Neujahrserklärung der Chinesischen Revolutionären Sozialist:innen (Trotzkist:innen)

Chinesische Revolutionäre Sozialist:innen (Trotzkist:innen), 30. Dezember 2023, Infomail 1240, 1. Januar 2024

Wir veröffentlichen die folgende Erklärung in Solidarität mit ihren Verfasser:innen und als Beitrag zur Entwicklung revolutionärer Gruppen in China.

Das Jahr 2023 geht zu Ende und die Welt steht vor einer Krise, die möglicherweise tiefer ist als die Finanzkrise von 2008. Der russisch-ukrainische Krieg ist noch nicht beendet. Der Lebensstandard der Arbeiter:innenklasse in den europäischen und amerikanischen Ländern ist von der höchsten Inflation seit Jahrzehnten betroffen. Der palästinensisch-israelische Konflikt droht den gesamten Nahen Osten in einen Krieg zu stürzen, während die ohnehin schon schwachen Volkswirtschaften der meisten Länder der Dritten Welt unter dem Doppelschlag von Pandemien und geopolitischen Rivalitäten am Rande des Bankrotts stehen.

In China verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage, und das parteistaatliche System steuert stetig auf Instabilität zu. Die zwangsläufig ungleiche Entwicklung des Kapitals innerhalb Chinas in Verbindung mit den Verzerrungen der bürokratischen Kontrolle haben nicht nur zu sinkenden Wachstumsraten, sondern auch zu Spaltungen innerhalb der herrschenden bürokratischen Kaste geführt. Zu einem solchen historischen Zeitpunkt ist es nach Ansicht der chinesischen Trotzkist:innen an der Zeit, ihre Ansichten, Grundsätze und Positionen zur chinesischen Revolution öffentlich zu machen, sich von den Programmen der Maoist:innen (Mao-Linken) und der Liberalen abzugrenzen und die Strategie und Taktik für die bevorstehende Massenbewegung zu klären.

Als aufrichtige Marxist:innen-Leninist:innen halten wir diese Wahrheit für selbstverständlich, dass aufeinanderfolgende Produktionsweisen die menschliche Produktivität bis zu dem Punkt gesteigert haben, an dem ihre eigenen sozialen Strukturen eine weitere Entwicklung unmöglich machten. Damit die Produktion ein höheres Niveau erreichen konnte, mussten diese sozialen Strukturen in einer sozialen Revolution umgestürzt werden. Der Kapitalismus, der die Produktivkräfte bis zu einem globalen System der wirtschaftlichen Produktion entwickelt hat, hat nun den Punkt erreicht, an dem seine soziale Struktur die Gesellschaft vor die Alternative Sozialismus oder Barbarei stellt. Das Ziel des Sozialismus ist Freiheit, Gleichheit und die nachhaltige Entwicklung der Menschheit, und um diesem Ziel zu dienen, soll die Arbeiter:innenklasse, die selbst das Produkt des modernen Kapitalismus ist, die bürgerliche Staatsmaschinerie zerschlagen und durch einen Arbeiter:innenstaat ersetzen, um das kapitalistische System zur Erzielung von Profit zu stürzen und es durch eine Planwirtschaft zur Befriedigung der Bedürfnisse zu ersetzen, die den Weg zu einer staatenlosen und klassenlosen kommunistischen Gesellschaft ebnet.

Die Herrschaft von demokratisch rechenschaftspflichtigen Arbeiter:innenräten ist das entscheidende Merkmal eines Arbeiter:innenstaates, der den Weg zum Sozialismus und Kommunismus eröffnen kann. Dieses grundlegende Axiom des Marxismus wurde erstmals aus den Erfahrungen der Pariser Kommune von 1871 formuliert und von den Bolschewiki in der Russischen Revolution von 1917 weiterentwickelt. Es wurde durch die Erfahrungen der Sowjetunion, Chinas und der anderen degenerierten Arbeiter:innenstaaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind und von denen keiner in der Lage war, seine Wirtschaft auf ein höheres Niveau als die fortgeschrittenen imperialistischen Staaten zu entwickeln, auf der negativen Seite bestätigt.

Die Kommunistische Partei Chinas (im Folgenden KPCh) war bei ihrer Gründung 1921 eine echte revolutionäre Arbeiter:innenpartei. Dennoch sah sich die KPCh infolge der falschen Führung durch die stalinistische Dritte Internationale und der historischen Niederlage des chinesischen Proletariats im Jahr 1927 mit ungeheuer harten Bedingungen konfrontiert, als alle städtischen Arbeiter:innenorganisationen und die Vorhut vernichtet wurden. Weit davon entfernt, ihre soziale Basis in der Arbeiter:innenklasse aufrechtzuerhalten, war die KPCh gezwungen, auf dem konservativen und rückständigen Land zu überleben, und rekrutierte ihre Soldat:innen aus der revolutionären Bauern- und Bäuerinnenschaft. Der Klassencharakter der Partei änderte sich allmählich in qualitativer Hinsicht. Als Mao Zedong und die Rote Armee 1936 in Yan’an (Yenan) eintrafen, war die KPCh bereits zu einer konterrevolutionären Partei einer militärisch-bürokratischen Kaste geworden, die bereit war, ihre Macht um jeden Preis zu verteidigen. Hier entstand der Maoismus, der „Stalinismus mit chinesischen Merkmalen“.

1949 kam die KPCh an der Spitze einer Volksfront an die Macht, deren ursprüngliches Programm eine längere Periode der kapitalistischen Entwicklung vorsah. Als sich dies als unmöglich erwies, stürzte die KPCh, die in der Staatsbürokratie verwurzelt war, die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und schuf einen degenerierten Arbeiter:innenstaat. Obwohl die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse durch bürokratische Maßnahmen umgestürzt worden waren, wurde der Fortschritt hin zu qualitativ höheren Produktionsniveaus und sozialer Gleichheit durch die Herrschaft einer bürokratischen Kaste verhindert. Der Übergang zum Sozialismus erforderte daher den Sturz der KPCh durch eine politische Revolution.

Heute, 30 Jahre nach dem Beschluss der KPCh von 1992, den Kapitalismus wiederherzustellen, hat sich der Klassencharakter Chinas von einem kapitalistischen Land zu einem imperialistischen kapitalistischen Land mit globalen Ambitionen entwickelt. Die Aufgabe des chinesischen Proletariats ist daher nicht mehr die politische Revolution, sondern die soziale Revolution – mit anderen Worten, die proletarische Revolution müsste sowohl der Einparteiendiktatur als auch den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen, die vom Parteistaat verteidigt und gefördert werden, ein Ende setzen.

