Myanmar: Armee eskaliert das Morden

Dave Stockton, Infomail 1144, 1. April

Die Tatmadaw, die Streitkräfte und MassenmörderInnen, die Myanmar regieren, greifen mehr und mehr zum systematischen Mord an den AnhängerInnen der Protestbewegung. Die Zahl der Toten steigt rapide. Die Hilfsvereinigung für politische Gefangene, die wichtigste Menschenrechtsorganisation des Landes, bestätigt die Tötung von 459 ZivilistInnen. Die wahre Zahl liegt aber wahrscheinlich viel höher. Am 27. März wurden mindestens 40 Menschen in Mandalay und mindestens 27 Menschen in Yangon (Rangun) umgebracht. Die Polizei ermordete sogar Menschen in ihren eigenen Häusern, darunter ein siebenjähriges Mädchen, dem in den Bauch geschossen wurde, eine von 20 Minderjährigen im Alter zwischen 10 und 16 Jahren, die seit dem Putsch getötet wurden.

Darüber hinaus hat die Luftwaffe, die ein Zusammengehen der unbewaffneten Proteste des zivilen Ungehorsams mit den bewaffneten RebellInnen der ethnischen Minderheiten befürchtet, mit der Bombardierung von Dörfern im östlichen Bundesstaat Karen begonnen, wodurch Tausende über die Grenze nach Thailand geflohen sind. Drei dieser bewaffneten Gruppen, darunter die Arakan-Armee des Staates Rakhaing haben gemeinsam das Militär aufgefordert, das Töten einzustellen.

Repression und Zuspitzung der Lage

Während das Gemetzel in anderen Städten weiterging, sprach in der Hauptstadt Naypyidaw der oberste Mörder des Landes, Min Aung Hlaing, bei der Militärparade zum Tag der Streitkräfte, bei der auch VertreterInnen des chinesischen und russischen Militärs unauffällig anwesend waren. Gleich und gleich gesellt sich gern … , wie man so schön sagt. „Russland ist ein wahrer Freund“, bemerkte der Putschist, was auch der syrische Schlächter Baschar al-Assad bezeugen würde.

Es besteht nun die sehr reale Möglichkeit, dass die Tatmadaw das grausame Abschlachten der Opposition von 1988 wiederholt, bei dem an die 10.000 Menschen ums Leben kamen. Allein am Samstag, den 27. März, gab es 114 Tote, viele davon durch gezielte Kopfschüsse. Damit erfüllte die Armee eine ausdrückliche Drohung: „Ihr solltet aus der Tragödie früherer hässlicher Todesfälle lernen, dass ihr in Gefahr sein könnt, in Kopf und Rücken geschossen zu werden“, verkündete die Armee über ihren MRTV-Nachrichtenkanal am Freitag.

An den darauffolgenden Tagen kam es dennoch zu zahlreichen Zusammenkünften in Rangun, Mandalay und Dutzenden von Städten und Ortschaften im ganzen Land. Es gibt weit verbreitete Streiks von Regierungsangestellten, die das nicht-militärische Funktionieren des Staates lahmgelegt haben. Friedliche Demonstrationen weichen auch einem entschlosseneren Widerstand in Stadtbezirken Yangons wie Hlaing Tharyar und Süd-Dagon. Es sind Bilder von Protestierenden aufgetaucht, die Schleudern, Molotowcocktails und sogar selbstgebaute Gewehre hinter aus Sandsäcken gebauten Barrikaden abfeuerten, nachdem sie unter Beschuss der Sicherheitskräfte geraten waren.

Der Fernsehsender Al Jazeera interviewte einen zwanzigjährigen Anführer, Codename „Fox“, von einer der kleinen Gruppen, die diesen kämpferischen Widerstand organisieren. Er sagte, dass er und seine Gruppe friedlich demonstrierten, bis das Militär begann, ihre FreundInnen zu töten: „Da haben wir beschlossen, dass wir zurückschlagen werden“. Er berichtete jedoch auch, dass sie in den Untergrund gehen mussten, als die Polizei eine Person gefangen nahm und die Namen auf ihrem Mobiltelefon benutzte, um den Rest zu jagen.

Die Protestbewegung hat sich auch auf Regionen ausgeweitet, die von den nationalen Minderheiten Myanmars bewohnt werden, zu denen rund 30 % der Bevölkerung zählen. Das Generalstreikkomitee der Nationalitäten forderte in einem offenen Brief auf Facebook die RebellInnen in diesen Regionen auf, denjenigen zu helfen, die sich dem Militär entgegenstellen: „Es ist notwendig, dass die bewaffneten ethnischen Organisationen gemeinsam das Volk schützen“.

Am Wochenende des 27. und 28. März kam es in der Nähe der thailändischen Grenze zu schweren Zusammenstößen zwischen Truppen der Tatmadaw und GuerillakämpferInnen der Nationalen Union von Karen, KNU, als Düsenjäger einen ihrer Stützpunkte bombardierten. Das Militär hat nie auch nur das geringste Maß an Autonomie für die Minderheiten akzeptiert und eindeutig Waffenstillstände, die mit der zivilen Regierung von Aung San Suu Kyi ausgehandelt wurden, gebrochen. Zehntausende von Karen leben nach wiederholten Bombardierungen durch das Militär seit Jahrzehnten in Flüchtlingslagern in Thailand.

Die anhaltenden Generalstreiks der Bahn-, Bank-, Fabrik- und LadenarbeiterInnen sowie der BeamtInnen haben die Wirtschaft lahmgelegt. Finanzielle Transaktionen sind zum Stillstand gekommen, nachdem die Mehrheit des Personals bei großen Privatbanken wie Kanbawza (KBZ) und Ayeyarwady (AYA) die Arbeit niedergelegt hat. Sogar die militärinterne Myawaddy-Bank meldete, dass ihre Bargeldreserven gering seien und begrenzte die Bargeldabhebungen auf 355 US-Dollar pro Tag.

Die verstärkte Verbarrikadierung und Selbstverteidigung von Schlüsselbezirken und, wo immer möglich, die Bewaffnung der DemonstrantInnen, kombiniert mit dem Generalstreik und einer Einheitsfront mit den nationalen Minderheiten, könnte die Generäle in die Defensive treiben, Einheit und Disziplin der Armee brechen. Das ist die einzige Hoffnung, aber sie ist nicht aussichtslos. Es gibt viele Berichte, dass Sicherheitskräfte nicht nur nach Indien desertieren, sondern sich der Protestbewegung anschließen.

Was tun?

Um den Widerstand gegen die Tatmadaw zu maximieren, muss die Demokratiebewegung unter der Bamar-Mehrheit das Selbstbestimmungsrecht der anderen Nationalitäten offen als einen wesentlichen Bestandteil ihres eigenen Programms für Demokratie anerkennen.

Sicher ist, dass Gewaltlosigkeit oder „moralische Gewalt“ weder die Bestien, die die Tatmadaw anführen, zähmen noch die Disziplin der SoldatInnen und der Polizei brechen wird. Diese Kräfte müssen erkennen, dass die Bewegung gewinnen kann, dass sie gewinnt, und dass sie sich ihr anschließen sollten, oder sie werden sich für ihre Taten vor der Volksjustiz verantworten müssen. Dann wird die Disziplin zerbröckeln. Die Unterstützung von ArbeiterInnen aus Nachbarländern und der ganzen Welt ist ebenfalls wichtig. Diese sollte sich auf Aktionen der ArbeiterInnenschaft konzentrieren, um Waffenlieferungen und militärische Zusammenarbeit, Finanztransfers oder Handel mit der Junta zu stoppen.

Der entscheidende Punkt ist, dass in Myanmar wie in den vielen spontanen Volksrevolutionen der vergangenen zwei Jahrzehnte die Bewegung gegen die Diktatur, die von der Jugend und den ArbeiterInnen angeführt wird, einen organisierten politischen Ausdruck braucht, der weit kühner ist als die Nationale Liga für Demokratie und ihre mit dem Blut nationaler Minderheiten befleckte Nobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi. Sie und ihre Regierung haben wiederholt angedeutet, dass sie weiterhin das Militär als nationale Institution unterstützen. Im Jahr 2017 weigerte sie sich beschämenderweise, die brutale Vertreibung von 723.000 Rohingyas nach Bangladesch und die Inhaftierung von weiteren 130.000 in elenden Lagern in der Provinz Rakhine zu verurteilen.

Der massive und heldenhafte Widerstand gegen den Putsch in Myanmar zeigt genauso wie die massenhaften Volksaufstände in Ägypten, Syrien und einer Reihe anderer Länder während des vergangenen Jahrzehnts, dass das Militär und die Polizeikräfte Agenturen der Tyrannei über genau die Menschen sind, die sie angeblich verteidigen sollen. Sie müssen im Prozess der Revolution zerschlagen, aufgelöst und durch Milizen der ArbeiterInnen und Massen ersetzt werden. Ebenso müssen die GroßkapitalistInnen, sowohl die ausländischen als auch die einheimischen, enteignet und die Industrien, Banken, Agrarbetriebe, Minen usw. des Landes in einem geplanten Entwicklungssystem zusammengefasst werden, das von den Organisationen der ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen kontrolliert wird.

Zu guter Letzt: Sollte die Revolution von 2021 tragischerweise daran scheitern, die Macht des Militärs zu brechen und damit enden, dass Zehntausende, vielleicht Hunderttausende, ins Exil fliehen, wird die Notwendigkeit einer revolutionären kommunistischen Organisation noch akuter sein. Sie kann von einer riesigen Schicht junger Militanter wie „Fox“ aufgebaut werden, wenn sie die Lehren daraus ziehen, die Sackgasse eines Patriotismus, der auf der Bamar-Mehrheitsethnie und dem Pazifismus aufbaut, zurückweisen und das Programm der permanenten Revolution annehmen, d. h. den Kampf für demokratische Forderungen in den Rahmen des Kampf für die Macht der ArbeiterInnen im Bündnis mit den Bauern und Bäuerinnen in Myanmar und international stellen.




Myanmar: Der Widerstand gegen den Putsch geht weiter – Solidarität mit den ArbeiterInnen und der Jugend!

Dave Stockton, Infomail 1142, 11. März 2021

Der März eskalierte die Repression durch das Militär Myanmars – die Tatmadaw – gegen völlig friedliche und unbewaffnete DemonstrantInnen massiv. Neben Gummigeschossen und scharfer Munition werden auch Splittergranaten eingesetzt, die einen Kugelhagel ausstoßen, der schwere Verletzungen verursacht.

In der nördlichen Stadt Myitkyina haben Scharfschützen wahllos von Gebäuden entlang der Demonstrationsrouten geschossen. In Yangon (Rangun) und anderen Städten werden bei nächtlichen Razzien Hunderte von Menschen aufgegriffen, die Zahl der Festgenommenen liegt nach den Angaben der Menschenrechtsorganisationen des Landes inzwischen bei weit über tausend.

Ein FunktionärIn der National League for Democracy, NLD, deren Präsidentin Aung San Suu Kyi inhaftiert ist, ist im Gewahrsam gestorben, es ist der zweite innerhalb von zwei Tagen.

Angesichts der immer massiver werdenden Demonstrationen setzt Min Aung Hlaing, der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, zunehmend tödliche Gewalt ein, um den Aufstand niederzuschlagen. Wie Macbeth in Shakespeares Drama denkt er zweifelsohne: „Ich bin einmal so tief in Blut gestiegen / Dass, wollt‘ ich nun im Waten stille stehn / Rückkehr so schwierig wär‘, als durch zu gehn.“

Nach UN-Quellen hat die Zahl der Todesopfer seit dem 1. Februar inzwischen die 50 überschritten. Allein am 28. Februar gab es 18 Tote und über 30 Schwerverletzte. Dann, am 3. März, tötete die paramilitärische Polizei mit Sturmgewehren mindestens 38 Menschen. Das Töten und Verstümmeln fand in Yangon, der größten Stadt und dem Industriezentrum des Landes, in Mandalay und vielen anderen Städten des Landes statt. Aber die Niederschlagung der landesweiten Revolte wird ein weit tieferes Waten im Blut erfordern.

Dennoch hat die massive Zunahme von Tötungen und Massenverhaftungen die Proteste bisher nicht beenden können. Vielmehr haben sie die DemonstrantInnen gezwungen, defensive Maßnahmen zu ergreifen. Während sie immer noch völlig friedlich bleiben, haben junge Leute Reihen von „VerteidigerInnen“ mit Helmen und improvisierten Schilden organisiert und Barrikaden errichtet, um die Durchfahrt von Militärfahrzeugen zu verhindern.

Zunehmende Rolle der ArbeiterInnenklasse

Ein entscheidender Faktor für die Niederschlagung des Putsches ist die zunehmende Rolle, die die ArbeiterInnen bei den Protesten und wiederholten Streiks spielen. Die IndustriearbeiterInnen-Föderation von Myanmar, IWFM, und neun Einzelgewerkschaften riefen am 22. Februar und am 8. März, dem Internationalen Frauenkampftag, zu eintägigen Generalstreiks auf, bei denen Fabriken, Geschäfte, Regierungsbüros, Banken und Eisenbahnen bestreikt wurden. Die Föderation der BekleidungsarbeiterInnen von Myanmar, FGWM, die aus 20 lokalen Gewerkschaften besteht, hat eine wichtige Rolle gespielt. Ihre Fabriken produzieren für internationale Marken wie The North Face und H&M.

EisenbahnerInnen, BekleidungsarbeiterInnen, BeamtInnen, Beschäftigte im Gesundheitswesen und KupferminenarbeiterInnen haben sich wiederholt den Protesten angeschlossen. Streikende ArbeiterInnen der Eisenbahn sind in ihren Wohnanlagen vom Militär belagert worden, welches sie mit Verhaftungen bedrohte. Eine prominente Organisatorin, Moe Sandar Myint, erklärte: „Die ArbeiterInnen sind bereit für diesen Kampf. Wir wissen, dass sich die Situation unter der Militärdiktatur nur verschlechtern wird, deshalb werden wir als Einheit bis zum Ende kämpfen“. Kein Wunder also, dass alle unabhängigen Gewerkschaftsverbände Ende Februar verboten wurden.

Die städtische ArbeiterInnenklasse Myanmars ist seit der Öffnung des Landes für ausländische Investitionen vor zehn Jahren gewachsen, besonders in der größeren Industrieregion Yangon. Die ArbeiterInnen in der Textilindustrie, meist sehr junge Frauen, kommen vom Land und haben mit den patriarchalischen Traditionen, in denen sie aufgewachsen sind, gebrochen. Sie organisierten sich und kämpfen für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne. Jetzt wurden Haftbefehle gegen zwanzig GewerkschaftsführerInnen ausgestellt, darunter die Vizepräsidentin der IWFM, Soe Lay. Ihre Präsidentin, Khang Zar, hat einen Appell an die Menschen in aller Welt gerichtet:

„Durch zivilen Ungehorsam, Proteste und Streiks melden sich die Menschen in Myanmar klar und lautstark zu Wort. Wir brauchen die internationale Gemeinschaft, um das Gleiche zu tun. Wir brauchen Sie, um an unserer Seite zu stehen, damit dieser Putsch zusammenbricht.“

Stellung des Militärs

Es ist jetzt klar, dass die Generäle nicht einfach durch den wiederholten Beweis, dass die Bevölkerung in Myanmars Städten sie hasst und ihre Diktatur ablehnt, von der Macht verdrängt werden. Schließlich hat die Tatmadaw seit 1962 auch niemals wirklich die Macht an eine gewählte zivile Regierung abgetreten. Ihre Geschichte ist geprägt von Korruption, wirtschaftlicher Kontrolle und einem nicht enden wollenden Krieg gegen die ethnischen Minderheiten des Landes (Kachin, Karen, Kayin, Mon, Rohingya usw.), die 32 % der Bevölkerung ausmachen, aber seit langem von der Bamar-Mehrheit unterdrückt werden.

Obwohl es klar ist, dass der Widerstand der jugendlichen DemonstrantInnen nichts an der Mentalität der Generalität geändert hat, die in ihren luxuriösen, mit Teakholz ausgekleideten Villen mit privaten Golfplätzen in Sonderzonen fernab der Städte leben, gibt es Anzeichen von Unzufriedenheit unter der Polizei. Bislang haben sie die Hauptlast der Drecksarbeit der Tatmadaw getragen. Einige haben den Befehl, auf unbewaffnete DemonstrantInnen zu schießen, verweigert und sind ins benachbarte Indien geflohen. In einer gemeinsamen Erklärung an die Polizei im indischen Mizoram erklärten vier OffizierInnen:

„Als die Bewegung des zivilen Ungehorsams an Fahrt aufnahm und in verschiedenen Orten Proteste von Anti-Putsch-DemonstrantInnen stattfanden, wurden wir angewiesen, auf die Protestierenden zu schießen. In einem solchen Szenario besitzen wir nicht den Mut, auf unsere eigenen Leute zu schießen, die friedliche DemonstrantInnen sind.“

Nur wenn die ArbeiterInnenklasse die Wirtschaft zum Stillstand bringen kann und AktivistInnen die Moral der „Ordnungskräfte“ untergraben können, nur wenn die namenlosen VerteidigerInnen sich bewaffnen, kurz, nur wenn die Proteste zu einer Revolution und einem Aufstand entwickelt werden, kann gesiegt werden. Das ist die zentrale Lektion des Arabischen Frühlings vor zehn Jahren.

