Argentinien: Rechtsruck bei den Vorwahlen

Martin Suchanek, Neue Internationale 276, September 2023

Der Sieg des rechten, ultraliberalen Javier Milei bei den Vorwahlen am 13. August kommt einem politischen Erdbeben gleich. Überraschend ließ der Kandidat der rechten La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) die Vertreter:innen der großen bürgerlichen Parteiblöcke – der rechtsliberalen Allianz Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wechsel) und der peronistischen Unión por la Patria (Union für das Vaterland) hinter sich.

Umfragen prognostizierten Milei, dessen Partei erst 2021 gegründet worden war, zwar einen beachtlichen Zulauf von bis zu 20 % der Stimmen und damit den dritten Rang unter den Präsidentschaftskandidat:innen. Dass er gewinnen würde, hatte jedoch niemand auf dem Schirm.

Ergebnis der Vorwahlen

Die Vorwahlen dienen in Argentinien zwei Zwecken. Erstens dürfen nur Parteien oder Allianzen, die die 1,5 %-Hürde knacken, zu den Präsidentschaftswahlen, zur Wahl von 130 der 257 Parlamentssitze sowie von 24 der 72 Senator:innen antreten. Zweitens können für eine Partei zwei Kandidat:innenlisten zur Vorwahl antreten und das Ergebnis legt fest, wer die Liste anführt. Darüber hinaus fanden am 13. August auch noch Vorwahlen zu den Gouverneur:innenwahlen und der Legislative mehrerer Provinzen, darunter auch Stadt und Region Buenos Aires statt.

Bei den Vorwahlen zur Präsidentschaft erhielten Milei und die als Vizepräsidentkandidatin antretende Victoria Villarruel 30 % der Stimmen. Anders als bei den meisten anderen Listen gab es hier keine parteiinterne Konkurrenz Auf dem zweiten Platz folgte Juntos por el Cambio mit 28,3 %, wobei sich dort Patricia Bullrich, die Vorsitzende der Partei des ehemaligen Präsidenten Mauricio Macri (2015 – 2019) und einstige Sicherheitsministerin, mit 17 % durchsetzen konnte.

Die zur Zeit noch regierende peronistische Unión por la Patria errang nur 27,27 % – und verlor damit gegenüber den Vorwahlen 2019 rund 20 %! Der derzeitige Wirtschafts- und Finanzminister Massa, also der Kandidat vom rechten Parteiflügel, setzte sich mit 21,4 % klar durch. Der linkspopulistische Gegenkandidat Grabois errang gerade 5,89 %, obwohl er vom Papst und der ehemaligen Präsidentin Cristina Kirchner unterstützt wurde.

Nur zwei weitere Listen schafften es zu den Präsidentschaftswahlen, alle andere blieben unter 1,5 %. So treten neben den oben genannten drei großen Lagern noch die aus dem Peronismus kommenden Schiaretti und Randazzo an, die bei den Vorwahlen 3,8 % erhielten. Die Kandidat:innen der Frente de Izquierda y de Trabajadores – Unidad (FIT-U = Front der Linken und Arbeiter:innen – Vereinigte Front) vereinten 2,7 % auf sich. Insgesamt erhielt die FIT-U 630.000 Stimmen – ein deutlicher Rückgang gegenüber den letzten Vorwahlen 2021 (zur anderen Hälfte der Parlamentssitze), als sie fast eine Million Stimmen erhielt, aber auch gegenüber den Wahlen von 2019. In der FIT-U setzte sich die Liste der PTS/IS (Bregman und del Caño) mit 1,86 % gegenüber jener von PO/MST (Solano und Ripoll) durch, die 0,79 % erhielt. Andere linke Kandidaturen aus dem trotzkistischen Spektrum verfehlten mit 0,4 % (Nuevo MAS) und 0,3 % (Politica Obrera) die 1,5 %-Hürde.

Sieg der Rechten und Krise

Betrachten wir nur die Stimmen zu den Präsidentschaftswahlen, so erzielten Kandidat:innen rechts von den regierenden Peronist:innen rund 60 %! Hinzu kommt, dass La Libertad Avanza auch in vielen Provinzen stark abschnitt, also nicht nur Milei als ernstzunehmender Kandidat, sondern auch seine Partei sich etablieren konnten. Die Stimmen für die regierenden Peronist:innen dürfen darüber hinaus auch keineswegs als „links“ gewertet werden. Vielmehr stellt der Peronismus den linken Flügel des bürgerlichen Spektrums dar, eine populistische politische Strömung, die letztlich die Interessen des Kapitals vertritt, auch wenn sie die Gewerkschaften und deren Führung über Jahrzehnte inkorporiert, gewissermaßen eine Volksfront in Parteiform darstellt.

In jedem Fall haben die beiden Hauptparteien des politischen Systems an Positionen verloren. Über Jahrzehnte stellten sie – und nur sie – Präsidentschaft und Regierung, wechselten sich gewissermaßen ab, wenn darum ging, die Staatsgeschäfte zu erledigen und die damit verbundenen Pfründe untereinander aufzuteilen. Dieses System war schon immer untrennbar mit Korruption, Vetternwirtschaft, Amtsmissbrauch und mehr oder weniger offener Plünderung staatlicher Gelder für eigene Zwecke oder im Interesse des inländischen und ausländischen Kapitals verbunden.

Doch Argentinien befindet sich seit Jahren in einer extremen ökonomischen und sozialen Krise, die eng mit der halbkolonialen Abhängigkeit des Landes verbunden ist. Schon um die Jahrhundertwende stand das Land infolge von Verschuldung, Bankcrash und Zusammenbruch der Währung vor dem Ruin. Nachdem diese vorübergehend überwunden werden konnte, dreht sich wieder die Schuldenspirale. Seit spätestens 2014 schrammt das Land nah an der Insolvenz vorbei.

Seit Jahren verhandelt Argentinien eine Umschuldung nach der anderen mit dem IWF, da es sonst kaum noch neue Kredite erhält. Im März 2023 betrugen die Schulden rund 276 Milliarden US-Dollar. Davon entfielen 148 Milliarden auf den Nationalstaat, der beim IWF mit rund 45 Milliarden in der Kreide steht. Gleichzeitig sanken die Devisenreserven der Zentralbank auf 36,5 Milliarden US-Dollar, den niedrigsten Stand seit 2016.

Die Inflation ist von Juni 2022 bis Juni 2023 von 64 % auf 115 % gestiegen, was auch dazu führt, dass viele versuchen, ihre Reserven in US-Dollar anzulegen. Extreme Dürren, begleitet von massiven Ernteeinbrüchen – Schätzungen gehen von 30 – 40 % für verschiedene Agrarprodukte aus –, haben die Situation weiter zugespitzt. Verschärfend kommen Energie- und Treibstoffknappheit hinzu. Für 2023 prognostiziert der IWF ein Schrumpfen der Wirtschaft um 2,5 % und eine Inflationsrate von 120 %.

Dabei leben schon heute rund 40 % der Bevölkerung in völliger Armut – und zwar mit massiver Steigerung. In den letzten Jahren sind Schätzungen zufolge rund 4,5 Millionen Menschen in die Armut abgerutscht, auch aus den Mittelschichten – nicht zuletzt infolge der Kürzungen, die für IWF-Kredite ausgehandelt wurden. Die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 7,5 %, die Jugendarbeitslosigkeit bei 18,3 %. Nur 43 % der Beschäftigten haben einen „regulären“ Arbeitsvertrag, die Mehrheit der Lohnabhängigen arbeitet ohne soziale Absicherung über Vertragsarbeit oder als Scheinselbstständige. Das führt auch dazu, dass die Gewerkschaften an potentiellem Einfluss verloren, weil mittlerweile die Mehrheit aller Arbeitsverhältnisse nicht über gewerkschaftliche Abkommen reguliert wird (was umgekehrt die Gewerkschaftsspitzen nicht hindert, sich weiter den Peronist:innen unterzuordnen).

Widerstand

All dies findet keineswegs ohne Widerstand und Protest statt. Im Sommer 2022 gab es bedeutende Demonstrationen gegen Preissteigerungen und umfangreiche Kürzungen an Sozialprogrammen durch die peronistische Fernández-Regierung. Mehrere landesweite Protesttage 2023 mobilisierten Hunderttausende – 160.000 am 7. Februar,

rund 350.000 Menschen am 18. Mai 2023 nach einem Sternmarsch nach Buenos Aires gegen Hunger und IWF-Sparpolitik. Maßgeblich organisiert wurden sie von einer  Koordination für die soziale Veränderung, einem Bündnis der Erwerbslosenorganisationen namens Unidad Piquetera.

Am 4. Juli 2023 fanden in mindestens 87 Orten Argentiniens Proteste statt, vielerorts wurden auch Straßen und Kreuzungen blockiert. Unter dem Banner „Unidad Piquetera“ (Vereinte Blockade) demonstrierten verschiedene soziale Bewegungen gemeinsam gegen die wachsende Ungleichheit im Land.

Die vier Forderungen der Unidad Piquetera: „20 Millionen Arme, und das Essen geht in den Wahlkampf. [1] Ganzheitliche Versorgung der Suppenküchen. 2) Lieferung der Hilfsmittel für selbstverwaltete Arbeit. 3) Teuerungsausgleichszulage. 4) Erhöhung der Sozialprogramme = Inflation.“

Ein anderes Beispiel für Proteste ereignete sich im Juni 2023 in der Nordwestprovinz Jujuy, wo der Gouverneur eine Verfassungsreform durchdrücken will. Die neue Verfassung verbietet es, Straßen zu blockieren oder andere Maßnahmen zu ergreifen, die in den letzten Wochen in der Provinz bei Demonstrationen gegen die Reform und für eine bessere Bezahlung der Lehrer:innen eingesetzt wurden.

„Die CGT von Jujuy hat einen 48-stündigen Streik ausgerufen. Alle zum Streik und zur Mobilisierung. Er muss andauern, bis die Reform fällt und sie auf alle Forderungen reagieren. Ein nationaler Streik der CGT und der CTA zur Unterstützung der Bevölkerung von Jujuy ist unerlässlich. Nach Tagen des Kampfes und der Repression in Purmamarca sind die Worte des Präsidenten und der Vizepräsidentin der Nation angekommen. Ihre Partei hat die Reform von Morales unterstützt und heute waren sie noch im Plenarsaal und haben geschworen, dass es eine schlechte Reform ist, während sie das Volk unterdrücken. Nieder mit der Reform. Hoch mit den Löhnen und Rechten. Freiheit für alle Verhafteten und Inhaftierten. Generalstreik, bis die Verfassungsreform von Morales und der PJ fallen gelassen wird“. (Aus einem Bericht des linken Wahlbündnisses FIT-U) (Gerardo Morales=Gouverneur von Jujuy)

Allerdings gingen die Proteste trotz beachtlicher Größe bislang nicht über Großdemonstrationen oder lokale, befristete Besetzungen und Streiks hinaus. Zweitens tragen viele auch einen defensiven, eher appellativen Charakter.

Warum siegte die Rechte?

So wichtig, diese Mobilisierungen daher sind, so schlägt in Argentinien das politische Pendel inmitten der kombinierten sozialen, wirtschaftlichen Krise massiv nach rechts aus. Zweifellos sind die Wahlbewegungen instabil und Momentaufnahmen. Sicherlich wählten viele Milei auch, um den etablierten Parteien einen Denkzettel zu verpassen, nicht weil sie von seiner Politik so überzeugt wären. Aber die Bilanz der Vorwahlen ist eindeutig (und wird sich bis zu den Wahlen auch nicht extrem verändern, selbst wenn Juntos por el Cambio oder Unión por la Patria besser abschneiden sollten. Der Rechtsruck ist deutlich – und wir müssen uns fragen, warum ein Kandidat wie Milei, der 2019 noch gar nicht zur Wahl stand, 30 % erreichen konnte.

Ähnlich wie Trump inszeniert sich der Wirtschaftswissenschafter und selbsternannte „Anarchokapitalist“ als Kandidat gegen das „korrupte“ Establishment. Er verspricht, mit der Korruption, mit dem „alten System“, zu dem auch die Gewerkschaften, Linke, Errungenschaften der Frauenbewegung und Unterdrückten gehören, aufzuräumen.

Den Peso will er abschaffen und durch den US-Dollar ersetzen, die Zentralbank würde dann nicht mehr gebraucht und folgerichtig geschlossen. Die Bindung an den US-Imperialismus würde verstärkt.

Milei hat Verbindungen zu bekannten rechten Organisationen wie z. B. der „Fundación LIBRE“ und findet lobende Worte für die ehemalige Militärdiktatur. Auch spricht er sich gegen Abtreibung aus. Seine wirtschaftliche Agenda ist eine besonders radikale Form des Neoliberalismus. Er will alle Sozialprogramme abschaffen und Unternehmen nicht mehr besteuern. Bildung und die öffentliche Gesundheitsversorgung sollen restlos privatisiert werden.

Kein Wunder also, dass er Unterstützung bei den reichsten Menschen sowie bei bedeutenden Teilen des Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten findet. Aber er erhielt paradoxerweise auch bei den ärmsten Menschen massiv Zuspruch.

Dies verdeutlicht nicht nur deren massive Entfremdung vom argentinischen politischen System und insbesondere auch vom Peronismus, der diese lange integriert hatte. Die Wahl der Rechten als „Protest“ verweist auch auf die Verzweiflung und teilweise Demoralisierung dieser Schichten. Gelingt es den Gewerkschaften und der Linken nicht, die Massen gegen die Krise zu mobilisieren und für diese einen Pol der Hoffnung darzustellen, so droht, sich diese Schicht zu einer rechten populistischen Bewegung zu verfestigen und im Falle zukünftiger Kämpfe sogar weiter zu radikalisieren.

Die Mischung aus heterogenen Klassenkräften – von verarmten, deklassierten Schichten über das Kleinbürger:innentum bis hin zu Teilen des herrschenden Klasse – kann nur zusammengehalten werden, indem der anarchokapitalistische Führer sein Programm, das sich unmittelbar gegen die Masse seiner Wähler:innen richtet, mit rassistischer, reaktionärer, demagogischer und irrationaler Hetze gegen eine/n gemeinsame/n Feind:in verbindet. Sollte Milei in der Opposition bleiben, wird er in jedem Fall diese Strategie verfolgen. Aber auch, wenn er einen bedeutenden Einfluss auf die nächste Regierung erlangen oder gar, was unwahrscheinlich ist, die Präsidentschaft gewinnen sollte, wird er auf eine solche reaktionäre Mobilisierung weiter zurückgreifen müssen, will er seine Anhänger:innen bei der Stange halten.

Die radikale Linke

Vor diesem Hintergrund müssen die Ergebnisse der „radikalen Linken“ analysiert und deren Aufgaben bestimmt werden.

Die FIT-U hat mit 2,7 % (=620.000 Wähler:innen) ein Ergebnis erzielt, das in jedem anderen Land überaus beachtlich wäre. Die Wahlallianz FIT-U aus vier trotzkistischen Organisationen besteht aber bereits seit 2011 und die Ergebnisse pendeln seither um diesen Prozentsatz. Die FIT-U ist zwar etwas gewachsen, aber ihr gesellschaftlicher Einfluss stagniert seit Jahren.
Das liegt an mehreren Faktoren. Erstens bildet sie im Wesentlichen nur eine Wahlallianz. Außerhalb der Wahlen treten die vier Gruppierungen vor allem als verschiedene Organisationen auf.

Auch wenn alle gern betonen, dass die FIT-U mehr werden müsse als eine Wahlallianz – so hat auch niemand den Schritt, über diese hinauszugehen, ernsthaft versucht.

Dies würde nämlich bedeuten, offen und öffentlich über eine programmatische Vereinheitlichung und die programmatischen Differenzen zu debattieren. Es würde auch bedeuten, die FIT-U für Arbeiter:innen und Jugendliche zu öffnen, die deren Wahlprogramm unterstützen.

Das ist aber nicht möglich. Die Mitglieder der FIT-U sind vier Organisationen – Partido Obrero (PO), Partido de los Trabajadores Socialistas (PTS), Izquierda Socialista (IS) und Movimiento Socialista de los Trabajadores (MST). Wer mitbestimmen will, muss einer der vier betreten.

Hinzu kommt, dass das Programm der FIT-U aus dem Jahr 2011 (!) stammt und seither nicht aktualisiert wurde. Dabei wäre das dringend nötig. Erstens, weil das Programm nicht auf die aktuellen Aufgaben fokussiert ist, zweitens, weil es wichtige Schwächen aufweist, die es zu einem zentristischen, nicht-revolutionären Programm machen. So enthält es keine klare Orientierung auf eine Einheitsfrontpolitik gegenüber den bestehenden, vom Peronismus politisch dominierten Gewerkschaften. Das Programm spricht zwar die Forderung nach einer Arbeiter:innenregierung an, aber es lässt offen, auf welche Organe sich eine solche stützen müsste, wie überhaupt Räte und bewaffnete Selbstverteidigungsorgane der Arbeiter:innen und Unterdrückten (Milizen) nicht vorkommen.