In der Epoche des Imperialismus – dem höchsten und letzten Stadium des Kapitalismus – sind die objektiven Voraussetzungen für eine proletarische Revolution überall auf der Welt reif. Die Geschichte zeigt jedoch immer wieder, dass die subjektiven Bedingungen für eine Revolution ebenso wichtig sind wie die objektiven. Deshalb verkünden wir, die chinesischen Trotzkist:innen, auf der Grundlage der Prinzipien und Erfahrungen des Bundes der Kommunist:innen, der Ersten Internationale, des linken Flügels der Zweiten Internationale, der Dritten Internationale in der Ära Lenins und der Vierten Internationale in der Ära Trotzkis den Bürger:innen in China und der Welt die folgenden 10 Punkte als unsere Haltung:

1. Nieder mit der bürokratischen Diktatur! Abschaffung der „führenden Rolle“ der KPCh.

China ist ein kapitalistisches Land, wir fordern die sofortige Anerkennung aller demokratischen Forderungen, die mit dem Kapitalismus vereinbar sind, wie Vereinigungs-, Rede-, Bewegungsfreiheit, das Recht, unabhängige Gewerkschaften und Parteien zu bilden. Die öffentliche Verwaltung ist notwendig, aber die bürokratische Herrschaft ist es nicht: Alle Parteikomitees und Posten der KPCh in allen Bereichen des Lebens, in der Wirtschaft, in der Politik und im sozialen Bereich müssen aufgelöst werden. Die bürokratische Herrschaft hat die grundlegende Spaltung der Gesellschaft zwischen den Arbeiter:innen und der Kapitalist:innenklasse verschleiert, die die bürokratische Herrschaft unterstützt, solange sie die Kapitalakkumulation garantiert. Kein Vertrauen in die Kapitalist:innen und ihre Verbündeten im Kampf für die Rechte der Arbeiter:innen.

2. Für die Wahl von Betriebsausschüssen, die dann als Grundlage für Arbeiter:innenräte sich aus abwählbaren Delegierten zusammensetzen.

Aufgrund des Charakters des stalinistischen Regimes würde jede unabhängige Organisierung der Arbeiter:innenklasse sofort in Konflikt mit dem Staatsapparat geraten, welches Problem auch immer ihre Mobilisierung auslösen mag. In allen Betrieben und Fabriken sind die demokratisch gewählten betrieblichen Ausschüsse aller Arbeiter:innen die oberste Instanz. Die im Betriebsrat sitzenden Abgeordneten müssen jederzeit von einer Vollversammlung abberufen werden können. Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses, Offenlegung aller Management-Informationssysteme, Bücher und Konten zur Kontrolle durch die Arbeiter:innendeputierten.

Fabrikausschüsse sollen die Arbeiter:innenkontrolle in allen Aspekten der Produktion durchsetzen, einschließlich der Gewährleistung des Streikrechts und des Vetorechts gegen Entscheidungen der Unternehmensleitung – ob es um Löhne, Arbeitsbedingungen oder Entlassungen geht. Gegen die Privatisierung des Bankwesens und der staatlichen Monopolindustrien! Für Arbeiter:innenkontrolle über die People’s Bank of China (Chinesische Zentralbank), die Enteignung aller Geschäftsbanken und ihre Zusammenlegung zu einer einzigen Staatsbank, ein wesentlicher Schritt zur Einführung einer demokratischen Planung, die von einem staatlichen Planungsrat überwacht wird, wie es sowohl Lenin als auch die sowjetische linke Opposition in den frühen 1920er Jahren vorschlugen! Für Arbeiter:innenkontrolle über die staatlichen Industrien, einschließlich, aber nicht beschränkt auf Energie, Wasser, Elektrizität, Telekommunikation, Eisenbahn, Luftfahrt und Mineralien.

3. Außerhalb des Arbeitsplatzes muss das Proletariat unabhängige Gewerkschaften als zentrales Element seiner Klassenorganisation haben.

Entweder durch die Umgestaltung der bestehenden „staatlichen“ Gewerkschaften oder Schaffung neuer Gewerkschaften in der demokratischen Bewegung müssen unabhängige Gewerkschaften ihren Mitgliedern gegenüber rechenschaftspflichtig sein und von ihnen kontrolliert werden. Gewerkschaftsfunktionär:innen müssen von den Gewerkschaftsmitgliedern direkt gewählt und abwählbar sein; die „führende Rolle der Partei“ wird abgeschafft; Gewerkschaftsfunktionär:innen erhalten das Durchschnittsgehalt ihrer Mitglieder.

4. Gegen die Zensurgesetze der KPCh-Bürokratie sollten die Lohnabhängigen selbst entscheiden, was sie veröffentlichen wollen.

Unterstützung der freien Verbreitung aller literarischen und künstlerischen Werke. Öffnung des Zugangs zu Presse, Zeitungen, Radio und Fernsehen für alle Arbeiter:innenorganisationen und unabhängigen Gewerkschaften. Beseitigung der Zensur in den sozialen Medien und Abschaffung der Internetzensur Great Firewall. Die Arbeiter:innen sollen das Recht haben, ohne staatliche Einmischung über jede Art von Gesetzgebung zu diskutieren. Wahl von Richter:innen und Prozessen an Arbeiter:innengerichten.

5. Die Freiheit aller werktätigen Schichten, politische Parteien zu gründen, das Recht jeder Gruppe von Arbeiter:innen und Klein:bäuerinnen, bei jeder Wahl ihre eigenen Kandidat:innen aufzustellen.

Alle Einwohnner:innen haben das Recht, politische Parteien zu gründen, die die demokratischen Rechte respektieren (und damit die Faschist:innen ausschließen). Transparente Wahl der jederzeit abberufbaren Dorfbevollmächtigten. Offenlegung der Buchführung und Konten jedes Dorfes. Vollständige Entschädigung der Opfer von Landbeschlagnahmungen und illegalen Landverkäufen. Wahl ländlicher Räte, die von einer bäuerlichen Miliz bewacht werden und die über die Nutzung der kollektiven Landressourcen, das Verkehrswesen, den Betrieb öffentlicher Einrichtungen und den Umweltschutz entscheiden werden. Widerstand gegen die Privatisierung von Grund und Boden in den Städten und auf dem Land. Forderung nach kostenlosen Krediten für Landwirt:innen zum Kauf von Maschinen und Düngemitteln sowie nach Anreizen für einzelne Bewirtschafter:innen, sich Genossenschaften sowie Versorgungs- und Vermarktungsgemeinschaften anzuschließen. Kontrolle großer kapitalisierter Unternehmen durch die Beschäftigten, die sich seit der Privatisierung der Kolchosen und Produktionsgenossenschaften im Zuge der Reform von Deng Xiaoping entwickelt haben. Aufbau moderner staatlicher Großbetriebe als Modell für die freiwillige Umstellung der individuellen/familiären Landwirtschaft. Massive Investitionen zur Verbesserung der kostenlosen Gesundheitsversorgung, des Verkehrswesens und der kulturellen Dienstleistungen in ländlichen Gebieten. Bereitstellung von kostenlosem öffentlichem Wohnraum für Landlose. Schrittweise Beseitigung des Stadt-Land-Gefälles durch die „Kombination von Land- und Industriearbeit“. Abschaffung des Systems der „Landfinanzierung“ und entschädigungslose Verstaatlichung des Immobiliensektors. Bereitstellung von angemessenem und kostenlosem öffentlichem Wohnraum für Familien mit geringem Einkommen.

6. Im Zuge der Revolution werden die Polizei, die bewaffnete Polizei und die nationale Sicherheitsbehörde aufgelöst und durch ein Komitee für öffentliche Sicherheit nach dem Vorbild der Tscheka in der frühen Sowjetära ersetzt.

