhetorik. Die Tatsache, dass die Demokrat:innen in Washington nicht in der Lage sind, Abtreibungsrechte zu stärken, obwohl sie das Weiße Haus und beide Kammern des Kongresses kontrollieren, hat viele Wähler:innen enttäuscht. Ich spüre deutlich die Frustration über die Untätigkeit der Demokrat:innen auf Bundesebene und höre in linken, feministischen Kreisen immer wieder das Wort ‚desillusioniert‘.

Es stimmt: Das Supreme-Court-Urteil hat das Thema Abtreibung in den Mittelpunkt mehrerer wichtiger Zwischenwahlen katapultiert. Die Wahlen in den Bundesstaaten (etwa von Gouverneur:innen, Generalstaatsanwält:innen, Richter:innen und der Legislative) könnten nun darüber entscheiden, ob Millionen von Amerikaner:innen Zugang zu legalen Abtreibungen haben oder nicht. Viele haben aber das Gefühl, dass die Demokrat:innen – angesichts der hohen Inflation und der niedrigen Zustimmungsraten für Präsident Biden – den Unmut über das Urteil ausnutzen, um Wähler:innenstimmen zu erhaschen, ohne einen konkreten Plan zu haben, wie sie den Zugang zu Abtreibung in den USA gewährleisten und FLINTAs unterstützen werden.

Wenn aber doch noch nicht alles verloren ist: Welche Perspektive siehst du dann noch für FLINTAs in den USA?

Ich lege große Hoffnung in feministische Solidarität und Netzwerke – national und international. Anders als die Demokrat:innen haben wir uns spätestens seit dem Leak des Entwurfs im Mai darauf vorbereitet, dass Roe fallen wird. Wir verbreiten Informationen zu Abtreibungspillen, die per Post in alle 50 Staaten verschickt werden können und sehr sicher sind. Dabei hilft uns Plan C und die europäische Organisation Aid Access. Außerdem gibt es ein solides Netzwerk von regionalen Abortion Funds, das finanzielle Unterstützung für Abtreibungen leistet. Ich habe auch mitbekommen, dass als letzter Ausweg Abtreibungspillen aus Mexiko geschickt werden – kostenlos von dortigen feministischen Kollektiven als Akt der Solidarität mit FLINTAs in den USA. Unser Motto lautet: ‚We will save us.‘ Wir retten uns selber.

Was wünschst du dir von der Bewegung? Und wie können wir hier in Deutschland/der EU sie unterstützen?

Ich wünsche mir von der Bewegung, dass wir uns mehr auf praktische Fragen konzentrieren. Unser Fokus sollte sein: Wie können wir Menschen dabei helfen abzutreiben? Die vollständige Legalisierung von Abtreibung ist dabei natürlich ein wichtiger Faktor – aber nicht der einzige.

Wenn ihr wen aus den USA kennt, könnt ihr Ressourcen zu Abtreibungspillen und Advanced Provision teilen, zum Beispiel Plan C oder Aid Access. Ein großes Problem ist, dass nur 1 von 5 Amerikaner:innen darüber Bescheid weiß. Wenn ihr Geld übrig habt, könnt ihr spenden. Dafür empfehle ich das National Network of Abortion Funds, das Spenden auf regionale Abortion Funds aufteilt und Aid Access bzw. die europäische Mutterorganisation Women on Web. Meine DMs sind immer offen für Fragen. Bitte nicht vergessen: Wir kämpfen in Deutschland den gleichen Kampf: Der §218 muss weg, genau wie weitere Schikanen für ungewollt Schwangere wie Pflichtberatung, Wartezeit und die Gehsteigbelästigung durch Abtreibungsgegner:innen vor Praxen. Der Zugang muss verbessert werden, insbesondere durch die Schließung von Versorgungslücken. Wir sind nicht frei und gleichberechtigt ohne den bedingungslosen und legalen Zugang zu Abtreibung.

Für eine ausführlichere Analyse des Gerichtsurteils und dessen Folgen, aber auch der Frage, warum Abtreibungsrechte eigentlich so stark umkämpft sind und wie wir sie verteidigen können, schaut gerne in unseren Artikel dazu:http://onesolutionrevolution.de/usa-wie-wir-abtreibungsrechte-wieder-zurueck-erkaempfen-koennen/ .




Hafenstreik: Gegen jede Einschränkung des Streikrechts!