Teile der FIT, z. B. Izquierda Socialista, halten dieses ungenügende Programm für ausreichend. Faktisch agieren die Kandidat:innen der FIT-U darüber hinaus mit ihren jeweils eigenen Wahlplattformen. Nicht nur zum Wahlprogramm gibt es massive Differenzen, auch zu anderen, für den Klassenkampf wichtigen Fragen (Charakterisierung von Russland und China, Krieg in der Ukraine, Verhältnis zu Kuba und Venezuela, Haltung zu den Piquetero-Organisationen und zum Peronismus).

Die Wahlen dürfen daher auch von der FIT-U nicht als Aufruf zu einem „Weiter so!“ verstanden werden. Vielmehr müssen zwei, miteinander verbundene strategische Aufgaben angegangen werden:

a) Aufbau einer Einheitsfront gegen die Angriff des Kapitals mit dem Ziel, auch die Gewerkschaften in den Kampf zu zwingen.

b) Ausarbeitung eines Aktionsprogramms, das im Kampf für eine Arbeiter:innenregierung gipfelt, die sich auf Räte und Milizen stützt, das Großkapital unter Arbeiter:innenkontrolle enteignet und einen Notplan gegen die Krise umsetzt.

Dies würde aber erfordern, dass die FIT-U selbst eine Kurskorrektur vornimmt, eine Diskussion um diese Fragen organisiert, um eine vereinte revolutionäre Arbeiter:innenpartei aufzubauen.




Frankreich: Wird sich die wirkliche NPA durchsetzen?

Marc Lassalle, Infomail 1207, 19. Dezember 2022ranke

Der lange Todeskampf der französischen Nouveau Parti Anticapitaliste (Neue antikapitalistische Partei NPA) hat sein Endstadium erreicht, nachdem die ehemalige Führung den jüngsten Parteitag verlassen hat. Diejenigen, die übrig geblieben sind, müssen die Bilanz des Experiments der pluralen Partei ziehen.

Was ist geschehen?

Was auf der fünften nationalen Konferenz der Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA), die am 11. Dezember in Paris stattfand, geschah, mag für diejenigen, die die französische extreme Linke nicht so genau verfolgen, ein Schock sein. Für ihre Aktivist:innen ist die Spaltung in zwei Gruppen, die jeweils für sich in Anspruch nehmen, die Fortführung der NPA zu verkörpern, jedoch keine Überraschung.

Die NPA wurde 2009 mit einem Aufruf an die radikale Linke gegründet, sich der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR; französische Sektion der Vierten Internationale) anzuschließen und eine neue revolutionäre Organisation zu bilden.

Unter Führung von Olivier Besancenot, einem jungen Postangestellten, der als Kandidat der LCR bei den Präsidentschaftswahlen 2007 1,5 Millionen Stimmen erhalten hatte, zog die NPA schnell fast 10.000 Mitglieder an. Auf ihrem Gründungskongress verpflichtete sie sich zur Ausarbeitung eines neuen Parteiprogramms. Doch abgesehen von einigen politischen Kommissionen kam dies nie zustande. Stattdessen setzte sich die alte LCR-Gewohnheit der Spaltung in sich ständig bekriegende Fraktionen wieder durch und wurde endemisch.

In der Zwischenzeit wurde die Hoffnung der NPA, viele von der rechten sozialistischen Regierung von François Hollande entfremdete Linke zu gewinnen, durch die Intervention des ehemaligen Abgeordneten der Sozialistischen Partei, Jean-Luc Mélenchon, zunichtegemacht. Der ehemalige SP-Politiker gründete 2009 die Parti de Gauche (Linkspartei), die nach verschiedenen Umwandlungen den Kern von La France Insoumise (FI; Unbeugsames Frankreich) und NUPES (Neue Ökologische und Soziale Volksunion) bildete. Da die Aussichten auf einen Durchbruch bei den Wahlen durch das Aufkommen einer linkspopulistischen Partei durchkreuzt wurden, verbrachte die NPA den größten Teil eines Jahrzehnts in einem langen Todeskampf, der von Spaltungen zur linken und rechten Seite geprägt war.

Plattformen

Angesichts dieser endgültigen Krise kämpften auf der Konferenz 2022 zwei Hauptströmungen um die Kontrolle über die zukünftige Ausrichtung der Organisation.

Die Plattform B (mit 48,5 % der Delegierten) wird von Besancenot und Philippe Poutou angeführt. Diese Strömung hat die NPA seit ihrer Gründung geleitet und stellt die Kontinuität mit der LCR und der Vierten Internationale (USFI) dar. Heute schlägt sie eine große Wende für die NPA vor: von einer unabhängigen Organisation, die sich dem Aufbau einer antikapitalistischen Partei verschrieben hat, die die reformistischen Parteien herausfordert, hin zu einer „einheitlichen“ Ausrichtung auf die FI und das breitere linkspopulistische Wahlbündnis NUPES, das heute die Reste der Sozialistischen Partei, die Grünen, die Kommunistische Partei Frankreichs und andere kleinere Fische umfasst. Da es nicht gelungen ist, deren politischen Platz einzunehmen, besteht die Schlussfolgerung darin, sich ihnen anzuschließen.

Diese Wende ist nicht neu: Bei den Kommunalwahlen in Bordeaux 2021 warb Poutou (Besancenots Nachfolger als Präsidentschaftskandidat) für ein Bündnis mit der FI. Bei den Parlamentswahlen im Juni 2022 unterstützte die NPA zum ersten Mal die Kandidat:innen der NUPES in den meisten Teilen des Landes.

Die Plattform B begründete die Wende auf der Grundlage einer Analyse des Kräfteverhältnisses auf nationaler und internationaler Ebene mit dem Argument, dass „die Arbeiter:innenklasse heute aus dem Gleichgewicht geraten ist, das Proletariat sich inmitten einer gesellschaftlichen Umstrukturierung befindet“ und „das Kräfteverhältnis ungünstig ist, da die herrschende Klasse in der Offensive ist“, weshalb „wir unsere einheitliche Ausrichtung behaupten und weiterverfolgen müssen. Wo immer es dynamische, kämpferische und offene Strukturen gibt, schließen wir uns ihnen an, um unsere Politik des einheitlichen Kampfes zu führen und zur Belebung unserer revolutionären Perspektiven beizutragen“.

Obwohl betont wird, dass dies nicht bedeutet, dass man sich der LFI tatsächlich anschließt, impliziert es doch eine strategische Ausrichtung auf die FI und den Block der sie umgebenden reformistischen Parteien, auch durch politische Allianzen. In der Tat war die Führung der NPA kurz davor, eine Vereinbarung mit der FI zu treffen, um der NUPES beizutreten und bei den letzten Parlamentswahlen Kandidat:innen der NPA unter deren Banner aufzustellen. Sie ist stolz darauf, dass der Slogan „Mélenchon auf den Stimmzetteln, Poutou auf der Straße“ sehr populär ist, was der NPA angeblich eine wichtigere Rolle als das reine Wahlergebnis verleiht.

Die Plattform C (mit 45 % der Delegierten) ist selbst ein Bündnis aus drei heterogenen Gruppen: L’Étincelle (Funke), eine ehemalige Tendenz der Lutte Ouvrière (LO; Arbeiter:innenkampf), ist die führende Kraft. Die nächstgrößere Gruppe ist Anticapitalisme & Révolution, eine Tendenz, die mit der linken Opposition in dem Vereinigten Sekretariat der IV. Internationale verbunden ist. Schließlich gibt es noch die Democratie Révolutionnaire, die ihre Wurzeln in der Voix des Travailleurs (Arbeiter:innenstimme) hat, die aus der LO hervorging, bevor sie 1997 der LCR beitrat.

Die Plattform C behauptet, eine Mehrheit innerhalb der NPA zu vertreten, die in großen Städten wie Paris, Lyon, Marseille, Lille und Rouen und vor allem in der Jugendorganisation stark ist. Sie lehnt jedes politische Bündnis mit FI und NUPES ab und fordert eine offen revolutionäre NPA. Sie befürwortet „die Aktualität und Dringlichkeit der Revolution“, die durch eine starke Intervention in der Arbeiter:innenklasse vorbereitet werden soll: Sie organisiert tatsächlich kämpferische Arbeiter:innen in wichtigen Sektoren wie Transport, Automobil und Krankenhäusern.

Einvernehmliche Trennung?

Seit 2020 warnte die Besancenot-Poutou-Führung, dass eine Spaltung unvermeidlich sei, und schlug sogar eine „einvernehmliche“ Trennung als einzigen Ausweg vor. Der Austritt einer anderen Oppositionsfraktion, der CCR (Revolutionäre Kommunistische Strömung; die international mit der Trotzkistischen Fraktion verbunden ist), im Jahr 2021 stoppte diese Entwicklung für einen Moment, da die verschiedenen Strömungen der NPA in der Kampagne von Philippe Poutou für die Präsidentschaftswahlen 2022 eine vorübergehende Einheit fanden.

Die zugrundeliegenden Differenzen wurden jedoch nicht ausgeräumt. Das Funktionieren der NPA als Partei wird von ihren einzelnen politischen Gruppierungen mit ihren eigenen Zeitungen, Webseiten usw. völlig überschattet. Seit mehr als einem Jahrzehnt werden die meisten NPA-Lokalgruppen von der einen oder anderen Tendenz dominiert. Die verschiedenen Gruppen halten getrennte Regionalversammlungen ab, führen getrennte Bildungsprogramme durch und zahlen getrennte Mitgliedsbeiträge. In einigen Betrieben gibt es sogar rivalisierende NPA-Bulletins. Während des jüngsten Eisenbahner:innenstreiks gab es sogar getrennte NPA-Basisausschüsse. Eine solche Verhöhnung der Parteieinheit muss ernsthaften Arbeiter:innenmilitanten und jungen Aktivist:innen skandalös erscheinen.

Trotz dieser gravierenden Probleme ist die von Plattform B vorgeschlagene „einvernehmliche Trennung“ eine absolute Travestie, ein zynisches bürokratisches Manöver, um die Opposition loszuwerden und die Kontrolle über den Apparat zu behalten. Warum also jetzt? Ganz einfach, weil sie denkt, dass es einen größeren Fisch zu fangen gibt!

Der Aufstieg von LFI/NUPES scheint eine neue Perspektive zu eröffnen – nämlich die Möglichkeit, über ihre Listen Sitze im Parlament und in regionalen und kommunalen Versammlungen zu erhalten. Präsident Emmanuel Macron verfügt nur über eine relative Mehrheit im Parlament, was die Regierung zwingt, mühsam entweder die Unterstützung der PS oder von Les Républicains (den rechten Gaullist:innen) zu suchen. Eine vorzeitige Auflösung des Parlaments und Neuwahlen bilden eine mögliche Lösung für Macron, in der Hoffnung, eine klare Mehrheit zu erhalten. Diese zu erwartende Entwicklung stellt für die Plattform B eine verlockende Möglichkeit dar, da sie davon träumt, „mit der FI zusammenzuarbeiten“, wie Poutou es kürzlich in einem Interview unverblümt ausdrückte.

Dies ist jedoch nicht der einzige Grund. Eine Reihe von Abspaltungen nach rechts seit der Gründung der NPA hat die Strömung geschwächt, die heute von der Plattform B repräsentiert wird. Alle diese Abspaltungen, einschließlich führender Kader und wichtiger Teile des Apparats, wurden schnell von Mélenchons sich ständig verändernden Bewegungen und ihrer „Dynamik“ angezogen. Doch alle diese Gruppierungen wurden nach ihrem Austritt aus der NPA schnell politisch irrelevant. Die Folge war, dass die Plattform B nach und nach ihre Mehrheit und die Kontrolle über die NPA verlor, und diese Tendenz hat sich beschleunigt, wie das Wachstum der Jugendsektion zeigt, die mindestens ein Viertel der Mitglieder ausmacht und zu keinem Zeitpunkt unter der Kontrolle der Führungstendenz stand.

Auf der nationalen Konferenz wurde eine von der Plattform C eingebrachte Resolution, die die Weiterführung der NPA forderte, wahrscheinlich von einer Mehrheit der Delegierten angenommen. In der Tat waren selbst langjährige Anhänger:innen der Plattform B schockiert von der Idee, eine Organisation, die sie seit mehr als einem Jahrzehnt loyal und geduldig aufgebaut haben, tatsächlich zu verlassen und aufzulösen. Einige von ihnen zögerten oder gingen vor der Konferenz zur Plattform C über, und dieser Trend hätte sich während der Debatten auf der Konferenz fortsetzen können. Daher beschloss die Plattform B, die Konferenz zu verlassen, bevor eine Abstimmung stattfand. Damit verletzte sie ihre Verpflichtung gegenüber denjenigen, die für sie gestimmt haben, sich an der Konferenz zu beteiligen und für ihre Politik zu kämpfen. Sie trägt auch eine schwere Verantwortung für die extreme Schwächung der NPA, die sich trotz ihrer Fehler und Schwächen gegen die rassistische extreme Rechte und den französischen Imperialismus gestellt, die Arbeiter:innenkämpfe und Selbstorganisation aufgebaut und sich für Elemente einer revolutionären Perspektive eingesetzt hat.

Die Behauptung, dass die Plattform B durch ihren Austritt die „wahre“ NPA sei, ist ein Witz. Ehrliche NPA-Aktivist:innen, selbst für diejenigen, die sie früher unterstützt haben, erinnert er an die niederträchtigen Manöver der zynischsten stalinistischen Gewerkschaftsbürokrat:innen. Erst spaltet man sich ab, dann gründet man eine „zweite“ Gewerkschaft, und schließlich denunziert man die anderen als illegitim, weil sie einem nicht folgen. Wir verurteilen diese Art von Manövern aufs Schärfste, die nur dazu dienen, Revolutionär:innen zu diskreditieren und ihre Stimme zu schwächen.

Die Tatsache, dass die NPA all diese Tendenzen von Anfang an enthielt und Plattform B lange Zeit die Idee ständiger Fraktionen lobte, zeigt, dass sie die Aussicht, ihre Mehrheit und die Kontrolle über den Parteiapparat und die Ressourcen zu verlieren, wirklich „unerträglich“ fand.

Wohin jetzt?

Dieser entsetzliche Schlamassel ist jedoch nicht einfach das Ergebnis der mangelnden politischen Integrität der einen oder anderen Strömung. Er ist vielmehr die faule Frucht der zentristischen Tradition der LCR und des Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale und ihrer Verachtung und ihres Missverständnisses des demokratischen Zentralismus. Die NPA wurde auf der Grundlage einer schwachen Grundsatzerklärung gegründet, mit dem Versprechen, eine ernsthafte programmatische Diskussion anzustoßen. Diese Diskussion fand jedoch nie statt, und die mehr oder weniger getrennte Existenz verschiedener Fraktionen innerhalb der NPA wurde auf der Grundlage „diplomatischer Vereinbarungen“ akzeptiert. Es war ein auf Sand gebautes Haus, das den Stürmen und Erschütterungen des politischen Alltags nicht standhalten konnte, geschweige denn dem sich verschärfenden Klassenkampf.

Das bedeutet, dass das Potenzial der NPA, das der extremen Linken, wenn auch nur zaghaft, die Aussicht bot, das Stadium einer kleinen Propagandagruppe zu überwinden, verschleudert wurde. In der Tat war es der Klassenkampf – die Frage des antimuslimischen Rassismus, die Frage der Taktik in den Gewerkschaften und die Herausforderung einer wieder auftauchenden reformistischen Linkspartei –, der die Notwendigkeit einer programmatischen, d. h. strategischen und taktischen Vereinheitlichung mit sich brachte.

Diese Notwendigkeit wurde verpasst, weil die LCR, wie auch LO, das Programm nie als eine Frage der kreativen Anwendung revolutionärer Prinzipien auf neue Perioden und Aufgaben des Klassenkampfes betrachtete. Die wiederholten Krisen seit 2009 haben dafür viele Gelegenheiten geboten. Ebenso hat sich die NPA nie wirklich als revolutionäre Strategin für den Klassenkampf verstanden, die auch kritisch die Notwendigkeit eines gemeinsamen Vorgehens mit Reformist:innen und allen Arten von fortschrittlichen Bewegungen sieht.

Kurz gesagt, die NPA hat es nicht geschafft, ein lebendiges Programm zu entwickeln oder auch nur die Debatte darüber zu organisieren, wozu sie sich verpflichtet hatte. Infolgedessen blieb sie einerseits von Wahlen besessen, andererseits blieb sie den linken Kräften in den Gewerkschaften auf den Fersen, wenn es um Bewegungen gegen die verschiedenen neoliberalen Reformen ging. Und je mehr sie sich der Aufgabe der politischen Klärung und Homogenisierung entzog, desto mehr kristallisierte sie sich in einander feindlich gesinnten Fraktionen und Plattformen heraus.

Die derzeitige Krise ist das Ergebnis dieses Versagens. Hinzu kommt, dass sich die politische Situation seit der Gründung der NPA dramatisch verändert hat. Der Populist Mélenchon ist ein ernsthafter Anwärter auf die Führung der Arbeiter:innenbewegung; reaktionäre und rassistische Ideen und Parteien sind mit der Rassemblement National (Nationale Sammlung) auf dem Vormarsch. Es liegt auf der Hand, dass eine starke und kohärente Partei benötigt wird, um sowohl die Rechte als auch den Neoreformismus zu bekämpfen.