Imperialistische Heuchelei

US-Präsident Joe Biden hat den Putsch verurteilt und die USA haben begrenzte Sanktionen gegen Mitglieder des militärischen Oberkommandos verhängt. Australien hat die Anwendung von tödlicher Gewalt gegen ZivilistInnen, die ihre Rechte ausüben, verurteilt und sein Verteidigungskooperationsprogramm mit der Tatmadaw ausgesetzt. Der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Josep Borrell, verurteilte ebenfalls die „gewaltsame Unterdrückung friedlicher DemonstrantInnen durch das Militär in Myanmar“ und forderte „eine Rückkehr zur Demokratie“.

Noch im April und November des vergangenen Jahres wurde Min Aung Hlaing in Brüssel von den ChefInnen der NATO gefeiert. Er besuchte auch Deutschland, Österreich und Italien, um Hightech-Waffen und gepanzerte Fahrzeuge für seine Streitkräfte in ihrem Krieg gegen die ethnischen Minderheiten Myanmars zu kaufen. Diese Beziehung kam trotz der Vertreibung von 750.000 Rohingya im Jahr 2017 zustande, die der General gegenüber der NATO-Spitze zu verteidigen wagte. Tatsächlich beläuft sich der Verteidigungshaushalt des Landes bereits auf mehr als das Gesundheits- und Bildungsbudget zusammen. Doch jede Hoffnung, dass die westlichen imperialistischen Demokratien irgendetwas Entscheidendes unternehmen werden, ist vergebens.

Noch unwahrscheinlicher ist ein Wort des Widerstandes seitens des neuen imperialistischen Aufsteigers, dem „kommunistischen China“. Peking ist damit beschäftigt, seine neue Seidenstraße (One Belt, One Road) durch das Land zu bauen, um wichtige Häfen am Indischen Ozean zu erreichen. Diese Route ist von massiver strategischer Bedeutung für China, weil sie es der Schifffahrt und damit dem Handel erlauben würde, die Straße von Malakka zu umgehen, ein Engpass und potentieller „Abschnürungspunkt“ Chinas durch die USA und ihre Verbündeten.

Außerdem ist es unwahrscheinlich, dass ein Regime, das 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tian’anmen-Platz) Tausende seiner eigenen DemonstrantInnen abschlachtete, gegenwärtig einen kulturellen Völkermord an einer Million UigurInnen begeht und gegen den demokratischen Widerstand in Hongkong vorgeht, einen solchen Aufstand in Myanmar auch nur verbal unterstützen wird.

Solidarität

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass SozialistInnen und GewerkschafterInnen in Europa nicht nur ihre Solidarität mit den jungen DemonstrantInnen und ArbeiterInnen in Myanmar zeigen, sondern auch ihre Regierungen zwingen, die Waffenlieferungen an die Tatmadaw einzustellen. GewerkschafterInnen und SozialistInnen auf der ganzen Welt müssen schnell reagieren, indem sie Waren, die aus Myanmar kommen oder für Myanmar bestimmt sind, blockieren. Länder, die Waffen an das Militär in Myanmar liefern, müssen unter Druck gesetzt werden, dies sofort zu beenden. In der Tat müssen alle Verbindungen mit der illegitimen Junta aufgedeckt und gekappt werden.

Wenn es den ArbeiterInnen Myanmars gelingt, die Streiks zu einem Generalstreik auszuweiten, könnte dies zu Spaltungen in der Armee führen, besonders zwischen der Basis und der Offizierskaste. Es sind die SoldatInnen und PolizistInnen, die die Waffen besitzen, und selbst die stärkste Volksbewegung wird immer besiegt werden, wenn sie unbewaffnet bleibt.

Denn letztlich wird die Verwandlung des Massenprotests in eine erfolgreiche Revolution nur dadurch möglich sein, indem die Disziplin der einfachen SoldatInnen aufgebrochen wird und sie auf die Seite des Volkes gezogen werden. Dann wäre es möglich die MörderInnen von der Macht zu vertreiben und sie für ihre Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Um dies zu beschleunigen, sollten Gewerkschaften und sozialistische Organisationen auf der ganzen Welt dringend praktische Schritte unternehmen, um den ArbeiterInnen und der Jugend Myanmars Solidarität entgegenzubringen.




Militärputsch in Myanmar – vom Widerstand zur Revolution

Liga für die Fünfte Internationale, 9.2.2021, Infomail 1138, 11. Februar 2021

Seit einigen Tagen füllen Hunderttausende von DemonstrantInnen die Straßen der größten Stadt Myanmars, Rangun, der zweitgrössten Stadt, Mandalay, der Hauptstadt Naypyidaw und vieler anderer Städte und Ortschaften. Sie skandieren „Military dictator, fail, fail; Democracy, win, win“ („Militärdiktator, scheitern, scheitern; Demokratie, siegen, siegen“) und fordern ein Ende des Putsches, der von der Junta unter dem Oberbefehlshaber der Armee, Min Aung Hlaing, durchgeführt wurde. In der Stadt Bago setzte die Polizei Wasserwerfer ein, schaffte es aber nicht, die Menschenmenge zu zerstreuen. In der Hauptstadt, wo sich das militärische Oberkommando befindet, wurden Gummigeschosse abgefeuert.

Das Militär, bekannt als Tatmadaw, startete den Coup vom 1. Februar, weil es zutiefst beunruhigt war über das Ausmaß des Sieges der Nationalen Liga für Demokratie (National League for Democracy; NLD) der Nobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi in den Novemberwahlen, die 396 von 476 Sitzen im Parlament gewann. Ihre eigene Marionette, die Union Solidarity and Development Party (Partei für Einheit, Solidarität und Entwicklung), erlitt eine vernichtende Demütigung und erhielt nur 33 Sitze. Infolgedessen stehen Staatsrätin Suu Kyi und der Präsident der NLD, Win Myint, unter Hausarrest.

Das Militär behauptet, ohne jeglichen Beweis, dass die Wahlergebnisse vom November gefälscht waren. In Wirklichkeit hatte es Angst, dass eine weitere NLD-Regierung mit einer so großen Mehrheit im Parlament versucht sein könnte, die Verfassung von 2008 zu ändern. Diese verlieh den Streitkräften enorme Privilegien, einschließlich 25 Prozent der Sitze im Parlament, und die Kontrolle über wichtige Sicherheitsministerien. Sie schützt auch die Kontrolle der Militärelite über große Teile der Wirtschaft des Landes.

Bewegung

StudentInnen, BeamtInnen, ÄrztInnen, LehrerInnen und FabrikarbeiterInnen, viele aus Firmen, die mit dem Militär verbunden sind, haben Streiks und Arbeitsniederlegungen begonnen. Um die Demonstrationen zu unterbinden, blockierten die Militärs sofort Facebook, Twitter und Instagram, und dann wurde die Verbindung zum gesamten Internet auf nur 16 Prozent der normalen Rate gedrosselt. Dennoch ist es ihnen nicht gelungen, die Demonstrationen zu unterdrücken, die am Wochenende des 6. und 7. Februar massenhafte Ausmaße annahmen.

Am dritten Tag der Mobilisierung wurden weit verbreitete Rufe nach einem Generalstreik laut. Trotz der Schließung der Social-Media-Kanäle haben die Mobilisierungen ihre eigenen Mittel zur Verbreitung der Aktionsaufrufe hervorgebracht. Von einem Ende des Landes zum anderen wird immer deutlicher, dass sich eine Revolution entwickelt, die nur mit brutalstem Vorgehen niedergeschlagen werden könnte.

Die Generäle haben in der Vergangenheit bewiesen, dass sie durchaus bereit sind, zu massiver Gewalt zu greifen. Tausende wurden getötet, als sie 1988 den Volksmacht-Aufstand niederschlugen, und erneut 2007, als die Armee die „Safran-Revolution“ zermalmte, die so genannt wurde, weil so viele buddhistische Mönche an den Demonstrationen beteiligt waren. Seitdem haben jedoch zehn Jahre einer „demokratischen Öffnung“ und die Nutzung sozialer Medien den Mut und das Selbstvertrauen einer großen Zahl junger Menschen gestärkt.

Bis jetzt scheint die Junta zu zögern, vielleicht aus Angst, die Moral ihrer Truppen zu testen, sollten sie aufgefordert werden, auf eine so extrem populäre Bewegung zu schießen. Stattdessen haben sie Pro-Armee-Gruppen mobilisiert, um gegen die DemonstrantInnen  aufzumarschieren. Es ist klar, dass diese Krise nicht unendlich weitergehen kann. Zwei HauptakteurInnen, die ArbeiterInnenklasse und die einfachen SoldatInnen werden bestimmen, wie sie sich weiterentwickelt. Wird ein umfassender Generalstreik das Land lahmlegen? Kann man sich auf die SoldatInnen verlassen, dass sie das Feuer auf ihre Landsleute eröffnen?

Führung

Das Problem, mit dem die Bewegung konfrontiert ist, ist das gleiche wie bei früheren Revolten, nämlich das Fehlen einer Führung, die organisch in den Massen verwurzelt ist. Von der NLD, deren rote Banner und Hemden überall zu sehen sind, wird nicht berichtet, dass sie die organisierende Kraft ist. Sie konzentriert sich ganz auf den Kult um ihre Führerin, Aung Sang Suu Kyi, die zuvor 15 Jahre in Haft verbracht hatte und ein unvergleichliches Prestige besitzt. Ihr Vater (Bogyoke) Aung Sang (1915–1947) war der Gründer der damaligen burmesischen Streitkräfte und trägt den Titel „Vater der Nation“.

Im Ausland wurde ihr Ruf jedoch durch die schändliche Art und Weise befleckt, wie sie 2017 die ethnische Säuberung und den versuchten Völkermord am Volk der Rohingya deckte, als 740.000 zur Flucht nach Bangladesch gezwungen wurden, wo sie in Lagern unter entsetzlichen Bedingungen leben. Trotz ihres Versagens, die Rechte der Minderheitsnationalitäten Myanmars, etwa 32 % der Bevölkerung, zu unterstützen, was ein Ergebnis ihres burmesischen (Bamar-)Nationalismus ist, ist sie immer noch enorm beliebt bei der Masse. Sollten die Dinge für die Generäle schlecht laufen, könnten sie sogar auf einen Deal mit ihr zurückgreifen, um eine revolutionäre Bewegung zu befrieden. In Anbetracht ihres bisherigen Verhaltens könnte sie dies durchaus akzeptieren.

Um das Fortschreiten des Putsches aufzuhalten, sind drei Dinge notwendig: die Fortsetzung der Massendemonstrationen, die Einleitung eines umfassenden unbefristeten Generalstreiks, der das Land zum Stillstand bringen wird, und dabei das Brechen der einfachen Soldaten der Streitkräfte und der unteren Ränge der Polizei von ihren Befehlshabern und ihre Gewinnung für die Bewegung.

Im Zuge eines solchen Generalstreiks sollten in allen Betrieben und Bildungsstätten Aktionsräte als Führung der Revolution gewählt werden. Aus diesen Mobilisierungen heraus sollten Verteidigungsgruppen von ArbeiterInnen, Jugendlichen, SoldatInnen, Bauern und Bäuerinnen gebildet werden. Wenn die SoldatInnen zur Revolution übergehen, müssen auch sie ihre eigenen Räte organisieren und die OffizierInnen und KommandantInnen durch gewählte, den Massen ergebene ersetzen.

Allein die Tatsache, dass die Generäle trotz eines Jahrzehnts „demokratischer Öffnung“ und der Präsenz der NLD in der Regierung seit 2015 immer noch an der wirklichen Macht, sowohl wirtschaftlich als auch militärisch, festhielten, zeigt einfach, dass ihre Diktatur hinter einer Fassade der zivilen Herrschaft versteckt war.

Die Lehre aus den Revolutionen des Arabischen Frühlings von 2011 ist, dass ohne eine politische Partei der ArbeiterInnenklasse und der Jugend die Revolution entweder zerschlagen wird oder die Massen durch eine Umgruppierung der Generäle und der PolitikerInnen an der Spitze getäuscht werden. Eine konterrevolutionäre Führung von oben wird ein Vakuum füllen, das durch das Fehlen einer revolutionären Führung von unten entsteht. So ist heute, in Ägypten, Abd al-Fattah as-Sisi trotz der Mobilisierungen auf dem Tahrir-Platz ein noch brutalerer Diktator als Hosni Mubarak, der durch diese Demonstrationen gestürzt wurde.

Permanente Revolution

Nur eine durchgreifende demokratische politische Revolution, angeführt von der ArbeiterInnenklasse und der Jugend, die sich zu einer sozialen Revolution weiterentwickelt, kann diese Situation grundlegend verändern. Es muss eine Revolution sein, die die Macht der Kaste der Generäle vollständig auflöst und die Repressionsmaschinerie des Staates endgültig zerschlägt. Sie muss auch ihre ökonomische Macht beenden, ihre unrechtmäßigen Gewinne beschlagnahmen, die ArbeiterInnenkontrolle in den Fabriken und Büros, den Schulen, Krankenhäusern und anderen Arbeitsstätten etablieren. Auf dem Lande müssen die Bauern und Bäuerinnen ihre eigenen Räte organisieren. Eine solche Revolution sollte die Militärregierung vertreiben und eine Regierung der ArbeiterInnen und Bauern sowie Bäuerinnen an die Macht bringen.

Angesichts der demokratischen Hoffnungen und Bestrebungen des Volkes nach so vielen Jahrzehnten der Diktatur wird es sehr wahrscheinlich notwendig sein, die Forderung nach Wahlen zu einer völlig souveränen verfassunggebenden Versammlung zu erheben und nicht einfach eine weitere NLD-Regierung zu installieren, die bereit ist, einen Deal mit der Tatmadaw einzugehen. Diese Wahlen sollten unter der Kontrolle von Komitees und Räten der ArbeiterInnen, der Jugend, von Bauern und Bäuerinnen durchgeführt und von deren Verteidigungsorganisationen bewacht werden. Die Versammlung sollte nicht nur die Rechte der burmesischen Mehrheitsethnie berücksichtigen, sondern auch das auf Selbstbestimmung aller nationalen Minderheiten des Landes, einschließlich der Rückkehr der Rohingya-Flüchtlinge.

Nicht zuletzt muss im Verlauf der Revolution eine revolutionäre Partei der ArbeiterInnenklasse gebildet werden, die alle Versuche Suu Kyis und der NLD, erneut Kompromisse mit dem Militär einzugehen und das Land für ausländisches Kapital, ob aus dem Westen oder aus China, zu öffnen, herausfordern kann.

Schließlich sollten die KommunistInnen dafür kämpfen, dass eine konstituierende Versammlung alle ausländischen und einheimischen GroßkapitalistInnen enteignet und das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln einführt. Obwohl die Revolution in Myanmar also als eine Revolution für Demokratie beginnt, muss sie sich, um diese vollständig zu erreichen, zu einer Revolution für ArbeiterInnenmacht und Sozialismus entwickeln.

Unterstützung und Solidarität – von wem?

Zwei imperialistische „Lager“ verfolgen die Krise in Myanmar: zum einen die USA und ihre westlichen Verbündeten, zum anderen China und in geringerem Maße Russland. Die NLD, seit 2015 an der Regierung, hat versucht, Myanmar für den Westen zu öffnen. Trump zeigte wenig Interesse, aber der neue US-Präsident forderte die Generäle schnell auf, die Demokratie wiederherzustellen.

Sein nationaler Sicherheitsberater, Jake Sullivan, hat gesagt, das Weiße Haus prüfe „spezifische gezielte Sanktionen sowohl gegen Einzelpersonen als auch gegen vom Militär kontrollierte Einrichtungen, die es bereichern“. Diese „gezielten Sanktionen“, wie sie gegen Russland oder Venezuela gerichtet sind, werden der Sache der arbeitenden Menschen und der Jugend dieser Länder nicht ein Jota helfen.

Sie werden ebenso  wenig ändern wie Erklärungen des UN-Sicherheitsrates, der lediglich „tiefe Besorgnis“ über die willkürliche Inhaftierung von Mitgliedern der Regierung Myanmars zum Ausdruck brachte und ihre sofortige Freilassung forderte. Natürlich war dieser Entwurf einer Erklärung verwässert worden, um ein Veto Russlands und Chinas zu verhindern. China bleibt jedoch vorsichtig, um zu sehen, wer sich durchsetzen wird. Der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, Wang Wenbin, erklärte, dass Peking immer noch versuche, die Situation in Myanmar zu verstehen“, während er gleichzeitig betonte, dass China „Myanmars freundlicher Nachbar“ sei und die Regierung hoffe, dass „alle Parteien in Myanmar ihre Streitigkeiten beilegen und die soziale und politische Stabilität aufrechterhalten können, indem sie die Verfassung und die Gesetze anwenden“. Chinas Außenminister, Wang Yi, hatte das Land Mitte Januar besucht und sowohl Aung Sang Suu Kyi als auch Min Aung Hlaing getroffen.

China hat große strategische und wirtschaftliche Interessen in Myanmar. Es ist ein wichtiges Glied im berühmten „one belt, one road“-Projekt, das chinesischen HändlerInnen direkten Zugang zum Indischen Ozean verschafft. Aber wie in anderen Ländern auch gab es in letzter Zeit Reibereien zwischen dem Militär und China wegen eines Wasserkraftprojektes und den Praktiken chinesischer Firmen bei großen Infrastrukturplänen. Wenn der Westen ernsthafte Maßnahmen ergreift, um Myanmar zu isolieren, wird er das Land mit Sicherheit in das Lager Pekings treiben, und das könnte seine Hand draufhalten.