Unterschriftenliste, hier unterzeichnen: https://tinyurl.com/Hafenstreik, Anzahl der Unterschriften: 3.128 (Stand: 19.07.2022, 21:00 Uhr), Infomail 1193, 20. Juli 2022

Die Hafenarbeiter:innen aus Hamburg, Bremen, Bremerhaven, Brake und Wilhelmshaven haben sich am Donnerstag, 14. Juli, für 48 Stunden in den Streik begeben. Es ist der längste Streik seit 40 Jahren und seit sechs Verhandlungsrunden ignoriert der Zentralverband der deutschen Seehafenbetriebe (ZDS) die Forderungen der Gewerkschaft ver.di, die einen Inflationsausgleich von aktuell circa 7,8 Prozent, eine Gehaltssteigerung von 1,20 Euro pro Stunde und weitere Zuschläge je nach Arbeitsbereich für ein Jahr fordert.

Schon nach den ersten Warnstreiks forderte der Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger, die ihn missfallenden Arbeitsniederlegungen in den Häfen mittels Ausrufung des „nationalen Notstandes“ zu verbieten. Die Logistikunternehmen HHLA und Eurogate klagten gegen den Streikaufruf. Das Arbeitsgericht in Hamburg genehmigte zwar den 48-stündigen-Streik, doch äußerte es Zweifel über die formale Rechtmäßigkeit des Streikaufrufs. Nach einem Vergleich zwischen Klägern und ver.di wird es bis zum 26. August eine Friedenspflicht geben.

Als ver.di und Gewerkschaften dürfen wir dem Druck der Unternehmen nicht nachgeben und in die Beschneidung der eigenen Aktionsmöglichkeiten einwilligen. Hamburgs Wirtschaftssenator Michael Westhagemann fordert ein Schlichtungsverfahren, das den Streik abrupt von oben beendet. Dem Hafenstreik werden zahlreiche Hürden in den Weg gestellt, um den Willen der Arbeiter:innen zu brechen.

Dass Arbeitgeber:innen versuchen, Streiks mit gerichtlichen Klagen zu brechen, ist jedoch kein Einzelfall. So versuchten auch in Nordrhein-Westfalen (NRW) unlängst kommunale Arbeitgeberverbände den Krankenhausstreik gerichtlich verbieten zu lassen, genauso wie zuvor auch in Berlin mittels Klagen gegen die Krankenhausbewegung.

Trotz der Einschränkung des Streikrechts haben sich tausende Hafenarbeiter:innen in Hamburg versammelt, um für ihre Forderungen zu streiken. Ein Kollege bei der Firma Eurogate Hamburg sagte diesbezüglich: „Wir gehen auf die Straße, weil das Streikrecht gebrochen worden ist.” Bei der Demonstration kam zur Polizeigewalt und Festnahmen. Die Polizei schlug nach den Hafenarbeiter:innen und ging mit Pfefferspray gegen sie vor.

Gerade in Zeiten hoher Inflation ist es notwendig, dass Gewerkschaften für den Erhalt der Lebensstandards der Beschäftigten streiken können. Wir stellen uns daher gegen jede Einschränkungen des Streikrechts, sei es durch juristische oder polizeiliche Maßnahmen. Wir fordern:

1. Die Aufhebung der Friedenspflicht!

2. Keine erzwungene Schlichtung! Lasst die Arbeiter:innen über ihren Streik selbst entscheiden!

3. Für das uneingeschränkte Streikrecht für alle Arbeitskämpfe!

4. Keine Polizeimaßnahmen gegen den Streik.

Solidarität mit den Hafenstreiks!

Initiator:innen:

Jana Kamischke, ver.di, Hamburger Hafenarbeiterin, Tarifkommissionsmitglied, Vertrauenssprecherin HHLA

Deniz Askar Dreyer, ver.di, Hamburger Hafenarbeiter, Vertrauensleutesprecher Eurogate Hamburg

Liste mit bisherigen Unterzeichner:innen: https://tinyurl.com/Hafenstreik




Spanien – Vorreiter im Abtreibungs- und Sexualstrafrecht?