In dieser Hinsicht wird die Spaltung an sich nichts klären. L’Etincelle, A&R und DR trennen durchaus grundlegende politische Differenzen und sie haben unterschiedliche Organisationen mit unterschiedlichen Methoden aufgebaut. Wir können ihr Bestreben, die NPA fortzuführen, unterstützen und werden uns daran beteiligen, auch wenn wir ernsthafte programmatische und politische Differenzen mit ihnen haben. Aber sie müssen zu den Versprechen von 2009 zurückkehren und sich um programmatische Einheit und ein Ende der ständigen Fraktionen bemühen. Das Recht, Fraktionen und Strömungen zu bilden, ist natürlich ein wesentlicher Bestandteil des demokratischen – im Gegensatz zum bürokratischen – Zentralismus. Aber Zentralismus bedeutet, dass man sich auf eine Strategie und Taktik für die bevorstehenden Klassenkämpfe einigt und sich die Ortsverbände und Fraktionen in den Gewerkschaften zusammenschließen, um gemeinsam dafür zu kämpfen. Ohne dies wird die Einheit nur eine Fassade sein, die auseinanderbricht, sobald sie vor einer ernsthaften Herausforderung steht.

Eine glaubwürdige Neugründung der NPA muss notwendigerweise mit einer gründlichen Bilanz des Klassenkampfes in Frankreich und der Entwicklung einer neuen Periode der zwischenimperialistischen Rivalität auf internationaler Ebene beginnen, wobei die Schlussfolgerungen in einem Aktionsprogramm der Arbeiter:innenklasse für die kommende Periode zusammengefasst werden.

Dies sind dringende Aufgaben, denen man nicht ausweichen oder sie einfach aufschieben kann. Die Arbeiter:innenklasse und die Jugend Frankreichs haben ihre Kampfbereitschaft gegen die neoliberalen Angriffe unter Beweis gestellt. Sie brauchen die Militanten der NPA, damit sie eine kohärente Kampfpartei wird, nicht ein loses Bündnis konkurrierender Fraktionen. Die Liga für die Fünfte Internationale ist gerne bereit, sich an dieser Diskussion zu beteiligen und sich in den kommenden Jahren aktiv mit den Kämpfen der französischen Arbeiter:innen zu solidarisieren.




G7-Proteste – eine nüchterne Bilanz ist nötig

Wilhelm Schulz / Jaqueline Katharina Singh, Infomail 1162, 1. Juli 2022

Olaf Scholz und Co. feierten den G7-Gipfel der westlichen Staats- und Regierungschefs als harmonische, geradezu weltoffene Veranstaltung für Demokratie, Menschenrechte, soziale und ökologische Vorsorge. Ganz zu offen war es dann natürlich doch nicht. Knapp 18.000 Polizist:innen wurden zum Schutz des G7-Gipfels in der Region Werdenfelser Land (Oberbayern) stationiert. Es glich einem Belagerungszustand. Mit Maschinenpistolen ausgestattete Polizist:innen standen hinter Nato-Stacheldrahtzäunen, ständig erfolgten Polizeikontrollen, Geschäfte mussten für den Protest schließen, Autobahnabsperrungen wurden verfügt. Mindestens 170.000.000 Euro soll allein der Polizeieinsatz gekostet haben.

Dessen Umfang entspricht dem von 2015, dem letzten G7-Gipfel in Elmau. Trotz ähnlicher Anzahl erschien die Polizeipräsenz angesichts der schwachen Mobilisierung stärker.

Allerdings besaß die Präsenz eine größere Akzeptanz in der Öffentlichkeit. Schon während der Pandemie wurde polizeiliche Überwachung zunehmend und weit über deren Bekämpfungsmaßnahmen hinaus verstärkt. Der Krieg in der Ukraine dient zusätzlich als Rechtfertigung dieses Zustandes, zumal die Politik von G7 und NATO zu einem „demokratischen“ Eingreifen verklärt wird.

Eine verschärftes Polizeiaufgabengesetz, ständige Kontrollen, Einschränkungen der Versammlungsfreiheit bis hin zu abstrusen Fahnenregeln, Flyerverboten, Angriff wegen Verknüpfung von Transparenten, Polizeipräsenz bei linken Veranstaltungen im Vorfeld gehören mittlerweile schon fast zum „Normalzustand“ der deutschen Demokratie, und zwar nicht nur in Bayern oder bei G7-Gipfeln.

Sicherlich schüchterte die schon im Vorfeld angedrohte massive Repression Menschen ein und wirkte demobilisierend. Das erklärt aber keineswegs die enttäuschend geringe Beteiligung an allen Aktionen. Im Folgenden wollen wir auf einzelne eingehen, um am Ende die Frage zu beantworten, worin die zentralen Gründe für die schwache Mobilisierung lagen.

Großdemo mit 6.000 Teilnehmer:innen?

Die von den NGOs angekündigte „Großdemo“ mit Start und Ziel auf der Münchener Theresienwiese blieb am Samstag, den 25. Juni, weit unter den Erwartungen. Die Mehrheit der rund 6.000 Teilnehmer:innen wurde von verschiedenen antikapitalistischen, antiimperialistischen, sozialistischen und kommunistischen Gruppierungen mobilisiert. Die Masse der NGOs blieb aus.

Dabei hatten diese im Vorfeld die politische Ausrichtung der Demonstration am 25. Juni an sich gerissen, alle politischen Parteien und radikaleren Gruppierungen aus dem Träger:innenkreis, der Festlegung des Aufrufes und auch weitestgehend aus der Mobilisierung zur Demo gedrängt.

Dieses bürokratische und undemokratische Manöver hatte nicht nur die Gesamtmobilisierung erheblich geschwächt und behindert. Der Verzicht auf eine grundlegende Ablehnung der G7, das Ausweichen vor der Kriegsfrage und die Anbiederung an die Mächte der Welt, die im Aufruf deutlich wurde, erwiesen sich als politischer Rohrkrepierer.

Einige der NGOs und Gruppen der sog. Zivilgesellschaft dürften schon im Vorfeld ihre Mobilisierung faktisch eingestellt haben. Andere wie Fridays For Future scheinen sich selbst im Spannungsverhältnis zwischen Pressuregroup der grünen Regierungspartei und sozialem Faktor auf der Straße zu zerlegen. So konzentrierte sich FFF auf eine Kleinstdemo am Freitag mit einigen 100 Teilnehmer:innen, die unabhängig von anderen Protesten stattfand, und war kaum sichtbar auf der Großdemo.

FFF mutierte von einer Streikbewegung zu einer Eventorganisation. Obwohl es auf dem Papier Unterstützer:in der Gegenproteste war, konnte kaum von einer öffentlichen Mobilisierung die Rede sein. Bis auf einzelne bekannte Gesichter am Samstag und eine kleine eigene Aktion am Freitag mit knapp 300 Teilnehmer:innen war FFF nicht präsent. Scheinbar liegt der Fokus aktuell auf einer Unterstützung der Embargos gegen den russischen Imperialismus, anstatt die eigene Regierung und ihre zerstörerische Umweltpolitik anzugreifen.

Auffällig war nicht nur, dass die NGOs zahlenmäßig gering vertreten waren, sondern auch die Abwesenheit anderer Parteien, die sonst auf solchen Protesten anzutreffen waren. Während bei den letzten Gipfelprotesten auch Teile der Grünen und sogar der SPD teilnahmen, so ist ihr Fernbleiben einfach durch die Einbeziehung in die Ampelkoalition sowie die Unterstützung deren Kurses zu erklären. Ähnliches gilt auch für die Gewerkschaften. Der sozialpartner:innenschaftlichen Anbindung an die SPD wurde durch die Pandemie kein Abbruch getan und auch jetzt werden die Kosten des Krieges auf dem Rücken der Lohnabhängigen stumm mitgetragen. Vereinzelt sah man ver.di- und GEW-Mitglieder aus München, aber eigene Blöcke oder gar Lautsprecherwagen waren nicht zu finden. Dies ist nicht verwunderlich, da diese bereits während der Vorbereitung mit Abwesenheit glänzten.

Die NGOs haben in diesem Jahr die Spaltung der Gegenproteste erreicht. Sie weigerten sich mit fadenscheinigen Argumenten, gemeinsam mit sämtlichen Parteien und allen subjektiv revolutionären Organisationen sie zu organisieren. Als NGOs dürften sie keinen Widerstand gegen den Staat organisieren. Solche Argumente tauchen inmitten einer Krise der Linken und Arbeiter:innenbewegung auf!

Warum galten diese Einwände bei vergangenen Gipfelprotesten nicht? Sie stellen nichts anderes dar als den Versuch, den Widerstand konform zu lenken und jene, die nach einer Perspektive gegen und nicht mit den G7 suchen, ruhigzustellen. Gesagt, getan. Das Ergebnis war ein doppeltes. Einerseits wurde die Desorganisation der Linken dadurch befeuert, andererseits die Aussicht auf eine größere Mobilisierung bewusst aufs Spiel gesetzt. Die Entscheidung, dass die G7 zu beraten statt zu bekämpfen sind, liefert die Erklärung für diese Entwicklung. Die NGOs haben sich so als Erfüllungsgehilfinnen einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklungstendenz präsentiert. Die „Zivilgesellschaft“, für die sie einzustehen versuchen, stellt eben nichts weiter als einen Hofstaat jener Klassengesellschaft voller sozialer Gegensätzlichkeiten dar. Ebenjene ist es, die im letzten Jahrzehnt nach rechts rückte. Sich in ihrer Mitte zu positionieren, erzwingt die Bekämpfung oder zumindest das Ausbremsen radikaler Kräfte. Der Fördertropf an dem sie hängen, bildet die materielle Hintergrundfolie einer ideologischen Kapitulation.

Wie verliefen die Aktionen?

Während die Hoffnungen im Vorhinein nicht allzu groß waren, so geriet die Realität mit nur 6.000 Teilnehmer:innen noch bitterer. Als positives Moment bleibt zu bemerken, dass sich die Demonstrierenden trotz ihrer inhaltlichen Differenzen gegenüber der Polizeirepression solidarisch verhielten. Als die Cops ohne ernsthaften Grund bei der Abschlusskundgebung den antikapitalistischen Block angriffen, solidarisierten sich die Sprecher:innen von der Bühne dagegen und riefen die Polizei auf, sich zurückzuziehen. Sie akzeptierten die Spaltung in „gute“ und „schlechte“ Demonstrierende nicht.

Man würde sich an der Stelle mehr wünschen, aber viel Besseres gibt es auch nicht zu berichten.

Leider blieben auch die Aktionen in Garmisch selbst deutlich hinter jenen von 2015 zurück. Dabei haben viele Genoss:innen und Aktivist:innen ihre gesamte Energie dafür aufgebracht, ein Camp mit geringsten Ressourcen auf die Beine zu stellen. Sie haben gekocht, Nachtwachen afgestellt, ein Workshop- und Kulturprogramm organisiert und einiges mehr. Doch leider blieben Tausende fern. Das Camp trug eher den Charakter eines alpinen Urlaubsprogramms als einer Koordinationszentrale des Kampfes gegen den G7-Gipfel. Wenige hundert Menschen übernachteten vor Ort.

Die größte Aktion, die von ihm ausging, war die Demonstration am 26. Juni. Das Bündnis „Stopp G7 Elmau“ rief dazu auf. Etwa 1.500 Teilnehmer:innen folgten dem Aufruf. Dominiert wurde die Demonstration von verschiedensten antiimperialistischen Kräften. Ihre Überrepräsentanz ist dabei nicht in erster Linie Ausdruck ihrer Stärke, sondern, wie beschrieben, einer allgemeinen Defensive. Teile der Demonstration wurden von der Polizei durchgehend im Spalier „begleitet“. Bereits vor Beginn wurde deutlich, dass der Protest zu nicht viel mehr als einem Ausdruck symbolischen Widerstands gegen den Gipfel des Kapitals geraten würde.

Noch deutlicher wurde dieser rein symbolische Charakter am Montag, dem 27. Juni. An dem Tag nahmen zusätzlich 50 Personen unter Polizeigeleit an einer kleinen Protestkundgebung außerhalb der Hör- und Sichtweite des Gipfels statt. Die Polizei führte erniedrigende Leibesvisitationen bei den Teilnehmer:innen durch und agierte dabei übergriffig, konfiszierte Gegenstände wie Marker, die mit Sicherheit keinerlei Bewaffnungen oder Ähnliches darstellen. Ebenso fand ein Sternmarsch statt. Aufgeteilt auf eine Wanderroute und Fahrradtour nahmen 100 Teilnehmer:innen den Marsch in die oberbayrischen Alpen auf.

Linke, Krise Globalisierung

Doch die zahlenmäßig schwachen Proteste gegen den G7-Gipfel sind freilich nur die Spitze des Eisbergs. Unter dem Wasserspiegel verbirgt sich der desaströse Zustand der Linken und Arbeiter:innenbewegung in der heutigen Zeit, die enorm zugespitzte proletarische Führungskrise eben.

Dieser wurde mittels Fokussierung auf Eventmobilsierungen wie „Blockupy“, „Castor schottern“ oder „Tag X“ versucht zu überdecken. Angesichts der heutigen Lage waren dies reine Heerschauen und Selbstbeweihräucherung linker Organisationen, die sich in Stärkeposition wähnten. Sie waren reine Symbolproteste. Aktivist:innen konnten sich an ihren Symbolen stärken oder scheitern, aber sie erkämpften keine realen Verbesserungen für die Klasse und schafften es nicht, inhaltliche Differenzen innerhalb der Radikalen Linken zu klären. Vielmehr formten diese Stunts eine Fassade, die den Zustand der Ratlosigkeit zu überdecken versuchte. Prominente Beispiele dafür bilden Interventionistische Linke und vor allem die Linkspartei.

Über Jahre blieben in der Deutschen Linken ernsthafte programmatisch-strategische Debatten zu den Aufgaben gegen den vorherrschenden Rechtsruck, den erstarkenden Nationalismus angesichts des aufkochenden Kampfes um die Neuaufteilung der Welt und der Krise aus. So wie viele während der Pandemie darauf hofften, dass diese an ihnen vorbeiginge, ohne darauf eine politische Antwort geben zu müssen, so flehen andere wiederum, dass der Krieg um die Neuaufteilung der Welt bald vorbei sein möge.

Fast schon folgerichtig war die Interventionistische Linke auf keiner einzigen Blockade oder Demonstration als Kraft sichtbar. Die Linkspartei schaffte es, ihren Krisenparteitag parallel zum Gipfel stattfinden zu lassen und nur in kleinster Form ihres bayrischen Landesverbandes aufzutreten. Selbst dieser war ein Schatten seiner selbst.

Während manche Kräfte das Fernbleiben dieser Akteur:innen als Fortschritt feiern, das den Protest „radikal“ erscheinen lasse, ist die Realität doch eine andere. Durch die geringe Mobilisierung droht der Gegenprotest, in die Bedeutungslosigkeit zu schwinden und mit ihr die Debatte um den Inhalt.

Für eine Strategie- und Aktionskonferenz

Das Fernbleiben dieser Kräfte ist dabei Resultat ihrer eigenen Schwäche. Die unzählbaren Krisen, die Veränderung unserer Kampfbedingungen in Zeiten der Pandemie und Kriegseuphorie zeigen auf, dass die reine Fokussierung auf einzelne Aspekte reine Feuerwehrpolitik bleibt. Sie weicht der Frage aus, wie dieser Totalität des Elends ein Ende gesetzt werden kann. Noch schlimmer: Sie leugnet deren Notwendigkeit. Somit kam und kommt es zum Unterordnen unter die jeweiligen Führungen der Bewegungen, seien es bürgerliche Kräfte bei der Umweltbewegung bzw. gegen Rechtsruck oder ökonomistische Nachtrabpolitik bei gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen.

Damit wurde nicht nur verpasst, Kämpfe erfolgreich zu führen, sondern auch aus Niederlagen zu lernen.

Angesichts dieser schwachen Mobilisierung ist zu diskutieren, welche Aufgaben sich Internationalist:innen, Antiimperialist:innen und Antikapitalist:innen in dieser Zeitenwende stellen, um zumindest größere Teile der Avantgarde der Arbeiter:innenklasse gegen die Neuorientierung der westlichen Imperialismen im Kampf gegen die russischen und chinesischen Widersacher programmatisch und praktisch in Stellung zu bringen. Es ist Aufgabe der teilnehmenden Organisationen, einen offenen Austausch um die Kampfperspektive inmitten der Defensive zu führen. Wir brauchen eine Strategie- und Aktionskonferenz im kommenden Herbst. Wir richten diesen Appell insbesondere, aber natürlich nicht nur an jene Kräfte, die an der Demonstration teilgenommen haben: DKP, SDAJ, MLPD, REBELL, Föderation klassenkämpferischer Organisationen, Zora, Perspektive Kommunismus, Atik, Young Struggle, Neue Demokratische Jugend, Partizan, Atif, Kuhle Wampe, Karawane, Klasse gegen Klasse, die Sozialistische Alternative.




Frankreich nach Macrons Sieg: Kein Grund zur Klassenkollaboration!

Dave Stockton, Infomail 1190, 31. Mai 2022

In der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen ist Emmanuel Macron für eine zweite Amtszeit in den Élysée-Palast zurückgekehrt. Er besiegte Marine Le Pen mit 58,55 % zu 41,45 % und damit mit einem größeren Vorsprung als von vielen erwartet. Dennoch erzielte Le Pen mit mehr als 13 Millionen Stimmen ein Rekordergebnis für die RN (Rassemblement National; Nationale Sammlung), die frühere Front National (FN; Nationale Front).

