Myanmar: Generalstreik und Riesendemonstrationen erschüttern die Militärherrschaft

Dave Stockton, Infomail 1140, 25. Februar 2021

Riesige Menschenmengen füllten am 22. Februar die Straßen der Städte Myanmars (Burma). Diese Tag war jener der bisher größten Proteste gegen die Machtübernahme am 1. Februar durch die korrupten und brutalen Tatmadaw, die Streitkräfte des Landes, unter der Führung von General und Oberbefehlshaber Min Aung Hlaing. Die schiere Größe der Demonstrationen spiegelt die Tatsache wider, dass die ArbeiterInnen bei den Eisenbahnen, in Geschäften und Fabriken, Büros und Schulen das Land in einem massiven Generalstreik lahmgelegt hatten.

Obwohl die Polizei in der offiziellen Hauptstadt Naypyidaw Menschenmengen mit Wasserwerfern angriff, gab es bisher keine massive Welle der Repression wie 1988. Dies zeigt sowohl die Vorsicht der Generäle als auch ihre Einsicht, dass im Gegensatz zum großen Massaker von 1988 die ganze Welt zusieht.

Massenbewegung

Wie schon Tag für Tag seit Beginn des Monats, bildeten sich die größten Menschenmengen in Yangon (Rangun) und Mandalay, den beiden größten Städten des Landes. In Yangon trugen sie ein breites Transparent mit der Aufschrift „Power to the People“ (Macht dem Volk) in englischer Sprache, was eindeutig eine Botschaft an die internationale Gemeinschaft bildet. Demonstrationen fanden auch in Myitkyina statt, der Hauptstadt der nördlichen Provinz Kachin, deren ethnische Minderheit eine lange Geschichte des Kampfes gegen aufeinanderfolgende Zentralregierungen aufweist.

Die Bewegung für zivilen Ungehorsam (CDM), eine lose Koordinationsgruppe des Widerstands, rief die Menschen auf, sich am Montag für eine „Fünf-Zweier-Revolution“ oder eine „Frühlingsrevolution“ zu vereinen. Diese Anspielung auf das Datum 22.2.2021 erinnert an die riesige Anti-Diktatur-Mobilisierung vom 8. August 1988, bekannt als die „Vier 8er“, die vom Militär beschossen wurde. Dieses Mal haben sich die Tatmadaw, zumindest bisher, mehr zurückgehalten.

Es gab jedoch eine drohende Stellungnahme des Militärs, die vom staatlichen Sender MRTV übertragen wurde und die friedlichen DemonstrantInnen des „Aufruhrs und der Anarchie“ beschuldigte. In ihr wurde behauptet, dass die OrganisatorInnen „jetzt die Menschen, besonders die emotionalen Teenager und Jugendlichen, zu einem Konfrontationskurs aufstacheln, bei dem sie den Verlust ihres Lebens erleiden werden“.

In der Tat haben bereits drei Menschen ihr Leben verloren, zwei davon am Sonntag in Mandalay. In der Zwischenzeit hat das Militär im Schutze der Dunkelheit Menschen zusammengetrieben, die sie verdächtigen, die OrganisatorInnen zu sein. Nach Angaben der unabhängigen Hilfsvereinigung für politische Gefangene (AAPP) sind es bisher 640.

Am 19. Februar fand eine riesige Begräbnisfeier für Mya Thwate Thwate Khaing statt, eine 20-jährige Supermarktangestellte, die in den Kopf geschossen wurde, als die Polizei das Feuer eröffnete, um DemonstrantInnen zu zerstreuen. Sie konnte 10 Tage lang noch mit lebenserhaltenden Maßnahmen gerettet werden, bevor sie kurz nach ihrem Geburtstag starb. Zwei weitere DemonstrantInnen, ein Teenager und ein Mann Anfang zwanzig, wurden in Mandalay getötet, als Truppen und Polizei mit scharfer Munition versuchten, die Menschenmenge zu zerstreuen.

Internationale Reaktionen

Der Sonderberichterstatter der UNO für Menschenrechte in Myanmar, Tom Andrews, erklärte: „Mit Wasserwerfern über Gummigeschosse bis hin zu Tränengas  feuern nun verstärkte Truppen aus nächster Nähe auf friedliche DemonstrantInnen. Dieser Wahnsinn muss ein Ende haben, jetzt.“

Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, Präsident Joe Biden und der US-Außenminister, Anthony Blinken, sowie führende Politiker der EU und Großbritanniens haben alle den Putsch verurteilt und Sanktionen gegen seine AnführerInnen angedroht. China hat jedoch geschwiegen, und der Grund dafür ist nicht schwer zu erkennen: der China-Myanmar-Wirtschaftskorridor, eine Reihe von Infrastrukturprojekten, die als Teil von Pekings „One Belt, One Road“ im Bau sind. Dieser wird China mit dem myanmarischen Hafen von Kyaukpyu am Indischen Ozean verbinden und es dem Handel ermöglichen, die Straße von Malakka zu umgehen, eine der verkehrsreichsten Schifffahrtsrouten der Welt und ein möglicher Punkt zur Abriegelung für die US-Marine in jedem internationalen Konflikt.

Die Beziehungen des Militärs zu China sind jedoch alles andere als gut, da die chinesische Regierung seit langem Waffen an die Kachin-RebellInnen geliefert und gute Beziehungen zu Aung San Suu Kyi gepflegt hat. Während China es gegen UN-Resolutionen schützen wird, wird der Putsch es sicherlich international isolieren zu einer Zeit, in der Myanmars Wirtschaft schwächelt.

Perspektive

Obwohl die tapfere Jugend und die ArbeiterInnen auf den Straßen der burmesischen Städte zweifellos auf die „westlichen Demokratien“ blicken, um ihnen zu Hilfe zu kommen, wird sich dies mehr auf wortreiche Verurteilungen als auf eine sinnvolle Aktion beschränken. Die Protestierenden werden auf ihre eigene Kraft setzen müssen, besonders auf den Generalstreik, um dem Militär zu zeigen, dass das Land stillstehen wird, bis es in seine Kasernen zurückkehrt.

Sollten die Generäle nachgeben, was ungeheuer demütigend wäre, zeigt die bisherige Bilanz, der legalen Regierungschefin Suu Kyi, dass sie immer noch ihre letzte Hoffnung sein könnte, um einen völligen Zusammenbruch des Regimes zu verhindern. Dies zeigt ihr Verhalten während der fünf Jahre, in denen ihre Nationale Liga für Demokratie (NLD) an der Regierung war. Besonders ihre Haltung zur ethnischen Säuberung der Rohingyas zeigt, dass sie bestenfalls eine sehr konservative Figur ist, deren Bekenntnis zur bürgerlichen Demokratie mit der Tatsache verbunden und ihr untergeordnet ist, dass sie mehrheitlich eine Bamar-Chauvinistin (Bamar: größte Ethnie Myanmars) ist. Sie hegt eindeutig nicht den Wunsch, die von ihrem Vater gegründete militärische Institution zu zerstören.

Trotzdem hat sie damit gedroht, ihre große parlamentarische Mehrheit zu nutzen, um Verfassungsänderungen vorzulegen, die den Anteil des Militärs an den Parlamentssitzen schrittweise von 25 Prozent, wie es die Verfassung von 2008 vorschreibt, auf nur fünf Prozent schrumpfen lassen. Dies hat sicherlich der dominierenden konservativen Fraktion der Tatmadaw den Wind aus den Segeln genommen, aber sollte der Coup ins Wanken geraten und nachgeben, wird zweifellos ein angeblich liberaler Flügel bereit sein, einen Deal mit Aung San Suu Kyi abzuschließen, und sie mit ihm.

Es ist daher dringend notwendig, dass im Zuge der Massenbewegung und der Generalstreiks alternative Machtorgane, Räte und Verteidigungsmilizen, aufgebaut werden und Kontakte in den Kasernen unter den einfache SoldatInnen ohne Befehlsgewalt hergestellt werden. Die gegenwärtige Bewegung muss von ihren begrenzten Forderungen, die NLD-Regierung wiederherzustellen und Suu Kyi aus dem Arrest zu befreien, zu revolutionären Zielen wie einer souveränen verfassunggebenden Versammlung übergehen, deren Delegierte gewählt werden und unter der Kontrolle der Massen stehen, ein Gremium, das alle Institutionen des burmesischen Staates und der Wirtschaft auf den Prüfstand stellen kann. Nur so kann eine konservative Restauration von Suu Kyi und der Erhalt der realen Macht der Generäle verhindert werden. Das Schicksal des Arabischen Frühlings 2011 in Ägypten sollte eine eindringliche Warnung sein.

Im Prozess der Kampagne für eine verfassunggebende Versammlung können SozialistInnen dafür kämpfen, eine demokratische in eine soziale Revolution zu verwandeln und eine ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenrätedemokratie aufzubauen. Nur dann wird das Gespenst künftiger Militärputsche für immer gebannt sein.




Nigeria: Jugend erhebt sich im #END SARS-Aufstand

Bernie McAdam, Infomail 1126, 14. November 2020

Am 7. Oktober löste ein in Umlauf gebrachtes Video eine Massenrevolte der nigerianischen Jugend aus, auf dem zu sehen ist, wie PolizeibeamtInnen der „Special Anti-Robbery Squad“ (SARS; Sondereinheit zur Bekämpfung von Raubüberfällen) einen Teenager töten. Der Mann, der das Video aufgenommen hatte, wurde festgenommen und es kam unter dem Hashtag #END SARS zu Massenmobilisierungen auf den Straßen. Die Polizei setzte Tränengas ein, um die Proteste aufzulösen. Stattdessen weiteten diese sich jedoch auf alle Ballungsräume Nigerias aus, insbesondere auf die größte Stadt Lagos sowie die Hauptstadt Abuja.

Ein solcher Aufstand zeichnete sich schon lange ab. Die Ermordung des Teenagers in Ughelli war kein einmaliger Akt der Brutalität, sondern der Wendepunkt für Jugendliche, die seit vielen Jahren unter den Schikanen und dem Terror der SARS gelitten hatten. Ihre BeamtInnen hatten sich für Morde, Erpressungen, Entführungen und Vergewaltigungen einen berüchtigten Ruf erworben, wobei die Jugend am häufigsten in der Schusslinie stand. Amnesty International hat in den letzten drei Jahren über mindestens 82 Fälle von Folter, Misshandlung und Mord durch SARS berichtet. Diese Zahl dürfte eine gewaltige Untertreibung sein.

Am 11. Oktober löste Präsident Muhammadu Buhari die SARS-Einheit auf und gründete eine neue namens „Special Weapons and Tactics“ (SWAT; Spezialwaffen und -taktiken). Im Grunde war es dieselbe Einheit unter einem anderen Namen. Doch niemand ließ sich von diesem Trick täuschen, war es doch bereits das fünfte Mal in fünf Jahren, dass sie „reformiert“ wurde. Es folgten mehr und größere Proteste und #END SARS wurde zu #END SWAT. Buhari reagierte mit noch mehr Repression und versuchte am 20. Oktober, eine 24-stündige Ausgangssperre in Lagos durchzusetzen. Lagos ist mit 14,5 Millionen Einwohnern die bevölkerungsreichste Stadt Afrikas, einige Schätzungen gehen sogar von 23 Millionen in der gesamten Metropolregion aus.

In der Nacht setzten sich die DemonstrantInnen über die Ausgangssperre hinweg. An der Mautstation Lekki in Lagos eröffnete das Militär das Feuer, wobei mindestens zwölf Menschen getötet und viele weitere verwundet wurden. Ursprünglich leugneten sie es, aber Reuters berichtete, dass an diesem Tag in ganz Nigeria 46 Menschen getötet wurden. Die Revolte weitete sich aus und verstärkte sich durch Straßensperren und Angriffe auf Polizeistationen und Mautstellen. Es kam auch zu Plünderungen, was angesichts der weit verbreiteten extremen Armut nicht überrascht. Bewaffnete Schlägertrupps griffen in mehreren Gebieten friedliche DemonstrantInnen an, zweifellos orchestriert von der Polizei.

Die internationale Solidarität war groß und kam einerseits von prominenten MusikerInnen wie Rihanna, Beyoncé (Knowles-Carter), Noname (Fatimah Nyeema Warner), Drake (Graham), Diddy (Sean Combs), Trey Songz und Jack (Patrick) Dorsey (Mitgründer von Twitter), die die Jugend unterstützen, sowie durch Demonstrationen in den USA und in London. Auch in Nigeria hat der Sohn des verstorbenen Afrobeatpioniers Fela Kuti, Seun Kuti, der selbst Musiker ist, die Regierung und die Polizei verurteilt. Felas Familie ist seit langem Ziel des Militärs. Seun steht in dieser Tradition und war versessen, darauf hinzudeuten: „Wenn die Reichen plündern können, dann können es die Armen auch“, ein Hinweis auf den Diebstahl nigerianischer Ressourcen durch den Imperialismus und seine AuftraggeberInnen.

Auf der Kippe

Die Jugendrevolte findet vor dem Hintergrund einer großen Krise der nigerianischen Wirtschaft statt. Tatsächlich machen Jugendliche unter 18 Jahren die Hälfte der Bevölkerung aus und Arbeitslosigkeit hat sie besonders hart getroffen. Die nigerianische Arbeitslosenquote für das zweite Quartal 2020 liegt bei 27,1 Prozent, was 21,7 Millionen Menschen ohne Arbeit bedeutet. Weitere 28,6 Prozent sind unterbeschäftigt. Bei den 15- bis 34-Jährigen sind 13,9 Millionen Menschen arbeitslos.

Zwischen 2000 und 2014 wuchs Nigerias BIP um durchschnittlich 7 Prozent pro Jahr. Nach dem Verfall des Ölpreises in den Jahren 2014 – 2016 sank das BIP-Wachstum auf 2,7 Prozent im Jahr 2015. Das Land ist der größte Ölexporteur Afrikas. Im Jahr 2016 erlebte die Wirtschaft die erste Rezession seit 25 Jahren. Seither lebt die Hälfte der Bevölkerung weiter in Armut.

Die Auswirkungen der Pandemie werden sich als katastrophal erweisen. Die Weltbank berichtet, dass der Einbruch des Ölpreises die Wirtschaft voraussichtlich in eine schwere Rezession stürzen wird, die schlimmste seit den 1980er Jahren. Öl macht mehr als 80 Prozent der nigerianischen Exporte, 30 Prozent der Kredite des nigerianischen Bankensektors und 50 Prozent der gesamten Staatseinnahmen aus. Mit dem Rückgang des Ölpreises werden die Einnahmen voraussichtlich von bereits niedrigen 8 Prozent des BIP im Jahr 2019 auf voraussichtlich 5 Prozent im Jahr 2020 sinken.

In der Zwischenzeit frisst die Pandemie private Investitionen auf und verringert die Geldüberweisungen aus der Diaspora an nigerianische Haushalte. Dies ist von besonderer Wichtigkeit für die Wirtschaft, so machten die Überweisungen im Jahr 2012 beispielsweise 5 Prozent des BIP aus. Die nigerianische Gemeinschaft in den USA trägt wesentlich dazu bei, da sie die am besten ausgebildete und professionellste aller MigrantInnengemeinschaften dort verkörpert. Trump konnte seinen Dank dafür, dass er dem Land seine Talente entzogen hat, nur durch ein Reiseverbot für NigerianerInnen (aus vermeintlichen Sicherheitsgründen!) zum Ausdruck bringen.

Es gibt natürlich noch andere Probleme, mit denen Nigeria konfrontiert ist, nicht zuletzt der islamistische Boko-Haram-Aufstand im Nordosten, der über 20.000 Tote und 2 Millionen Vertriebene gefordert und 6 Millionen Menschen durch die Verschärfung der Armut in Mitleidenschaft gezogen hat. Die Weltbank hat die fürstliche Summe von 200 Millionen US-Dollar Kredit zur Unterstützung dieser Krise im Nordosten zur Verfügung gestellt, ein Tropfen auf den heißen Stein, der jedoch zu den zahlreichen Darlehen und Krediten hinzukommt, die das Land seit 1958 angehäuft hat.

Nigeria ist durch seine Schulden sehr stark an den Weltimperialismus gebunden, der in Gestalt der multinationalen Öl- und Gaskonzerne seine Ressourcen erbarmungslos ausbeutet und im Nigerdelta eine Umweltverschmutzung epischen Ausmaßes verursacht. Hinzu kommen Finanzinstitutionen wie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF), die die Zinsen für Kredite einstreichen und die Sparagenda für die Regierungen festlegen. Der IWF hat vor kurzem einen Notfallkredit in Höhe von 3,4 Milliarden US-Dollar bewilligt, um den Auswirkungen der Pandemie auf die Wirtschaft entgegenzuwirken.

Schon vor diesem Darlehen gab es unter Buhari eine Steigerung der Staatsverschuldung um 73 Milliarden US-Dollar. Seine Reaktion darauf war, selbst mitten in der Pandemie zu kürzen. In diesem Jahr wurde eine ganze Reihe von Sparmaßnahmen umgesetzt, darunter Erhöhungen der Preise, der Mehrwertsteuer, der Brennstoff- und Strompreise usw. Die beiden Gewerkschaftsverbände, National Labour Congress (NLC) und Trades Union Congress (TUC), riefen im September zu einem unbefristeten Generalstreik auf, um die Benzin- und Strompreiserhöhungen zu stoppen.

Am Vorabend des Streiks gaben die GewerkschaftsführerInnen jedoch nach und brachen ihn ab, ohne irgendwelche Zugeständnisse von der Regierung zu erhalten. Es hatte großen Druck von der Basis gegeben, die unbedingt Aktionen durchführen wollte, weshalb es in der Folge einen Sturm von Denunziationen aus Gewerkschaftsgrundeinheiten und Straßenproteste gegen diesen Ausverkauf gab. Dies veranschaulicht die Notwendigkeit einer alternativen kämpfenden Führung in den Gewerkschaften und einer, die in der Lage ist, sich zu organisieren und eine breite Basisopposition in der gesamten Bewegung aufzubauen, die sich auf die Perspektive stützt, auch ohne die Führung zu handeln, wo nötig.

Von der Rebellion zur Revolution

Das Ausmaß des #END SARS-Aufstands zeigt, dass es hier nicht nur um SARS ging, sondern vielmehr um eine tief sitzende Entfremdung der Jugend von der endemischen Korruption und Armut, die Nigeria befallen hat. Die Bewegung war spontan und führerlos. Frühe Mobilisierungen beanspruchten keine politische Führung und verteilten keine Flugblätter. Die Militanz verstärkte sich parallel zum Ausmaß der Angriffe der Polizei und des Militärs, als die DemonstrantInnen begannen, den Sturz der Regierung zu fordern.

Diese fünf Forderungen sind aus der Bewegung hervorgegangen:

  • Die sofortige Freilassung aller verhafteten DemonstrantInnen.
  • Gerechtigkeit für alle verstorbenen Opfer von Polizeibrutalität und angemessene Entschädigung für ihre Familien.
  • Die Einrichtung eines unabhängigen Gremiums, das die Untersuchung und Strafverfolgung aller Berichte über polizeiliches Fehlverhalten beaufsichtigt (innerhalb von 10 Tagen).
  • Psychologische Beurteilung und Umschulung (die von einem unabhängigen Gremium bestätigt werden muss) aller entlassenen SARS-BeamtInnen, bevor sie wieder eingesetzt werden können, im Einklang mit dem neuen Polizeigesetz.
  • Ein erhöhtes Polizeigehalt, damit sie für den Schutz von Leben und Eigentum der BürgerInnen angemessen entlohnt werden.

Die Forderungen fassen den berechtigten Ruf nach einem Ende der Repression perfekt zusammen, aber der „Mangel an Politik“ oder, genauer gesagt, die Illusionen in den Staat, kommen in den letzten beiden Forderungen klar zum Ausdruck. Die Polizei ist, ebenso wie die Streitkräfte und die Justiz, ein integraler Bestandteil der Kontrolle des kapitalistischen Staates über die Ausgebeuteten und Unterdrückten. Ihre repressive Rolle wird sich nicht dadurch ändern, dass man ihnen mehr Geld gibt! Revolutionäre SozialistInnen müssen klar benennen, dass es keine friedliche Reformierung dieser Organe gibt, solange der Kapitalismus bestehen bleibt.