Eines ist sicher, keine dieser Gruppen rivalisierender imperialistischer Mächte ist wirklich an den demokratischen Rechten oder der Souveränität Myanmars und seiner Völker interessiert, geschweige denn an der Unterstützung der Kämpfe der ArbeiterInnen und der Jugend Myanmars.

In den letzten Jahren ist das Land zum Ziel für immer mehr ausländisches Kapital geworden. Chinesische BekleidungsherstellerInnen gehören zu denjenigen, die sich im Land niedergelassen haben. Mittlerweile gibt es 350 große Fabriken, die 240.000 ArbeiterInnen beschäftigen, von denen über 90 Prozent Frauen sind. Die meisten ausländischen Direktinvestitionen kommen jedoch immer noch aus der südostasiatischen Region und hatten im Steuerjahr 2020 einen Wert von 5,5 Mrd. US-Dollar (4 Mrd. Britische Pfund). Singapur war der größte ausländische Investor mit einem Anteil von 34 Prozent an den gesamten genehmigten Investitionen. Hongkong war der zweitgrößte, mit 26 Prozent. Auf Immobilien und die verarbeitende Industrie entfielen jeweils etwa 20 Prozent.

Dennoch geht ein Großteil der Produktion der Fabriken des Landes nach Europa. Deutschland, Spanien und Großbritannien führen die Liste der ImporteurInnen von Produkten der Bekleidungs- und Schuhindustrie Myanmars an. Die großen Textilketten wie H&M könnten ein Ziel für Streikposten und Proteste in Solidarität mit den ArbeiterInnen und Jugendlichen des Landes werden.

Die westlichen imperialistischen Demokratien werden wie bisher nichts tun, um den Massen in Myanmar zu helfen, während vor allem China weiterhin die Generäle unterstützen wird. Es ist die ArbeiterInnenklasse auf der ganzen Welt, die ihre Solidarität mit einem Generalstreik und dem Widerstand ausdrücken sollte, falls das Militär zum Blutvergießen greift. SozialistInnen und KommunistInnen sollten ihre volle Unterstützung für den Widerstand gegen die Militärherrschaft in Myanmar erklären und einen ArbeiterInnenboykott als Zeichen unserer Solidarität verhängen.

  • Nieder mit der Militärjunta!
  • Solidarität mit dem Widerstand!
  • Vorwärts zu einer demokratischen und sozialen Revolution in Myanmar!



Die Wahlen in Bolivien: Niederlage des Putsches von 2019

Liga Socialista, Brasilien, Neue Internationale 251, November 2020

Ein Jahr, nachdem sie den bolivianischen Präsidenten Evo Morales gestürzt hatten, haben die rechten und rechtsextremen Parteien, die den Putsch mit Unterstützung und Ermutigung des Weißen Hauses und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) organisiert und angeführt hatten, eine verheerende Wahlniederlage erlitten. Ihre usurpierende Präsidentin, Jeanine Áñez, die Mitte September als Kandidatin zurücktrat, musste nachgeben. Sie muss sich nun wegen der Tötung von 30 Menschen während des Putsches im vergangenen Jahr, insbesondere der Massaker in Senkata, Sacaba und Yapacaní, verantworten.

Wahlergebnis

Nach Wahlschluss am Donnerstag, dem 22. Oktober, wurden Luis Arce und David Choquehuanca Céspedes von der Movimiento al Socialismo (MAS; Bewegung zum Sozialismus) im ersten Wahlgang mit 55,1 Prozent der Stimmen für gewählt erklärt. Carlos Mesa von der konservativen Comunidad Ciudadana (Bürgergemeinschaft) lag mit 28,83 Prozent auf dem zweiten und Luis Fernando Camacho, Kandidat der ultrarechten Creemos (Wir glauben) mit 14 Prozent auf dem dritten Platz. (TSE – https://computo.oep.org.bo/)

Die MAS hat nun den Vorsitz und eine klare Mehrheit sowohl im Senat als auch im Repräsentantenhaus. Dieser Sieg der Linken wird von den Volkskräften in ganz Lateinamerika begrüßt werden, wo die Rechte in den letzten Jahren in der Offensive war.

Die Spaltungen zwischen der rechtskonservativen Comunidad Ciudadana und der rechtsextremen Creemos trugen zum Ausmaß der Niederlage bei. Letzteres ist ein klerikales, rechtsextremes Bündnis mit Sitz im südlichen Departamento Santa Cruz, das von der Unión Juvenil Cruceñista (UJC; Jugendunion von Santa Cruz) unterstützt wird, einer faschistischen Bewegung, die in Terroranschläge auf VolksaktivistInnen verwickelt ist.

Weitere wichtige Faktoren waren der chaotische Umgang von Áñez und ihrer Regierung mit der Coronavirus-Pandemie und der Wirtschaftskrise, ihre Sparpolitik, die Privatisierung von Gesundheit, Bildung und natürlichen Ressourcen sowie ihre Angriffe auf die Rechte der indigenen Mehrheitsbevölkerung Boliviens. Nicht zuletzt war es der seit einem Jahr anhaltende Volkswiderstand, der erneut zum Sieg der linkspopulistischen MAS führte.

Für alle?

Bei folgender Erklärung des designierten MAS-Präsidenten Luis Arce sollten die Alarmglocken läuten: „Wir werden für alle BolivianerInnen regieren und eine Regierung der nationalen Einheit errichten.“ Dies ist die typische reformistische Sehnsucht nach Klassenzusammenarbeit, aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Rechte positiv darauf reagiert. Auf internationaler Ebene fühlten sich jedoch alle Kräfte, die den Staatsstreich unterstützten, einschließlich der OAS, des Weißen Hauses und der Europäischen Union, verpflichtet, Arce zu gratulieren. Sogar Trump antwortete mit den Worten: „Wir hoffen, in unserem gemeinsamen Interesse arbeiten zu können.“

Laut G1-Globo versuchte der Generalsekretär der OAS, Luis Almagro, sich mit dem Argument zu rechtfertigen, dass es keine Ähnlichkeiten zwischen diesen und den 2019 annullierten Wahlen gebe. „Es gibt keine Parallele, es ist nicht sehr klug, diese Parallele zu ziehen.“ (https://g1.globo.com/mundo/noticia/2020/10/23/bolsonaro-e-o-unico-lider-de-um-pais-vizinho-da-bolivia-que-nao-cumprimentou-luis-arce-pela-vitoria.ghtml)

Noch weniger schlau ist es, das Offensichtliche zu leugnen, nämlich dass der Putsch auf einem zynischen Betrug beruhte und zu Dutzenden von Toten sowie zur Festnahme und Inhaftierung von AktivistInnen der Volksbewegungen führte.

Niemand sollte jedoch vergessen, dass die Figuren, die den Putsch im Oktober 2019 durchgeführt haben, nach wie vor die Armee, die Polizei, die Justiz und die Geheimdienste kontrollieren und ihre Verbindungen zum US-Militär und zum Weißen Haus intakt und wirksam sind.

Darüber hinaus ist die MAS als Verteidigung gegen die Kräfte des internationalen Kapitals und des Imperialismus nicht zuverlässiger als vor 2019. Letztere scheinen gar zu hoffen, dass die Regierung angesichts der Pandemie und der Wirtschaftskrise die sie unterstützenden Massen rasch enttäuscht und den Weg für eine weitere Machtübernahme durch die Rechte öffnet.

Die sozialen Kräfte, die ArbeiterInnen, armen Bauern und Bäuerinnen und indigenen Gemeinschaften, die den „Wasserkrieg“ von 2000 und den „Gaskrieg“ von 2003 geführt und mobilisiert haben, um den Staatsstreich vom vergangenen Oktober zu stoppen, werden erneut mobilisieren müssen, wenn die Kräfte der Reaktion entwaffnet und die Kompromisskräfte, die MAS-FührerInnen, daran gehindert werden sollen, die reichhaltigen natürlichen Ressourcen des Landes, wie die riesigen Lithiumvorkommen, an die multinationalen Konzerne zu verkaufen, die das Land geplündert haben.

Der Putsch von 2019

Am 20. Oktober 2019 wurde bekannt gegeben, dass Evo Morales (MAS) für eine vierte Amtszeit als Präsident von Bolivien wiedergewählt wurde. Mit 47 Prozent der Stimmen und einem Vorsprung von mehr als 10 Prozent gegenüber dem zweitplatzierten Kandidaten Carlos Mesa, der 36,51 Prozent der Stimmen auf sich vereinte, wurde Morales als direkt gewählt erklärt, da es nach dem bolivianischen Wahlgesetz keinen zweiten Wahlgang geben muss, wenn ein/e KandidatIn mehr als 40 Prozent der Stimmen erhält und einen Vorsprung von 10 Prozentpunkten oder mehr gegenüber dem/r nächsthöheren KandidatIn einnimmt.

Verwirrung entstand auf Grund der Methode der Stimmenauszählung in Bolivien, die eine schnelle vorläufige Auszählung (TREP) auf der Grundlage von Auszählungslisten der einzelnen Departamentos vorsieht, auf die dann die offizielle Auszählung jeder Stimme (cómputo) folgt. Nur letztere gilt als entscheidend. Obwohl auf Diskrepanzen hingewiesen und die vorläufige Auszählung gestoppt worden war, wurde Morales schließlich mit einem Vorsprung von 10 Prozent zum Sieger erklärt, wodurch die Notwendigkeit einer zweiten Runde vermieden werden konnte.

Sobald die rechte Opposition erkannte, dass ihre Niederlage unvermeidlich war, begann sie, den Vorwurf des Wahlbetrugs zu erheben. Aus Protest mobilisierte sie tumultartige Demonstrationen und riefen ihre AnhängerInnen auf, auf der Straße zu bleiben, bis ein zweiter Wahlgang zugestanden würde. Bald füllten riesige Gegendemonstrationen von MAS-AnhängerInnen die Straßen von La Paz und ein unbefristeter Generalstreik wurde ausgerufen. Angesichts der umstrittenen Auszählung und der kollidierenden Mobilisierungen gab die MAS-Regierung dem Druck nach und forderte eine externe Überprüfung der Wahl.

Die OAS erklärte am 23. Oktober, dass die beste Option die Durchführung der zweiten Runde sei. Auch die Europäische Union rief zu einer zweiten Runde auf. Am selben Tag erklärte Carlos Mesa, dass er die vom Obersten Wahlgericht (TSE) bekannt gegebenen Ergebnisse nicht anerkenne und kündigte die Bildung einer „Koordination zur Verteidigung der Demokratie“ an, um auf die Durchführung des zweiten Wahlgangs zu drängen.

Zuspitzung

Auf Grundlage der von der TSE veröffentlichten Ergebnisse versuchte Morales, die immer radikaler werdenden Bewegungen der Straße zu überstehen. Doch die Polizei, aber auch Teile der Streitkräfte sowie rassistische und rechte, fundamentalistische Kräfte schlossen sich den PutschistInnen an. Ihre Straßenaktionen wurden immer gewalttätiger, wobei auch PolitikerInnen und ihre Angehörigen, die mit Evo in Verbindung standen, entführt wurden. Dutzende von Menschen wurden in diesen Tagen getötet und verwundet.

Wir kommen nicht umhin, auch auf die skandalöse Tatsache hinzuweisen, dass der Central Obrera Boliviana (COB; Dachverband der bolivianischen Gewerkschaften) den Putsch zunächst unterstützte. Am 10. November „trat“ Morales angesichts der Konfrontationen auf den Straßen und einer Meuterei von Polizei und Streitkräften von der Präsidentschaft zurück und floh mit seinem Vizepräsidenten Álvaro García Linera außer Landes. Morales prangerte den Putsch aus seinem politischen Asyl in Mexiko, Kuba und schließlich Argentinien an.

Am 12. November erklärte sich Jeanine Añes auf einer Sitzung des Kongresses, der verfassungsgemäß nicht beschlussfähig war, zur Interimspräsidentin und versprach, den Frieden im Land wiederherzustellen und so bald wie möglich Neuwahlen auszurufen. Der Staatsstreich war vollendet.

Linera, ein ehemaliger Führer der Guerillabewegung Túpaq Katari in den 1990er Jahren, war auch Theoretiker der Regierung Morales und Autor von „Soziologie sozialer Bewegungen in Bolivien“ (2005). In verschiedenen Artikeln hat er Gramscis „Stellungskrieg“, d. h. institutionelle Reformen, im Gegensatz zu einem „Manöverkrieg“, d. h. einer Revolution, benutzt, um zu argumentieren, dass der Aufbau eines „Andenkapitalismus“ eine notwendige Vorstufe sei, die Jahrzehnte dauern könne, bevor der Sozialismus eingeführt werden könne.

Wichtig waren die Kultur-, Bildungs- und Wohlfahrtsreformen der MAS, die Erklärung Boliviens als plurinationale Republik, die Gleichstellung der Wiphala mit der bolivianischen Trikolore, die Anerkennung der Aymara, Quechua und anderer indigener Sprachen und Kulturen des Landes. Das Versäumnis, das Land der Gemeinden vor Öl- und Gasunternehmen und Agrobusiness zu schützen, zerbrach jedoch das Bündnis, durch das die MAS an die Macht gekommen war. Gleichzeitig führte die Integration der indigenen Organisationen in die Regierungsinstitutionen zu ihrer Bürokratisierung und zur Entwicklung einer Elite, die Evo im entscheidenden Moment verließ.

Widerstand der Basis

Schließlich beschränkten sich die bolivianische Elite und ihre US-BeraterInnen nicht auf einen „Stellungskrieg“, sondern „manövrierten“ Morales und Linera erfolgreich ins Exil. Diese wiederum überließen ihre AnhängerInnen der zärtlichen Gnade der Generäle, PolizeichefInnen und FaschistInnen.

Während die einfachen Mitglieder der MAS und die Volksversammlungen in vielen Städten, insbesondere in El Alto, heldenhaft Widerstand leisteten und schwere Verluste erlitten, ließen die Flucht der MAS-Führer und der Rückzug der MAS-ParlamentarierInnen die Bewegung ohne zentrale Führung zurück. Dies war wirklich eine Schande. Von ihren heutigen NachfolgerInnen in einer künftigen Krise etwas Besseres zu erwarten, wäre der Gipfel der Torheit. Während der Wahl distanzierte sich Luis Arce wiederholt von Morales nach rechts und verfolgte als Wirtschaftsminister in dessen Regierung eine offen prokapitalistische Politik. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass er seine Haltung geändert hat.

Der Widerstand hörte jedoch nicht auf, trotz der Repression durch rechtsextreme Banden, der Coronavirus-Pandemie und der wirtschaftlichen Verwerfungen des Landes. Im August, als der Oberste Gerichtshof die am 8. September fälligen Wahlen verzögerte, zeigte eine Welle von Streiks, Straßenblockaden und Demonstrationen der herrschenden Klasse, dass die ArbeiterInnen und die indigenen Massen die wiederholten Verschiebungen nicht tolerieren würden. Dieser Druck sowie die internen Konflikte der Regierung machten Wahlen im Oktober unvermeidlich. Es war also der Klassenkampf, der die Wiederherstellung der formalen Demokratie sicherte. Um sie Wirklichkeit werden zu lassen, bedarf es mehr demokratisch organisierter Massenmobilisierungen, für die Bolivien zu Recht berühmt ist.

Wohin treibt Bolivien?

Dieser Sieg stellt weit mehr als einen Wahlsieg für die PolitikerInnen der MAS dar. Vielmehr ist er das Ergebnis des Widerstands der ArbeiterInnenklasse und der indigenen Bevölkerung, der die fortschrittlichen Kräfte in ganz Lateinamerika ermutigen und stärken kann. Aber wir müssen uns immer daran erinnern, dass dies erst der Anfang dieser Bewegung ist und wir Sorge tragen müssen, damit sie nicht in einer Klassenversöhnung endet.

Nachdem der US-Imperialismus seine Vorherrschaft in Lateinamerika nach etwa einem Jahrzehnt des „Bolivarismus“ und „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ durch die Staatsstreiche in Paraguay, Ecuador, Brasilien und Bolivien wieder behauptet hat, wird der Sieg der MAS einen Widerstandskampf in diesen anderen Ländern fördern. Die bolivianischen Werktätigen zeigten, wie man gewinnen kann: durch Generalstreiks und andere Massenaktionen. Der Weg nach vorn führt über die Organisation und Mobilisierung der ArbeiterInnenklasse, um revolutionäre Stürme auf dem gesamten amerikanischen Kontinent zu entfesseln.

Es ist jedoch klar, dass die Realität des Kapitalismus in der unterdrückten und ausgebeuteten halbkolonialen Welt nicht durch bürgerliche Wahlen geändert werden kann. Wir müssen eine andere Strategie für die ArbeiterInnenklasse finden, die über Reformismus und Wahlkampf populistischer Parteien wie der MAS hinausgeht. Während sie sich auf die ArbeiterInnen und die verarmten indigenen Gemeinschaften der Landlosen und Bauern/Bäuerinnen (Campesinos) verlassen, um Wahlen zu gewinnen, fallen sie, sobald sie an der Macht sind, in den Orbit des Imperialismus und versuchen, als lokale AgentInnen für den nordamerikanischen, europäischen oder, in jüngster Zeit, chinesischen Imperialismus zu agieren.

