Die französische Arbeiter:innenklasse muss sich gegen rassistische Gesetze wehren!

Marco Lassalle, Infomail 1240, 30. Dezember 2023

Am 19. Dezember hat das französische Parlament ein weiteres Einwanderungsgesetz verabschiedet – das 117. Gesetz zu diesem Thema seit 1945! Aber es ist viel schlimmer als alle vorherigen Gesetze. Es wurde von Innenminister Gérald Darmanin vorgeschlagen, von Präsident Emmanuel Macron unterstützt, von den rechten Senator:innen der Partei Les Républicains stark umgeschrieben und schließlich mit den Stimmen des von Marine Le Pen geführten Rassemblement National (RN) angenommen.

Es ist leicht zu verstehen, warum die rassistische und fremdenfeindliche RN für dieses Gesetz gestimmt und einen ideologischen Sieg errungen hat. Es enthält eine Reihe von Maßnahmen, die dazu führen, dass vielen Migrant:innen grundlegende Leistungen und Rechte vorenthalten werden. Es unterstützt das RN-Ziel der „nationalen Präferenz“ (wonach französische Staatsbürger:innen beim Zugang zu staatlichen Sozialleistungen Vorrang vor Ausländer:innen haben sollten) und wird weitgehend dazu beitragen, die reaktionären und falschen Ideen des RN zu verbreiten: dass Migrant:innen nur nach Frankreich kommen, um von Sozialmaßnahmen zu profitieren, sie für den Mangel an Wohnraum und Arbeitsplätzen verantwortlich, kriminell und gefährlich für die nationale Sicherheit sind. Kurz gesagt, es ist eine giftige Mischung aus Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, gespickt mit Lügen und Verleumdungen.

Maßnahmen

Hier einige der Maßnahmen, die das neue Gesetz vorsieht:

  • Staatliche Leistungen wie Wohnungs- oder Familienbeihilfen werden Migrant:innen erst nach einer Verzögerung (bis zu fünf Jahren) gewährt, je nachdem, ob sie arbeiten oder nicht (obwohl die meisten Migrant:innen bei ihrer Ankunft in Frankreich nicht arbeiten dürfen).

  • Das Gesetz sieht die Einführung von Quoten für Migration vor, und die Legalisierung von migrantischen Lohnabhängigen wird vom Wohlwollen des/der Präfekt:in (Vorsteher:in eines Amtsbezirks) abhängen.

  • Das Gesetz ist ein Schlag gegen den Grundsatz des „loi du sol“, das Recht der in Frankreich Geborenen, mit ihrer Volljährigkeit die französische Staatsbürger:innenschaft zu erlangen, und geht auf ein früheres zurück, das von dem erzreaktionären Charles Pasqua unterstützt wurde.

  • Ausländische Universitätsstudent:innen müssen eine „Kaution“ an den Staat zahlen, die erst bei der Ausreise am Ende des Studiums zurückerstattet wird.

  • Bürger:innen mit doppelter Staatsbürger:innenschaft verlieren die französische, wenn sie sich schwerer Straftaten schuldig machen.

Um die Unterstützung des rechten Flügels zu erhalten, musste die Regierung außerdem versprechen, dass Anfang 2024 AME, die staatliche medizinische Hilfe, mit der alle Einwander:innen dringende medizinische Versorgung erhalten können, „reformiert“, d. h. wahrscheinlich stark eingeschränkt oder abgeschafft wird.

Das Gesetz enthält Maßnahmen, die so schockierend reaktionär sind, dass sich die Regierung sogar an den Verfassungsrat wendet, um einige seiner Artikel außer Kraft zu setzen, da sie gegen die Präambel der Verfassung von 1946 verstoßen, die besagt, dass „niemand wegen seiner/ihrer Herkunft benachteiligt werden darf“.

Die Verabschiedung des Gesetzes war selbst in Macrons Lager ein großer Schock, da 59 Abgeordnete der Regierungspartei dagegen stimmten und ein Minister zurücktrat. Die Behauptung Macrons bei den letzten beiden Präsidentschaftswahlen, er sei ein Bollwerk gegen Marine Le Pen und ihre Ideen, hat sich als eine weitere Lüge erwiesen. Allerdings hat die Arbeiter:innenklasse von den „Linken“ innerhalb des Präsidentenlagers wenig zu erwarten, da sie viele andere Angriffe gegen die Arbeiter:innen akzeptiert oder sogar durchgeführt haben.

Der französische Kapitalismus und die Überausbeutung

Seit Jahrhunderten braucht der französische Kapitalismus billige überausgebeutete Arbeitskräfte. Zunächst in Form von Sklav:innen auf den karibischen Inseln, später als indigene Zwangsarbeiter:innen in seinem Kolonialreich und im letzten Jahrhundert als Migrant:innen, in den letzten Jahrzehnten vor allem aus dem Maghreb. Die demokratischen Rechte dieser Arbeiter:innen wurden systematisch negiert und diese Entrechtung erreichte während des algerischen Unabhängigkeitskrieges in den 1950er und 1960er Jahren ein hysterisches Niveau. Die rassistische Ideologie diente als Rechtfertigung für diese Diskriminierung, obwohl auf allen öffentlichen Gebäuden „Egalité“ (Gleichheit) steht. Ein rassistischer Polizei- und Staatsapparat, dessen Personal nach dem Zweiten Weltkrieg vom faschistischen Vichy-Regime übernommen wurde, war für Repressionen und Massaker an Arbeitsmigrant:innen verantwortlich. Die von Jean-Marie Le Pen gegründete Front National baute auf einer rassistischen Ideologie auf und wandte sich massiv an die Anhänger:innen der Front Algérie Française. Aber auch die traditionellen rechten Parteien haben rassistischem Gedankengut geschmeichelt, und das gilt selbst für die linken Parteien.

Die französische Bourgeoisie war schon immer mehr als bereit, migrantische Arbeitskräfte zu beschäftigen und auszubeuten, die meisten von ihnen aus den ehemaligen französischen Kolonien in Afrika, sowohl im Maghreb als auch in Westafrika. Die rassistische Unterdrückung ermöglicht es den Bossen, sie in schlecht bezahlten Jobs zu halten, wobei ihnen oft grundlegende Arbeits- und Gewerkschaftsrechte verweigert werden. Entgegen der Verleumdung, dass Migrant:innen auf der Suche nach staatlichen Beihilfen nach Frankreich strömen, arbeiten die meisten von ihnen lange Jahre im Verborgenen als Sans Papiers (Menschen ohne Ausweisdokumente), insbesondere im Bau- und Dienstleistungssektor. Sie sind weit davon entfernt, von der staatlichen Sozialhilfe zu profitieren, denn sie zahlen zwar die obligatorischen Sozialbeiträge, haben aber keinen Anspruch auf entsprechende Beihilfen. Trotz der rassistischen Hysterie nimmt der Anteil der Migrant:innen an der Bevölkerung des Landes kaum zu: 7,8 % im Jahr 2022, 6,5 % im Jahr 1975. Selbst der Vorsitzende des MEDEF, des wichtigsten Arbeit„geber“verbandes, schätzt den Bedarf der französischen Wirtschaft auf 3,9 Millionen zugewanderte Arbeitskräfte in den kommenden Jahrzehnten aufgrund der niedrigen Geburtenrate ein. Das französische Kapital will eine „kontrollierte“ Zuwanderung und zwingt die Migrant:innen weiterhin in extrem unsichere und übermäßig ausgebeutete Arbeitsverhältnisse.

Die extreme Rechte will noch weiter gehen. Bereits in den 1980er Jahren prägte Jean-Marie Le Pen den Slogan „eine Million Einwander:innen, eine Million Arbeitslose“ und suggerierte damit, dass die Ausweisung der Migrant:innen das Problem der Arbeitslosigkeit lösen würde. Marine Le Pen, die Tochter von Jean-Marie, propagiert das Konzept der „nationalen Präferenz“ und warnt vor der „Unterwanderung“ des französischen Volkes durch eine angebliche Migrationswelle. Ihre Ideen werden durch das neue Gesetz eindeutig legitimiert.

In dieser Hinsicht stellt das Gesetz einen Bruch mit früheren rassistischen Gesetzen dar. Während alle diese Angriffe gegen den Gleichheitsgrundsatz enthielten, stellt die schiere Menge an konzentrierten Schlägen gegen Migrant:innen dieses Gesetz eindeutig auf eine andere, viel gefährlichere Ebene. Es spiegelt die Verbreitung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der französischen Bevölkerung wider: Den Umfragen zufolge wird die Partei von Marine Le Pen bei den kommenden Europawahlen im Juni nächsten Jahres mit rund 28 % (und zusätzlich 6,5 % für ihre faschistische Nichte Marion Maréchal) die stimmenstärkste Partei in Frankreich sein, weit vor Macrons Partei „Renaissance“ mit 20 %.

Präsident Macron reklamiert mit dieser Zustimmung zum Gesetz, einen Sieg errungen zu haben, der zeigt, dass er keine „lahme Ente“ und in der Lage ist, Gesetze zu verabschieden, ohne die undemokratischen Tricks der französischen Verfassung der Fünften Republik anzuwenden. Auch Les Républicains beanspruchen einen Sieg für sich, da sie maßgeblich an der Verabschiedung des Gesetzes beteiligt waren und dessen Inhalt stark beeinflusst haben. Für beide wird sich dieser „Sieg“ bald als Pyrrhussieg erweisen. Rassistische Wähler:innen werden die konsequent rassistische Partei RN anderen Kräften vorziehen, die sie lediglich imitieren, und der ideologische Einfluss der RN-Ideen wird durch diese Maßnahme auf allen Ebenen nur vergrößert.

Arbeiter:innenklasse

Die französische Arbeiter:innenklasse befindet sich in einer schwierigen Situation. Sie ist durch den Sieg Macrons im Kampf um die Renten zu Beginn des Jahres bereits politisch geschwächt. Hinzu kommt, dass der Rassismus auch in der Klasse greift und eine mögliche Spaltung zwischen „französischen“ und migrantischen Arbeiter:innen droht sowie massiv verstärkte Repression gegenüber migrantischen Lohnabhängigen.

Die Sozialistische Partei, die Kommunistische Partei und La France insoumise lehnten das Gesetz allesamt ab. 32 von der Sozialistischen Partei geführte Departements erklärten, dass sie das Gesetz nicht anwenden werden, ebenso wie die Pariser Bürgermeisterin. Die CGT-Vorsitzende Sophie Binet erklärte: „Die CGT ruft zum zivilen Ungehorsam und zur Vervielfachung der Widerstandsaktionen gegen dieses Gesetz auf, das alle unsere republikanischen Prinzipien untergräbt und der extremen Rechten den Boden bereitet.“ Die CGT wird in den nächsten Wochen „massive Initiativen organisieren, damit diejenigen, die sich mit dem geleugneten Frankreich identifizieren, ihre Entschlossenheit zeigen können, damit die Werte der Solidarität respektiert werden“.

All dies ist richtig, aber man kann durchaus an der Wirksamkeit des Widerstands der reformistischen Parteien und der Gewerkschaften zweifeln, da es ihnen nicht gelungen ist, die Rentenreform abzuwehren. Es besteht die reale Gefahr, dass die „massiven Initiativen“ der Reformist:innen zahnlose symbolische Aktionen bleiben werden. Die Lohnabhängigen sollten ihre Führungen auffordern, den wirksamsten Widerstand gegen das Gesetz vorzubereiten, und zwar nicht nur auf den bequemen Sitzen des Parlaments, sondern an den Arbeitsplätzen, in den Banlieues und auf den Straßen. Die Arbeiter:innen müssen bereit sein, diesen Widerstand mit den Waffen des Klassenkampfes durchzusetzen, ob die reformistischen Führungen damit einverstanden sind oder nicht. Der zivile Ungehorsam muss von Protesten und Massenstreiks zugunsten einer massiven Legalisierung von Sans Papiers sowie der Abschaffung aller rassistischen Gesetze der letzten Jahre begleitet werden. Migrant:innen, darunter auch Sans Papiers, sind in großem Umfang auf den Baustellen für die kommenden Olympischen Spiele 2024 beschäftigt und werden bei der Organisation dieses Ereignisses an vorderster Front stehen, im Transportwesen, bei der Sicherheit, in Hotels, Restaurants, bei der Reinigung usw. Die Arbeiter:innen müssen bereit sein, alle damit zusammenhängenden Aktivitäten zu blockieren, bis das Gesetz aufgehoben ist, und solche Aktionen müssen von allen Gewerkschaften, Parteien und Organisationen der Arbeiter:innenklasse unterstützt werden. Sie müssen durch organisierte Selbstverteidigung gegen mögliche Repressionen durch den Staat oder rechte bzw. sogar faschistische Kräfte verteidigt werden.

Die einzige Möglichkeit, die Ausbreitung rassistischer Ideen in den Reihen der Arbeiter:innenklasse zu stoppen, besteht darin, ein Aktionsprogramm vorzuschlagen, zu verbreiten und dafür zu kämpfen, das alle rassistischen Gesetze bekämpft und die wirklichen Ursachen für das Anwachsen der RN angeht: niedrige Löhne, Mangel an Arbeitsplätzen, Wohnungen, Schulen und Krankenhäusern. Der durch dieses Gesetz ausgelöste Schock sowie die Wut auf Macron und seine Regierung sollten in eine massive Streikwelle, einschließlich eines Generalstreiks, gegen die rassistische Diskriminierung und Unterdrückung sowie gegen die Regierung und das von ihr verteidigte System gebündelt werden.




Ein Jahr Regierung Meloni: eine Kriegserklärung gegen die Arbeiter:innenklasse

Azim Parker, Infomail 1239, 18. Dezember 2023

„Man lacht, um nicht zu weinen“ ist eine sehr beliebte Redewendung in Italien. Die Grenze zwischen Tragödie und Farce war nämlich in der Geschichte des Landes manchmal sehr, sehr dünn. Man denke nur an die zwanzig Jahre der Berlusconi-Regierung, die zwischen einem Witz und einer internationalen Blamage auch die Zeit fand, 2001 die Demonstrant:innen gegen den G8-Gipfel in Genua massakrieren zu lassen.

Das erste Jahr der Regierung Melonis bestätigt diese groteske Tendenz. Allein in diesem ersten Jahr konnten wir alle möglichen erbärmlichen Schauspiele ansehen, darunter über Facebook die Trennung der Ministerpräsidentin von ihrem Partner – einem rassistischen und frauenfeindlichen Pseudojournalisten –, einen peinlichen Scherzanruf auf Kosten von Giorgia Meloni, der die Regierung vor der ganzen Welt lächerlich machte, einen absurden Kampf gegen harmloses CBD-Cannabis und vieles mehr. Das Problem ist, dass die Arbeiter:innenklasse einen unglaublich hohen Preis zahlen musste, um Zeugin dieses Spektakels zu werden.

Ein beispielloser Angriff auf die Arbeiter:innenklasse und die Armen

In der Geschichte der Republik gab es sicherlich noch nie eine so starke Verschlechterung der Lebensbedingungen der ärmeren Schichten. Italien ist das Land mit dem stärksten Rückgang der Reallöhne unter den großen OECD-Volkswirtschaften. Bis Ende 2022 waren sie im Vergleich zum Zeitraum vor der Pandemie um 7 % gesunken. Dieser Rückgang setzte sich im ersten Quartal diesen Jahres fort, mit einem Minus von 7,5 % – all das im Rahmen einer grundsätzlich maroden Wirtschaft.

Wenn auch nach der Pandemie tatsächlich eine gewisse Erholung des Wachstums zu beobachten war – im Jahr 2022 ist das BIP tatsächlich um 3,7 % gewachsen –, belasten der Anstieg der Rohstoffpreise aufgrund des Krieges in der Ukraine, die Rezession in Deutschland – dem wichtigsten wirtschaftlichen Partner Italiens –, die Wiedereinführung des Stabilitätspakts und die ständige Erhöhung der Zinssätze die Staatskassen und die öffentliche Verschuldung wie ein Mühlstein. Infolgedessen ist das erste Jahr der Regierung Meloni im Wesentlichen von beispielloser Aggressivität gegenüber den italienischen Lohnabhängigen geprägt.

Arme

Die ersten Opfer der kriminellen politischen Maßnahmen der Regierung waren die Arbeitslosen und die ärmsten Teile der Bevölkerung, die durch eine SMS darüber informiert wurden, dass sie ihr Grundeinkommen, das sog. Bürgergeld verloren haben. Diese auf Betreiben der Fünf-Sterne-Bewegung 2019 eingeführte Transferleistung war zwar selbst eine äußerst demagogische und bestimmt problematische Maßnahme, die sicherlich die Armut nicht „abgeschafft“ hat, wie der damalige Minister Di Maio bei ihrer Einführung erklärte, stellte jedoch für eine gewisse Zeit sowohl das einzige Mittel zum Überleben für viele arme Leute dar als auch eine Barriere gegen die Überausbeutung vieler prekärer Beschäftigter, insbesondere in der Tourismus- und Gastronomiebranche, die berechtigterweise in Anbetracht einer Alternative begonnen haben, die unwürdigen Arbeitsbedingungen zu Hungerlöhnen abzulehnen.

Es ist kein Zufall, dass diese Maßnahme damals auf starken Widerstand bei Kleinunternehmen gestoßen ist. Hinter ihrem sozialchauvinistischen Gejammere über die „Penner:innen, die auf Kosten des Staates leben“, verbarg sich nur ihre Frustration darüber, dass sie niemanden mehr mit Hungerlöhnen erpressen konnten.

Arbeitsgesetz

All das stellt jedoch nur die Spitze des Eisbergs dar. Das Arbeitsgesetz, das zynisch am 1. Mai 2023 erlassen wurde, ist eine regelrechte Kriegserklärung. Es reicht von der Verlängerung befristeter Verträge, also der häufigsten Form prekärer Arbeit in Italien, bis zur Kürzung der

Abgabenschere, einer vom Staat stark beworbenen Maßnahme, die jedoch in Wirklichkeit eine Beleidigung für alle italienischen Lohnabhängigen ist. Um die Kluft zwischen Netto- und Bruttolohn zu verringern, hat die Regierung tatsächlich 4,1 Milliarden Euro bereitgestellt.

Das bedeutet, dass die italienischen Arbeitenden eine Erhöhung des Nettogehalts von 50 bis 100 Euro erhalten werden! Ein Betrag, der angesichts der Inflation völlig bedeutungslos ist. Diese Maßnahme geht natürlich nicht mit einer Erhöhung der Löhne einher. Nicht zufällig hat sich Confindustria – der Italienische Unternehmerverband – sehr zufrieden gezeigt und dieses weitere Geschenk gerne angenommen. Die größte Ironie besteht jedoch darin, dass diese Mittel von der öffentlichen Verschuldung getragen werden, also von den gleichen Arbeiter:innen, die bereits erhebliche Kürzungen bei Renten und öffentlicher Gesundheit hinnehmen müssen, damit „die Rechnung aufgeht“. Real werden also die Unternehmen entlastet, während die Lohnabhängigen durch Sozialkürzungen das verlieren, was sie scheinbar erhalten.

Gesundheitssystem

Gerade das öffentliche Gesundheitssystem ist eines der Schlachtfelder, auf denen die Regierung besonders verheerend vorgegangen ist. In den letzten 10 Jahren wurden in Italien 111 Krankenhäuser geschlossen und 37.000 Betten abgebaut. Der Mangel an medizinischem und pflegerischem Personal ist mittlerweile zu struktureller Natur in den Ambulanzen und Krankenhäusern geworden. All dies geschieht, während der Zugang zu den Universitäten beschränkt ist und komplizierte, von Nepotismus und Unorganisiertheit geprägte Auswahlverfahren die Einstellung neuen Personals weiter erschweren.

Der Tarifvertrag für Krankenpfleger:innen wird seit drei Jahren nicht erneuert. Die Regierung Meloni hat eine Gehaltserhöhung von 4 % angeboten, was die Hälfte des durch die Inflation verlorenen Wertes der Gehälter wäre! In der Zwischenzeit hat das letzte Haushaltsgesetz weitere 2 Milliarden Euro an Mitteln aus dem gesamten Gesundheitssystem gekürzt, alles zum Vergnügen des Privatgesundheitswesens. Dieses sieht nicht nur eine Steigerung seiner Gewinne, sondern erhält auch üppige Subventionen genau von dem Staat, der das öffentliche Gesundheitswesen ruinieren lässt.

Die reaktionäre Rhetorik der Regierung zum Thema Familie hat sich in der Erhöhung der Mehrwertsteuer für Babynahrung und Windeln niedergeschlagen. Laut Regierung sei es notwendig, zum Wohle der Nation Kinder gegen die „ethnische Substitution“ durch Migrant:innen zu gebären – dies wurde tatsächlich vom Landwirtschaftsminister gesagt! Dass die Familien diese Kinder nicht ernähren können, ist jedoch irrelevant. Nicht zu vergessen, dass das Wahlversprechen, die Mineralölsteuer abzuschaffen, natürlich schnell gebrochen wurde.

Das Gemetzel an Migrant:innen geht weiter …

Das italienische Proletariat ist nicht das einzige Ziel. Die Regierung hat sich im letzten Jahr besonders vehement auch gegenüber Migrant:innen positioniert, die immer schon ein erklärtes Ziel dieser Rassist:innen waren. Und sie wollen so auch den Anstieg der Unzufriedenheit aufgrund der nicht eingehaltenen Wahlversprechen eindämmen. Schon während des Wahlkampfs war eine der bekanntesten Forderungen der Regierung die nach einer „Seeblockade“ Italiens, eine ultrareaktionäre und letztlich unrealisierbare Maßnahme, die dazu diente, das vorhandene rassistische Gefühl in der Bevölkerung zu schüren und kapitalisieren.

Natürlich hat die Undurchführbarkeit der Seeblockade Giorgia Meloni und ihre Kompliz:innen nicht daran gehindert, ebenso kriminelle Politiken gegenüber Migrant:innen zu verfolgen.

Zuerst das Abkommen mit der Regierung des tunesischen Folterpräsidenten Saied, der sich gegen Zahlung dazu verpflichtete, die abfahrenden Immigrant:innen in seinen Lagern zurückzuhalten, ein Abkommen ähnlich dem bereits bestehenden mit Libyen. Nach dem Scheitern der Verhandlungen mit Saied flog Meloni nach Albanien, um im Geheimen mit Premierminister Rama über die Schaffung von Anhaltelagern für Migrant:innen zu verhandeln, im Austausch gegen Italiens Hilfe, Albanien in die EU aufzunehmen. Einfach ekelhaft!