Macrons Sieg wurde von den Regierungen in der gesamten Europäischen Union und darüber hinaus mit Erleichterung aufgenommen. Bis zu ihrer Imagekampagne sprach sich Le Pen für den „Frexit“, den Austritt Frankreichs aus der EU, aus, versprach aber dennoch, im Namen der französischen Souveränität einen unerbittlichen Kampf gegen die Brüsseler Behörden zu führen. Bis kurz vor dem Wahlkampf war sie, wie der ungarische Präsident Viktor Orbán, eine Bewunderin von Wladimir Putin. Doch der Einmarsch ihres Freundes in der Ukraine führte dazu, dass sie ein Wahlkampfflugblatt einstampfen musste, das sie lächelnd neben ihm zeigte. Sie an der Spitze der zweitgrößten Volkswirtschaft und stärksten Militärmacht der EU zu haben, hätte die EU massiv destabilisiert, vor allem in einer Zeit des Krieges in Europa.

Der Sieg von Emmanuel Macron war jedoch kein großer Triumph, obwohl Doppelamtszeiten in Frankreich eine Seltenheit sind. Dies spiegelte nicht nur einfach die Tatsache wider, dass Macron sowohl auf der Rechten als auch auf der Linken als arroganter „Präsident der Reichen“ weithin verhasst ist, sondern auch die, dass zum zweiten Mal in Folge kein/e Kandidat:in der reformistischen Linken oder der gaullistischen Rechten in der zweiten Runde antrat – der Sozialistischen Partei und der Republikaner, Parteien, die die französische Politik seit den 1970er Jahren dominierten.

Entfremdung und Macrons Sieg

Ein Ausdruck der weit verbreiteten Entfremdung war eine ganze Reihe von Demonstrationen, die nach der ersten Runde in ganz Frankreich ausbrachen. Schüler:innen, Student:innen sowie Bahnarbeiter:innen im Norden von Paris prangerten „eine Wahl zwischen Pest und Cholera“ an. Außerdem hat mehr als jede/r dritte Wähler:in keinem/r der beiden Kandidaten ihre/seine Stimme gegeben, und die Wahlbeteiligung lag bei knapp 72 %, dem niedrigsten Wert in einer zweiten Runde seit 1969. Offenbar haben mehr als drei Millionen Menschen ihren Stimmzettel ungültig gemacht oder leer abgegeben.

Le Pen konnte ihren Zuwachs im  Vergleich zu 2017 darauf zurückführen, dass sie sich auf soziale Themen konzentrierte, insbesondere auf die steigenden Lebenshaltungskosten für Erwerbstätige, und dass sie Themen mit sinkender Popularität wie Abtreibungsgegner:innenschaft, „Homo-Ehe“ und einen „Frexit“ aus der EU aufgab. Sie hat sogar ihre heftige Islamophobie etwas abgeschwächt, indem sie „großzügig“ zugab, dass Muslim:innen tatsächlich Franzosen und Französinnen sein können, aber an ihrer Forderung nach einem Verbot des Tragens des Hidschabs (Verschleierung) in der Öffentlichkeit und einem Referendum über härtere Einwanderungskontrollen festhielt.

Obwohl Le Pen und die RN nach keiner ernsthaften Definition des Begriffs Faschist:innen sind, wäre ein rassistische Populistin an der Spitze der ohnehin schon rassistischen französischen Polizei in der Tat eine Bedrohung für die 6,5 Millionen Einwander:innen oder Bürger:innen mit Migrationshintergrund in Frankreich (9,7 % der 67 Millionen Einwohner:innen) gewesen.

Der größte Erfolg Macrons besteht darin, dass er die traditionellen Parteien, sowohl die linken als auch die rechten, an den Rand der Wähler:innenschaft gedrängt hat. So erreichte Anne Hidalgo von der Sozialistischen Partei (PS) in der ersten Runde lächerliche 1,7 %, weniger als Fabien Roussel von der Kommunistischen Partei (PCF) mit 2,28 %, während selbst die Vertreterin der gaullistischen Les Républicains (Die Republikaner:innen), Valerie Pécresse, nur 4,7 % erzielen konnte.

Dennoch hat sich Macrons eigene Partei, La République En Marche (Die Republik auf dem Marsch), kaum eine solide Basis in der Bevölkerung geschaffen. Vielmehr handelt es sich um eine wurzellose Ansammlung ehrgeiziger Amtsinhaber:innen, die sowohl von rechten als auch von linken Parteien angezogen werden, um eine Präsidentschaft der Fünften Republik zu unterstützen, die unter Macron noch bonapartistischer wurde. Und da dies seine letzte Amtszeit ist, ist es fraglich, ob die Partei ihn überleben wird. Die französische Wahlpolitik ist, offen gesagt, von Grund auf instabil. Im Moment ist die Wirtschaft relativ solide verglichen mit vielen anderen in der EU, aber ein ernsthafter Absturz in die Rezession, ausgelöst durch Stagflation und Krieg, könnte, wie es in Frankreich immer möglich ist, zu großen Protesten führen, wie wir es bei den Nuit debout – Protesten gegen die „Reform“ des Arbeitsrechts im Jahr 2016 und den Gilets jaunes (Gelbwesten) im Jahr 2018 – 2019 gesehen haben.

Mélenchon und die Parlamentswahl

Der einzige verbliebene Verfechter der Linken in der Mainstream-Politik ist nun Jean-Luc Mélenchon, der mit 21,95 % der Stimmen im ersten Wahlgang nur um 420.000 Stimmen von Le Pen (mit 23 %) geschlagen wurde. Er hat sofort eine Kampagne für die Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni gestartet, mit dem Ziel, die Partei des Präsidenten zu überflügeln und Macron zu einer Cohabitation (Zusammengehen) mit ihm als Premierminister zu zwingen.

Viele derjenigen, die sich im zweiten Wahlgang der Stimme enthalten haben, schließen sich nun bei den Parlamentswahlen dem Block von Mélenchon an.

Dessen „Neue ökologische und soziale Volksunion“ (NUPES) hat sich Anfang Mai nach dreiwöchigen Verhandlungen gegründet. Sie behauptet, die gesamte „Linke“ zu vereinen, zum ersten Mal seit der Wahl der „Gauche Plurielle“ (plurale Linke)-Regierung von Lionel Jospin (1997 – 2002). Ihr gehören nun die Grünen, die PCF und die SP an. Sogar die Nouveau Parti anticapitaliste (NPA) wurde eingeladen, ihr beizutreten, hat dies aber letztendlich abgelehnt.

Mélenchon versprach in seiner einstündigen Rede auf der Gründungsveranstaltung der NUPES einen „Bruch“ mit dem neoliberalen System, das „seit 40 Jahren den Planeten beherrscht, die Gesellschaften plündert, die Natur ausbeutet und die Menschen vernichtet“ – was er „Finanzkapitalismus“ nennt.  Aber natürlich geht es bei diesem „Bruch“ nicht um den Kapitalismus selbst, auch wenn er von einer Sechsten Republik spricht. Einige Linke haben behauptet, eine Regierung Mélenchons könne Reformen bringen, wie sie unter Léon Blum 1936 – 1938 durchgeführt wurden. Das ist jedoch nicht zu erwarten. Denn erstens handelt es sich bei den heute beteiligten Parteien um langjährige reformistische Arbeiterparteien (PCF, SP) oder kleinbürgerlich-populistische Formationen wie LFI (Unbeugsames Frankreich) oder EELV (Europäische Ökologie – die Grünen) und zweitens waren Blums Reformen vor allem aus der Angst vor einer Welle von Fabrikbesetzungen und Streiks heraus durchgeführt worden.

NPA

Die Einladung an die NPA, der NUPES beizutreten, war auf den ersten Blick ungewöhnlich, und ihre Führung nahm die Einladung Mélenchons zu Gesprächen gerne an. Der Gewinn von Sitzen in der Nationalversammlung war für eine Partei, die nur 0,77 % der Stimmen erhielt, verlockend. Doch der Einstieg in die NUPES erwies sich als zu großer Sprung. Die NPA hat sich zurückgezogen, weil sie die Anwesenheit der PS als Hauptproblem ansieht, die in ihrer Regierungszeit eine neoliberale Politik verfolgt hat. Ein Grund dafür ist, dass die LFI es versäumt hat, der NPA eine beträchtliche Anzahl von Sitzen anzubieten, auch für ihren Präsidentschaftskandidaten Philippe Poutou, obwohl er bereits bei den Wahlen in Bordeaux auf einer gemeinsamen Plattform mit der LFI kandidierte. Der entscheidende Grund war jedoch wahrscheinlich, dass fast die Hälfte des NPA-Nationalrats eine Kandidatur auf der NUPES-Liste strikt ablehnte. Der Beitritt zur NUPES hätte die NPA spalten können, die sich bereits in einer prekären Lage befindet, nachdem sie die großen Hoffnungen von vor etwa zehn Jahren, die antikapitalistischen Straßenbewegungen des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts zu repräsentieren, verschwendet hat.

Ob eine/r der Kandidat:innen der NUPES-Parteien ein kritisches Votum der Arbeiter:innenschaft verdient, wird sich bald zeigen. Mélenchon, der schon immer ein politisches Chamäleon war, wenn es um Parteien und Programme ging, könnte sich nach links wenden, um die Stimmen der Gewerkschaften zu gewinnen, wie er es bereits mit den Umweltschützer:innen und Feministinnen getan hat.

Aber die Tatsache, dass die beiden größten Gewerkschaftsverbände, die CFDT und die CGT, die selbst dazu aufgerufen haben, für Macron zu stimmen, um „den Faschismus zu stoppen“, nun anbieten, mit ihm einen Dialog über soziale Fragen zu führen, einschließlich natürlich seiner „Reformen“, verheißt nichts Gutes für den Klassenkampf.

Sollte Mélenchon eine Mehrheit in der Nationalversammlung gewinnen und sich Macron „aufdrängen“ können, würde die Kohabitation eine Art Koalition darstellen, gegen die Le Pen und andere rechte Kräfte dann die Rolle der eigentlichen Opposition spielen könnten. Macron würde mit dem Argument „nach mir die Sintflut“ bald die Oberhand gewinnen.

In der Tat steht die französische Arbeiter:innenklasse vor der Qual der Wahl: Klassenkampf oder Klassenkollaboration unter „republikanischem“ und „linkspopulistischem“ Deckmantel. Die Bürokratien der wichtigsten Gewerkschaftsverbände (CFDT und CGT) haben derweil ihre Entscheidung  getroffen. Sie haben bereits zugestimmt, mit dem „Präsidenten der Reichen“ politisch zu verhandeln. Zweifellos sehen sie es als großen Fortschritt an, dass ein vermeintlich „gedemütigter“ Macron im Gegensatz zu 2017 nun mit ihnen über seine neoliberalen Reformen verhandeln muss. So billig sind diese Damen und  Herren zu kaufen!

Die einzige Möglichkeit, die Wahl zwischen Le Pens Pest oder Macrons Cholera zu bekämpfen, besteht darin, den Weg der Massenmobilisierung auf den Straßen, der Massenstreiks in den Betrieben und der Besetzungen in den Bildungseinrichtungen, des Widerstands gegen die Polizei in den Vororten zu eröffnen. Schließlich ist Frankreich eines der wenigen Länder in Europa, in dem soziale Bewegungen keine Seltenheit darstellen.

Die Kräfte, die es wirklich sowohl mit einem neoliberalen, antidemokratischen Präsidenten als auch mit der erstarkten RN aufnehmen können, sind die kämpferische Basis in den Gewerkschaften und die Jugend, die schon immer den Großteil der antikapitalistischen, antikriegerischen und antirassistischen Kämpfer:innen gestellt haben. Sie haben die Nationale Front und die faschistischen Schläger:innen in der Vergangenheit abgewehrt und sie können sie wieder zurückschlagen, wenn die Enttäuschung über Le Pens Wahlversagen eine echte faschistische Straßenkampfbewegung aus dem Kleinbürger:innentum, das durch die verschärfende Wirtschaftskrise ruiniert ist, hervorbringt.

In der Zwischenzeit müssen sich die Aktivist:innen in den Gewerkschaften und der extremen Linken von den ersten Tagen der neuen Präsidentschaft an an die Spitze des Widerstands gegen Macrons Reformen stellen, unabhängig davon, ob Jean-Luc Mélenchon sein Premierminister wird oder nicht.




Nachruf auf Inge Viett

Martin Suchanek, Infomail 1188, 11. Mai 2022

Am 9. Mai starb Inge Viett im Alter von 78 Jahren, eine langjährige Genossin und mutige Kämpferin gegen Kapitalismus und Imperialismus. Alle, die sie kannten, alle, die mit ihr politisch zusammengearbeitet haben, verloren nicht nur eine verlässliche und solidarische Mitstreiterin. Unsere Anteilnahme, unser Mitgefühl gilt ihren Freund:innen und engsten Kampfgenoss:innen.

Mit Inge Viett verstarb eine Aktivistin, mit der wir trotz politischer Differenzen bei wichtigen Mobilisierungen solidarisch und fruchtbar zusammengearbeitet haben – sei es zum revolutionären 1. Mai in Berlin, gegen die Münchner SiKo, gegen den Afghanistankrieg oder den G8-Gipfel in Heiligendamm.

Lebensweg

Mit Inge Viett verstarb aber auch eine Genossin, deren Lebensweg eine biographische Reflexion der (west)deutschen Linken darstellt. In der Rekonstruktionsperiode des westdeutschen Kapitalismus unter Adenauer und Co. groß geworden, durchlebte sie diese Verhältnisse als Pflegekind und Objekt sog. „Jugendfürsorge“. Die miefige, erzkonservative Realität des Nachkriegsdeutschlands erlebte sie von Kindheit an als repressive, entmenschlichende Wirklichkeit, fernab der damaligen und späteren Mythologisierung.

Der Aufbruch der 1968er, die Apo, die Student:innenrevolte, der Kampf gegen den Vietnamkrieg sowie die Eindrücke einer mehrmonatigen Reise nach Nordafrika trieben ihre Politisierung und Radikalisierung und prägten sie nachhaltig.

Sie entschied sich wie etliche der entschlossensten Kämpfer:innen ihrer Generation für den bewaffneten Kampf, für die Bewegung 2. Juni und später für die RAF als Teil eines internationalen antiimperialistischen Befreiungskampfes.

Ihre eigene Entschlossenheit vermochte freilich die inneren Widersprüche, Grenzen und strategischen Fehler des „bewaffneten Kampfes“ nicht zu überwinden. Wie jede Form des „individuellen Terrorismus“ ersetzt diese Strategie die bewusste Aktion der Arbeiter:innenklasse, sowohl die mühsame vorbereitende politische und organisatorische Arbeit wie die zielgerichtete Zusammenfassung ihre Kräfte in der Revolution durch die entschlossene Tat eine verschworenen Gruppe. Auch wenn dies nicht die Intention sein mag, so tritt anstelle der Arbeiter:innenklasse als revolutionäres Subjekt eine Kleingruppe, deren Aktionen das System demaskieren und die Massen elektrisieren sollen.

Diese Strategie war von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Dass aufrechte Revolutionär:innen und keinesfalls, wie die bürgerliche, aber auch reformistische Legendenbildung gern nachträglich darlegt, „Verrückte“ diesen Schritt gingen, muss aus dem historischen Kontext verstanden werden. Nicht nur die offen bürgerlichen Parteien CDU/CSU und FDP, auch die SPD unter Brandt unterstützten den barbarischen imperialistischen Krieg gegen Vietnam, rollten dem Schah und seinen Schlägern den Teppich aus. Die SPD beteiligte sich an der Großen Koalition und stimmte deren Notstandsgesetzen 1968 zu. 1972 verabschiedete das sozialliberale Kabinett den Radikalenerlass, also weitreichende Berufsverbote im öffentlichen Dienst.

Trotz dieser Politik konnte ein Großteil der radikalisierten Studierenden über den vorgeblich linken Reformismus von Jusos und Teilen der SPD erfolgreich über den opportunistischen „Marsch durch die Institutionen“ reintegriert werden. Linkes Selbstbild und (klein)bürgerliche Karriere konnten so ganz nebenbei auch in Einklang gebracht werden.

Der radikale Teil der Apo war von der imperialistischen Politik der Brandt-Regierung und von diesem Opportunismus verständlicherweise abgestoßen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Genoss:innen wie Inge Viett den, wenn auch falschen Schluss zogen, sich dem bewaffneten Kampf als radikaler Alternative anzuschließen, die einen endgültigen Schlussstrich unter jede Kooperation mit dem Feind, mit dem Schweinesystem zog.

Nachdem sie rund ein Jahrzehnt dem bewaffneten Kampf gewidmet hatte, setzte sich Inge Viett 1982 in die DDR ab, wo sie unter neuer, wenn auch wechselnder Identität bis zur Wende arbeitete. Ihr Verhältnis zum „real existierenden Sozialismus“ blieb freilich ein problematisches. So scharf sie die Entfremdung der Arbeiter:innenklasse im westlichen Kapitalismus kritisierte, so blieb ihr Blick auf die DDR, genauer auf die politische Herrschaft der Bürokratie über die Arbeiter:innenklasse verklärt. Die zunehmende Entfremdung der Lohnabhängigen von auf „ihrem“ Staat, den diese in Wahrheit kommandierte und nicht umgekehrt, vermochte sie nicht politisch und begrifflich zu fassen.