Es stimmt, Morales und Linera haben den streitenden externen Mächten Zugeständnisse abgerungen und waren in der Lage, bedeutende, wenn auch vorübergehende Reformen durchzuführen. Wie jedoch der Putsch von 2019 gezeigt hat, wird dieses Taktieren um einen größeren Anteil an den Gewinnen aus Lithium, Kohlenwasserstoffen usw. Putsche und Wirtschaftsblockaden, wie sie Venezuela und Kuba auferlegt wurden, nicht verhindern. Die Verbindung zwischen den arroganten MilliardärInnen, die versuchen, sich Boliviens wertvollsten Bodenschatz Lithium anzueignen, wurde deutlich, als Elon Musk, Milliardär und Eigentümer des Elektroautoherstellers Tesla, per Twitter auf Spekulationen über die Beteiligung der USA an dem Staatsstreich reagierte: „Wir werden putschen, wo wir wollen! Findet euch damit ab!“

Solidarität und Programm

Die ArbeiterInnenbewegung weltweit muss solche Eingriffe von außen anprangern und mit der Forderung kontern, dass die Souveränität Boliviens respektiert werden muss. In Bolivien müssen die politischen FührerInnen des Staatsstreichs von 2019 sowie die KommandeurInnen von Polizei und Streitkräften, die Menschen verhaftet, gefoltert und getötet haben, bestraft werden. Dies ist keine Rache, es ist Gerechtigkeit!

Auch hier wird die Intervention der Massen erforderlich sein, nicht bloße Dekrete von MinisterInnen oder Gesetze, die von Abgeordneten verabschiedet werden. Es wird Disziplinbrüche mit den „Gorillas“, die die einfachen SoldatInnen kommandieren, erfordern, mit demokratischen Rechten für letztere und bewaffneten Milizen für die Volksmassen. Kurz gesagt, das Land für Demokratie und für sozialistische Maßnahmen zur Befriedigung der Bedürfnisse der Massen bereit zu machen, bedeutet, den Repressionsapparat, den Staat der GrundbesitzerInnen und der kapitalistischen Elite zu zerschlagen.

Bolivien muss auch das Recht haben, alle internationalen, für seine Bevölkerung schädlichen Vereinbarungen zu überprüfen, die während der Putschregierung getroffen wurden, welche keine Legitimität hatte, sie abzuschließen. Der Ausverkauf seines Reichtums, insbesondere von Gas und Lithium, muss rückgängig gemacht werden. Die indigenen Völker müssen auch für die Verluste, die ihnen während des Staatsstreichs von Präsidentin Jeanine Áñez entstanden sind, entschädigt werden.

Schließlich muss die bolivianische Bevölkerung weiterhin mobilisiert und organisiert bleiben, um möglichen Reaktionen der rechten PutschistInnen, unterstützt vom Imperialismus, und sogar möglichen Rückzügen der MAS-Regierung entgegenzutreten, die zu der bekannten Klassenversöhnung führen könnten.

Boliviens ArbeiterInnen und arme Bauern/Bäuerinnen müssen eine internationalistische revolutionäre Partei mit einem Programm zum Sturz des Kapitalismus aufbauen. Eine Partei, die die ArbeiterInnenklasse organisiert und den revolutionären Prozess befördert, der sie von der kapitalistischen Sklaverei befreit und sie zur Macht eines neuen Staates, eines sozialistischen Staates, führt.

Die ArbeiterInnenklasse in ganz Lateinamerika spürt die stärkenden Winde, die aus Bolivien und Chile wehen. Dies zeigt auch die dringende Notwendigkeit einer internationalen Organisation, die sie mit den ArbeiterInnen Nordamerikas, Europas und auch Chinas verbindet. Gemeinsam können wir uns von den imperialistischen Mächten und ihren AgentInnen, den korrupten und diktatorischen lokalen Eliten befreien. Deshalb müssen wir den Aufbau einer Fünften Internationale und revolutionärer Parteien in jedem Land auf die Tagesordnung setzen. Ein wesentlicher Bestandteil ihrer Programme muss die Schaffung der Vereinigten Sozialistischen Republiken Lateinamerikas sein.




Mali: Massenproteste und Putsch

Robert Teller, Neue Internationale 249, September 249

Der Putsch in Bamako vom 18. August hat den Blick auf eine Massenbewegung gelenkt, der bis dahin wenig Aufmerksamkeit zukam. Er hat auch Reaktionen der in Mali involvierten ausländischen Interventionsmächte hervorgerufen, die die Anliegen dieser Bewegung bis dahin für nicht beachtenswert gehalten haben.

Massenbewegung

Dem Putsch vorausgegangen ist seit Anfang Juni eine Massenbewegung, die zehntausende Menschen in der Hauptstadt Bamako auf die Straßen mobilisiert hat. Sie forderte den Rücktritt von „IBK“, dem seit 2013 regierenden Staatspräsidenten Ibrahim Boubacar Keïta, und die Auflösung des Parlaments. Eine Auslöserin der Proteste war eine umstrittene Entscheidung des Verfassungsgerichts, das die Parlamentswahlen vom März 2020 in Teilen für ungültig erklärt und dadurch IBKs Partei ermöglicht hatte, ihre Mehrheit auszubauen. Doch die Proteste gründen sich auf eine weit umfassendere Krise. Im Zentrum steht dabei eine Welle reaktionärer ethnischer Gewaltverbrechen durch bewaffnete Gruppen und die Unfähigkeit oder der Unwille der Regierung, ihre Autorität im Land durchzusetzen. Eine große Rolle spielt auch der neoliberale Niedergang des Landes durch eine Reihe aufgezwungener Reformprogramme seit den 1990er Jahren, die die Lebensgrundlage eines großen Teils der ländlichen Bevölkerung bedroht oder zerstört hat und mit der Verdrängung der traditionellen Landwirtschaft durch modernes Agrobusiness einhergeht.

Die Macht im Land liegt nun in den Händen eines bis vor kurzem unbekannten Zirkels von Militärs unter der Führung des Offiziers Oberst Assimi Goita. Er hat versprochen, internationale Vereinbarungen einzuhalten, besonders mit Hinblick auf die ausländischen Militärinterventionen (derer es drei verschiedene gibt). Dennoch dominiert unter den imperialistischen Mächten die Befürchtung, dass der Putsch deren Kriegsziele und strategische Interessen zurückwerfen wird.

2012: Tuareg-Aufstand und Islamisches Kalifat

Mali umfasst eine Vielzahl verschiedener Ethnien, von denen die meisten wiederum in mehreren Staaten leben. Auf die Interessen der Bevölkerungsgruppen wurde bei der Grenzziehung durch die ehemaligen Kolonialmächte in Westafrika im Einzelnen keine Rücksicht genommen. Daher ist einerseits rassistische und nationale Unterdrückung in diesen heute halbkolonialen Ländern strukturell angelegt und muss andererseits ein destabilisierendes Moment ausüben, das die üblichen sozialen Verheerungen, mit denen der globale Kapitalismus dem afrikanischen Kontinent aufwartet, überlagert. Der Tuareg-Aufstand von 2012 bestätigt das. Er brachte die ehemalige „Musterdemokratie“ Mali auf den Weg in den Strudel der „failed states“. Burkina Faso und Niger sind von dieser Entwicklung ebenfalls betroffen.

Die Gemeinschaften der Tuareg, die sich über mehrere Länder im Zentrum der Sahara verteilen, waren mehr als andere Völker der Region im Zuge der Dekolonialisierung marginalisiert worden. Die blutige Niederschlagung des ersten Tuareg-Aufstandes von 1963 hatte viele aus ihren Heimatregionen vertrieben. Die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen durch wirtschaftliche Misere und die Dürren der 1970er und 1980er Jahre verstärkten dies und schufen eine entrechtete, transnationale Jugend (Ishumar; benannt nach unter Jugendlichen beliebter Musik, dem Wüstenblues), die als ArbeitsmigrantInnen umherzieht. Diese war die hauptsächliche soziale Basis der bewaffneten Rebellionen von 1990 – 1995 und 2007. Die Rebellionen wurden vom malischen Militär mit Unterstützung von ethnischen Hilfstruppen bekämpft und mit Versprechungen von begrenzter Selbstverwaltung und stärkerer Integration der Tuareg in die Sicherheitskräfte beigelegt.

Die Tuareg wurden notwendigerweise Gegenstand regionaler Auseinandersetzungen. Von politischem Interesse waren sie stets nur insoweit, wie sie für spezifische Zwecke – insbesondere des libyschen Regimes – von Nutzen sein konnten. So waren sie im „Gastland“ Libyen als Arbeitskräfte und RekrutInnen in den Repressionsorganen gerade dadurch geschätzt, dass es ihnen an staatsbürgerlichen Rechten mangelte. Außenpolitisch konnten sie Gaddafis pan-afrikanische Ambitionen unterstreichen. Indem Gaddafi das Konfliktpotential, das in der ungelösten nationalen Frage der Tuareg liegt, gezielt ausnutzte, konnte er ihre politischen Ambitionen kanalisieren. Dies zeigte sich etwa 2009 im Tuareg-Aufstand im Niger, wo Gaddafi mit einem Teil der Tuareg-Kräfte eine Vereinbarung aushandelte, die den Aufstand spaltete und beendete. Ihr Nutzen lag für Gaddafi darin, dass er sich gegenüber dem Ausland als Vermittler anbieten konnte. Es überrascht nicht, dass sein Sturz 2011 nachhaltigen Einfluss auf die Lage der Tuareg genommen hat.

Deren Aufstand 2012 resultierte in der Proklamierung des kurzlebigen Staates von Azawad. Sein rascher Zerfall war die Folge einer prinzipienlosen Bündnispolitik der MNLA-Führung (frz.: Mouvement national de libération de l’Azawad; Nationale Befreiungsbewegung Azawad) mit Ansar Dine (UnterstützerInnen des Glaubens), lokaler Ableger von AQIM (al-Qaida des Islamischen Maghreb), und der falschen Orientierung der MNLA auf Anerkennung und Unterstützung durch den Imperialismus. Der Aufstand scheiterte vor allem daran, dass seine von Tuareg dominierte Führung kaum Unterstützung unter den übrigen Volksgruppen in Nordmali gewinnen konnte. Ansar Dine attackierte die MNLA für ihren azawadischen Nationalismus und rekrutierte selbst unter den Tuareg. Zugleich nutzten die SalafistInnen bestehende rassistische Ressentiments aus und gewannen die Unterstützung von Kräften in den Gemeinschaften der Songhai und Fula (Fulbe; frz.: Peul), die vormals an der Seite der Regierung standen. Diese Allianz unter Führung von SalafistInnen brach mit der MNLA und konnte im Sommer 2012 ihre alleinige Kontrolle über Nordmali errichten. Der rasche Kontrollverlust der Regierung in Bamako triggerte außerdem am 21. März 2012 einen Putsch.

Der Putsch von 2012

Der Putsch von 2012 gegen Präsident „ATT“ (Amadou Toumani Touré) bekam es mit Gegenwind zu tun. Die „Verweigerungsfront“ (frz.: Front du refus), bestehend aus etwa 100 gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen und 50 Parteien, beharrte auf einer zivilen und demokratisch legitimierten Regierung und weigerte sich, die Junta anzuerkennen oder mit ihr zusammenzuarbeiten. Bezeichnenderweise war die reform-stalinistische SADI-Partei die einzige parlamentarische Kraft, die sich zu einer Zusammenarbeit mit der Junta bereit erklärte. Trotz dieser verbreiteten Ablehnung des Putsches kam es zu keiner Massenmobilisierung, die der Herrschaft des Militärs etwas hätte entgegensetzen können. Die Junta-GegnerInnen bildeten einen prinzipienlosen Block mit nationalistischen, bürgerlichen Kräften, die auch UnterstützerInnen des gestürzten Präsidenten umfasste. Zugleich stellte sich ein anderer Flügel der Gewerkschaftsbewegung hinter die Militärjunta.

Etliche linke Intellektuelle bezogen sogar eine durch und durch chauvinistische Position. Beispielhaft hierfür steht das „Forum für ein anderes Mali“ (Forum pour un autre Mali, FORAM), das über Verbindungen zur Sozialforenbewegung verfügt und u. a. von der malischen Linken Aminata Traoré unterstützt wird. Sie argumentierten 2012, dass der Tuareg-Aufstand Teil einer planmäßigen Neuaufteilung Westafrikas durch die imperialistischen Mächte sei. Daher sei die Herrschaft des Militärs das kleinere Übel gegenüber dem drohenden Verlust der „territorialen Einheit“. Natürlich zeigte sich schnell, dass das Militär und die korrupten Eliten im Interesse ihres eigenen Machterhalts den imperialistischen Interventionen bereitwillig zustimmen würden.

Die vollkommene Preisgabe einer linken Programmatik hat die politische Orientierungslosigkeit dieser malischen und westafrikanischen Linken verschärft und dazu beigetragen, dass sie oftmals als linke Flankendeckung für reaktionäre despotische Regime und deren Politik agieren – ganz zu schweigen davon, dass sie mit der „territorialen Einheit“ genau die postkoloniale, d. h. imperialistische Ordnung verteidigen, als deren GegnerInnen sie sich präsentieren. Die Linke kann im westafrikanischen Nationalitätenmosaik keine progressive und anti-imperialistische Perspektive vertreten, ohne das Selbstbestimmungsrecht der Völker anzuerkennen. Die nationale Frage muss mit dem Kampf gegen die herrschenden Eliten verknüpft werden, die die postkolonialen Staaten ausplündern und deren Macht und internationale Anerkennung die Verteidigung der bestehenden staatlichen Ordnung zur Voraussetzung hat.

Konflikt in Zentralmali

Angesichts der Etablierung der militanten salafistischen Kräfte haben die Regierung und das Militär ihrerseits auf ethnische Milizen gesetzt. Beispielhaft hierfür steht die Dan Na Ambassagou (JägerInnen, die auf Gott vertrauen), deren Mitglieder aus den Dogon-Gemeinschaften kommen. Sie wurde von der Regierung zu Beginn des Konflikts als nützliches Gegengewicht betrachtet und hat sich mittlerweile selbst als Machtfaktor etabliert. Sie ist bekannt für reaktionäre Verbrechen gegenüber den Fula, die den Charakter von ethnischen Säuberungen annehmen, wie das Ogossagou-Massaker vom 23. März 2019 mit 160 Todesopfern. Die rassistische Grundstimmung, die Fula als angebliche UnterstützerInnen von Ansar Dine stigmatisiert, ist eine Begleiterscheinung des „Kriegs gegen den Terror“.

Ethnische Konflikte sind zugleich Voraussetzung und Folge der imperialistischen Interventionspolitik. Diese Mächte – vor allem Frankreich, aber auch der EU-Verbündete Deutschland – versuchen, durch militärische „Hilfestellung“, Ausbildung etc., das malische Militär zum kompetenten Ordnungsfaktor aufzubauen. Angesichts dessen, dass das Militär seit der Unabhängigkeit immer die letztendlich entscheidende Rolle im Land gespielt hat, liegt diese Strategie auf der Hand. Die Massenbewegung der vergangenen Wochen hat gezeigt, dass dieses System gestürzt werden kann, aber um die Krise in progressiver Weise zu lösen, ist eine politische Strategie notwendig. Die Führung der M5-RFP (Mouvement du 5 Juin 2020, Rassemblement des Forces Patriotiques; Bewegung des 5. Juni – Sammlung der patriotischen Kräfte) hat die Militärjunta jedoch anerkannt. Dabei hat Assimi Goita angekündigt, dass seine Junta während einer „Übergangsperiode“ von 3 Jahren regieren wird. Ein großer Teil der malischen Linken scheint die Fehler von 2012 zu wiederholen, indem er die „nationale Einheit“ als ein den unmittelbaren Interessen der Massen übergeordnetes Ziel vertritt.

Natürlich wird die Militärjunta keines der elementaren Probleme des Landes lösen können. Sie wird wie jede andere bürgerliche Regierung vom Wohlwollen des französischen Imperialismus und der sog. „internationalen Gemeinschaft“ abhängig sein. Der bis vor kurzem im Zentrum der M5-RFP stehende salafistische Prediger Mahmoud Dicko gibt sich als „Brückenbauer“ zwischen NationalistInnen und IslamistInnen. Er gehörte 2013 zu den UnterstützerInnen der imperialistischen Intervention und bis 2017 zum Lager von IBK. Assimi Goita selbst kommt aus den malischen Spezialkräften, die seit 2013 von imperialistischen Mächten für den Anti-Terror-Krieg trainiert werden. Laut Aussagen des EU-Außenbeauftragten sind 90 % der malischen Armee von EU-Missionen im Land ausgebildet worden, darunter, wie Kramp-Karrenbauer zugeben musste, auch einige AnführerInnen des aktuellen Putsches. Die Ausbildungspläne für Militär und Polizei legt die EU derweil zwar auf Eis, die im Rahmen der EU- und UN-Missionen stationierten Einheiten bleiben aber im Land. Schließlich bestehen die imperialistischen Interessen auch unter einem neuen Regime weiter. Die Militärjunta ihrerseits repräsentiert keine grundsätzlich andere Politik, sondern einfach jenen Teil der nationalen Elite, der für einen etwas inklusiveren Umgang mit dem islamistischen Aufstand eintritt.

Strategie und Programm

Die Krise in Mali beruht auf dem Erbe des Kolonialismus und auf ungelösten gesellschaftlichen Problemen – sicher überlappenden nationalen Fragen, auf der Landfrage und dem Verlust der Lebensgrundlage von Subsistenzbauern und -bäuerInnen durch neoliberale Reformpolitik und Klimawandel, und allgemein auf der ungelösten demokratischen Frage. Um diese Krise im Sinne der unterdrückten Massen zu lösen, ist ein Programm nötig, das sich zentral auf die ArbeiterInnenklasse bezieht und diese Fragen mit der Mobilisierung und Bewaffnung der Massen verbindet.