Leonie Schmidt, Neue Internationale 266, Juli/August 2022

Die seit 2020 amtierende neoreformistische Regierung im spanischen Staat, bestehend aus sozialdemokratischer PSOE und linkspopulistischer Podemos, hat in diesem Jahr einige Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht, die verschiedenste Bereiche der geschlechtsspezifischen Unterdrückung betreffen und künftig für mehr reproduktive Rechte und härtere Strafen bei geschlechtsspezifischer Gewalt führen sollen.

Spanien scheint von außen oft eher konservativ und wird auch zuweilen als Macho-Land abgetan, zumal die katholische Kirche gesellschaftlich auch noch sehr präsent ist. In Sachen Antisexismus gibt es jedoch schon seit einiger Zeit ein Umdenken in den Parlamenten. Doch die fortschrittlichen Gesetze kommen nicht von irgendwo her, sie wurden erkämpft.

Was ändert sich?

Besonders auffällig ist das gelockerte Abtreibungsgesetz: So dürfen Schwangere schon ab 16 Jahren ohne elterliches Einverständnis abtreiben, Abtreibungen sind bis zur 14. Woche legal und die 3-tägige Bedenkzeit soll ebenso abgeschafft werden. Außerdem müssen öffentliche Krankenhäuser mit gynäkologischer Abteilung über fachkundiges Personal verfügen, welches einen Abort durchführen kann.

Ferner wurde das Sexualstrafrecht verschärft, und zwar gilt nun „Nur Ja heißt Ja“, was eine fortschrittlichere Regelung ist als „Nein heißt Nein“, da nun auch Täter für eine Vergewaltigung verurteilt werden können, deren Betroffene sich nicht wehren oder äußern konnten, sei es aus Schockstarre und Angst oder Bewusstlosigkeit. Dies fiel vorher lediglich unter den Straftatbestand der sexuellen Belästigung. Konkret heißt es nun im neuen Gesetzesentwurf: Alle Handlungen, die „die sexuelle Freiheit einer anderen Person verletzen“, gelten als Vergewaltigung und können für die Täter bis zu 15 Jahre Gefängnis bedeuten. Konservative kritisieren, dass es nun keine Unterscheidung mehr zwischen Übergriffen und Vergewaltigungen gebe und sehen die Unschuldsvermutung in Gefahr. Auch Catcalling wird nun strafbar insofern, als jegliche Annäherungen in Form eines Flirts von allen Beteiligten gewollt werden müssen und andernfalls als Straftatbestand gelten.

Neben diesen Verschärfungen wurde der sogenannte Periodenurlaub von bis zu 3 Tagen monatlich nun eingeführt. Wenngleich das eine gute Idee ist, ist der Name doch etwas missverständlich, denn in Spanien war es bisher erst möglich, ab 4 Tagen Krankheit eine Lohnfortzahlung vom Unternehmen zu erhalten. Daher wurde hier nur eine Lücke geschlossen. Spanien hat somit als erstes europäisches Land den Periodenurlaub eingeführt. Bisher existieren derartige Regelungen vor allem im asiatischem Raum, bspw. in Taiwan, Südkorea und China. Außerdem soll es nun endlich Verordnungen zur Prostitution in Spanien geben. Diese ist nämlich weder verboten noch legal, was vielen ein Dorn im Auge ist.

Wie kam es dazu?

Wie konnte es nun zu solchen fortschrittlichen Zugeständnissen kommen, während weltweit ein extremes Rollback gegen Frauen und LGBTIA-Personen im vollen Gange ist, insbesondere Abtreibungsrechte reihenweise verschärft werden – siehe Polen und die USA. Hierfür sind mehrere Gründe verantwortlich. Einerseits, wie bereits eingangs erwähnt, wurden die Gesetzesänderungen maßgeblich durch die Frauenbewegung in Spanien erkämpft. Diese ist ziemlich stark, zu den 8.-März-Protesten gehen landesweit Millionen Menschen auf die Straße. Alleine in Barcelona waren es 2021 über 100.000 Personen.

Die Größe der Bewegung ist insbesondere historisch bedingt, denn während in den späten 1960er und 1970er Jahren in den westlichen Industrieländern der Kampf um Gleichberechtigung und sexuelle Befreiung erstarkte, war in Spanien noch das halbfaschistische Regime Francos an der Macht, in welchem Frauen zu Kinder, Küche, Kirche verbannt waren. Erst 1978 wurde ein Gesetzantrag zur Gleichstellung von Mann und Frau erwirkt, das Recht auf Scheidung gibt es erst seit 1981. Das kollektive Trauma dieser Zeit besteht fort und sorgt auch heute noch für größeres und kämpferischeres Bewusstsein. Bereits in den späten 1990er Jahren konnte ein Gesetz durch Massenproteste ins Rollen gebracht werden.