In der Zwischenzeit hat sich die Regierung verpflichtet, die Aktivitäten von NGOs so weit wie möglich zu behindern, indem sie die Schiffe dazu zwingt, die Geflüchteten zu Häfen weit entfernt vom Rettungsort zu bringen, und sie de facto auffordert, mögliche mehrfache Rettungsanfragen zu ignorieren. Im Inland hat sich Meloni dazu verpflichtet, neue Zentren für administrative Inhaftierung – die berüchtigten CPR (Rückkehrzentren) – zu errichten, die tatsächlich echten Gefängnissen gleichen, in denen Migrant:innen darauf warten, abgeschoben zu werden. Das erklärte Ziel dieser beschämenden Politiken ist – genauso wie bei anderen europäischen Regierungen, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung – die Blockierung der Einreisen. Tatsächlich ist dies eine schändliche Rechtfertigung. Angesichts von Hunger, Gewalt und Freiheitsberaubung gibt es nichts, was Menschen davon abhalten kann, anderswo ein besseres Leben zu suchen. Alle Anstrengungen der Regierungen, dies zu verhindern, tragen nur dazu bei, das Leiden und den Tod von Hunderttausenden von Menschen zu erhöhen. Nur der Kampf gegen Rassismus, Imperialismus und für eine sozialistische Ordnung kann ihnen endlich Gerechtigkeit bringen und die Menschheit von dieser Tragödie befreien.

Die ohrenbetäubende Stille der Opposition und der Gewerkschaften

Besonders schändlich angesichts dieser Situation erscheint das Verhalten der wichtigsten Gewerkschaften – CGIL, CISL, UIL. Unser Bericht über den Widerstand der Gewerkschaften gegen die Regierung Meloni könnte hier enden. In einem Jahr Regierung sind die wichtigsten Gewerkschaftsorganisationen des Landes, insbesondere die CGIL, durch eine entwaffnende Lethargie aufgefallen. Bis Oktober 2023 wurde keine einzige Demo auch nur symbolisch gegen die Regierung organisiert.

Im Gegenteil, der Generalsekretär der CGIL, Landini, war so nett, Giorgia Meloni einzuladen, eine Rede auf dem Gewerkschaftskongress im März zu halten. Nach einer rein rituellen Demonstration im Oktober in Rom, bei der jedoch die Arbeiter:innen die Gewerkschaftsbürokratie unter dem Ruf nach einem Generalstreik bedrängten, sah sich Landini im November gezwungen, einen Streik auszurufen. Einen Streik, der an drei verschiedenen Tagen regional organisiert wurde – das bedeutet, dass im Norden, in der Mitte und im Süden Italiens an drei verschiedenen Tagen gestreikt wurde. Diese Entscheidung, mittlerweile eine Praxis für die CGIL, zielt offensichtlich darauf ab, die Auswirkungen der Arbeitsniederlegung so weit wie möglich abzuschwächen und sie so harmlos wie möglich zu machen. Trotzdem nutzte die Regierung, insbesondere Verkehrsminister Salvini, die Gelegenheit, die Gewerkschaft und die Arbeiter:innen weiter anzugreifen, indem er erklärte, dass der Streik illegal sei, da er das Recht der Bürger:innen auf Mobilität verletze und daher aufgehoben werden müsse.

Das wäre eine großartige Gelegenheit gewesen, eine echte Mobilisierung gegen die Regierung rund um die Verteidigung des Streikrechts auszulösen. Eine Mobilisierung, die dem bereits unzufriedenen italienischen Proletariat sicherlich eine konkrete Perspektive des Kampfes gegeben und die Regierung in Schwierigkeiten gebracht hätte. Landini hielt es jedoch für richtiger, die Dauer des Streiks auf 4 Stunden im öffentlichen Verkehr zu reduzieren, wodurch die Mobilisierung faktisch zu einem leeren Ritual wurde. In der Zwischenzeit schläft die Regierung ruhig, und Salvini kann sich in sozialen Netzwerken damit brüsten, die Gewerkschaften in den Griff bekommen zu haben.

Leider ist dieses erste Jahr der Regierung auch für die Basisgewerkschaften alles andere als positiv verlaufen. Die verschiedenen Gewerkschaften haben im Wesentlichen miteinander konkurriert, indem sie unkoordiniert und letztlich in Konkurrenz zueinander Ministreiks durchgeführt haben, mit dem einzigen Ziel, sich gegenseitig die Mitglieder wegzunehmen. Die Überwindung dieser sektiererischen Mentalität bleibt daher eine wesentliche Aufgabe für italienische Revolutionär:innen.

Die Bilanz des ersten Jahres der Regierung Meloni ist daher dramatisch. Auf der einen Seite steht die Notwendigkeit der Bourgeoisie und ihrer politischen Vertretung, ungeachtet ihrer internen Widersprüche ihre Gewinne und ihren Status quo auf Kosten des Proletariats zu schützen. Auf der anderen Seite erleben wir die ewige Wiederholung der reformistischen Linken, sowohl in der Politik als auch in den Gewerkschaften. Diese ist Opfer ihres eigenen Opportunismus und Mangels an Perspektiven jenseits der engen Grenzen des Kapitalismus, was sie dazu zwingt, mechanisch die gleichen Formeln und Rituale zu wiederholen, selbst wenn dies sie endgültig zum politischen Vergessen verurteilen.

In dieser Lage braucht es sowohl auf betrieblicher und gewerkschaftlicher wie auf politischer Ebene eigentlich eine Einheitsfront aller Lohnabhängigen und Unterdrückten gegen die Angriffe der rechten Regierung und des Kapitals. Zugleich verdeutlich die Führungskrise der Arbeiter:innenklasse, dass es eine revolutionäre Partei braucht als politische Alternative zum Theater der bürgerlichen Politik und der Rechten.




„Zwei Staaten“ in Palästina: Geschichte einer reaktionären Idee

Robert Teller, Infomail 1239, 14. Dezember 2023

Dass „Zwei Staaten“ in Palästina niemals Wirklichkeit werden, bedeutet nicht, dass die Idee nicht auch einen eigenen Zweck erfüllen kann. Während Israels Bombenteppiche in Gaza Wohnviertel, Bäckereien, Justiz- und Regierungsgebäude in Schutt und Asche legen – und damit nebenbei auch jeden realen Ansatz palästinensischer Staatlichkeit pulverisieren – geistert die „Zweistaatenlösung“ wieder durch die Köpfe vor allem jener unter den Freund:innen Israels, die es für moralisch geboten halten, auch an eine „Zeit nach dem Krieg“ zu denken.

UN-Teilungsplan und Nakba

Ursprung der „Zweistaatenlösung“ ist der Teilungsplan von 1947, der nach einem Beschluss der UN-Vollversammlung aufgrund des von Britannien angestrebten Rückzugs aus Palästina durch eine eingesetzte Kommission erarbeitet wurde. Obwohl damals bereits die Schaffung eines einzigen föderalen und demokratischen Staates in ganz Palästina diskutiert wurde, entschied sich die Kommission schließlich für einen Teilungsplan, der mehr als die Hälfte der Fläche Palästinas für einen „jüdischen“ Staat vorsah, während Jerusalem unter UN-Verwaltung gestellt werden und auf der verbleidenden Fläche ein „arabischer“ Staat geschaffen werden sollte. Beide Staaten sollten politisch souverän, jedoch in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum verbunden sein.

Diese Aufteilung des Landes stand bereits damals in keinem Verhältnis zur demographischen und territorialen Realität der 32 % jüdischen Einwander:innen. Die große palästinensische Bevölkerungsmehrheit erstreckte sich auch auf etwa 400 palästinensische Dörfer innerhalb der vorgeschlagenen Grenzen eines „jüdischen“ Staates. Die Palästinenser:innen lehnten die Abtretung von Territorien an eine koloniale Siedler:innenbewegung ab, was nicht überrascht. Der Teilungsplan enthielt auch von Beginn an einen Verstoß gegen den Souveränitätsgedanken, mit dessen Anspruch die UNO gegründet wurde.

Der durch nichts demokratisch legitimierte Teilungsplan trug nicht dazu bei, die Spannungen zwischen einer kolonialen Siedler:innenbewegung und der indigenen Bevölkerung Palästinas zu entschärfen. Vielmehr verlieh er 1948 der gewaltsamen Vertreibung von 700.000 (und Ermordung von Tausenden) Palästinenser:innen politische und moralische Rückendeckung. Die Nakba endete in der militärischen Eroberung eines deutlich über den Teilungsplan hinausgehenden Territoriums und dessen ethnischer Säuberung. Diese gewaltsam geschaffenen Grenzen wurden 1949 durch Waffenstillstandsabkommen und die Aufnahme Israels in die UNO international anerkannt. Der in UN-Resolution 194 auferlegten Pflicht, allen palästinensischen Flüchtlingen die Rückkehr zu ermöglichen, kam Israel bekanntlich nie nach – und dies stand auch bei den vielen Verhandlungsrunden des „Friedensprozesses“, der zu einer Zweistaatenlösung hätte führen sollen, nie ernsthaft zur Debatte. Vielmehr war deren Voraussetzung gerade die Anerkennung der 1948 geschaffenen Verhältnisse, die seither Generationen von Palästinenser:innen zu Flüchtlingen im eigenen Land oder in den Nachbarstaaten machen.

Folgen des Sechstagekriegs

In die politische Debatte kam die „Zweistaatenlösung“ erst Jahrzehnte später wieder – und zwar nicht als Lösung für die nationale Frage Palästinas, sondern für das israelische „Problem“ der 1967 neu eroberten Gebiete, die sich für den zionistischen Staat als zweischneidiges Schwert herausstellten. Nach den Erfahrungen, die die Palästinenser:innen (und die Weltöffentlichkeit) 1948 gemacht hatten, konnten die Westbank und Gaza nicht in der gleichen Weise ethnisch gesäubert werden, um sie den Expansionsbestrebungen Israels zur Verfügung zu stellen. Aufgrund der dort verbliebenen großen palästinensischen Bevölkerung konnte sich Israel diese Gebiete weder einfach einverleiben noch an die unterlegenen arabischen Staaten abtreten oder gar eine palästinensische Selbstverwaltung zulassen, die es der PLO erlaubt hätte, sich entlang der Grenzen von 1948 zu formieren. Die „Lösung“ eines dauerhaften Besatzungsregimes erwies sich mit Beginn der ersten Intifada 1988 als nicht nachhaltig. Kollektive Kampfformen der Palästinenser:innen wie Streiks, Kauf- und Steuerboykott versetzten der israelischen Ökonomie schwere Schläge. Die nach 1967 verfolgte Strategie einer ökonomischen Integration und Entwicklung der eroberten Gebiete – bei gleichzeitiger Vorenthaltung jeglicher demokratischer Rechte – erwies sich als Bedrohung für das zionistische Projekt.

Oslo-Prozess

Das zentrale Versprechen der Osloer Abkommen 1993 beinhaltete Israels Rückzug aus der Westbank und dem Gazastreifen. Dies sollte jedoch erst als Endergebnis in einem Friedensabkommen vereinbart werden, als Abschluss eines 5 Jahre langen Prozesses, der in kleinen Schritten Verantwortung hin zur neu geschaffenen Palästinensischen Autonomiebehörde verlagern würde. Bis dahin sollte die palästinensische Seite unter Bewährung stehen und demonstrieren, dass sie „zum Frieden bereit“ sei.

Auf Seite Israels lag ein wichtiger Gesichtspunkt darin, die Armee zunehmend von ihrer Funktion als Polizei der besetzten Gebiete zu entbinden, also ihre militärischen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Im zionistischen Lager umstritten war die Frage der ökonomischen Integration. Die alleinige Kontrolle der Grenzen und des Außenhandels durch Israel seit 1967 ermöglichten der israelischen Ökonomie Extraprofite durch Überausbeutung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse und durch Zölle und Handelsprofite. Obwohl die Wirtschaftsunion und auch die Bewegungsfreiheit für palästinensische Arbeiter:innen in den Osloer Abkommen vertraglich vereinbart wurde, setzte sich in Israel letztlich der Flügel im Sicherheitsapparat durch, der einen gemeinsamen jüdisch-palästinensischen Wirtschaftsraum als inakzeptable „Sicherheitsbedrohung“ sah. Die zunehmende Abriegelung der Westbank und des Gazastreifens war ein klarer Verstoß gegen den Wortlaut des Oslo-Abkommens, aber Israel betrieb diese aus genau der Logik heraus, mit der es in die „Friedensverhandlungen“ gegangen war: der angestrebten Minimierung der „Gefahr“, die mit der Verantwortung für das besetzte Volk einhergeht. Die Bewegungsfreiheit der Palästinenser:innen nach 1967 war zwar seit Beginn der Besatzung dem israelischen Militärregime in den Gebieten unterworfen, doch erst Mitte der 1990er Jahre wurde die Abriegelung von Dörfern, Städten bzw. der gesamten Westbank oder die Verhängung von Ausgangssperren durch militärischen Befehl ein alltäglicher Normalzustand.

Eine weitere wichtige Folge des Oslo-Abkommens war die Zerstückelung der Westbank in einen Flickenteppich mit abgestufter Aufgabenteilung zwischen dem israelischen Militär und der Autonomiebehörde. Dem anfänglichen Versprechen nach sollte der israelische Rückzug aus den A- und B-Gebieten nur der erste Schritt hin zu einer wachsenden palästinensischen Selbstbestimmung werden, und bis Ende 1999 sollte die gesamte Westbank der Autonomiebehörde übergeben werden. Umgesetzt wurde letztlich nur der Abzug aus den großen palästinensischen Bevölkerungszentren der Westbank (A- und B-Gebiete), die seither großteils Enklaven unter Verwaltung einer Israel treu ergebenen palästinensischen Hilfspolizei darstellen. Selbst hier behält sich Israel das Recht auf militärische Interventionen vor, die ggfs. höchstens durch die Auslieferung von Israel gesuchter Personen durch die palästinensische Polizei verhindert werden können. In Einzelvereinbarungen setzte Israel in jedem Teilrückzug Konditionen durch, die dem langfristigen Ziel der Kolonisierung der Westbank Rechnung tragen. So wurde etwa beim israelischen Abzug aus Hebron 1997 eine verbleibende dauerhafte Militärpräsenz zum „Schutz“ der damals 400 israelischen Siedler:innen vereinbart. Eine Folge dieses Abkommens ist, dass in der israelisch besetzten H2-Zone dieser Stadt seither 20.000 Palästinenser:innen ihr Leben den militärischen Bedürfnissen der innerstädtischen Siedler:innenkolonie unterordnen müssen. Die daraus entstandene Lebensrealität von Ausgangssperren, „sterilisierten“ (d. h. ethnisch gesäuberten) Straßen, Checkpoints und elektronischer Überwachung wurde zum Paradebeispiel des von Israel errichteten Apartheidsystems.

Die „Zweistaatenlösung“ der 1990er setzte auf Seiten der PLO zwei Bedingungen voraus: Einerseits die Anerkennung allen vor 1967 begangenen Unrechts als unverrückbare Tatsache, andererseits die Demobilisierung der Intifada und Entwaffnung der PLO. Damit wurden Fakten zugunsten Israels geschaffen. Die interessanten Fragen hingegen wurden vielsagend auf ein „endgültiges“ Abkommen in unbestimmter Zukunft vertagt – wie die des Rückkehrrechts, der israelischen Siedlungen, der Außenbeziehungen des palästinensischen Staates und des zukünftigen Status von Jerusalem (welches 1980 von Israel völkerrechtswidrig annektiert worden war). So unbestimmt das Abkommen in allen wesentlichen Fragen war – den Palästinenser:innen forderte es nicht nur handfeste Zugeständnisse ab. Es sollte auch in der Folgezeit dazu dienen, die Äußerung jeder nur denkbaren palästinensischen Forderung als „Sabotage des Friedensprozesses“ zu delegitimieren. Die palästinensische Seite war in der Pflicht, sich als „Partnerin“ Israels zu bewähren, bevor sie einer „echten“ Einigung würdig war.

Die israelische Seite hingegen interpretierte die getroffenen Abkommen so, dass sie jeden kleinen Schritt hin zur palästinensischen Unabhängigkeit unter Verweis auf „Sicherheitsbedenken“ blockieren konnte, während die palästinensischen Zugeständnisse – insbesondere die territoriale Aufteilung der Westbank – aber endgültig blieben. Als diskussionswürdig gilt seitdem nur noch die Rückgabe einzelner Landfetzen der Westbank, auf die Israel selbst nach Meinung seiner westlichen Schutzmächte keinen territorialen Anspruch besitzt. Die Souveränität über Grenzen, Luftraum und Küstengewässer, ja selbst das Recht palästinensischer Flüchtlinge aus den Nachbarländern auf Rückkehr in diese palästinensischen Bantustans – all das verletzt kategorisch israelische „Sicherheitsinteressen“.

Spätestens mit Beginn der 2. Intifada im Jahr 2000 war klar, dass eine endgültige Vereinbarung über Israels Abzug aus der Westbank unerreichbar ist. Die von einer politisch gebrochenen PLO unter Jassir Arafat unterzeichneten Abkommen dienen seither als politische Legitimation für die zeitlich unbegrenzte Besatzung der C-Gebiete und den massiven Transfer von Siedler:innen dorthin als menschliche Schutzschilde der Besatzung. Statt eine begrenzte palästinensische Selbstbestimmung zu erreichen, wurden die Palästinenser:innen zu Fremden in einem Gebiet, das sich vom israelischen Kernland nur durch die umfassenden Privilegien unterscheidet, mit denen der israelische Staat die Siedler:innen für ihre Funktion als zivile Besatzer:innen belohnt. Durch diese De-facto-Annexion der C-Gebiete wird vermieden, die israelische Verantwortung für die Palästinenser:innen (rassistisch als „demographische Gefahr“ bezeichnet) zu vergrößern.

Für die Unterstützer:innen des Staates Israel legitimiert eine angenommene Bedrohung der Siedler:innen jede denkbare Schikane gegen Palästinenser:innen. Ungeachtet der v. a. im Westen verbreiteten scheinheiligen Hoffnung, nach Oslo irgendwie mit den palästinensischen Forderungen abschließen zu können – reale Folge der Abkommen war ihre systematische Einzäunung durch eine nun tödliche Sperranlage um Gaza und ein System von Mauern, Checkpoints und Apartheidstraßen, das die Westbank durchzieht und eingrenzt. Der einzige palästinensische Flughafen, der ein Symbol für neu gewonnene Freiheiten der Palästinenser:innen sein sollte, wurde nur drei Jahre nach Eröffnung durch die israelische Luftwaffe zerstört. Die Autonomiebehörde sollte nach der Abnabelung Israels zur lokalen Verwalterin des Status quo der Besatzung werden. Außerdem bietet der von ausländischen „Hilfsgeldern“ abhängige Apparat allen möglichen „Freund:innen der Palästinenser:innen“ die Möglichkeit, ihre Komplizenschaft mit Israel finanziell zu kompensieren.

Obwohl es in Folge der Oslo-Abkommen einen Rechtsruck in Israel gab, der jede Illusion über die Möglichkeit einer friedlichen Lösung zerstreute – die für die Palästinenser:innen desaströsen Folgen des „Friedensprozesses“ liegen nicht in dessen Scheitern begründet, sondern wohnen diesem von Beginn an inne. Der nach seiner Ermordung 1995 vielfach zum Friedensstifter verklärte Premierminister Jitzchak Rabin ließ selbst keinen Zweifel daran, dass die von ihm ausgearbeiteten Abkommen keine palästinensische Souveränität zur Folge haben sollten und die „Sicherheitsgrenze“ Israels immer am Fluss Jordan liegen würde.

Eine weitere wichtige Erkenntnis aus Oslo ist aber, dass auch die vollständige politische Kapitulation der einst selbstbewussten PLO nicht ausreichte, um die palästinensische Frage ad acta zu legen. Die Zweite Intifada ab 2000 bewies, dass die Palästinenser:innen weiterhin zu massenhaftem Widerstand fähig waren. Die Reaktion Israels – der erneute militärische Vorstoß in die A- und B-Gebiete, die Belagerung von Jassir Arafats Hauptquartier in Ramallah und die Zerstörung der bis dahin aufgebauten zivilen palästinensischen Verwaltung in der Westbank, die routinemäßige Verhängung von Kollektivstrafen wie Ausgangssperren, Abriegelungen oder Hauszerstörungen – führte auch vor Augen, dass der Kern des Konflikts eben nicht der Unwille zum friedlichen Ausgleich ist, sondern die Fähigkeit und der Wille Israels, gewaltsam den Status der Palästinenser:innen als Vertriebene und Rechtlose durchzusetzen.

Die Intentionen der israelischen Regierung wurden vor dem israelischen Rückzug aus Gaza 2005 sehr klar durch Dov Weissglass, damals Berater von Premierminister Ariel Scharon, formuliert:

„Die Bedeutung des Rückzugsplans liegt darin, dass wir den Friedensprozess einfrieren. Und wenn man diesen Prozess einfriert, verhindert man die Gründung eines palästinensischen Staates und verhindert eine Diskussion über die Flüchtlinge, die Grenzen und Jerusalem. Das ganze Paket namens palästinensischer Staat mit allem, was es mit sich bringt, wurde auf unbestimmte Zeit von unserer Tagesordnung gestrichen.“

Wie bei jedem Einsatz militärischer Mittel ist das real herrschende Gewaltverhältnis der Maßstab für jeden „Friedensplan“. Die 2002 von den USA neu aufgelegte „Roadmap for Peace“ machte der israelischen Seite erhebliche Zugeständnisse. Von Israel wurde die Roadmap so interpretiert, dass als ihre Vorbedingung ein Ende der Intifada, die Entwaffnung des palästinensischen Sicherheitsapparates und die politische Entmachtung von Jassir Arafat erfolgen müsse. Die Roadmap hatte daher für Israel die Funktion, die Niederschlagung der Intifada mit politischer Legitimität zu versehen.