Nach dem Mauerfall

Nach der kapitalistischen Wiedervereinigung wurde der deutsche Staat der „Terroristin“ habhaft. Inge Viett wurde im Juni 1990 verhaftet und 1992 zu dreizehn Jahren Haft verurteilt, von denen sie bis Januar 1997 die Hälfe absitzen musste. Die Reststrafe wurde auf Bewährung ausgesetzt.

Anders als einige andere ehemalige Mitglieder der RAF oder der Bewegung 2. Juni distanzierte sich Inge Viett nie öffentlich vom bewaffneten Kampf. Kritisch bemerkte sie aber an, dass dieser eine Unterstützung in tragfähigen Teilen der Bevölkerung voraussetze. Diese Bemerkung versucht zweifellos, ein reales Problem dieser Strategie aufzufangen, jedoch ohne deren grundlegenden, inneren Widerspruch in den Griff zu bekommen.

Die Schwäche des bewaffneten Kampfes oder aller Strategien des individuellen Terrors, wie sie schon der Bolschewismus scharf kritisierte, liegt nicht darin, dass der Kampf auf einer bestimmten Stufe auch bewaffnet geführt werden muss. Wäre dem so, müssten wir auch jede militante Selbstverteidigung von Streiks, jeden Schutz gegen Angriffe von repressiven Kräften, Streikbrecher:innen oder Rechten ablehnen. Im Gegenteil. Wer die Herrschaft des Kapitals brechen will, muss auch die Mittel akzeptieren, die dazu notwendig sind. Die Bewaffnung des Proletariats und das Zerbrechen der bürgerlichen Staatsmaschinerie sind  unerlässliche zentrale Aufgaben jeder sozialistischen, jeder proletarischen Umwälzung.

Aber diese revolutionäre Zuspitzung kann nicht durch die für sich genommen sehr entschlossene, gewaltsame Tat einer kleinen Gruppe herbeigeführt werden. Vielmehr erfordert diese erstens eine massenhafte Eruption der inneren Widersprüche einer Gesellschaft, zweitens eine politische Kraft, eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei, die der unterdrückten Klasse eine Stoßrichtung und Führung zu geben vermag.

Zu dieser Kritik konnte sich Inge Viett nie durchringen, auch wenn sie ihren Kampf, ihren Aktivismus keinesfalls als bloß individuelle Konzeption, sondern immer als Teil eines globalen Befreiungskampfes, des Klassenkampfes verstanden wissen wollte.

Dass sich Inge Viett von ihrer Vergangenheit nicht zum Gefallen der bürgerlichen Öffentlichkeit distanzierte, gereicht ihr zur Ehre und unterscheidet sie wohltuend von den vielen nachträglichen Bekenner:innen und Kronzeug:innen.

Feindbild der Bürgerlichen

Für die bürgerliche Öffentlichkeit, das heißt vor allem für die vom Staat und von privaten Konzernen monopolisierte veröffentlichte Meinung, blieb Inge Viett zeitlebens ein Objekt des Hasses, des Anstoßes, der Verleumdung.

Dabei ging es keineswegs nur darum, ob sie nachträglich Reue empfinde oder sich von ihren Taten distanziere. Im Grunde geht es bei diesen ritualisierten Bekenntnissen niemals nur um eine Abwendung von einzelnen Taten oder Aktionen, sondern immer auch um eine Abkehr von den Zielen. Was nützt der herrschenden Klasse schließlich eine „Terroristin“, die sich kritisch zu einzelnen Taten verhalten mag, sich gleichzeitig jedoch weiter zum Ziel des Kommunismus bekennt und diesen mit revolutionären Mitteln herbeiführen will?

Genau diesen Zielen hat Inge Viett nie abgeschworen – und das machte sie zu einer Persona non grata, einer Aussätzigen im öffentlichen Betrieb. Die bürgerlichen Medien griffen dabei auf eine recht typische, doppelte Form der Diffamierung zurück.

Einerseits überzogen sie Inge Viett mit sarkastischen Bemerkungen, mit Hohn und Beleidigungen, weil sie als „Terroroma“ nicht nur alt, sondern auch aus der Zeit gefallen sei. Die einst gefährliche Verrückte wäre jetzt nur noch eine harmlose Närrin.

Andererseits schien man sich der Sache doch nicht so sicher. Inge Viett wurde zugleich  dämonisiert. Schon wer sich mit ihr auf ein Podium zur Diskussion setzte, geriet in den Geruch, Staatsfeind zu sein. So geschehen bei der damaligen Vorsitzenden der Linkspartei, Gesine Lötzsch, gegen die 2010/11 eine regelrechte Hetzkampagne von Spiegel und Co. gestartet wurde, weil sie vorhatte, mit Inge Viett öffentlich über „Wege zum Kommunismus“ zu diskutieren.

Entgegen den Intentionen ihre Verbreiter:innen tragen freilich beide Formen der Diffamierung ein Moment in sich, das die ganze Übung vom Standpunkt der bestehenden Verhältnisse aus fragwürdig macht – und zwar nicht nur bei Inge Viett, sondern bei allen, die als Kämpfer:innen gegen das bestehende System auf diese doppelte Weise diskreditiert werden sollen.

Stimmt es nämlich, dass es sich im Grunde um harmlose, von der Zeit überholte Figuren handeln würde, stellt sich die Frage, warum diese auch noch dämonisiert werden müssen, also als gefährlicher hingestellt werden, als sie sein sollen. Sind die Dämon:innen vielleicht doch Gefahrenherde, fragt man sich unwillkürlich. Könnte womöglich an einer Kapitalismuskritik, die angeblich längst „überholt“ wäre, doch etwas dran sein?

Dass Inge Viett nie aufgeben hat, sie auch nach ihrer Entlassung als Autorin und Aktivistin gekämpft hat, das vermochte ihr die bürgerliche Gesellschaft nie zu verzeihen. Im Zentrum ihre Kritik stand und steht, was Revolutionär:innen an Inge Viett schätzen: ihre Entschlossenheit, ihren Mut, ihre Standhaftigkeit, ihren Hass auf das kapitalistische System und ihren unbeugsamen Willen. Diese werden für alle, die sie kannten, für alle, die sich mit ihr als antikapitalistische Aktivist:innen beschäftigten, eine Inspiration bleiben. Inge, der Kampf geht weiter!




Erklärung zum Antikrisenbündnis Hamburg (AKB-HH)

Gruppe ArbeiterInnenmacht Hamburg, Infomail 1168, 30. Oktober 2021

Die Initiative für ein Antikrisenbündnis in Hamburg entstand vor ca. einem Jahr im Oktober 2020. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus in Deutschland und der EU zugespitzt und war durch die Corona-Pandemie eskaliert. Gleichzeitig waren die Linke und die ArbeiterInnenbewegung in Deutschland kaum sicht- und wahrnehmbar und schienen wie in eine Art Schockstarre gefallen zu sein. Die Straßenproteste wurden von den rechten oder zumindest stark nach rechts offenen und von Irrationalität sowie einem Hang zu Verschwörungstheorien geprägten Querdenken-Demos dominiert, die teilweise erhebliche Mobilisierungserfolge aufweisen konnten.

In dieser Situation war es vor allem angesichts der Tatenlosigkeit der großen Organisationen der ArbeiterInnenbewegung in Deutschland, insbesondere der Gewerkschaften, aber auch der Linkspartei und natürlich auch der in der Großen Koalition regierenden SPD notwendig und richtig, die Initiative für ein Antikrisenbündnis zu starten. Für uns war das Bündnis von Anfang an ein Versuch, linke und progressive Kräfte zu sammeln, um mit Aktionen eine Mobilisierungsstärke zu entwickeln und dadurch vor allem auch Druck auf die größeren Organisationen auszuüben, ebenfalls aktiv zu werden. Wir gaben und geben uns nicht der Illusion hin oder verfolgten bzw. verfolgen die Absicht, linksradikale Bündnisse als Selbstzweck aufzubauen. Für uns steht die Bündnisarbeit in der Tradition der Einheitsfronttaktik, die darauf abzielt, angesichts der politischen Dominanz der ArbeiterInnenklasse durch reformistische Massenorganisationen gemeinsame Aktionen durchzuführen und größere Teile der Klasse in Bewegung zu bringen.

Davon waren und sind wir sicherlich weit entfernt. In dem Bündnis haben sich früh sehr unterschiedliche Vorstellungen über die notwendigen Inhalte, die Vorgehensweise und die Ausrichtung gezeigt. Einen ersten Bruch gab es bereits im Januar 2021, als nach der ersten gemeinsamen Kundgebung die GenossInnen des Jour Fixe – Gewerkschaftslinke Hamburg und des Blauen Montag ihren Austritt erklärt haben. Wir finden es dennoch richtig, dass wir damals den Weg in erste gemeinsame Aktionen in Form von Kundgebungen gegangen sind. Wenn wir nicht zur gemeinsamen Aktivität gekommen wären, hätte sich das Bündnis in den unbefriedigenden Grundsatzdiskussionen sehr viel schneller zerlegt. Dass die genannten Organisationen – und in der Folge auch weitere Individuen – damals bereits ausgetreten sind, war ein Fehler und hat das Bündnis geschwächt. Sie haben bis heute keinerlei alternative Handlungsoption entwickelt. Sie haben sich daher zu einer rein passiven Kritik an der bestehenden Initiative des Bündnisses entschieden, anstatt gemeinsam an einer Perspektive zu arbeiten, zumal die damals vorgebrachten Argumente einen Bruch nicht – oder zumindest noch nicht – notwendig gemacht hätten.

Die erste Kundgebung war sicherlich weit davon entfernt, unseren Ansprüchen zu genügen. Aber sie war immerhin ein erster Schritt und die Lage sah danach nicht grundlegend schlecht aus. Neue, vor allem jüngere Organisationen haben sich dem Bündnis angeschlossenen und einige Kontakte zu anderen Bündnissen konnten etabliert und ausgebaut werden.

Die folgenden Kundgebungen im März und April haben jedoch gezeigt, dass die Aktionen keine weitere Anziehungskraft entwickeln konnten. Sie stagnierten vielmehr in ihrer Größe. Auch die folgende Initiative zu einem weiteren Vernetzungstreffen war eher enttäuschend.

Vor diesem Hintergrund haben wir im Juni diskutiert, dass wir uns zunächst auf kleinere Aktionen (Infostände, Solidarität mit Arbeitskampfmaßnahmen) vor allem in Stadtteilen konzentrieren möchten, um darüber mittelfristig das Bündnis auch außerhalb der „Szene“ bekannter zu machen und eine Basis aufzubauen.

Das wurde leider nicht in die Tat umgesetzt. Stattdessen kam es im August zu einer unserer Meinung nach völlig unnötigen und politisch fatalen Wende hin zu noch mehr Aktionismus. Es wurde beschlossen, eine „After-Wahl-Demonstration“ direkt nach den Bundestagswahlen zu organisieren. Die politische Lage nach den Bundestagswahlen wurde dabei völlig falsch eingeschätzt. Ohne jegliche fundierte Grundlage wurde ein Protestpotential prognostiziert, das nach den Wahlen die Menschen aus Wut auf die Straße treiben würde. Die Entscheidung stand zudem in direktem Gegensatz zu unseren Erfahrungen mit den Kundgebungen und dem Beschluss, uns auf Stadtteil- und Streiksoliarbeit zu konzentrieren. Zwar wurden Hinweise zu Streikaktionen, wie jetzt zum ErzieherInnenstreik, hin und wieder versendet, sie erzielen aber nur dann eine Wirkung, wenn sie länger vorbereitet werden und uns eine Bindung an die jeweiligen Kämpfe ermöglichen. Kurz Flagge zeigen allein ändert an dem Außenseiterstatus des AKB nichts. Nicht nur die politische Lage, sondern auch die eigene Mobilisierungsfähigkeit wird entgegen eigenen Erfahrungen falsch eingeschätzt.

Diese Differenz in der Ausrichtung hatte sich auch bereits zuvor bei der Diskussion um einen allgemeinen Vorstellungsflyer des Bündnisses angedeutet. Während wir in früheren Texten noch bewusst Wert darauf gelegt haben, an bestehende Auseinandersetzungen anzuknüpfen und auch Menschen außerhalb der linken Szene anzusprechen, wurde mit der Wortwahl nunmehr völlig darauf abgezielt (ob bewusst oder unbewusst), bereits radikalisierte Menschen zu mobilisieren. Das zeugt von einem anderen Verständnis der Bündnisausrichtung. Die Texte haben auch inhaltlich unserer Auffassung nach stark an Qualität verloren.

Nicht nur der inhaltliche und taktische endgültige Schwenk zum Aktionismus war problematisch. Auch die Art und Weise der Entscheidungsfindung und der  Diskussion waren unserer Auffassung nach für ein Bündnis unangemessen. Die Entscheidung wurde auf einem Bündnistreffen in unserer Abwesenheit gefällt. Als wir anschließend Kritik daran geäußert und eine Diskussion darüber auf einem weiteren Treffen angeregt haben, wurde diese abgelehnt. Es wurde argumentiert, dass es einen „Konsens“ gegeben habe und die Entscheidung getroffen sei. Im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass neben uns noch zwei weitere Organisationen im Bündnis – attac und die MLPD – die Entscheidung für die Demo als falsch erachteten. Das war zu dem damaligen Zeitpunkt ein wesentlicher Teil des Bündnisses, das bereits auf schwachen Füßen stand. Wer in so einer Situation über den Widerspruch wesentlich beteiligter Organisationen derart hinweggeht, riskiert folgerichtig den Zusammenhalt des Bündnisses.

In der Folge litten auch die innere Kommunikation und Transparenz enorm. Die  Kommunikation lief fast nur noch über Telegram. Die Mitglieder des Bündnisses auf dem E-Mailverteiler wurden praktisch ausgeschlossen (und verfielen daraufhin logischerweise vermehrt in Passivität). Zu Treffen wurde nicht mehr rechtzeitig eingeladen, Protokolle wurden nur noch unregelmäßig geschrieben. So kann für uns keine Bündnisarbeit gelingen.

Wir halten die Initiative für eine Antikrisenbewegung nach wie vor für richtig und aktuell, auch wenn sich die politische Situation mittlerweile weiterentwickelt hat. Die Frage der Verteilung der Krisenkosten wird auch für eine neue Post-Merkel-Bundesregierung virulent werden und wir können mit Angriffen und Auseinandersetzungen rechnen. Auch vor dem Hintergrund der massiven Stimmenverluste der Linkspartei wird sich die Linke in Deutschland insgesamt neu sortieren und vorbereiten müssen. Die Vernetzung von kämpferischen Bündnissen und Orientierung auf bundesweite Aktionskonferenzen zu den Schwerpunkten des Klassenkampfes wird eine der wichtigsten Aufgaben sein. Dafür werden wir uns weiterhin engagieren. Aktuell sehen wir jedoch in dem verbliebenen AKB-HH keine Grundlage mehr dafür.

Zum Schluss möchten wir betonen, dass wir trotz der unterschiedlichen Auffassungen und der Entwicklungen in den letzten Monaten das Bündnis ohne Groll verlassen. Wir haben kein Interesse daran, persönliche Auseinandersetzungen zu führen. Wir hoffen vielmehr, dass wir auf der gemeinsamen Arbeit aufbauen und auch zukünftig zusammen in Hamburg aktiv werden können.




Definitionsmacht – eine politische Sackgasse

Martin Suchanek, Infomail 1157, 3. August 2021

In den letzten Jahren erfreut sich das Konzept der Definitionsmacht einer immer weiteren Verbreitung in der linken Szene, vor allem unter autonomen, postautonomen und feministischen Gruppen und Zusammenhängen. Auf den ersten Blick scheint es auch Probleme im Kampf gegen sexuelle Grenzüberschreitungen, Gewalt oder Vergewaltigungen zu lösen, die uns in einer Gesellschaft auf Schritt und Tritt begegnen, in deren Grundstruktur die Unterdrückung von Frauen und LGBTIAQ-Personen eingeschrieben ist.

Diese systematische Unterdrückung spielt sich in regelmäßiger sexueller und sexualisierter Gewalt vor allem gegen Frauen ab. So wurde allein in Deutschland rund ein Drittel aller Frauen Opfer körperlicher und/oder sexueller Gewalt. In den letzten Jahren müssen wir zudem in vielen Ländern einen Anstieg dieser Verbrechen registrieren.

Gleichzeitig wissen wir alle, wie erniedrigend und retraumatisierend Ermittlungsverfahren und Prozesse ablaufen, wie es erst gar nicht zur Anklage gegen zumeist männliche Täter kommt oder wie oft Prozesse mit einem Freispruch mangels Beweisen enden. Opfer sexueller Gewalt erleben ihre Erniedrigung, Misshandlung, Vergewaltigung gewissermaßen ein zweites Mal. Die oft sexistischen Strukturen bei Ermittlungsbehörden, bei Staatsanwaltschaft und Polizei sowie vor Gericht führen dazu, dass viele Opfer die Tat erst gar nicht zur Anzeige bringen. Hinzu kommt, dass Frauenfeindlichkeit und Sexismus auch das vorherrschende Bewusstsein prägen, so dass v. a. Formen häuslicher Gewalt erst gar nicht als sexuelle oder gewaltsame Übergriffe erscheinen, auch wenn dies rechtlich anerkannt ist.