Es ist jedoch noch verblüffender, dass einige SozialistInnen inmitten eines Massenkampfes gegen die Polizei fordern, eine korrupte und brutale Polizeieinheit mit einer Gehaltserhöhung zu belohnen. Diese Forderung wurde von zwei der sogenannten revolutionären Gruppen in Nigeria aufgegriffen. Die dem kürzlich gespaltenen Committee for a Workers‘ International (CWI) angehörige Democratic Socialist Movement (DSM) und seiner ehemaligen Mehrheit und Abspaltung (International Socialist Alternative) zugehörige Movement for a Socialist Alternative (MSA) plädieren beide dafür, dass Polizeigewerkschaften neben Gemeindekomitees die Polizei kontrollieren sollten.

Es ist sicherlich notwendig, Forderungen zur Polizei in Bezug auf ihre Entwaffnung und Schwächung ihrer repressiven Rolle zu stellen, aber dies kann nicht außerhalb eines Kampfes zur Zerschlagung des kapitalistischen Staates und zum Aufbau neuer Selbstverteidigungsorgane für ArbeiterInnen und die Jugend stattfinden. Die Polizei beschäftigt keine „ArbeiterInnen in Uniform“, sondern die AgentInnen an vorderster Front des Staates, deren Existenzgrund hauptsächlich auf der Niederschlagung des Kampfes der ArbeiterInnenklasse beruht. Wir sollten die Polizeigewerkschaften aus den Gewerkschaftsverbänden hinauswerfen, so wie wir alle StreikbrecherInnen ausschließen würden.

Dieselben Gruppen haben zu Recht dafür plädiert, dass sich die organisierte ArbeiterInnenklasse solidarisch zeigt, aber sie haben kein zielgerichtetes Aktionsprogramm skizziert, das den derzeit begrenzten in einen allgemeinen Kampf um die Macht der ArbeiterInnen verwandeln könnte. Die Liga für die Fünfte Internationale ist der Ansicht, dass ein solches Programm die Hauptwaffe einer revolutionären Partei zur Bereitstellung einer Übergangsstrategie zum Sozialismus sein sollte. Die Hauptachsen eines solchen Programms wären: Bildung von Aktionsräten und einer ArbeiterInnenmiliz mit dem Ziel einer ArbeiterInnenregierung, die diesen Organen gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Das Versäumnis dieser Gruppen, diese Schlüsselforderungen für eine revolutionäre Organisation aufzustellen, steht im Einklang mit ihrem Nachtraben hinter der Bewegung und ihrem Unverständnis der marxistischen Staatstheorie.

Wie weiter?

Die #END SARS-Bewegung befindet sich derzeit an einem Scheideweg. Die „Koalition der Protestgruppen“ sagt: „Wir werden die physischen Proteste depriorisieren“, „aufräumen“ und online gehen und, noch bedenklicher: „Wir haben eine vielfältige Gruppe vorgeschlagen, die die verschiedenen Koalitionen repräsentieren soll; von Prominenten bis AktivistInnen, von JuristInnen bis StrategInnen, von JournalistInnen bis UnternehmerInnen.“ Wohl kaum eine Ansprache an die ArbeiterInnen und Armen! Wer trifft eigentlich diese Entscheidungen, wenn immer behauptet wird, es gäbe keine AnführerInnen?

Die anfängliche Spontaneität und Dynamik der Rebellion dürfen nicht zerstreut, sondern müssen in einer Bewegung gebündelte werden, die sich demokratisch treffen, vorwärtsweisende Forderungen formulieren und über eine politische Richtung entscheiden kann. Demokratie ist von wesentlicher Bedeutung. „Führungslose“ Bewegungen haben nämlich durchaus AnführerInnen, die jedoch niemandem Rechenschaft schuldig sind. Ohne klares Ziel riskieren sie, dass die Bewegung sich ohne klaren Weg nach vorn zerstreuen, wenn nicht gar auflösen könnte und Präsident Buhari auf diese Weise seinen Kopf aus der Schlinge zöge.

Aus diesem Grund sollten demokratische Massenversammlungen der Jugend organisiert werden, um die Kontrolle über die Bewegung zu übernehmen. Diese Gremien könnten zu embryonalen Aktionsräten mutieren, organisiert in allen Regionen. Sie sollten sich vernetzen und auf nationaler Ebene koordiniert werden. Sie sollten versuchen, ArbeiterInnenorganisationen, StudentInnen, Frauen, Arbeitslose und natürlich die Jugend einzubeziehen. Die Räte sollten die standhaftesten Verteidiger demokratischer Rechte sein, aber es ist entscheidend, dass auch ein Kampf gegen die Sparpolitik und Korruption Buharis und des Imperialismus aufgenommen wird. Sie sollten einen Generalstreik organisieren, um die Regierung Buhari zu stürzen.

Der Kampf gegen SARS hat Hunderttausende von Jugendlichen gegen den Staat zusammengebracht, einen Staat, der für Korruption, endemische Armut, Umweltverschmutzung und Kollaboration mit dem Imperialismus steht. Die radikalisierte Jugend muss politische Antworten und Lösungen für die sich entfaltende Wirtschaftskrise in Nigeria fordern und die Einheit mit der organisierten ArbeiterInnenklasse anstreben. Es ist unerlässlich, dass die nigerianische ArbeiterInnenklasse ihre Solidarität mit der Jugend zeigt. NLC und TUC haben die Jugend verbal unterstützt, zeigen aber keine Anzeichen für Aktion. Anstatt also auf diese BürokratInnen des Ausverkaufs der Gewerkschaftsverbände zu warten, muss die Basis in den Betrieben und in den Gewerkschaftsgruppen unabhängig innerhalb der Gewerkschaften mobilisieren und zur Unterstützung der Jugend und zur Verteidigung ihres Lebensstandards streiken.

Wie wir bereits gesehen haben, wird jede gegen den Staat gerichtete Bewegung physisch angegriffen werden. Das gilt für Demonstrationen ebenso wie für Streiks. Die Frage der Selbstverteidigung gegen die Streitkräfte und staatlich geförderte Schlägertrupps ist von entscheidender Bedeutung. Sie kann nicht durch Aufrufe zur Reform der Polizei weggewischt werden. Demokratische Versammlungen, die auf Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse und der Jugend basieren, sollten nicht nur Ordnerdienste für Demos leisten, sondern disziplinierte und bewaffnete Einheiten organisieren, die eine wirksame Form der Verteidigung am Arbeitsplatz wie auch in der Wohngemeinde darstellen.

Die Entwicklung von Aktionsräten und ihre Verteidigung wird auf konkrete Weise die Frage aufwerfen, wer in der Gesellschaft regiert. Wir fordern alle FührerInnen der ArbeiterInnenklasse auf, mit dem Kapitalismus zu brechen und eine ArbeiterInnenregierung auf der Grundlage demokratischer ArbeiterInnenräte zu bilden, um die Krise im Interesse der ArbeiterInnenklasse zu lösen. Das bedeutet, die Schulden bei IWF/Weltbank zu streichen, die Industrie und die Banken zu enteignen und die Kontrolle der ArbeiterInnen über sie anzuerkennen. Es bedeutet auch, die ernsten Landprobleme in Nigeria wie im Konflikt zwischen Bauern/Bäuerinnen und HirtInnen anzugehen und die Unterstützung der armen Landbevölkerung zu gewinnen.

Schließlich wird diese Perspektive ohne eine revolutionäre Partei nicht verwirklicht werden können. Seit dem Ende der Militärherrschaft 1999 wurde Nigeria durch einen doppelten Fluch in Gestalt zweier korrupter offen bürgerlicher Parteien, dem „All Progressives Congress“ und der „People‘s Democratic Party“ gebeutelt. Die NLC-BürokratInnen haben halbherzige Versuche unternommen, eine kleine nigerianische ArbeiterInnenpartei zu gründen. Die Notwendigkeit einer neuen ArbeiterInnenmassenpartei wird von Tag zu Tag offensichtlicher, und RevolutionärInnen würden in ihr für einen vollständigen politischen Bruch mit den Bossen und dem Kapitalismus und für ein revolutionäres sozialistisches Programm eintreten.

Die Linke in Nigeria wie die DSM und die MSA, die beide anscheinend die „Sozialistische Partei Nigerias“ aufbauen, sowie die „Campaign for a Workers‘ and Youth Alternative“ (CWA; Kampagne für eine ArbeiterInnen- und Jugendalternative) der Internationalen Marxistischen Tendenz und die „Joint Action Front“ (Gemeinsame Aktionsfront, Koalition von ArbeiterInnen- und BürgerInnengruppen) sollten eine neue MassenarbeiterInnenpartei fordern. Parallel dazu sollten sie für ein revolutionäres Programm kämpfen, das unmissverständlich zur Zerschlagung des kapitalistischen Staates durch ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen in Nigeria aufruft. Ein ArbeiterInnenstaat, der sich auf Delegiertenräte von Arbeitsplätzen, Schulen, Universitäten, Gemeinden usw. stützt und von einer ArbeiterInnenmiliz verteidigt wird, muss sich an die Aufgabe machen, einheimisches und ausländisches Kapital zu enteignen und die nigerianische herrschende Klasse auf den Müllhaufen der Geschichte zu entsorgen.




100 Jahre Münchner Räterepublik

Jürgen Roth, Neue Internationale 236, April 2019

Am 7. November 1918 wurde der König
davongejagt. Spontan entstand ein ArbeiterInnen-, Soldaten- und
Bauern-/Bäuerinnenrat. Bayern wurde zum „Volksstaat“ erklärt. Die provisorische
Regierung bestand aus 3 unabhängig-, 4 mehrheits-sozialdemokratischen und einem
parteilosen Minister. Ministerpräsident war Kurt Eisner (USPD). Sie stützte
sich auf einen provisorischen Nationalrat, in dem die Räte neben den alten
Landtagsfraktionen und diversen Berufsorganisationen vertreten waren.

Die USPD verfolgte auch in München ihre
bekannte Linie, die Räte in die zukünftige Verfassung zu inkorporieren. Die
Anordnung „Organisation und Befugnisse der Arbeiterräte“ vom 17.12.1918 gestand
den Räten ausdrücklich keine Vollzugs- oder Kontrollgewalt zu. Im Gegenteil,
sie verfügte noch die Trennung der ArbeiterInnen- von den Soldatenräten,
unterstellte die Bauern-/Bäuerinnenräte dem Innenministerium und wies den
ArbeiterInnenräten untergeordnete Amtspflichten als Hilfsorgane der Bürokratie
zu. Justiz, Polizei und Beamtenapparat blieben intakt.

Die MehrheitssozialdemokratInnen hatten mit
Unterstützung aller GegenrevolutionärInnen die Landtagswahlen am 12. Januar
1919 durchgesetzt und die zentristische Verzögerungstaktik Eisners durchkreuzt.
Die USPD verlor dabei enorm. Die MSPD wurde zweitstärkste Partei. Die KPD
beteiligte sich nicht.

Der Zusammentritt des Landtags verzögerte
sich angesichts der ungeklärten Lage, solange die Machtfrage noch nicht
entschieden war. In Bayern war die nicht demobilisierte Reichswehr immer noch
die bewaffnete Macht. Versuche der Bildung von Bürgerwehren hatten die
A&S-Räte verhindert. Nur die Republikanische Soldatenwehr in München unter
Aschenbrenner hatte sich für die Zwecke der alten Ordnungsparteien als
zuverlässig genug erwiesen.

Die Ermordung Eisners

Der populärste Mann Bayerns wurde am
21.2.1919 erschossen, als der Landtag zusammentreten sollte. Der Attentäter
Graf Arco-Valley war Reaktionär und mit Innenminister Erhard Auer (MSPD)
befreundet. Der Zorn der Massen schlug die Abgeordneten in die Flucht. In
mehreren Städten traten die ArbeiterInnen in den Generalstreik. Der durch
VertreterInnen der SPD und Gewerkschaften neu konstituierte Zentralrat übernahm
die Regierungsgeschäfte. Levien (KPD) u. a. schieden daraufhin aus ihm aus. Der
ZR kam zu einer „Grundlage der Einigung“: die Räte sollten verfassungsmäßig
verankert werden, ein sozialistisches Ministerium entstehen, das bis zur neuen
Verfassung gemeinsam mit einem/r vom Bauern-/Bäuerinnenbund zu stellenden
LandwirtschaftsministerIn regieren sollte. Je 1 Mitglied der 3 Rätesparten
sollte beratendes Stimmrecht im Ministerrat genießen, das stehende Heer durch
eine republikanische Schutzwehr ersetzt werden. Die „Verfassungsmäßigkeit der
Räte“ – abhängig von der Zustimmung durch die große Mehrheit der
GegenrevolutionärInnen im Landtag – war der Köder für die Massen.

Der Rätekongress

Er tagte vom 25.2. bis zum 8.3.1919. Neben
endlosen Debatten versuchten sich SPD und USPD auf einen Weg aus dem Schwebezustand
heraus zu einigen, in dem der Rumpf der alten Regierung neben dem ZR regierte
(Nürnberger Kompromiss). Der Landtag wählte am 17. März eine neue Regierung
unter Hoffmann (MSPD). Ausgestattet mit weitreichenden Befugnissen und
Rückendeckung durch die ZR-Mehrheit hing sie weiter in der Luft. Die
bürgerlichen Parteien duldeten sie als Bollwerk gegen den Bolschewismus.

Die SPD wollte zunächst eine offene
Koalition mit den Bürgerlichen vermeiden, um die Massen nicht an Unabhängige
und KommunistInnen zu verlieren. Außer Versprechen über „Vorbereitungen zur
Sozialisierung“ hatte Hoffmanns Ministerium aber nichts anzubieten.

Die Riesenstreiks im Ruhrgebiet, in
Mannheim, Stuttgart, die drohenden Ausstände in anderen Gebieten, die Ausrufung
der ungarischen Räterepublik, militärische Erfolge der sowjetischen Roten Armee
wirkten sich auch in Bayern aus. Die Sympathie mit den KommunistInnen, an deren
Spitze der Anfang März nach München entsandte Leviné stand, nahm zu, wenn auch
die Partei nicht in gleichem Tempo ausgebaut werden konnte.

Die Scheinräterepublik

Am 3.4. forderte eine Versammlung der MSPD
(!) in Augsburg die Ausrufung der Räterepublik. Der „linke“ Sozialdemokrat und
ZR-Vorsitzende Niekisch fuhr mit dieser Forderung ins Münchner
Kriegsministerium. Einige Minister waren sich bereits mit den Führungen der
MSPD, USPD und den AnarchistInnen einig. SPD, USPD und KPD sollten paritätisch
die MinisterInnen stellen, die Regierung Hoffmann werde sich damit abfinden.
Die KommunistInnen schlossen prinzipiell die Zusammenarbeit mit der MSPD in
einer Regierung aus, aber auch eine am grünen Tisch künstlich geschaffene
Räterepublik ohne Massenaktion. Die Verhältnisse in Deutschland und
insbesondere Bayern seien dafür nicht reif. Sie wurden als VerräterInnen am
Proletariat denunziert. Um vorher noch Nordbayern zu gewinnen, sollte die
Proklamation der Räteherrschaft auf den 7.4. verschoben werden. Die Regierung
Hoffmann verzog sich nach Bamberg, nahm ihr wichtigstes Instrument – die
Notenpresse – mit. Ihr Kriegsminister Schneppenhorst, der in Nordbayern für die
Räterepublik trommeln wollte, fuhr nach Nürnberg und kam später mit den
Nosketruppen zurück.

Der Erklärung der KPD lag folgende
Einschätzung zugrunde: für AnarchistInnen, Unabhängige und
MehrheitssozialistInnen verkörperte die Räterepublik nicht etwas grundsätzlich
Neues, eine Revolution der Gesellschaft, sondern einen rein formellen
Regierungswechsel. Die Ministerriege würde in einer bürgerlichen Republik, die
mit etwas „Räteöl“ in Form der „Mitbestimmung“ durch einzelne RäteministerInnen
gesalbt war, weiter wie bisher verfahren können.

AnarchistInnen und USPD hofften auf ein
„sozialistisches Ministerium“, das unabhängig vom Landtag würde arbeiten
können. Schneppenhorsts Verhalten bewies, dass es sich für ihn bei der Unterstützung
für die Proklamation der Räterepublik um einen Trick handelte, eine
Provokation, um alle konterrevolutionären Kräfte aufzurütteln, weiße Garden zu
bilden.

Die „Münchner Rote Fahne“ nannte die
Scheinrepublik ein „Werk abhängiger und unabhängiger Kompromissler und
phantastischer Anarchisten“. Der alte Beamten-, Polizei- und Justizapparat
blieb unbehelligt, „sozialisiert“ wurden Universität und Presse (!), letztere
aber nicht mal zensiert. Die Bankkonten der Reichen wurden erst gesperrt, als
die Frage der Lohnauszahlung drängte. Auch bei der Bewaffnung der
Arbeiterschaft wurde gestümpert; 600 Gewehre waren die ganze „bewaffnete
Staatsmacht“. Das Bürgertum wurde nicht entmachtet. Die Räteregierung wurde nur
in Oberbayern anerkannt. Die KPD erklärte trotzdem ihren festen Willen, selbst
die Scheinräterepublik gegen die Reaktion zu verteidigen.

 Die 2. Räterepublik – eine echte ArbeiterInnenregierung

Am Sonntag, dem 13. April, verhaftete die
Republikanische Schutzwehr einige Minister, besetzte öffentliche Gebäude und
überfiel eine Sektionsversammlung der KPD. Diese rief zu den Waffen. Am Abend
war der gegenrevolutionäre Putschversuch gescheitert. Betriebs- und
Kasernenräte tagten. Ein 15-köpfiger Aktionsausschuss aus SozialdemokratInnen,
Unabhängigen und KommunistInnen löste den ZR der Scheinräteregierung ab.

Die KommunistInnen beherrschten den
Ausschuss allerdings durch ihre revolutionäre Erfahrung, ihr klares Programm
für die Machtübernahme. Nicht dass sie die Aussichten für die
Überlebensfähigkeit der Rätemacht jetzt günstiger einschätzten, entschied ihren
Eintritt in die 2. Räteregierung. Die revolutionären ArbeiterInnen – gerade
erst siegreich – würden aber gegen den anmarschierenden Feind so oder so
kämpfen müssen. Wenn die KPD sich an ihre Spitze stellte, dann minimierte das
die demoralisierenden Auswirkungen einer Niederlage.

Die bewaffnete Macht ging von der regulären
auf die Rote Armee unter Kommando des Matrosen Rudolf Eglhofer über. Die
Ordnungsgewalt übten Rote Garden aus, nachdem die bürgerliche Polizei
entwaffnet wurde. Die Stadtverwaltung wurde den Betriebsräten übertragen, die
Räteregierung durch Neuwahlen der A&S-Räte bestätigt. Die bürgerliche
Justiz wurde durch ein Revolutionstribunal ersetzt. Zur Sicherung der Ernährung
wurden Beschlagnahmeaktionen durchgeführt, jede Kontenabhebung wurde
kontrolliert. Während des Generalstreiks erschienen nur die „Mitteilungen des
Vollzugsrats“, nachher die Organe der ArbeiterInnenpresse. Die bürgerliche
Presse blieb verboten. Telefon und Telegraph wurden ständig überwacht. Die
Betriebe begannen mit der Sozialisierung von unten. Auch militärisch gab es
Erfolge zu verzeichnen.

Doch die inneren Streitigkeiten mit der
USPD wuchsen. Toller, Klingelhöfer und Maenner sprachen sich vor den
Betriebsräten am 26. April gegen die KommunistInnen und für eine Kapitulation
vor der Hoffmann-Regierung aus. KPD und Rote Armee trotzten der Absetzung der
KommunistInnen durch die eingeschüchterten Räte und kämpften bis zum 3. Mai.
Dann hatten die KonterrevolutionärInnen endgültig München erobert.

KPD-Politik

Wesentliche Elemente des Bolschewismus
schlugen sich in der Politik der jungen Organisation im Unterschied z. B. zur
wesentlich stärker verankerten Bremer KPD nieder. Kritik an reformistischen,
anarchistischen, populistischen und zentristischen Konzeptionen und deren
führenden VerfechterInnen paarte sich mit flexibler Einheitsfronttaktik
(Verteidigung der 1. „Räterepublik“). Es wurde betont, dass sich die KPD nur an
einer echten ArbeiterInnenregierung beteiligen würde wie an der der 2.
Räterepublik vom 14.-27. April 2019.

Ihr gelang lediglich unter dem Druck der
Ereignisse und der Zeit nicht mehr der entscheidende nächste Schritt zu ihrem
Ziel: Etablierung einer Münchner Kommune – die Auflösung der Reste der
Reichswehr im Stadtgebiet. Sie widersetzte sich auch ihrer Abwahl durch die
Räte am 27. April und stellte die Führung der militärischen Operationen gegen
die Weißen. Die bayrische KPD hat damit mehr Weitblick und Mut, mehr
Verantwortungsbewusstsein vor der Revolution bewiesen als die ZweiflerInnen an
der Richtigkeit des Eintritts in die 2. Räteregierung in der KPD-Zentrale.