Wie die Erfahrungen des Arabischen Frühlings zeigen, werden Revolutionen in autoritären Ländern mit demokratischen Forderungen beginnen, können aber nur dann erfolgreich sein, wenn sie über das demokratische Stadium hinausgehen, die Soldat:innen von ihrem Oberkommando lösen und Teile von ihnen für die Revolution gewinnen. Das Massaker von Tian’anmen hat auch gezeigt, dass selbst bei einer Spaltung innerhalb der Bürokratie, wenn die dominierende Fraktion noch immer die Streitkräfte kontrolliert, diese zur Abwehr von Volksaufständen eingesetzt werden. In dieser Hinsicht besteht der Kern des revolutionären Programms daher darin, die Versammlungs-, Organisations- und Meinungsfreiheit der Soldat:innen zu unterstützen und ihre eigenen Befehlshaber:innen in Soldat:innenausschüsse zu wählen, die dann zum Soldat:innenrat werden.

Alle Arbeiter:innen erhalten eine militärische Ausbildung, bewaffnen sich und organisieren sich in betriebseigenen Milizen als Hüter:innen von Arbeiter:innenräten. Aufhebung des Gesetzes über die nationale Sicherheit in Hongkong. Sofortige Einführung des allgemeinen Wahlrechts. Einberufung verfassunggebender Versammlungen sowohl auf Provinz- als auch auf nationaler Ebene. Die Bestimmungen des Grundgesetzes über die Beziehungen zwischen der Region Hongkong und den Zentralbehörden werden der verfassunggebenden Nationalversammlung zur Überprüfung oder Änderung vorgelegt. Abschaffung der Todesstrafe. Für die bedingungslose Freilassung aller politischen Gefangenen.

7. Für die Rätedemokratie.

Um die bürokratische Diktatur zu stürzen, muss die Arbeiter:innenklasse ihre eigenen Mittel zur Ausübung der Staatsgewalt schaffen. Die unabhängigen Organisationen, die im Kampf gegen die Bürokratie entstanden sind, die Fabrikkomitees, müssen zu Arbeiter:innenräten (Sowjets) zusammengefasst werden. Die Sowjets werden die Arbeiter:innenklasse und ihre Verbündeten aus der armen Landbevölkerung organisieren, um einen Massenaufstand gegen den bürgerlichen Staat durchzuführen. Der Arbeiter:innenrat hat sowohl exekutive als auch legislative Funktionen. Der Arbeiter:innenrat und der Soldat:innenrat werden zusammengelegt, um die Sowjetregierung (Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung) als Form der proletarischen Diktatur zu bilden. Die Sowjetregierung setzt ein Preisüberwachungskomitee ein, das die Qualität und die Preise von Konsumgütern überwacht und die gleitende Skala der Löhne sicherstellt. Schaffung einer landesweiten Arbeitslosengewerkschaft, um den Arbeitslosen eine Berufsausbildung zu ermöglichen und die vorhandenen Arbeitsplätze anteilig auf die gesamte Erwerbsbevölkerung aufzuteilen.

8. Nieder mit jeder Art von sozialer Unterdrückung.

Ein typisches Merkmal der stalinistischen Regime ist, dass die Frauenbewegung und die Bewegung zur Befreiung der Homosexuellen tagtäglich von der Bürokratie unterdrückt und sogar verfolgt werden. In der Sowjetunion bedeutete die politische Konterrevolution der 1920er Jahre nicht nur die Errichtung einer bürokratischen Diktatur über Wirtschaft und Politik, sondern auch die Rückgängigmachung der nach 1917 eingeführten Reformen zur Bekämpfung der sozialen Unterdrückung. Der enorme Beitrag der Oktoberrevolution zur Befreiung der Homosexuellen und Frauen ist seit langem völlig zunichtegemacht worden. Reaktionäre Gesetze und Moralvorstellungen wurden wieder eingeführt. Überall in China verstärkte die stalinistische Bürokratie das bürgerliche Familienkonzept und diktierte weiterhin die Größe der Familie nach den unmittelbaren wirtschaftlichen Bedürfnissen. Die Restauration des Kapitalismus und die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen seit den 1990er Jahren haben die Unterdrückung der Frauen erheblich verschärft, und die chinesischen Frauen sind gezwungen, die dreifache Last von Arbeit, Haushalt und Kindererziehung zu tragen. Gleichzeitig wird die Jugend in Schulen und Klassenzimmern mit dem „Sozialismus mit chinesischen Merkmalen in der neuen Ära von Xi Jinping“ indoktriniert, und sie wird nicht nur durch eine reaktionäre patriotische Moral getäuscht, sondern auch ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung beraubt. In diesem Zusammenhang sollten wir die folgenden Forderungen aufstellen:

  • Sozialisierung der Hausarbeit und Einrichtung von 24-Stunden-Kinderkrippen. Verbot der geschlechtsspezifischen Diskriminierung bei Einstellungen und Zulassungen. Kampf für eine unabhängige proletarische Frauenliga. Umfangreiche Investitionen und Ausbau von Frauenhäusern, Waisenhäusern, öffentlichen Kantinen und Wäschereien, kostenlosen Kliniken usw.

  • Aufhebung aller aufgezwungenen Familienpläne. Abschaffung der „Bedenkzeit für die Scheidung“ und vollständige Freigabe des Scheidungsrechts. Härtere Strafen für Unzucht mit Kindern, Frauen- und Kinderhandel und Vergewaltigung.

  • Gleichstellung von LGBTIAQ-Personen. Gegen Belästigung und Gewalt aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Ausrichtung.

  • Unterstützung der demokratischen Kontrolle von Schulen und Bildungssystemen durch Schüler:innen, Eltern, Lehrer:innen und Psycholog:innen. Erhöhung der Investitionen in die Bildung durch Erlass aller Studiengebühren, Honorare und Kosten für Unterkunft und Verpflegung von der Grundschule bis zur Universität, unabhängig von der Nationalität. Jugendverbände werden von keiner politischen Partei reguliert und üben die Kontrolle über ihre eigenen Kultur-, Verlags- und Verbreitungsorgane aus.

  • Abschaffung der Zensur, die der Jugend den Zugang zum bestehenden kulturellen Erbe der Welt verwehrt. Dies wird nur ihren Intellekt und ihren Kampfgeist schwächen und sie zum Opfer reaktionärer Ideen machen.

  • Abschaffung der Diskriminierung junger Menschen in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit für Auszubildende, Zeitarbeiter:innen und Festangestellte.

9. Das Recht der unterdrückten Völker auf Selbstbestimmung ist ein absolutes und unbedingtes demokratisches Recht, das die Stalin-Maoist:innen jedoch ständig leugneten.

Trotz des föderalen Charakters Sowjetrusslands seit seiner Gründung behielt der Stalinismus, wie auch bezüglich anderer Aspekte der politischen Praxis der bolschewistischen Partei, die Form bei und beraubte sie ihres revolutionären Inhalts. In der Sowjetunion und in allen degenerierten Arbeiterstaaten, die folgten, waren weder der föderale Charakter (UdSSR und Jugoslawien) noch der Einheitsstaat (China) unter dem Deckmantel der „autonomen Regionen“ eine freiwillige Föderation der Völker, sondern ein gemeinsames Gefängnis für alle Völker.