Diese formierten sich 1997 nach einem Femizid an einer Frau, Ana Orantes, deren Mann sie ermordete, weil sie in einem Fernsehinterview über die 40 Jahre häuslichen Missbrauchs durch ihn an ihr und den gemeinsamen Kindern sprach. Sie hatte sich zuvor sogar an die Polizei gewandt, 15 Anzeigen gestellt. Doch diese wollte ihr nicht helfen, da es keine entsprechenden Gesetze gab, die Frauen vor geschlechtsspezifischer Gewalt schützten. Als die Scheidung nach über 10 Jahren endlich durchkam, musste sie dennoch weiter mit ihm zusammen wohnen.

Die damals konservative Regierung unter der Partido Popular, einer rechtskonservativen Volkspartei, sprach von einem Einzelfall, was nicht unbeantwortet blieb. Unter dem Motto „ Wir sind alle Ana“ gingen damals Tausende auf die Straßen. Im Anschluss wurde 2004 ein erstes Gesetz auf die Beine gestellt, welches weitreichend gegen häusliche Gewalt ankämpfen sollte. Alleine schon die Benennung der geschlechtsspezifischen Gewalt stellte einen großen Schritt nach vorn dar. Außerdem wurden Spezialgerichte für die Verfolgung der Straftaten eingerichtet und Männer, die Frauen Gewalt antun, werden nun durch das Gesetz stärker bestraft als Frauen, die Männern etwas antun, oder Männer, die anderen Männern etwas antun. Seit 2007 wird auch jegliche geschlechtsspezifische Gewalttat statistisch erfasst, was in Deutschland bspw. erst seit 2015 der Fall ist.

Das „Ja heißt Ja“-Gesetz kam vor einem ähnlichen Hintergrund zustande: Nach einer Gruppenvergewaltigung an einer 18-Jährigen durch 5 Männer (welche ihr Opfer zusätzlich filmten) wurden die Täter nur wegen sexueller Belästigung verurteilt, da sie das Opfer nicht schlugen oder bedrohten, und sie sich nicht wehrte. Sie bekamen somit nur 9 Jahre Haft. Jedoch mobilisierten auch 2016 erneut die spanischen Feminist:innen gegen dieses milde Urteil und erzwangen somit dessen Revision. Die Täter wurden nun doch wegen Vergewaltigung verurteilt und sitzen eine 15-jährige Haftstrafe ab. Das neue Gesetz soll auch zukünftig ähnliche Gerichtsurteile ermöglichen und wurde somit de facto durch die Frauenbewegung in Spanien erkämpft. Außerdem wirkte sich positiv aus, dass auch die Gewerkschaften mit der feministischen Bewegung wahrhaft vernetzt sind und es sich bei vielen 8M-Protesten wirklich um Frauenstreiks handelte, welche mit Streikposten einhergingen und nicht wie bspw. in Deutschland einen rein symbolischen Charakter trugen.

Einige Politikerinnen und Ministerinnen der Regierung PSOE/Podemos entstammen ebenfalls einer Tradition feministischer Proteste und haben sich auch deswegen für diese Belange eingesetzt. Generell ist die reformistische Regierung natürlich auch ein Grund für die Durchsetzung. In Krisenzeiten gibt es zwar klassischer Weise Rollbacks gegen Frauen und LGBTIA-Personen, aber irgendwas muss die linke Koalition trotzdem der mobilisierten Wähler:innenschaft anbieten. Dass es im Rahmen von Krieg, Krise, Umweltkatastrophe und Pandemie nur wenig Spielraum gibt, ist klar. Denn ansonsten ist die Regierung eher weniger linksorientiert, als es eventuell scheinen mag. Die Politik, die gefahren wird, ist durchaus arbeiter:innenfeindlich. So werden bspw. Streiks im Auftrag der Regierung durch Polizei und Militär brutal niedergeschlagen. Insbesondere während der Pandemie zeigten die Politiker:innen ihr wahres Gesicht. So sperrten sie die Arbeiter:innen in ihren Stadtvierteln ein, diese durften sie nur verlassen, wenn sie zur Arbeit fuhren.