Der Militärjunta muss eine verfassunggebende Versammlung entgegengestellt werden, die von Massenversammlungen der ArbeiterInnen, Bauern/Bäuerinnen und Armen organisiert wird, und in der die Klassenfrage politisch offen zutage treten kann. Dies stellt natürlich unmittelbar die Macht der Militärjunta in Frage, was den Kampf innerhalb des Militärs für das Recht auf politische Organisierung und Agitation für SoldatInnen, auf Befehlsverweigerung und letztlich den Bruch der unteren SoldatInnenränge mit der Junta auf die Tagesordnung setzt.

Die reaktionäre ethnische Gewalt erfordert die Bewaffnung der Massen über ethnische Grenzen hinweg und die Bildung von Selbstverteidigungseinheiten, die von den ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen kontrolliert werden und diese vor Angriffen der IslamistInnen, des Militärs oder anderer Gruppen schützen.

In Anbetracht der nationalen Frage müssen Linke unbedingt für ein Programm eintreten, das die politischen und sozialen/wirtschaftlichen Gegensätze zwischen den Nationalitäten überwindet und jegliche Formen von Diskriminierung bekämpft. Dies muss nicht die Lostrennung des Nordens beinhalten, aber das unbedingte Recht auf diese, falls die Bevölkerung dies dort mehrheitlich wünscht. Die nationale Frage muss auch verbunden werden mit dem Kampf gegen alle imperialistischen Interventionen und für den Abzug aller ausländischer Truppen, die Enteignung des imperialistischen Kapitals und der malischen Großunternehmen, der Streichung der Auslandsschulden und dem Kampf für eine ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung.

Ausweitung

Nur eine solche wäre in der Lage, auch die Wirtschaft des Landes auf Grundlage einer demokratischen Planwirtschaft zu reorganisieren. Nicht zuletzt aufgrund der willkürlichen imperialistischen Grenzziehungen und der jahrhundertelangen Ausplünderung des Landes können die großen Probleme des Landes durch eine wirkliche Revolution in Mali zwar angegangen, nicht jedoch vollständig gelöst werden. Der Kampf um demokratische Rechte und Sozialismus muss daher mit der Revolution auf dem ganzen Kontinent verbunden werden, dem Kampf für eine Sozialistische Föderation Afrikas.




Bolivien: Wie kann der November-Putsch rückgängig gemacht werden?

KD Tait, Infomail 1085, 17. Januar 2020

Der erste indigene Präsident Boliviens, Evo
Morales, und sein Vizepräsident, Álvaro García Linera, wurden durch einen
Putsch gestürzt, der am 10. November 2019 seinen Höhepunkt erreichte. Beide
traten zurück und flohen ins Exil nach Mexiko. Ihr Rücktritt erfolgte auf
Meutereien in der Polizei und auf die „Anregung“ des damaligen
Oberbefehlshabers der Armee, General Williams Kaliman Romero.

Die stellvertretende Vorsitzende des Senats,
Jeanine Áñez, installierte sich in der Präsidentschaftsresidenz, schleppte eine
große Bibel an und rief aus: „Gott sei Dank! Er hat der Bibel erlaubt, in den
Palast zurückzukehren“. Áñez, eine bigotte Katholikin, hat zuvor getwittert,
wie sie „von einem Bolivien träumt, das frei von indigenen satanischen Riten
ist“ und dass La Paz „nicht für die IndianerInnen da ist – sie gehören ins
Altiplano oder in den Chaco“.

Der Anführer des rechtsextremen Flügels des
Putsches, der Multimillionär Luis Fernando Camacho, hat Verbindungen zur
faschistischen Unión Juvenil Cruceñista (Jugendvereinigung von Santa Cruz), die
ihn in den Palacio Quemado, die Präsidentenresidenz in La Paz, eskortierte, wo
er verkündete: „Pachamama wird niemals in den Palast zurückkehren, Bolivien
gehört Christus“. (Pachamama ist die Mutter-Erde-Figur für die einheimischen
Andenvölker.)

AnführerInnen von Morales‘ Partei, der Bewegung
zum Sozialismus, Movimiento al Socialismo oder MAS, suchten Zuflucht in der
mexikanischen Botschaft. Abgeordnete und BürgermeisterInnen der MAS wurden auf
der Straße geschlagen und von PutschistInnen zu Selbstdemütigungen gezwungen.
Mobs rissen die Wiphala, die karierte Regenbogenfahne der indigenen Mehrheit
des Landes, die Morales neben der bolivianischen Trikolore anerkannt hatte, ab
und verbrannten sie, und Polizei und SoldatInnen rissen sie von ihren
Uniformen.

Nachdem Áñez ein Dekret erlassen hatte, das die
Armee und die Polizei von der strafrechtlichen Verantwortung für alle Maßnahmen
zur Wiederherstellung der Ordnung befreit, eröffnete das Militär das Feuer auf
unbewaffnete DemonstrantInnen in Senkata und Sacaba, wobei über 30 von ihnen
getötet wurden. Diese Massaker zeigen, dass der Putsch eine Konterrevolution
darstellt, nicht nur gegen Morales‘ Reformen, sondern auch gegen die
massenhaften revolutionären Kämpfe der frühen 2000er Jahre, die sogenannten
Wasser- und Gaskriege, die ihn an die Macht brachten und das neoliberale Regime
der Landbesitzer- und Geschäftselite verdrängten.

Es überrascht daher nicht, dass Áñez‘ weißer
Rassistenkollege, US-Präsident Donald Trump, behauptete, dass der Sturz von
Morales „ein bedeutender Moment für die Demokratie in der westlichen
Hemisphäre“ sei. Er fügte hinzu: „Die Vereinigten Staaten applaudieren dem
bolivianischen Volk für seine Freiheitsforderungen und der bolivianischen Armee
für den Schutz der Verfassung“, und verkündete, dass „diese Ereignisse ein
starkes Signal an die illegitimen Regime von Venezuela und Nicaragua senden“.
Trump hat natürlich alles getan, was er konnte, außer Truppen zu schicken, um
ähnliche Gegenrevolutionen in diesen Ländern zu fördern.

Was tun?

Die PutschistInnen fühlten sich aber
offensichtlich nicht ganz sicher im Sattel, denn sie nahmen das Angebot der
katholischen Kirche an, in den Gesprächen mit der MAS, die in der
bolivianischen Nationalversammlung über eine Zweidrittelmehrheit verfügt, zu
vermitteln. Im Gegenzug hat die MAS den Putsch und den Ausschluss von Morales
von den Wahlen effektiv anerkannt. Áñez hat auch das Dekret über die Straffreiheit
für alle polizeilichen/militärischen Morde in Zukunft aufgehoben, aber dies
nicht auf die während des Putsches begangenen Massaker ausgedehnt.

Die Wahlen, die am 3. Mai anstehen, werden nicht
nur für das Präsidentenamt und die Vizepräsidentschaft, sondern auch für den
Kongress sowie die regionalen und lokalen Regierungsorgane stattfinden.
Allerdings sind derzeit praktisch alle Medien der MAS und der oppositionellen
ArbeiterInnen und die der indigenen Bevölkerung geschlossen.

Das Hauptanliegen der PutschistInnen ist es, die
natürlichen Reichtümer Boliviens weiter zu plündern, zu denen 50 bis 70 Prozent
der gesamten weltweit bekannten Lithiumreserven gehören, die für viele
High-Tech-Hersteller wie Apple, Samsung und Tesla lebenswichtig sind. Die
Tatsache, dass Morales sich kürzlich an chinesische Firmen gewandt hatte, um
mit bolivianischen StaatspartnerInnen zusammenzuarbeiten, hat wahrscheinlich
dazu beigetragen, dass die USA und die EU die VerschwörerInnen ermutigt haben.

Im Laufe der Jahrhunderte wurde Bolivien wegen
seines Silbers, Zinns und Kupfers sowie wegen Erdgas und Öl – den in Eduardo
Galeanos berühmtem Buch beschriebenen „offenen Adern“ – geplündert, durch die
der Kontinent seit Jahrhunderten ausgeblutet ist. Von einheimischen
Arbeitskräften in der Hochebene der Anden, dem Altiplano, abgebaut,
bereicherten die Mineralien eine winzige Elite im Bogen der Tieflandprovinzen
Santa Cruz, Beni, Pando und des Landkreises Tarija, bekannt als die Media Luna
oder der Halbmond, sowie natürlich die multinationalen Konzerne in den USA,
Europa und Brasilien.

Die Elite der „weißen Vorherrschaft“, die sich
in Santa Cruz de la Sierra konzentriert und  mit einer Bevölkerung von 1,4 Millionen im Jahr 2012 die
größte und am schnellsten wachsende Stadt des Landes geworden ist, ärgert sich
zutiefst über das, was sie als ihrem Zugriff entzogene Umverteilung von
Einkünften aus den Mineralien und Kohlenwasserstoffen des Landes in die
Wohlfahrts-, Gesundheits- und Bildungsprogramme betrachtet, die der Mehrheit
der Bevölkerung des Landes zugutekommen.

Die alten LandbesitzerInnen und die neueren
Geschäftseliten der östlichen Provinzen haben wiederholt versucht, Autonomie
oder sogar Unabhängigkeit zu erlangen, um den Löwenanteil dieser Ressourcen zu
behalten und sogar zu erhöhen.

Nicht, dass die AnhängerInnen des Putsches
behaupten könnten, dass Morales‘ 14-jährige Präsidentschaft das Land ruiniert
hat. Er wurde vom Internationalen Währungsfonds, der „Financial Times“ und dem
„Economist“ dafür gelobt, dass er solide Finanzreserven aufgebaut, den Haushalt
mehr als ausgeglichen, die Inflation verbannt und große Infrastrukturprojekte
in Angriff genommen hat.

Laut einem Bericht des Centre for Economic and
Policy Research (Zentrum für Wirtschafts- und Politikforschung) in Washington
aus dem Jahr 2014 ist „Bolivien in den letzten acht Jahren viel schneller
gewachsen als in irgendeiner Periode der letzten dreieinhalb Jahrzehnte“.
Dieses Wirtschaftswachstum hat positive soziale Auswirkungen getragen: Die
Armut ist um 25 Prozent und die extreme Armut um 43 Prozent zurückgegangen; die
Sozialausgaben sind um mehr als 45 Prozent und der reale Mindestlohn um 87,7
Prozent gestiegen.

Morales‘ verhängnisvolle Fehler

Aber Morales und die MAS verwandelten die
vorrevolutionäre und revolutionäre Zeit von 2000–2006, als die Macht von den
ArbeiterInnen, Bauern/BäuerInnen und armen indigenen Gemeinden hätte übernommen
werden können, von einer potentiellen sozialen Revolution in eine Reihe von
Reformen. So bedeutete die Verstaatlichung des Gases in Wirklichkeit, dass die
ausländischen Multis, die Kohlenwasserstoffe förderten, wesentlich höhere
Lizenzgebühren bezahlten, die für Infrastrukturprojekte wie den Teleférico, das
Seilbahnsystem, das El Alto, eine Millionenstadt mit überwiegend indigenen
EinwohnerInnen, mit der Hauptstadt La Paz verband, verwendet wurden. Es besteht
aus zehn Linien, deckt 17 Meilen ab und kostet 700 Millionen US-Dollar (627
Millionen Euro).

Die auffälligsten Gewinne aus der
Wiederverstaatlichung der Kohlenwasserstoffe und den erhöhten Lizenzgebühren
waren die Sozialmaßnahmen, Zuschüsse (bonos) für Mütter, Alte, für Schülerinnen
und Schüler sowie die Mittel für Alphabetisierungsprojekte und Gesundheit, die
die Armut deutlich gesenkt haben. Seit 2006 ist die Arbeitslosigkeit um die Hälfte
auf 4,5 Prozent zurückgegangen und der Abstand zwischen den Löhnen von Männern
und Frauen hat sich stark verringert.

Seit seiner Wahl wurden Morales und die MAS
jedoch zu verschiedenen Zeiten von „BürgerInnenstreiks“ angegriffen, die von
WirtschaftsführerInnen, evangelikalen Kirchen, Straßensperren durch
faschistische Banden wie die Jugendlichen von Santa Cruz und angedrohten
Polizeimeutereien organisiert wurden, gegen die sie ihre Basis unter den
ArbeiterInnen und indigenen Gemeinden mobilisieren mussten. Als auf solche
Mobilisierungen faule Kompromisse folgten, schwächten und spalteten diese ihre
Basis.

Es besteht kein Zweifel, dass Morales gegen die
Verfassung verstoßen hat, indem er den Obersten Gerichtshof dazu überredete,
ihm zu erlauben, die Anzahl der Amtszeiten zu verlängern und das knapp
verlorene Referendum zu ignorieren, damit er dies tun könnte. Er war jedoch
nicht der Erste, der dies tat; unter den meisten seiner Vorgänger zeigte die
Justiz keine Unabhängigkeit von der Exekutive. Als Morales dies gegen die
Rechte nutzte, wurde das natürlich zum Beweis für eine unerträgliche Diktatur.
Tatsächlich war er durch seinen eigenen Personenkult gefangen. Er allein konnte
der Kandidat sein – eine jedem Populismus, ob rechts oder links – gemeinsame Tendenz
zum Bonapartismus.

Eine noch schwerwiegendere Kritik an Morales ist
dagegen, dass er während seiner 14-jährigen Regierungszeit neben der
Durchführung von sozialen Reformen und der kulturellen Anerkennung der
indigenen Völker die Massenbewegungen in Cochabamba und El Alto, die ihn an die
Macht brachten, in vorwiegend elektorale Kanäle umgeleitet hat. Er
demobilisierte sie und geriet mit Teilen von ihnen kürzlich sogar in Kollision,
um Zugeständnisse an das internationale und einheimische Kapital zu erreichen.
In der Tat spalteten er und Linera viele der Organisationen und förderten
bürokratische Führungen, die dann zu repressiven Maßnahmen gegen ihre
Opposition griffen und einige von ihnen in das Lager der rechten Opposition
trieben.

Von Anfang an widersetzte sich Morales der von
der Massenbewegung geforderten vollständigen Verstaatlichung der fossilen
Energiewirtschaft und verlangte letztlich nur eine Erhöhung der Lizenzgebühren
und die staatliche Kontrolle über den Verkauf. Dies war der eigentliche Inhalt
von Garcia Lineras Theorie der „Revolution“, die „kommunitäre Demokratie“ und
eine „plurinationale Republik“ mit der Förderung eines „Andenkapitalismus“ auf
der Grundlage der Einnahmen aus dem Export von Bodenschätzen verband. Im
Wesentlichen funktionierte dies genauso lange, wie die explodierende Nachfrage
Chinas, Brasiliens und der anderen BRICS-Staaten den Preis dieser Rohstoffe in
die Höhe trieb.

Politisch wehrte Morales in der
verfassunggebenden Versammlung, die von August 2006 bis Dezember 2007 in Sucre
tagte, Forderungen nach einer radikalen Demokratie auf der Grundlage von
Versammlungen in den Betrieben und indigenen Gemeinden ab. Stattdessen ging er
Kompromisse mit den GroßgrundbesitzerInnen und den industriellen und
kommerziellen KapitalistInnen der Media Luna (Halbmond-Provinzen) ein und
gewährte ihnen eine beträchtliche Autonomie.

Auch die Forderungen der Massenbewegung nach
einer durchgreifenden Agrarrevolution, insbesondere die Verstaatlichung des
Großgrundbesitzes, lehnte er ab. Morales’ Reformen ließen den Landbesitz der
OligarchInnen weitgehend intakt, förderten aber die Begünstigung mittelgroßer
Betriebe auf ungenutztem Land für einen Teil seiner indigenen Basis. Viele von
ihnen haben ihn dank ihres Status als KleingrundbesitzerInnen im kritischen
Moment im Stich gelassen.

So vereitelte Morales die demokratischen
Bestrebungen der Masse der ArbeiterInnen- und Bauern/Bäuerinnenorganisationen
und schwächte und spaltete sie mit einer staatlich unterstützten und korrupten
Gewerkschafts- und indigenen Bürokratie. Grandiose Feiern von Aymara, Quechua
und anderen indigenen Kulturen waren ein schlechter Ersatz für die
grundlegenden Forderungen der Bewegung, deren Befriedigung einen revolutionären
Kampf erfordert hätte, um die soziale Basis der OligarchInnen zu brechen und
die Staatsmaschinerie, die ihre Klassenherrschaft verteidigte, zu zerschlagen.

Bürgerliche Staatsmaschinerie

Am Ende lag Morales Hauptschuld in dieser
Weigerung, ein für alle Mal mit der bürokratischen und repressiven Maschinerie
des bolivianischen kapitalistischen Staates zu brechen und die OligarchInnen
der Media Luna zu enteignen, d. h. ihre Macht zu zerstören, anstatt sie
nur durch die Organisation begrenzter Mobilisierungen seiner AnhängerInnen zu
dämpfen. Die Streitkräfte, nicht das bewaffnete arbeitende Volk, blieben der
Garant für die Regierung in Bolivien.

General Williams Kaliman Romero und das
Oberkommando sind AbsolventInnen der berüchtigten School of the Americas, Fort
Benning, Georgia, und die PolizeikommandantInnen sind TeilnehmerInnen eines
Austauschprogramms, das von Washington aus durchgeführt wird. Die Investitionen
der Vereinigten Staaten in die lateinamerikanischen Streitkräfte sind ein
zentraler Mechanismus zur Aufrechterhaltung des formal unabhängigen, aber wirtschaftlich
und militärisch untergeordneten, d. h. halbkolonialen Status eines
Großteils des Kontinents. Wehe einem Land wie Venezuela oder Bolivien, das
versucht, echte Unabhängigkeit zu erlangen!