Der Marxismus vertritt die Auffassung, dass die Nation ein neuzeitliches politisches Konzept ist, das aus der Bildung eines gemeinsamen Marktes im Prozess der kapitalistischen Entwicklung unter Berücksichtigung einer Reihe von Faktoren wie Geographie, Sprache, religiöse Überzeugungen usw. hervorgegangen ist. Daher bildet das Territorium Chinas während der dynastischen Periode ungeachtet seiner Grenzstreitigkeiten und historischen Veränderungen keine Quelle der Legitimität für den Anspruch auf „souveräne Integrität“. Im 19. und 20. Jahrhundert, in dieser kritischen Phase der nationalen Formierung in der kapitalistischen Entwicklung, haben Xinjiang (Sinkiang), Tibet und Taiwan entweder ihre Unabhängigkeit erklärt oder sich für lange Zeit von China abgespalten und sollten unter den Bedingungen der nationalen Formierung das Recht auf Selbstbestimmung genießen.

Nachdem die KPCh 1949 an die Macht gekommen war, marschierte die Volksbefreiungsarmee in Xinjiang und Tibet ein und beraubte die beiden ethnischen Gruppen ihres Selbstbestimmungsrechts. Seit den 1990er Jahren erlebten die Gebiete der ethnischen Minderheiten aufgrund der sozialen Konterrevolution, die durch die Restauration des Kapitalismus ausgelöst wurde, den Aufstieg religiöser Ideologien und Nationalismen. Wie die sozialen Gegenrevolutionen, die in anderen Bereichen des nationalen Lebens stattfanden, führte die Wiederherstellung des Kapitalismus einerseits zu separatistischen Gefühlen und andererseits zu eskalierenden Konflikten zwischen der von der KPCh unterstützten Han-Bevölkerung und den ethnischen Minderheiten. In den letzten Jahren ist Xinjiang zum typischsten Fall geworden.

Die proletarische Revolution muss zunächst das Selbstbestimmungsrecht der indigenen Bevölkerung in Xinjiang und Tibet anerkennen, was das Recht auf Abspaltung durch ein Referendum einschließt. Vor allem, welche Form der Selbstbestimmung das sein könnte und ob sie dieses Recht ausüben wollen, hängt vom Willen der Indigenen ab. Dies ist nicht nur prinzipiell richtig, sondern auch in der Praxis die einzige Möglichkeit, die Spannungen zwischen der Han-Mehrheit und ethnischen Minderheiten aufgrund staatlicher Unterdrückung abzubauen. Daher ist die nationale Selbstbestimmung der einzige Weg, um die Unterstützung des Proletariats der nationalen Minderheiten für die chinesische Revolution zu gewinnen.

In der Zwischenzeit müssen alle Sozialist:innen, ob Han-Chines:innen oder ethnische Minderheiten, die Bildung einer sozialistischen Föderation Asiens fordern, der die Mitgliedsstaaten freiwillig beitreten und wieder austreten können, und dass Han-Chines:innen, die sich im Rahmen des staatlichen Kolonialprogramms in Xinjiang und Tibet niedergelassen haben, das Recht haben zu wählen, ob sie bleiben und sich gemeinsam mit den ethnischen Minderheiten entwickeln oder in ihre Heimat im chinesischen Stammland zurückkehren wollen, unabhängig von der Zukunft von Xinjiang und Tibet.

Die Forderungen der Sozialist:innen lauten:

  • Auflösung des Produktions- und Baukorps von Xinjiang.

  • Abzug der in Tibet stationierten Truppen.

  • Freilassung aller Uigur:innen und Abschaffung der „Umerziehungslager“.

  • Für Religionsfreiheit, Freiheit der einheimischen Sprachen und Kultur.

  • Für das Recht auf nationale Selbstbestimmung.

  • Lang lebe eine Föderation der asiatischen Arbeiter:innenstaaten!

10. Eine Rückkehr zum proletarischen Internationalismus von Lenin und Trotzki.

Westliche Sozialist:innen haben die Auflösung der NATO, der Weltbank und des IWF gefordert, während chinesische Sozialist:innen die Auflösung der Asiatischen Infrastrukturinvestitionsbank (AIIB), den Erlass aller Schulden der Entwicklungsländer, die Abschaffung der Gürtel- und Straßeninitiative (Neue Seidenstraße) und die kostenlose Schenkung von Infrastrukturprojekten in Afrika und Südostasien an die lokale Bevölkerung fordern. In Ländern, die zu Halbkolonien des chinesischen Imperialismus geworden sind (z. B. Pakistan), sollten alle Truppen von den Militärbasen in Übersee abgezogen, alle ungleichen Privilegien abgeschafft und ein Plan zur Kompensation der durch die Verlagerung von Produktionskapazitäten verursachten Umweltschäden angekündigt werden. Anerkennung der Souveränität eines Arbeiter:innenstaates bei der Festlegung der Kontrolle und Entwicklung der chinesischen Unternehmen in Übersee. Abschaffung der Geheimdiplomatie. Offenlegung aller mit dem Ausland abgeschlossenen Geheimverträge. Verurteilung des vom russischen Imperialismus geführten Krieges in der Ukraine. Hände weg von Taiwan. Aufhebung aller Sanktionen oder Gegensanktionen. Ablehnung aller Militärausgaben des Parteienstaates. Verurteilung des israelischen Siedlerkolonialismus und Unterstützung eines einheitlichen, säkularen und sozialistischen Staats in Palästina. Stopp der offiziellen Fremdenfeindlichkeitspropaganda und der militärischen Aufrüstung mit nuklearen oder konventionellen Waffen. Volle und gleiche Rechte für ausländische Einwohner:innen. Abgabe der revolutionären Erklärung an die Regierungen aller Länder und Aufruf zur Weltrevolution.

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Am Vorabend der Amerikanischen Revolution im Jahr 1776 schrieb Thomas Paine: „Die Sache Amerikas ist in hohem Maße die Sache der gesamten Menschheit. Viele Umstände sind eingetreten und werden eintreten, die nicht lokal, sondern universell sind und durch die die Prinzipien aller Menschenfreund:innen betroffen werden und an deren Zustandekommen ihre Zuneigung interessiert ist.“ Heute ist die Sache des chinesischen Proletariats in erster Linie auch die Sache der gesamten Menschheit, weil der internationale Charakter einer proletarischen Revolution natürlich die Grenzen des bürgerlichen Nationalstaates überwindet und die chinesische Revolution ein Glied in der Weltrevolution und im Übergang zu einer sozialistischen Weltföderation sein wird. Obwohl die chinesische Bourgeoisie derzeit ihre eigenen Gründe hat, sich dem Parteistaat zu widersetzen, und die Republik China als Banner für eine „demokratische Revolution“ benutzen kann, kann die chinesische Revolution eine echte Revolution sein, wenn und nur wenn sie in einer Machtergreifung durch das Proletariat endet.

Trotzki hat bei der Erläuterung des philosophischen Denkens von Marx und Engels einmal darauf hingewiesen: „Die Menschheit hat die dunklen spontanen Kräfte aus der Sphäre der Produktion und der Ideologie vertrieben und die barbarischen Konventionen durch Wissenschaft und Technik ersetzt. Die Ersetzung der Religion durch die Wissenschaft, die zur Renaissance und Reformation des 15. und 16. Jahrhunderts führte, war das Streben nach intellektueller Rationalität; und dann vertrieb die Menschheit das Unbewusste aus der Politik und stürzte die Monarchie und die Hierarchie durch ein demokratisches, rein rationalistisches parlamentarisches System und dann ein völlig transparentes Sowjetsystem. Es war das Streben nach politischer Rationalität, das mit den bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts begann und in der Oktoberrevolution kulminierte; und schließlich schlugen die blinden, spontanen Kräfte die tiefsten Wurzeln in den wirtschaftlichen Verhältnissen – aber dort trieb die Menschheit diese mit der sozialistischen Wirtschaftsorganisation aus, was alles ermöglichte, die wirtschaftliche Rationalität zu erreichen.“

Das Besondere an China ist, dass es ein Land ist, in dem keine der drei Rationalitäten – ideologisch, politisch, wirtschaftlich – verwirklicht wurde, und daher muss die Mission der proletarischen Revolution die Kombination aller drei sein.