Eugen Leviné stellte nach seiner Ankunft in
München deren Politik zunächst sicher, damit die örtliche KPD keine
Abenteuerpolitik wie beim sog. Spartakusaufstand oder der Ausrufung der Bremer
Räterepublik betrieb. Andererseits schloss die lokale Organisation ebenso
richtig die Beteiligung an einer unechten, bürgerlichen ArbeiterInnenregierung
aus, wie sie die Bremer Räterepublik verkörperte.

Schwächen

Ihre Schwächen blieben wie im übrigen
Reich: unklare bzw. unzureichende Wahlberechtigungskriterien für die Räte
(Benachteiligung von Frauen, keine Beschränkung des Wahlrecht in den
Soldatenräten auf die proletarischen Mannschaftsdienstgrade), Unverständnis von
revolutionärem Parlamentarismus (Ausnutzen der Parlamentstribüne, keine
Forderung nach einer Konstituante). In der verfassunggebenden Versammlung hätte
die KPD ein Programm für die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates
einbringen und an einen der wenigen positiven Beschlüsse des 1.
Reichsrätekongresses anknüpfen müssen, die sog. Hamburger Punkte
(disziplinarische und Kommandogewalt in der Armee bei den Räten, Wahl der
Kommandeure etc.).

Diese Schritte zur Abschaffung des
stehenden Heeres, zu einer echten Volksbewaffnung hätten nur unter einem
Räteregime, nach Aufbau und Sieg roter Arbeiterinnenmilizen eingeleitet werden
können. Die Verknüpfung der Demokratiefrage mit den Hamburger Punkten hätte ein
einigendes Band zwischen AnhängerInnen einer Rätediktatur und SPD- wie
USPD-Mitgliedern, aber auch weitverbreitetem kleinbürgerlichen Antimilitarismus
schmieden und damit den möglichen Wendepunkt in Richtung Revolution in
Permanenz in ganz Deutschland darstellen können.




100 Jahre Bremer Räterepublik

Jürgen Roth, Neue Internationale 235, Februar 2019

Jede Revolution
kennt Situationen des Voranstürmens der kämpferischsten Elemente, der
Avantgarde der ArbeiterInnenklasse. Die revolutionäre Ungeduld bildet eine
Triebkraft dieser Entwicklungen, eine andere das Kalkül der Konterrevolution,
diese Schichten in einen vorschnellen „Entscheidungskampf“ zu drängen, um sie
isoliert leichter schlagen zu können. Der sog. Spartakusaufstand und die
Münchner Räterepublik sind wohl die bekanntesten Phänomene dieser Art in der
deutschen Revolution. Ihren Niederlagen folgten blutige Repression, Tod und
Mord und die Konsolidierung der Konterrevolution.

Während
„Spartakusaufstand“ und Münchner Räterepublik, die Ermordung von KommunistInnen
wie Luxemburg, Liebknecht, Leviné weithin bekannt sind, fristet die Bremer
Räterepublik eher ein Schattendasein.

Sonderentwicklung

Es macht daher
Sinn, sich vorweg die Sonderentwicklung der Bremer ArbeiterInnenbewegung vor
Augen zu halten, die schon während des Krieges einen vergleichsweise starken
und bewussten revolutionären Flügel in Form der „Bremer Linksradikalen“
hervorbrachte.

Während des
Krieges entwickelte sich das Kräfteverhältnis zwischen den Flügeln im
Sozialdemokratischen Verein Bremen (SPD) anders als im übrigen Deutschland.
Bereits im Januar 1915 wurde ein Diskussionskreis vornehmlich oppositioneller
FunktionärInnen gegründet – der „Indianerclub“. Schon 1916 wurden etliche
Parteirechte aus ihren Ämtern abgewählt. Sie schufen daraufhin die Zeitung
„Bremer Correspondenz“ (Januar-Dezember 1916), während die Linksradikalen ihre
Wochenschrift „Arbeiterpolitik“ auflegten (24.6.1916-Frühjahr 1919). Am
1.12.1916 beschloss die linke Mehrheit eine Beitragssperre gegenüber dem
Reichsparteivorstand. Dieser schloss daraufhin die Bremer Organisation aus. Die
lokale Parteirechte gründete im Dezember 1916 eine Sonderorganisation,
Vorläuferin der späteren MSPD, der (Reichs-)Mehrheitssozialdemokratie. Der
Reichsparteivorstand übergab ihr das lokale Parteiorgan „Bremer Bürgerzeitung“
(BBZ).

Im Mai gründete
Alfred Henke die Bremer Organisation der Unabhängigen (USPD), die damit aus der
mit den Linken gemeinsamen Partei ausscherten. Diese gründeten sich am
23.11.1918 als „Internationale Kommunisten Deutschlands“ (IKD) neu, gaben ab
27.11.1918 die Tageszeitung „Der Kommunist“ heraus und schlossen sich der KPD
an.

In Zimmerwald
und Kienthal standen die Bremer Linksradikalen aufseiten der Bolschewiki.
Vergleichbar den Revolutionären Obleuten im Reich und im Unterschied zum
Spartakusbund verfügten sie durch ein gut ausgebautes Vertrauensleutesystem
über entscheidenden Einfluss auf die 10.000 ArbeiterInnen der Weserwerft, dem
bedeutendsten Industriebetrieb der Stadt.

Der Kampf um
Bremen: Räte
konstituieren sich

Nach
Massenversammlungen am 4. und 5. 11. brach am 6.11. der revolutionäre Sturm
los. Der am Morgen gewählte ArbeiterInnenrat (AR) der Weserwerft befreite
Militärgefangene aus dem Gefängnis in Oslebshausen, Matrosenmeuterer
entwaffneten auf dem Bahnhof die Begleitmannschaft. Am Abend kündigte der USDP-Linke
Frasunkiewicz die Bildung eines ArbeiterInnen- und Soldatenrats (AuSR) an. Am
9.11. mussten die Offiziere auf Druck der WerftarbeiterInnen den Soldatenrat
(SR) räumen. Der Senat (die bürgerliche Stadtregierung) bewilligte gleiches
Wahlrecht zum Parlament, gegen das er noch am 6.11. sein Veto eingelegt hatte.
Dieses verspätete Zugeständnis rettete ihn aber nicht, er wurde am 14.11.
abgesetzt.

Am 24.11.
stimmte der AuSR zwar gegen die proletarische Diktatur, aber für die Bewaffnung
der IndustriearbeiterInnenschaft und die Verwandlung der BBZ in sein eigenes
Presseorgan. Doch der letzte Beschluss wurde nicht umgesetzt, da die MSPD mit
Auszug drohte. Mit Unterstützung durch den Soldatenrat übernahm schließlich am
21.12. die USPD die BBZ und bootete so auch die KPD aus.

Die Banken
bereiteten dem Rat Kreditschwierigkeiten. Am 9.12. lehnte er zwar einen Antrag
auf volle Wiedereinsetzung von Senat und Bürgerschaft (Stadtparlament) ab, eine
Antwort auf die Erpressung durch die Banken hatte er aber nicht.

Das am 11.12.
eingezogene Reserve-Infanterie-Regiment 213 versuchte der offen
konterrevolutionäre Bürgerausschuss auf seine Seite zu ziehen. Doch dem SR
gelang dessen Demobilisierung. Am 30.12. gelangte das 75. Infanterie-Regiment
(ca. 600 Mann) vor der Stadt an und erhob konterrevolutionäre Forderungen,
konnte jedoch von aufständischen ArbeiterInnen und Matrosen entwaffnet werden.

Am 6.1.1919
fanden die AR-Wahlen statt, die die MSPD mit 113 Mandaten gewinnen konnte
(USPD: 64, KPD: 62). Die Beschränkung des Wahlrechts auf die in den 3 Parteien
organisierten Mitglieder, statt es auf alle proletarischen Schichten und ihre
wahlmündigen Angehörigen zu erweitern, war ein rechter USPD-Einfall und ein
schwerer Fehler, den auch die KPD mitzuverantworten hatte. Ursprünglich
gedacht, um Manipulationen der passiven Schichten der Lohnabhängigen durch die
Sozialdemokratie zu verhindern, vermochte die MSPD das Wahlverfahren für sich
zu nutzen, indem es die Partei für alle und jeden öffnete.

Das
Rätewahlrecht führte nicht nur zum massenhaften Zustrom in die Parteien,
darunter auch unzuverlässiger Elemente in die KPD. Vor allem schloss es
andererseits die unorganisierte Masse der ProletarierInnen von revolutionären
Entscheidungen aus, statt sie aktiv einzubeziehen. Der bestmöglichen
Entwicklung revolutionären Klassenbewusstseins unter breitesten Schichten wurde
somit ein Bärendienst erwiesen!

Die Räterepublik

Am 10.1. endete
eine riesige, teils bewaffnete, von der KPD organisierte Demonstration vor dem
Rathaus. Ihre Forderungen lauteten: „Nieder mit Ebert-Scheidemann und hinaus
mit ihren Wortführern aus dem Arbeiter- und Soldatenrat in Bremen! Restlose
Abdankung des Senats! Einsetzung von Volkskommissariaten! Ausscheiden aller
bürgerlichen und rechtssozialistischen Elemente aus dem Soldatenrat!“
(Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution, Frankfurt/Main 1970, Verlag
Neue Kritik, S. 339) Der AuSR stimmte ohne die ausscheidenden MSPDlerInnen den
Forderungen zu und wählte einen „Rat der Volkskommissare“ aus je 3 Vertretern von
KPD und USPD. Zur Ergänzung der Räteexekutive wurde ein Vollzugsrat aus 9 USPD-
und 6 KPD-Mitgliedern eingesetzt. Bremen wurde zur selbstständigen
sozialistischen Republik ausgerufen, die Entwaffnung aller bürgerlichen
Elemente binnen 24 Stunden angeordnet, die bürgerliche Presse unter Vorzensur
gestellt, das Standrecht verhängt. Der auf dem Sterbelager liegende führende
Kopf der Bremer KPD, Johann Knief, trat gegen eine Überschätzung der Berliner
Ereignisse auf und warnte vor einer lokalen, verfrühten Machtergreifung! Zu
Recht, wie sich zeigen sollte.

Die
Gegenrevolution

Kreditsperre mit
der Forderung nach Wiedereinsetzung von Senat und Bürgerschaft, Demonstrationen
gegen die Aufhebung des Religionsunterrichts und andere Schulreformen, Drohung
mit Streik durch ÄrztInnen und BeamtInnen bewiesen: die gegenrevolutionären
Bestrebungen im Bürgertum bekamen Oberwasser. Das Volkskommissariat wich
zurück. Es hob die Vorzensur und den Belagerungszustand auf. Die Wahlen zur
Nationalversammlung gingen am 19.1. unbehelligt über die Bühne. Am 21.1.
beschloss der AuSR, Wahlen für eine bremische, bürgerlich-parlamentarische
Volksvertretung am 9.3. auszuschreiben. Die KommunistInnen gaben die Abstimmung
angesichts der Unstimmigkeiten in ihrer Fraktion frei. Am 21.1. hatte die
Partei zum lokalen Generalstreik gegen die Finanzmanöver aufgerufen, der jedoch
ins Leere gehen musste, nachdem der Rat die Staatsmacht für sich reklamierte,
der Generalstreik also keinen gegenrevolutionären Adressaten mehr hatte.

All das sind nur
Beispiele dafür, dass die lokal isolierte Republik praktisch vom ersten Tag an
in die Defensive geriet. Recht bald suchte sie nach einer Verhandlungslösung
zum Rückzug – doch die Konterrevolution wollte keinen Kompromiss, sondern ein
Exempel statuieren.

Noske wollte den
besonders für die Wasserkante gefährlichen Brandherd Bremen löschen. Hier war
schließlich die Bewaffnung der Arbeiterinnen trotz der bereits erfolgten
Zugeständnisse an die bürgerliche Demokratie aufrechterhalten worden! Am 30.1.
ordnete er den Truppenvormarsch auf Bremen an. Der Große AR in Hamburg und der
SR des 9. Armeekorps drohten zwar mit Maßnahmen zur Unterstützung Bremens. Aber
mittlerweile hatte man sich auf die Entwaffnung der ArbeiterInnenklasse
geeinigt. Das 9. Armeekorps sollte dafür sorgen, dass die abgelieferten Gewehre
„treuhänderisch“ verwaltet werden.

Am 2.2.
erklärten sich die Bremer Volksbeauftragten mit der Unterschrift Ertingers
(KPD) zum Rücktritt und zur Übergabe der Waffen an eine gemäß der
Stimmenverhältnisse zu den Nationalratswahlen neugebildete Regierung bereit.
Dies akzeptierte die Reichsregierung jedoch nicht.

Die Armee war
den 500 Leuten, die als ernsthafte VerteidigerInnen Bremens zu werten waren,
haushoch überlegen. Militärisch kapitulierte der Rat am 4. Februar. Rückzugsgefechte
bis Bremerhaven und Cuxhaven zogen sich in den nächsten Tag hinein. Die
Niederlage war jedoch besiegelt. Anders als die Münchner Räterepublik endete
sie noch relativ unblutig, ohne Massenerschießungen. War der Bremer
Räterepublik die „Macht“ recht leicht zugefallen, so verdeutlichen Verlauf und
Ende, dass sie verfrüht kam, sie zu keinem Zeitpunkt in der Lage war, die
Revolution auch zu verteidigen und weiterzutreiben. Die Reaktion war durch die
Deklaration eines Rates längst nicht besiegt, die Sozialdemokratie verfügte
noch immer über einen beachtlichen Einfluss in der ArbeiterInnenklasse. Die
USPD erwies sich als jene Partei, deren Halbheiten sich in den Maßnahmen der
Räterepublik am deutlichsten ausdrückten.

Lehren aus der
Politik der Bremer
IKD/KPD

Dabei hatte die
Bremer Linke durchaus Stärken einzubringen. Sie trennte sich eher von den
ReformistInnen und ZentristInnen als die Spartakusgruppe. Doch mangelte es ihr
an taktischer Flexibilität, Disziplin, aber auch an Prinzipienfestigkeit und Klarheit.

Am
weitsichtigsten agierte sicherlich Johann Knief. Er verstand die Gefahr lokaler
Aufstandsversuche, die in der Situation nach dem fehlgeschlagenen
„Spartakusaufstand“ ihr revolutionäres Feuer nicht einfach aufs ganze Reich
ausbreiten konnten.

Die Münchner KPD
unter Eugen Leviné war jedoch konsequenter, was die Weigerung der Teilnahme an
der 1. Räterepublik betraf. In Bremen beteiligte sich die KPD hingegen an einer
Koalition mit der USPD, die eben nicht wie eine echte ArbeiterInnenregierung die
Zerschlagung des bürgerlichen Staats anstrebte, sondern bestenfalls die
Doppelherrschaft in der Armee verteidigte und Polizei, BeamtInnenschaft und
Justiz gänzlich intakt ließ. Es handelte sich um eine äußerst linke Variante
einer bürgerlichen ArbeiterInnenregierung: KPD/USPD statt MSPD/ USPD im Reich.

Die örtliche KPD
rührte nicht an der Doppelkonstruktion von AuSR. Die proletarischen
Mannschaftsdienstgrade der Armee hätten sich an den Wahlen zu einheitlichen
ArbeiterInnenräten beteiligen müssen. Die deutschen Soldaten waren keine Bauern
in Uniform wie in Russland. Sie setzte nicht an gemeinsamen Forderungen mit
mehrheitssozialdemokratischen ArbeiterInnen an, die in der Aufforderung an die
SPD zum Bruch mit der Bourgeoisie und „Alle Macht den Räten!“ führten. Ihr
Ausschluss aus dem AuSR war ein schwerer Fehler.

Auch die
ökonomische (Banken) und betriebliche Ebene blieb unterbelichtet, v. a. fehlte
das Element ArbeiterInnenkontrolle als entscheidendes Bindeglied zwischen
zahlreichen Teilforderungen und dem Kampf für ArbeiterInnenmacht.

Schließlich
lehnte sie zwar abstrakt die Wahlen zur Nationalversammlung ab und stellte
ihnen die Räte entgegen, aber sie war taktisch unfähig und unwillig, die Wahlen
und die verfassunggebende Versammlung für den Kampf um die Rätemacht und die
Diktatur des Proletariats auszunutzen. Somit kam es auch zur Paradoxie, dass
die gegen die Nationalversammlung gerichtete Räterepublik die Wahlen zu
ebendieser auch in Bremen ruhig abhalten ließ.

All das spiegelt
wider, dass die Räterepublik selbst auf ihrem Höhepunkt nie wirklich die
Doppelmacht in der Stadt lösen konnte. Das war sicherlich nicht einfach ein
„Fehler“ der KPD, sondern erwuchs aus den objektiven Schwierigkeiten und auch
Grenzen einer „lokalen“ Rätemacht. Anders als der Münchner jedoch mangelte es
der Bremer KPD an Bewusstheit dieses Verhältnisses – sie war somit selbst eher
getriebene als treibende Kraft.




Von der Novemberrevolution zur Nationalversammlung

Revoutionärer Marxismus 26, Theoretisches Journal der Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale (heute: Liga für die Fünfte Internationale), Winter 1998/99

Strukturkrise des Kaiserreichs

Die deutsche Revolution 1918/19 war Bestandteil einer internationalen revolutionären Krise der kapitalistischen Länder, die durch den Ersten Weltkrieg ausgelöst wurde. Nur in Verbindung mit einer militärischen Niederlage der betreffenden Staaten Rußland, Deutschland und Österreich-Ungarn, die – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – noch von vorbürgerlichen Zügen geprägt waren, führte diese zum Umsturz.

Das monarchisch-bürokratische deutsche Kaiserreich war ein autoritäres, von seiner sozialen Basis relativ autonomes Regime mit bonapartistischen Zügen: es beruhte auf der politischen Hegemonie und sozialen Privilegierung der ostelbischen Junker – des nicht mehr feudalen, sondern agrarkapitalistischen Großgrundbesitzer“adels“ – bei gleichzeitiger Förderung der wirtschaftlichen Interessen und der gesellschaftlichen Herrschaftsposition des Industrie- und Bankkapitals.

Das Arrangement des Großbürgertums mit dem status quo unter Verzicht auf liberale Traditionen fußte auf handfesten Vorteilen: das Reich sicherte die rechtlichen, institutionellen und machtpolitischen Voraussetzungen einer beschleunigten Kapitalakkumulation; es hinderte aber vor allem die Sozialdemokratie daran, ihre wachsende Anhängerschaft in politischen Einfluß umzusetzen!

Der Preis dafür wurde jedoch für große Teile der Bourgeoisie und der Mittelschichten immer untragbarer: die nachlassende Konkurrenzfähigkeit der Großagrarwirtschaft mußte zugunsten des Erhalts der wirtschaftlichen Stellung der Junker mittels Schutzzöllen künstlich aufrechterhalten werden. Dies verletzte nicht nur die Interessen der Verbraucher, sondern auch des Handelskapitals und trieb der Vorkriegs-SPD die städtischen Massen über das Proletariat hinaus in die Arme. Die Machtposition des Großgrundbesitzes verhinderte außerdem eine Finanzreform

Außenpolitisch legte sich Deutschland als verspätete imperialistische Macht auf eine Offensivstrategie fest, um das Mißverhältnis zwischen den ökonomischen Potenzen einerseits und den Beschränkungen hinsichtlich der Rohstoffversorgung, der Absatzmärkte und Kapitalexportmöglichkeiten auszugleichen. Das Bündnis Großgrundbesitz-Industrie verfolgte dabei eine gleichermaßen antibritische wie antirussische Politik und führte somit die Einkreisung des Reichs vor dem Ersten Weltkrieg auch selbst herbei.