Kaliman wurde im Dezember 2018 von Morales
selbst zum Oberbefehlshaber der Streitkräfte Boliviens ernannt und galt als
loyal zu ihm und seinem Projekt. Doch trotz seiner aktiven Rolle in dem Putsch
enthob Añez ihn einige Tage später seines Postens und ersetzte ihn durch
General Carlos Orellana.

Selbst als er schließlich mit einem zunehmend
militanten Staatsstreich von rechts konfrontiert wurde, verfolgte Morales eine
Beschwichtigungspolitik. Er bot an, ein Anhörungsverfahren der OAS
(Organisation Amerikanischer Staaten) zu akzeptieren, dann die Mitglieder der
Wahlkommission zu ersetzen und Neuwahlen durchzuführen. Zuletzt reagierte er
mit dem Versuch, selbst Neuwahlen abhalten zu wollen. Aus Furcht vor den Folgen
zog er nur in Erwägung, das Volk in der halbherzigsten Weise und in letzter
Minute zu mobilisieren. Sein Problem war, dass seine jüngere Politik und seine
autoritären Aktionen Schichten der ArbeiterInnenklasse und der Jugend, die Teil
seiner sozialen Basis waren, entfremdet hatten.

Aus diesem Grund scheint es, dass sich die
ArbeiterInnenversammlungen in La Paz und Cochabamba zunächst weder für Morales
noch für die „zivile Opposition“ erklärten. Dies führte zu einem verheerenden
Unterstützungsverlust, als die Bürokratie des wichtigsten
Gewerkschaftsverbandes, der bolivianischen ArbeiterInnenzentrale, COB, den Rücktritt
von Morales forderte, ohne etwas zu tun, um die ArbeiterInnen auf die
Niederschlagung des rechten Putsches vorzubereiten. Seitdem hat die COB die
Rechtmäßigkeit der Übernahme von Áñez anerkannt.

Dieses Wanken und Beschwichtigen ermutigte
einfach die rechte Opposition, die ihre Forderungen gerade erst erhärtet hatte,
indem sie den Rücktritt von Morales und seinem ehemaligen Vizepräsidenten und
Vizekandidaten Álvaro García Linera forderte.

In einem gewissen Sinn sind Morales und Linera
Opfer des Erfolgs ihrer Politik der Umverteilung des Reichtums, die einer
neuen, indigenen Mittelschicht zugute kam, die nun in Konflikt mit der
MAS-Strategie des Kompromisses zwischen den kapitalistischen Eliten und den
Armen gerät. Die Folge von zehn Jahren ressourcenbasierten kapitalistischen
Wohlstands ist die Schaffung einer neuen wohlhabenderen Mittelschicht – einer
neuen sozialen Kraft, an die sich Morales‘ GegnerInnen wenden könnten. Der
Bruch mit Teilen von Morales‘ kleinbürgerlicher Basis begann mit der Besteuerung
der informellen Wirtschaft, 60 Prozent des BIP, 70 Prozent der Wirtschaft,
insbesondere der „Cholos“, der einheimischen Kleinbourgeoisie, die den Übergang
vom Land zur Stadt vollzieht. Auf der anderen Seite wurden die COB, die Fabrik-
und die BergarbeiterInnen, entfremdet.

Der Druck, den die Media-Luna-Eliten auf der
einen Seite und die ArbeiterInnen und indigenen bäuerlichen Gemeinschaften auf
der anderen Seite auf ihn ausübten, führte schließlich zum Zusammenbruch von
Morales‘ Projekt und seinem Rückgriff auf immer mehr bonapartistische
Maßnahmen, einschließlich eines Personenkults.

Heutige Aufgaben

Die von der Rechten in Bolivien verfolgte
Strategie war eine Wiederholung dessen, was gegen Maduro in Venezuela erfolglos
versucht wurde. Zuerst eine/n „gemäßigte/n“ PräsidentschaftskandidatIn finden,
der/die das erz-reaktionäre Programm der realen Opposition maskiert, dann
Betrug schreien, wenn er/sie nicht gewinnt, und die Mittelschicht auf der
Straße mobilisieren. Die internationale liberale Meinung wird dann das Regime
für autoritär oder eine Diktatur erklären. Wenn alles andere scheitert, können
die USA Sanktionen oder eine Blockade verhängen.

Die Strategie scheiterte in Venezuela an der
Loyalität der Armee gegenüber Hugo Chávez und seinem  Nachfolger Maduro sowie an der Tatsache, dass es bedeutende
bewaffnete Volksmilizen gibt, die einen Armeeputsch zu einem blutigen
Unterfangen machen könnten und nicht zu einem Gerichts-, Parlaments- oder
Wahlstreich wie in Brasilien und Bolivien.

Im Falle Boliviens sollte man jedoch die Kraft
der wiederholten großen Bewegungen in El Alto und Cochabamba nicht vergessen;
sie ist nicht völlig zerstört worden. In El Alto vereinigt die Föderation der
Nachbarschaftsräte, FEJUVE, mehr als 600 dieser Gremien und hat stets eine
wichtige Rolle bei der Massenmobilisierung gespielt. Sicherlich muss sie von
den KapitulantInnen gesäubert und eine neue Führung gewählt werden, die sich
aus den KämpferInnen zusammensetzt, die mutig Streiks und Blockaden organisiert
und sich den Gewehren von Polizei und Armee entgegengestellt haben.

Es besteht eindeutig ein Bedarf an
Selbstverteidigungsorganisationen, die in der Lage sind, im kritischen Moment
einen Generalstreik zu starten, der die Wirtschaft und den bürgerlichen Staat
lähmt. Die MilitantInnen müssen alles tun, um die Mannschaftsränge und
Unteroffiziersdienstgrade der SoldatInnen zu gewinnen, die ihrerseits die
Polizei entwaffnen und die Massen bewaffnen und ausbilden können. Die COB und
alle ihre Einzeilgewerkschaften müssen von ihren korrupten und feigen
FührerInnen gesäubert werden.

ArbeiterInnen und andere Volkskräfte können aus
den cabildos abiertos, Massenversammlungen unter freiem Himmel, Delegierte in
die lokalen Aktionsräte wählen. Solche Gremien können auch, sobald das Putschregime
gebrochen ist, Wahlen zu einer revolutionären verfassunggebenden Versammlung
organisieren. Eine solche Versammlung müsste sich, um die Macht der Bourgeoisie
brechen zu können auf Räte und auf bewaffnete Milizen der ArbeiterInnen,
BäuerInnen und indigenen Völker stützen. Sie müsste ihre Macht an eine auf Räte
gestützte ArbeiterInnen –und BäuerInnenregierung übertragen, die die
notwendigen Maßnahmen ergreifen kann, um die Bourgeoisie endlich ihrer
Repressionsmittel zu berauben, indem sie die ArbeiterInnenklasse an die Macht über
die Wirtschaft bringt. Eine Revolution in Bolivien kann unter den heutigen
Bedingungen leicht auf Chile, Brasilien, Ecuador und Venezuela übergreifen.

Was fehlt, ist eine revolutionäre Partei der
ArbeiterInnenklasse und der ländlichen und städtischen Armen, um eine solche
Revolution zu führen. Die Gründung der ArbeiterInnenpartei „Partido de los
Trabajadores“, PT, auf einem Kongress in Huanuni im März 2013 schien ein großer
Schritt in diese Richtung zu sein. Sie wurde auf Initiative der BergarbeiterInnengewerkschaft
FSTMB und einer Resolution der Konferenz der COB gegründet, in der ein
„politisches Instrument“ der Gewerkschaften gefordert wurde.

Das in Huanuni verabschiedete Programm forderte die
„Verstaatlichung der Banken ohne Entschädigung“, die „Verstaatlichung der
Bergbauindustrie und aller natürlichen Ressourcen“ und die „Enteignung von
Großgrundbesitz“. Diese Forderungen waren mit der Forderung nach „kollektiver
ArbeiterInnenkontrolle“ verbunden.

Die Führung der PT blieb indessen fest in den
Händen der Gewerkschaftsbürokratie, die innerhalb eines Jahres wieder zur
Zusammenarbeit (und zum Streit) mit Morales zurückkehrte. Offensichtlich sah
sie in der PT eine Verhandlungspartnerin der Regierung und der
UnternehmerInnen, nicht eine Kämpferin um die Macht – und letztere nicht nur an
der Wahlurne, sondern auch auf dem Schauplatz des revolutionären
Klassenkampfes.

Wie können SozialistInnen weltweit ihren
bolivianischen GenossInnen helfen? Wir sollten gegen die Unterstützung unserer
Regierungen für den Staatsstreich protestieren und die Freilassung der
Gefangenen und die Wiederherstellung der Pressefreiheit fordern. Wir sollten
die Unterstützung des Weißen Hauses für rechte Oligarchien, die versuchen, die
so genannte Pink Tide (rosa Welle linker Regierungen in Lateinamerika)
umzukehren, aufdecken. Die Siege der rechten Kandidaten, die vor vier Jahren in
Argentinien begannen und sich bis zum Sieg von Bolsonaro in Brasilien und dem
Putschversuch von Juan Guaidó in Venezuela ausbreiteten, sind ein Stück weit
Teil davon. Die Ereignisse in Bolivien sind ein Symptom für eine akute
Verschärfung des Klassenkampfes weltweit.

  • Nieder mit den rassistischen PutschistInnen!
  • Sieg für eine soziale Revolution in Bolivien!
  • Nieder mit der imperialistischen Ausplünderung des globalen Südens!



Macht Schluss mit Boris Johnson – durch Klassenkampf!

Red Flag, Neue Internationale 240, September 2019

Mit der Abstimmung am 4. September und der Verabschiedung eines Gesetzes zur Verhinderung eines Brexits ohne Abkommen mit der EU hat das britische Parlament (vorerst) den Verfassungscoup von Boris Johnson und seiner BeraterInnen durchkreuzt. Wenn der Gesetzentwurf zu einem Parlamentsakt und der Antrag auf weitere Verhandlungen mit der EU bis Januar übermittelt werden, sind Neuwahlen zum britischen  Parlament nahezu sicher.

Versuchter Putsch

Der versuchte Putsch war der Grund, warum sich
Hunderttausende der Welle von Protesten und direkten Aktionen im ganzen Land
anschlossen, um Johnsons anti-demokratische Manöver zu stoppen und die
Aussetzung des Parlaments zu stoppen. Es war ein bonapartistischer Putsch,
d. h. einer, bei dem sich die Exekutive über das demokratisch gewählte
(und angeblich souveräne) Parlament erhebt und dessen Funktionsfähigkeit
vereitelt. Es enthüllte einige grundlegende Fakten über die ungeschriebene
britische Verfassung – ihr mächtiges undemokratisches Element –, das gegen eine
von Corbyn geführte Labour-Regierung verwendet werden könnte.

Johnsons Staatsstreich wurde mit den nicht gewählten Teilen
des britischen Staates durchgeführt: das königliche Vorrecht, das von einem Premierminister
ausgeübt wurde, der nicht vom Volk, sondern von 90.000 Mitgliedern der
Tory-Partei gewählt wurde. MarxistInnen warnen seit langem davor, dass in jeder
tiefen nationalen Krise die „malerische Pracht“ der britischen Monarchie
plötzlich zum Leben erwachen und die demokratischen Elemente der Verfassung
außer Kraft setzen kann.

Johnson drohte sogar damit, eine Abstimmung des
Abgeordnetenhauses zu ignorieren, die EU um eine Verschiebung zu bitten, oder
ein Misstrauensvotum zu arrangieren, das es ihm ermöglichen würde, die Königin
aufzufordern, das Unterhaus aufzulösen und am 14. Oktober Parlamentswahlen
durchzuführen.

Jeremy Corbyn sagte richtig, dass Labour gegen die Auflösung
stimmen wird, solange der 31. Oktober wie ein Damoklesschwert über jedem Wahlkampf
hängt. Es war klar, dass dies einen Vorwand darstellte, um ein
bonapartistisches Plebiszit – „das Volk gegen das Unterhaus“ – durchzuführen.
Aber sobald dies erreicht ist, ist die Zeit reif für ein Misstrauensvotum, das
Johnsons Regime beendet und eine Labour-Regierung unter Jeremy Corbyn
installiert. Eine solche Übergangsregierung sollte dann von der EU eine
Verlängerung beantragen, um eine Parlamentswahl durchzuführen, gefolgt von
einem Referendum über das aktuelle Abkommen.

Corbyn in Nummer zehn

Labour sollte jeden Vorschlag für eine Übergangsregierung
unter einer vermeintlich neutralen Figur wie dem Tory Ken Clarke ablehnen. Ein
solcher Kompromiss würde den Weg zu prinzipienlosen Allianzen bei den
nachfolgenden Parlamentswahlen und sogar zur Labour-Beteiligung an einer
Koalitionsregierung mit Liberal-DemokratInnen oder sogar den Anti-Brexit-Tories
ebnen.

Wir müssen den Druck auf die Abgeordneten erhöhen, um ein
solches Szenario zu verhindern. Unnachgiebigkeit bezüglich Prinzipien ist in
dieser Situation die einzige realistische Politik.

In der Zwischenzeit müssen die Labour-Partei und der
Gewerkschaftsdachverband TUC ihr volles Gewicht hinter Massenproteste stellen,
bis Johnson gestürzt ist. Das bedeutet Besetzungen, Blockaden und Arbeitsniederlegungen.
Wenn es sich als unmöglich erweist, Johnson mit parlamentarischen oder
wahltaktischen Mitteln zu entfernen, muss der TUC bereit sein, einen
Generalstreik dazu auszurufen.

Die Bewegung auf der Straße muss sich auf diesen möglichen
nächsten Schritt vorbereiten, indem sie Ausschüsse aus Delegierten von
Gewerkschaften, der Labour Party und der breiteren Bewegung zur Koordinierung
des Widerstandes einsetzt.

Labours Programm

Wenn in den nächsten Wochen keine Parlamentswahlen
stattfinden, müssen wir die Zeit nutzen, nicht nur, um uns darauf
vorzubereiten, sondern auch, um den größtmöglichen Druck von Mitgliedern
Labours und der Gewerkschaften für ein wirklich radikales Manifest auszuüben,
das wirklich für viele, nicht für wenige etwas bringt. Die Labour Party muss
alle Unklarheiten über den Brexit aufgeben und erklären, dass sie gegen diesen
ist. Sie muss deutlich machen, dass sie für die Freizügigkeit, für die
Verteidigung des Rechts aller Lohnabhängigen und Studierenden auf Arbeit und
Studium in Großbritannien eintritt. Sie muss sich verpflichten, die
Abschiebungen zu beenden und die abscheulichen Haftanstalten zu schließen und
all diese Maßnahmen in ihr Manifest aufzunehmen.

Das bedeutet, aus einer Position der Stärke heraus eine
Offensive gegen die Institutionen des internationalen Kapitalismus einzuleiten,
einschließlich eines europaweiten Kampfes gegen Kürzungsprogramme und die
neoliberalen Verträge der EU sowie gegen die aufkommende rassistische Rechte.
Eine solche Offensive sollte auf einer europaweiten Koordination des
Widerstandes, auf demokratischen internationalen Sozialforen basieren. Das
Motto der Solidarität mit den ArbeiterInnenbewegung des Kontinents sollte
lauten: „Gegen das Europa des Kapitals! Für die Vereinigten Sozialistischen
Staaten von Europa!“

Die Labour-Partei sollte die leeren Versprechen der Tories
von Milliarden für Bildung und das Gesundheitssystem NHS als zynisches
Bestechungsgeld anprangern, nur um Unterstützung für No Deal zu erkaufen.
Labour sollte seine eigenen schüchternen Ausgabengrenzen aufgeben und eine
große Investition in Wohnen, öffentliche Dienstleistungen und Umwelt mittels
eines demokratischen, von den Lohnabhängigen kontrollierten Produktionsplans
zusagen – finanziert nicht durch Kredite auf den Anleihemärkten oder durch
Anwerfen der Notenpresse, sondern durch Besteuerung und Enteignung des
Reichtums von Kapital und Vermögen.

Labour sollte deutlich machen, dass sie ein umfassendes
Programm für Hausbau und zur Umweltsanierung auf den Weg bringen wird, das sich
insbesondere auf Bereiche konzentriert, die seit den Tagen von Thatcher
vernachlässig und heruntergewirtschaftet wurden.

Last, but not least, hat Johnsons Staatsstreich Millionen
von Menschen die undemokratische Realität der britischen Verfassung offenbart.
Eine Labour-Regierung sollte das Gesetz über die befristete Amtszeit des
Parlaments abschaffen und eine verfassunggebende Versammlung einberufen, die in
allgemeiner Wahl von allen über 16 bestimmt wird, um den reaktionären feudalen
Müll der Monarchie, des Kronrats (Privy Council), des nicht gewählten
Oberhauses zu beseitigen, und das Recht des schottischen Parlaments
verteidigen, ein Referendum über die eigene Unabhängigkeit durchzuführen.

Der Wahlkampf

Die Kampagne, mit der Labour, Momentum und die Gewerkschaften
zum allgemeinen Wahlkampf mobilisieren, muss sich grundlegend von den üblichen,
ritualisierten Veranstaltungen unterscheiden. Wir brauchen Aktionen in den
Innenstädten, Demonstrationen und massenhafte politische Mobilisierungen, die
die Jugend und die ArbeiterInnenklasse sowie rassistisch unterdrückte
Minderheiten sowie die ArbeiterInnen aus der EU mobilisieren. Wir müssen
zeigen, dass die Menschen, die wirklichen arbeitenden Menschen, überwältigend
auf der Seite der Labour Party stehen, und wir müssen eine Regierung fordern,
deren antikapitalistische Maßnahmen den Weg zu einer sozialen Revolution ebnen
und zu einer sozialistischen Republik Großbritannien innerhalb Vereinigter
Sozialistischer Staaten Europas.