Folglich müssen alle Revolutionär:innen, die die oben genannten Forderungen unterstützen, zunächst in einer einzigen Partei organisiert werden. Eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei muss demokratischen Zentralismus praktizieren – „ein Mitglied – eine Stimme“ für ihre Mitglieder und volle Freiheit in der Diskussion, wobei die Minderheit der Mehrheit gehorchen muss, Demokratie in der Entscheidungsfindung und absolute Disziplin in der Durchführung von Aktionen. Wie Lenin betonte, muss eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei als Vorhut der Arbeiter:innenklasse den Organisationsgrad, die Moral und das Bewusstsein des Proletariats durch jeden einzelnen Kampf anheben, bis sie in der Lage ist, die gesamte Klasse durch einen Aufstand zum Sturz des bürgerlichen Staates zu führen und eine Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung einzusetzen. Jede Arbeiter:innenpartei darf daher ihre Regierung nur durch die Erringung der Mehrheit der Sitze im Arbeiter:innen- und Soldat:innenrat bilden und niemals den Parteiapparat selbst als Regierungsmacht betrachten. Um die revolutionären Bewegungen jenseits der Grenzen zu fördern, zu koordinieren und zu vereinigen, rufen wir schließlich zu einer neuen Revolutionären Internationale auf, die auf dem demokratischen Zentralismus basiert, als Weltpartei für die sozialistische Revolution.

Obwohl wir derzeit eine winzige Minderheit innerhalb des chinesischen Proletariats von insgesamt 400 Millionen sind, obwohl wir der Feindschaft der zweitgrößten imperialistischen Macht und eines völlig totalitären KPCh-Staates gegenüberstehen, glauben wir, dass das chinesische Proletariat in seiner gerechten Macht den absoluten Sieg davontragen wird. Am Vorabend des Neujahrs 2024 bitten wir die kämpferischen Arbeiter:innen zu Hause und in der ganzen Welt, unseren Forderungen Gehör zu schenken und unseren Aktionen zu folgen.

  • Arbeiter :innen und Unterdrückte aller Länder, vereinigt euch!

  • Lang lebe die chinesische Revolution!

  • Lang lebe die Weltrevolution!



Entstehung, Programm, Praxis – zum Charakter der Linkspartei

Martin Suchanek, Neue Internationale 279, Dezember 2023 / Januar 2024

Die Gründung der Partei DIE LINKE 2007 geht auf die Fusion von „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG) und der „Partei des demokratischen Sozialismus“ (PDS) zurück. Sie bildete eine Antwort auf die Agenda 2010, auf die sozialdemokratische Dominanz und den Verrat der SPD an der Arbeiter:innenklasse, der auch im Verhältnis zwischen dieser und Lohnarbeiter:innen eine nachhaltige Zäsur bedeutete.

Das Positive daran war sicherlich eine Erschütterung des SPD-Monopols auch in den Gewerkschaften, die – anders als bei den Grünen in den 1980er Jahren – nicht zur Bildung einer „radikalen“ kleinbürgerlichen, später offen bürgerlichen Alternative zur SPD führte, sondern zur Entstehung einer zweiten reformistischen Partei.

Mit Gründung der Linkspartei ist eine zweite, im Grunde linkssozialdemokratische Partei entstanden. Andererseits war DIE LINKE selbst nie mehr als eine Partei zur Reform und Bändigung des Kapitalismus – und wollte auch nicht mehr sein.

Entstehung

Das verdeutlichte bereits ihre Entstehung. Die PDS war trotz ihres parlamentarischen Überlebens eine schrumpfende Partei, die nur in den neuen Bundesländern und Berlin über einen Massenanhang verfügte. Die Mitgliedschaft betrug 1990 noch 285.000 Mitglieder, 1991 172.579 und im Jahr 2006, also vor Fusion mit der WASG, 60.338.

Die ehemalige PDS-Mitgliedschaft wies bei der Fusion einige Besonderheiten in der Sozialstruktur auf, die davon herrühren, dass sie aus der Partei der ehemals herrschenden Bürokratie der DDR hervorging und die dort politisch absolut dominierende gewesen war.

Mehr als 60 Prozent der PDS-Mitglieder waren 2006 älter als 65 Jahre, also Rentner:innen. Die jüngeren sind es jedoch, die im Apparat der Partei, in den Stiftungen, Landtagen, Kommunen usw. als Funktionär:innen tätig sind. Zweitens lag der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an der Parteimitgliedschaft in der PDS mit 37 Prozent deutlich unter jenem der SPD (57 Prozent). Drittens verfügten 54 % der PDS-Mitglieder über einen Hochschulabschluss gegenüber 33 Prozent bei der SPD, während umgekehrt nur 30 % die Schule mit einem  Hauptschulabschluss oder ohne Schulabschluss absolviert hatten – ein extrem geringer Prozentsatz für eine Massenpartei, die sich sozial auf das Proletariat stützt, 2006 auch extrem gering gegenüber 40 Prozent bei der SPD und 50 Prozent in der Gesamtbevölkerung.

Die PDS war zwar auch immer eine reformistische, bürgerliche Arbeiter:innenpartei. Aber anders als die SPD stützte sich ihre organische Verankerung kaum auf die Gewerkschaften. Diese wurde vielmehr über den Einfluss in anderen Massenorganisationen wie der Volkssolidarität, Mieter:innenvereinigungen, lokalen Verbänden sowie eine historisch gewachsene Verbindung zu den akademisch gebildeten Schichten der ostdeutschen Lohnabhängigen gebildet. Dazu kam ein Massenanhang auch unter sozial schlechter gestellten Teilen der Arbeiter:innenklasse, insbesondere auch Arbeitslosen im Osten.

Das wirkliche neue politische Phänomen bei der Fusion stellte die WASG dar. Diese war ein Resultat der Massenproteste und Mobilisierungen gegen die Angriffe der rot-grünen Regierung – Agenda 2010 und Hartz-Gesetze – und der damit verbundenen Krise der SPD.

Auch beim Blick auf die WASG ist jede nachträgliche Idealisierung fehl am Platz. Schon der Name „Wahlalternative“ war instruktiv dafür, worin die Praxis der zukünftigen Partei bestehen sollte. Zweitens war die WASG von Beginn an von einem „traditionalistischen“ Flügel der reformistischen Gewerkschaftsbürokratie, ihren akademischen Wasserträger:innen und ehemaligen SPD-Funktionär:innen um Lafontaine dominiert und geführt.

Für diese, die WASG von Beginn an prägende und dominierende Strömung war immer auch klar, wie eine zukünftige neue Partei der „sozialen Gerechtigkeit“ aussehen müsste. Sie sollte eine Wahlpartei sein, die im Zusammenspiel mit den Gewerkschaften und deren Führungen sowie anderen, vom Reformismus dominierten sozialen Bewegungen (z. B. attac, Friedensbewegung) v. a. an der Wahlurne einen „Politikwechsel“ erzwingt, eine Partei, deren Ziel die Verteidigung oder Wiedererrichtung des „Sozialstaates“ war.