Innenpolitisch war die Integration wenigstens von Teilen der Sozialdemokratie in den Staat blockiert, so daß ihr Kampf um demokratische Rechte per se zu einem Angriff auf die Substanz des bestehenden Systems geriet: in Preußen herrschte das Dreiklassen-Wahlrecht, der Reichstag war gegenüber der Regierung völlig einflußlos. Das immer labiler werdende bonapartistische Gleichgewicht des Kaiserreichs offenbarte sich zwischen 1908 und 1913 in mehreren Affären, die vorübergehend eine von der SPD bis zu den Nationalliberalen reichende Protestkoalition gegen die Selbstherrlichkeit Wilhelms II. und der preußischen Herrenkaste ins Leben riefen und das halbautokratische Regime im Volk zeitweilig stark isolierten. Als Gegenreaktion festigte die Schwerindustrie – konfrontiert mit den härtesten Arbeiterkämpfen – ihr Bündnis mit den Großagrariern. Ihre Sammlungspolitik – Vereinheitlichung aller agrarischen, bürgerlichen und kleinbürgerlichen Klassen und Schichten unter dem „Block an der Macht“ – beinhaltete den Versuch, alle Fraktionen der herrschenden Klasse sowie Kleineigentümer, Beamte und Angestellte gegen die sozialistische und demokratische Bedrohung im Sinne einer präventiven Konterrevolution – notfalls für eine putschistische Verfassungsänderung – zu mobilisieren.

Wenn dieses Ziel auch nicht erreicht wurde, standen die unmittelbaren Vorkriegsjahre doch im Zeichen einer mit – auch in anderen Ländern in dieser Periode des voll herausgebildeten Imperialismus zu verzeichnender – allgemeiner Verschärfung der Klassenkämpfe (Höhepunkt: Bergarbeiterstreik von 1912) zusammenfallenden immer offenbarer werdenden Krise des Obrigkeitsstaats (latente Staatsstreichdrohung, Entliberalisierung auch in den süddeutschen Bundesstaaten, scharfe Reaktionen der Unternehmer gegen Streiks). Bereits diese Entwicklungen waren ein Hohn auf die harmonischen Entwicklungsperspektiven der (latenten) revisionistischen SPD-Mehrheit!

Die Strukturkrise des Kaiserreichs war wie dieses auch Erbe der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848. Diese Revolution hatte zwei Ziele gehabt: nationale Einigung nach außen und demokratische Neugestaltung im Innern. Die Aufgaben des dritten Standes übernahmen andere: die Einebnung überholter Staatsgrenzen besorgte statt seiner Bismarck, an der Spitze der preußischen Junkerklasse und mit Hilfe der preußischen Armee; die innere Modernisierung übernahm als unerledigte bürgerlich-demokratische Aufgabe der vierte Stand aus den Händen des schwach gewordenen dritten.

Das nach außen mächtig und furchtsam erscheinende zweite Reich litt an inneren Ungleichzeitigkeiten und Ungleichmäßigkeiten: als Nationalstaat konnte es nur ungefähr gelten – es schloß viele Deutsche (Deutsch-Österreich) aus und viele Nichtdeutsche (Polen, Ukrainer) ein; die Bismarcksche Verfassung war eigentümlich blockiert – der ungelöste Dualismus zwischen Reich und Preußen, die Scheinmacht des Bundesfürsten und des Bundesrats, die unklar geteilte Allmacht von Kaiser und Reichskanzler, die institutionalisierte Ohnmacht des Reichstags, die unintegrierte Armee. Noch entscheidender war die „rückständige“ Machtverteilung zwischen seinen Klassen(fraktionen): die wirtschaftlich absinkenden Junker mußten einen sich treibhausmäßig entwickelnden Industriestaat führen; das seit 1849 an Verantwortungslosigkeit gewöhnte und dadurch verwöhnte kapitalistische Bürgertum suchte in außenpolitischen Abenteuern die ihm drinnen verwehrte Macht; die sozialdemokratischen Arbeiter waren „Reichsfeinde“ (vgl. Haffner, S. 8). Dabei war die SPD auf fatale Weise viel enger an diesen Staat gebunden, mit dem sie fast zeitgleich entstanden war, als es ihre Gegner von rechts wahrhaben wollten – fatal für ihre eigene Mitgliedschaft und die deutsche Arbeiterbewegung insgesamt, wie sich in der Novemberrevolution zeigen sollte!

II. Die Vorbereitung der Revolution durch den Krieg

Der Erste Weltkrieg aktualisierte und verschärfte alle in der deutschen Gesellschaft angelegten strukturellen Widersprüche. Der im August 1914 begonnene „Präventivkrieg“ schien im Gegensatz dazu das innen- und außenpolitische Dilemma des Reiches zu lösen: den Herrschenden galt er als Reformersatz, die führenden Funktionäre der Arbeiterbewegung sahen in ihm eine Chance zur Demokratisierung. Die Gewerkschaften suchten sich durch „konstruktive Mitarbeit“ unentbehrlich zu machen. Das von der 3. Obersten Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff zwecks Militarisierung der Arbeit durchgesetzte „Hilfsdienstgesetz“ von 1916 bestätigte die neuen Positionen der Gewerkschaften, u.a. durch Errichtung von „Arbeiterausschüssen“ in den Betrieben.

Die reformistische Mehrheitsfraktion der SPD betrieb v.a. seit Bildung des „Interfraktionellen Ausschusses“ 1917 durch Zusammenarbeit mit den offen bürgerlichen Parteien die Parlamentarisierung des Reiches. Diese Integrationspolitik von Partei- und Gewerkschaftsführung entfernte sich jedoch immer mehr von der Entwicklung an der gesellschaftlichen Basis; die 1914 zweifellos vorhandene Übereinstimmung zwischen Vorständen, Mitgliedschaft und Anhängerschaft der Arbeiterorganisationen ging verloren.

Der Erste Weltkrieg trug Züge eines totalen Krieges. Im totalen Krieg werden schlechthin alle Ressourcen in den Dienst der Kriegführung gestellt; der Unterschied zwischen Front und „Heimat“ wird gehörig eingeebnet. In einer beispiellosen Massenmobilisierung wurden im deutschen Kaiserreich die Hälfte aller Männer zwischen 16 und 60 eingezogen (13,2 Mio.); mehr als die Hälfte davon wurde getötet oder dauerhaft verwundet (8,7 Mio.). Der Lebensstandard an der Heimatfront sank rapide ab. Der Sozialisierung der Verluste stand die krasse Privatisierung der Gewinne gegenüber. Der Radikalnationalismus der Vorkriegsjahrzehnte wurde noch einmal gesteigert: den westlichen Ideen von 1789 wurde das arrogante Selbstbewußtsein von einem überlegenen deutschen „Sonderweg“ entgegengesetzt, verknüpft mit der sozial“darwinistischen“ Idee eines Vorsprungs beim Kampf ums Überleben und der Schimäre einer weltbeglückenden siegreichen deutschen Kulturnation.

Unter der Kriegsbelastung sprang der Klassencharakter der Sozialstruktur noch schärfer ins Auge: Ungleichheit der Lebensmittelversorgung, exorbitante Unternehmensgewinne, ihre ausbleibende Besteuerung, Radikalisierung des Imperialismus in der Kriegszielpolitik. Die politischen Machtzentren formierten sich neu: die 3. Oberste Heeresleitung wurde ab August 1916 zu einer de facto Leitungsinstanz. Diese Militärdiktatur wertete die politische Reichsleitung, den Reichstag, den Monarchen zu Statisten ab – man sprach von Wilhelm II. als „Schattenkaiser“. In England und Frankreich prägte dagegen eine autoritäre Zivilregierung das Kriegsregime.

An der Front sank die Hemmschwelle von Millionen Männern gegenüber der Gewalt angesichts Tag für Tag durchlittener Grenzsituationen zwischen Todesgefahr und Scheinruhe. Die deutsche Kriegswirtschaft fungierte als Kriegskorporativismus, in dem staatliche und private Interessen verzahnt waren (z.B. Kriegsrohstoffamt). Probleme stellten sich der staatskapitalistischen Kriegswirtschaft zuhauf: die englische Blockade und die dadurch vereitelte Einfuhr von Chilesalpeter zur Munitionsherstellung wurde durch Habers Erfindung der Stickstoffsynthese wettgemacht; dadurch konnte der Militärapparat seine Kapitulation bereits im November 1914 verhindern.

Von Anfang bis Ende herrschte Arbeitskräftemangel, der durch Frauen, Jugendliche und ausländische Zwangsarbeiter notdürftig gelindert wurde. Die 16 wichtigsten Stahl- und Montanbetriebe hingegen steigerten ihren Gewinn bis 1917 um 800 Prozent – „Die Dividenden steigen, die Proletarier fallen“ (Rosa Luxemburg). Die Kriegskosten beliefen sich schließlich auf schier unglaubliche 162 Milliarden Mark. Eine angemessene Steuererhöhung wurde mit Rücksicht auf die Konservativen abgelehnt: nur 21 Mrd. Mark wurden von den öffentlichen Körperschaften aufgebracht. Diese eklatante Ungerechtigkeit untergrub die politische Moral der Volksmassen. Die Reichsleitung begründete ihre Weigerung mit zukünftigen Reparationszahlungen der Entente nach einem „Siegfrieden“. Ihre Kriegskasse bediente sich solange mit 9 Anleihen auf dem deutschen Kapitalmarkt (fast 100 Mrd. Mark). Der Geldumlauf wurde von 2 auf 18 Mrd. Mark gesteigert. Der de facto Verzicht auf die Besteuerung der Gewinne, die das Geld aus dem Verkehr gezogen, den inflationären Preisdruck gemildert und die Kriegsprofiteure gebremst hätte, trug seinen Teil zur erst in der Nachkriegszeit voll durchbrechenden großen deutschen Inflation bei, die 1923 die Währung zerstörte.

Das Sozialprodukt sank während des Krieges auf 60 % des Standes von 1913; die Realeinkommen minderten sich durchschnittlich um 40 %, statt 3400 Kalorien pro Kopf gab es 1917 nur mehr 1000. Der Schwarzmarkt schloß von vornherein drei Viertel der Bevölkerung als Käufer aus. Klassenspezifische Ungleichheit kennzeichnete auch die Unterstützungsgelder für die Familien der Soldaten: eine Arbeiterfrau mit zwei Kindern, deren Mann vor dem Krieg monatlich 130 Mark heimgebracht hatte, erhielt jetzt ganze 24 Mark, obwohl ohne Miete und Kleidung mindestens 60 Mark nötig gewesen wären. Bar jeder finanziellen Reserven mußten die Unterklassen jede Art von Lohnarbeit annehmen. Um die Bitternis komplett zu machen, florierte das obere kapitalistische Bürgertum beachtlich, blockte aber verbissen Korrekturwünsche der Freien Gewerkschaften und der Sozialdemokratie ab.

Das Bildungsbürgertum (z.B. höhere Beamte) wurde dagegen ökonomisch geschwächt; sein Realeinkommen sank um 60 %. Je härter es ökonomisch getroffen wurde, desto vehementer engagierte es sich für die bizarren Kriegsziele, für den autoritären Staat, für die Revanche an den Mächten der Entente. Um so härter traf es der Schock der Niederlage, die Flucht aller gekrönten Häupter, der Übergang zur Republik. Im Kleinbürgertum verlor der „neue Mittelstand“ mehr an Kaufkraft als die Arbeiterschaft; die Angestellten rückten immer näher an deren soziale Lage heran. Im „alten Mittelstand“ wurde die Hälfte der Handwerker und Kleinhändler eingezogen, ein Drittel ihrer Betriebe mußte schließen.

Das Proletariat durchlitt einen Verarmungsprozeß wie zuletzt während der Frühindustrialisierung: der Anteil der Frauenarbeit stieg auf ein Drittel, die Schutzbestimmungen für sie wurden sofort aufgehoben, der Arbeitstag auf 14 bis 17 Stunden ausgedehnt, dazu regelmäßige Nacht- und Sonntagsschichten eingeführt. Der Barlohn lag bei nur 40 % des Männerlohns. Bei den Industriearbeiterinnen vermehrte sich die Zahl während des Krieges trotzdem nur um 17 %. Das lag außer an der schlechten Entlohnung an der durchgängigen Verweigerung der Ausbildung zu Facharbeiterinnen und der teilweise enorm schweren körperlichen Arbeit in den Rüstungsbetrieben: z.B. mußten 37 kg schwere Schrapnells oder 80 kg schwere Minen 8 bis 10 Stunden täglich für 3 Mark geschleppt werden, ein Drittel der dort beschäftigten Frauen war wegen „Unterleibsproblemen“ stets krank geschrieben. Nicht selten wurden die Frauen von den Männern im Betrieb als Lohndrückerinnen mißachtet.

Die Oberste Heeresleitung scheiterte jedoch mit dem „Hilfsdienstgesetz“ daran, alle arbeitsfähigen Frauen in die Rüstungsindustrie zwangsweise zu verpflichten; die Empörung der Frontsoldaten und die Mißstimmung an der „Heimatfront“ ließen Reichstag und Behörden mit Erfolg dagegen protestieren. Zu diesem Schicksal gesellten sich Unterernährung, stundenlanges „Schlangestehen“ für rationierte Lebensmittel insbesondere nach dem „Rübenwinter“ 1916/17 und Mangelkrankheiten. Die Kindersterblichkeit stieg um 30 %, die Anzahl der Abtreibungen nahm rapide zu, Heiratsquote und Fruchtbarkeit fielen auf ein Fünftel bis ein Siebtel. Noch ehe die Phase der Massenstreiks im April 1917 begann, gab es bereits mehrere Plünderungen und Lebensmittelkrawalle, Demonstrationen und Proteststreiks unter Mitwirkung unzähliger Frauen.

Durch die Konzentration des Kapitals und die Tendenz zu normierter Massenproduktion, die Ersetzung gelernter durch angelernte Arbeitskräfte kam es zu einer kurzfristig starken Zusammenballung von v.a. Frauen, Jugendlichen und Menschen aus einem nicht-industriellen Milieu in einzelnen Betrieben und Regionen. In Mammutbetrieben wie Thyssen und Leuna wurde so die Basis eines bis dahin in Deutschland kaum gewohnten rebellischen Arbeiterradikalismus gelegt. Gleichzeitig wurden aus einer bestimmten politischen Tradition heraus hochqualifizierte und gut verdienende Facharbeiter wie die Berliner Revolverdreher zu Kadern der „Revolutionären Obleute“, der Arbeiteravantgarde der Oppositionsbewegung gegen den Krieg.

Spätestens seit Anfang 1917 kann man von einer Arbeitermassenbewegung gegen absolute Verelendung, politische Unterdrückung und Krieg reden. Ihr Höhepunkt war der Januar 1918, als über 1 Mio. Arbeiter unter der Androhung und mit der Konsequenz massenhafter Einberufungen zur Armee streikten, davon 300000 in Berlin. Hier wurde eine „Arbeiterrat“ genannte Streikleitung mit zahlreichen Führern beider sozialdemokratischer Parteien gewählt.

Die Klassenlinie zog sich auch durch die Front und desavouierte das nationalistische Geschwafel von der „Schützengrabengemeinschaft“: ein Leutnant erhielt 340 Mark Sold, ein gewöhnlicher Soldat 15, von den üblichen Offiziersprivilegien (Bordelle, Diener, Alkohol, Verpflegung, Unterbringung) zu schweigen. Dinosaurierartige Massenheere, Klassenunterschiede und staatlich legitimierte Massenabschlachtungen – das war das Gesicht des totalen Krieges an der Front (vgl. Wehler). Seit Frühsommer 1918 löste sich die Westfront auf: Befehlsverweigerungen, Verfall der Kampfmoral, totale Erschöpfung regierten. Bei der Verlegung des Ostheeres an die Westfront verschwanden 10 %, eine Million Soldaten marschierten unter Vorwänden von der Front in die Etappe, so daß durchaus von einem latenten Soldatenstreik geredet werden kann.

Demgegenüber war die Opposition aller anderen Klassen und Schichten diffus und richtete sich gegen Schwarzmarkt und ungleiche Verteilung; oft auch gegen „den Staat“, „das große Geld“ oder „die Preußen“ als Gegenstände kleinbürgerlich-bäuerlichen Unmuts über die kriegswirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen; kleine Selbständige und Bauern fühlten sich als Opfer eines die Großindustrie begünstigenden staatskapitalistischen Dirigismus. Die abhängigen Mittelschichten – Beamte und v.a. Angestellte – reagierten auf ihre niedergedrückte soziale Lage mit einer nur begrenzten und vorübergehenden Linkswendung.

Das Parteienlager polarisierte sich: in der Deutschen Vaterlandspartei fand ein neuer Rechtsradikalismus für seine extremen Kriegsziele mehr Anhänger als die Vorkriegs-SPD, darunter viele spätere NS-Größen; die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD) schied aus Protest gegen den Krieg aus der SPD aus. Sie war eine lose Föderation aller pazifistischen und antimilitaristischen Gruppierungen der SPD, darunter zentristische Theoretiker wie Kautsky und Hilferding, Revisionisten wie Bernstein, aber auch die revolutionäre Spartakusgruppe um Liebknecht und Luxemburg.

Mit wenigen tausend Mitgliedern war letztere jedoch kaum mehr als eine Propagandagruppe, die angesichts scharfer Verfolgung und mangels Verankerung in den Großbetrieben kaum Einfluß auf das Geschehen hatte. Demgegenüber gelang es den Revolutionären Obleuten, die ebenfalls zum linken USPD-Flügel zählten, ein dichtes Netz von Vertrauensleuten in den Berliner Metallbetrieben aufzuziehen, durch das sie nicht nur genau über die Stimmung in der Arbeiterschaft orientiert waren, sondern auch viel eher aktiv eingreifen konnten.

Fazit: die Revolution war nicht nur der Preis für die militärische Niederlage; sie verkörperte auch nicht nur das Aufbegehren gegen das Vorhaben, trotz der Niederlage im Westen weiterzukämpfen und die Schlachtflotte auf eine Todesfahrt gegen den weit überlegenen englischen Gegner zu schicken. Vielmehr entsprang sie also auch einem Problemstau, der sich seit vielen Jahren im Kaiserreich gebildet hatte und im November 1918 sein Ventil suchte.

III. Von der “Oktoberreform” zur Novemberrevolution

Mit ihrem „Ja“ zum Krieg glaubte die SPD, die Schwelle zur Macht zu betreten. Die erlangte statt der Reichstagsmehrheit bis zum Kriegsende aber vielmehr das Militär. Aber die deutschen Verfassungsverhältnisse gerieten doch in Bewegung: die einzige „Gegenkraft“ neben der Obersten Heeresleitung wurde die Reichstagsmehrheit aus SPD, Fortschrittspartei und Zentrum, während Kaiser und Bundesfürsten zu bloßen Ornamenten der Verfassung, Reichskanzler und Kabinett zu Hilfsorganen der Obersten Heeresleitung wurden. Ganz und gar nicht verfassungsgemäß stürzten Parlamentsmehrheit und Oberste Heeresleitung, deren politisch-strategischer Kopf Ludendorff war, im Juli 1917 den Reichskanzler. Den neuen bestimmte Ludendorff, aber mit einem parlamentarischen Vizekanzler. Zwei Dauerdebatten wurden zwischen beiden „Polen“ geführt: die Reichstagsmehrheit mahnte einen Verhandlungsfrieden ohne große Koalitionsziele an, die Oberste Heeresleitung trat weiter für den „Siegfrieden“ ein; auf die Forderung nach Anwendung des Reichtstagswahlrechts auf alle Bundesstaaten, Pressefreiheit, Demokratisierung, Parlamentarisierung antwortete die Militärführung: „Nach dem Siege – vielleicht“.

Die MSPD war zwar nicht in die Macht hineingewachsen, aber in die Machtatmosphäre, ging in den Ämtern ein und aus. Mit Monarchie und Kapitalismus hatte sie sich abgefunden. Was sie erstrebte, war die parlamentarische Regierungsform und den Verständigungsfrieden. Die Beziehung zwischen Spitzenfunktionären und Parteivolk litt darunter: einige der alten Hochburgen – Leipzig, Bremen, Hamburg, Berlin – wurden Zentren der neuen USPD. Trotzdem vertrauten die Massen immer noch ihren Führern – sie waren alles, was sie hatten. Bei der großen Streikbewegung vom Januar 1918 wählten die Streikenden auch die SPD-Führer in die Streikleitung – und ließen sich von ihnen nach wenigen Tagen zum Abbruch des Streiks überreden. Nach dem Krieg erhofften die meisten eine Wiedervereinigung der Partei, zumal die Unterschiede zwischen Mehrheit und Unabhängigen sich für sie – im Unterschied zur Rhetorik ihrer Führer – nur als verschiedene Schattierungen von Verständigungsfrieden, Wahlrechtsreform und Demokratie darstellten. Nach dem Krieg – das bedeutete aber für die allermeisten nach dem Sieg oder allenfalls nach einem Verhandlungsfrieden; der Gedanke an eine mögliche Niederlage wurde nie ernsthaft aufgeworfen!