Der Westen und Venezuela: „Demokratische“ Heuchelei

Susanne Kühn, Neue Internationale 235, Februar 2019

Bundesregierung und EU schlossen sich rasch der
Unterstützung der pro-imperialistischen, rechten Opposition in Venezuela an.
Die USA und ihre engsten Verbündeten erkannten den selbsternannten
„Interimspräsidenten“ Guaidó innerhalb kürzester Zeit an und machten deutlich,
dass sie sich mit nichts weniger als dem Sturz von Maduro und seinem Regime
zufriedengeben wollen. In Washington und bei der „demokratischen“ Opposition
wird offen ein militärisches Eingreifen erwogen.

Das Kabinett Merkel und die EU schlugen – wie so oft – einen
scheinbar mehr vermittelnden Weg ein. Maduro wurde ursprünglich eine „Frist“
von einer Woche eingeräumt. Sollte er bis dahin unter dem Druck von Diplomatie,
Sanktionen und kriegerischen Drohungen keine „freien Wahlen“ ausgerufen haben,
so würden auch sie den „Demokraten“ Guaidó anerkennen.

Der Unterschied zwischen den beiden Mächten besteht in den
Mitteln. Während die einen auf die sofortige Kapitulation und den Rücktritt
Maduros setzen, schlagen die anderen „schrittweise“ durch Neuwahlen vor. Nachdem
sich Venezuela weigerte, der Erpressung durch die EU folge zu leisten, erkannte
sie auch Guaidó an.

Beide imperialistische Mächte eint schließlich das Ziel:
Aufräumen mit den „Roten“, mag sich ihr „Sozialismus“, ihre Wirtschaftspolitik,
ihr Regime auch noch so weit von einer realen sozialen Umwälzung entfernt
haben. Die USA erhoffen sich von einer Zuspitzung und direkten Konfrontation,
ihre traditionelle Dominanz wiederherzustellen zu können. Deutschland und die
EU setzen auf „Verhandlungen“, um so bei der Neuaufteilung des Landes auch ein
bisschen mitzureden.

Die Sorgen um „Demokratie“, „Menschenrechte“ und die
Zivilbevölkerung sind nicht nur vorgeschoben, sie sind auch unglaubwürdig wie
selten: kaum ein/e rechte/r, populistische/r PolitikerIn aus der „westlichen
Wertegemeinschaft“, der/die Guaidó nicht als Vertreter seiner/ihrer
„Demokratie“ auszumachen weiß. Die SachwalterInnen der „Demokratie“ – ob nun
rechts-populistisch, liberal, grün oder sozialdemokratisch – verschließen ihre
Augen vor der Gefolgschaft eines Guaidó, vor seinen Zielen, vor den
Klasseninteressen, die er vertritt. Sie verkommen zu mehr oder weniger enthusiastischen
Gefolgsleuten von Trump, Pence und Pompeo, zu nützlichen IdiotInnen des
US-Imperialismus oder zynischen Gefolgsleuten der schwächelnden EU.

Wie rasch sich die Lage weiter zuspitzt, ob es den
westlichen Mächten gelingt, bedeutende Teile des Militärs auf ihre Seite zu
ziehen, werden die kommenden Tage und Wochen zeigen. Die Linke, die
Gewerkschaften, alle ArbeiterInnenorganisationen müssen sich in dieser
entscheidenden Phase ohne Zögern gegen jede imperialistische Einmischung und
Intervention, ob durch Diplomatie, Sanktionen oder Waffengewalt, stellen. Sie
dürfen zugleich dem Regime Maduro keinen politischen Blankoscheck ausstellen
oder Kritik an seiner Politik verheimlichen. Aber ein Sieg der Rechten und der
imperialistischen Mächte würde für die ArbeiterInnenklasse und die Masse der
Bevölkerung eine Niederlage mit enorm reaktionären Auswirkungen auf ganz
Lateinamerika bedeuten. Daher: Nein zur „demokratischen“ Heuchelei! Hände weg
von Venezuela!




Brasilien: Neofaschist Bolsonaro vor dem Sieg

Dave Stockton, Infomail 1024, 11. Oktober 2018

Die massiven politischen und gewerkschaftlichen Bewegungen der brasilianischen IndustriearbeiterInnen, landlosen BäuerInnen und Armen in den Slumvierteln (Favelas) sehen sich einer tödlichen Gefahr gegenüber: der Wahl eines Halbfaschisten, Jair Messias (!) Bolsonaro. Er erzielte im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen 49 Millionen Stimmen, 46,3 Prozent. Fernando Haddad, der Kandidat der Arbeiterpartei PT, gewann 31 Millionen Stimmen oder 29 Prozent. Ohne die solide Unterstützung des Nordostens, wo Haddad in 8 der 9 Bundesstaaten vorn lag, hätte Bolsonaro in der ersten Runde auf Anhieb gesiegt.

Aufstieg von Bolsonaro

Der Aufstieg von Bolsonaro war spektakulär. Seine Sozialliberale Partei PSL hat ebenfalls 52 Sitze im Unterhaus gewonnen und ist damit mit 57 Sitzen die zweitstärkste Partei nach der PT. Bei den Parlamentswahlen 2014 hatte sie dort nur einen Sitz. Bolsonaro wurde durch den Attentatsversuch auf ihn während seiner Kampagne zu einem Medienhelden gepusht, unterstützt von rechtsextremen Kräften im Militär, die er umworben hatte, indem er die brutalen Militärdiktatoren des Landes lobte, die das Land von den 1960er bis 1980er Jahren regierten.

Lange Zeit als rechter Außenseiter betrachtet, hat Bolsonaro regelmäßig mit Gewalt gegen die ArbeiterführerInnen gedroht und sich in schlimmster Demagogie und Hassreden gegen die schwarze und indigene Bevölkerung sowie gegen Frauen und Schwule ergangen. Dies passte sehr gut zu einer Massenanhängerschaft unter der privilegierten weißen Mittelschicht, insbesondere in den evangelikalen christlichen Kirchen. Diese soziale Basis ist bitter aufgebracht über die begrenzten Reformen, die die PT-PräsidentInnen Lula da Silva und in geringerem Maße Dilma Rousseff zwischen 2002 und 2016 in Kraft gesetzt haben.

Die PT-geführte Regierung wurde durch einen „legalen“ Putsch des Senats und Rousseffs Vizepräsident Michel Temer am 31. August 2016 gestürzt. Seitdem befindet sich Brasilien mit regelmäßigen Massendemonstrationen und eintägigen Generalstreiks in Aufruhr, und das Land hat sich nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch von 2014 nicht wesentlich erholt. Das Wachstum betrug 2017 – 18 nur ein Prozent. Widerstandskampagnen wurden von der PT und den damit verbundenen Massenverbänden wie der Bewegung landloser ArbeiterInnen, MST, und der Gewerkschaftsföderation, CUT, sowie den bedeutenden linkeren Parteien Brasiliens wie der Partei für Befreiung und Sozialismus, P-Sol, organisiert.

Gegen einen Putsch wie den von Temer zu protestieren, aber die Massen davon abzuhalten, ihn und die bürgerlichen Parteien und RichterInnen, die ihn unterstützt haben, zu stürzen, hat jedoch zu einer Situation geführt, in der die Kräfte der Rechten entschlossen sind, die ArbeiterInnen- und Massenbewegung zu zerschlagen und zu atomisieren. Sie haben keine demokratischen Hemmungen wie die PT-FührerInnen, da sie wissen, die brasilianische Staatsmaschinerie gehört ihnen und man kann sich darauf verlassen, dass sie ihnen gehorcht.

Ihr Ziel ist es, ein Regime der Privatisierung und der neoliberalen Zerstörung der sozialen Errungenschaften und Gewerkschaftsrechte zu schaffen, die in den letzten Jahrzehnten errungen wurden. Rechte für Frauen, Indigene, Landlose und Schwule sowie ihre VerteidigerInnen werden alle angegriffen werden.

Paulo Roberto Nunes Guedes, der wichtigste Wirtschaftsberater von Bolsonaro, ehemaliger Investmentbanker bei Bozano Investimentos Ltd., der seine Karriere an der Chicago School of Economics begonnen hat, hat gesagt, dass Brasilien alles von der Banco do Brasil bis zur nationalen Ölgesellschaft Petróleo Brasileiro S. A. (Petrobras) privatisieren sollte. „Alles muss verkauft werden“, sagte er in einem Interview mit der britischen Nachrichtenagentur Reuters, „vorsichtige und verschämte Privatisierungen werden einfach nicht reichen.“

Zweite Runde

In der zweiten Runde ist Fernando Haddad nun der einzige Kandidat, der Bolsonaro stoppen kann, aber es ist wahrscheinlich, ja sicher, dass er die alte PT-Strategie verfolgen wird, ein Bündnis mit pseudosozialdemokratischen und sogar völlig bürgerlichen Parteien des Zentrums und der Mitte-Rechts um die Idee der „Rettung der Demokratie“ zusammenzupfuschen. Dies ist die alte „Volksfront“-Strategie zur Bekämpfung des Faschismus, die mit katastrophalen Folgen angewandt wurde, zum Beispiel 1936 – 39 in Spanien und 1973 in Chile. Temer selbst war so ein „Verbündeter“!

Der Preis, den solche „Verbündeten“ fordern würden, wäre, das schwache reformistische Programm aufzugeben und ihr Programm anzunehmen. Haddad hat es sofort gesagt: „Ich habe völlige Ruhe, wenn es darum geht, die Programmparameter so anzupassen, dass es das repräsentativste für dieses breite demokratische Bündnis wird, das wir beabsichtigen zu bilden.“

Während die ArbeiterInnenklasse die Hilfe anderer Klassen und ihrer Parteien im Kampf um die Verteidigung ihrer Lebensinteressen niemals ablehnt, muss der Schwerpunkt auf dem tatsächlichen Kampf auf den Straßen und in den Betrieben liegen. Auf der Wahlebene stehen die Chancen schlecht für Haddad, da es wahrscheinlich ist, dass die bürgerlichen Parteien mehr von Bolsonaros Programm zur Plünderung der staatlichen Industrien und zur Abwälzung der Krise auf die ArbeiterInnen und Armen angezogen werden als dass sie um die Bedrohung der Demokratie fürchten. Schließlich waren es auch jene Parteien, die den alles andere als demokratischen Putsch gegen Dilma inszenierten. Auf internationaler Ebene hat „The Economist“ vor der Gefahr Bolsonaros gewarnt, dagegen ist die „Financial Times“ viel vorsichtiger und betrachtet seine neoliberalen Reformen mit Wohlwollen. Sicherlich wird Trump ein halbfaschistisches Regime in Brasilien nicht verurteilen.

Trotz der schlechten Wahlaussichten ist auf dem Gebiet des Klassenkampfes bei weitem nicht alles verloren. Die Gewerkschaften und Parteien der ArbeiterInnen und BäuerInnen können immer noch Millionen mobilisieren, um den Weg zum (Halb)Faschismus oder jede Rückkehr zur Militärregierung zu blockieren. Jedes demokratische Mandat für Bolsonaro wird das Ergebnis eines gigantischen Betrugs sein. Die brasilianische Demokratie wurde lange vor den Wahlen durch den parlamentarischen Staatsstreich und durch die gerichtliche Verhinderung von Lulas Kandidatur und seine Inhaftierung untergraben.

Bolsonaros Gefolgschaft ist noch lange keine organisierte faschistische Bewegung, die sich der ArbeiterInnenklasse und den ländlichen Armen entgegenstellen kann, es sei denn, diese bleiben passiv oder werden von ihren reformistischen Führungen gelähmt. Natürlich können die bestehenden faschistischen Gruppen und die bewaffneten SchlägerInnen der UnternehmerInnen und GrundbesitzerInnen die Kader für eine solche Bewegung stellen, aber das Kleinbürgertum kann von einem entschlossenen proletarischen Widerstand in die Knie gezwungen werden.

Ungeachtet des reaktionären Appetits ihrer Kommandeure ist es bislang nicht gelungen, die Streitkräfte dazu zu bewegen, die Verantwortung nicht nur für die angeschlagene Wirtschaft, sondern auch für die Unterdrückung einer riesigen ArbeiterInnenbewegung zu übernehmen. Alles hängt davon ab, dass die ArbeiterInnenklasse ihre Kräfte mobilisiert und ihre Entschlossenheit zeigt, ihre Rechte und sozialen Errungenschaften nicht ohne einen harten Kampf aufzugeben. Eine solche Entschlossenheit könnte wahrscheinlich die bürgerlichen Kräfte selbst fragmentieren und einige von ihnen paralysieren.

Was kann man also in den Wochen vor der zweiten Runde am 28. Oktober tun? Unsere GesinnungsgenossInnen in Brasilien hatten es bereits vor der ersten Runde deutlich gemacht:

„Wir in der Sozialistischen Liga haben argumentiert, dass linke Parteien eine Einheitsfront aufbauen müssen, um dem Staatsstreich und der reaktionären Rechten eine wirksame Abwehr entgegenzustellen und auch, um die Kombination aus militärischem Bonapartismus und Faschismus, deren Führer Jair Bolsonaro ist, besiegen zu können. (…)

Unser Kampf hört nicht mit dem Ende des Wahlprozesses auf. Im Gegenteil, er wird sich danach intensivieren – unabhängig davon, wer gewinnt. Wir müssen die ArbeiterInnenklasse organisieren, indem wir Widerstandskomitees an Arbeitsplätzen, Schulen, in Nachbarschaften usw. bilden.“ (Liga Socialista, Brasilien vor dem Showdown)

Die internationale ArbeiterInnenbewegung muss unseren Brüdern und Schwestern in Brasilien aktiv helfen. Die anderthalb Millionen Mitglieder der PT, ihre verbündeten Organisationen und ihre Zigmillionen WählerInnen stellen die wichtigste Kraft unserer Klasse in Lateinamerika und eine der stärksten auf der Welt dar. Eine historische Niederlage würde das globale Kräftegleichgewicht noch weiter nach rechts schwingen. Sie würde die Kräfte der Reaktion in anderen Ländern zu ähnlichen Handlungen ermutigen, genau wie die Niederlage in Chile 1973. Die ArbeiterInnenbewegungen in Europa und Nordamerika, in Afrika und Asien müssen den brasilianischen ArbeiterInnen jede erdenkliche Hilfe leisten und alles tun, was sie können, um zu verhindern, dass ihre „eigenen“ Regierungen Bolsonaro unterstützen.




Brasilien vor dem Showdown

Liga Socialista, brasilianische Sektion der Liga für die Fünfte Internationale, Neue Internationale 232, Oktober 2018

Die am 7. Oktober stattfindenden Präsidentschaftswahlen (erster Wahlgang) finden in einer äußerst angespannten politischen und ökonomischen Lage statt. Nachdem der bisher in den Umfragen führende Präsidentschaftskandidat der ArbeiterInnenpartei, Lula da Silva, von den Wahlen ausgeschlossen wurde, droht derzeit der Sieg des extrem rechten, rassistischen, ja halb-faschistischen Ex-Militärs Jair Bolsonaro.

Der Putsch

Am 31. August 2016 stimmten die Mitglieder des Senats der Anklage gegen Präsidentin Dilma Rousseff von der PT (der sozialdemokratischen „ArbeiterInnenpartei“) zu, die damit ohne Beweise für von ihr begangene Unrechtmäßigkeiten aus dem Amt entfernt wurde. Tatsächlich war es ein Putsch der reaktionären Rechten, die es nicht mehr ertragen konnte, dass die PT das Land regierte, selbst mit deren Politik der Klassenversöhnung, die den Interessen der Bourgeoisie diente.

Seitdem haben die Putschisten, die Regierung in Zusammenarbeit mit Kongress und Justiz ihre Absichten deutlich gemacht. Es folgten Angriffe auf Arbeitsrecht und soziale Sicherungen, den öffentlichen Dienst – Einführung einer Schuldenobergrenze für die nächsten 20 Jahre – und auf die demokratischen Freiheiten. Neben politischen Morden (so an der PSOL-Abgeordneten Marielle in Rio) macht sich die Gewalttätigkeit der Rechten auch in direkten Militärinterventionen deutlich (Ausnahmezustand in Rio und vielen Favelas).

Heute führt der Putsch, der weltweit verurteilt wurde, zur Zerstörung der Rechte der Arbeitenden und zur Verhaftung der Führung der wichtigsten Organisationen der unteren Klassen. Luiz Inácio Lula da Silva, Präsident Brasiliens von 2003-2011, wurde ohne klare Beweise verurteilt und wird von der Bundespolizei in Isolationshaft festgehalten. Sie können nicht verbergen, dass die Verhaftung von Lula neben dem Ziel, sein politisches Leben und das seiner Partei zu beenden, darauf abzielt, die Rückkehr der PT an die Regierung zu verhindern, da sie wissen, dass jede/r rechte KandidatIn bei den Wahlen gegen Lula verlieren würde.

Eine Wahl ohne Lula ist Betrug

Die PT-Führung fuhr eine politische Linie, die in dem Satz „eine Wahl ohne Lula ist Betrug“ zusammengefasst ist, und kämpfte bis zum Ende für die Kandidatur von Lula für das Präsidentenamt mit Fernando Haddad als Vizepräsidenten. Nach der Abweisung der Kandidatur von Lula appellierte die PT an alle Justizbehörden und sogar an die UN-Menschenrechtskommission, die erklärte, Brasilien solle die Kandidatur von Lula zulassen. Die RichterInnen der Putschisten erkannten jedoch die Entscheidung der UNO nicht an.