Grundannahme der Definitionsmacht

Angesichts dieser Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft erscheint das Konzept der Definitionsmacht als Lösung oder zumindest als klare Kräfteverschiebung zugunsten der Opfer, die ansonsten ungehört und nicht anerkannt bleiben. Auch wenn sich die VertreterInnen dieses Konzepts in etlichen Punkt, z. B. hinsichtlich dessen Reichweite oder der Konsequenzen, unterscheiden, so gibt es einen grundlegenden gemeinsamen Ausgangspunkt:

Nur die betroffene Person kann definieren, ob wann und welche sexuelle Grenzüberschreitung stattgefunden hat.

So heißt es beispielsweise in einer zusammenfassenden Darstellung:

„1. Definition durch Betroffene

Sexualisierte Gewalt ist das, was ein betroffener Mensch als solches erlebt.

Es gibt keine objektiven Kriterien dafür, was sexualisierte Gewalt ist und was nicht.

Insbesondere sollte kein_e Betroffene_r irgendwem Details mitteilen müssen, wenn sie oder er es nicht selbst möchte.

Details sind nicht nötig, um irgendwem zu glauben oder sich „ein Bild machen“ zu können.

Es sollte ausreichen, wenn Betroffene definieren, was passiert ist und was für einen Umgang sie sich damit wünschen.“

(Thesen zur Definitionsmachtsdiskussion; https://www.kommunikationskollektiv.org/wp-content/uploads/2014/07/Thesen-zur-Definitionsmachtsdiskussion-bei-Koko.pdf)

Oder in einem anderen Papier: „Dieses Konzept sieht vor, dass die betroffene Person die einzige Person ist, welche definieren kann, wann ein Übergriff oder eine Grenzüberschreitung stattfindet. Situationen werden von Mensch zu Mensch anders wahrgenommen, deshalb kann es keine allgemeingültige Definition eines Übergriffs geben.“ (https://awarenetz.ch/wp-content/uploads/2018/07/Glossar.pdf)

Die Tatdefinition der Betroffenen gilt also als gleichbedeutend mit der Definition der Tat selbst. Es geht also nicht nur um die berechtigte und unserer Meinung nach selbstverständliche Forderung, die subjektive Einschätzung und das Empfinden des Opfers als solches anzuerkennen. Vielmehr geht es bei der Definitionsmacht darum, das subjektiv Erfahrene oder Erlebte zu einer allgemeinen Bestimmung zu machen, das Einzelne mit dem Allgemeinen gleichzusetzen.

Die Stärke der Definitionsmacht und ihre Attraktivität macht gerade die Betonung der Erfahrung der Betroffenen aus. Sie verspricht dadurch, das Opfer sexistischer, gewalttätiger, rassistischer, sozial stigmatisierender Handlungen ein Stück weit aus seiner real erlebten und empfundenen Ohnmacht zu erheben. Auch wenn diese Machtumkehr nur auf individueller Ebene stattfindet und noch keine Perspektive der Abschaffung der Gewalt an sich inkludiert, kann man leicht nachvollziehen, dass sie als situativ hilfreiches Mittel wahrgenommen wird, auch wenn sie sich längerfristig und grundsätzlich als problematisches Mittel darstellt.

Hinzu kommt, dass sie das Opfer keinen Befragungen und Nachfragen aussetzt. Gerade angesichts des sexistischen und rassistischen Charakters von Polizei, Justiz und aufgrund der vorherrschenden Ideologie erspart das den Betroffenen tatsächliche weitere Verletzungen, jedenfalls solange der Wirkungsrahmen der Definitionsmacht auf außergerichtliche Auseinandersetzungen und ein bestimmtes Submilieu der Gesellschaft, eine Szene, begrenzt bleibt.

Subjektivismus und Relativierung

Den VerteidigerInnen der Definitionsmacht ist durchaus bewusst, dass diese auch dazu führen kann, dass Menschen zu Unrecht beschuldigt und verurteilt werden. Sie verweisen jedoch darauf, dass der allen Untersuchungen zufolge relative geringe Prozentsatz von falschen Beschuldigungen bedeutet, dass dieser Nachteil durch den Vorteil einer Stärkung der Opfer wettgemacht würde. Hinzu kommt, dass die Anwendung der Definitionsmacht in der Regel auf linke Milieus beschränkt wird und das Verhältnis zur bürgerlichen Gerichtsbarkeit und Staatlichkeit dabei merkwürdig unreflektiert bleibt. Bevor wir jedoch darauf näher eingehen und den Rückfall der Definitionsmacht hinter bürgerliche Rechtsvorstellungen betrachten, müssen wir noch ein anderes Problem betrachten, das sich aus der inneren Logik des Konzepts selbst ergibt.

Gemäß ihm wird die Tat, deren Charakter und Umfang nur vom Opfer bestimmt. Die inkludiert aber auch, dass die Tat selbst gemäß der jeweiligen subjektiven Definition relativiert wird, sobald verschiedene Opfer einer bestimmten Tat verschiedene Definitionen zugrunde legen. Nehmen wir an, dass drei verschiedene Betroffene Opfer eines sexuellen Übergriffs wurden, dass diese drei jedoch verschiedene Definitionen von Vergewaltigung vertreten.

  • Opfer A definiert das Nichtbeachten eines Ja = Ja als Vergewaltigung
  • Opfer B definiert das Ignorieren eines klaren Nein als Vergewaltigung
  • Opfer C definiert nur einen physisch erzwungenen Geschlechtsverkehr als Vergewaltigung

Nehmen wir weiter an, die Täter hätten gegenüber den Opfern A bis C denselben Übergriff begangen. Nehmen wir an, alle drei Täter haben das Ja = Ja nicht beachtet, wohl aber ein klares Nein akzeptiert. So würde Opfer A die Tat als Vergewaltigung definieren, die Opfer B und C nicht.

Die Parameter für obiges Beispiel sind recht einfach definiert. Das reale Leben kennt jedoch noch viele Abstufungen zwischen diesen, die zeigen, dass die Definition im Einzelfall nicht so einfach ist. Wenn wir den Ausgangspunkt der Definitionsmacht zugrunde legen, dass letztlich das jeweilige Opfer definiert, ob ein sexueller Übergriff oder eine Vergewaltigung stattfand, so erhalten wir im obigen Beispiel 3 Definitionen und je mehr wir differenzieren, umso mehr ergeben sich.

Wenn wir die Definitionsmacht ernst nehmen und in ihren Konsequenzen zu Ende denken, so bedeutet das nicht nur, dass das Opfer Tat und Täter definieren kann, es bedeutet auch, dass ein Mensch, der dieselbe Tat begangen hat, in einem Fall Täter, in einem anderen kein Täter wäre. Damit wird ihm letztlich ein Mittel zur Relativierung der eigenen Tat in die Hand gegeben.

Allgemein gültige Kriterien für eine Definition von Vergewaltigung oder eine Kategorisierung sexueller Übergriffe können wir auf Basis der Definitionsmacht nicht erhalten. Auch wenn wir in Rechnung stellen, dass die Abgrenzung verschiedener Arten   sexueller Grenzüberschreitungen schwierig ist, dass es Übergangsformen gibt, so setzt die Bezeichnung einer bestimmten Tat als schwere sexuelle Grenzüberschreitung oder gar als Vergewaltigung immer schon einen allgemein geprägten Begriff ebendieser voraus.

Nur so können andere Menschen überhaupt verstehen, was die Betroffene meint und welche Tat der Täter begangen hat bzw. was ihm vorgeworfen wird. Natürlich kann dieser Begriff selbst einem Bedeutungswandel unterzogen sein und es mag verschiedene Auffassungen über diesen geben (z. B. weitere und engere Definitionen von Vergewaltigung oder sexueller Grenzüberschreitung), aber auch diese finden im Rahmen eines gesellschaftlichen Diskurses statt. Unwillkürlich werden andere Menschen die Bezeichnung der Tat auf ihren gesellschaftlich vorherrschenden Begriff beziehen.

Werden Vergewaltigungen oder andere Formen schwerer sexueller Grenzüberschreitungen nur noch rein subjektiv gefasst und wird ihre Bedeutung dementsprechend ausgeweitet, so werden die Begriffe notwendigerweise schwammiger und inhaltsleerer. In unserem Beispiel wären sowohl ein physisch erzwungener Geschlechtsverkehr als auch ein Nichtbeachten eines Ja = Ja eine Vergewaltigung. Der Vorwurf und die Tatbezeichnung umfassen eine so große Bandbreite, dass es Dritten unklar sein muss, was eigentlich vorgefallen ist. Je weiter der Begriff einfach subjektiv aufgeweitet wird, umso vieldeutiger würde er werden. Zugleich würde das Vergewaltigern erlauben, sich hinter diesem vagen Begriff zu verstecken. Die Definitionsmacht würde also paradoxerweise zu einer Entschuldung gerade der schlimmsten Täter beitragen. Selbst ihr Versprechen, die Opfer zu empowern/ermächtigen, würde sich als hohl und letztlich unmöglich erweisen, wenn ihre Grundsätze allgemein würden.

Die Behauptung, dass es keine objektiven Kriterien für eine Vergewaltigung geben und dass diese nur subjektiv von der Betroffenen definiert werden könne, erweist sich bei näherer Betrachtung als hochproblematisch. Aus der Tatsache, dass die Definition dieser Tat (wie jeder anderen Form sexueller Grenzüberschreitung) immer auch von gesellschaftlich vorherrschenden Normen und damit von Klasseninteresse und Patriarchat geprägt ist, folgt keineswegs, dass es daher nur eine subjektive Definition dieser Taten geben könne. Die vorherrschende Definition (auch die strafrechtliche) muss vielmehr selbst als Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzung, des Kampfes gegen Frauen- und geschlechtliche Unterdrückung sowie des Klassenkampfes in allen seinen Dimensionen begriffen werden. Dieser Kampf verläuft bekanntlich zäh und langwierig, aber kann auch zu Teilerfolgen führen. So wurde die Vergewaltigung in der Ehe erst 1992 überhaupt als Straftat rechtlich anerkannt und 2004 schließlich zu einem Offizialdelikt. Diese rechtliche Verbesserung, die auch mit einer Bedeutungsausweitung des Begriffs der Vergewaltigung einherging, wäre mit einem rein subjektivistischen Begriff nicht möglich. Folgt man der Eigenlogik der Definitionsmacht, könnte eine Vergewaltigung allenfalls ein Antragsdelikt sein, dürften Ermittlungsverfahren und Prozess erst nach Anzeige durch die Betroffenen einsetzen. Darüber hinaus lässt sich der Kampf um politische und soziale Reformen (geschweige denn um eine andere Gesellschaft) ohne verallgemeinernde Begriffe und Forderungen nicht führen.

Dieses Problem wird besonders deutlich, wenn wir aus dem Kreis der Debatten in linken Szenemilieus heraustreten und das Verhältnis der Definitionsmacht zum bürgerlichen Recht und zur Gesellschaft insgesamt betrachten.

Definitionsmacht und bürgerliches Recht

Die Definitionsmacht geht notwendigerweise auch mit einer Absage an bestimmte Normen des bürgerlichen Rechts einher. Gemäß dem Grundsatz, dass nur der Betroffenen ein Recht auf die Definition der Tat zukommt, gibt es auch kein Recht auf Stellungnahme, geschweige denn auf Verteidigung für den Beschuldigten. Je nach Interpretation des Konzepts gibt es verschiedene Vorstellungen darüber, ob über etwaige Sanktionen (z. B. Ausschluss, Outing des Beschuldigten, Bedingungen eines weiteren Verbleibs im Zusammenhang) ebenfalls das Opfer oder die Gruppe entscheidet.

Solange dieser Umgang auf eine linke Kleingruppe beschränkt bleibt, so halten sich die Konsequenzen noch im Rahmen. Schließlich steht es jeder Gruppierung frei, die Kriterien für ihre Mitgliedschaft selbst festzulegen, mögen diese Umgangsnormen auch das Recht auf Verteidigung eines Beschuldigten aushebeln.

Weitaus problematischer wird es freilich, wenn dieses Prinzip über eine noch relative genau definierte Kleingruppe hinaus für ein ganzes Milieu, ein Bündnis oder eine Bewegung zur Anwendung kommen soll. Auch wenn die AnhängerInnen der Definitionsmacht oft betonen, dass sie Gültigkeit für dieses Konzept außerhalb des bürgerlichen Rechtssystems beanspruchen, so wird hier deutlich, dass es um allgemeine gesellschaftliche Gültigkeit geht, die sich im Idealfall auf alle oppositionellen Kräfte und Bewegungen erstrecken und irgendwann zum vorherrschenden gesellschaftlichen Modell werden soll.

Die Definitionsmacht präsentiert sich dabei als Schritt vorwärts gegenüber dem bürgerlichen Recht. Zu Recht werden die sexistischen und frauenfeindlichen Praktiken von Ermittlungsbehörden und Gerichten angeprangert, das bürgerliche Recht als solches verdammt.

Übersehen wird dabei jedoch, dass die Definitionsmacht in Wirklichkeit hinter Errungenschaften des bürgerlichen Rechts, vor allem die Unschuldsvermutung des Beschuldigten und des Rechts auf Verteidigung gegen die Beschuldigung, zurückfällt.

Auf den ersten Blick erscheint das vielleicht nicht so dramatisch. Schließlich ist die Zahl von falschen Beschuldigungen gemäß vorliegenden Untersuchungen relativ gering, so dass man falsche Verurteilungen unter „ausgleichende“ Gerechtigkeit verbuchen könnte. Dies ist aber nicht nur reichlich zynisch und unglaubwürdig für Menschen, die eine Gesellschaft frei von Ausbeutung und Unterdrückung (und damit auch von Willkür) erkämpfen wollen – es verkennt auch die grundlegenden Probleme.

Ironischerweise wird an dieser Stelle davon abstrahiert, dass Staat und Öffentlichkeit selbst einen Klassencharakter haben. Die Durchsetzung der Definitionsmacht im Rahmen des bürgerlichen Staates oder auch nur deren Akzeptanz im allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs würde natürlich der herrschenden Klasse auf staatlich/rechtlicher Ebene, aber auch im Betrieb zusätzliche Möglichkeiten zum Kampf gegen die ArbeiterInnenklasse in die Hand geben.

Als revolutionäre Organisation messen wir unsere Positionen nicht daran, ob sie sich in Kleinstgruppen anwenden und praktizieren lassen, sondern ob sie dazu taugen, eine gesamtgesellschaftliche Perspektive aufzuzeigen. Bezogen auf die gesamte Gesellschaft hebelt die Definitionsmacht eine historische Errungenschaft des bürgerlichen Rechts aus, nämlich das auf Verteidigung eine/r Angeklagten und auch die Unschuldsvermutung. Letztere wird zwar im bürgerlichen Recht selbst an einigen Stellen im Interesse der herrschenden Klasse – z. B. im Arbeitsrecht – relativiert. Im Strafrecht, wo der Staat als Ankläger auftritt, ist das üblicherweise jedoch nicht der Fall – und das stellt eine große und hart erkämpfte Errungenschaft dar. Würde die Definitionsmacht dort zu einem Rechtsgrundsatz werden, so würde das der staatsanwaltschaftlichen Willkür natürlich Tür und Tor öffnen. Nachdem wir wissen, dass die herrschende Klasse letztlich vor nichts zurückschreckt, um ihre Stellung zu verteidigen, wenn sie diese als gefährdet betrachtet, wäre es grob fahrlässig und dumm, ihr solche Möglichkeiten einzuräumen.

Einige VertreterInnen der Definitionsmacht behaupten ferner, dass sie mit diesem Konzept zwar nicht auf dem Boden des bürgerlichen Rechts, dafür aber auf jenem der Moral stehen. Doch auf welcher? Hat diese etwa keinen Klassencharakter? Und welchen Fortschritt soll eine Moral verkörpern, die Errungenschaften des bürgerlichen Rechts entstellt? Würde sie zu einer allgemeinen Regel, würde die Definitionsmacht schließlich keinen Schritt Richtung befreiter Gesellschaft, sondern ein Zurück zu vorbürgerlichen Zuständen darstellen, mit welcher Moral dies auch immer gerechtfertigt sein mag.

Die Definitionsmacht stellt, unabhängig von den Intentionen ihrer AnhängerInnen, ein reaktionäres Konzept dar, das die Linke und die ArbeiterInnenklasse kategorisch zurückweisen müssen.