Die WASG litt jedoch an einem inneren Widerspruch, der die reformistische Führung umtrieb und beunruhigte und zugleich das klassenkämpferische Potenzial der neuen Partei zum Ausdruck brachte. Die WASG zog nämlich als Mitglieder nur wenige Bürokrat:innen an, sondern vor allem Arbeitslose und Aktive aus den sozialen Bewegungen. Sie war eine Partei der Hartz-IV-Bezieher:innen; von Arbeitslosen, die damals mit 345 (West) bzw. 331 (Ost) Euro plus Wohngeld über die Runden kommen mussten. In vielen Städten machten diese die Hälfte der Mitgliedschaft oder mehr aus.

Auch wenn diese Schicht der Mitgliedschaft viele der Illusionen in den „Sozialstaat“, den Parlamentarismus und die Möglichkeit einer „Reformpolitik“ teilte, so wollte sie eine aktive Partei bilden, die für die Belange der Arbeitslosen und anderer Unterdrückter und Ausgebeuteter kämpft.

Die WASG war zwar von Beginn an eine bürgerliche Arbeiter:innenpartei. Doch die vorherrschende Bürokrat:innenclique verfügte noch nicht über einen starken, verlässlichen Apparat. Noch hatte sich in ihr kein stabiles Verhältnis zwischen Führung und Basis herausgebildet, das in langjährig etablierten reformistischen Parteien fast automatisch die Gefolgschaft der, meist passiven, Mitglieder sicherstellt. Die WASG hingegen war eine reformistische Partei mit einer außergewöhnlich aktiven Mitgliedschaft, was aus ihrer Verbindung zur Arbeitslosenbewegung herrührt.

Für die PDS und heute DIE LINKE oder die SPD war und ist es normal, dass die überwältigende Mehrheit der Mitglieder außer der Beitragszahlung nichts oder wenig tut, zu keinen Versammlungen erscheint oder, wo sie es tut, dort mehr oder weniger passiv agiert und die Vorgaben von oben abnickt. Das stärkt die Führung und das ist im Grunde auch so gewollt. Die aktiven Mitglieder reformistischer Parteien sind in der Regel die Funktionär:innen der Partei bzw. Funktionsträger:innen des bürgerlichen Staates oder korporatistischer Gremien wie Betriebsräten, von Sozialverbänden oder ähnlichem. Und genau diesen „Normalzustand“ einer bürgerlichen Partei – und eine solche, wenn auch besondere Form ist auch eine bürgerliche Arbeiter:innenpartei – wollten die Spitzen von WASG und PDS mit der Fusion zur Linkspartei bewusst herbeiführen.

Das haben sie mit der Fusion mit der PDS auch geschafft. Von den 12.000 WASG-Mitgliedern machte nur etwas mehr als die Hälfte die Fusion mit. Viele widersetzten sich der bürokratischen Fusion und der Regierungspolitik der PDS, die vor allem in Berlin katastrophal war. Den Höhepunkt erlebte diese Rebellion der Bewegungsbasis in der Kandidatur der Berliner WASG gegen die PDS 2006, wo die PDS 9,2 % der Stimmen verlor und auf 13,4 % absackte. Die Berliner WASG konnte einen Achtungserfolg mit 3,8 % der Erststimmen und 2,9 % der Zweitstimmen (40.504) verbuchen.

Dieser Erfolg der WASG und die Formierung des Netzwerks Linke Opposition (NLO) brachten das Potential eines Bruchs und einer weiteren Radikalisierung zum Ausdruck, der jedoch auch daran scheiterte, dass ein Teil der Linken, die den Wahltritt in Berlin unterstützt hatten, vor dieser Perspektive zurückschreckte und, allen voran die SAV, in den Schoß der Linkspartei zurückkehrte. Neben linken Fusionsgegner:innern blieben v. a. die Arbeitslosen, die unteren Schichten der Arbeiter:innenklasse, der neuen Partei fern.

Die Entstehung 2007 verdeutlicht auch das reale Verhältnis der Partei zu sozialen Bewegungen. Diese sind solange willkommen, als sie der Partei Mitglieder und Wähler:innen zutragen – nicht jedoch als eigenständiger Faktor, der der Spitze gefährlich werden und die Partei real zu einem Instrument von Klassenbewegungen von unten machen könnte.

Außerdem konnte DIE LINKE diese Verluste durch ein scheinbar stetes Wachstum und Wahlerfolge von 2007 – 2010 leicht kompensieren. Abgesehen von Bayern überwand sie in diesem Zeitraum bei allen westdeutschen Landtagswahlen die 5 %-Hürde. Auch im Osten fuhr DIE LINKE Rekordergebnisse ein, so 2009 in Thüringen (27,4 %) und Brandenburg (27,2 %). Bei den Bundestagswahlen 2009 brachte sie es auf 11,5 % (gegenüber 8,7 % 2005) und 76 Abgeordnete.

Bei ihrer Gründung 2007 hatte DIE LINKE insgesamt 71.711 Mitglieder in 16 Landesverbänden. In den Folgejahren stieg die Zahl auf 75.968 (2008) und 78.046 (2009). 2010 schrumpfte die Mitgliedschaft jedoch um fast 5.000 auf 73.658. Seither ist die Mitgliederzahl der Partei, wenn auch mit einzelnen Ausnahmen, stetig rückläufig. 2023 beträgt sie nur noch 55.000.

Programm und Strategie

Dem reformistischen Charakter der Partei entsprachen von Beginn an ihre programmatischen, strategischen Vorstellungen.

Das Programm der Partei DIE LINKE (Programmatische Eckpunkte, angenommen 24./25. März 2007) trug von Beginn an die Handschrift des keynesianischen, auf die Gewerkschaftsbürokratie und die Arbeiter:innenaristokratie orientierten Mehrheitsflügels der Partei. Als strategisches Ziel der Partei verortet es einen „Politikwechsel“, gestützt auf das Erringen einer „antineoliberalen gesellschaftlichen Hegemonie“.

DIE LINKE bekennt sich in den programmatischen Eckpunkten ihres Gründungsparteitages 2007 ausdrücklich zum freien Unternehmer:innentum. Dort heißt es: „Gewinnorientiertes unternehmerisches Handeln ist wichtig für Innovation und betriebswirtschaftliche Leistungsfähigkeit.“ (S. 3) Der Staat habe nur dafür zu sorgen, dass dieses im kreativen Überschwang nicht über die Stränge schlage und gegen das Gemeinwohl verstoße.

Dahinter steht die alte reformistische Mär, dass der Gegensatz von Kapital und Arbeit im Rahmen der kapitalistischen Verhältnisse durch die Intervention von Staat und Politik, wenn schon nicht überwunden, so erfolgreich abgemildert werden könne – was wiederum impliziert, dass „der Staat“ kein Instrument zur Sicherung zur Herrschaft der Bourgeoisie wäre, sondern über dem Klassengegensatz stünde.