Deal of the Century

Der Trump-Plan von 2019 („Deal of the Century“) war letztlich für fast alle Beobachter:innen nur der Versuch, die Realität zu legalisieren und in eine dauerhafte Rechtsform zu gießen. Teil des Plans war die einseitige Annexion aller Siedlungen in der Westbank sowie des Jordantals, die lediglich von den USA „bewilligt“ werden müsste. Der palästinensische „Staat“ dürfte keinerlei bewaffneten Organe unterhalten, müsste alle rechtlichen Schritte gegen Israel vor internationalen Tribunalen unterlassen und dürfte nicht in eigener Verantwortung internationalen Organisationen beitreten. Bei Verstoß gegen irgendwelche Vereinbarungen würde Israel automatisch das Recht auf militärische Intervention erhalten, vorbehaltlich nur der Zustimmung durch die US-Administration. Der Plan enthält die Möglichkeit der Ausbürgerung von Palästinenser:innen mit israelischem Pass und die weitergehende Annexion von Gebieten der Westbank im „Tausch“ gegen Gebiete in der Negev-Wüste. Die Annexion Jerusalems würde unverrückbar anerkannt, alle Grenzen würden ausschließlich von Israel kontrolliert und die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge selbst in diesen „Staat“ Palästina würde unter den Vorbehalt israelischer Zustimmung gestellt. Durch die „Hilfe“ von Investor:innen aus den Golfstaaten sollten die palästinensischen Kantone zu einer florierenden Sonderwirtschaftszone ausgebaut werden. Der Rest der Welt sollte auf diese Weise von der finanziellen Last befreit werden, einen Großteil der palästinensischen Bevölkerung über das UNRWA-Hilfswerk mit dem Nötigsten zu versorgen, was seit 1948 eine zentrale Voraussetzung der dauerhaften Ghettoisierung der palästinensischen Flüchtlinge und damit der israelischen „Sicherheitsinteressen“ ist.

Die „Zweistaatenlösung“ hat für Israel ihren Zweck erfüllt – die politische Unterwerfung der PLO. Zugleich hat sie 3 Jahrzehnte lang deutschen, US-amerikanischen und anderen Regierungen als Feigenblatt gedient, um ihre fortgesetzte Rückendeckung für den Kolonialstaat Israel politisch zu flankieren. Das erklärt auch, dass sie nicht so einfach aus den Köpfen verschwinden wird, wie es der zionistischen Rechten in Israel lieb wäre.

Resultat der Oslo-Abkommen ist auch der Apparat der Autonomiebehörde, der als Auftragnehmer des Besatzungsregimes für Israel unverzichtbar geworden ist. Dies unterstreicht auch die von Präsident Abbas und Premierminister Schtajjeh demonstrierte Bereitschaft, nach Ende von Israels Krieg in Gaza dort als Statthalter über die Trümmerwüste einzuspringen. Dass dies von Israel bislang ausgeschlossen wird, erklärt sich gerade aus der wichtigen Funktion, die die Behörde für Israel besitzt. Es ist nicht nur fraglich, woher diese die notwendige Autorität für die Neuordnung Gazas nehmen soll. Die politische Vereinigung von Gaza mit der Westbank würde auch den palästinensischen Massen die längst diskreditierte Autonomiebehörde als gemeinsame Gegnerin präsentieren und den Widerstand gegen deren Herrschaft als gesamtpalästinensische Frage, als zentralen Aspekt des Kampfes gegen Besatzung und Unterdrückung überhaupt, aufwerfen.

Für einen binationalen, säkularen, sozialistischen Staat!

Die Sackgasse in der Diskussion um die Zweistaatenlösung zeigt schlichtweg auf, dass die Lösung der palästinensischen Frage im Widerspruch steht zum Fortbestand eines kolonialen, ethnisch gesäuberten Staates Israel – in welchen Grenzen auch immer. Seine revolutionäre Überwindung ist die Voraussetzung für die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts beider Nationen, der palästinensischen und der jüdisch-israelischen. Dies erfordert neben der völligen rechtlichen Gleichstellung der Nationalitäten, der Anerkennung aller gesprochenen Sprachen als gleichberechtigt, der Anerkennung des Rückkehrrechts für alle palästinensischen Flüchtlinge weltweit und ihrem Anspruch auf Entschädigung auch, die ideologische Bindung der israelischen Massen an das zionistische Projekt zu durchbrechen. Solange die jüdisch-israelische Selbstbestimmung fälschlich mit der Aufrechterhaltung militärisch abgesicherter Völkerreservate gleichgesetzt wird, bleibt eine „gerechte Lösung“ eine Unmöglichkeit. Dieses Wegbrechen der israelischen Massen vom Zionismus kann jedoch keine Vorbedingung für den palästinensischen Befreiungskampf sein. Vielmehr wird jeder Schlag, den die Palästinenser:innen und die internationale Solidaritätsbewegung dem Staat Israel versetzen, auch die Grundlage dieser ideologischen Bindung schwächen, die auf dem chauvinistischen Glauben an die Unbesiegbarkeit Israels fußt.

Auch wenn heute der Kampf gegen den Siedlungsbau und den alltäglichen Versuch der Vertreibung von Palästinenser:innen in der Westbank auf der Tagesordnung steht, muss dieser auf die Anerkennung der jüdisch-israelischen Nation unter vollständiger Abschaffung sämtlicher Privilegien abzielen. Dieses Ziel ist unvereinbar mit der Existenz zweier Staaten. Die Zweistaatenlösung würde unweigerlich beinhalten, einen Grenzverlauf festzuschreiben, der durch koloniale Gewalt aufgezwungen ist – und mit diesem auch die Vertreibungen von 1948, von 1967, die der vergangenen Jahrzehnte und die mit allem verbundene Enteignung palästinensischen Eigentums unwiderruflich machen. Eng damit verknüpft ist die Aneignung von Wasser, landwirtschaftlicher Nutzfläche und anderer natürlicher Ressourcen durch den Siedlerkolonialismus und die Kontrolle der Außengrenzen. Status quo ist die Existenz eines einzigen souveränen Staates, der eine echte Teilung seiner Souveränität kategorisch ausschließt. Es ist eine Utopie, diesen Staat derart zu bändigen, dass neben ihm Platz für einen zweiten existiert. Voraussetzung für jede gerechte Lösung ist seine revolutionäre Zerschlagung und die Schaffung eines neuen binationalen Staates.

Obwohl Marxist:innen für unterdrückte Nationen das Recht auf Lostrennung und auf einen eigenen Staat fordern, kann diese Forderung keinesfalls unterschiedslos, ohne Berücksichtigung der spezifischen Umstände der Unterdrückung aufgestellt werden.

Ein palästinensischer „Staat“ neben Israel würde nicht nur vergangenes Unrecht legitimieren, sondern auch die derzeit vollzogenen ethnischen Säuberungen in der Westbank als endgültig hinnehmen müssen. Die Festlegung eines Grenzverlaufs zwischen beiden Staaten würde höchstwahrscheinlich eine neue Vertreibungswelle nach sich ziehen, die auf die Ausweisung eines möglichst großen Teils der Palästinenser:innen in den Grenzen von 1948 abzielt. Solche Szenarien werden u. a. von der ultrarechten zionistischen Partei „Jisra’el Beitenu“ (Unser Zuhause Israel) vertreten. Der reaktionäre Gehalt der „Zwei-Staaten“-Idee wird daran deutlich, dass ihr Ziel letztlich die Schaffung eines ethnisch homogenen Staates Israel ist, also der Abschluss der historischen Mission des Siedlerkolonialismus – wenn auch mit ggfs. geringfügig reduzierter territorialer Ausdehnung. Solange die Existenz eines Siedler:innenstaates auf der Basis ethnischer Exklusivität akzeptiert wird, kann der historische Zweck der Zweistaatenlösung nur in dessen Vollendung liegen – unabhängig davon, welche Hoffnungen einige Palästinenser:innen mit der Aussicht auf einen eigenen Staat neben Israel verbinden mögen. Ein unter den heutigen Bedingungen irgendwie vorstellbarer palästinensischer Staat – der seiner staatlichen Souveränität und wichtigsten sozialen Errungenschaft, des Rückkehrrechts, beraubt wäre – würde die palästinensische Frage nicht lösen, sondern die Unterdrückung mit umfassender politischer Legitimität ausstatten. Ein solcher „Deal“ würde auch auf die „Normalisierung“ Israels durch die Abraham Accords von 2020 aufbauen. Im schlimmsten Fall könnte dabei das ägyptische Regime gezwungen werden, einer Vertreibung der Palästinenser:innen aus Gaza und deren Ansiedlung auf dem Sinai zuzustimmen.

Revolutionär:innen sollten daher unmissverständlich für eine „Einstaatenlösung“ eintreten. Natürlich zieht diese Position auch die Frage des Klassencharakters des zu erkämpfenden Staates nach sich. Die Schaffung eines gerechten Ausgleichs beider Nationalitäten erfordert den massiven Transfer von Ressourcen zur Entschädigung und Wiederansiedlung der Vertriebenen. Die Beseitigung des Apartheidcharakters, der bereits im Städtebau und in Straßenverläufen einbetoniert worden ist, ist nur auf Grundlage gemeinschaftlichen Eigentums an Land, Wohnraum, Industrie und Bodenschätzen möglich. Sie fällt also der Arbeiter:innenklasse zu, die diese Ressourcen enteignen und einer gesamtgesellschaftlichen Planung des binationalen Staates zugänglich machen würde. Die Verknüpfung der demokratischen mit der sozialistischen Revolution stellt daher den programmatischen Kern der revolutionären Strategie zur Befreiung Palästinas dar.




Weder neu, noch internationalistisch: Die LINKE und der „neue Internationalismus“

Leo Drais, Neue International 279, Dezember 2023/Januar 2024

„Wir setzen dagegen auf Deeskalation, globale Gerechtigkeit und zivile Konfliktlösung, um der sich zuspitzenden Blockkonfrontation eine friedliche Alternative entgegenzusetzen. Das meint eine Politik, die nicht der Logik des Militärischen folgt, die die Bedrohung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit von innen und außen ernst nimmt, aber grenzübergreifend Ausgleich, Abrüstung und sozialer Gerechtigkeit verpflichtet ist. Eine Entspannungspolitik, die internationales Recht und den Weg der Diplomatie und Verhandlung stärkt. Die endlich die Fluchtursachen bekämpft – nicht die Geflüchteten. Die solidarischen Handel und gemeinsame Entwicklung stärkt, statt Standortkonkurrenz und neokoloniale Ausbeutung zu verschärfen. Die aktiv jene Menschen, Organisationen, Gewerkschaften und Bewegungen unterstützt, die für Demokratie und Gerechtigkeit eintreten, anstatt weiter Deals mit Diktatoren zu machen. Die dafür sorgt, dass die EU nicht ein Treiber des Wettrüstens bleibt, sondern eine Friedensunion wird.

Das kann gelingen mit einem neuen Internationalismus, der ohne Doppelstandards Völkerrecht und Menschenrechte achtet – und überall für Gerechtigkeit, Kooperation und Demokratie eintritt. Die Grenzen verlaufen zwischen oben und unten, unser Kampf für Gerechtigkeit ist universell. Denn es braucht weltweit soziale Gerechtigkeit, eine klimagerechte Wirtschaft und Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und handlungsfähige internationale Strukturen.“ (Linkspartei, Wahlprogrammentwurf zur Europawahl 2024)

Alt und bricht sofort

Das, was sich weiter Linkspartei nennt, in das über 1.000 neue Genoss:innen nach dem ersehnten Weggang Sahra Wagenknechts und ihrer Sänftenträger:innen eingetreten sind, wird nicht müde zu betonen, dass jetzt alles besser würde. Aufbruchstimmung, alles neu, beziehungsweise: Back to the roots. Und das trifft es. Denn der oben zitierte „neue Internationalismus“ ist gar nicht so neu. Vor zehn Jahren hätte das Ganze mehr oder weniger genauso im Wahlprogramm der LINKEN stehen können und damals wie heute wäre auch eine Sahra Wagenknecht damit zufrieden. Hinter floskelhaft Unkonkretem kann sich weiterhin fast alles und jede/r sammeln. Es ist ein Internationalismus, der außer dem Namen wenig Internationalistisches in sich trägt, eine Klammer, die Regierungssozialist:innen, Bewegungslinke und den Rest wie mit einem porösen Einweckgummi zusammenhält.

Und während der Gummi alt und ausgeleiert ist und nur durch den Weggang des Wagenknechtflügels eine gewisse Entlastung erfährt, wiegt die veränderte Weltlage so schwer. Die Linkspartei spricht ja selbst von einem „Epochenbruch“. Doch aus dieser Erkenntnis folgt keine Revision des Programms. Die alten Antworten sollen auch in der neuen Zeit die richtigen sein, dabei waren sie es in der „alten“ schon nicht.

Denn was so schön und einfach klingt – „friedliche Alternative“, „Ausgleich“, „Abrüstung“, „solidarischer Handel“, „soziale Gerechtigkeit“, „Menschenrechte“ – das ist fromm im religiösesten Sinn. Es wird geglaubt, versprochen und nicht analysiert. Fest geglaubt daran, dass Kapitalismus „fair“ und „friedlich“ gehen könne. Ein fortgesetzter Gottesdienst, der die Illusion streut, das Hier und Jetzt könnte einfach so anders werden. Das steht so zwar nicht da, aber es ist, worauf die Politik der Linkspartei wie eh und je hinausläuft. Oder besser: nicht hinausläuft. Denn nur weil sich etwas gewünscht wird, wird es nicht passieren. Die kapitalistische Welt ist eben eine ganz konkrete, von Widersprüchen durchzogene, in der Konkurrenz überhaupt das ist, worin sie sich verwirklichen kann. Selbst wenn die Linkspartei an der Regierung wäre, mit absoluter Mehrheit, würde alles, was sie sich wünscht, an diesen Sachzwängen zerrreißen und zerbrechen. Es gibt keinen Kapitalismus ohne Ausbeutung und Konkurrenz, die die Ausbeutung immer weiter zuspitzt und eben zu Neokolonialismus führen muss.

Das weiß sie vielleicht auch selbst. Aber ihr Wahlprogramm ist ja auch erst mal nur ein Stimmenfänger und dann sieht man, was möglich ist, innerhalb des Systems, mit ein bisschen sozialer Bewegung und Parlamentarisieren. Wenn aber die Welt nicht grundsätzlich infrage gestellt wird, was ist dann die Politik der LINKEN anderes als eine nationale, kapitalistische? Ihre „friedliche Alternative“ ist eine Lösung des Ukrainekrieges am Verhandlungstisch der Großmächte Russland und NATO, keine des Selbstbestimmungsrechts der Menschen, die in der Region leben. Ihr „Völkerrecht“ ist das der UNO und damit einer imperialistischen Institutionen schlechthin. Ihr „solidarischer Handel“ ist immer noch Ausbeutung.

So wenig neu wie das Programm für ein „Comeback“ ist, so wenig neu ist eigentlich auch unsere Kritik daran. Wir haben die Programme der Linkspartei in den letzten Jahren wiederholt Kritiken unterzogen, auch hinsichtlich des Internationalismus, der nur so halbgar daherkommt. Was sich jedoch mit der „Epochenwende“ durchaus verändert, ist, dass Ansprüche früher mit der Realität kollidieren, wobei die kapitalistische Realität bei diesem Zusammenprall keinen Schaden nimmt, wohl aber die Linkspartei und die, die an sie glauben oder doch wenigstens ein kleines bisschen in Ermangelung von Alternativen auf sie hoffen. Die Partei ist getrieben von der Welt.

Offene Grenzen

Als Beispiel dafür dient die Forderung nach offenen Grenzen, inzwischen entsorgt und opportun durch ihre Negation ersetzt, nämlich der Absage an Grenzkontrollen (Beschluss des Parteivorstandes vom 23. Oktober 2023). Natürlich war das mit den offenen Grenzen nie wirklich ernstgemeint. Solange es eine im Vergleich zu heute überschaubare Migration gab (die schon 2014 für Tausende den Tod im Mittelmeer bedeutete), war das etwas, womit man sich gut schmücken konnte.

Dann kam 2015, dann die AfD und es stellte sich wirklich die Frage, wie mit Millionen Geflüchteten umgegangen werden soll. Die Antwort oben: Fluchtursachen bekämpfen. Das ist zwar an sich richtig, aber es verkommt zur Phrase, wenn es als Ersatz für eine konkrete Antwort herhalten soll, ob Hunderttausende Geflüchtete aufgenommen werden sollen oder nicht. Man weicht also aus und setzt auf „Gerechtigkeit“ usw., also auf Plattitüden.

Das ist einfacher, als offene Grenzen wirklich mal konsequent weiter zu denken und jenen zu vermitteln, die tatsächlich eine damit verbundene Angst haben, jedoch noch nicht in den Fängen der AfD oder von BSW stecken. Dies nicht zu tun, heißt ansonsten, dass sich DIE LINKE im Endeffekt unter jene einreiht, für die Grenzkontrollen usw. alternativ sind. Sie mag zwar die Politik der Regierung in einzelnen Fällen kritisieren, aber selbst formuliert sie in dieser einen Grenzfrage eben keine Alternative.

Dass offene Grenzen mit der bestehenden Realität nicht vereinbar sind, ist dabei der Linkspartei selbst klar, sonst würde sie an der Idee festhalten. Aber obwohl, ja weil sie mit der imperialistischen Weltordnung unvereinbar ist, halten z. B. wir an der Idee fest. Sie führt im Grunde sofort zu der Frage: Wie soll die Gesellschaft, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit aussehen? Wer antirassistisch sein will, der muss dafür sein, dass alle Menschen das Recht haben, überall auf der Welt zu leben. Alles andere ist geheuchelt. Den Weg zu so einer Welt zu zeichnen und vorstellbar zu machen, das macht einen wirklichen Internationalismus aus. Daher muss Antirassismus als integraler Teil des Klassenkampfes verstanden werden. Verteilung der Arbeit auf alle, Sicherung von Wohnraum und soziale Absicherung für alle, Enteignung internationaler Konzerne, ein Plan zur Reparation der Schäden in der halbkolonialen Welt, multilinguale Ämter usw. sind davon genauso Eckpunkte wie eben die offenen Grenzen.

Ukraine

Ein anderes Beispiel für den halbgaren Internationalismus ist die Haltung zur Ukraine. Hier offenbart sich außerdem, dass der in der Partei weit verbreitete Pazifismus keine Antwort auf die Kriegsgefahr bietet. Zwar muss zugutegehalten werden, dass diese Pazifist:innen nicht so wie viele andere vom Krieg einfach umgeworfen wurden und auf der Seite der NATO landeten. Trotzdem stellt sich die Frage: Wenn man der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung zugesteht, wie soll sie dieses dann wahrnehmen? Zu sagen, dass mehr Waffen keinen Frieden bringen, dieser nur diplomatisch erreichbar sei, und an Putin, Biden und Scholz zu appellieren, sich doch an einen Tisch zu setzen, bedeutet im Grunde nur, den Großmächten der Welt zuzugestehen, dass sie über Krieg und Frieden und über die „Friedensordnung“ entscheiden. Das heißt jene, die sich nicht nur auf militärischem Gebiet im Kampf um eine Neuaufteilung der Welt befinden, sollen entscheiden, wie die Ukraine neu aufgeteilt wird. Ein solcher imperialistischer Frieden würde allenfalls die geostrategische Konfrontation, die den Krieg um die Ukraine auch, wenngleich nicht ausschließlich prägt, in neue Formen gießen. An der Aufrüstung, der Expansion der NATO wie ihrer imperialistischen Rivalität mit Russland und China würde das nichts ändern. Aber alles ist, was und wie es ist, so scheiße es auch ist.

Allgemein gesteht DIE LINKE zwar der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung gegen die imperialistische Invasion Russlands zu. Aber die Frage, wie die Anerkennung dieses Selbstbestimmungsrechts, das ohne die Mittel zur seiner Umsetzung nichts wert ist, mit dem Kampf gegen jede imperialistische Einflussnahme in der Ukraine verbunden werden kann, stellt sie sich erst gar nicht.

Als Revolutionär:innen gestehen wir zwar der Ukraine zu, sich die Mittel für ihre Verteidigung zu beschaffen, wir lehnen aber Forderungen an die westlichen imperialistischen Mächte, sich einzumischen, ab und treten offensiv für ein Ende der Sanktionen gegen Russland ein, weil diese integraler Teil eines neuen Kalten Krieges zwischen den Großmächten sind.

Bezüglich der Waffenlieferungen an die Ukraine geht es vor allem darum: Wie kann dafür gesorgt werden, dass diese nicht zur Aufrüstung der NATO in Polen oder im Baltikum genutzt werden? Im Endeffekt bedeutet es zu fordern, dass Waffentransporte nicht durch die Armeen und NATO-Staaten kontrolliert werden, sondern durch die Transportarbeiter:innen selbst. Immerhin gibt es in Europa kleine Beispiele, wo sowas passierte. Es verweist aber auch auf das, was wirklich dem Krieg das Handwerk legen kann.Nicht die Diplomatie der Imperialist:innen, sondern eine internationale Antikriegsbewegung auf Straßen, Gleisen und in Rüstungsfabriken. Nur diese wäre in der Lage die Unterstützung des ukrainischen Selbstbestimmungsrechtes und den Kampf gegen die Imperialist:innen auf allen Seiten miteinander zu kombinieren. Eine solche Bewegung müsste in klarer Opposition zur Selenskyj-Regierung stehen und die linken und gewerkschaftlichen Kräfte in der Ukraine unterstützen und zwar vor allem jene, die für von allen bürgerlichen und imperialistischen Kräften unabhängige Arbeiter:innenpolitik einstehen. Klar sind wir davon weit weg. Wäre trotzdem die Aufgabe der Linkspartei, vermittelt über ihren Einfluss in Gewerkschaften, so etwas aufzubauen. Es ist allemal sinnvoller, als für ein Ende der Kriege durch UNO, Diplomatie und Pazifismus einzutreten. Es wäre die Bereitschaft zum Klassenkampf: sich darauf vorzubereiten, allem, was ist, glaubwürdig den Krieg zu erklären.

Palästina

Und damit kommen wir zu Palästina, heute der Gretchenfrage, wenn es um internationale Solidarität deutscher Linker geht. Im Bundestag hatte sich die Linkspartei allen anderen Parteien schnell angeschlossen, als es um die Verurteilung des Hamasterrors und die Solidarität mit Israel ging.

Auch wir verurteilen die Ermordung unschuldiger Zivilist:innen am 7. Oktober und lehnen die Politik und Strategie der Hamas ab. Aber das ändert nichts daran, dass der palästinensische Widerstand gegen die seit Jahrzehnten andauernde Vertreibung und Besatzung auch unter einer schlechten, reaktionären Führung wie jener der Hamas legitim ist.