Als aber am 27. September die Alliierten die Hindenburglinie im Westen angriffen und am gleichen Tag Bulgarien nach dem vorherigen Zusammenbruch der Balkanfront kapitulierte, war es Erich Ludendorff, der unverzüglich einen Plan entwarf, mit der nicht mehr abzuwendenden Niederlage so umzugehen, daß Existenz und Ehre der Armee gerettet wurden. Dazu mußte schleunigst ein Waffenstillstand geschlossen werden; das Ersuchen darum mußte aber von der Regierung ausgehen – nicht von der Obersten Heeresleitung – und politisch, nicht militärisch motiviert sein. Das Waffenstillstandsgesuch mußte mit einem Friedensangebot verknüpft sein; dafür eigneten sich die Parteien der Reichstagsmehrheit, die folglich in die Regierung eintreten sollten.

Die Übernahme der Verantwortung für die Niederlage sollte ihnen mit dem Übergang zu einer parlamentarischen Regierungsform versüßt werden, was wiederum US-Präsident Wilson die Ablehnung des Waffenstillstandsangebots erschweren würde – die Entente behauptete ja, einen Krieg für die Demokratisierung Deutschlands zu führen. Lehnte er ab, würde die neue „Volksregierung“ entweder einen verzweifelten Volksaufstand gegen das alliierte Diktat durchführen oder sich unterwerfen; Ehre und Existenz der Armee wären in jedem Fall gerettet! Auf dieser Abwälzung der Verantwortung vom Heer sollte sich später die sogen. Dolchstoßlegende der gesamten deutschnationalen Reaktion aufbauen! Für Ludendorff stand fest: wenn es auf der Gegenseite noch Zweifel am Sieg, in Deutschland Zweifel an der Niederlage und daher dort noch Verhandlungsbereitschaft, hier noch Widerstandsbereitschaft gab (besonders unter den Stabsoffizieren), dann mußte die Bitte um sofortigen Waffenstillstand sie zunichte machen.

Unter der neuen Reichsregierung, die diese Suppe auslöffeln sollte, rochen sowohl der neue Reichskanzler Prinz Max von Baden wie auch der zweite Mann und außenpolitische Sprecher der SPD, Philipp Scheidemann, den vergifteten Köder Ludendorffs. Scheidemann warnte vor einem Eintritt in „ein bankrottes Unternehmen“ und traf damit die Stimmung in seiner Fraktion. Das Waffenstillstandsersuchen ging auch erst am 4. Oktober heraus.

Ihren Widerstand brachen jedoch der Kaiser einer- und der sozialdemokratische Parteiführer andererseits: Ebert argumentierte in der gleichen Fraktionssitzung, die Partei dürfe in einem Augenblick, in dem alles zusammenbräche, nicht dem Vorwurf aussetzen, ihre Mitwirkung zu versagen, wenn sie von allen Seiten darum gebeten werde. So erfuhr die überraschte Öffentlichkeit am 5. Oktober, daß das Deutsche Reich jetzt eine parlamentarische Demokratie sei, einen neuen Reichskanzler und eine neue Regierung mit der SPD als stärkster Partei und zwei sozialdemokratischen Ministern habe. Diese spielte das Spiel der Obersten Heeresleitung mit und verkündete, sie habe ein Friedens- und Waffenstillstandsgesuch an Woodrow Wilson gerichtet, erwähnte aber mit keinem Wort, daß Ludendorff dahinter steckte, es geradewegs erzwungen hatte!

Das Kriegsende ließ aber auf sich warten. Wilson hatte ja nicht allein darüber zu befinden. Zögernd und mißtrauisch sandte er zwischen dem 8. und 23. Oktober drei Noten: in der ersten forderte er den Rückzug aus den besetzten Gebieten, in der zweiten die Einstellung des U-Boot-Krieges und in der dritten die Abdankung des Kaisers. Um jede dieser Noten wurde in Berlin und zwischen der Hauptstadt und dem Hauptquartier im belgischen Spa tagelang gerungen. Die Westfront wich zurück, zerbrach aber bis zum Tage der Waffenruhe im November nicht. Im Laufe des Oktober gaben aber die letzten Verbündeten, Österreich-Ungarn und die Türkei, auf. Jetzt wechselte Ludendorff seinen Standpunkt und war für Abbruch des Notenwechsels und Weiterkämpfen.

Hinter seiner Kehrtwendung steckte nur eine innenpolitische Überlegung: er wollte gewiß aus der parlamentarischen Demokratie keine Dauereinrichtung machen, sondern sie mit dem Makel der Niederlage und der Kapitulation behaften, um sie nach getaner Arbeit um so schneller und sicherer wieder zu Fall bringen zu können. Diese gab am 16. Oktober die Direktive aus:

„Unter allen Umständen muß der Eindruck vermieden werden, als gehe unser Friedensschritt von militärischer Seite aus. Reichskanzler und Regierung haben es auf sich genommen, den Schritt von sich ausgehen zu lassen. Diesen Eindruck darf die Presse nicht zerstören.“ (zitiert nach Haffner, S. 36)

Um so ungefährdeter, je offensichtlicher es kein Zurück mehr gab, konnte es sich die Heeresführung jetzt leisten, gegen solch schwächliches und schmähliches Aufgeben zu protestieren. Den darüber entbrannten Konflikt zwischen Regierung und Oberster Heeresleitung verlor Ludendorff, der mit Zustimmung des Kaisers abgesetzt wurde.

Als der überfällige Waffenstillstand nicht näher rückte, kam in den Massen eine bitter gereizte Ungeduld hoch. In ihnen herrschten zwei Grundstimmungen: eine äußerste Friedenssehnsucht und Bitternis darüber, daß die früheren Regierungen den Glauben an die Unbesiegbarkeit so stark genährt hatten. Seit der dritten Wilson-Note waren plötzlich zwei Worte in aller Munde: „Kaiserfrage“ und „Revolution“.

Existierte nicht die neugebackene Demokratie nur von Gnaden der Obersten Heeresleitung? Im Lande herrschte überall noch der Belagerungszustand, nach wie vor gaben die Generalkommandos den Ton an. War die Regierung des Prinzen Max nicht nur eine dünne parlamentarische Tünche über den alten Zuständen? Verdankte sie ihre Existenz nicht nur einer „Revolution von oben“? Sollte der Kaiser nicht schnell abdanken, wenn seine Person einem Waffenstillstand im Weg war?

Die herrschenden Kreise fürchteten das Gespenst einer Revolution, die den Kaiser loszuwerden trachtete; mit ihm würde sie aber zugleich alles hinwegfegen: Monarchie, Staat, Heer und Flotte, Regierung und Obrigkeit, Adel und Großbürgertum. Um die Frage „Monarchie oder Republik“ ging es ihnen dabei (noch) nicht; sie sahen in einem schnellen Thronverzicht des Kaisers, einer neuen Regentschaft und einem schnellen Waffenstillstand vielmehr eine Möglichkeit, Staat, Verfassung und Monarchie noch zu halten.

Auch Ebert war jetzt auf das Programm der Regierung eingeschwenkt – Abdankung des Kaisers, schneller Waffenstillstand, Regentschaft, Rettung der Monarchie; Niederlage und Revolution im Innern – das war zuviel auf einmal, damit war nicht fertig zu werden. Der Kaiser dachte nicht an Abdankung, fürchtete aber die Revolution wie kein Zweites. Er sehnte den Waffenstillstand herbei, weil er das Heer brauchte, um die Revolution in der Heimat niederschlagen zu können, sollte sie denn kommen. So bangte in diesem Monat Oktober jeder um etwas anderes: der Kaiser um den Thron, die Oberste Heeresleitung um Ehre und Zusammenhalt der Armee, der Kanzler um den rechtzeitigen Waffenstillstand, die sozialdemokratische Parteiführung um die Geduld der Massen.

Am Ende löste ein Verzweiflungsakt der Marineleitung die Revolution aus. Für das Offizierskorps, von der Verantwortung für die Niederlage entlastet und von einem ganz bestimmten Ehrbegriff beseelt, der das Denken, Fühlen und Handeln der deutschen Oberklasse traditionell prägte, war Aufgeben Schande. Der Schande zog es den Tod vor. Und die Mannschaften hatten gefälligst mitzusterben. Die aber wollten jetzt nicht mehr mitziehen, nachdem der Krieg verloren gegeben war, nicht um einer Klassenehre willen, die nicht ihre war.

Unter dem Eindruck der russischen Februarrevolution gründeten Matrosen der Kriegsflotte unter Max Reichpietsch einen geheimen Bund von Soldaten und Matrosen. Dieser stützte sich auf Kombüsen-Ausschüsse, die es sich zur Aufgabe machten, die Versorgung der Mannschaften mit Nahrungsmitteln zu kontrollieren. Reichpietsch faßte sie als einen ersten Schritt zum Aufbau von Matrosenräten nach russischem Muster auf. Er nahm Verbindung zu USPD-Führern auf, die aber die Bedeutung seiner Organisation nicht begriffen. Seiner Flottenzentrale folgten ca. 5000 Soldaten. Ein Hungerstreik auf einem Kriegsschiff und massives „An-Land-Gehen“ ohne Erlaubnis führte zu harten Unterdrückungsmaßnahmen. Ein Kriegsgericht verhängte fünf Todesurteile. Am 5. September 1917 wurden Reichpietsch und Köbis als Rädelsführer hingerichtet.

Im April 1917 hatte es eine Streikwelle gegen die Verringerung der wöchentlichen Brotration von 1350 auf 450 Gramm gegeben. Im Januar 1918 brach ein von revolutionären Obleuten gegen den Willen ihrer Parteiführung, die ein Verbot ihrer Organisation befürchtete, hervorragend organisierter Streik aus, bei dem erstmals zahlreiche politische Forderungen gestellt wurden: Frieden ohne Aneignung fremder Gebiete und ohne Entschädigungsleistungen („Annexionen und Kontributionen“); Selbstbestimmungsrecht der Völker; Anwesenheit von Arbeitervertretern bei den Friedensverhandlungen; Aufhebung des Belagerungszustandes; Demokratisierung des Staates auf allen Ebenen. Der Streik endete mit einer Niederlage. Tausende aktiver Arbeiter bezahlten ihn mit ihrem Leben. Sie wurden sofort eingezogen und an die vorderste Front in die Schützengräben geschickt!

Am 22. Oktober wurde Karl Liebknecht aus dem Gefängnis entlassen. In Berlin besaß der Spartakusbund zu dieser Zeit ungefähr 50 Mitglieder. Er wandte sich an die revolutionären Obleute – wie die Spartakisten in der USPD -, weil nur sie in der Lage waren, die Arbeiterinnen und Arbeiter in Bewegung zu setzen. Am 26. Oktober 1918 beschlossen die Obleute, sich als Arbeiterrat zu konstituieren und nahmen in deren Ausschuß drei Spartakisten auf: Karl Liebknecht, Wilhelm Pieck und Ernst Meyer. Dieser substitutionalistische, „verschwörerische“ Zug bei der Bildung eines Arbeiterrates drückte einen Ultimatismus aus, der sich noch im Unvermögen widerspiegeln sollte, die sozialdemokratische Mehrheit der Arbeitermassen durch geeignete Taktiken im Rahmen der Rätedemokratie von ihren Führern loszubrechen und für revolutionäre Politik zu gewinnen. Eine Politik verzweifelter Manöver bzw. der „Kontrolle“ der Volksbeauftragten durch Posten im Vollzugsrat sollte dieses Manko und das Fehlen eines Aktionsprogramms ersetzen.

Die USPD-Führung sah im Arbeiterrat nur ein Mittel, Druck auf die neue Regierung auszuüben. Liebknecht dagegen wollte die Mobilisierung der Massen durch Kundgebungen und Demonstrationen, damit diese sich ihrer Kraft bewußt werden und den Willen herausbilden, tatsächlich zu siegen. Dies allein war allerdings zu wenig, um die Mehrheit der Arbeiterschaft zu gewinnen. Ein Bruch mit ihren Führungen von SPD und USPD sowie der Gewinn der linken Zentristen, der Obleute, war nur möglich mittels eines Systems klarer Forderungen und einer Konfrontation der Bedürfnisse der Massen mit der Politik ihrer traditionellen Führer. Ihr Vertreter Richard Müller war nach dem Januarstreik zum Militär eingezogen worden. Barth, der an seine Stelle getreten war, und der linke USPDler Ledebour lehnten Liebknechts Vorschlag ab, am 3. November in Berlin Kundgebungen und Demonstrationen zu organisieren.

Dabei konnten die Soldaten zum Vorteil der Revolution nur Auge in Auge mit breiten Massen auf der Straße gewonnen werden. So gelang es dem SPD-Führer Wels am 9. November, die Garnison zu neutralisieren, damit sie nicht auf die Massen schossen. Sie wurden aber in der Verfügungsgewalt ihrer Offiziere gelassen und blieben bis auf eine Ausnahme Schutztruppe des gegenrevolutionären Rats der Volksbeauftragten. In einer stürmischen Diskussion wurde der 11. November 1918 als Tag des Aufstands in Berlin festgesetzt. Vergeblich hatte Liebknecht davor gewarnt, einen bewaffneten Aufstand ohne vorherige Mobilisierung, ohne vorangehenden Generalstreik auszulösen.

Seine Kritik war insoweit berechtigt, als sie die Notwendigkeit der Vorbereitung der Massen auf den Aufstand betonte. Sie war aber ungenügend. Was sollte das Ziel dieses Aufstandes sein? Die Machtergreifung der Arbeiterklasse? Wenn ja, für die Diktatur des Proletariats? Waren aber nicht die Massen noch mehrheitlich hinter SPD und USPD? Wollten die Führer der beiden sozialdemokratischen Parteien nicht aber nur eine parlamentarisch verbrämte Monarchie ohne Wilhelm II. bzw. eine bürgerliche Republik?

Hatte nicht die Bewegung des politischen Massenstreiks im Januar in unklarer Form von „Demokratisierung des Staats auf allen Ebenen“ gesprochen? Bestenfalls konnte das Massenbewußtsein zur Einsicht in die Autorität und Notwendigkeit von Arbeiterräten gelangen. Aber dies war nicht identisch mit der Überzeugung von der Notwendigkeit der Machtergreifung der Räte über die Zerschlagung des bürgerlichen Staats.

Dazu mußte eine revolutionäre Partei her, die im Kampf um die Verteidigung der Räte schließlich ihre Allmacht durchsetzt und in diesem Prozeß die bürgerlich-demokratischen Illusionen der Mehrheit der Arbeiterklasse positiv überwindet, indem letztere zur Überzeugung gelangt, daß es für ihre Herrschaft als Klasse nur die erfolgreiche Durchsetzung der Diktatur des Proletariats in Form der Räteherrschaft unter kommunistischer Führung, die Vollendung der proletarischen Revolution gibt. Die andere Alternative kann nur die siegreiche, blutige Gegenrevolution sein, die Liquidierung der Arbeiter- und Soldatenräte und erneute Konsolidierung des bürgerlichen Staatsapparates, seiner nicht gewählten und nicht rechenschaftspflichtigen Exekutive. Alles andere als eine „Volksherrschaft“, der das Bürgertum längst reaktionär abgeschworen hatte!

Doch der „revolutionäre Generalstab“ wurde von den Ereignissen überrollt – vom Aufstand der Matrosen! Am 20. Oktober hatte die Reichsregierung die Einstellung des U-Boot-Krieges gefordert. Die deutsche Flottenführung beschloß jedoch, trotzdem noch eine Entscheidungsschlacht mit der britischen Hochseeflotte zu suchen. Die Matrosen lehnten dies ab und weigerten sich auszufahren – zunächst in Wilhelmshaven. Sie sahen den Befehl als eine Art Meuterei gegen den Willen der Regierung an und verteidigten diese insofern gegen die Offiziere.

Die Meuterei endete zunächst unentschieden. Die Aufrührer wurden verhaftet und nach Kiel gebracht, aber der Admiralität erschien die vor Wilhemshaven versammelte Flotte zu unzuverlässig für ihr Unterfangen, so daß sie zerstreut wurde. Nach Tagen ergebnislosen Verhandelns mit der Ortskommandantur, endlosen Debatten mit anderen Matrosen und Dockarbeitern versammelten sich die Mannschaften des Dritten Geschwaders, das in Wilhelmshaven noch nicht gemeutert hatte, zusammen mit Tausenden Arbeitern zu einer Protestdemonstration für die Freilassung ihrer verhafteten Kameraden in Kiel. Eine Patrouille schoß in die Menge. Es gab neun Tote und 29 Verletzte, ein Matrose erschoß den Befehlshaber.

Das war der Startschuß zur Revolution, nun gab es kein Zurück mehr! Am Morgen des 4. November wählten alle Matrosen des Dritten Geschwaders Soldatenräte, entwaffneten ihre Offiziere, bewaffneten sich selbst und hißten auf den Schiffen die rote Fahne. Ihr wichtigster Wortführer war Karl Artelt, USPD-Mitglied, der wegen seiner Beteiligung am Aufstand von 1917 zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt worden war. Am 4. November 1918 stand er an der Spitze eines von 20000 Matrosen gestützten Rats.

Die Offiziere sahen sich gezwungen, sämtlichen Forderungen zuzustimmen: Aufhebung der Grußpflicht, Erleichterung im Dienst, mehr Landurlaub, Freilassung der Gefangenen. Am gleichen Abend war die ganze Garnison in Soldatenräten organisiert, die Rote Fahne wehte über den Kriegsschiffen. Sozialdemokraten und Unabhängige riefen in Kiel gemeinsam den Generalstreik aus. Ein Arbeiterrat wurde gebildet, der sich mit dem Rat der Matrosen vereinigte. Die Regierung ernannte daraufhin den Sozialdemokraten Gustav Noske zum Militärgouverneur von Kiel, um den revolutionären Brand einzudämmen. Aber auch Noske war vorerst gezwungen, die Autorität des neuen Arbeiter- und Soldatenrats anzuerkennen. Dieser begrüßte ihn mit Jubel und Erleichterung und wählte ihn sogar ebenfalls zum Gouverneur.

Eine „Befriedung“ gelang ihm erst, als die Matrosen die Garnison verlassen hatten, um die Revolution binnen fünf Tagen in alle wichtigen Zentren des Reichs zu tragen. Sie hatten begriffen, daß sie ohne Ausweitung ihres Experiments in der Falle säßen, in den Händen der von ihnen gedemütigten Offiziere deren blutiger Rache preisgegeben wären. Überall, wo ihre Abordnungen erschienen, fanden sich Arbeiter, die ihrem Beispiel folgten. Eine Stadt nach der anderen wurde so erobert. Im Ausschuß der Revolutionären Obleute in Berlin schlugen Liebknecht und Pieck vor, die geplante Aktion auf den 8. oder 9. November vorzuverlegen. Die Mehrheit lehnte dies ab, weil es Lohnzahlungstage waren. Am ursprünglichen Termin wurde festgehalten. Doch einige Arbeiter in den Betrieben, darunter sozialdemokratische Vertrauensleute, einigten sich in der Zwischenzeit auf eine Aktion am 9. November – trotz Zahltag!

In der Zwischenzeit waren sich alle Machtzentren des Reichs darin einig, die drohende Revolution zu stoppen, den noch bestehenden Staat zu retten und das Westheer dafür im Innern einzusetzen. Der Kaiser wollte dabei das Westheer anführen, Prinz Max war für einen neuen Regenten und General Groener vom Generalhauptquartier für den Heldentod Wilhelms an der Front. Ebert sah deutlicher als die anderen Machtzentralen, wie stark die Revolution schon war und forderte die Abdankung des Monarchen seit dem 6.11. – auch um den Zulauf der Massen zu den Unabhängigen zu bremsen und die von diesen für den Abend des 7.11. anberaumten 26 Versammlungen zu beeindrucken. Die Berichte der MSPD-Betriebsvertrauensleute sprachen von Vertrauensverlusten in die Partei, von Radikalisierung ihrer Anhänger. Sie ließen es ratsam erscheinen, rechtzeitig auf die Seite des baldigen Aufstands überzugehen. Ebert bangte um mehr als den Zusammenhalt des Westheeres, nämlich auch darum, ob die MSPD sich noch halten könne!