Dabei ist den Strateg:innen der LINKEN durchaus klar, dass eine einfach Mehrheit im Parlament, ein Parteienbündnis von LINKEN und SPD (und evtl. den Grünen) nicht ausreicht, um die Sabotage jeder fortschrittlichen Maßnahme durch die herrschende Klasse, die Manipulation der öffentlichen Meinung durch die monopolisierten bürgerlichen Medien usw. abzuwehren.

Marx, Lenin und alle anderen revolutionären Marxist:innen haben daraus und aus der Aufarbeitung der Klassenkämpfe und Revolutionen seit Beginn der bürgerlichen Epoche den Schluss gezogen, dass das Proletariat – will es sich befreien, will es dem kapitalistischen Ausbeutungssystem ein Ende setzen – den bürgerlichen Staat nicht einfach übernehmen, nicht auf eine „Regulierung“ des Kapitalmonopols an den Produktionsmitteln hoffen darf, sondern die herrschende Klasse enteignen, den bürgerlichen Staatsapparat zerschlagen und durch die Herrschaft der in Räten organisierten bewaffneten Arbeiter:innenklasse ersetzten muss.

DIE LINKE schlägt hier einen ganz anderen, wenn auch nicht gerade originellen Weg vor. Eine „Reformregierung“ müsse sich auf die „gesellschaftliche Hegemonie“ stützen – sprich darauf, dass auch die „weitsichtigen“ und „sozialen“ Teile der herrschenden Klasse für eine Politik des Klassenausgleichs gewonnen werden müssen.

Eine solche Politik bedeutet notwendigerweise eine Unterordnung der LINKEN unter einen Flügel der herrschenden Klasse, eine Garantie für das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Es bedeutet notwendig eine staatstragende Politik der „Opposition“.

Der Partei schwebt eine Marktwirtschaft ohne große Monopole und Konzerne vor, ein Sozialismus auf Basis von Warenproduktion und pluralen Eigentumsverhältnissen.

DIE LINKE erkennt zwar die Existenz von Klassen und auch des Klassenkampfes an – aber nicht dessen Zuspitzung. Der Kampf für Sozialismus oder eine andere Gesellschaft durch die Linkspartei ist für die Alltagspraxis allerdings weitgehend fiktiv, eine Worthülse. Das drückt sich auch im Sozialismusbegriff aus. Dieser wird nicht als bestimmte Produktionsweise, sondern vor allem als Wertegemeinschaft verstanden. So heißt es im Grundsatzprogramm von 2011:

„Wir wollen eine Gesellschaft des demokratischen Sozialismus aufbauen, in der die wechselseitige Anerkennung der Freiheit und Gleichheit jeder und jedes Einzelnen zur Bedingung der solidarischen Entwicklung aller wird.“

Dieser Anklang an Marx ist allerdings auch schon alles, was mit dessen Vorstellung von Sozialismus/Kommunismus und dem Weg dahin zu tun hat. Anstatt einer Revolution als Vorbedingung zur Entwicklung gen Kommunismus sieht der Programmentwurf einen „längere(n) emanzipatorische(n) Prozess (vor), in dem die Vorherrschaft des Kapitals durch demokratische, soziale und ökologische Kräfte überwunden wird und die Gesellschaft des demokratischen Sozialismus entsteht.“ Der Boden des bürgerlich-demokratischen Systems ist ihr als politisches Terrain heilig, die sozialistische Revolution lehnt sie ab.

Das bedeutet aber auch, dass sie die Maßnahmen zur Verwirklichung ihrer Ziele und Version dieses Sozialismus durch Regierungsbeteiligungen herbeiführen muss. Wo die Linkspartei an der Regierung ist, gestaltet sie die bestehenden Verhältnisse mehr oder minder sozial mit. Dabei akzeptiert sie die Institutionen des bürgerlichen Systems als unüberschreitbaren Rahmen linker Politik, der allenfalls durch einzelne Reformen zu erweitern wäre.

Das entscheidende Problem dieser Konzeption liegt im Verständnis von Klassenkampf und Staat. Der bürgerliche Staat wird als Mittel zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse begriffen, als Terrain des Klassenkampfes, nicht als Staat des Kapitals, als Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie.

Der Unterschied zum Marxismus besteht dabei nicht darin, dass der Kampf um Reformen und für demokratische Rechte abzulehnen wäre. Er besteht auch nicht darin, dass nicht auch Kämpfe auf staatlichem Terrain ausgetragen werden können und müssen, sondern in der Annahme, dass diese den Klassencharakter des bürgerlichen Staats aufheben könnten. Die Transformationsstrategie begreift ihn als ein ein zu reformierendes Instrument gesellschaftlicher Veränderung hin zum Sozialismus.

Das findet sich auch im noch heute gültigen Grundsatzprogramm von 2011, dem angeblich linken „Erfurter Programm“ wieder:

„DIE LINKE kämpft in einem großen transformatorischen Prozess gesellschaftlicher Umgestaltung für den demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Dieser Prozess wird von vielen kleinen und großen Reformschritten, von Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe gekennzeichnet sein.“

Auch wenn hier nebulös von Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe gesprochen wird, so bleibt folgendes Kernproblem: Die Transformationsstrategie löst die Dialektik von Reform und Revolution so auf, dass die Revolution als eine in die Breite gezogene, bloß tiefer gehende, grundlegendere und langwierige Reform verstanden wird. Die Revolution bildet dann im Grunde nur eine Fortsetzung ewiger Reform- und Transformationsbemühungen.

Kommunistische Politik betrachtet die Frage gerade umgekehrt. Die Revolution stellt einen Bruch dar, ein qualitativ neues Moment, eine grundlegende Veränderung der Machtverhältnisse. So wichtig einzelne Reformen auch sein mögen, so zeichnet sich eine revolutionäre Veränderung durch die Machteroberung einer bisher ausgebeuteten Arbeiter:innenklasse aus. Dabei ist aber nicht die Transformation des bürgerlichen Staates kennzeichnend, sondern vielmehr umgekehrt das Zerbrechen oder Zerschlagen dieses Apparates. Die Herrschaftsinstrumente des Kapitals werden ersetzt durch qualitativ neue vorübergehende Formen politischer Herrschaft, die Räteherrschaft der Arbeiter:innenklasse, also die Diktatur des Proletariats anstelle der des Kapitals.

Vor diesem Hintergrund wird auch die Begrenztheit einer in der Linkspartei gern geführten Debatte zwischen linkem und rechtem Flügel ersichtlich, zwischen kommunaler/parlamentarischer Regierungsarbeit und Bewegungslinker/Parteiapparat. Die gesamte Transformationsstrategie verspricht zwar eine Verbindung dieser, stößt aber unwillkürlich selbst auf das Problem, dass eine bürgerliche Regierung auch mit der Linkspartei eine solche bleibt. D. h., die Partei muss dann notwendigerweise an der Regierung gegen die Interesse der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten handeln und jene der herrschenden Klasse vertreten – oder sie müsste mit ihrem gesamten Konzept brechen. Die Transformationsstrategie, die in der realen Regierungspraxis ohnedies keine Rolle spielt, erfüllt im realen Leben im Grunde nur die Aufgabe einer Rechtfertigungsideologie für die bestehende Praxis.