Wenn, wie Gregor Gysi sagt, die Palästinenser:innen die Unterdrückten sind, dann stellt sich für Linke die Frage: Wie kann diese Unterdrückung beendet werden? Dieser Weg führt darüber, dass eine linke Alternative zur Hamas aufgebaut werden muss, die den Kampf nicht einfach für sich selbst und eine Zwei-Staaten-Lösung führt, sondern wirklich ein Programm bietet, was jede Unterdrückung in der Region beendet. Die der Palästinenser:innen durch Israel. Die palästinensischer Frauen in einer extrem konservativen Gesellschaft. Die der rassistisch unterdrückten Israelis durch den Zionismus. Der Weg dahin führt nicht über eine Unterstützung des Staates, der wesentlich die Ursache für die heutige Situation darstellt. Man kann solidarisch mit ermordeten und entführten Zivilist:innen sein, ohne sich auf die Seite des Staates zu stellen, der auf ihrem Pass steht.

Das aber hat die Linkspartei nicht getan. Sie bietet auch heute keine Perspektive und keine klare Unterstützung der Unterdrückten, weder vor Ort noch in Palästina. Sie landet maximal dort, wo wir sie schon oben kritisierten: bei der Illusion eines Völkerrechts, einer gerechten Weltordnung in einer grundsätzlich ungleichen Welt. Bei zähen Debatten, bei verwundenen Begründungen, warum man da steht, wo man steht. Damit ist die Linkspartei noch weniger glaubwürdig als alle anderen Parteien.

Denn während diese den Boden, auf dem sie agieren – den deutschen Imperialismus  –, auch verbal gar nicht in Frage stellen und sich eben für diesen strategisch in die Bresche werfen, wenn auch mit unterschiedlichen Ideen, so bezeichnet sich die Linkspartei ja schon als eine demokratisch-sozialistische Partei. Weder in Palästina noch der Ukraine noch sonst wo ist jedoch ersichtlich, wie ihr Selbstverständnis zu einer demokratisch-sozialistischen Welt werden kann. Und, das sei mal unterstellt, auch wenn der Traum davon bei vielen Mitglieder ein aufrichtiger ist, in der Realität ist das nur eine verschwommene Erinnerung an die letzte Nacht und genauso viel wert.




Pakistan: Solidarität mit den afghanischen Flüchtlingen und Massenprotesten!

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1237, 20. November 2023

1,7 Millionen afghanische Flüchtlinge, etwa die Hälfte der 3 – 4 Millionen in Pakistan lebenden Afghan:innen, sollen bis Ende des Jahres abgeschoben werden, wenn sie das Land nicht „freiwillig“ verlassen. Viele der 1,7 Millionen sind vor der Verfolgung durch die Taliban geflohen. Nun müssen sie Pakistan verlassen, andernfalls drohen ihnen Haft und Abschiebung.

Seit Anfang November sind Schikanen und Zwangsabschiebung von Afghan:innen weit verbreitet. Gleichzeitig nehmen die Proteste seit Wochen zu, vor allem am Grenzübergang Chaman (Belutschistan). Tausende von pakistanischen Paschtun:innen schließen sich den Protesten an, darunter zahlreiche Arbeiter:innen. Die Demonstrant:innen haben auf beiden Seiten der Grenze massenhafte Sitzstreiks organisiert.

Der Grund für die Proteste an der Grenze ist ganz klar. Die paschtunische Bevölkerung lehnt die Abschiebungen nicht nur ab, sondern versteht sie auch richtig als Teil der Politik und der Interessen der Regierung, die das Leben der paschtunischen Bevölkerung miserabel gemacht hat. Sie erkennen, dass die Abschiebungen Hand in Hand mit der Enteignung der Afghan:innen gehen, die ihnen ihre Lebensgrundlage und ihr Recht auf ein Leben in dem Gebiet nehmen, in dem sie – manchmal seit Generationen – arbeiten und leben.

Darüber hinaus will die Regierung paschtunische Führer:innen und Händler:innen dazu zwingen, künftig Grenzkontrollen durchzuführen. Der Zusammenschluss von Kaufleuten und lokalen Stämmen soll gezwungen werden, Pässe und Visa auszustellen. Doch zumindest bisher haben sie diese Anordnungen abgelehnt. Derzeit beteiligen sich Bauern und Bäuerinnen, Händler:innen, Stammesführer:innen und berufstätige Paschtun:innen verschiedener politischer Parteien an diesem Protest und lehnen die Regierung und ihre Politik ab.

Die Demonstrant:innen lehnen die Zwangsvertreibung von afghanischen Flüchtlingen ab und fordern, dass die Regierung diese unmenschliche Politik zurücknimmt und das Leben der afghanischen Flüchtlinge nicht noch härter und ärmer macht. Ihre Vertreibung wird alles zerstören, was sie in harter Arbeit ein Leben lang und über Generationen hinweg aufgebaut haben. Zurück in Afghanistan gibt es nichts für sie und viele sind ernsthaften Bedrohungen durch das Regime ausgesetzt.

Die geschäftsführende Regierung von Anwaar-ul-Haq Kakar will von der Krise des Systems, der grassierenden Inflation und der Energieknappheit ablenken. Sie macht die Afghan:innen für den Mangel an Ressourcen verantwortlich. Deshalb werden die afghanischen Flüchtlinge zum Sündenbock gestempelt und der Rassismus gegen sie wird angeheizt. In der Tat wird die Bewegungsfreiheit aller Menschen ohne Pass an der Grenze von Chaman in Zukunft vollständig unterbunden.

Der Grenzhandel ist auch in Belutschistan zu einem ernsten Problem geworden. Dort ist die Beschäftigung und der Lebensunterhalt von Millionen von Menschen damit verbunden. Die Politik der pakistanischen Regierung vernichtet diese im Interesse des Großkapitals.

Diejenigen, die bereits Opfer der vom Imperialismus und dem Staat aufgezwungenen Marginalisierung und des Krieges sind, werden um alles gebracht. Daher liegt es in der Verantwortung der Arbeiter:Innen im ganzen Land, auch in Belutschistan, sich mit den afghanischen Flüchtlingen zu solidarisieren. Die pakistanischen Gewerkschaften müssen die Massensitzstreiks und Proteste an den Grenzen unterstützen. Sie müssen in Solidaritätsmobilisierungen und Streiks mit ihren afghanischen Brüdern und Schwestern auftreten und sich in einem gemeinsamen Kampf gegen alle Abschiebungen, für das Recht aller Flüchtlinge, in Pakistan zu leben und zu arbeiten, und gegen die Inflation, die staatlichen Kürzungen, die Diktate des Internationalen Währungsfonds und die kapitalistische Krise, die die wahre Ursache für das Elend der pakistanischen Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen und der afghanischen Flüchtlinge sind, vereinen.

Weltweit müssen sich Parteien der Arbeiter:innenklasse, Gewerkschaften und linke Organisationen mit den afghanischen Flüchtlingen und ihren Sit-ins solidarisieren. Sie müssen Proteste und Kundgebungen in verschiedenen Ländern organisieren und Solidaritätsbotschaften an die Protestierenden senden!




Rezension: „Diversität der Ausbeutung“

Mo Sedlak, Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1236, 13. November 2023

Die Ausbeutung der Arbeiter:innen hat immer schon auch deshalb funktioniert, weil sie in Segmente und Gruppen mit scheinbar gegensätzlichen Interessen aufgespalten sind. Rassistische Überausbeutung, koloniale Enteignung, sexistische Aufteilung der unbezahlten Reproduktionsarbeit und mit Gewalt und Stigmatisierung vollzogener Ausschluss von LGBTQIA+-Personen prägen bis heute die soziale Ordnung der kapitalistischen Gesellschaften. Gleichzeitig beeinflussen und segmentieren sie die Arbeiter:innenklasse. In Eleonora Roldán Mendívil und Bafta Sarbos Sammelband „Diversität der Ausbeutung“ weist Christian Frings schon im Vorwort darauf hin, dass diese „eigentümliche Zusammensetzung“ schon Marx als notwendige Voraussetzung für Ausbeutung und Mehrwertproduktion auffällt. (Mendívil und Sarbo 2022, 13)

Aus der Zusammensetzung der Klasse ergibt sich auch eine Aufspaltung der Arbeiter:innen. Die Arbeiter:innenbewegung hat diese immer bekämpft, je nach politischer Ausrichtung und geschichtlicher Verfasstheit mal mit mehr Ernsthaftigkeit und mal mit weniger Erfolg. Nach dem wirtschaftlichen Aufschwung in Folge des Zweiten Weltkriegs haben kam es ab den 1960er Jahren zu größeren und erfolgreicheren Bewegungen als je zuvor gegen die soziale Unterdrückungsmelange aus Neokolonialismus, kaum verschleiertem völkischen Erbe und dem Zwang der heterosexuellen Kleinfamilie. Der Kapitalismus im imperialistischen Zentrum passte seine sozialen Regeln und die Arbeitsteilung innerhalb der Klasse an. Seitdem sind Regierungen und loyale Oppositionen bestrebt, soziale Kämpfe vom Antikapitalismus zu trennen. Um die Rebellion zu verhindern, bieten Parteien und Konzerne jetzt Diversität an.

Das Buch selbst macht auf das Wortspiel im Titel aufmerksam (Witze werden immer lustiger, wenn sie erklärt werden!). „Diversität der Ausbeutung“ benennt sowohl die unterschiedlichen Ausbeutungsformen anhand von rassifizierter und geschlechtlicher Aufspaltung, aber auch die Rolle des neoliberalen „Diversitätsmanagements“ für die fortgesetzte Ausbeutbarkeit des Proletariats.

Das ist der Ausgangspunkt von Mendívils und Sarbos Kritik des herrschenden Antirassismus (das ist der Untertitel von „Diversität der Ausbeutung“, das 2022 im Berliner Dietz Verlag erschienen ist). Die Autor:innen machen den Widerspruch auf zwischen einem Kapitalismus, der die Arbeiter:innenklasse ohne Rassismus nicht beherrschen kann, und Arbeiter:innen die sich diese Herrschaft nicht gefallen lassen.

Zusammenfassung: marxistische Kritik und Kritik der Kritik

Das Buch ist auch eine scharfe Kritik an bürgerlichen und kleinbürgerlichen Linken. Diesen werfen die Autor:innen vor, die Sprache der Herrscher:innen übernommen zu haben bzw. ihre nächsten Entwicklungsstufen für sie zu schreiben. Im Gegenzug dazu hätten die größten Teile der postkolonialen, poststrukturalistisch-feministischen und intersektionalen Theoretiker:innen aufgegeben, in den Produktions- und Reproduktionsverhältnissen nach der Ursache für Rassismus, Sexismus und Queerunterdrückung zu suchen. Dementsprechend würden auch ihre Lösungsansätze am Kern der Sache vorbeigehen und sich sicher innerhalb der Systemgrenzen bewegen. Den Gegenentwurf skizzieren die zwei Herausgeberinnen im ersten Kapitel, „Warum Marxismus“, als systematische Anwendung der materialistischen Methode.

Zum Beispiel bauen Mendívil und Sarbo im fünften Kapitel auf Barbara Foleys Kritik der Intersektionalität auf und stellen ihr die marxistische Kategorie der Verdinglichung entgegen. Intersektionalität zeichnet Bevor- und Benachteiligungen als Differenzlinien auf, deren Überschneidungen dann Mehrfachunterdrückung zeigen. Foley macht darauf aufmerksam, dass gerade die Zweidimensionalität der Darstellung die besonderen Formen von rassistischer Arbeitsteilung, behindertenfeindlicher Gesetzeslage und Ausbeutung des Mehrprodukts unterschlägt. Mendívil und Sarbo stellen dem das Verständnis der Verdinglichung entgegen, wo die Position in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zur Identität des Subjekts gemacht, ideologisch definiert und durch den gesellschaftlichen Umgang (zum Beispiel in Gesetzesform) materialisiert wird: „In Identitäten erscheint den Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft also ihre gesellschaftliche Tätigkeit als Eigenschaft“ (Mendívil und Sarbo 2022, 110). Sie streiten weder die Existenz noch die Wirkmächtigkeit von Identitäten ab, suchen aber deren Ursache in Produktion und Reproduktion und finden den Weg zur Überwindung der Unterdrückung in der der gesellschaftlichen Produktionsweise.

Unabhängig davon, wer das Buch alles als Streitschrift gegen die Identitätspolitik gelobt hat, benennen die Beiträge Kämpfe von sozial Unterdrückten aber als Klassenkämpfe. Ökonomismus oder konservativen Vorstellungen von Haupt- und Nebenwiderspruch gehen die Autor:innen aus dem Weg. „Die Diversität der Ausbeutung“ versucht, eine materialistische Analyse von Ausbeutung, Unterdrückung und Diskriminierung, unabhängig von bürgerlichen Ideologien zu entwerfen.

Gleichzeitig gelingt es nicht ganz, das Verhältnis von Unterdrückung und Ausbeutung zueinander zu klären. Von der richtigen Analyse ausgehend, dass Ausbeutung nicht dasselbe wie Klassismus ist, bleibt die Differenzierung zwischen Ausbeutung und Unterdrückung vage. Dass sich zwischen den Beiträgen verschiedener Kapitelautor:innen Widersprüche auftun, ist keine Überraschung und auch kein Vorwurf. Dadurch bleibt eine Kernfrage des Buches aber offen. „Das dieser Unterdrückung [von Frauen und Schwarzen Personen] zugrundeliegende Verhältnis von Kapital und Arbeit bleibt damit verschleiert. Die Charakterisierung von Klasse als einem Ausbeutungsverhältnis unterscheidet sich von der Unterdrückung als politischem Verhältnis – ausgedrückt in beispielsweise Geschlecht oder Rasse – und Diskriminierung als analytischer Kategorie.“ (Mendívil und Sarbo 2022, 112)

Wie die Autor:innen darstellen, sind rassistische und sexistische Arbeitsteilung, heterosexistische Familienstrukturen und auch auf Rassismus und Sexismus aufbauende Enteignung grundlegende Formen der Klassengesellschaft. Aber Ausbeutung und Unterdrückung gehen nicht nur Hand in Hand. Die Entstehung der Arbeiter:innenklasse kommt aus der gleichzeitigen Trennung von Produzent:in und Produkt, der Trennung von produktiver und reproduktiver Arbeit, und der Trennung von rassistisch überausgebeuteten Produzent:innen von der Verfügung über ihre Arbeitskraft.

Die Entstehung der Arbeiter:innenklasse bedeutet nicht nur das Werden von Menschen, die arbeiten müssen, um essen zu können (was Søren Mau in seinem ebenfalls kürzlich bei Dietz erschienenen „Stummer Zwang“ als ebenso zwingend wie staatliche Gewalt und ideologische Rechtfertigung analysiert). Sie zwingt Menschen auch zur geschlechtlichen Arbeitsteilung, um sich reproduzieren zu können, in rassistische Segmentierung, um der kolonialen und postkolonialen Gewalt zu entgehen, und in heterosexistische Kleinfamilienstrukturen, in denen die Reproduktion am günstigsten zu haben ist. In „Diversität der Ausbeutung“ werden diese Mechanismen beschrieben und mit der Verdinglichung auch die Verbindung zu Ideologie und Identität gelegt. Die analytische Trennung von ökonomischer Ausbeutung und politischer Unterdrückung bleibt aber dahinter zurück.

Kernpunkte

Das Buch ist nicht in Teile oder Abschnitte aufgeteilt, verfolgt aber zwei Projekte, die sich auch nach Seitenzahlen grob abgrenzen lassen. In den ersten drei Kapiteln legen Mendívil und Sarbo, dann Sarbo alleine, und dann Mendívil und Hannah Vögele ihr grundlegendes Verständnis von Marxismus, Rassismus und sozialer Reproduktion dar. Zu diesem ersten Teil gehört auch das Vorwort von Christian Frings, der die Individualisierung von linker Kritik als Folge der gesellschaftlichen Neoliberalisierung (Thatchers „There is no such thing as society“, „So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht“) genauso benennt wie die zentrale Rolle der segmentierten Arbeiter:innenklasse für ihre Ausbeutbarkeit im ersten Band von Marx‘ „Kapital“. Er positioniert das neoliberale „Diversitätsmanagement“ als Reaktion auf die explosiven sozialen Kämpfe der 1960er und 1970er Jahre, macht aber auch klar, dass diese nicht den Klassenkampf geschwächt hätten, sondern im Gegenteil für die rassistische und sexistische Friedenspolitik zum Problem wurden.

Im ersten Kapitel, „Warum Marxismus“, skizzieren die Herausgeberinnen ihre Kritik an der diversitätsorientierten Linken. Dass an die Stelle der Genoss:innenschaft, also des gemeinsamen Klassenkampfes, die Allyship (das Bündniswesen) getreten ist, wird als liberale Praxis mit radikaler Rhetorik benannt. Die materialistische Analyse, die Mendívil und Sarbo mit Marxismus meinen, leitet Rassismus und Sexismus aus der kapitalistischen Produktionsweise ab. Die Überwindung des Kapitalismus entzieht auch der sozialen Unterdrückung die Wurzeln (das schafft diese Unterdrückung aber nicht automatisch oder unmittelbar ab). Eine Kritik, die auf die korrekte Repräsentation von Migrant:innen, People of Color und sexistisch Unterdrückten abzielt, stabilisiert die Produktionsweise und damit den Ursprung von immer neu erfundenen sozialen Spaltungs- und Unterdrückungsmechanismen.

Im zweiten Kapitel, „Rassismus und gesellschaftliche Produktionsverhältnisse“, erklärt Bafta Sarbo, wie ungleiche Ausbeutung von schwarzen und indigenen Menschen zu einer rassistischen Ideologie und diese wiederum dazu führt, dass sie an den Rand gedrängt und überausgebeutet werden. Sie unterscheidet den Kolonialrassismus von kolonialer Landnahme und Überausbeutung von Sklav:innen auf der einen Seite und die Überausbeutung in einem formellen Lohnarbeitsverhältnis von Arbeitsmigrant:innen auf der anderen. Der Kolonialrassismus nimmt eine zentrale Rolle in Marx‘ Analyse von der ursprünglichen Akkumulation ein, also dem Anhäufen des notwendigen Kapitals, um dessen Dynamik zur weltweit dominanten Wirtschaftsweise zu machen durch Landnahme, Handelsrouten und brutale Enteignung von Rohstoffen. Wiederholte Dynamiken der ursprünglichen Akkumulation, des „Profits durch Entfremdung“ (Anwar Shaikh macht auf dessen zentrale, aber unterbewertete Rolle in der marxistischen Ökonomie aufmerksam) sehen wir aber bis heute, beispielsweise in der Landnahme für industrielle Produktion oder Agrarindustrie. Bis heute wird diese rassistisch legitimiert und zwingt neue Gruppen in die Arbeitsmigration und damit in die rassistische Schlechterbehandlung.

Rassismus bleibt aber über diese historische Pfadabhängigkeit hinweg wirksam und wirkmächtig. Die rassistische Ideologie ist in den imperialistischen Ländern zentral und durch die weltweite Hegemonie des Imperialismus auch global wirksam. „Der Kapitalismus ist nicht farbenblind, denn er ist auf die Überausbeutung eines Teils der Arbeiterklasse und die ideologische Legitimation dafür angewiesen. Bei rassistischer Gewalt handelt es sich für das Kapital allerdings um eine Zerstörung von Arbeitskraft und damit der wichtigsten Grundlage der Kapitalakkumulation. Deshalb müssen sich im Kapitalismus Differenz und Gleichheit stets die Waage halten.“ (Mendívil und Sarbo 2020, 60)

Daraus ergibt sich auch eine klare Handlungsanweisung: die Veränderung der materiellen Verhältnisse statt einer Beschränkung auf rassistisches oder antirassistisches Bewusstsein. Sarbo bezieht sich hier auf die Sätze vor Marx‘ berühmtem „Es kommt darauf an, sie zu verändern“, nämlich: „Diese Forderung, das Bewusstsein zu verändern, läuft auf die Forderung hinaus, das Bestehende anders zu interpretieren, das heißt, es vermittelst einer andren Interpretation anzuerkennen.“ (Marx 1845, 20)

So wie Kolonialrassismus und Rassismus gegen Arbeitsmigrant:innen nicht nur wichtig, sondern eine Ursache für die Entstehung der Arbeiter:innenklasse sind, analysieren Mendívil und Vögele im dritten Kapitel den Sexismus als Ausdruck der geschlechtlichen Arbeitsteilung. „Diese Auseinandersetzungen ermöglichen es erst zu verstehen, wie die Trennung in eine Sphäre der Produktion und die der Reproduktion, in private und öffentliche Bereiche und in nicht-entlohnte und entlohnte Arbeit mit den jeweils zugeschriebenen Körpern eine spezifisch rassifizierte und binäre Geschlechterordnung festschreibt.“

Dass die Reproduktionsarbeit privatisiert ist, macht ihre Funktion nicht weniger gesellschaftlich. Die Ergebnisse der unbezahlten Hausarbeit, von Erziehung über Nahrung bis zur Unterkunft, sind kein privates Luxusvergnügen, sondern Voraussetzung für die tägliche Ausbeutung.

Die Soziale Reproduktionstheorie, auf die sich Mendívil und Vögele berufen, erklärt die geschlechtliche Arbeitsteilung aus dem gesellschaftlichen Bedarf an Reproduktion. An Teilen dieser Theorie gibt es aber auch eine harsche marxistische Kritik, die zum Beispiel Aventina Holzer im Revolutionären Marxismus, Band 53, darlegt. Eine Gleichsetzung von produktiver und reproduktiver Arbeit, weil beide für die Kapitalakkumulation unverzichtbar sind, ignoriert den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Ausbeutung und Akkumulation. In Lise Vogels zentralem „Marxismus und Frauenunterdrückung“ wird die Trennung von politischer und ökonomischer Frauenunterdrückung auch zum Argument, warum die Frauenbewegung eine teils klassenübergreifende, teils klassenkämpferische Form braucht. Diese Schlussfolgerungen finden sich in „Diversität der Ausbeutung“ nicht, es bleibt aber auch unklar, was Mendívil und Vögeles „reproduktionstheoretische“ Herangehensweise von anderen Teilen der Literatur analytisch trennt.

Rassistischer Kapitalismus

Im zweiten Teil des Buchs nehmen sich Fabian Georgi die zentrale Rolle von Grenz- und Migrationsregimen, Mendívil und Sarbo die Intersektionalität, Lea Pilone den strukturellen Rassismus der deutschen Polizei, Celia Bouali den integrierten EU-Arbeitsmarkt und Sebastian Friedrich den Erfolg der AfD im zunehmend krisenhaften Kapitalismus vor.