In Berlin strömten am 9. November Hunderttausende stadteinwärts. Sie erwarteten einen Kampf um die Kasernen. Sie wußten nichts davon, daß die Truppe „nicht mehr hielt“. In den vorderen Reihen trug man Schilder mit der Aufschrift „Brüder! Nicht schießen!“ In den hinteren Reihen trug man vielfach Waffen. Und tatsächlich gab es kein Blutvergießen! Die Soldaten schlossen sich den Demonstranten an, öffneten die Kasernen, hißten selbst die roten Fahnen und verteilten Waffen. Die Polizei verdrückte sich und ließ ihre Waffen zurück. Die Regierung des Prinzen Max hatte noch schnell auf Flugblättern verkündet, der Kaiser sei zurückgetreten. In Wirklichkeit hatte dieser sich dazu noch gar nicht durchgerungen, wollte zumindest König von Preußen bleiben. Erst Tage später, nachdem er sich aus Spa sang- und klanglos davongemacht hatte, verkündete er aus dem niederländischen Exil seine Abdankung. Aber dies spielte jetzt keine Rolle mehr.

Der Reichskanzler setzte Ebert auf dessen Verlangen als seinen Nachfolger ein, Scheidemann verkündete die Republik – ohne Billigung Eberts übrigens! Der schlaue Fuchs erkannte aber schnell, daß er dahinter nicht wieder zurückfallen durfte, wollte man die Revolution zügeln. Vielmehr mußte er unter dem Druck der Ereignisse noch einen Schritt weiter gehen, als Reichskanzler einer bürgerlich-parlamentarischen Republik zu werden. Als Parteiführer der MSPD mußte er seine Regierungsgewalt im Namen der Räte ausüben, wollte er die Zügel in der Hand behalten!

Die Revolutionären Obleute hatten nämlich am Abend desselben Tages gehandelt: sie versammelten sich zu einer Sitzung im Reichstag, wo auch die beiden sozialdemokratischen Fraktionen über die Bedingungen des Eintritts in die Regierung debattierten. Ebert verlangte dies von der USPD, um sie in die Verantwortung für seine gegenrevolutionäre Politik hineinzuziehen. Die Versammlung der Revolutionären Obleute beschloß für den nächsten Morgen Wahlen zu Arbeiter- und Soldatenräten in den Fabriken und Kasernen. Nachmittags sollten die Räteabgeordneten eine provisorische Regierung – den „Rat der Volksbeauftragten“ – im Zirkus Busch wählen. Eberts Regierung hatte man nicht erwähnt, als gebe es sie nicht; man wollte sie einfach beiseite schieben.

Ebert wollte zunächst die Massendemonstrationen überstehen, um dann in Ruhe den Regierungsgeschäften nachgehen zu können. Nun mußte er sich die Legitimation als Volksbeauftragter von dieser Versammlung holen. Er mußte zum Schein an die Spitze der Revolution treten. Dafür war die Konfrontation der Räteversammlung mit der fertigen Tatsache einer allsozialistischen Regierung, die Betonung der Beendigung des „Bruderkampfs“ jetzt doppelt wichtig. Wels bearbeitete wie am Vormittag wieder die Soldaten, die in der Früh noch nicht einmal wußten, ob sie die Revolution niederschießen sollten.

Er redete aber nicht von Versöhnung, sondern von einem drohenden Komplott gegen die Regierung, die die Soldaten durch „richtige“ Wahl am nächsten Morgen „verteidigen“ sollten. Den Revolutionären Obleuten war gegen Mittag des 10. klar, daß die Anhänger Ebert-Scheidemanns die Wahl gewonnen hatten. Laut Pierre Broué zogen bei dieser Wahl rechte Unabhängige zugunsten der Mehrheitssozialisten zurück. Ein am 8. November von Ebert zusammengestellter Marionetten-Soldatenrat wird aber durch die Wahl in den Kasernen gegenstandslos ebenso wie durch die Wahl in den Fabriken ein „Arbeiter- und Soldatenrat“; mit dieser Bezeichnung unterschrieb eine Versammlung von SPD-Führern ihre Proklamation der „sozialen Republik“ am 9. November.

Die gewählten Soldatenräte bezogen auch scharf Stellung gegen einen im Kriegsministerium zusammengestellten „Aktionsausschuß der Groß-Berliner Truppen“, der von sich behauptete, gewählt worden zu sein, was der Reichskanzler durch seine Unterschrift bestätigte. Um 13 Uhr 30 akzeptierte Ebert eilig die Bedingungen der Unabhängigen für deren Regierungseintritt. Die MSPD akzeptierte jetzt ein rein sozialdemokratisches Kabinett ebenso wie die Forderung, daß die politische Gewalt in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte liegen sollte. Die Fachminister konnten Bürgerliche sein, sie wurden als „technische Gehilfen“ der Regierung bezeichnet. Ihnen wurde je ein Mehrheitssozialist und ein Unabhängiger beigeordnet.

Die Frage der Konstituante sollte erst nach der Konsolidierung der Revolutionserrungenschaften erörtert werden. Zuvor hatte der SPD-Parteivorstand die Forderung der USPD abgelehnt, die exekutive, legislative und rechtssprechende Macht ausschließlich in die Hände von gewählten Vertrauensmännern der gesamten werktätigen Bevölkerung und der Soldaten zu legen, weil die Diktatur eines Teils einer Klasse nicht demokratischen Grundsätzen entspreche, sofern dahinter nicht die Volksmehrheit steht. Im Gegenzug ließ der USPD-Vorstand eine Fristbestimmung des Eintritts auf drei Tage fallen. Die USPD nominierte Haase, Dittmann und den Revolutionären Obmann Barth fürs Kabinett. Am Nachmittag beschlossen die Revolutionären Obleute angesichts der Unvermeidbarkeit einer „Räteregierung“ Ebert, der Versammlung im Zirkus Busch die Wahl eines Aktionsausschusses vorzuschlagen. Es sollte darüber keine Debatte geben, auf der Vorschlagsliste standen nur Namen ihrer Meinungsgefährten. Dieser Bluff sollte der Schaffung eines Gegengewichts gegen Eberts Machenschaften dienen!

Die Revolution lief in ganz Deutschland nach weitgehend demselben Muster ab: die Soldaten der Garnisonen wählten Soldatenräte, die Arbeiter wählten Arbeiterräte, die Militärbehörden kapitulierten, ergaben sich oder flohen, die zivilen Behörden erkannten erschrocken und verschüchtert die neue Oberhoheit der Arbeiter-Soldaten-Räte an. Das äußere Bild glich wie auf geheime Verabredung wie ein Ei dem anderen: überall große Straßenumzüge, große Volksversammlungen, Verbrüderungsszenen zwischen Soldaten und Zivilisten, überall wurden als erstes die politischen Gefangenen befreit, nach den Gefängnissen die Rathäuser, die Bahnhöfe, die Generalkommandos, manchmal auch die Zeitungsredaktionen besetzt.

Als „Arbeiterräte“ wurden meistens Mitglieder der örtlichen Parteivorstände der beiden sozialistischen Parteien nominiert und in Massenversammlungen per Akklamation bestätigt. Meist waren dabei die Arbeiterräte paritätisch aus beiden Parteien zusammengesetzt; der Wille der Massen richtete sich eindeutig auf Wiedervereinigung der beiden feindlichen Bruderparteien, die sich im Kriege getrennt hatten. Zusammen sollten sie die neue Regierung der Revolution bilden.

Die Revolution war gutmütig. Es gab keine Lynchjustiz und keine Revolutionstribunale. Viele politische Gefangene wurden befreit, aber niemand wurde verhaftet. Man begnügte sich, den Offizieren Kokarden und Rangabzeichen wegzunehmen, selten wurde ein verhaßter Offizier oder Polizist verprügelt. Für diese galt das trotzdem als unverzeihliche Entehrung. Die besiegten Herren verziehen den Aufständischen den Sieg trotz ihrer Gutmütigkeit nicht, ja nicht einmal der Partei Eberts, die sich ja nicht sofort frontal gegen die Revolution stellen konnte, sondern sich an ihre Spitze stellen mußte, um sie dann abwürgen, zurückrollen zu können. Für die militaristische Offizierskaste war sie gleichwohl die Partei der „Novemberverbrecher“!

Was beseitigt wurde, waren die Generalkommandos, die militärischen Obergewalten, die den ganzen Krieg hindurch jede deutsche Stadt und jeden Landkreis unter dem Belagerungszustand regiert hatten. Was an ihre Stelle gesetzt wurde, war die neue revolutionäre Autorität der Arbeiter- und Soldatenräte. Die zivilen Verwaltungsbehörden blieben unangetastet und arbeiteten unter der Aufsicht und Oberhoheit der Räte weiter, wie sie im Kriege unter der Aufsicht und Oberhoheit der Militärbehörden gearbeitet hatten. An das private Eigentum rührte die Revolution nicht. In den Fabriken blieb alles beim alten. Was zugleich mit den bisher allmächtigen Militärbehörden hinweggefegt wurde, das waren die Monarchen, in deren Namen sie regiert hatten, und die militärische Autorität der Offiziere in den Armeeformationen; an ihre Stelle traten die Soldatenräte. Die Revolution war nicht sozialistisch oder kommunistisch, sondern republikanisch, pazifistisch und antimilitaristisch. Die Massen, die sich das neue Führungs- und Staatsorgan der Arbeiter- und Soldatenräte schufen, waren keine Spartakisten oder Bolschewisten, sondern Sozialdemokraten.

Die Anhänger des Spartakusbundes stellten der Revolution fast ausnahmslos keine Führer, nicht einmal „Rädelsführer“. Überhaupt hatte diese Revolution, außer z.T. in München, keine Führer und keine Organisation, keinen Generalstab und keinen Operationsplan, kein fest umrissenes Programm, sie war das spontane Werk der Massen, der Arbeiter und gewöhnlichen Soldaten. Die „Revolution von unten“ wollte die „Revolution von oben“ nicht kassieren, sondern ergänzen, beleben, vorwärtstreiben, recht eigentlich erst zur Wirklichkeit machen. Die Massen fühlten, daß die Militärherrschaft aus dem Wege geräumt werden mußte, weil sie – zutiefst antidemokratisch – sich gegen die Revolution überhaupt richtete und gegen den zukünftigen „Volks- und Friedensstaat“. Die sozialdemokratischen Massen, die so dachten und die die Revolution machten, glaubten sich darin eins mit ihren Führern. Diese Täuschung geriet ihnen und der Revolution zur Tragödie!

IV. Die Politik des Rats der Volksbeauftragten

Zunächst sprach Ebert am Abend des 10. November im Zirkus Busch. Er traf die Stimmung der Mehrheit der Anwesenden genau und redete über die wiederhergestellte Einheit der sozialdemokratischen Parteien als Vorbedingung für die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung, aber die war jetzt nötig „für den vollständigen Sieg der Revolution“. Haase wirkte matt und konnte ihn im Grunde nur bestätigen, obwohl er eigentlich gegen diese Koalition war. Liebknecht hielt der MSPD ihr Sündenregister aus der Kriegszeit vor. Das stieß auf wenig Begeisterung.

Außerplanmäßig – denn eigentlich sollte jetzt unverzüglich zur Wahl des Aktionsausschusses übergegangen werden – ergriff Barth, der Versammlungsleiter, noch einmal das Wort, so daß der aufmerksame Zuhörer die unausgesprochenen Absichten erkennen konnte. Ebert erklärte dieses Gremium für „eigentlich überflüssig“, wenn es aber denn schon gewählt werden solle, müsse es im Gegensatz zu den Vorstellungen der Obleute paritätisch aus beiden Parteien besetzt werden. Daraufhin erklärte Barth wütend, in diesem Ausschuß dürfe kein Rechtssozialist sitzen! Nach dem darauf folgenden Tumult besonders in Reihen der Soldaten, die androhten, die Revolution ohne Parteien allein weiterzuführen und eine Militärherrschaft zu errichten, schien die Versammlung gesprengt. Ihnen wurde schließlich auch Parität mit den Arbeitervertretern im Ausschuß zugestanden. Die Berliner Räte wählten also einen Vollzugsrat aus 13 Unabhängigen, die unter dem Einfluß der Revolutionären Obleute standen und 13 Sozialdemokraten bei den Arbeiterräten, am nächsten Tag kamen 14 (meist wenig politisierte) Vertreter der Soldatenräte hinzu (unterschiedliche Zahlenangaben bei Haffner, Moneta und Müller). Dieser gab den sechs „Volksbeauftragten“ seinen Segen. Ebert erhielt so zweimal seine Investitur – vom alten Regime wie vom neuen! Die alten Ministerien, der alte Verwaltungsapparat, Armee und Polizei blieben jedoch intakt. Die übernommenen alten Spitzenbeamten gehorchten natürlich nur den rechtssozialistischen Volksbeauftragten, v.a. Ebert.

„Wenn die sozialdemokratische Regierung, den Sieg ihrer Anhänger nutzend und auf den Oktoberfrieden mit der Obersten Heeresleitung verzichtend, jetzt die Niederlage der alten militärischen Führung vollendete und sich eigene revolutionäre Streitkräfte schuf, dann brauchte sie die Rache der entmachteten Generale und Offiziere nicht mehr zu fürchten. Wenn sie ihnen aber erlaubte, sich wieder zu erheben und sich von dem ebenso beleidigenden wie betäubenden Schlag, der sie im November getroffen hatte, zu erholen, dann durfte sie keine Schonung erwarten – keine Schonung für ihre revolutionären Anhänger, die zu „meutern“ gewagt hatten, aber keine Schonung auch für sich selbst.“ (Haffner, S. 98)

Fügen wir hinzu, daß die Rache der militaristischen Gegenrevolution gegen die Aufständischen früher als gegen die sozialdemokratische Reichsregierung erfolgte.

Das Programm des Rates der Volksbeauftragten vom 12. November hob Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten und der Arbeiterschutzbestimmungen durch den Belagerungszustand auf, verkündete den achtstündigen Maximalarbeitstag ab 1. Januar 1919 und das Wahlrecht für alle mindestens 20 Jahre alten Personen beiderlei Geschlechts. Neben dieser Erfüllung einiger demokratischer und ökonomischer Minimalforderungen sprach er sich aber auch dafür aus, „die geordnete Produktion aufrecht(zu)erhalten …“ und „das Eigentum gegen Eingriffe Privater … zu schützen.“ Das bedeutete nichts anderes als den Schutz der kapitalistischen Produktionsweise vor revolutionären Erschütterungen! Am 15.11.1918 ließen Gewerkschaften und Unternehmerverbände ein Arbeitsgemeinschaftsabkommen verlautbaren, das Tarifvereinbarungen, Schlichtungsausschüsse und „gemeinschaftliche“ Zusammenarbeit auf betrieblicher (Arbeiterausschüsse) und Reichsebene (Zentralausschuß auf paritätischer Grundlage) beinhaltete.

MSPD und USPD verkündeten zwar, die Macht liege jetzt in der Hand der Räte, doch Friedrich Ebert erklärte zugleich, nur eine aus gleichem Wahlrecht hervorgegangene verfassunggebende Versammlung („Konstituante“) könne über die endgültige Regierungsform in Deutschland entscheiden. Der revolutionäre Titel „Volksbeauftragte“ war für die Sozialdemokratie nur Fassade. Sie leitete ihre Rechte nicht von ihren Auftraggebern im Zirkus Busch ab, sondern vom unklaren Wechsel auf eine zukünftige Nationalversammlung. Sie wollte keine Räterepublik, sondern ein bürgerliches Parlament in einem bürgerlichen Staat. Die MSPD wollte die Nationalversammlung so früh wie möglich zusammentreten lassen, damit quasi der alte Reichstag fortgesetzt werden konnte, als hätte es keine Revolution gegeben.

Die Versammlung im Zirkus Busch klammerte diese Frage aus. Am 12. verkündete der Rat der Volksbeauftragten „baldigste“ Wahl einer Nationalversammlung. Ende November einigte sich der Rat der Volksbeauftragten auf den 16.2.1919. Erst der Reichsrätekongreß verlegte den Termin auf den 19.1. vor. Für die überwältigende Mehrzahl der Räte ging es nicht um die Frage: Räte oder Nationalversammlung. Sie wollten nicht ihre eigene Diktatur, sondern dem sozialdemokratischen Staat eine sozialdemokratische Exekutive verschaffen, eine parlamentarische „Volksdemokratie“ ohne den alten ungewählten und unkontrollierten Staatsapparat. Ihre Führer aber sahen dies sehr wohl als unlösbaren Widerspruch! Die Frage, um die sich alles drehte, war: Revolution oder Konterrevolution!

Entweder gingen die Räte zur Zerschlagung des bürgerlichen Staates weiter oder die Gegenrevolution würde sie vernichten. Ein Drittes – Beibehaltung des Status Quo, der Doppelherrschaft, ein Sich-Zufrieden-Geben mit einer vermeintlichen Kontrolle über die abgehobene bürgerliche Exekutive – gab es nicht und konnte es nicht geben! Theoretisch war der Vollzugsrat höchstes, die Regierung kontrollierendes Staatsorgan. Er hatte aber keine geregelten Kompetenzen, keine Machtmittel, keine Verwaltung und setzte nicht einmal die Veröffentlichung seiner Erklärungen in den Zeitungen durch, weil er vor dem Protest der MSPD und Bürgerlichen zurückschreckte. Statt dessen verzettelte er sich in tausenderlei Kinkerlitzchen, die ihm die Regierung aufhalste, um sich selbst ungestört den entscheidenden politischen Geschäften widmen zu können. So gingen kostbare Wochen ins Land, die Ebert intensiv nutzte, um sich Unterstützung für den entscheidenden Kampf aufzubauen.

So befahl der Vollzugsrat z.B. am 11. November allen Autoritäten, in seinem Namen zu handeln, was Ebert im Namen des „höchsten Staatsorgans“ gestattete, den alten Staatsapparat in Gang zu setzen. Ähnlich wendeten die Ebert-Freunde am 16. einen Vorschlag des linken Unabhängigen Däumig, der dem Vollzugsrat die Einberufung eines zentralen Arbeiter- und Soldatenrats empfiehlt. Sie sind bereit, diesen zentralen Arbeiter- und Soldatenrat einzuberufen, der aber seinerseits die Konstituante einberufen und ihr einen den Grundsätzen der proletarischen Demokratie entsprechenden Verfassungsentwurf zur Beschlußfassung vorlegen soll. Den Entwurf zur neuen Verfassung schrieb dann aber kein zentraler Arbeiter- und Soldatenrat, sondern der vom Rat der Volksbeauftragten zum Reichsminister des Innern erkorene bürgerliche Professor Reuß. Däumigs Programmentwurf lehnte die Nationalversammlung prinzipiell ab, weil sie zur bürgerlich-demokratischen Republik führen müsse. Er verlangte den Ausbau der Arbeiterräte und deren Ausdehnung auf alle Schichten des werktätigen Volkes. Ebert gelang es somit, innerhalb der höchsten Autorität der Rätemacht die Losung der Wahl zur Nationalversammlung durchzusetzen, um die herum sich alle konterrevolutionären Kräfte scharten. Am 22. wurde dieser Beschluß teilweise zurückgenommen und der Vollzugsrat handelte bis zur Wahl des zentralen Arbeiter- und Soldatenrates weiter als Vollzugsrat von ganz Deutschland und behielt seine Kontrollrechte. Dieser Kompromiß läßt die bürgerliche Staatsmaschinerie weiter unangetastet funktionieren – im Namen der Räte! Ein Kardinalfehler des Vollzugsrates lag auch darin, zu lange ohne Tuchfühlung mit den Arbeiter- und Soldatenräten in der Provinz geblieben zu sein und den alldeutschen Rätekongreß zu spät einberufen zu haben.

Die Epigonen von Marx und Engels im Rat der Volksbeauftragten wagten sich weder an die Reichsbank noch an die kapitalistische Produktion und Wirtschaft heran; dafür bestellten sie den Vertrauensmann für Schwerindustrie. Warum? Weil nach ihrer Meinung die kapitalistische Volkswirtschaft durch den Krieg aufs schwerste zerrüttet war. Die Arbeiterführer meinten, die Arbeiter müßten erst wirtschaftlich und technisch geschult werden, ehe sie sich an die kapitalistische Produktion und Verteilung heranwagen könnten. Auf diesem Standpunkt beharrten die MSPD-Führer und rechten Unabhängigen Kautsky, Hilferding und Haase.

Der linke Flügel um Däumig und der Spartakusbund verlangten von der Regierung sofortige und durchgreifende Maßnahmen zur Verwirklichung des Sozialismus, die Nationalisierung der Großindustrie. Von den Unabhängigen im Rat der Volksbeauftragten einschließlich Barth (!) bekannte sich niemand zu solchen Maßnahmen. Selbst wenn die Argumente der Regierung richtig gewesen wären, wäre es ihre Pflicht gewesen, die tatsächliche Lage der Betriebe durch eine von Arbeitern und zuverlässigen Sozialisten ausgeübte Kontrolle festzustellen. Selbst von ihrem Standpunkt aus gesehen, konnte das keine Störung des Wirtschaftsorganismus sein. Ein Dekret über Arbeiterkontrolle hätte ferner zumindest die Überwachung der Reichsbank, der Geschäftsbanken und der Staatsfinanzen vorsehen müssen, um festzustellen, welche Mittel von den Kapitalisten verschoben oder beiseite gebracht oder der Konterrevolution zugeführt wurden.