Methodisches

Unsere Organisation hat die Definitionsmacht in den letzten Jahren abgelehnt – und wie wir gezeigt haben, aus guten Gründen. Das zentrale Problem besteht methodisch im Grunde darin, dass sie die Frage vom Standpunkt des Einzelindividuums aus betrachtet, vom Standpunkt von Opfer und Täter als Individuen, die einander gegenüberstehen. Für die Definitionsmacht besteht die Gesellschaft im Grunde aus einzelnen Individuen, deren subjektive Erfahrung wird zum entscheidenden Kriterium für Wahrheit. Unterdrückte Gruppen erscheinen auf dieser Grundlage bloß als eine Menge von Menschen, die gemeinsame Merkmale teilen, die ihnen z. B. eine gemeinsame diskriminierte (oder privilegierte) Stellung zukommen lassen. Aus dieser erwächst essentialistisch, quasi als Natureigenschaft von Opfern, ein privilegierter Zugang zur Wahrheit im Sinne der Identitätspolitik (zur ausführlichen Kritik: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/03/06/identitaet-als-politisches-programm-marxismus-und-identitaetspolitik/), deren Verlängerung das Konzept darstellt.

Für den Marxismus hingegen sind Klassen oder gesellschaftlich Unterdrückte nicht einfach eine Ansammlung vieler Individuen, sondern gesellschaftlich Gruppen, die durch ihre Stellung im Gesamtzusammenhang von Produktion und Reproduktion, also im Rahmen einer gesellschaftlichen Totalität bestimmt werden. Wo die bürgerliche Wissenschaft den Klassenbegriff verwendet, so stellt dieser jeweils voneinander abgegrenzte Gruppen (z. B. von EinkommensbezieherInnen in der Soziologie) dar. Für den Marxismus hingegen ist wesentlich, dass Klassen nur im Verhältnis zu anderen Klassen begriffen werden können (also kein Kapital ohne Lohnarbeit, keine Lohnarbeit ohne Kapital). Der Klassenantagonismus zwischen Kapital und Arbeit bildet den wesentlichen, grundlegenden  Widerspruch in der kapitalistischen Gesellschaftsformation, weil er sich auf die Stellung der Hauptklassen im Produktionsprozess bezieht. Die Pole des Gegensatzes stehen einander nicht nur gegenüber, sondern durchdringen sich auch, reproduzieren einander. Dies trifft, gesamtgesellschaftlich betrachtet, auch auf Unterdrückungsverhältnisse zu.

Betrachten wir Betroffene und Täter nur als einander gegenüberstehende Individuen, so verschwindet dieses gesellschaftliche Verhältnis tendenziell. Gleichwohl bestimmen diese auch die jeweilige konkrete Opfer-Täter-Relation immer schon mit, sind dieser letztlich vorausgesetzt. Opfer und Täter werden sie vor dem Hintergrund einer bestimmten geschichtlichen Entwicklung. Dazu gehören auch bestimmte Vorstellungen von Opfer und Täter, bestimmte Vorstellungen von Recht, Gerechtigkeit, Bestrafung, der Arten von Strafen (Gefängnis, Folter, Todesstrafe), dem Verhältnis von subjektiver Wahrnehmung der einzelnen AkteurInnen und allgemein als zu bestrafende Verbrechen anerkannter Taten.

Der Blick auf das jeweils individuelle Verhältnis von Opfer und Täter als einander ausschließende Bestimmungen hat durchaus ein gewisses Recht, solange wir nur den Einzelfall betrachten. Größere Unterdrückungszusammenhänge manifestieren sich zwar im Rahmen eines gesellschaftlichen Verhältnisses, aber natürlich ist jedes Opfer immer auch konkretes, einzelnes von einem oder mehreren konkreten Tätern. Zu Recht fordert zudem jedes Opfer auch eine individuelle Anerkennung der spezifischen Tat, eine besondere Form der Wiedergutmachung und den Schutz vor weiteren Übergriffen. Daher muss auch jeder einzelne Fall immer spezifisch untersucht werden. Dazu bedarf es auch gesellschaftlich allgemeiner, anerkannter Institutionen, um unter Berücksichtigung der spezifischen Umstände Recht zu sprechen.

Linke Organisationen, ArbeiterInnenbewegung und Gesellschaft

Gesamtgesellschaftlich bedarf es daher eines Schutzes der individuellen Opfer sowie von Strafen, der Prävention und Resozialisierung bezüglich der Täter (wie im Grunde bei allen anderen Verbrechen auch). Solange die ArbeiterInnenklasse nicht die politische Macht erobert und die bürgerlichen Gerichte ersetzen kann, repräsentiert der bürgerliche Staat das gesellschaftlich Allgemeine. In der bestehenden Gesellschaft ist dieses zwar immer ein falsches Allgemeines, weil der Staat selbst ein Klassenstaat ist und die Unterdrückungsverhältnisse der Gesellschaft reproduziert.

Das bedeutet jedoch keineswegs, dass der Linken oder der ArbeiterInnenklasse die bestehenden Institutionen, Verfahren, demokratischen und materiellen Rechte von Opfern sexueller Gewalt gleichgültig sein dürfen. Im Gegenteil. Anders als vielen VertreterInnen der Definitionsmacht geht es uns nicht darum, eine besondere, für eine linke oder „fortschrittliche“ Szene oder ein bestimmtes Milieu gültige Form des Umgangs mit sexuellen Grenzüberschreitungen oder sexueller Gewalt zu schaffen.

Natürlich sollen linke Organisation oder auch ArbeiterInnenorganisationen wie Gewerkschaften strenge Regeln einführen, die sexuelle Grenzüberschreitungen und Gewalt in den eigenen Organisationen sanktionieren – bis hin zum Ausschluss. Sie werden dabei strengere Kriterien anwenden als der bürgerliche Staat, aber sie werden bei internen Untersuchungen das Recht auf Verteidigung des Beschuldigten garantieren. Vor allem aber muss ihnen bewusst sein, dass sich ihre internen Strukturen erstens und vor allem darauf beziehen, sexistisches (und anderes rückschrittliches) Bewusstsein und Verhalten zu problematisieren und zurückzudrängen, um die gemeinsame Kampfkraft zu stärken. Das schließt auch ein, dass gesellschaftlich Unterdrückte das Recht auf eigene, gesonderte Treffen haben müssen, um den Kampf gegen Sexismus auch in den eigenen Organisationen voranzubringen. Zweitens müssen Vorwürfe von schwerem oder wiederholtem sexistischen Verhalten von Untersuchungskommissionen geprüft werden, die mehrheitlich aus Unterdrückten zusammengesetzt sind. Diese müssen darauf abzielen, vor allem die Betroffenen zu stärken, und, für den Fall einer erwiesenen Schuld, Maßnahmen in besonders erschweren Fällen ergreifen, bis hin zum Ausschluss.

Forderungen und bürgerlicher Staat

Diese Vorgehensweise in der ArbeiterInnenklasse, in sozialen Bewegungen oder in linken Organisationen sollte jedoch nicht als Ersatz für den Kampf gegen sexuelle Gewalt und sexuelle Übergriffe in der Gesellschaft betrachtet und auch nicht damit verwechselt werden.

Wenn wir Forderungen an den bürgerlichen Staat stellen, uns für demokratische Reformen von Justiz, Strafrecht, finanzielle und andere materielle Unterstützung von Opfern einsetzen, so nicht weil wir den Rechtsstaat als letztes Wort der Geschichte, sondern als Teil des umstrittenen Kampffeldes für eine zukünftige Gesellschaft betrachten. Dies würde folgende Aspekte inkludieren:

a) Schutz der Opfer sexueller und sexualisierter Gewalt durch Aufbau von Frauenhäusern; Ausbau von Hilfeeinrichtungen. Diese müssten durch den Staat voll finanziert und von den betroffen Frauen und sexuell Unterdrückten selbst verwaltet werden. Die Betreuung der Betroffenen erfordert auch den massiven Ausbau und den kostenlosen Zugang zu Beratungsstellen und therapeutischen Einrichtungen, so dass die Betreuung der Opfer professionell und durch geschultes Personal erfolgen kann.

b) Kontrolle aller Schritte der Ermittlung durch VertreterInnen von Gewerkschaften und Frauenorganisationen. Betroffene müssen das Recht auf Beistand von Personen ihres Vertrauens bei Befragungen und auf Ablehnung der befragenden BeamtInnen haben.

c) Wahl von LaienrichterInnen aus den Reihen von Frauenorganisationen, sexuell Unterdrückten und der arbeitenden Bevölkerung statt zumeist männlicher, weißer Berufsrichter.

d) Ausbau von Programmen zur Resozialisierung von Gewalttätern unter Kontrolle von Gewerkschaften und Frauenorganisationen.

e) Thematisierung von sexueller und sexualisierter Gewalt an Schulen, in der Erziehung, in den Betrieben, um diese zurückzudrängen, Opfer zu schützen und bei der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen zu helfen. Selbstverteidigung sowie das Caucusrecht für Unterdrückte auf allen Ebenen innerhalb der ArbeiterInnenbewegung sind zusätzlich nötig.




Neues und Altbekanntes: Was bleibt vom revolutionären 1. Mai(-Bündnis) in Frankfurt/Main?

Richard Vries, Infomail 1152, 29. Mai 2021

Vieles verändert sich in den Jahren der Corona-Krise. Und doch bleibt es bei ganz Grundsätzlichem. Etwa, wenn der DGB in der Mainmetropole am 1. Mai ‘21 zur Demo mit abschließender Kundgebung aufruft und dabei seine FunktionärInnen in Einklang mit SPD-Oberbürgermeister Feldmann die Solidarität und Einheit der Gesellschaft fordern, obwohl die Bosse und KapitalistInnen von so was schon lang nichts mehr wissen wollen. Sie lassen uns die Krise zahlen. Immerhin ging der Frankfurter DGB überhaupt auf die Straße. 4.000 AktivistInnen und GewerkschafterInnen folgten dem Aufruf. Das zumindest ist ein Fortschritt zu ausgebliebenen 1. Mai-Gewerkschaftsaktionen des letzten Jahres.

Doch betrachten wir den diesjährigen Aufzug von der Hauptwache zum Opernplatz genauer. Den kleineren Teil an der Spitze der Demo stellten Mitgliedergewerkschaften des DGB wie z. B. die IG Metall, den absoluten Großteil der Demo aber Gruppen und AktivistInnen der radikalen Linken sowie migrantischer ArbeiterInnenorganisationen. Ohne ihr Erscheinen bliebe von der Demo nicht viel mehr als eine Versammlung von FunktionärInnen und Apparatschiks übrig. Die offiziellen Reden dieser hörten sich dann auch an, als seien es Regierungserklärungen. Im Namen deutscher Standortpolitik wird nimmer endend die nationale Einheit beschworen, wenn nicht direkt, so doch um so deutlicher zwischen den Zeilen. Und so passt der Frankfurter 1. Mai dann auch gut ins Gesamtbild des DGB in der Krise. Kein Aufruf zum Kampf gegen Arbeitsplatzstreichung, für bessere Bedingungen in Krankenhäusern, für deutlich höhere Löhne und schon gar keine Streiks oder gar Betriebsbesetzungen gegen das Abwälzen der Krisenkosten auf Lohnabhängige oder für einen Lockdown in der Produktion mit drei Wochen bezahltem Urlaub. Kapitulation total, dem Kapital stets loyal, mit verräterischen Grüßen, ihre DGB-Führung.

Der revolutionäre 1. Mai (und die Polizei)

Neu war am diesjährigen Ersten Mai am Main, dass ein Bündnis linker Gruppen für einen „Revolutionären 1. Mai Frankfurt“, zum „Tag der Arbeiter:innen. Tag unserer Klasse. Tag der Wut.“ aufrief – als bewusster Alternative zur beschriebenen DGB-Demo. Und so versammelten sich dann am Abend erneut an die 4.000 auf dem Opernplatz, begleitet von einem Polizeigroßaufgebot.

Die Stimmung war entsprechend eine ganz andere als am Vormittag, wie auch die Gesichter zu einem guten Teil andere waren. Kräfte der radikalen Linken, viel mehr Jugendliche und Menschen, die sich vom DGB nicht in der Krise unterstützt sehen, anstelle von Apparat und Bürokratie.

Drei Blöcke – der des Ersten-Mai-Bündnisses an der Spitze, gefolgt von den Blöcken von „Wer hat, der gibt“ (Enteignungsblock) und des F*streikbündnisses (FLINTA-Block) setzten sich in Bewegung, liefen am Hauptbahnhof vorbei ins Gallus, die Mainzer Landstraße stadtauswärts, die Frankenallee wieder stadteinwärts, begleitet von mehreren Drangsalierungen und Angriffen der Cops. Kurz vor dem Bahnhof Galluswarte war dann Schluss. Die Polizei griff die Demo massiv an und löste sie auf. Ergebnis: viele Festnahmen und schwerste Verletzungen wie Platzwunden und gebrochene Knochen, darunter Schädelbasisbrüche. Begleitet und legitimiert wurde die Polizeigewalt dann von Medien wie der FAZ oder der Bild, die die diffamierende Darstellung der Polizei übernahmen. Staat und bürgerliche Medien lieferten am neuen revolutionären Frankfurter Ersten Mai in diesem Sinne also Altbekanntes. Zu keinem Zeitpunkt ging ein Angriff auf die Polizei von der Demo aus. Erst als diese mit Schlagstöcken brutal reinging, versuchten TeilnehmerInnen der Demo, dies abzuwehren und zurückzuschlagen. Dass der Angriff just dann erfolgte, als Pyrotechnik eingesetzt wurde, ist freilich nur ein bequemer Vorwand für die Staatsmacht. Letztlich ging es darum, die Bilder zu liefern, die eine revolutionäre Alternative zur bestehenden Regierungs- (und DGB-Politik) delegitimieren und in der Öffentlichkeit von antikapitalistischen Inhalten ablenken.

Bilanz und Bündnis

Angesichts der Krise und des Stillhaltens des DGB war das Abhalten einer revolutionären Abenddemo in Frankfurt politisch richtig. Es ist der Grund, warum wir uns an der Bündnisarbeit beteiligten – trotz aller Schwächen des Bündnisses. Darauf und die aktuellen Entwicklungen werden wir weiter unten eingehen.

Aber zuvorderst ist zu bilanzieren, dass in Frankfurt, in einer Stadt mit vielen Verwerfungen in der radikalen Linken, eine Demo mit revolutionärem Anspruch 4.000 ArbeiterInnen, Jugendliche und gesellschaftlich besonders Unterdrückte wie FLINTA-Menschen oder von Rassismus Betroffene aus dem gesamten Rhein-Main-Gebiet mobilisieren konnte. Dies stellt einen großen Erfolg dar und ist Ausdruck eines wachsenden Bedürfnisses nach fortschrittlichen Antworten auf die Krise, die jenseits der Regierungspolitik oder dem Irrationalismus der CoronaleugnerInnen liegt. Völlig richtig war z. B. die skandierte Parole „Lockdown für die Produktion – Betriebe dicht bei vollem Lohn“. Ebenso war es richtig, dass sich die Demo nicht an der Gewaltfrage, schon gar nicht im Zusammenhang von Pyro, spalten ließ. Natürlich lief bei dieser nicht alles perfekt, auch hätte sie lauter und gleichzeitig ihre Spitze offener wirken können. Das Bündnis hat über vielerlei die Demo Betreffendes reflektiert und versuchte, Selbstkritik zu üben. Positiv ist auch, dass in der Nachbereitung von Verletzungen und Repression Betroffene nicht im Stich gelassen werden.

Wir wollen nun auf zwei Aspekte bezüglich des Bündnisses eingehen. Der erste Kritikpunkt betrifft den Aufruf. Dieser glich einem bunten Sammelsurium von Dingen, die derzeit mies laufen, wie z. B. dass die Autoindustrie Milliardengewinne gemacht hat und für Pflege das Geld fehlt. Das ist an sich natürlich richtig. Problematisch ist unserer Ansicht nach zweierlei, nämlich, dass diesen eine Oben-vs.-Unten-Rhetorik auszeichnete, die auch einen leicht populistischen Beigeschmack hatte, was durch eine fehlende konkrete Perspektive ergänzt wurde. Besser wäre es gewesen, sich auf einige wenige konkretere Forderungen zu einigen, wie z. B. die entschädigungslose Enteignung von Immobilienkonzernen, Verkehrsindustrien und Krankenhäusern oder auch die internationale Freigabe von Impfpatenten usw. Und ja, wir wissen, dass wir mit in dem Bündnis waren und somit auch unter dem Aufruf standen. Letzteres gefällt uns weniger, aber wir erachteten es als sinnvoll, die Debatte im Bündnis weiter zu begleiten und somit darin zu verbleiben – und natürlich auch Kritik zu üben, was die Selbstkritik inkludiert. Überhaupt liegt die Leistung des Bündnisses weniger in seinem Aufruf, sondern vielmehr darin, dass es eine geeinte Aktion organisierte und trotzdem die Diskussion und Debatte suchte (in der hiesigen Linken ist dies keine Selbstverständlichkeit) und austrug – jedenfalls im Vorfeld des Ersten Mai, aber auch auf dem Auswertungstreffen danach.

Von angeblichen Fahnenverboten, …

Eine jener, bisweilen hart geführten Debatten drehte sich um das Verbot von Partei- und Nationalfahnen auf der Demo. Die Überschrift dieses Artikels kündigte ja bereits von Altbekanntem – in diesem Fall Debatten in der deutschen Linken.