In diesen konkreten Auseinandersetzungen, und vor allem in der Kritik der akademischen Analyse von Unterdrückung, entstehen zentrale Punkte des Buches. Georgi beleuchtet die Rolle des Rassismus für einen Ausschluss vom gesellschaftlichen Mehrprodukt, das in imperialistischen Ländern auch zur Ruhigstellung der am besten gestellten Arbeiter:innen aufgebraucht wird und zur sozialen Kontrolle in den Arbeiter:innenvierteln.  Wo Lea Pilone die Entstehung der US-Polizei aus Sklav:innenjäger:innen als Instrument zur Erzwingung für koloniale Lohnarbeit nachzeichnet, zeigt Celia Bouali, wie das EU-Grenzregime gleichartig gewaltsam Menschen in die Überausbeutung zwingt.

Mendívil und Sarbo beziehen sich auf Barbara Foley, um die Intersektionalitätstheorie als Analyse und „Brille“ zu verwerfen. In dieser Theorie werden (systematische) Besser- und Schlechterbehandlung in Differenzlinien gegenübergestellt. Wo sich diese Linien, beispielsweise zwischen Staatsbürger:in und geflüchteter Person oder zwischen Adeligem und Arbeiter:innenkind überschneiden, verortet man die Mehrfachunterdrückung. Es ist zweifellos richtig, dass die Überschneidung von Unterdrückungsverhältnissen sich nicht nur aufaddiert, sondern dialektisch neue Identitäten und Schlechterstellungen hervorbringt: „Intersektionalität taucht also in einer Zeit auf, in der viele der Alltagsprobleme um reale Gewaltverhältnisse nicht ausreichend von Sozialist:innen aufgegriffen oder unzureichend erklärt wurden.“ Die zweidimensionale Darstellung unterschlägt aber das jeweils Eigentümliche an Sexismus, Klassengesellschaft oder Behindertenfeindlichkeit.

Auf dieser Kritik aufbauend verwerfen die Autor:innen die Intersektionalität als analytisch ungeeignet und erklären ihr Verständnis von Identität in der Produktionsweise anhand der Kategorie von Verdinglichung. Das stellt auch der individuellen Betrachtungsweise des Poststrukturalismus einen kollektiven Analyserahmen (und damit eine kollektive Handlungsperspektive) entgegen: „Der Marxismus, von dem sich die Postmoderne abgrenzt, vertritt einen universellen sozialistischen Standpunkt.“ (Mendívil und Sarbo 2022, 116)

Das führt aber auch zu einer künstlichen Trennung zwischen ökonomischen und politischen Verhältnissen, zwischen fundamentaler Ausbeutung und phänomenhafter Unterdrückung. Auch wenn Letztere für Mendívil und Sarbo untrennbar zur Ausbeutung gehört, bleibt der ökonomische Charakter von sexistischer und rassistischer Arbeitsteilung aus den ersten Kapiteln etwas außen vor. „Eine marxistische Analyse fasst die Ausbeutung der Arbeiter:innenklasse als zentrales Moment kapitalistischer Produktion und kann von da ausgehend die Spezifik von unterschiedlichen Teilen der Klasse beschreiben, ohne dabei das Allgemeine zu verwerfen. Die Frage der Ausbeutung in den Vordergrund zu stellen, bedeutet nicht, dass Unterdrückungsverhältnisse nicht auch relevant für die Analyse des Kapitalismus wären.“

Die mehrfach gespaltene Klasse

In „Diversität der Ausbeutung“ werden Rassismus und Sexismus nicht bloß aus den Klassenverhältnissen hergeleitet. Stattdessen wird die zentrale und unverzichtbare Rolle von Kolonialismus und ins Private abgeschobener Reproduktionsarbeit für die kapitalistische Produktionsweise dargestellt. Durch die marxistische Kategorie der Verdinglichung wird erklärt, wie aus der Rolle im Produktionsprozess Identitäten entstehen, die über die Rechtfertigungsrolle der bürgerlichen Ideologie hinaus wirken. Tatsächlich schafft der Kapitalismus Schicksalsgemeinschaften von rassistisch und sexistisch unterdrückten Arbeiter:innen über ihre gemeinsame und besondere Stellung in der Produktionsweise.

Das dialektische Verhältnis von Allgemeinem und Besonderen, das im Kapitel zur Intersektionalität ausgebreitet wird, erklärt die dialektischen Wechselwirkungen zwischen Klassengesellschaft und sozialer Reproduktion. Auch das beschränkt sich nicht auf eine Rückwirkung der Unterdrückung auf die Ausbeutung, sondern ernennt die Unterdrückung zur notwendigen Voraussetzung für die fortgesetzte Mehrwertproduktion. Diese Einsicht findet sich, wie von Frings im Vorwort zitiert, bereits bei Marx als Notwendigkeit der eigentümlichen Zusammensetzung des Proletariats.

Eine marxistische Analyse der geschlechtlich, rassistisch und heteronormativ geformten Arbeiter:innenklasse kann aber noch einen Schritt weiter gehen. Kolonialrassismus und Sexismus sind nicht nur Vorbedingungen für die Entstehung der Arbeiter:innenklasse, sie sind ein untrennbarer Teil der Klassenwerdung.

Markus Lehner zeigt in seinem Artikel „Arbeiterklasse und Revolution – Thesen zum Marxistischen Klassenbegriff“ (Revolutionärer Marxismus, Band 28) das Totalitäre am marxistischen Begriff der Arbeiter:innenklasse. Es gibt den/die gesellschaftliche Gesamtarbeiter:in nur als Gegenstück im dialektischen Verhältnis Lohnarbeit-Kapital, die Arbeiter:innenklasse ist also negativ definiert. Nicht die Ausbeutbarkeit der Arbeiter:innen schafft die Kapitalakkumulation, sondern es wird eine ausbeutbare Arbeiter:innenklasse geschaffen, die den Bedürfnissen des Industriekapitals nach Mehrwertproduktion entspricht.

Den historischen Vorgang legt Marx im achten Teil des ersten Bands des „Kapital“ dar. Durch Profite aus Handel und kolonialem Raub konnte sich in Europa produktives Kapital etablieren, das freie Arbeiter:innen für ihre Arbeitskraft entlohnt, aber einen Mehrwert über die Produktionskosten hinaus erzielt. Um den „Profit aus Produktion“ zu vermehren und zur gesellschaftlich bestimmenden Wirtschaftsweise zu machen, wurden aus Subsistenzbauern und -bäuerinnen in Europa und den Kolonien enteignete Arbeiter:innen gemacht. Dieses Machen war ein gezielter politischer Prozess, keine „natürliche“ Entwicklung von irgendwelchen wirtschaftlichen Bewegungsgesetzen.

Hierbei kommt es zu einer mehrfachen Spaltung (wir haben uns hier einen genauso doppeldeutigen Witz erlaubt wie Mendívil und Sarbo mit der Diversität der Ausbeutung). Es werden die Produzent:innen von ihren Produktionsmitteln gespalten, wird also den Bäuerinnen und -bauern ihr Landnutzungsrecht entzogen („Einhegung“). Diese jetzt mittellosen Familien haben keine andere Wahl, als ihre Arbeitskraft an Kapitalist:innen zu verkaufen. Die Kapitalist:innen behalten aber das Produkt der Arbeit ein, die Trennung der/des Produzent:in vom Produktionsmittel wird dadurch zur Trennung von Produzent:in und Produkt.

Gleichzeitig wird die Produktion von der Reproduktion getrennt. In der feudalen Zeit wird für den eigenen Bedarf produziert und für den Feudalherren, der sich den Überschuss aneignet. Das Produkt zum eigenen Verbrauch, wie Essen oder Kleidung, wird auf demselben Feld oder im selben Haushalt hergestellt. In den Arbeiter:innenvierteln ist das nicht mehr so. Die Tätigkeiten für die Reproduktion finden zuhause statt, die Produktion für den Verkauf am Arbeitsplatz. Diese Trennung wird geschlechtlich vorgenommen, und diese geschlechtliche, frauenunterdrückende Spaltung wird auch zur notwendigen Voraussetzung, dass Arbeiter:innen am nächsten Tag wieder zur Arbeit erscheinen können. So ist diese sexistische Spaltung zeitlich und analytisch Teil der Entstehung der Arbeiter:innenklasse, die Arbeiter:innen sind von Beginn an sexistisch definiert und in sich sexistisch gespalten.

Die Mehrwertproduktion wird in Firmen organisiert, die Reproduktion in Kleinfamilien. Die geschlechtliche Arbeitsteilung in der Kleinfamilie ist binär und heteronormativ organisiert. Sich außerhalb von Kleinfamilien zu reproduzieren, ist nachteilhaft, was Søren Mau als stummen Zwang des Kapitals beschreibt, entsprechende sexuelle Identitäten existieren außerhalb der Reproduktionsnormalität. Die Arbeiter:innenklasse ist damit von Beginn an heteronormativ definiert, und nicht zufällig geht die Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise mit einer Fortschreibung und gleichzeitigen Umformung der Frauenunterdrückung aus vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen einher.

Dasselbe gilt für den Kolonialrassismus und die Arbeitsmigration. Die Enteignung von indigenen (kolonialisierten) Produzent:innen geht über die Trennung von ihren Produktionsmitteln und ihrem Produkt hinaus. Die Produzent:innen verlieren als Sklav:innen (verschleppt) oder Zwangsarbeiter:innen (lokal) die Verfügung über ihre Arbeitskraft. Gleichzeitig wird die Arbeiter:innenklasse in einen „doppelt freien“ und einen unfreien Teil aufgespalten. Bis heute gehört Zwangsarbeit unter Androhung von Abschiebung oder in rassistischen Gefängnissystemen zur kapitalistischen Normalität.

Die vielfältige Formung der Arbeiter:innenklasse führt auch zu einer Diversifizierung. Eine strukturelle Arbeitsteilung innerhalb der Klasse spaltet sie auch in sich, es existieren tatsächliche Besser- und Schlechterstellungen innerhalb des Proletariats. Oft erfolgt auch die Durchsetzung dieser Strukturen innerhalb der Klasse, nicht bloß wegen der Wirkmächtigkeit der bürgerlichen Ideologie, sondern wegen der Materialität der Verdinglichung.

Aber im Gegensatz zur herrschenden Klasse haben die Arbeiter:innen ein Interesse an der Aufhebung der Klassengesellschaft. Diese Aufhebung beginnt nicht erst mit dem bewussten Kampf für Revolution und Sozialismus, sondern mit der Rebellion gegen die kapitalistischen Verhältnisse. In solchen Kämpfen formen sich die Keimformen proletarischen Bewusstseins, das in Richtung der Grenzen des Kapitalismus geht. In revolutionärer Organisierung des fortgeschrittensten Teils der Klasse und dessen Entwicklung einer revolutionären Theorie und Praxis (in Wechselbeziehung zu den spontanen Kämpfen) kann die ganze Klasse für ein revolutionär-proletarisches Bewusstsein gewonnen werden.

Daraus ergibt sich die Möglichkeit von tatsächlichen Kämpfen der „privilegierten“ Arbeiter:innen gegen die Spaltung ihrer eigenen Klasse aus Eigeninteresse. Hier geht auch eine Analyse der Einheit von Ausbeutung, geschlechtlicher und rassistischer Arbeitsteilung in eine Einheit von Kämpfen gegen Ausbeutung und Unterdrückung über.

Fazit: Ein marxistisches Verständnis von Rassismus und Unterdrückung

Mendívil und Sarbo haben mit ihrem Buch einige wichtige Schritte gemacht, für die die Linke sich bedanken kann. Erstens haben sie dem Import der akademischen Identitätspolitik aus den USA einen umfassenden ihrer Kritiken folgen lassen. An die Stelle einer einseitigen Bewegungsrichtung antirassistischer, antisexistischer und queerer Kritik ist eine Darstellung der Gesamtdebatte getreten.

Sie arbeiten außerdem die zentralen Bruchpunkte zwischen Marxismus und Identitätspolitik heraus. Diese finden sich nicht in der Existenz von Identitäten (die die Autorinnen aus Arbeitsteilung und Verdinglichung herleiten), sondern bei der Individualisierung und Gleichsetzung von Unterdrückungsformen. Außerdem zeigen sie die Wurzeln von Rassismus und Sexismus in der kapitalistischen Produktionsweise auf genauso wie die Parallelen zur „Kritik des rassistischen Bewusstseins“ im philosophischen Idealismus, den Marx in der „Deutschen Ideologie“ aufs Korn nimmt.

Die Beiträge im zweiten Teil des Buches demonstrieren nicht nur die Anwendbarkeit der materialistischen Analyse, sondern tragen aus den speziellen Analysen wieder grundsätzliche Einsichten ein. Die Rolle von Grenzregime, Polizeiapparat und EU-internem Arbeitsmarkt für den Rassismus des 21. Jahrhunderts ist klar und eindeutig. Auch hier entspricht das Verhältnis von Allgemeinem wie Besonderen der marxistischen Methode.

Was offen bleibt, ist das Verhältnis von Ausbeutung und Unterdrückung, und damit eine eigenständige Kritik an Haupt-Nebenwiderspruchstheorien über den (zweifellos vorhandenen) Konservativismus ihrer Vertreter:innen hinaus. Entsprechend bleibt auch die Positionierung innerhalb der Sozialen Reproduktionstheorie vage, weil die Differenzierung zwischen Ausbeutung und Unterdrückung nicht glasklar dargestellt wird.




Antisemitismus und Antizionismus

Teil 3 des Podcasts zum Thema Antisemitismus und wie er bekämpft werden kann

Lage der Klasse, Folge 6, Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1231

Herzlich willkommen zur Lage der Klasse, dem Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht zu marxistischer Theorie und revolutionärer Praxis. Heute mit Lina und Katjuscha und der Frage: Wie zeigt sich Antisemitismus heute und wie können wir ihn erfolgreich bekämpfen?

Die Zuspitzung der Kämpfe in Palästina seit der Aufnahme unserer letzten Folge zeigen, wie brandaktuell diese Fragen sind. Im Zuge der Bombenangriffe und der drohenden Bodenoffensive der israelischen Armee in Gaza nach den Angriffen der Hamas am 07. Oktober wird der vorgebliche Kampf gegen Antisemitismus immer wieder als Rechtfertigung für das Vorgehen gegen den palästinensischen Widerstand genutzt und dient als Legitimierung der Unterdrückung und Ermordung von Palästinenser:innen. Eine genauere Einschätzung der aktuellen Lage wollen wir in unserer kommenden Folge vornehmen, in der es um ein Aktionsprogramm zu Palästina gehen soll. Heute wollen wir zeigen, welche Gefahr eine solche Verwischung des Antisemitismusbegriffs darstellt, nicht nur für den berechtigten Befreiungskampf der Palästinenser:innen, sondern vor allem auch für den Kampf gegen Antisemitismus. Denn wie wollen wir gegen Antisemitismus vorgehen, wenn wir kein präzises Verständnis davon haben?

Antisemitismus heute

Wir sprechen heute darüber, in welchen Formen Hass gegenüber Juden/Jüdinnen derzeit in verschiedenen Teilen der Gesellschaft zum Ausdruck kommt, und wollen beleuchten, welche Ansätze gegen Antisemitismus historisch bereits vertreten worden sind, um euch anschließend unsere eigene Position – also die Forderungen der Gruppe Arbeiter:innenmacht – näherzubringen.

Viele Rechtspopulist:innen aus AfD und ähnlichen Kreisen behaupten, dass Antisemitismus aktuell in Deutschland kaum noch eine Rolle spielt. Das einzige Problem seien die vielen Geflüchteten, die einen neuen Antisemitismus mit ins Land brächten. Es wird hier vom Antisemitismus als importiertes Problem unzivilisierter Völker schwadroniert. Tatsächlich zeigen Studien, dass es in den vergangenen Jahren einen Anstieg antisemitischer Straftaten gab, die aber vorwiegend von deutschen Rechten und eben nicht von Migrant:innen verübt wurden. Andererseits ist das eine gefährliche Gleichsetzung von Widerstand gegen nationale Unterdrückung, wesentliche Quelle der Ablehnung Israels im Nahen Osten, mit dem eliminatorischen Antisemitismus. Der schreckliche Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019 und die Angriffe auf ein jüdisches Restaurant in Chemnitz 2018 zeugen davon. Für die AfD und dessen Gründungsmitglied Alexander Gauland sind Hitler und die Nazis ein „Vogelschiss“ in der sonst so „erfolgreichen deutschen tausendjährigen Geschichte“, wie er diese verharmloste. Hier ist der angebliche Kampf gegen Antisemitismus ein willkommenes Mittel, ihren antimuslimischen Rassismus salonfähig zu machen und Repressionen und Abschiebungen von Geflüchteten zu legitimieren.

Wir befinden uns in einer Zeit, in der nicht nur explizit rechte Kräfte gegen Migrant:innen wettern, sondern auch alle anderen bürgerlichen einen zunehmenden Abschreckungs- und Abschottungskurs gegenüber Geflüchteten fahren. Die Kündigung von Landesaufnahmeprogrammen von Geflüchteten, die Ausweitung der sogenannten „sicheren Herkunftsländer und -regionen“, schnellere Abschiebungen, verstärkter Grenzschutz und Migrationsabkommen – unter anderem mit Tunesien –, welche Flüchtende schon vor der europäischen Grenze stoppen sollen, sorgen medial kaum für Aufschrei und werden von allen bürgerlichen Parteien mitgetragen. Aktuell zeigt die EU Asylrechtsreform, welche die Abschaffung des geltenden Asylrechts und die Nutzung von Asylzentren bzw. eher Gefängnissen an den EU Außengrenzen vorsieht, dass es eine breite Unterstützung dieser rassistischen Abschottung gibt. Im Bundestag lehnte nur die Linkspartei die Reform ab, während SPD, FDP und Grüne diese mittrugen und CDU/CSU sogar noch weitere Schritte forderten. Der Wall um die Festung Europa soll ausgebaut werden – darin sind sich die meisten einig. Olaf Scholz erklärte gegenüber dem Spiegel: „Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben.“ Der Rassismus gegenüber Migrant:innen dient dazu, unsere Klasse zu spalten und die Auswirkungen der kapitalistischen Krisen – wie finanzielle Not, Unsicherheit und Abstiegsangst – den Migrant:innen in die Schuhe zu schieben. Das zeigt sich, wenn Geflüchteten unterstellt wird, dass sie angeblich nur wegen der Sozialleistungen nach Deutschland kämen und damit den Deutschen alles wegnähmen. Auf die Spitze getrieben hat dies CDU-Chef Friedrich Merz, der die absurde Unterstellung äußerte, dass Migrant:innen beim Arzt säßen, um sich die Zähne neu machen zu lassen, während die deutschen Bürger:innen nebenan keine Termine bekämen.

Das Bild der „bösen Migrant:innen“ wird aktuell auch im Zuge der Solidaritätsproteste mit Palästina verbreitet. Es wird dabei das Bild der in Anführungszeichen „terroristischen Migrant:innen“ gezeichnet und eine angebliche Bedrohung durch die Solidaritätsbekundungen mit den Palästinenser:innen konstruiert, die gerne auch mal auf alle Migrant:innen ausgeweitet wird. Demonstrationen werden verboten und massive Repressionen ausgeübt. Es wurde sogar über die Abschiebung von sogenannten „Straftäter:innen“ gesprochen, was von der Bundesinnenministerin Nancy Faeser befürwortet wurde. Dies alles findet unter dem Deckmantel des angeblichen Kampfes gegen Antisemitismus statt.

Hierbei ist zu sagen, dass es sich nicht wirklich um einen Kampf gegen Antisemitismus handelt, sondern vielmehr die imperialistischen Interessen im Nahen Osten und die damit einhergehende Unterstützung von Israel ideologisch gerechtfertigt werden sollen. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Kampf gegen Antisemitismus dafür instrumentalisiert wird, eine zunehmend rassistische Front gegenüber Migrant:innen zu verfestigen. Wir müssen hier klar sagen, dass dieser Scheinkampf einem wirklichen Kampf gegen Antisemitismus niemals gerecht wird – und, so behaupten wir, dem auch nicht gerecht werden kann.

In den vergangenen Folgen haben wir unser Verständnis von Antisemitismus dargelegt und verschiedene Formen des Hasses gegenüber Juden und Jüdinnen genauer beleuchtet. Im Kampf gegen Antisemitismus ist es zwingend notwendig, ein präzises Verständnis seiner Entstehung zu entwickeln, um Fehleinschätzungen zu vermeiden. Denn nur so kann verhindert werden, dass die AfD als „Volkspartei des gesunden Menschenverstandes“ erscheint – wie es die antideutsche Zeitschrift Bahamas schreibt – und die Proteste der antirassistischen Linken gegen sie als Verharmlosung des Holocausts dargestellt werden.

Definitionen und Kritik

In der öffentlichen Debatte ist aktuell eine Vielzahl diverser Definitionen von Antisemitismus im Umlauf. Auch gibt es zahlreiche Studien zu diesem Thema, die auf unterschiedlichen Verständnissen von Antisemitismus aufbauen und damit nur schwer vergleichbare Ergebnisse hervorbringen. David Ranan, der am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin arbeitet, hat diese Problematik genauer beleuchtet und einige übliche Antisemitismusdefinitionen und Untersuchungsmethoden vorgestellt. Er problematisiert, dass er häufig mit Israelkritik gleichgesetzt wird, statt seine verschiedenen Formen differenziert zu erfassen. Eben jene Gleichsetzung verurteilt auch Moshe Zuckermann, ein israelisch-deutscher Soziologe und Professor an der Universität Tel Aviv. Er kritisiert, dass es in Deutschland inzwischen die Norm sei, „Israel“ und „Zionismus“ mit „den Juden/Jüdinnen“ gleichzusetzen. Er verweist darauf, dass der Staat Israel und seine Verteidiger:innen auf diese Gleichsetzung angewiesen sind. Er setzt sich für eine klare Trennung der Phänomene ein, ebenso wie für die Trennung von „Israelkritik“, „Antizionismus“ und „Antisemitismus“.

Ranan zeigt in seinen Publikationen auf, dass in der Antisemitismusforschung in Deutschland eine solche Trennung nicht stattfindet und undifferenzierte Erhebungsinstrumente zur Erfassung von Antisemitismus verwendet werden. Beispielsweise verwende die Antidiffamierungsliga seit 1913 zur Erfassung von Antisemitismus ein Instrument, das durch 11 Stichpunkte typische antijüdische Stereotype erfragt. Ein beispielhafter ist: „Juden haben zu viel Kontrolle über die US-Regierung“. Wer mehr als 6 von diesen Fragen gemäß Stereotyp beantwortet, gilt als antisemitisch. Sicherlich ist der Fragebogen hilfreich, um Vorurteile und Verschwörungstheorien zu erfassen, allerdings wird nicht notwendigerweise festgestellt, ob dahinter auch mit Aggression aufgeladener Hass gegenüber Juden und Jüdinnen lauert, welcher nochmal eine andere Qualität hat und die potenziell viel größere Gefahr darstellt.