Das Problem für die Klassenversöhnler war nur, daß diese Maßnahmen sie in Gegensatz zu den Bossen und ihren Schergen im Staatsapparat manövriert hätte. Statt dessen rief der Rat der Volksbeauftragten eine Sozialisierungskommission zusammen, die schon bald keinen Schrecken bei den Unternehmern mehr auslöste, aber die Arbeiter vertrösten half.

V. Der Reichsrätekongreß

Vom 9.11. an bestand praktisch eine Allianz zwischen der sozialdemokratischen Führung und der Obersten Heeresleitung. Ebert verfügte, die Soldatenräte hätten die Offiziere zu unterstützen. 7 Soldatenmitglieder des Vollzugsrates riefen zu einem geordneten und disziplinierten Truppenrückzug unter Kommando der Offiziere auf. Sie waren geblendet von dieser „technisch schwierigen Aufgabe“ und beeindruckt von der Übereinstimmung zwischen Regierung und Generalhauptquartier. Angesichts dieser Gefügigkeit der Soldatenräte hegte die Oberste Heeresleitung die Absicht, den Kongreß der Frontsoldaten am 1. Dezember in Bad Ems gegen die Arbeiterräte umzudrehen. Zurück in der Heimat und in Kontakt mit revolutionären Elementen forderten diese aber auf dem Kongreß die Erweiterung der Macht der Arbeiterräte und lehnten einen Mißtrauensantrag des Generalstabs gegen den Vollzugsrat ab.

In weiser Erkenntnis der Unzuverlässigkeit der heimischen Arbeiter- und Soldatenräte hatte der Generalstab bereits in seinen Richtlinien für die Truppe am 16. November ihnen nur beratende Funktion einräumen wollen und eine Zusammenarbeit ausschließlich mit den alten Behörden dekretiert. Als Schutzimpfung gegen radikale Einflüsse forcierte er den Aufbau von Soldatenräten als Beschwerdeinstanz und beratendes Organ. Dabei wurde bewußt die Erwähnung politischer Gesichtspunkte untersagt; es durfte ausschließlich von der notwendigen „Aufrechterhaltung der Ordnung“ her argumentiert werden. Eine „geregelte“ Zurückführung der Front war für die Generäle von höchster Bedeutung als „Machtfaktor für eine neue Regierung.“

Im Klartext: das Frontheer mußte zur Niederschlagung „revolutionärer Umtriebe“ einsatzbereit bleiben. Um die Parole „Wiedereinsetzung des Reichstages“ herum sammelte sich die stärkste, gefährlichste Gegenrevolution von Bourgeoisie, Oberster Heeresleitung und Offizierskorps des Frontheeres. Ebert und Groener planten über ihre geheime Telefonleitung zwischen dem 10. und 15. Dezember einen Gegenputsch mit 10 Divisionen der nach Berlin einrückenden Feldarmee, um dem Rätekongreß zuvorzukommen. Sie sollten lt. Groener „Berlin entwaffnen und von Spartakiden säubern“. Einige Soldatenräte und die USPD-Volksbeauftragten waren zwar für den Einmarsch, aber ohne scharfe Munition. Ebert stimmte Groeners Plan selbstverständlich zu. (Aussage Groeners im Münchner Dolchstoßprozeß 1925; in: Brandt, 1918-19, S. 84 – 86)

Daß dieser Plan scheiterte, daß „Ordnung und eine feste Regierung“ jetzt noch nicht zustande kamen, lag daran, daß die Truppe sich schlicht auflöste; bis auf 800 Mann traten alle den Weg nach Hause an.

Auf dem Reichsrätekongreß, der vom 16. bis zum 21. Dezember 1918 in Berlin tagte, hatten Ebert und seine rechtssozialdemokratischen Genossen eine bequeme Mehrheit. Von den 489 Delegierten – 405 Arbeiter- und 84 Soldatenräte – waren 288 Mehrheits-Sozialdemokraten; die USPD hatte 90 Abgeordnete, davon 10 Spartakisten; elf gehörten einer Gruppe „vereinigter Revolutionäre“ aus Hamburg an; 25 waren Demokraten; 26 Soldaten- und 49 Arbeiterräte machten keine Angaben über ihre Parteizugehörigkeit (geringfügig differierende Angaben bei Moneta und Müller).

Leitende und besoldete Funktionäre stellten genau ein Drittel der gesamten stimmberechtigten Delegierten, womit die SPD einen überragenden Einfluß bekam. Der mehrheitssozialdemokratische Parteiapparat war stark genug, die Arbeiter davon zu überzeugen, daß zum Triumph der Revolution nur das Siegel der Nationalversammlung fehle und der Sieg des Sozialismus nur von spartakistischen Manövern bedroht sei. Weder Liebknecht noch Luxemburg waren gewählte Vertreter. Der Kongreß lehnte es auch ab, sie zuzulassen. Die Vorschläge, einen internationalen Aufruf an das britische und französische Volk zu erlassen, und Beziehungen mit der Regierung Sowjetrußlands aufzunehmen, wurden ebenso verworfen. Die Übernahme der Staatsmacht durch die Arbeiter- und Soldatenräte wurde abgelehnt, die Wahl zur Nationalversammlung schon für den 19. Januar beschlossen und alle gesetzgebende Gewalt ging auf den Rat der Volksbeauftragten über unter Kontrolle des neu zu wählenden Zentralrats bis zur endgültigen Regelung durch die Nationalversammlung. Außerdem wurde die Entwaffnung der Konterrevolution und die Sozialisierung der „dafür reifen“ Industrien gefordert. Dies war der erste große Sieg der Gegenrevolution!

Die USPD-Fraktion verließ am Ende die Konferenz, so daß im neu gewählten Zentralrat nur noch die MSPD vertreten war. Nur an einem Punkt war dieser zahme Rätekongreß unnachgiebig: die Militärdiktatur, die von der Revolution gestürzt worden war, durfte nicht wiederkommen, die Macht der Generalität und des Offizierskorps mußte für immer gebrochen werden. Die sogen. „Hamburger Punkte“ forderten: oberste Kommandogewalt bei den Volksbeauftragten unter Kontrolle des Vollzugsrates; Disziplinargewalt bei den Soldatenräten; freie Offizierswahl; keine Rangabzeichen; kein Vorgesetztenverhältnis außer Dienst; Beschleunigung der Abschaffung des stehenden Heeres und der Errichtung einer Volkswehr. Diese Punkte waren in sich selbst noch halbherzig, weil sie die Notwendigkeit der gewaltsamen Zerschlagung der stehenden Armee und ihrer Ersetzung durch ein proletarisches Milizsystem nicht klar aussprachen und vom Vertrauen in die politische Führung der SPD geprägt waren, denn die nähere Ausführung dieser Richtlinien wurde an den Rat der Volksbeauftragten im Einvernehmen mit den Soldatenräten und dem Vollzugsrat delegiert.

Sie versuchten aber die Doppelherrschaft in der Armee zu sanktionieren, was zu deren Schwächung und Zersetzung beigetragen hätte. Deshalb mußten sie auch kritisch unterstützt werden. Ihre Annahme eröffnete die Krise. Hindenburg telegrafierte sofort, daß er den Beschluß des Reichsrätekongresses nicht anerkenne. Generalleutnant Groener, Intimus von Ebert, reiste nach Berlin und drohte mit Rücktritt. Ebert verstand die Kunst des Abbiegens wie kein Zweiter und vertröstete auf künftige Ausführungsbestimmungen. Die Zeit spielte für die Gegenrevolution: die Oberste Heeresleitung begann auf den Truppenübungsplätzen um Berlin schlagkräftige Freiwilligenformationen zusammenzustellen, zuverlässiger als die vom Revolutionsbazillus infizierte Garnison und die zurückkehrenden Fronttruppen. Die Konterrevolution hatte sich bewaffnet.

Die Berliner Arbeiter sind zwar bewaffnet, bilden aber keine organisierte Miliz. Dazu hat sicher auch die Fixierung der Revolutionären Obleute auf ihren „Aufstandsplan“ beigetragen. Das Organisationskomitee des Generalstreiks vom 9. November hätte als Embryo eines zu wählenden Arbeiterrats die Arbeiter schon zur Selbstverteidigung des Streiks und der Demonstrationen bewaffnen müssen. Gleichzeitig hätte es in den Kasernen die Bildung von Räten der Mannschaften und die Absetzung der Offiziere fördern müssen sowie den Zusammenschluß mit dem Streikkomitee, um so die Polarisierung innerhalb des Heeres entlang der Klassenlinien zu erleichtern.

So entstanden Soldatenräte oft unter Billigung und Einflußnahme der Offiziere und wurden anfällig für die Argumente der Gegenrevolution. Innerhalb der Armee verschwamm der Klassengegensatz unter den gemeinen Soldaten eher; dafür war der Gegensatz zwischen Untergebenen und Vorgesetzten schärfer ausgeprägt. Da aber kaum revolutionäre Zellen vorhanden waren, kamen nichtrevolutionäre Elemente in die Räte. Däumigs Antrag auf Bildung einer Roten Garde wird im Vollzugsrat von den Soldatenräten abgelehnt.

VI. Der Weihnachtszwischenfall

3000 Milizionäre Eichhorns und 5000 Soldaten der Volksmarinedivision (VMD) sind die einzigen bewaffneten Kräfte, denen die Arbeiter vertrauen, nachdem letztere nicht mehr von dem reaktionären Abenteurer Graf Metternich befehligt wurde.

Alle entscheidenden Kämpfe im ersten Halbjahr der Revolution (während der Novemberrevolution am 6. und 24. Dezember sowie in der ersten Januarwoche) wurden von der Konterrevolution provoziert. Bereits am 6. Dezember hatten Elemente der Garnison und der Polizeikommandantur Wels eine spartakistische Demonstration der Union der Deserteure niedergeschossen, den Vollzugsrat unter Führung seines eigenen Mitglieds Spiro (!) verhaftet und Ebert zum Reichspräsidenten ausgerufen.

Der unhaltbare Widerspruch zwischen Rat der Volksbeauftragten und ZVR einerseits und die für das Vorantreiben der Revolution gänzlich untaugliche Kontrolle einer Regierung, die sich auf die Räte stützt, aber auch von der alten Macht und ihrer Staatsmaschine eingesetzt und gehalten wird, durch den Vollzugsrat – auch eine Koalition aus MSPD und USPD, nur mit deren linkem Flügel statt ihrem rechten – zeigte sich schlagend schon beim ersten gegenrevolutionären Putschversuch am 6. Dezember, als der Vollzugsrat dem Rat der Volksbeauftragten nicht in die Exekutive eingreifen durfte. Eine beidseitige Erklärung überbrückte die Kompetenzkrise nur zum Schein; die inhärente Logik dieser Konstruktion verurteilte das theoretisch oberste Gremium immer mehr zur Ohnmacht.

Nach diesem Putschversuch erfolgte am 23. Dezember eine erneute, ernstere Kraftprobe. Die VMD, zuverlässigste militärische Stütze der Revolution, geriet wegen des provokativ an sie nicht ausgezahlten Soldes, Konflikten um ihre Unterbringung und ihre bevorstehende Verkleinerung über das Maß ihrer eigenen Demobilisierung hinaus mit den sozialdemokratischen „Volksbeauftragten“ in Streit und besetzte die Reichskanzlei. Ebert rief über die geheime Telefonleitung zu Groener im Generalstab (!) Truppen zu Hilfe. Sie griffen am Heiligabend die Marinedivision in deren Unterkunft an.

Das Volk strömte, von Gerüchten aufgeschreckt, massenhaft auf die Straße, Frauen und Kinder voran. Die Soldaten wollten jetzt nicht mehr schießen. Die Massen durchbrachen ihren Ring. Die USPD-Führer stellten die Ruhe wieder her und retteten damit ihren Koalitionspartner trotz Eberts offensichtlicher Initiative zu dieser Aktion. Dittmann (Brandt, S. 90 f.) stellte klar, daß am Nachmittag des 23. Dezember eine Vereinbarung mit den Matrosen getroffen worden war, nach der sie verpflichtet waren, die Schlüssel abzuliefern, und dann sollte ihnen die Löhnung ausgezahlt werden. Später rechtfertigten die SPD-Volksbeauftragten ihren Einsatzbefehl damit, das sei geschehen, um das Leben ihres Genossen und Stadtkommandanten Wels zu retten, der sich im Marstall in der Gefangenschaft der Matrosen befunden habe. Wenn das stimmte, so Dittmann, dann war der Kanonenbeschuß ein absolut ungeeignetes Mittel, ihn zu retten. Die Verhandlungen hatten ja zum Erfolg geführt. Dieser „Erfolg“ war die „friedliche“ Dezimierung der einzigen halbwegs zuverlässigen militärischen Kraft der Revolution!

Dittmanns Vorwurf an Ebert & Co.: sie hatten „unnötig“ den Weg der Gewalt beschritten und dem Einfluß der alten Militärs wieder „zu sehr“ nachgegeben. Die Ebert, Landberg und Scheidemann kungelten weiter mit der Armee. Doch das Mißtrauen gegenüber den MSPD-“Volkskommissaren“ wuchs weiter. Nach den Weihnachtstagen begannen die Massen, die im November noch an ihren Sieg geglaubt hatten, sich verraten zu fühlen. Innerhalb der Linken setzte ein Differenzierungsprozeß ein: die Spartakisten traten aus der USPD aus, einige rechte Unabhängige strebten zur SPD, die Revolutionären Obleute klagten ihre Volksbeauftragten an, alles falsch gemacht zu haben und schlossen Barth aus ihren Reihen aus.

VII. Januarkämpfe: erster entscheidender Sieg der Konterrevolution

Nach der blutigen Weihnacht, am 29. Dezember 1918, schied die USPD aus der Koalition mit der MSPD aus und verließ den Rat der Volksbeauftragten. Der Zentralrat hatte die Aktion der rechtssozialdemokratischen Volksbeauftragten vom 24. Dezember gebilligt, Ruhe und Ordnung, Schutz des Eigentums und eine Garantie gegen „Gewalttätigkeiten“ seitens der USPD-Mitglieder verlangt. Diese verlangten u.a. eine „nach demokratischen Grundsätzen aus Freiwilligen zu bildende Volkswehr“ – eine Art Freikorps nach Schweizer Muster, eine reaktionäre Bürgerwehr, aber sicher keine revolutionäre Arbeitermiliz – und eine Sozialisierung lediglich der dafür „reifen Industrien“. Sie betonten die Überlegenheit ihrer friedlichen Verhandlungsführung zum Zwecke der Demobilisierung der revolutionären Militäreinheiten statt sinnloser Gewaltanwendung – für das gleiche Ziel.

In seiner Rede am 11. Juni 1919 bringt Georg Ledebour das Dilemma der USPD-Volksbeauftragten auf den Punkt: er geißelt die Zugeständnisse der Rechtssozialisten an die alte Bürokratie, an die Vertreter der kapitalistischen Parteien und des alten Militärregimes nicht aus Prinzip, sondern weil sie „übertrieben“ waren. Auch die USPD

„verkannte … nicht die Schwierigkeiten, die sich der Verwirklichung einer rein sozialistischen Politik gerade im damaligen Zeitpunkt entgegenstellten, weil durch den Krieg das ganze Wirtschaftsleben, das ganze gesellschaftliche Leben überhaupt vollkommen zusammengebrochen war. Aber die Schwierigkeiten wurden unseres Erachtens von den übrigen drei Volksbeauftragten viel schlimmer dargestellt, als sie wirklich waren.

„Wir haben damals fortgesetzt darauf gedrängt, daß das alte Heer so schnelle wie möglich restlos demobilisiert werden sollte, weil es zunächst, vom militärischen Standpunkt betrachtet, vollkommen zusammengebrochen und demoralisiert war auch, weil es eine ganz unnötige Belastung darstellte“ (Brandt: 1918-19, S. 88 – 91)

Schwierigkeiten des Zusammenbruchs? Natürlich, und gerade deshalb mußte unter Kontrolle der Arbeiter und ihrer Räte ein Notplan für Produktion und Verteilung erstellt werden! Für den Rechtszentristen Dittmann aber muß erst das Unternehmertum „aufräumen“ und „seine Wirtschaft“ in Gang bringen, damit „danach“ an eine „rein sozialistische Politik“ überhaupt wieder zu denken ist. Dabei hatten die Kaustkyaner nun ihren „großen Kladderadatsch“, „vor“ dem an eine Einführung des Sozialismus angeblich nicht zu denken war, d.h. solange sich „die (kapitalistischen) Produktivkräfte noch entwickelten“!

Die Demobilisierung des Frontheeres unter der Regie des Generalhauptquartiers (!) war – so die USPD – notwendig, nicht weil es Bestandteil einer zu zerschlagenden imperialistischen Armee war, sondern weil es nun auch für den Imperialismus untauglich geworden war und Ressourcen für den kapitalistischen Wiederaufbau verschlang! Auf dem Reichsrätekongreß war bereits ein neuer Zentralrat gewählt worden, in dem die Revolutionären Obleute nicht mehr mitwirkten. Gustav Noske, langjähriger SPD-Abgeordneter und jetzt Vertrauter des Offizierskorps, wurde Minister. Mit ihm fand die Konterrevolution – im Gegensatz zur Revolution – eine fähige und energische Führung, die es verstand, ein Kräfteverhältnis richtig einzuschätzen und entsprechend zu handeln.

Am 4. Januar 1919 entschied Noske, den Polizeipräsidenten von Berlin, Eichhorn (USPD), mit Gewalt abzusetzen. Am Abend trafen sich die Revolutionären Obleute, der Vorstand der Berliner USPD, Liebknecht und Pieck von der KPD mit Eichhorn im Polizeipräsidium. Diese Versammlung rief zu einer Massenkundgebung gegen die Absetzung am nächsten Tag auf. Die Reaktion war überwältigend. Am Nachmittag hatte sich aus der Demonstration eine bewaffnete Aktion entwickelt und die Verlage im Zeitungsviertel besetzt. Zwei Tage lang beherrschten die Revolutionäre Berlin. Die Anführer dieser Bewegung sahen nur zwei Möglichkeiten: entweder den sofortigen Kampf um die Macht oder einen geordneten Rückzug, um dem Kampf auszuweichen, weil das Kräfteverhältnis in der Hauptstadt und v.a. im Reich noch viel zu ungünstig war. Doch zwei Tage lang gaben sie nur Demonstrationslosungen aus. Als die Massen vom Herumwandern müde geworden waren und nach Hause gingen, wurde ein Aufstand ausgelöst, der in Blut ertränkt werden konnte.

Nach dieser eindrucksvollen Protestaktion trafen sich am Abend des 5. Januar 70 Revolutionäre Obleute, 10 Vorstandsmitglieder der Berliner USPD, 3 Soldatenvertreter, beide o.a. Genossen von der KPD und Eichhorn. Der Anführer der VMD Dorrenbach hatte die Versammlung mit der Einschätzung angespornt, alle Berliner Regimenter seien bereit, die Regierung Ebert-Scheidemann zu stürzen und ständen geschlossen hinter den Revolutionären Obleuten. Daraufhin stimmten 80 gegen 6 einschließlich Liebknecht für den Sturz der Regierung (Haffner, S. 126). Nach anderen Quellen (Broué, S. 50) soll die Mehrzahl der Revolutionären Obleute den Aufstand für verfrüht und abenteuerlich gehalten haben. Wie dann der Entschluß gefaßt werden konnte, erscheint aber schleierhaft!

Es wurde ein 53-köpfiger (!) Revolutionsausschuß (RA) gewählt mit Ledebour, Liebknecht und Scholze an der Spitze. Am 6. Januar befolgten die Arbeiterinnen und Arbeiter massiv den Aufruf zum Generalstreik des RA, der erklärte, er habe „die Regierungsgeschäfte vorläufig übernommen“. Die Parole hieß „Nieder mit der Regierung!“ Wie und wofür, darüber ließ der Revolutionsausschuß nichts verlauten. Er tagte und beriet – das war alles! Die Massen blieben stehen, wo sie standen. Der Sturm auf die Regierungsgebäude blieb aus. Die Reichskanzlei wurde von bewaffneten Zivilisten geschützt, die die MSPD eilig zusammengetrommelt hatte. Die Truppen folgten dem RA nicht, selbst die VMD blieb neutral. Das Zögern des RA erklärt sich auch aus der Tatsache, daß er an seinem Einfluß auf die Besetzer zweifelte: er hatte die Aktion nicht befohlen, kannte zumeist ihre Anführer nicht einmal.