Kritik an der Gesetzesänderung

Kritik gab es einige, sowohl aus feministischen Kreisen als auch von rechts. Die Feminist:innen in Spanien sind stark beeinflusst von Andrea Dworkin, welche als Radikalfeministin insbesondere eine abolitionistische Position gegenüber der Prostitution einnahm. Sie sahen sich und das Anliegen eines Sexkaufverbots in den neuen Entwürfen nicht gehört, denn das nordische Modell wurde anfangs nicht eingeplant. Prostitution wurde 1995 in Spanien entkriminalisiert, Zuhälterei ist allerdings strafbar. Anfang Juni wurde jedoch ein Entwurf ins Rollen gebracht, der einem Sexkaufverbot gleichkommt: Das vorgeschlagene Gesetz soll diejenigen bestrafen, die Prostituierte finanziell ausbeuten, für ihre Dienste bezahlen oder wissentlich Räumlichkeiten für die Ausübung der Prostitution zur Verfügung stellen. Wenngleich die PSOE in Spanien sich für dieses, vom „nordischen Modell“ inspirierte Gesetz ausspricht, so ist es alles andere als sicher für die betroffenen Sexarbeiter:innen, denn so werden sie in noch unsicherere Arbeitsverhältnisse gedrängt (ausführlicher Artikel zur Frage siehe Neue Internationale 257, Juli/August 2021). Beibehaltung der Entkriminalisierung, die Möglichkeit für sichere und kostenlose Umschulungen zum Ausstieg sowie gewerkschaftliche Organisation der Sexarbeiter:innen wären aus einer marxistischen Perspektive die deutlich sinnvolleren Mittel gewesen.

Interessant ist auch, dass diese Frage zu einer Spaltung innerhalb der Koalition geführt hat. Die PSOE arbeitet nun bzgl. des Gesetzesentwurfs mit der rechtspopulistischen PP (Partido Popular) zusammen, während sich Podemos dagegen stellt, da er zu moralisierend wäre. Für die feministische Partei Spaniens ist der Vorschlag von PSOE und PP aber dennoch zu unkonkret, sie fordert umfassendere Maßnahmen. Außerdem gab es Proteste mit bis zu 7.000 Frauen, die sich für ein abolitionistisches Gesetz aussprachen.

Auch wenn der Gesetzentwurf ansonsten einen wichtigen Schritt darstellt, so bleibt Sexismus eine strukturelle Unterdrückung im Kapitalismus, welche sich nicht einfach durch Gesetze wegreformieren lassen kann und so auch in Spanien unter der linken Regierung bestehen bleibt: Reproduktionsarbeit wird auch hier weiterhin vornehmlich von Frauen ausgeführt.

Zugleich gibt es natürlich auch Kritik von rechts und aus konservativen Kreisen. Die rechtsradikale VOX, drittstärkste Partei im Parlament, möchte das Gesetz gegen geschlechtsspezifische Gewalt aus dem Jahr 2004 schon länger abschaffen. Sie ist außerdem gegen die Legalisierung von Abtreibung. Gegen die Veränderung des Abtreibungsgesetzes gingen auch 100.000 Konservative auf die Straße, unter anderem angestachelt durch die Aufhebung von Wade vs. Roe in den USA.

Wie weiter?

Auch wenn in Spanien wichtige gesetzliche Verbesserungen errungen werden konnten, so ist der Kampf längst nicht vorbei. Einerseits findet auch innerhalb der Bewegung ein Kampf zwischen fortschrittlichen und reaktionären Richtungen (siehe die Frage der Prostitution) statt. Die PSOE, aber auch wichtige Strömungen des Feminismus schrecken dabei auch vor einer Zusammenarbeit mit den Konservativen nicht zurück. Andererseits macht die extreme und konservative Rechte gegen alle fortschrittlichen Verbesserungen weiter mobil, wie die Massendemonstrationen der VOX verdeutlichen.

Die enge Verbindung zwischen den feministischen Streiks und der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innenklasse war jedoch nicht nur entscheidend dafür, warum wichtige Verbesserungen überhaupt durchgesetzt werden konnten. Sie ist auch der einzige Weg zur Verteidigung und Ausweitung dieser Errungenschaften und zur Schaffung einer proletarischen Frauenbewegung – nicht nur in Spanien, sondern international.