Als weiteres Beispiel führt Ranan die „Mitte“-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung gemeinsam mit der Universität Bielefeld von 2016 an. Diese unterscheidet zwischen „klassischem“, „sekundärem“ und „israelbezogenem“ Antisemitismus. Hier wird also zwischen dem offenen Hass gegenüber Juden und Jüdinnen, einem unterschwelligen und verkleideten Antisemitismus, der sich beispielsweise in der Verharmlosung der Schoa äußert, und einem mit der Kritik an Israel verknüpftemn Antisemitismus unterschieden. Ranan kritisiert, dass die Studie den Eindruck erweckt, dass der israelbezogene im Vergleich zum sekundären Antisemitismus das größere Problem darstellt. Die Autor:innen der Studie gehen davon aus, dass zwar prinzipiell eine „neutrale Kritik“ an Israel möglich ist, diese aber äußerst selten vorkomme und in der Regel antisemitisch unterfüttert sei. Eine solche Verwischung der Unterschiede zwischen Israelkritik und latentem Antisemitismus ist vehement abzulehnen, denn sie verkennt, dass Letzterer mit aggressivem Verdrängungspotenzial belastet ist und langfristig die weitaus größere Gefahr darstellt.

Beide Beispiele zeigen, dass eine undifferenzierte Analyse und besonders die Gleichsetzung von Israelkritik mit Antisemitismus mögliche reaktionäre Einstellungen hinter den Stereotypen  über Juden und Jüdinnen aus dem Fokus lässt und zu einem verzerrten Bild der Verteilung von Antisemitismus in unserer Gesellschaft führt. Es kann schnell der Fehlschluss gezogen werden, dass Antisemitismus unter Menschen mit arabischem Migrationshintergrund sehr viel stärker verbreitet ist, da diese durch persönliche oder familiäre Erfahrungen natürlich tendenziell häufiger die Politik des Staates Israel kritisieren. Zugleich wird unter Deutschen die klassische Sündenbockaggression gegenüber Juden/Jüdinnen unterschätzt, denn viele Deutsche haben in ihrer Schulzeit gelernt, ihren antijüdischen Hass zu verschleiern und vermeintlich „korrekt“ auf Fragen, wie sie zu statistischen Zwecken gestellt werden, zu antworten. Es wird also suggeriert, dass Muslim:innen die größere Gefahr darstellen, während die Gefahr deutscher Rechter unterschätzt wird. Hierin ist ein gefährlicher Trugschluss begründet.

Die zentrale These Ranans lautet, dass es in Deutschland unter Menschen mit muslimischem Migrationshintergrund eine verstärkte Bereitschaft gibt, aberwitzige Stereotype über Juden und Jüdinnen zu teilen. Diese resultiere aus der Empörung über die Politik Israels gegenüber den Palästinenser:innen und dem Kurzschluss, diese auf Juden und Jüdinnen im Allgemeinen zu beziehen. Das Primäre sei also die Kritik an Israel, hinter der sich in den meisten Fällen keine antijüdische Haltung verberge. Im Vergleich dazu seien bei einigen Deutschen die antisemitischen Einstellungen das Primäre, die hinter einer Kritik am Staat Israel verborgen werden. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen dem eliminatorischen Antisemitismus, den wir schon in unseren letzten Folgen genauer beleuchtet haben und einer antijüdischen Haltung der Unterdrückten, die sie von ihren Unterdrücker:innen auf alle Juden/Jüdinnen verallgemeinern.

Wir wollen in keiner Weise antijüdische Stereotype verharmlosen. Als Revolutionär:innen müssen wir uns aktiv gegen diese stellen und ankämpfen. Antisemitismus und antislawischer sind in Deutschland die beiden zentralen geschichtlichen Erscheinungsformen von Rassismus, so muss der Kampf dagegen sich auch fokussieren. In den letzten Jahren hat der antimuslimische Rassismus in Deutschland eine immer größere Bedeutung eingenommen. Gleichzeitig dürfen wir nicht leugnen, dass die größte Gefahr für Juden und Jüdinnen in Deutschland noch immer von Rechten ausgeht, deren Antisemitismus nach wie vor tief sitzt und im Kern einen vernichtenden Charakter aufweist. Diese Art des Antisemitismus steht in Tradition der deutschen Faschist:innen, für deren Ideologie er von Beginn an ein Wesensmerkmal darstellte. Wie wir in den vergangenen Folgen schon gehört haben, fungierten Juden und Jüdinnen dabei als Sündenböcke für die hässlichsten Auswirkungen des Kapitalismus, was zu einem schrecklichen historisch singulären Vernichtungsprozess führte. Nazis präsentierten sich als Verteidiger:innen der angeblich „überlegenen europäischen Zivilisation“ und konstruierten in Jüdinnen und Juden eine Bedrohung für die vermeintlich „überlegene deutsch-arische Rasse“. Dies diente unter anderem zur Legitimation der Expansionspläne in Osteuropa. Opfer der Schoa wurden zum großen Teil verarmte Juden/Jüdinnen aus Osteuropa, die der Erweiterung des sogenannten „Lebensraumes im Osten“ im Wege standen. Heute kann sich diese aggressive Form des Antisemitismus nicht mehr in einer solchen Offenheit zeigen und tritt eher latent auf. Dennoch keimt sie in der Mitte der Gesellschaft und kann potenziell wieder in vernichtender Weise eskalieren. Der zunehmende Rechtsdrall, der einerseits den rassistischen Kurs gegenüber Migrant:innen ebnet, kann ebenso den Boden für die weitere Ausbreitung eines gefährlichen Antisemitismus bereiten. Man muss sich nur den Fall Hubert Aiwanger anschauen, dessen faschistisches Flugblatt als „Jugendsünde“ abgetan und dessen Antisemitismus damit normalisiert wird. Trotz dieser antisemitischen Entgleisungen – oder gerade deshalb – konnte die Freien Wähler bei den diesjährigen Landtagswahlen sogar an Stimmen gewinnen.

So wie sich Rassismus gegenüber Migrant:innen gerade flächendeckend ausbreitet, ist dies ebenso mit Antisemitismus möglich. Wir müssen Antisemitismus also dort – in der Mitte unserer Gesellschaft – an der Wurzel packen und bekämpfen und ihn als Wucherung unserer kapitalistischen Gesellschaft begreifen.

Blick in die Geschichte

Um den Kampf gegen Antisemitismus nachzuvollziehen, machen wir aus dem Jetzt einen Sprung in die Vergangenheit: Historisch war es vor allem die Arbeiter:innenbewegung, die ihn aktiv geführt hat. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts trat diese als anwachsend organisierte Kraft auf, wobei sich jüdische und nicht-jüdische Arbeiter:innen gemeinsam in Gewerkschaften und sozialistischen Parteien organisierten und gegen ihre Ausbeutungsbedingungen kämpften. Als der Marxismus zunehmend an Einfluss gewann, verbreitete sich ein tieferes Verständnis der Zusammenhänge zwischen Kapitalismus und Antisemitismus. Es wurden die Klasseninteressen des Proletariats herausgearbeitet und aufgezeigt, dass diese im klaren Gegensatz zu Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus stehen. Auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1893 betonte deren Mitbegründer August Bebel den reaktionären Charakter von Antisemitismus und machte deutlich, dass er nur im Kampf für Sozialismus endgültig besiegt werden kann. Er vertrat die Ansicht, dass Antisemitismus den Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung auf einen kleinen Teil des Kapitals – das jüdische – ablenke und somit nicht im Interesse der Arbeiter:innenklasse stehen könne. Doch auch damals zeigte die Antisemitismusanalyse der Sozialdemokratie deutliche Mängel. Dem Antisemitismus wurde eine „revolutionäre“ Seite angedichtet. Die Ansicht war verbreitet, dass v. a. das Kleinbürger:innentum, das von der Krise gebeutelt war und sich von antisemitischer Propaganda verführen ließ, früher oder später schon merken würde, dass sie die Ursachen der Krise nur unzureichend erklären kann. Mit voranschreitender Zeit würde es im Kapitalismus die wahren Gründe seiner Verelendung automatisch erkennen und zum Kampf gegen ihn antreten. Dieser Irrglaube, dass die fehlgeleiteten Massen auf lange Sicht schon die Täuschung der antisemitischen Politik durchschauen werden, führte zur verhängnisvollen Unterschätzung ihrer Gefährlichkeit.

Diese Fehleinschätzung lehnten die Bolschewiki vehement ab. Im Gegensatz zur Sozialdemokratie, die sich aus Angst, Wähler:innenstimmen zu verlieren, teils sehr zögerlich zeigte, gegen Antisemitismus Stellung zu beziehen, blieben die Bolschewiki sehr klar und prinzipienfest. Sie können historisch zu den entschiedensten Kämpfer:innen gegen Antisemitismus gezählt werden. Trotzki erkannte sehr früh die Gefahr, die von den Nazis – speziell für Juden und Jüdinnen – ausging und analysierte den Charakter des Faschismus als bisher am meisten zugespitzte Form des eliminatorischen Antisemitismus und die zentrale Rolle des Kleinbürger:innentums in der faschistischen Bewegung. Auch in ihrer praktischen Arbeit kämpften die Bolschewiki entschieden gegen die Unterdrückung von Juden/Jüdinnen. Sie traten für die Anerkennung von Minderheitenrechten ein – wie beispielsweise der Etablierung von Schulunterricht auf Jiddisch – und kämpften gegen die Abschaffung diskriminierender Gesetze. Lenin arbeitete beispielsweise 100 Gesetzesstellen heraus, die geändert werden mussten, schrieb Artikel zum Thema und forderte die Parteiorganisationen zum Sammeln von Unterstützungserklärungen auf. Wichtig anzumerken ist, dass vor allem in der jungen Sowjetunion ein aktiver Kampf gegen Antisemitismus geführt wurde. Als sich zunehmend der Stalinismus mit seiner Theorie des Sozialismus in einem Land durchsetzte und damit einhergehend Patriotismus und völkischer Populismus propagiert wurden, schwand auch das Interesse am Kampf gegen Antisemitismus. Viele der Errungenschaften wurden zurückgenommen. Er fand wieder zunehmend Verbreitung und wurde teils bewusst als Ventil für den Unmut gegenüber der Bürokratie und zum Vorgehen gegen Linksoppositionelle eingesetzt.

Historisch waren es sicherlich vor allem aber Juden und Jüdinnen selbst, die einen Ausweg aus dem Hass, der ihnen entgegenschlug, suchten. Sie kämpften in Gewerkschaften, sozialistischen oder kommunistischen Parteien, gründeten Selbstverteidigungsgruppen und wurden zu eigenständigen, selbstorganisierten Subjekten ihrer Geschichte. Ende des 18. Jahrhunderts entstand der „Allgemeine jüdische Arbeiter:innenbund“, kurz „Bund“ genannt – eine jüdische Arbeiter:innenpartei, die kurz nach ihrer Gründung mehrere zehntausende Mitglieder gewann und in verschiedenen osteuropäischen Staaten wirkte. Für die Mitglieder des „Bundes“ war die Befreiung vom Antisemitismus unmittelbar mit dem Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung verknüpft. Er richtete sich also gleichzeitig gegen Antisemitismus und das Kapital. Ziel war es, die Welt als Ganzes zu verändern und die Klassengesellschaft überall aus den Angeln zu heben. Der Kampf dafür sollte im eigenen Land beginnen. Die Ansichten des „Bundes“ standen somit im Widerspruch zur zionistischen Idee, die als Antwort auf Antisemitismus die Auswanderung nach Palästina und Schaffung eines jüdischen Staates propagierte und eine jüdische Nation konstruierte. Der „Bund“ lehnte dies strikt ab und bewertete die Auswanderung nach Palästina als Realitätsflucht in eine Scheinwirklichkeit. Heute wird der Zionismus häufig als alternativlos im Kampf gegen Antisemitismus dargestellt. Der Kampf jüdischer Arbeiter:innen aber zeigt, dass der Zionismus historisch nicht der einzige Weg war und eine sozialistische Organisierung der Massen als Alternative möglich gewesen wäre. Der Vollständigkeit halber erwähnen wir noch die einflussreiche Strömung des liberalen Juden-/Jüdinnentums, die sich für eine Assimilierungsbewegung in den jeweiligen Nationalstaaten einsetzte. Moses Mendelssohn ist ihr wohl bekanntester Vertreter.

Allerdings verschoben sich die Machtverhältnisse in Richtung zionistischer Ideen. Innerhalb der sozialistischen Bewegung entbrannten heftige Diskussionen über die Frage der „jüdischen Nation“. Zwar lehnte es ein Großteil ab, in den Juden und Jüdinnen eine eigene Nation zu sehen und befürwortete ihre möglichst schnelle Integration dort, wo sie lebten. Rosa Luxemburg war beispielsweise eine der stärksten Verfechterinnen dieser Forderung. Dabei ist zu sagen, dass unter Integration nicht die Assimilierung im Sinne einer Unterordnung unter die bestehende nationale Leitkultur gemeint ist, sondern eine gleichberechtigte Entwicklung einer gemeinsamen, internationalen Kultur, bei der die progressiven Elemente der einzelnen Kulturen verschmelzen. Doch war die nationale Frage äußerst umstritten. Der „Bund“ verfolgte das Ziel, alle jüdischen Arbeiter:innen des zaristischen Russlands in einer sozialistischen Partei zu vereinen und die gesetzliche Anerkennung der Juden/Jüdinnen in Russland als eigene Nation mit Minderheitenstatus zu erreichen. Er vertrat also die Ansicht, dass Juden und Jüdinnen eine eigene Nation darstellten und sahen daher auch die Notwendigkeit, dass sie sich in einer eigenständigen Organisation zusammenschlossen. Die Bolschewiki lehnten die Vorstellung des Bundes von getrennten Parteien, die dann in einer sozialistischen Föderation zusammenarbeiten würden, ab. Sie vertraten die Position einer einheitlichen Partei, in der es autonome Sektionen für jüdische Arbeiter:innen geben müsse, denn sie verstanden, dass nur die gemeinsame Erfahrung im Klassenkampf die Mauern sozialer Unterdrückung sprengen kann.

Schließlich kam es zur Spaltung, aus der „Bund” und „kommunistischr Bund“ hervorgingen. Auch spalteten sich einige tausend Arbeiter:innen ab, die sich der Idee des Zionismus zuwandten. Es entstand die „Jüdische Sozialdemokratische Partei – Poale Zion“ – was auf Deutsch „Arbeiter:innen Zions“ bedeutet. Damit hatte der Zionismus, der bis dahin nur in kleinbürgerlichen Zirkeln bestand, zum ersten Mal eine größere Arbeiter:innenpartei hinter sich.

Sowohl die Gründung des „Bundes“ als auch die Entstehung der zionistischen Bewegung muss als Reaktion der jüdischen Bevölkerung auf den zunehmenden Antisemitismus im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts verstanden werden. Beide sahen in der Selbstorganisation der Juden und Jüdinnen die einzige Möglichkeit, gegen selbsterfahrene Diskriminierung und Gewalt zu kämpfen. Doch je nach Klassenzugehörigkeit unterschieden sich die Antworten auf die antisemitische Bedrohungslage. So war es insbesondere das Großbürger:innentum, welches die Auswanderung armer osteuropäischer Juden und Jüdinnen nach Palästina förderte, um diese mit wenig finanziellem Aufwand loszuwerden. Die jüdische Arbeiter:innenbewegung, insbesondere in Osteuropa, hingegen, setze sich für die Befreiung von Unterdrückung und Antisemitismus durch das Erkämpfen des Sozialismus ein und positionierte sich somit entschieden emanzipatorisch und eben nicht zionistisch. Anfangs war die zionistische Idee eine kleinbürgerlich-nationalistische. So hieß es auf dem ersten Zionistischen Weltkongress 1897: „Der Zionismus erstrebt die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina für diejenigen Juden, die sich nicht anderswo assimilieren können oder wollen.“ Der geschaffene Staat Israel sollte also als Schutzraum für alle Menschen jüdischen Glaubens fungieren. Der ideologische und organisatorische Kopf der zionistischen Bewegung war Theodor Herzl, der das bekannte Werk „Der Judenstaat“ verfasst hat. Wesentliche Triebfedern der zionistischen Idee waren die Angst vor der Auflösung jüdischer Identität in der Diaspora, aber auch die Sorge, dass der Antisemitismus weiter zunehmen würde, je mehr jüdische Geflüchtete aus Osteuropa zuwanderten. Als Lösung strebte der Zionismus also einen „eigenen“ Nationalstaat an, für den jedoch die grundlegenden Voraussetzungen fehlten: Abgesehen davon, dass mit Beginn der imperialistischen Epoche der Nationalstaat nichts Fortschrittliches mehr an sich hatte, fehlte es der jüdischen Gemeinschaft an einem gemeinsamen Territorium sowie einer gemeinsamen Hochsprache. So musste die zionistische Idee automatisch von tiefen Widersprüchen durchzogen sein, von denen wir hier einige benennen möchten:

Schon der altösterreichische Sozialhistoriker und marxistische Ökonom Roman Rosdolsky weist richtigerweise darauf hin, dass der Zionismus eine Art umgekehrter Antisemitismus ist, der nicht die jüdische Solidarität, sondern das Nationalstaatsprojekt in den Vordergrund stellt und paradoxerweise den Antisemitismus unbedingt als seine Legitimation benötigt. Nur durch massiven weltweiten Antisemitismus kann der Zionismus sein Ziel erreichen, was darin besteht, dass die jüdische Diaspora beendet wird, indem die Juden/Jüdinnen dieser Welt nach Israel gehen. Läge kein Antisemitismus vor und wären Menschen jüdischen Glaubens dort, wo sie leben, vollständig assimiliert und zufrieden, gäbe es kaum Anlass für sie, nach Israel auszuwandern.

Kommen wir zum zweiten Widerspruch: Zwar beteuert der Zionismus, säkular zu sein, doch die nationalstaatliche Aufladung der Stadt Jerusalem, auf welche man sich zuvor Jahrhunderte lang rein religiös-spirituell bezogen hatte, sowie der Umstand, dass aufgrund ihrer Heterogenität den israelischen Einwanderer:innen nur die Religion als einzige Gemeinsamkeit blieb, zeigten, dass hier Nationalismus und Religion untrennbar miteinander verflochten sind.

Ein weiterer gravierender ideologischer Widerspruch des Zionismus besteht darin, dass, zumindest unter kapitalistischen Bedingungen, die angebliche Befreiung der einen, also der Juden und Jüdinnen, zugleich die Unterdrückung der anderen, also der bereits seit Jahrtausenden dort lebenden Palästinenser:innen, bedeuten muss. Hier wird also deutlich, dass Israel von Beginn an ein kolonialistisches Projekt gewesen ist und die Zionist:innen schon immer auf die Unterstützung einer oder mehrerer imperialistischer Mächte angewiesen waren, die ihnen dabei halfen und heute noch helfen, sich gegen diejenigen, die zu Recht gegen ihre Vertreibung aufbegehren, sowie gegen die umliegenden arabischen Länder militärisch und ökonomisch zur Wehr zu setzen. So waren es nach 1918 der britische und nach 1956 bis heute der US-amerikanische Imperialismus, dem sich die Zionist:innen und der Staat Israel anbiedern mussten und die als Schutzmacht Israels dienten. Diese Großmächte unterstützten die Idee jüdischer Selbstbestimmung selbstverständlich nicht aus Nächstenliebe, schließlich gewährten sie die von den Nazis verfolgten Juden und Jüdinnen in ihren eigenen Ländern keine Zuflucht. Vielmehr war ihr Handeln geleitet durch ein geostrategisches Interesse, was ihnen eine Vormachtstellung im Nahen Osten und Zugriff auf große Erdölvorkommen bot. Neben diesem Kalkül hat jedoch der vermeintliche Kampf gegen Antisemitismus auch eine ideologisch tragende Rolle eingenommen: Die Unterstützung Israels seitens der imperialistischen Mächte, hier vor allem Deutschlands, soll als Kampf gegen Antisemitismus schlechthin dienen. Dies wird auch deutlich, wenn wir uns die Aussagen führender Politiker:innen seit dem 7. Oktober 2023 anhören, die von der Sicherheit Israels „als deutsche Staatsräson“ sprechen, während antisemitische Flugblätter aus der Vergangenheit billigend in Kauf genommen werden. In den vergangenen Jahrzehnten gelang es weiten Teilen der bürgerlichen Politik, die Überzeugung, die bloße Unterstützung Israels als den einzigen Kampf gegen Antisemitismus zu rühmen und die Ablehnung seiner Politik als bloßen Antisemitismus zu verurteilen, populär werden zu lassen. Auch, wenn sich uns hier Tag um Tag ihre Heuchelei zeigt, so sind diese Überzeugungen keineswegs bewusst gestreute, sondern vielmehr Folge geostrategischer Zwänge und einer zionistischen Idee, die in der Debatte um Antisemitismus eine tragende Rolle eingenommen hat.

Abgesehen von dem eben benannten Widerspruch ist zudem offensichtlich, dass es für die jüdische Arbeiter:innenklasse in einem kapitalistischen Staat, wie Israel einer ist, keine wirkliche Befreiung geben kann. Auch hier wird das jüdische Proletariat von der herrschenden Klasse ausgebeutet und immer wieder durch ihren großen gewerkschaftlichen Dachverband, der Histadrut, verraten. An diesem Umstand konnten auch die Labourzionist:innen mit ihren Ideen der Kibbuzim und Moschawim nichts Grundlegendes ändern (Kibbuz; wörtlich: Versammlung; Moschaw; wörtlich: Sitz, Siedlung. Beides bezeichnet genossenschaftlich-kollektive Landbebauungsformen). Diese ohnehin wenig fortschrittlichen Projekte sind mittlerweile durch andere Wirtschaftszweige verdrängt oder gänzlich privatisiert worden. Zugleich wird die jüdische Arbeiter:innenklasse in Israel ebenfalls durch die regelmäßigen Großspenden unterstützt, was die ideologische Abhängigkeit vom Zionismus als Projekt festigt.