Mitglieder der USPD-Zentrale, die in diesen Vorfall nicht verwickelt war, versuchten zwischen der Regierung und dem RA zu vermitteln. Das Scheitern dieser Verhandlungen war Ebert nur recht: er wollte die Entscheidung, keinen weiteren Scheinfrieden! Dittmann betonte (a.a.O. S. 94 – 101), daß der RA zu Kompromissen bereit war und bis auf den „Vorwärts“ alle Zeitungen schließlich vor Eintritt in Sachverhandlungen freigeben wollte. Unnachgiebig und unwillig zum Kompromiß war die neue Regierung. Noske war bei den Verhandlungen nicht dabei, weil er die Zusammenstellung der Freikorpstruppen beaufsichtigte.

Die Dinge lagen beim „Vorwärts“ anders als bei den bürgerlichen Blättern, da die Vertreter der Revolutionäre auf dem Standpunkt standen: der „Vorwärts“ ist der Berliner Arbeiterschaft während des Krieges unter Ausnutzung des Belagerungszustandes geraubt worden und ist eigentlich Eigentum der Berliner Arbeiter. Trotzdem wollten die Vertreter des RA am Schlusse der sachlichen Verhandlungen, die ja gar nicht zustande kamen, den „Vorwärts“ ebenfalls freigeben.

Diese Sonderrolle des „Vorwärts“ bestätigte auch Ernst Meyer (KPD) in seiner Zeugenaussage im Prozeß gegen Georg Ledebour vom 11.6.1919 (in: Brandt, 1918-19, S. 105 – 108): die Arbeiter sahen in Attacken des „Vorwärts“ gegen Eichhorn ein Politikum nach dem Austritt der USPD aus der Regierung, damit das neue Kabinett das Bürgertum be- und die Arbeiter entwaffnen konnte! Auch Dittmann berichtete, wie vollkommen unzufrieden die Arbeiter mit der Art waren, wie der Rat der Volksbeauftragten die Regierungsgeschäfte führte. Die Unabhängigen wurden von eigenen Parteigenossen heftig angegriffen, daß sie nicht längst aus der Regierung ausgeschieden waren. Sie warfen ihnen vor, sie hätten die Regierung den Arbeitern gegenüber durch ihr Verbleiben in der Regierung noch in gewisser Hinsicht gedeckt!!! Die Erregung stieg nach dem Ausscheiden der USPD noch mehr insbesondere bei dem provokatorischen Akt der Entlassung des Polizeipräsidenten. Die USPD-Basis hatte die politische Mechanik der „rein sozialistischen Regierung“ tausend Mal besser begriffen als ihre kollaborationistischen Führer!

Die Aktion im Zeitungsviertel war kein „Spartakusaufstand“: die KPD hatte sie weder geplant noch vorhergesehen. Sie war ausschließlich spontanes Werk der Berliner Arbeitermassen. Meyer behauptet, die KPD sei klar gegen eine Regierungsübernahme und Besetzung der Zeitungen gewesen. Schon die Besetzung des „Vorwärts“ am 25. Dezember traf die Partei überraschend. Die Sicherheitswehr Eichhorns und besonders die VMD habe sich überschätzt. Dorrenbach war offensichtlich der kompromißlerische Teilsieg der VMD zu Weihnachten zu Kopf gestiegen. Alle Mitglieder des RA waren auch über das überwältigende Ausmaß des Generalstreiks und der Protestkundgebungen leichtsinnig in der Einschätzung des Kräfteverhältnisses geworden. Meyer räumte ein, daß Liebknecht eine dubiose Rolle gespielt habe. Gegenüber ihm behauptete er, die Matrosen im Sinne des ZK-Beschlusses beeinflussen zu wollen.

Die Resolutionen mehrerer Berliner Arbeitermassenversammlungen und des kommunalen Arbeiter- und Soldatenrats von Groß-Berlin vom 10. Januar drückten eine Enttäuschung über alle Führer aus. In ihren Augen hatte auch der RA versagt. Sie wollten mit Ausnahme der Versammlung sozialdemokratischer Betriebsvertrauensleute von Groß-Berlin dasselbe wie im November: Einigung aller (jetzt drei) sozialistischen Parteien, Beseitigung des alten Staats, sozialistische Volkswehr und sozialistische Republik, Abschaffung der Kommandogewalt der Offiziere und die Sozialisierung. Sie hatten begriffen, daß Ebert das nicht (mehr) wollte und forderten den Rücktritt aller Führer, eine Ablösung der Regierung und Neuwahlen zu den Räten!

Auf Befehl Eberts wurde vom 9. bis zum 12. Januar die Revolution in der Hauptstadt zusammengeschossen. Die besetzten Gebäude im Zeitungsviertel wurden von regierungstreuen Truppen und rechtsextremistischen Freischärlern zurückerobert. Die Freikorps unter Noske kamen diesmal noch nicht zum Einsatz. Vor zwei Monaten hatte sich die Revolution arglos Ebert ausgeliefert, der sich jetzt ohne Zögern mit Haut und Haaren der bewaffneten Gegenrevolution verschrieb, ohne jemals von dieser als einer der Ihren voll akzeptiert zu werden. Drei Tage später liquidierten Freikorpstruppen Liebknecht und Luxemburg meuchlings. Von dieser Niederlage sollte sich die Revolution in Berlin vorerst nicht erholen.

Die am 19. Januar abgehaltenen Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung brachten der alten Reichstagskoalition von SPD und den offen bürgerlichen Freisinnigen und Zentrum eine satte Dreiviertelmehrheit. Schnell kehrte auch bei den SPD-Wählern Ernüchterung ein über die ausbleibenden sozialen und demokratischen Reformen der Nationalversammlung-Mehrheit. Ihr wurde vorgeworfen, sie schaue untätig den Sabotageakten der Kapitalisten und Vermögensverschiebungen ins Ausland zu; Lohnstreiks brächen aus, weil keine Notgesetze (Mindestlohn) gegen den Willen der Unternehmer beschlossen würden. (vgl. Leserbrief an den „Vorwärts“ vom 28.2.1919; in: Brandt: 1918-19, S. 119 – 122)




Anhang II: Chronologie der wichtigsten Ereignisse

28.7.1914: Beginn des ersten Weltkriegs mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien.
8.3.1917: Beginn der Revolution in Rußland.
6.4.1917: Kriegseintritt der USA.
9.-11.4.1917: Gründung der USPD.
Mitte April 1917: Erste Massenstreikbewegung während des Krieges.
19.7.1917: Resolution der Reichtagsmehrheit (Linksliberale, Zentrum, SPD) für Verständigungsfrieden”.
Anfang August 1917: Meuterei auf Schiffen der vor Anker liegenden deutschen Hochseeflotte.
Januar 1918: Politische Massenstreikbewegung. Über 1 Mio. Teilnehmer.
8.-11.8.1918: Nach mehreren fehlgeschlagenen deutschen Großoffensiven militärische Entscheidung durch Front-Einbruch der Alliierten.
30.9.1918: Waffenstillstand des deutschen Verbündeten Bulgarien mit Alliierten nach militärischem Zusammenbruch. Österreich-Ungarn und Türkei unmittelbar vor Zusammenbruch und Zerfall.
1.10.1918: Aufruf von Spartakus zur Bildung von Räten.
3.10.1918: Regierung Max von Baden auf parlamentarischer Grundlage (Beteiligung der SPD). Reformprogramm.
3./4.10.1918: Deutsches Waffenstillstandsangebot auf Druck der Obersten Heeresleitung.
28.10.1918: Beginn der Meuterei der Hochseeflotte gegen geplante Schlacht.
3.-5.11.1918: Aufstand in Kiel. Übernahme der Macht durch Arbeiter- und Soldatenrat.
5.-11.11.1918: Ausbreitung der Aufstandsbewegung in ganz Deutschland.
7.11.1918: Umsturz in München.
9.11.1918: Umsturz in Berlin. Ausrufung der Republik. Ebert tritt an die Stelle von Prinz Max von Baden. “Abdankung” Wilhelms II.
10.11.1918: Bildung des Rats der Volksbeauftragten aus SPD und USPD unter faktischer Leitung Eberts. Wahl des Vollzugsrats der Berliner Räte auf derselben Versammlung, der die Regierung der Volksbeauftragten anerkennt.
11.11.1918: Waffenstillstand.
15.11.1918: Zentrales Abkommen zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden.
23.11.1918: Mit dem Bergarbeiterstreik in Oberschlesien Beginn ökonomischer Streiks.
6.12.1918: Gegenrevolutionärer Putschversuch in Berlin: Verhaftung des Vollzugsausschusses durch ein Regiment der Berliner Garnison. Gardefüsiliere schießen auf spartakistische Demonstration (16 Tote und viele Verletzte).
14.12.1918: Aufruf der Regierung zur Bildung von Freikorps. Aufruf von Spartakus zur Bildung einer Kommunistischen Partei.
16.-21.12.1918 Erste Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte beschließt die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung für den 19. Januar 1919.
23.-25.12.1918: Bewaffnete Kämpfe zwischen revolutionären Matrosen und Fronttruppen in Berlin.
29.12.1918: Rücktritt der USPD-Volksbeauftragten aus Protest gegen die Weihnachtskämpfe. Eintritt Noskes in die Regierung.
29.12.1918-1.1.1919: Gründung der KPD (Spartakus und Linksradikale).
4.1.19 Absetzung des Berliner Polizeipräsidenten Eichhorn (USPD).
5.-15.1.1919: Nach Massendemonstration gegen Entlassung Eichhorns bewaffnete Kämpfe zwischen der radikalen Linken und Freikorps.
15.1.1919: Ermordung Liebknechts und Luxemburgs.
10.1.-4.2.1919: Räterepublik in Bremen. Einsatz von Freikorps gegen Arbeiterräte in Bremen, Hamburg usw.
19.1.1919: Wahlen zur Nationalversammlung. Dreiviertelmehrheit von SPD, Zentrum und Linksliberalen.
6.2.1919: Zusammentritt der Nationalversammlung in Weimar. Regierung aus SPD, Zentrum und Linksliberalen. Ebert Reichspräsident.



100 Jahre Jännerstreik in Österreich: eine verpasste Revolution

Michal Nagy, Infomail 986, 9. Februar 2018

Vor 100 Jahren kam es zu den größten Streiks in der Geschichte Österreichs bis heute. Die Streiks entbrannten im Namen des Friedens, des Endes der kapitalistischen Versorgungskrise und unter dem Eindruck der jungen Russischen Revolution. Wegen des Fehlens einer revolutionären, führenden Partei war der Aufstand, wie in Deutschland, Ungarn und der zukünftigen Tschechoslowakei, fehlgeschlagen.

Entwicklung der Sozialdemokratie

Mit Anfang des 20. Jahrhunderts begann die Epoche des Imperialismus und mit ihr auch die rasche Verbürgerlichung der Sozialdemokratie. Obwohl die SDAP (Sozialdemokratische ArbeiterInnenpartei Österreichs), aus der später die SPÖ hervorging, in der Zeit ihrer Gründung mit dem Hainfelder Programm 1889 durchaus eine marxistische Partei auf einem formal marxistischen Gründungsdokument war, spielten opportunistische und revisionistische Tendenzen eine nicht unbedeutende Rolle. Unter Führung des „Gründungsvaters“ Victor Adler wurde die österreichische Sozialdemokratie immer mehr zu einer angepassten parlamentarischen Partei, die ihre Forderungen schrittweise an Reformen innerhalb der bürgerlichen Demokratie anpasste und statt der Zerschlagung die Demokratisierung des bürgerlichen Staatsapparats anstrebte. Dieser Prozess vollzog sich, ähnlich wie in den meisten europäischen Ländern, ohne Herausbildung einer revolutionären Fraktion oder Partei und endete spätestens mit der patriotischen Unterstützung des eigenen Vaterlands im Ersten Weltkrieg. Die ersten Kriegsjahre brachten eine allgemeine Abnahme der Mitgliederzahlen in der Sozialdemokratie (von 415.000 im Jahr 1913 auf 166.000 1916), jedoch eine große Zunahme an weiblichen Mitgliedern, die während des Krieges bis zu 42 Prozent des Proletariats bildeten. Erst mit dem offensichtlichen Verrat begann langsam die Herausbildung einer linksradikalen und antimilitaristischen Fraktion. Die Erkenntnis über den neuen Charakter der Partei verlief langsam und auch für die Herausbildung einer offenen Antikriegsstimmung in der ArbeiterInnenschaft bedurfte es der immer tieferen Versorgungs- und Lohnkrise der Kriegsjahre, vor allem nach 1917. Sogar die sozialdemokratische Parteiführung passte sich im Oktober an die pazifistische Linie der gemäßigten Linken an und eröffnete die austromarxistische Phase aus linker Rhetorik und reformistischer Realpolitik.

Der Einfluss der „Linksradikalen“

Für die Entfachung der Streikbewegung entscheidend waren Kürzungen der geringen Brot- und Mehlrationen, aber auch die Friedensbestrebungen der Russischen Revolution und die Rolle der Linksradikalen in der Sozialdemokratie, die den Krieg mit einem Generalstreik beenden wollten. In der Partei konnte sich ein kleiner linker Flügel rund um Friedrich Adler herausbilden, der jedoch keinen Prozess der programmatischen und organisatorischen Zentralisierung durchlief. Friedrich Adler selbst vermied offene Auseinandersetzungen, eine potenzielle Spaltung und verfolgte eine pazifistische Politik statt klassenkämpferischen Antimilitarismus’. Doch aus den Reihen des „Verbands Jugendlicher Arbeiter“ betrieben Oppositionelle Propaganda gegen den Krieg und organisierten sich eigenständig im „Aktionskomitee der Linksradikalen“, u. a. unter Franz Koritschoner.

Innerhalb des Jahres 1917 kam es bereits zu einigen großen Streikbewegungen, in denen das „Aktionskomitee der Linksradikalen“ Fuß fassen konnte, weil sich die sozialdemokratischen Organe immer mehr in solche der Klassenkollaboration verwandelt hatten und für ungestörte (Kriegs-)Produktion sorgten. Auf Initiative der Linksradikalen fand im September 1917 eine Konferenz in St. Egyden zwischen Vertrauensleuten vieler wichtiger Betriebe statt, die sich für das Ende des Krieges aussprach und einen politischen Streik vorbereitete.

Der Jännerstreik

Ab dem 22. Dezember 1917 begannen die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk zwischen dem jungen Sowjetstaat und den Mittelmächten. Nachdem Deutschland Annexionen forderte und sich weigerte, seine Armee abzuziehen, kam es zu genereller Empörung in der ArbeiterInnenklasse. Der Streik wurde deshalb vorgezogen und sollte am 14. Jänner 1918 in Wiener Neustadt beginnen. Dort begann er mit einer illegalen Betriebsversammlung im Daimler-Werk und setzte sich mit einem Zug auf den Hauptplatz fort, nach dem sich weitere Fabriken im Wiener Becken dem Streik anschlossen. Am bedeutendsten waren wohl die 40.000 ArbeiterInnen der Wöllersdorfer Munitionsfabrik. Am selben Tag wurden von den jeweiligen Betrieben VertreterInnen für einen ArbeiterInnenrat gewählt, der als Ersatz für die fehlende Unterstützung der Gewerkschaften und der Partei agieren sollte, wohl aber auch von den Linksradikalen vorangetrieben wurde. Zwei ihrer Mitglieder gehörten sogar der Leitung des Rats an. Am selben Tag breitete sich der Streik noch weiter aus und am nächsten Tag, dem 15. Jänner, reagierte die Partei auf den Streik anpassend und mit der Absicht, die Kontrolle über ihn zu erlangen und ihn zu beenden. Am darauffolgenden Tag breitete sich der Streik auf Wien aus, wo 84.000 ArbeiterInnen im Ausstand waren. Am 17. Jänner erstellte der Parteivorstand einen 4-Punkte-Katalog, der in die ArbeiterInnenräte einzubringen sei, um die Massen zu beruhigen und den Streik beenden zu können. Die Forderungen lauteten: 1. kein Scheitern der Friedensverhandlungen wegen territorialer Forderungen der Regierung, 2. eine bessere Versorgungssituation, 3. eine Demokratisierung des Gemeindewahlrechts und 4. Aufhebung der Militarisierung der Betriebe. Die Linksradikalen veröffentlichten daraufhin ein eigenes 4-Punkte-Programm, das eindeutig über die Forderungen der Partei hinausging (sofortiger Waffenstillstand, Wahl der Friedensdelegierten durch das Volk), Misstrauen gegenüber den „patriotischen ArbeiterführerInnen“ äußerte und sich eindeutig auf die Seite der bolschewistischen Delegation in Brest-Litowsk stellte. Der Streik breitete sich mittlerweile auf Ungarn und Tschechien aus und betrug schon zwischen 550.000 und einer Million TeilnehmerInnen. Die Sozialdemokratie bemühte sich inzwischen, von der Regierung größere rhetorische Zugeständnisse einzuholen und im ArbeiterInnenrat einen Beschluss für die Wiederaufnahme der Arbeit zu erlangen. Auf der Versammlung im ArbeiterInnenheim Margareten wurde dies schließlich mit großer Mehrheit erreicht. Der Streik dauerte zwar in vielen Fabriken noch bis zum 23. Jänner an, konnte aber nicht gegen die Sozialdemokratische Partei wiederbelebt werden. Die ArbeiterInnenräte wurden in weiterer Folge der Sozialdemokratie untergeordnet. Die Statuten wurden dahingehend geändert, dass man für eine Mitgliedschaft im ArbeiterInnenrat mindestens sechs Monate Mitglied in der Partei sein musste. Außerdem sollte er kein ständiges Gremium sein, sondern nur bei Streiks und anderen betrieblichen Protesten einberufen werden. Damit war der ArbeiterInnenrat nicht mehr ein unabhängiges, politisches Machtorgan der ArbeiterInnenklasse, sondern ein Instrument zur bürokratischen Kontrolle von Streikbewegungen.

Die Lehren der Bewegung

Die konterrevolutionäre Rolle der Sozialdemokratie zeigte sich deutlich an der Sabotage dieser größten Streikbewegung Österreichs. Sie zeigte sich noch klarer in der Zwischenkriegszeit, wo sie Koalitionsregierungen mit den Christlich-Sozialen einging und später das Proletariat im Kampf gegen die Dollfuß-Diktatur lähmte.

Eine zentrale Lehre dieser mächtigen Streikbewegung ist eine über die Räte. Wie dieses Beispiel gut zeigt, sind die Räte keineswegs spontan vollständig revolutionäre Instrumente. Sie sind Organe der Doppelmacht dahingehend, dass sie die Macht der ArbeiterInnenklasse gegenüber der kapitalistischen Staatsmacht verkörpern. Aber die proletarische Machtergreifung, mit der die Doppelmacht aufgehoben und die Staatsmacht selbst in die Hände der Räte fällt, bleibt ein bewusster revolutionärer Akt. Sind die ArbeiterInnenklasse und ihre Führung trotz der Räte zu diesem Schritt nicht bereit, dann werden auch jene nicht von langfristigem Bestand sein können. Die Räte selbst müssen also für ein Programm, das die aktuellen Kämpfe der Klasse mit der revolutionären Machteroberung verknüpft, gewonnen werden. Die Sozialdemokratie lehnte ein solches Programm strikt ab und die Linksradikalen waren zur Zeit des Jännerstreiks noch zu schwach, um die Dominanz der sozialdemokratischen Parteiführung über die Streikbewegung zu brechen. Zwar gründeten sie mit der Kommunistischen Partei Osterreichs im November 1918 eine der ersten kommunistischen Parteien außerhalb Sowjetrusslands, doch selbst dann wurden sie aufgrund mangelnder Erfahrung und ultralinker Fehler keine ernsthafte Konkurrenz für die Sozialdemokratie.

Die Erfahrung des Jännerstreiks von 1918 zeigt uns bis heute die Notwendigkeit einer revolutionären Partei, die verhindern kann, dass eine verräterische Partei die Führung über eine radikalisierte Massen- bzw. Rätebewegung übernimmt und sie ins Nichts treibt. Wartet man mit dem Aufbau einer solchen Partei, bis die Massen sich selbst bewegen, dann wird es zu spät sein.