Diese Haltung der PT war insofern wichtig, als sie den Protest gegen die ungerechte Verurteilung und Inhaftierung von Lula landes- und weltweit bekannt machte und das Justizsystem und die Staatsführung als das entlarvte, was sie sind. Der Vizepräsidentenkandidat für das semi-faschistische Wahlbündnis von Jair Bolsonaro (PSL), General Hamilton Mourão, sagte sogar, dass er eine militärische Intervention nicht ausschließen würde, wenn Lula als Kandidat antreten könne. All dies trug dazu bei, die Militanz der PT-Mobilisierung zu erhöhen.

Am letzten Tag der vom Obersten Wahlgericht (TSE) festgelegten Frist zur Änderung von BewerberInnen für das Präsidentenamt änderte die PT die Kandidatur auf Fernando Haddad (PT) und lancierte als Vizepräsidentschaftskandidatin Manuela d’Ávila (Manu) von der Kommunistischen Partei Brasiliens (PCdoB, „ReformkommunistInnen“). Nun versucht die PT, Lula aus dem Gefängnis heraus in die Kampgane einzubeziehen, um sicherzustellen, dass seine massive Zustimmung in der Bevölkerung auf Haddad übertragen wird. Bereits jetzt zeigen Meinungsumfragen, dass dessen Unterstützung zunimmt, obwohl ihm das Charisma von Lula bei der ArbeiterInnenklasse und den Unterdrückten fehlt. Zu bekannt ist auch noch seine Bilanz als Präfekt (Oberbürgermeister) von Sao Paulo.

Die Linke und die Wahlen

Wieder ist es nicht gelungen, eine einheitliche Front der Linken hinter einer/m einzigen KandidatIn für diesen Wahlkampf zu schaffen. Die PSOL (die linksreformistische „Partei für Sozialismus und Freiheit“), beschloss, Guilherme Boulos, den jungen Führer der MTST („Bewegung der wohnungslosen ArbeiterInnen“) als Kandidat für das Amt des Präsidenten vorzustellen und ein Bündnis mit der PCB (die alt-stalinistische „Kommunistische Partei Brasiliens“) einzugehen.

Es ist eine propagandistische Kandidatur, die darauf abzielt, AktivistInnen für die PSOL zu gewinnen und der brasilianischen Linken eine etwas linkere Richtung zu geben. Die Wahlplattform ist jedoch ebenso rein reformistisch ausgerichtet wie die der PT. Aber wie die vorangegangenen Kandidaturen zeigen Meinungsumfragen, dass sie wieder kaum die üblichen 1 % schaffen werden.

Die PCO (Partido da Causa Operária, eine größere zentristische Organisation) arbeitete bis zum letzten Moment mit dem Slogan „Lula oder gar nichts“, obwohl sie nicht am Wahlblock mit der PT teilnahm. Sie hat diese politische Linie fortgesetzt und ihre eigenen KandidatInnen für das Parlament aufgestellt. Sie hat sich nicht der Haddad/Manu-Kampagne angeschlossen.

Die PT hat nun die Haddad/Manu-Plattform gestartet, hatte aber zuvor wieder einmal einen bürgerlichen Bündnispartner gefunden: die PROS (Partido Republicano da Ordem Social – Partei des sozialen Republikanismus). Die PROS unterstützte jedoch den Putsch und stimmte für die arbeit„nehmer“Innenfeindliche Arbeitsreform. Außerdem unterstützt die PT in einigen Bundesstaaaten rechte KandidatInnen wie Renan Calheiros (MDB), Renan Filho (MDB), Eunício Oliveira (MDB) und Paulo Câmara (PSB). Damit missachtet die PT-Bürokratie die Entscheidungen ihrer Basis und Anhängerschaft mit der Begründung, dass solche Allianzen eine notwendige Taktik für den Sieg seien. Wir wissen, dass der wahre Grund ganz anders ist: Die PT-Bürokratie versucht, der Bourgeoisie zu zeigen, dass die Partei unter ihrer Kontrolle und nicht gefährlich für sie ist.

Die PSTU (Partido Socialista dos Trabalhadores Unificado), die der morenoistischen Organisation LIT-IV international angegliedert ist, hat eine skandalöse sektiererische Linie gegenüber den Parteien der ArbeiterInnenklasse eingeschlagen, die, wie so oft, zu grobem Opportunistismus gegenüber den Kräften der Bourgeosie geraten ist. Von Beginn der Anti-Dilma-Mobilisierungen an sowie nach dem Putsch favorisierte sie den Slogan „Weg mit Dilma, weg mit ihnen allen!“ und zeigte damit, dass sie bereit war, sich in eine vereinte Front mit der rechten Bourgeoisie zu stellen, um die PT zu zerstören. Diese gemeinsame Front setzt sich auch heute fort und dies wird durch die Tatsache deutlich, dass sie fordert, dass Lula inhaftiert bleiben muss. Sie hält die „Lava-Jato“-Verurteilungen für rechtmäßig. Diese ursprünglich zur „Korruptionsbekämpfung“ durchgeführte Justizkampagne (gegen die „Geldwaschanlage“ = „Lava-Jato“) ist inzwischen längst zu einer Waffe der Putschisten geworden, die hauptsächlich PT-PolitikerInnen verurteilen und verhaften.

Für eine Einheitsfront

Angesichts nicht nur eines parlamentarischen und juristischen Putsches sollten die Linken sich um eine gemeinsame Abwehrfront bemühen, um einen Sieg der ArbeiterInnenklasse zu erringen. Wir wissen, dass die Parteidifferenzen groß sind, aber sie dürfen nicht als Vorwand verwendet werden, sich einem gemeinsamen Kampf gegen die Rechte zu verweigern. Sicherlich muss die PT ihre Bündnisse mit den rechten Parteien, ihre Regierungen der Klassenversöhnung im Interesse der Bourgeoisie selbstkritisch bilanzieren – eine Politik, die letztlich den Putsch möglich machte, der diesen Rückschlag für die gesamte ArbeiterInnenklasse zur Folge hatte. Damit die immer noch von der PT geführte ArbeiterInnenklasse erfolgreich ist, muss sie gezwungen werden, endgültig mit den Parteien der rechten Putschisten zu brechen. Dies gilt auch für die PCdoB, die an allen PT-Regierungen beteiligt war, z. B. in Maranhão, wo sie die Regierung des Bundesstaates innehat.

Es ist unter diesen Bedingungen nicht verwunderlich, dass eine einheitliche Front der Linken für den Wahlkampf mit PSOL, PCB, PCdoB und PT nicht zustande gekommen ist. Die PT ist die Partei, die die weitaus größte ArbeiterInnenbasis hat, die wir trotz der Stärke ihrer (verräterischen) Bürokratie nicht in deren Händen lassen dürfen. Die Teilnahme der PT-Basis ist sehr wichtig für den Sieg der ArbeiterInnenklasse. Die PSOL erwies sich im Parlament als propagandistisch stark im Kampf gegen den Putsch, gegen Arbeitsreform und Outsourcing, während die PCB dort auch die Stärke und den Wert ihrer AktivistInnen auf der Straße zeigte. Diese Kräfte würden die PT-Bürokratie mit der Taktik der Einheitsfront viel besser bekämpfen, als sie es je durch Wahlkampfrivalität könnten. Was wir brauchen, ist die Einheit in der gemeinsamen Aktion mit dem Recht aller Parteien, ihre eigenen Programme vorzustellen und die ihrer Verbündeten zu kritisieren.

Wir in der Sozialistischen Liga haben argumentiert, dass linke Parteien eine Einheitsfront aufbauen müssen, um dem Staatsstreich und der reaktionären Rechten eine wirksame Abwehr entgegenzustellen und auch, um die Kombination aus militärischem Bonapartismus und Faschismus, deren Führer Jair Bolsonaro ist, besiegen zu können.

Die Wahlen und darüber hinaus

Wenn eine politische Kraft beschließt zu putschen, um die Macht zu übernehmen, hat sie sicherlich nicht die Absicht, sie nach zwei Jahren in diesem Wahlprozess aufzugeben. So kann man sicher sein, dass die Putschisten alles ihnen zur Verfügung Stehende tun werden, um über Jahre bzw. Jahrzehnte an der Macht zu bleiben.

Wir müssen bereit sein, uns auf widrigere Bedingungen des Kampfes für die ArbeiterInnenklasse einzustellen. Die Messerattacke auf den semi-faschistischen Präsidentschaftskandidaten Bolsonaro (der in den Umfragen führt) macht deutlich, dass Akte des individuellen Terrors jedoch nur der Reaktion nutzen. General Mourão, der Stellvertreter von Bolsonaro, hat bereits begonnen, die politische Linie zu bestimmen und kündigt an, dass er die Attacke zum Anlass für die Abrechnung mit der gesamten Linken nehmen wird. Teile der Bourgeoisie scheinen auch eine direkte Militärintervention für den Fall eines PT-Sieges zu überlegen. Entsprechende Äußerungen wurden bereits vom Oberkommandierenden der Streitkräfte getätigt. In diesem Fall kann nur die vereinte ArbeiterInnenklasse dagegen aufstehen.

Unser Kampf hört nicht mit dem Ende des Wahlprozesses auf. Im Gegenteil, er wird sich danach intensivieren – unabhängig davon, wer gewinnt. Wir müssen die ArbeiterInnenklasse organisieren, indem wir Widerstandskomitees an Arbeitsplätzen, Schulen, in Nachbarschaften usw. bilden.

Wir müssen den Wahlkampf nutzen, um die verschiedenen Sektoren der ArbeiterInnenklasse im Kampf um die Stimmen, aber auch um ihre Rechte und demokratischen Freiheiten zu organisieren.

In diesem Sinne fordern wir die PT und die PCdoB auf, mit der rechten Putschpolitik zu brechen und ihre Anhängerschaft für einen größeren Kampf zu organisieren, die Straßen des Landes zu besetzen und den Kampf für eine gerechte und egalitäre Gesellschaft zu gewährleisten. Wir erkennen die Bedeutung anderer linker Parteien im Kampf gegen den Putsch und gegen Angriffe auf die Rechte der ArbeiterInnenklasse an und wir fordern auch PCB, PSOL und PCO auf, sich in diesem Kampf mit der PT und PCdoB zusammenzuschließen. Wir befinden uns an einem entscheidenden Moment im Klassenkampf.

Die Sozialistische Liga bei den Wahlen

Dieser Wahlkampf ist ganz anders als die vorangegangenen, auch wenn man den letzten berücksichtigt, als der Wahlausgang zwischen Aécio Neves (PSDB) und Dilma Rousseff (PT) sehr knapp war. In diesem Wahlkampf unternehmen die Putschisten natürlich alle Anstrengungen, um an der Macht zu bleiben. Wenn wir jede Anstrengung sagen, beziehen wir uns auf alle Methoden, einschließlich der schmutzigsten und gewalttätigsten. Andererseits ist die Reaktion der Massen auf die Putschisten klar. Aber wir brauchen mehr, wir müssen die ArbeiterInnenklasse für einen größeren Kampf vereinen, gegen die Putschisten und gegen den Imperialismus, der sich durch den Putsch bereichert.

Der Halbfaschist Jair Bolsonaro, der sich nun als Märtyrer ausgeben kann, führt jetzt die Umfragen an. Dies ist ein Mann, der die Regime der Militärdiktatur von 1964-1985 lobt, der die Demokratie offen verspottet und die Militärbasen im ganzen Land bereist, um ihre Unterstützung zu gewinnen. Er wäre eindeutig bereit, durch einen direkten Militärputsch an die Macht zu kommen, der den bisherigen „konstitutionellen Putsch“ wie ein Picknick aussehen ließe. Aber wenn er die Zustimmung der Bevölkerung zu einer Wahl mit dem Spektrum der rechtsbürgerlichen Parteien hinter sich gewinnen könnte, wäre dies natürlich ein großer Vorteil für ihn, sobald er eine massive Repression gegen die ArbeiterInnen und die plebejischen Massen entfesseln würde. Er könnte behaupten, es sei eine legitime Vorgehensweise, die von „dem Volk“ gebilligt wurde. Die militärisch-bonapartistische Seite seiner Politik ist damit klar. Aber es gibt auch eine andere an Bolsanaro, nämlich das Schüren von blankem Rassismus gegen „nicht-weiße“ BürgerInnen, das Aussprechen von Hassparolen und sogar Morddrohungen gegen die Militanten und die FührerInnen der Linken, insbesondere der PT. Frauen und auch LGTB-Menschen müssen mit repressiven und patriarchalischen Politiken rechnen, die sie um Jahrzehnte zurückwerfen werden. All dies zielt darauf ab, eine reaktionäre plebejische Massenbasis auf den Straßen für den Einsatz gegen die ArbeiterInnenklasse zu mobilisieren. So ist Bolsonaro eine semi-faschistische und semi-bonapartistische Figur.

Was auch immer der genaue Charakter seines Regimes sein mag, wir können sicher sein, dass er einen regelrechten Bürgerkrieg gegen die ArbeiterInnenklasse, die armen Bauern und Bäuerinnen sowie die indigene Bevölkerung auslösen würde, um ihre Organisationen zu zerstören. Es ist von entscheidender Bedeutung, ihn und das Spektrum der rechten Parteien, die ihn unterstützen, zu bekämpfen, eine gemeinsame Front des Kampfes aller Parteien der Linken, aller Organisationen der ArbeiterInnenklasse zu bilden. Die Wahl selbst ist Teil dieses Kampfes, aber sie ist weder der Anfang noch das Ende. Der Wahlkampf sollte genutzt werden, um die Alarmglocken in jedem Teil der Massen zu läuten, um sie bei den Demonstrationen und Kundgebungen, an den Arbeitsplätzen und in den Favelas zu mobilisieren.

Als Teil dieses Kampfes und um die Vereinigung der Massenmitgliedschaft von PT, CUT (der PT nahestehende Gewerkschaftsdachverband) und MST (der PT nahestehende Bewegung der Landlosen) mit den Kräften der Linken zu erleichtern, empfehlen wir eine Stimmabgabe für die Präsidentschafts- und VizepräsidentschaftskandidatInnen der PT/PCdoB. Gleichzeitig werden wir ihre Schwäche und Ausflüchte im Kampf gegen die Rechte kritisieren und die PT-Basis auffordern, diese zu korrigieren und so viel Kontrolle wie möglich in ihre eigenen Hände zu nehmen.

Bei den (gleichzeitig für die Hälfte der Sitze stattfindenden) Wahlen zu den beiden Kammern des Parlaments hingegen empfehlen wir in jedem Wahlkreis eine Stimme für die Partei, die die Mehrheit der organisierten ArbeiterInnen hinter sich hat, sofern sie sich dem Staatsstreich widersetzt und die einheitliche Front der ArbeiterInnen unterstützt hat. Sowohl bei den Präsidentschafts- als auch bei den Parlamentswahlen vermitteln wir eine starke Botschaft der Einheit der ArbeiterInnenklasse, um die Rechte zu besiegen, die demokratischen Errungenschaften wiederherzustellen und zu verteidigen und den Weg zu einer ArbeiterInnenregierung zu ebnen. Eine ArbeiterInnenregierung muss die Macht des bürgerlichen Staatsapparates brechen und den Apparat der Unterdrückung zerstören, alle Verletzungen demokratischer Rechte aufheben und rückgängig machen und die Bedürfnisse der Massen befriedigen, indem sie große soziale Maßnahmen vorantreibt. Diese sollten aus der Besteuerung des Vermögens der Reichen und der großen imperialistischen Banken und Unternehmen bezahlt, das Großkapital entschädigungslos und unter ArbeiterInnenkontrolle enteignet und ein demokratischer Plan zur Befriedung der Bedürfnisse der Massen ausgearbeitet werden.

Deshalb: keine Stimme für den Putsch! Keine Stimme für Parteien, die für die Arbeitsreform und das Outsourcing stimmten. Wir sollten sowohl in der ersten als auch in der zweiten Runde für den PT/PCdoB-Präsidialblock stimmen trotz all unserer Kritik, denn sein Sieg würde die Putschisten in ein Dilemma bringen. Sie müssten entweder mit einem groß angelegten militärisch-faschistischen Staatsstreich an die Öffentlichkeit gehen, zu einer Zeit, in der die Massen bereits in Millionenstärke gegen sie mobilisiert wurden, oder sie müssten sich wieder in ihre Löcher zurückschleichen.

Bei den Parlamentswahlen stimmen wir für die Parteien, die sich zur Verteidigung der ArbeiterInnenklasse zusammengeschlossen haben. In diesem turbulenten Szenario von Angriffen auf demokratische Freiheiten, Rechte und Errungenschaften und angesichts der faschistischen Bedrohung plädieren wir dafür, dass die ArbeiterInnenklasse für die diejenigen Linken in PT, PCdoB, PSOL, PCB und PCO stimmt, die gegen den Putsch und gegen die Angriffe der Putschregierung kämpfen.

  • Stoppt den Putsch von rechts und Bolsonaro!
  • Komitees des Widerstands am Arbeitsplatz und Selbstverteidigungseinheiten der ArbeiterInnen!
  • Auf die Straße zur Verteidigung unserer Rechte und Errungenschaften!
  • Gegen die Rentenreform und für den Widerruf aller anderen Angriffe der Putsch-Regierung!