Häufig wird von Zionist:innen behauptet, Juden und Jüdinnen hätten schon immer in ihre ursprüngliche und damit ihnen zustehende Heimat zurückgewollt. Dieses Argument ist historisch einerseits nicht haltbar – wie wir in Folge 1 unserer Podcastreihe aufgezeigt haben – und andererseits durch seine religiöse Begründung anachronistisch. Zudem vermittelt es, Araber:innen hätten seit ganzen 2.000 (!) Jahren zu Unrecht in Palästina gelebt. Würden alle Völker Ansprüche auf territoriale Realitäten von vor 2.000 Jahren erheben, so versänke die Welt in einem einzigen Blutbad. Paradoxerweise sind es gerade die USA, die das Argument des historisch begründeten territorialen Anspruchs in ihrem eigenen Land nicht für legitim halten.

Ein Widerspruch, auf den besonders wichtig hinzuweisen scheint, betrifft die Haltung des Zionismus gegenüber der arabischen Bevölkerung, welche stets zwischen Ignoranz und Rassismus schwankt. Im bereits erwähnten Buch „Der Judenstaat“ erwähnt Theodor Herzl die Araber:innen mit keinem Wort. Einer der frühesten Wahlsprüche der Zionist:innen lautete „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land!“ Hier wird die Existenz der arabischen Bevölkerung gänzlich geleugnet oder aber ihr wird offen rassistisch begegnet, indem unterstellt wird, sie sei unfähig, das Land ordentlich zu bestellen – wie es der erste Premierminister Israels, Ben-Gurion, formulierte. Hieraus lässt sich also angesichts der theoretischen und praktischen Ausrichtung des Zionismus schlussfolgern, dass Antizionist:in zu sein, bedeutet, das politische Programm der zionistischen Organisationen abzulehnen. Antijüdisch zu sein, bedeutet hingegen, rassistisch zu sein. Es gilt, Antizionismus und Antisemitismus strikt voneinander zu trennen. Auch jüdische linke Organisationen und Intellektuelle fordern diese Unterscheidung. Hier ist beispielsweise auf die „Jüdische Stimme für gerechten Frieden im Nahen Osten“ oder auf den israelischen Antisemitismusforscher Moshe Zuckermann hinzuweisen. Es zeigt sich, dass nicht alle Juden/Jüdinnen hinter der Politik Israels stehen. Ihre Gleichsetzung mit der zionistischen Ideologie oder einem zionistischen Staat ist generalisierend und damit antisemitisch,

Mit der Klarheit, mit der Antisemitismus und Antizionismus voneinander zu trennen sind, treten bürgerliche Institutionen wie deutsche Parteien, die UNO oder die EU leider nicht bei ihrer Suche nach treffenden Antisemitismusdefinitionen auf. Hier sind israelische Gremien stets bemüht, zu intervenieren und die Frage eines israelbezogenen Antisemitismus in die Debatte einfließen zu lassen oder direkt Antizionismus mit Antisemitismus gleichzusetzen. So entschied sich die deutsche Bundesregierung als Mitglied der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken, deren Antisemitismusdefinition politisch zu implementieren. Hier heißt es unter anderem: „[…] Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher [also antisemitischer] Angriffe sein.“ Zusätzlich entwarf der damalige israelische Innenminister Scharanski den sogenannten „3-D-Test für Antisemitismus“. Dieser gibt vor, unterscheiden zu können, wann Kritiken am Staat Israel antisemitisch seien und wann nicht. Dabei setzt er faktisch Antizionismus mit Antisemitismus gleich und trägt so dazu bei, die Gräueltaten Israels zu legitimieren, während das Aufbegehren dagegen weiter unterdrückt wird. Die Kriterien des Tests, also „Dämonisierung, Doppelstandards und Delegitimierung“, haben diverse Arbeitsdefinitionen in der europäischen und deutschen Politik maßgeblich beeinflusst.

Fortschrittlicher Antizionismus

Was in Gänze konsequenter und fortschrittlicher Antizionismus für uns bedeutet, darauf wollen wir gleich ausführlich eingehen. Die Entstehungsgeschichte des israelischen Staates thematisieren wir in unserer kommenden Spezialfolge, in der es um ein Aktionsprogramm für Palästina gehen soll. Darin wollen wir auch thematisieren, inwiefern auch ein falscher Antizionismus als Deckmantel für ein rassistisches und antisemitisches Programm genutzt werden kann, von dem wir uns in jedem Falle klar abgrenzen und es zutiefst verurteilen. Angesichts der anstehenden Bodenoffensive als Antwort auf den Angriff aus Gaza auf Israel am 7. Oktober 2023 hat die Frage nach einem progressiven Antizionismus erneut an Aktualität gewonnen. Auf die derzeitige Lage im Nahen Osten werden wir ebenfalls in unserer kommenden Folge vertieft eingehen. Vorerst möchten wir hier aber darstellen, aus welchen Überlegungen heraus Antizionismus für uns, also die Gruppe Arbeiter:innenmacht, legitim und notwendig ist und wofür wir stattdessen eintreten. Um unsere Position nachvollziehen zu können, ist es unvermeidbar, sich den Charakter und die Entstehungsgeschichte Israels vor Augen zu führen: Für die Schoa trugen die Araber:innen und Palästinenser:innen keine Verantwortung. Die darauffolgende große Einwanderungswelle nach Palästina hätte zu diesem Zeitpunkt nicht zwangsläufig zu der seit Jahrzehnten anhaltenden Entrechtung, Vertreibung, Einkesselung und dem dagegen laufenden Widerstand führen müssen. Der Charakter des israelischen Staates und dessen Stellung im imperialistischen Weltsystems führte erst zu den dramatischen Auseinandersetzungen, wie sie seit Jahrzehnten zwischen Israel und Palästina zu beobachten sind. Aber worin genau besteht dieser? Zum einen entschied man sich mit der Staatsgründung für eine kapitalistische Wirtschaftsorganisation, in der es ein Recht auf Privateigentum gibt, sowie für die Inanspruchnahme der Unterstützung durch imperialistische Großmächte. Dies führt neben der arabischen Segregation auch innerhalb der jüdisch-israelischen Gesellschaft zur Verschärfung der sozialen Spaltung. Für die dort Herrschenden fungiert der zunehmende Nationalismus als Bändigung gegen steigende Unzufriedenheit innerhalb der Arbeiter:innenklasse. Ein weiteres Charakteristikum ist, dass es aus zionistischer Sicht der Unterdrückung und Vertreibung der Araber:innen aus dem israelischen Herrschaftsgebiet bedurfte, um den jüdischen Charakter Israels zu garantieren. Dies macht es immer mehr zu einem Apartheidstaat, wie ihn auch Amnesty International bezeichnet. Die Apartheidsdefinition der UN umfasst unter anderem das Verweigern des „Recht[s] auf Verlassen des Landes und auf Rückkehr ins Heimatland, auf Staatsangehörigkeit, auf Freizügigkeit der Bewegung und des Aufenthalts“. Zudem wird auch „die Enteignung von Grundbesitz einer ethnischen Minderheit“ als Teil der Definition benannt. In Israel sind demnach mittlerweile grundlegende Züge von Apartheid zu erkennen. So existieren beispielsweise mehr als 50 Gesetze, die palästinensisch-israelische Bürger:innen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen diskriminieren, und Wohngebiete werden rassistisch getrennt.

Zu guter Letzt sei als Merkmal zu nennen, dass in Palästina faktisch eine reaktionäre „Einstaatenlösung“ unter Aufrechterhaltung der Fiktion einer „Zweistaatenlösung“ praktiziert wird.
Wir sprechen uns gegen ein Israel in dieser Verfassung als sich entwickelnder Apartheidstaat und imperialistischen Brückenkopf aus. Jedoch dürfen wir als konsequente Antizionist:innen nicht dabei stehen bleiben, sondern müssen eine fortschrittliche Lösung zur Überwindung des aktuellen israelischen Staates aufzeigen, von der sowohl Palästinenser:innen als auch Juden und Jüdinnen profitieren. Selbstverständlich kann es sich hierbei nicht darum handeln, den „jüdischen Staat“ durch einen „palästinensischen“ zu ersetzen. Stattdessen treten wir für einen binationalen Staat ein, in dem Juden/Jüdinnen und Palästinenser:innen gleichberechtigt leben dürfen. Jeder „Antizionismus“, der die Berechtigung von Ersteren, in Israel zu leben, leugnet, ist reaktionär und tatsächlich antisemitisch.

Es sollte bis hierher klar geworden sein, dass die zionistische Idee den Antisemitismus in der Welt weder aufheben noch den Juden und Jüdinnen einen wirklichen Schutzraum bieten kann. Im Gegenteil, sie akzeptiert durch ihre Schlussfolgerungen eine antisemitische Welt als unveränderlich gegeben. Zudem lenkt die altbekannte Gleichsetzung von Antizionismus mit Antisemitismus, welche ohnehin politisch falsch ist, vom erstarkenden, wirklichen Antisemitismus der Rechten ab. Einer Rechten, die sich letztlich in die Geschichte der Schoa einreiht und den eliminatorischen Antisemitismus stets als Keim in sich trägt. Darüber hinaus fungiert der Vorwurf des Antisemitismus als einschüchterndes und mundtot machendes Werkzeug gegen all jene, welche sich solidarisch mit antiimperialistischen Befreiungskämpfen zeigen, aber auch ganz allgemein gegen internationalistische Linke, Gewerkschafter:innen und sogar linke Reformist:innen wie beispielsweise Corbyn – ganz unabhängig von der jeweils aktuellen Thematik. Diese Gleichsetzung ist ein Instrument von antideutschen Pseudolinken bis hin zur AfD.

Gegen Antisemitismus zu kämpfen, heißt für uns, nicht nur aufzuzeigen, weshalb die zionistische Idee keine Heil bringende ist. Gerade jetzt, in einer Zeit, in der antisemitische Gewalttaten und diverse Verschwörungstheorien in Reaktion auf die vielfältigen Krisen unserer Zeit wieder zunehmen, müssen wir den Kampf gegen ihn noch stärker zuspitzen. Krisen wie die Wirtschaftskrise 2007/08, die Niederlagen in verschiedenen Klassenkampfsituationen wie dem Arabischen Frühling oder dem Widerstand gegen das europäische Spardiktat sowie die Coronapandemie führten zu einem verstärkten Rechtsruck in vielen Ländern der Welt. Das bedeutet, dass der Kampf gegen Antisemitismus für uns vor allem auch einer gegen eben diesen Rechtsruck und das kapitalistische System sein muss, welches durch seine Produktionsweise und die damit verbundenen wiederkehrenden Krisen die Grundlage für antisemitische Ideologien abgibt. Für dieses Vorhaben braucht es ein antikapitalistisches Programm, welches der Arbeiter:innenklasse einen Weg aufzeigt, wie der Kampf gegen Rassismus, Rechtsruck und Nationalismus zu einem für eine befreite Gesellschaft ausgeweitet werden kann. Es ist notwendig, dass große Teile der Arbeiter:innenklasse für ein solches Programm gewonnen werden, denn nur sie sind es, die die Macht besitzen, dem kapitalistischen System seine Grundlage zu entziehen.

Wo immer sie uns begegnen, müssen wir antisemitischen Vorurteilen und Anfeindungen entschieden entgegentreten. Im Hier und Jetzt müssen wir daher Forderungen aufstellen, die dem Antisemitismus entgegenwirken und die Widersprüche des Kapitalismus zuspitzen. Dazu gehört unter anderem die Verteidigung des Rechts auf freie Ausübung der Religion und Kultur. Ebenso müssen wir das Recht auf Schutz gegenüber Angriffen auf jüdische Einrichtungen und Privatpersonen einfordern und antirassistische Selbstverteidigungsstrukturen organisieren. Zugleich müssen wir uns dafür einsetzen, dass Fluchtwege stets offenbleiben, damit Menschen, die flüchten müssen, in einem anderen Land Schutz finden können. Die Forderung nach offenen Grenzen und vollen Staatsbürger:innenrechten für alle ist daher eine zentrale im Kampf gegen Antisemitismus und eine wichtige Antwort auf die Fragen, die globale Migrationsbewegungen heute aufwerfen. Wie wir bereits eingangs erwähnt haben, ist es unmöglich, dass ein kapitalistischer Nationalstaat vollständigen Schutz gegenüber Antisemitismus gewähren kann. Daher muss der Kampf für den Sozialismus mit der Forderung nach einem binationalen, säkularen Staat unbedingt verbunden werden.

Lasst uns den rechten Pseudokämpfen gegen Antisemitismus eine revolutionäre antikapitalistische Perspektive auf der Grundlage einer marxistischen Analyse entgegensetzen, damit sich die Schoa niemals wiederholt!

Wir hoffen, euch die soziale und politische Dimension des modernen Antisemitismus, des Zionismus sowie unsere Haltung dazu ein wenig nähergebracht zu haben. Sicherlich gibt es zu dem Thema noch weitaus mehr zu sagen. Wenn ihr neugierig geworden seid, so empfehlen wir Euch unser theoretisches Journal mit dem Namen „Revolutionärer Marxismus“, welches wir in regelmäßigen Abständen herausgeben. Das 51. Werk dieser Buchreihe trägt den Namen „Antisemitismus, Zionismus und die Frage der jüdischen Nation“ und vertieft einige Themen, die wir in dieser Folge angerissen haben. Wie bereits angekündigt, werden wir in den kommenden Wochen eine Spezialfolge zu den aktuellen Geschehnissen im Nahen Osten und der Frage, wie wir uns als Revolutionär:innen zum palästinensischen Befreiungskampf positionieren sollten, herausbringen.

Aber das in einer anderen Folge von „Lage der Klasse.“




Nein zur Verschärfung des Asylrechts!

Stefan Katzer, Neue Internationale 278, November 2023

Wenn man von der prokapitalistischen Partei der Reichen mit Spleen für Verbrennungsmotoren auch sonst nicht viel hält, muss man der FDP doch eines lassen: Sie hat noch rote Linien. Das heißt, sie vertritt politische Positionen, die für sie nicht verhandelbar sind. Steuererhöhungen zum Beispiel. Die wird es mit der FDP nicht geben. Das hat sie vor, während und nach dem letzten Bundestagswahlkampf klargemacht. Und das macht sie auch in der Ampelkoalition immer wieder deutlich. Egal wie marode die Schulen, wie überlastet das Gesundheitssystem, wie kaputt der öffentliche Nahverkehr – Geld von den Reichen zur Finanzierung dieser öffentlichen Angelegenheiten wird es nicht geben. Dafür steht der derzeitige FDP-Vorsitzende und Bundesfinanzminister Christian Lindner mit seinem Namen.

Die Grünen

Anders bei den Grünen. Bei der geradezu gymnastisch-pragmatischen Sonnenblumenpartei mit grünem Image und chamäleonartigem Anpassungsvermögen sucht man nach roten Haltelinien, nach nicht verhandelbaren Positionen vergebens. Egal ob Klimaschutz, Aufrüstung oder Asylpolitik – nichts scheint den Grünen zu schade, um nicht einem faulen Kompromiss geopfert zu werden. Geradezu stolz ist man auf die eigene ideologische Geschmeidigkeit, auf den zum Prinzip erhobenen Opportunismus. Frei nach dem Motto: Es ist besser, falsch zu regieren, als gar nicht zu regieren. Das geht zwar nicht immer ohne Reibungen innerhalb der eigenen Partei aus, kleinere Schlagabtausche zwischen Parteiführung und Basis inklusive, aber am Ende geht es meistens doch. Schließlich hat die Parteispitze nicht versäumt, die Basis bereits vor Eintritt in die Ampelkoalition auf Kompromisse einzuschwören.

Die erste dicke Kröte, die vor allem die Grüne Jugend herunterwürgen musste, bekam diese von der selbsternannten Fortschrittskoalition unter Einschluss der Grünen im Sommer diesen Jahres serviert. Die sogenannte Asylkrisenverordnung, die von den Regierungen der EU-Staaten ausgehandelt worden war und für die am Ende auch die grüne Außenministerin Annalena Baerbock geworben hat – auf Druck vom Kanzler und mit ordentlich Bauchschmerzen, versteht sich –, hatte es schon in sich.

Neben mehr Abschottung an der EU-Außengrenze sieht dieser Kompromiss auch die Möglichkeit der Verlängerung der Lagerhaft für Geflüchtete vor. Diese erzwungene Haft soll es den Behörden erleichtern, bei negativem Asylbescheid die Menschen schneller wieder in ihre Heimatländer abzuschieben. Außerdem wurde im Zuge dieser Asylrechtsverschärfung auch der Personenkreis ausgeweitet, der in solchen Lagern künftig untergebracht werden kann. Darunter sind nun auch Familien mit Kindern.

Nach anfänglicher Kritik und daran anschließenden minimalen Verbesserungen hat die Bundesregierung dem Vorschlag letztlich zugestimmt. Man wollte endlich ein Ergebnis, einen zustimmungsfähigen Kompromiss in der Asylpolitik auf EU-Ebene vorweisen können, bevor nächstes Jahr das EU-Parlament neu gewählt wird. Wenn er dort durchgewunken wird, könnten somit geflüchtete Kinder in Zukunft an der Außengrenze der Festung Europa in Lagern eingesperrt werden, während die grüne Außenministerin, die diesem Kompromiss zugestimmt hat, auch weiterhin im Kabinett auf ihrem bequemen Sessel Platz nehmen darf. Wahrlich schmerzhafte Kompromisse – für die Grünen.

Verschärfungen vom Oktober

Nun hat sich die Bundesregierung im Oktober auf weitere Verschärfungen im nationalen Asylrecht geeinigt. Nachdem man wochenlang der AfD nach dem Mund geredet und beinahe sämtliche sozialen Probleme im Land – angefangen beim Wohnungsmangel über fehlende Kitaplätze bis hin zum überlasteten Gesundheitssystem – auf die Überlastung durch „illegale Migration“ zurückgeführt hat, musste man schließlich auch liefern. Das hat die Ampel nun getan. Das Innenministerium unter der Führung von Nancy Faeser hat kürzlich einen Gesetzentwurf zur „Verbesserung der Rückführung“ vorgelegt, der massive Verschlechterungen für Geflüchtete vorsieht – eine Abschiebeoffensive also, von der die Rechten schon lange träumen.

Dieses Mal standen insbesondere die Ausreisepflichtigen im Fokus der Debatte. Das sind Personen, die sich aufgrund eines abgelehnten Asylantrags, eines abgelaufenen Visums oder einer nicht verlängerten Aufenthaltserlaubnis rechtlich gesehen nicht länger in Deutschland aufhalten dürfen. Derzeit betrifft das ca. 300.000 Menschen. Von diesen ist allerdings der größte Teil, ca. 90 %, geduldet. Diese Personen können also auch weiterhin aus rechtlichen Gründen (noch) nicht abgeschoben werden. Das kann unterschiedliche Gründe haben, etwa weil den Betroffenen in ihren Heimatländern Verfolgung droht oder ihr Heimatland als nicht sicher gilt, z. B. weil dort Krieg herrscht.

Unmittelbar ausreisepflichtig sind derzeit somit nur ca. 54.000 Personen. Um diesen Personenkreis geht es in dem neuen Gesetzentwurf. Diese sollen durch das neue Gesetz nun schneller und effektiver abgeschoben werden können. Um dies zu erreichen, hat die bei der Hessenwahl erfolglose SPD-Spitzenkandidatin und Immer-noch-Bundesinnenministerin Nancy Faeser einen Entwurf ausgearbeitet, der massive Grundrechtseinschränkungen, neue Straftatbestände für Geflüchtete und erweiterte Kompetenzen für die Polizei vorsieht.

Laut Pro Asyl könnte es durch das neue Gesetz möglich werden, dass Menschen schon aufgrund eines „falschen“ Familiennamens bzw. der gleichen Familienzugehörigkeit aus Deutschland ausgewiesen werden. Dies soll es erleichtern, Menschen abzuschieben, von denen man annimmt, dass sie einer kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB angehören, ohne dass es zu einer rechtskräftigen Verurteilung gekommen ist. Hier bedienen die Ampelparteien das rechte Narrativ der „Clankriminalität“, der angeblich besonders schwer beizukommen ist und für deren Bekämpfung man daher auf unkonventionelle (lies: grundrechtswidrige) Verfahren zurückgreifen möchte. Dafür ist man offenbar bereit, Menschen pauschal unter Verdacht zu stellen bzw. abzuurteilen, ohne dies im Einzelfall richterlich bestätigt zu bekommen.

Außerdem soll es künftig leichter möglich sein, Menschen in Abschiebehaft zu nehmen. Hierfür genügt bereits der Vorwurf gegenüber den Antragsteller:innen, die Mitwirkungspflichten bei der Bearbeitung des Asylantrags zu verletzen. Letztlich können auf Grundlage des neuen Gesetzes alle Personen, die ausreisepflichtig sind, in Haft genommen werden, und das nun nicht mehr „nur“ für drei, sondern ganze sechs Monate. Vor dem Hintergrund, dass laut Pro Asyl bereits heute die Hälfte der sich in Abschiebehaft befindlichen Menschen zu lange oder zu Unrecht in Haft sitzt, ist dies besonders perfide.

Doch damit nicht genug. Auch wenn kein Verdacht vorliegt, einer kriminellen Vereinigung anzugehören, soll es zur Erleichterung von Abschiebungen künftig möglich sein, Menschen länger als bisher einzusperren. Dies soll ermöglicht werden durch die Ausdehnung des sogenannten Ausreisegewahrsams. Statt wie bisher zehn, sollen ausreisepflichtige Personen künftig bis zu 28 Tage in Gewahrsam genommen werden dürfen, um den Behörden die Vorbereitung der Abschiebung und diese selbst zu erleichtern. Auch Menschen, die sich noch im Asylverfahren befinden und gegen die keine sonstigen strafrechtlichen Verfahren angestrengt werden, sollen künftig in Abschiebehaft genommen werden dürfen.

Ebenso werden die Polizei und andere in das Verfahren involvierte Behörden deutlich mehr Befugnisse erhalten, die ihnen die Durchführung von Abschiebungen erleichtern sollen. Diese dürfen nun ohne richterlichen Beschluss de facto zu jeder Tages- und Nachtzeit in die Wohnungen und Unterkünfte von Geflüchteten eindringen. Doch nicht nur in die Wohnungen oder Unterkünfte der unmittelbar Ausreisepflichtigen, sondern letztlich in jede Räumlichkeit, sofern die Behörden davon ausgehen, dass die gesuchte ausreisepflichtige Person sich dort aufhalten könnte. Und das, mit Ausnahme von Familien, in denen Kinder unter 12 Jahren leben, ohne jegliche vorherige Ankündigung. Dass dies für die betroffenen Personen enorme psychische Belastungen mit sich bringt, nimmt man offenbar in Kauf. Sie können sich in keiner Sekunde mehr sicher sein, müssen ständig befürchten, von der Polizei besucht, überwältigt und zur Abschiebung geholt zu werden.