Die Position für das erlaubte Tragen von Parteifahnen, ein Element der Propagandafreiheit, konnten wir leider nicht durchsetzen. Problematisch bei jenem Verbot ist, dass es nicht nur als Partei organisierte Kräfte der radikaleren Linken ausschließt, sondern auch Mitglieder großer reformistischer Massenparteien wie Linke oder SPD. Natürlich betreiben Letztere kapitalistische Politik in Landes- oder Bundesregierungen, setzten soziale Angriffe durch. Aber wir werden ihre einfache Mitgliedschaft nicht von diesen Parteien gewinnen, wenn wir ihnen von vornherein verbieten, sich unserer Demo anzuschließen und ihre Fahne zu zeigen. Und klar, eine AfD-Fahne hätte keinen Platz in unseren Reihen, aber damit, dass offen bürgerliche Parteien bei der revolutionären Maidemo auftauchen, ging im Bündnis ja ohnedies keine/r aus.

Anders verhielt es sich in der Debatte zum Nationalfahnenverbot – genauer gesagt jener Kurdistans und Palästinas. Während die kurdische Flagge unstrittig erlaubt war, gab es eine verschärfte Diskussion zur palästinensischen Fahne, auch wenn dies von vorneherein keinen logischen Sinn ergibt. Beides sind vom Imperialismus und lokalen Staaten unterdrückte Nationalitäten. Somit sollte das Zeigen beider Fahnen als solidarisches Zeichen mit ihrem Kampf kein Thema sein. Doch weit gefehlt, denn keine deutsche Linke ohne jene antideutsche Infragestellung internationaler Solidarität mit Palästina. Hauptverantwortlich dafür war die Linke Liste. Es ist die Ironie der Geschichte, dass sich die Unterdrückung durch den israelischen Staat keine zwei Wochen nach dem Frankfurter Ersten Mai wieder allzu deutlich zeigte.

Letztlich setzten die internationalistischen Kräfte des Bündnisses den politisch leicht angefaulten – immerhin – Kompromiss durch, dass Nationalfahnen zwar nicht erwünscht, aber auch nicht verboten seien und der Frontblock nur aus roten Fahnen bestehen solle. Aber: Es gab definitiv kein Verbot von Palästina-Fahnen.

 … sektiererischen Angriffen …

Nun kommt eine Kraft ins Spiel, die nicht im Bündnis war, aber auf der Demo: FreePalestineFFM, seines Zeichens verbunden mit der Kommunistischen Organisation und Aitak Barani. Diese stellten uns in sozialen Medien die Frage, ob wir dahin gewirkt hätten, die Linke Liste aufgrund ihrer antideutschen Gesinnung aus dem Bündnis zu drängen als Auswirkung dessen, dass sie in der einige Jahre zurückliegenden Vergangenheit einen Palästina-Solistand an der Uni angegriffen hat. Damit konfrontiert brachte die Linke Liste im Bündnis vor, dass jene, die dies taten, nicht mehr in der Liste seien und sie selbst, die im Bündnis für die Linke Liste anwesend waren, dies nicht tun würden. Eine eindeutige Distanzierung sieht anders aus. Aber da es bei der Demo im Kern um den Ersten Mai und nicht um eine Palästinasolidarität ging, war dies für uns auch kein Grund, das Bündnis zu verlassen oder auf einen Rausschmiss der Linken Liste hin zu eskalieren.

Auf der Demo selbst war FreePalestineFFM dann auch anwesend, mit Palästinafahnen – finden wir gut. Die Ironie dabei ist, dass sie, anstatt es den internationalistischen Kräften im Bündnis zu danken, dass sie überhaupt so auftreten konnten, da andere und wir dafür sorgten, dass Palästinafahnen eben erlaubt waren, sie weiter Vorwürfe und Angriffe gegen eben jene Kräfte erhoben, schlicht weil wir im Bündnis die Debatte führten, die eine internationalistische Position vorantreibt. Eine Debatte, der FreePalestineFFM wie KO sektiererisch ausweichen, womit sie antideutschen Kräften von vorneherein das Feld in der Linken überlassen und somit dem palästinensischen Befreiungskampf in hiesigen Gefilden mehr schaden denn nutzen, ganz davon abgesehen, dass sie es sich mit internationalistischen Kräften verderben und selbige spalten.

 … und angeblichen Vetorechten

Ein Vorwurf, der weiterhin erhoben wurde, ist, dass Menschen mit Palästinafahnen auf der Demo angegriffen wurden. Als dies auf dem Auswertungstreffen auf den Tisch kam und neben uns andere InternationalistInnen wie Young Struggle einforderten, dies – so es denn geschah – in einem Statement als Verstoß gegen den Demokonsens zu brandmarken, blockierte die Linke Liste mit einem Veto und Verzögerungen wie z. B. der Forderung, zunächst eine letztlich umfassende Klärung des Imperialismusbegriff vorauszusetzen.

Das Veto selbst hat unserer Ansicht nach keine Gültigkeit, da sich das Bündnis unserer Ansicht nach nie für die Gestattung undemokratischer Vetorechte entschieden hatte, das Gegenteil wurde uns nicht belegt. Zudem schickte sich mit der Linken Liste eine Gruppe eher gesellschaftlich Privilegierter an, mit Vetos zu hantieren, was die Sache gewiss nicht richtiger macht. Es bleibt ein blockierendes und sabotierendes Unding, dieses Verhalten der Linken Liste, die sich nach dem Ersten Mai den Beschluss zu Palästinafahnen malt, wie es ihr gefällt, und beraubt das revolutionäre Erste-Mai-Bündnis so jeglicher Glaubwürdigkeit und Verbindlichkeit. Wir haben daher das Bündnis aufgefordert, die Linke Liste von weiterer Zusammenarbeit auszuschließen.

Fazit

Der erste Revolutionäre Erste Mai in Frankfurt am Main war ein Mobilisierungs- und als Alternative zum DGB-Stillhalten auch ein großer politischer Erfolg. Doch am Rande dessen begegnete uns allerlei Altbekanntes der deutschen Linken – von antideutschen Manövern hin zu sektiererischen Angriffen. Was wir mitnehmen ist, dass uns der Boden für eine weitere Diskussion mit den Kräften, die nicht unter diese Muster fallen, fruchtbar erscheint. Wir würden uns freuen, die begonnene Debatte mit Euch fortzuführen!




Die Lügen der Polizei – oder: wovor sich die Herrschenden fürchten

Pressemitteilung des Bündnisses zur Vorbereitung der Revolutionären 1.-Mai-Demonstration, Infomail 1148, 3. Mai

Die Darstellung der Berliner Polizei zur Auflösung der Revolutionären 1.-Mai-Demonstration kommt einer politischen Märchenstunde gleich, die vor allem der Rechtfertigung der willkürlichen, aber gezielten Auflösung der Demonstration dient.

Hier einige Fakten und Richtigstellungen zur Demonstration und deren gewaltsame Auflösung durch die Berliner Polizei.

Schon im Vorfeld des 1. Mai ließen Sprecher*innen der Polizei verlauten, dass sie mit einer möglichen Eskalation rechnen, und stellten auch mögliche Auflösungsszenarien in den Raum. Und das, obwohl das Demonstrationsbündnis immer wieder das politische Ziel betonte, die Bevölkerung Neuköllns und Kreuzbergs zu ermutigen, sich der Demonstration anzuschließen. Schon vor deren Beginn gab es erste Schikanen wie eine späte Absperrung der Straßen, sodass die Auftaktkundgebung nicht pünktlich beginnen konnte.

Das Bündnis und die Teilnehmer*innen versuchten von Beginn an, die Regeln des Infektionsschutzgesetzes zu beachten. Faktisch trugen alle Masken. Die Demonstrationsleitung, die Ordner*innen und die Lautsprecherwagen wiesen immer wieder darauf hin und konnten die Einhaltung der Regeln weitgehend sicherstellen, vor allem sobald die Demonstration zu laufen begann.

Wie auch Journalist*innen und Vertreter*innen der Medien – so zum Beispiel der RBB in der Abendschau – berichten, war die Demonstration lautstark, kämpferisch, antikapitalistisch, aber auch entspannt, friedlich und nach eigenen Aussage des RBB-Reporters trugen 99 Prozent der Teilnehmenden eine Mundnasenbedeckung und versuchten, die Abstände einzuhalten.

Dennoch spaltete die Berliner Polizei ohne vorherige Warnung und ohne die Versammlungsleitung zu informieren, die Demonstration gegen 20:00 Uhr in der Karl-Marx-Straße in zwei Hälften, kesselte mehrere Blöcke und Personengruppen und drängte diese auf einem durch Baustellen ohnehin schon engen Raum weiter zusammen. Nachdem der Anmelder bereits im Kooperationsgespräch darauf gedrängt hatte, auf der Route Parkverbote aufzustellen, um die Hygieneregeln besser einhalten zu können, die Polizeiführung dies aber rigoros abgelehnte, verhinderte die Polizei selbst mit der Abtrennung und Kesselung großer Teile der Teilnehmer*innen das Einhalten des Infektionsschutzgesetzes.

Die Polizei wollte damit offensichtlich einen Keil zwischen „gute“ Demonstrant*innen im ersten Block und „böse“ Teilnehmer*innen in den folgenden treiben. Auf diesen Spaltungsversuch ließen wir uns nicht ein – und werden wir uns auch zukünftig nicht einlassen.

Das Bündnis und die Versammlungsleitung hielten die Demonstration an, nachdem sie von der Abtrennung der Hälfte der Demonstrationsteilnehmer*innen erfahren hatten, und verlangten, dass sich alle wieder dem Demonstrationszug anschließen können. Die Polizei verweigerte indes jedes Gespräch darüber und entzog faktisch Tausenden Menschen ihr Recht auf Versammlungsfreiheit.

Stattdessen begannen die Polizeikräfte, die Teilnehmer*innen zu traktieren und anzugreifen. Demonstrant*innen wurden eingeschüchtert, willkürlich festgenommen und der gesamten Demonstration mit der Auflösung durch die Polizei gedroht, weil Schaulustige und Anwohner*innen auf den engen, zugeparkten Straßen die Abstandsregeln nur schwerlich einhalten konnten. Erst nach den Angriffen der Polizei auf verschiedene Teile der Demonstration eskalierte die Lage.

In diesem Zeitraum „verschwanden“ auch die unerfahrenen und offensichtlich überforderten Verbindungsbeamten der Polizei spurlos. Etwas, was in den vielen Jahren zuvor noch nie passiert war. Das Bündnis und die Versammlungsleitung wollten die Situation deeskalieren und Demonstration ohne Repression durch die Polizei mit allen Teilnehmer*innen fortsetzen. Doch Verbindungsbeamte und Einsatzleitung waren für die Versammlungsleitung bis zur Beendigung der Demonstration nicht mehr erreichbar.

Die Polizei begann ab 20.30 Uhr, den abwartenden Demonstrationszug anzugreifen, und nahm Hunderte Menschen fest. Polizeieinheiten gingen brutal gegen Träger*innen von Transparenten und Fahnen vor, um die Fortsetzung des Aufzugs zu unterbinden. Gegen 21.00 Uhr war die Demonstration faktisch von der Polizei zerschlagen worden. Erst danach lösten die Veranstalter die Demonstration auf.

Die Berliner Polizeipräsidentin verbreitete letztlich die von zahlreichen Medien ohne weitere Überprüfung übernommene Falschmeldung, der Versammlungsleiter habe die Demonstration für beendet erklärt, nachdem er selbst aus der Menge heraus angegriffen worden sei. Diese Behauptung ist schlicht und einfach falsch. Der angebliche Angriff fand nie statt und der Versammlungsleiter erfuhr davon auch erst aus den Medien.

Wie diese Falschmeldung fabriziert wurde, entzieht sich unserer Kenntnis. Wohl aber tritt ihr politischer Zweck klar zutage. Rund 25.000 Menschen, die gegen Rassismus und Sexismus, gegen Ausbeutung und Wohnungsnot, gegen Kapitalismus und Imperialismus auf die Straße gingen, sollen politisch diffamiert und als verantwortungslose diskreditiert werden – und mit ihnen die klassenkämpferischen und revolutionären Ziele, die sie vertreten.

Das Vorgehen der Polizei zeigt, dass sie nie vorhatte, die Demonstration bis nach Kreuzberg ziehen zu lassen. Sie hat bewusst eine Eskalation in Neukölln forciert, um uns vor den Augen der Bevölkerung und der Presse zu diskreditieren und uns zu spalten. Denn es gibt nichts, was die Herrschenden mehr fürchten als unsere Einheit und unsere Solidarität. Daher wollen sie gezielt verhindern, dass wir uns im Kampf zusammenschließen, innerhalb der Linken und mit der Bevölkerung. Das wird ihnen nicht gelingen. Jetzt erst recht: Yallah Klassenkampf!

Berlin, 3. Mai 2021




#NichtAufUnseremRücken zur Pandemie: Keine Antwort ist auch keine Lösung

Martin Suchanek, Neue Internationale 254, April 2021

Mit dem Text „Wie gelingt es, eine Anti-Krisen-Bewegung von links aufzubauen? – Eine notwendige Antwort auf #ZeroCovid“ versucht das Bündnis #NichtAufUnseremRücken, eine Kritik an der Initiative zu formulieren. Herausgekommen ist dabei eine politische Bankrotterklärung. So heißt es:

„Ausgehend von dieser Gesamtsituation sollten wir uns als Linke auf die Fragestellung ‚Was ist denn euer Plan zur Lösung der Pandemie?‘ gar nicht erst einlassen. Natürlich können wir darüber philosophieren, wie die Pandemie-Bewältigung in einer sozialistischen Gesellschaft aussehen würde. Doch da wir nicht kurz vor einer Revolution stehen, muss aktuell jede Krisenlösung innerhalb der Logik des Systems verbleiben, welches uns das Elend erst eingebrockt hat.“

Dumm nur, dass die Pandemie ein zentrales aktuelles Problem der Menschheit darstellt. Eine Gruppierung, die sich auf die Frage, wie sie zu bekämpfen sei, erst gar nicht einlassen will, offenbart nur, dass sie zu einer zentralen Frage nichts zu sagen hat. Frei nach dem Motto: „Stell Dir vor, es ist Pandemie, und wir kümmern uns nicht darum!“ Dann kommt das Virus früher oder später dennoch zu dir.

Die AutorInnen des Texts mögen vielleicht glauben, dass Raushalten aus der Pandemiefrage helfe, die eigene revolutionäre Weste nicht mit Reformforderungen zu beflecken. In Wirklichkeit bedeutet es nur, die Bekämpfung der Pandemie der herrschenden Klasse zu überlassen. Deren Politik und die sämtlicher Staaten wird zwar kritisiert, aber die Kritik bleibt vollkommen folgenlos, ja diskreditiert sich unwillkürlich selbst, wenn die Frage gestellt wird: „Was ist denn euer Plan zur Lösung der Pandemie?“: Wir haben keinen – und wir wollen auch gar keinen entwerfen!

Abstentionismus

Das ist keine Klassenpolitik, das ist weder revolutionär noch reformistisch, sondern bloß politischer Abstentionismus.

Glücklicherweise hält der Text die Linie, die er verspricht, nicht konsequent durch. So erfahren wir im zitierten Absatz, dass „wir nicht kurz vor einer Revolution stehen“. Daher, so heißt es weiter, „muss aktuell jede Krisenlösung innerhalb der Logik des Systems verbleiben“. Fragt sich nur, warum die Forderungen von #ZeroCovid nach einem Shutdown in der Industrie als Illusion gebrandmarkt werden, während die AutorInnen durchaus richtig selbst fordern: „Schließung aller nicht lebensnotwendigen Betriebe während eines Lockdowns – statt noch weiterer Einschränkungen im Alltag! Gefahrenzulage für die, die noch arbeiten müssen!“

Wenn die großen Weisheiten der Kritik an #ZeroCovid richtig sind, warum werden sie dann nicht auf die eigene Politik angewandt? Richtet sich die Forderung nach der Schließung nicht lebensnotwendiger Betriebe etwa nicht an den Staat? Durch wen sonst soll die von #NichtAufUnseremRücken geforderte digitale Ausstattung der Schulen finanziert und geleistet werden? Wer soll die dezentrale Unterbringung von Wohnungslosen und Geflüchteten finanzieren? Der Staat über eine Besteuerung der Reichen oder soll das „von unten“, also aus den Einkommen der Lohnabhängigen bezahlt werden?

Das Beste am Text von #NichtAufUnseremRücken ist ironischerweise seine innere Widersprüchlichkeit. Um diese zu kitten, darf jedoch nicht fehlen, #ZeroCovid eine Politik des „autoritären Shutdowns“ zu unterschieben, die es nicht vertritt.

Der entscheidende Unterschied, der im Grunde die gesamte Linke durchzieht, ist jedoch folgender: Brauchen die Linke und die ArbeiterInnenklasse eine Antwort, ein Programm zur Bekämpfung der Pandemie oder sollen sie ein zentrales Problem der Menschheit ignorieren und hoffen, dass es endlich vorübergeht, damit wir uns auf „Wichtigeres“ konzentrieren können? In Wirklichkeit muss sich eine revolutionäre Linke gerade daran messen lassen, ob sie eine Politik entwickelt, die den Kampf gegen die Pandemie mit dem gegen den Kapitalismus in Form eines Programms von Übergangsforderungen (z. B. Arbeiterinnenkontrolle) verbindet und in diesem Sinne gezielt das gesellschaftliche Kräfteverhältnis zu verändern versucht