Gemeinsam gegen Rassismus

Gegen diese Asylrechtsverschärfung und den gerade stattfindenden Rechtsruck insgesamt muss die Linke, muss die Arbeiter:innenbewegung aktiv werden. Sie müssen der rechten Hetze und den Spaltungsversuchen der Herrschenden eine solidarische, letztlich eine revolutionäre Perspektive entgegensetzen. Statt Internierungslagern an den Außengrenzen, Toten im Mittelmeer, Grenzkontrollen in der EU und einer insgesamt menschenverachtenden rassistischen Politik braucht es eine menschenwürdige Alternative.

Statt für schnellere Abschiebungen müssen wir für sichere Fluchtrouten, offene Grenzen und gleiche Rechte für alle hier lebenden Menschen kämpfen. Dies schützt nicht nur die Geflüchteten vor Abschiebung und Entrechtung, sondern trägt auch dazu bei, die Spaltung der Lohnabhängigen zu überwinden.

Die Gewerkschaften müssen daher Geflüchtete in ihre Reihe aufnehmen und gemeinsam mit diesen für soziale Verbesserungen kämpfen – und zwar mit den Methoden des Klassenkampfes, nicht der warmen Worte. Sie müssen den Kampf führen gegen die Spaltung der Arbeiter:innenklasse, gegen die Selektion von Flüchtlingen und Migrant:innen in Ausgestoßene und Deportierte einer- und entrechtete Lohnabhängige zweiter Klasse andererseits. Nur wenn wir entschieden gegen Nationalismus und Chauvinismus kämpfen, können wir die lähmende Spaltung der Klasse überwinden und die Kampfbedingungen insgesamt verbessern.

Dafür müssen wir auch die Lügen der Herrschenden entlarven, die behaupten, dass die sich zuspitzenden sozialen Probleme letztlich auf die Überlastung durch „illegale Migration“ zurückzuführen sind, während sie selbst gerade dabei sind, an allen Ecken und Enden – außer beim Militär – massive Kürzungen durchzusetzen.

Wir brauchen eine Massenbewegung von antirassistischen, Migrant:innenorganisationen, allen Arbeiter:innenorganisationen und vor allem von den Gewerkschaften!

• Volles Asylrecht für alle Geflüchteten! Nein zu allen Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen sowie Abschiebungen! Für offene Grenzen!

• Ein Recht auf Arbeit und freie Wahl des Wohnortes und staatliche Unterstützung für Geflüchtete, solange sie keine Arbeit gefunden haben!

• Gleicher Lohn und gleiche demokratische Rechte, unabhängig von Hautfarbe, Nationalität, Religion oder Staatsangehörigkeit!

• Volle Staatsbürger:innenrechte für alle, die in Deutschland und der EU leben, inklusive des passiven und aktiven Wahlrechts!

• Organisierte Selbstverteidigung gegen rassistische und faschistische Angriffe auf Flüchtlinge und Migrant:innen, unterstützt von der gesamten Arbeiter:innenbewegung! Öffnung der Gewerkschaften für alle Geflüchteten und Migrant:innen!




Offener Brief: Menschen, keine »Barbaren«!

Offener Brief in Solidarität mit Elisa Baş, Infomail 1234, 21. Oktober 2023

Im Folgenden veröffentlichen wir einen offenen Brief in Solidarität mit Elisa Baş. Wir rufen zur Unterzeichnung des offenen Briefs auf. Wenn ihr auch unterzeichnen wollt, schreibt eine Mail an: washidaka@gmail.com

Offener Brief: Menschen, keine »Barbaren«!

Solidarität mit der Bundespressesprecherin von Fridays-For-Future, Elisa Baş, gegen die Diffamierungen der Springer-Presse!

Unter der Überschrift »Klima-Aktivistin schockt mit Vorwurf gegen Juden« versuchen die BILD-Zeitung und andere Springer-Medien, die Pressesprecherin von Fridays-For-Future, Elisa Baş, als »geschichtsvergessen« und »geschmacklos« darzustellen. Der gleichlautende Artikel von Julian Loevenich erschien zuerst in der Berliner Tageszeitung (B.Z.)[1]. Eine Stunde später dann auch in der BILD-Zeitung[2]. Einen Tag nach dem BILD-Artikel übernahmen die Redaktionen von Focus Online[3] und Express aus Österreich die in der BILD geäußerten Vorwürfe.

Elisa Baş teilte auf ihrem Instagram-Account eine Kritik an Aussagen des Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef Schuster. In einem Gast-Kommentar für die BILD-Zeitung hatte dieser geschrieben: »Die Barbaren sind unter uns.« und »Es muss sich etwas tun.«[4] Auf dem Bild zum Kommentar ist eine Frau zu sehen, die eine palästinensische Fahne schwenkt.

Elisa Baş hatte den Artikel mit dem folgenden Kommentar einer anderen Person geteilt: »In Deutschland herrscht eine Pogrom-Stimmung gegen Palästinenser:innen und Schuster heizt sie an.«

Aus dieser geteilten Kritik konstruiert nun der BILD-Redakteur Julian Loevenich folgenden Vorwurf: »Besonders geschichtsvergessen und geschmacklos ist Baş „Pogrom“-Vorwurf, weil Juden während der Nazi-Zeit bei Pogromen ermordet wurden. Die Klima-Aktivistin rückt damit den Präsidenten des Zentralrats der Juden in die Nähe der Nationalsozialisten.«

Elisa Baş hat sich stets klar und deutlich gegen Antisemitismus sowie allgemein jede Form von Rassismus positioniert. Die Vorwürfe sind eine bodenlose Frechheit. Im Anschluss an die Berichterstattung werden von unterschiedlichen Personen Forderungen nach einem Rücktritt erhoben.

Wir stellen fest:

  1. Meinungsfreiheit ist ein Menschenrecht. Hetze und Rassismus nicht. Wir lehnen die Rücktrittsforderungen gegen Elisa Baş ab. Die Klimabewegung darf sich nicht spalten lassen. Der Angriff auf Elisa Baş ist ein Angriff auf alle, die sich für eine klimagerechte Welt einsetzen. Wir stehen angesichts der Diffamierungs-Kampagne als Menschenrechts- und Klimaaktivist:innen jüdischer, muslimischer und anderer Herkunft gemeinsam hinter der Fridays-for-Future-Bundespressesprecherin Elisa Baş. Die gefährliche Stimmungsmache der BILD-Zeitung gegen eine junge Klima-Aktivistin muss sofort beendet werden!
  2. Der Presserat muss BILD & BZ in die Schranken weisen und die Hetze gegen Palästinenser:innen stoppen!
  3. Der Begriff der »Barbaren« diente schon in der Antike zur Entmenschlichung unter Sklaverei und rechtfertigte ebenso die Kolonialgeschichte.[5] Dass die BILD-Zeitung und andere an diese rassistische Tradition anknüpfen, ist verantwortungslos und schürt eine hetzerische Stimmung.
  4. Die Kritik an Schuster, er heize mit seinen Aussagen eine »Pogrom-Stimmung« gegen Palästinenser:innen an, hat nichts mit Antisemitismus oder Geschichtsvergessenheit zu tun. Der Begriff »Pogrom« ist älter als der Nationalsozialismus und findet auch in anderen Kontexten weitläufig Verwendung. So definieren der Duden und die Bundeszentrale für politische Bildung den Begriff als »gewalttätige Aktionen, Übergriffe und Ausschreitungen gegen (ethnische, nationale, religiöse etc.) Minderheiten oder politische Gruppierungen.«[6] Die israelische Zeitung Ha‘aretz bezeichnete beispielsweise den Siedlerangriff auf das palästinensische Dorf Huwara als Pogrom.[7] Elisas Aussagen richten sich an keiner Stelle auch nur ansatzweise gegen jüdische Menschen oder jüdisches Leben.

#keineBarbaren #SolimitElisa

Wenn ihr auch unterzeichnen wollt, schreibt eine Mail an: washidaka@gmail.com


[1] https://www.bz-berlin.de/berlin/fridays-for-future-elisa-bas-juden

[2] https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/sprecherin-von-fridays-for-future-klima-aktivistin-schockt-mit-vorwurf-gegen-jud-85762668.bild.html

[3] https://www.focus.de/politik/ausland/nahost/klimaaktivistin-macht-juden-vorwuerfe-fridays-for-future-sprecherin-schockt-mit-wirrer-genozid-nachricht_id_226258300.html

[4] https://www.bild.de/politik/kolumnen/politik-inland/josef-schuster-zum-terror-in-israel-die-barbaren-sind-unter-uns-85744098.bild.html

[5] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-06/rassismus-ideologie-nationalsozialismus-rassentheorie-antike-mittelalter-genetik/seite-2?

[6]https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/296465/pogrom/

[7] https://www.haaretz.com/israel-news/2023-03-04/ty-article/.premium/israeli-settlers-threaten-another-hawara-pogrom-on-saturday-night/00000186-ad5d-de2a-a1ee-af5f092f0000




Landtagswahlen in Bayern: Wahldebakel für die Ampel, weiterer Rechtsruck

Helga Müller, Infomail 1233, 10. Oktober 2023

Diverse Wahlprognosen hatten ja schon vorausgesagt, dass die AfD und die Freien Wähler in Bayern von dem Verlust der SPD, FDP und Die Grünen/Bündnis 90, aber auch von der CSU profitieren werden. Auch wenn das Ergebnis nicht ganz so extrem ausfiel wie prognostiziert, bedeutet der Wahlausgang eine Niederlage für die gesamte Arbeiter:innenbewegung inkl. der Gewerkschaften, SPD und Die LINKE. Aber er offenbart auch die Schwäche der linken Kräfte insgesamt mehr als deutlich. Dieses Ergebnis kann nicht damit beschönigt werden, dass Bayern schon immer ein besonderes Bundesland war und ist. Auch bei der Landtagswahl in Hessen hat sich eine ähnliche Tendenz ergeben – mit Ausnahme der CDU, die noch gegenüber der letzten Wahl zugenommen hat.

Mit diesen beiden Wahlen hat nun die AfD endgültig den Sprung von Ostdeutschland in die Landesparlamente zweier großer westdeutscher Flächenstaaten geschafft, entsprechend frohlocken ihre Bundesgrößen in den Medien. Auch das Ammenmärchen von der besonderen Bindung der ostdeutschen Bevölkerung an sie ist damit Lügen gestraft worden.

Das Ergebnis

Doch bevor wir weiter in die Analyse einsteigen, zunächst einmal ein paar Worte zum vorläufigen Wahlergebnis der Landtagswahlen in Bayern vom 8.10.2023:

Die CSU bleibt zwar mit 37 % stärkste Partei, rutscht aber noch unter ihr desaströses Wahlergebnis bei der letzten Landtagswahl von 2018 mit 37,2 % – das schlechteste seit 1950. Eine stabile Regierung unter einer starken CSU ist damit in Frage gestellt. In Umfragen hatte das Ergebnis für sie noch schlechter ausgesehen. Sie konnte noch etwas zulegen, weil sie sich in der Frage der Zuwanderung zusehends an die Positionen der AfD angenähert hatte. CDU-Oppositionsführer Merz war sich auch nicht zu blöd in seiner Bilanz der beiden Landtagswahlen, seine rechtspopulistischen Aussagen zu Asylsuchenden, die zum Teil auch in seiner eigenen Partei umstritten waren, als Beitrag zum Wahlerfolg seiner Partei zu deklarieren. So weit zur Brandmauer der Union zur AfD! Zwar sah es lange in den Hochrechnungen so aus, dass die Grünen/Bündnis 90 die zweitstärkste Kraft in Bayern werden würden, aber dies schafften die Freien Wähler  mit 15,8 % der abgegebenen Stimmen und gewannen damit gegenüber 2018 4,2 % hinzu. Noch nicht einmal drittstärkste Kraft und damit Anführerin der Opposition im Bayerischen Landtag wurden sie, sondern die AfD mit 14,6 %! Sie erhöhe ihr Wahlergebnis um 4,4 % – der stärkste Zuwachs für eine Partei bei dieser Wahl. Sie hätte sicherlich wie in Hessen das Potential, zur zweitstärksten Partei in Bayern zu werden, wären da nicht die Freien Wähler mit der unsäglichen Aiwangeraffäre um das antisemitische Flugblatt und dem rechtspopulistischen Auftritt des stellvertretenden Ministerpräsidenten auf einer Kundgebung gegen das Heizungsgesetz im Juni in Erding bei München. Dies hat paradoxerweise zu einer Stärkung der Freien Wähler geführt, was aber auch zeigt, welche rechtskonservative bis -radikale Stimmung dort vorherrscht.

Die viertstärkste Kraft wurden die Grünen/Bündnis 90 knapp hinter der AfD mit 14,2 %. Sie verloren 3,2 % gegenüber ihrem Rekordergebnis von 2018.

Die SPD schaffte es zwar im Gegensatz zur FDP noch einmal in den Landtag mit lächerlichen 8,4 % und verliert somit „nur“ 1,3 %. Damit fuhr sie das schlechteste Wahlergebnis in Bayern aller Zeient ein. Dieser geringe Zuspruch ist eine Wahlschlappe und eine Ohrfeige für die SPD.

Die FDP kommt mit 3 % – einem Minus von 2,1 Prozentpunkten – nicht mehr in den Landtag. (Alle Zahlen nach „merkur.de“ vom 9.10.23).

Die LINKE wird in den meisten Veröffentlichungen gar nicht mehr aufgelistet und verschwindet somit vollends in der Bedeutungslosigkeit, auch wenn auf den Wahlplakaten trotzig „Bayerns Opposition“ stand. Sie lag bei 1,5 % und verlor 1,8 Prozentpunkte. (Zahlen nach sueddeutsche.de vom 9.10.23). Auch außerhalb des Landesparlaments kriegt man von der Partei nicht viel von Oppositionsarbeit mit.

Die Wahlbeteiligung fiel mit 73,3 % etwas höher als 2018 (72,4 %) aus. Trotzdem kann man sagen, dass diese Wahl anscheinend von vielen auch nicht als eine Entscheidungswahl gesehen wurde oder sie fühlen sich von keiner Partei angesprochen!

Kommentare und Bedeutung

Alle Kommentator:innen betonen, dass diese beiden Wahlen vor allem auch eine Abrechnung mit der Politik der Ampelkoalition in Berlin symbolisierten und diese ganz offensichtlich abgemahnt wurde. Zu denken geben natürlich sowohl in Bayern als auch bei den Landtagswahlen in Hessen, wo die AfD mit 18,4 % (einem Plus von 5,3 Prozentpunkten) zweitstärkste Kraft wurde, der hohe Zuspruch für die AfD auf der einen und der geringe für die SPD (in Hessen 15,1 %, ein Minus von 4,7 Prozentpunkten) und für DIE LINKE (in Hessen 3,1 % ein Minus von 3,2 Prozentpunkten) auf der anderen Seite. D. h. beide Parteien sind nicht mehr in der Lage, ihre eigentliche Klientel – die Lohnarbeiter:innenschaft, aber auch Frauen, Erstwähler:innen etc. – an sich zu binden. Das ist aber auch ein Trend, der schon länger zu beobachten ist.

Die SPD wird aufgrund ihrer seit Jahrzehnten andauernden unternehmerfreundlichen, Sozialabbau- und mittlerweile auch ihrer Aufrüstungspolitik schon lange nicht mehr als politische Interessenvertretung der arbeitenden Bevölkerung wahrgenommen. Das Ergebnis der Bundestagswahl vor zwei Jahren erscheint im Lichte der beiden Landtagswahlen als ein überraschendes Zwischenhoch. Aber DIE LINKE, die ihre Entstehung der Krise der SPD zu verdanken hatte, kann von dieser Schwäche nicht profitieren. Sie ist aufgrund ihrer inneren Zerstrittenheit nicht in der Lage, eine Massenattraktivität für die Lohnabhängigen, Arbeitslosen, Jugendlichen, Frauen, LGBTQIA+, Rentner:innen oder Migrant:innen aufzubauen (auch nicht mehr in Ostdeutschland). Aber nicht nur ihre Zerstrittenheit – z. B. die Diskussion um den linkspopulistischen Flügel von Sahra Wagenknecht –, sondern vor allem ihre harmlose reformistische Programmatik, um sie regierungsfähig zu machen, tragen massiv dazu bei.

Diese Krise des Reformismus zeigt sich auch an der Wählerwanderung: Für die AfD in Hessen macht Infratest dimap die Hauptunterstützer:innen in den (normalen) Arbeiter:innenschichten und Menschen mit einfacher Bildung aus. Man muss natürlich dazu sagen, dass vor allem Mittelschichten, die Angst vor einer sozialen Degradierung empfinden, die eigentliche Basis für die AfD darstellen.

Diese Schwäche kann die AfD mit ihren rechtsradikalen Themen wie der „massenhaften“ Zuwanderung besetzen und lenkt damit von der eigentlichen Ursache der Krise, die die Menschen weltweit – auch in den reichen Industrienationen – zu spüren bekommen, ab.

Auch die Gewerkschaften befinden sich in einer tiefgehenden Krise, stehen sie doch in allen wichtigen Fragen fest an der Seite der regierenden SPD.

Versagen des Reformismus

Auf die wirklichen Fragen, vor denen die Arbeiter:innenklasse steht wie die effektive Bekämpfung der Inflation, des Arbeitsplatzabbaus, der Klimaveränderung, der  Aufrüstung, des Sozialabbaus durch das 30-Milliarden-Sparprogramm der Ampelkoalition, des Pflegenotstands, der Bildungsmisere und nicht zuletzt der Umgang mit Asylsuchenden, finden weder DIE LINKE noch die Gewerkschaftsführung eine Antwort. Damit treiben sie letzten Endes die Kolleg:innen in die Hände rechtspopulistischer Kräfte wie die Freien Wähler und rechtsradikaler Kräfte wie eben die AfD mit ihren rassistischen, antisemitischen und Antiestablishment-Antworten.

Anstatt die wahren Verursacher:innen und Profiteur:innen der Krise und letzten Endes auch der Zunahme von Migration zu nennen – nämlich die großen weltweit agierenden Konzerne und Banken – und gegen diese zu mobilisieren in großen Demonstrationen, aber auch konsequenten Streiks, setzen sie nach wie vor auf Sozialpartnerschaft und eine Bändigung des Kapitalismus – durch die Wiederbelebung einer grünen sozialen Marktwirtschaft.

Die Landtagswahlergebnisse haben gezeigt – wie wir es ja in Deutschland auch in den 1930er Jahren des letzten Jahrhunderts erlebt haben –, dass es in Krisenzeiten immer eine Polarisierung nach rechts und links gibt. Wir erleben leider heute eine eindeutige Polarisierung nach rechts bis hin zu rechtsradikalen bis neonazistischen Kräften. Die linke Bewegung insgesamt dagegen steckt in einer tiefgehenden Krise.

Nach der Landtagswahl in Bayern wird sich die alteingesessene CSU aufgrund ihrer Wahlschlappe und des Anstiegs der Freien Wähler als auch der AfD noch stärker nach rechts bewegen und sich noch stärker populistischen Themen wie der Zuwanderung widmen.

Konsequente Arbeiter:innenpolitik statt Rechtsruck, „Einheit der Demokrat:innen“ und Sozialpartnerschaft!

Von daher stellt sich jetzt die Frage: Wie werden die Organisationen der Arbeiter:innenbewegung – allen voran die Gewerkschaften und DIE LINKE, aber auch Teile der SPD – mit diesem gefährlichen Rechtsrutsch umgehen? Schon einmal in unserer Geschichte haben diese Organisationen die Gefahr von ganz rechts unterschätzt und auf die Einheit der Demokrat:innen geschworen, um dann als Erste verfolgt, verboten und eingesperrt zu werden.

Einhalt gebieten kann man der AfD nicht mit Hochglanzbroschüren, um über ihren wahren Charakters aufzuklären, wie es der DGB Bayern in der Wahlkampagne angestellt hat oder mit schönen Wahlkampfreden und -veranstaltungen von SPD und Linken zur sozialen Frage (Mieten, Gesundheit, Bildung etc.) im Wahlkampf.

Auch nicht mit „Wohlfühl“kundgebungen gegen die AfD – wie in München auf dem Odeonsplatz kurz vor der Wahl mit immerhin 35.000 Teilnehmer:innen unter dem Motto „Zammreißen in Bayern gegen rechts“ –, zu der alle Demokrat:innen, auch die FDP, aufgerufen waren. Letztere will im Bund gerade einen Sparhaushalt gegen die Mehrheit der Bevölkerung durchsetzen.

Sondern jetzt wäre es dringlicher notwendiger denn je, dass diese jetzt die Initiative ergreifen – nicht nur in Bayern oder Hessen, aber durchaus hier beginnend. Sie müssen aufgefordert werden, große und machtvolle Demonstrationen gegen Sozialabbau, Aufrüstung und Vorbereitung auf Kriege, für Klimaschutz, der seinen Namen auch verdient, und auch die Aufnahme aller Asylsuchenden mit entsprechender Ausstattung der Kommunen vorzubereiten. Zahlen sollen die vielen Krisengewinnler:innen – die großen weltweit agierenden Konzerne und Banken mit der Einführung einer progressiven Kapitalsteuer, der Wiedereinführung der Vermögensteuer usw. Die jetzt kommenden Tarifrunde im öffentlichen Dienst der Länder muss dazu genutzt werden, Einkommenserhöhungen durchzusetzen, die die Inflation auch wirklich bekämpfen. Dafür ist es auch notwendig, sie dazu nutzen, um den Widerstand gegen Hochrüstung und Sozialabbau aufzubauen. Die zu erwartende Ablehnung der Forderungen der Kolleg:innen im öffentlichen Dienst durch die Länder kann nur ernsthaft bekämpft werden, wenn ver.di auch gegen die gesamte Politik der Regierung vorgeht!

Wir dürfen aber nicht abwarten, bis unsere Gewerkschaften aktiv werden, sondern müssen uns selbst für unsere Interessen organisieren und Kampfstrukturen aufbauen, um unseren Kampf zu diskutieren und zu lenken: gegen jeden faulen Kompromiss und Ausverkauf durch die Gewerkschaftsführungen! Wir müssen dies aber auch gegenüber den Gewerkschaftsverantwortlichen einfordern und diese nicht aus der Pflicht lassen!