Wohin das Konzept der Linkspartei führt, zeigt sich an den Regierungen selbst, wenn sie teilweise aktiv in Bewegungen ist. Auch dort nimmt es eine zwiespältige Haltung an, z. B. in der Wohnungspolitik Berlins. Dort wird DWE unterstützt, aber die rot-roten Regierungen hatten mehr Wohnungen privatisiert als jede andere. Wo DIE LINKE regiert, erfüllt sie auch alle repressiven Aufgaben des Staates – z. B. regelmäßige Abschiebungen von Geflüchteten auch in Berlin oder Thüringen etc. Über diese Leichen im Keller spricht die Linkspartei nicht gerne. Dabei bilden sie das notwendige Resultat ihrer Realpolitik.

Selbst wo die Partei noch längst nicht Regierungsfunktionen ausübt, präsentiert sie sich allzu oft als staatstragend. So z. B. der Spitzenkandidat Bartsch, als er an einer Solidaritätskundgebung mit Israel während der Bombardierung von Gaza teilnahm.

Diese alles andere als sozialistischen Politiken sind keine Warzen im demokratisch-sozialistischen Gesicht der Linkspartei, sondern notwendige Folgen ihrer politischen Konzeption. Sie liegen in der Logik einer Partei, die den Kapitalismus nicht überwinden, die Herrschaft der Bourgeoisie nicht brechen, den bürgerlichen Staat nicht zerschlagen, sondern mit verwalten und transformieren will.

Programmatische Methode

Dies erfordert jedoch nicht nur eine Ablehnung, sondern auch eine Kritik der Methode des Programms. Allgemein fällt bei diesem auf, dass es zwar viele Forderungen inkludiert, aber vollkommen unklar ist, welchen Stellenwert sie für die Praxis und Strategie der Partei haben. Dieses Manko ist jedoch durchaus typisch für reformistische Organisationen. Schließlich will die Parteiführung nicht gern an den eigenen Versprechen gemessen werden. Sie will freie Hand haben und sich nicht mit Forderungen ihrer Mitglieder und Anhänger:innen konfrontiert sehen, welche die Erfüllung der Versprechen einfordern und Rechenschaft verlangen könnten.

Insgesamt offenbart der Entwurf ein Programmverständnis, das methodisch im Reformismus und Stalinismus wurzelt. Es ist vom Programmtyp her ein Minimal-Maximal-Programm, d. h. der Sozialismus als „historisches Endziel“ steht – trotz der scheinbaren Verbindung durch einen  längeren „transformatorischen Prozess“ – unverbunden neben (oft durchaus richtigen) Alltagsforderungen. Die Kämpfe um höhere Löhne, gegen Sozialabbau, Hartz IV, Krieg, Aufrüstung usw. sind aber nicht mit dem Ringen um den Sozialismus verwoben. Der Sozialismus ist als Losung im Grunde hier nichts anderes als das Amen in der Sonntagspredigt.

Anstelle eines Minimal-Maximal-Programms bräuchte es ein Programm von Übergangsforderungen. Ein solches müsste soziale, gewerkschaftliche und demokratische Kämpfe gegen Krise, Krieg und Rassismus mit der Perspektive der Machtergreifung der Arbeiter:innenklasse verbinden. Diese käme allerdings nicht etwa dadurch zustande, dass Forderungen wie „Gegen Entlassungen! Für Verstaatlichung!“ usw. einfach mit der Losung „Für Sozialismus!“ ergänzt werden. Dazu wäre es nötig, dass die Selbstorganisation der Klasse gefördert wird, dass sie sich eigene Machtpositionen und -organe im Betrieb, im Stadtteil und letztlich in der Gesellschaft erkämpft. Solche Forderungen sind z. B. jene nach Arbeiter:innenkontrolle über Produktion, Verteilung, Verstaatlichung, Sicherheitsstandards usw. Es sind Forderungen nach Streikkomitees, die von der Basis direkt gewählt und ihr verantwortlich sind; zur Schaffung von Streikposten, Selbstverteidigungsorganen, Preiskontrollkomitees usw. bis hin zu Räten, Arbeiter:innenmilizen und einer Arbeiter:innenregierung, die sich auf die Mobilisierungen und Kampforgane der Klasse stützt.

Diese – und nur diese – Übergangsmethodik würde programmatisch das repräsentieren, was Marx über den Sozialismus sagte: dass er die „wirkliche Bewegung“ ist und nicht etwa nur eine „Vision“ oder „Utopie“, wie es DIE LINKE gern formuliert. Diese Elemente fehlen in deren Programm völlig.

Dieser sicher nicht nur für diese Partei typische Mangel bedeutet konkret, dass die Arbeiter:innenklasse in ihrem Kampf über das, was sie als Führungen und Strukturen vorfindet, nie bewusst und gezielt hinauskommt. Es bedeutet, dass das Proletariat letztlich den reformistischen Parteien, Gewerkschaftsapparaten, Betriebsräten, dem Parlamentarismus oder, noch schlimmer, den spontan vorherrschenden bürgerlichen Ideologien dieser Gesellschaft ausgeliefert bleibt.

Das Fehlen von Übergangsforderungen bedeutet, dass die Klasse sich in ihrem Kampf bürgerlichen Strukturen und Ideen unterordnet. Gemäß der LINKEN soll also die gesellschaftliche Dynamik zur Überwindung des Kapitalismus in den Bahnen der alten Gesellschaft, also zu den Bedingungen der Bourgeoisie erfolgen. Daran ändern auch ein paar Volksentscheide oder ein bisschen mehr „Mitbestimmung“ nichts.

Methodisch wurzelt all das letztlich in einer undialektischen Sichtweise von Geschichte und Klassenkampf. Das Prinzip des Minimal-Maximal-Programmes entspricht der Vorstellung von gesonderten, nicht miteinander verbundenen Etappen der Revolution bzw. des historischen Prozesses allgemein. Wie im Stalinismus, der die Revolution auf die demokratische Phase beschränkte, geht es auch der LINKEN um begrenzte Reformen. Dass selbst diese objektiv oft eine Dynamik Richtung Sozialismus annehmen, selbst die Umsetzung grundlegender bürgerlich-demokratischer Aufgaben im imperialistischen Zeitalter nur durch das Proletariat und unter dessen Führung errungen und durch den Sturz der Bourgeoisie gesichert werden kann, bleibt der LINKEN ein Buch mit sieben Siegeln.

Das marxistische Programmverständnis hingegen geht vom aktuellen Stand des internationalen Klassenkampfes aus und unterbreitet Vorschläge, wie dieser – also Aktion, Bewusstsein und Organisierung – vorangebracht werden kann. Das impliziert auch, konkret zu benennen, welche Kampfformen, Konzepte, Organisationen und Führungen den Kampf behindern, schwächen oder falsch orientieren und wie die Klasse den Einfluss dieser Faktoren überwinden kann.

Das Programm der Linkspartei entspricht deren reformistischem Charakter. Es entspricht den politischen Zielen der zentralen Teile des Apparates und des Funktionärskörpers, der sie dominiert, entspricht der tagtäglichen realen parlamentarischen Praxis, ob nun als Regierung oder Opposition, und auch den gelegentlichen Ausflügen und Interventionen in Bewegungen und linke Gewerkschaftsmilieus, als deren Vertretung sich DIE LINKE betätigt. Das alles sollte niemanden überraschen, zumal die Spitzen der Linkspartei aus ihrem Reformismus auch nie ein Geheimnis gemacht haben.

Umso erstaunlicher und beschämender ist jedoch, dass große Teil der Linken in der Linkspartei jahrelang diese Tatsachen schönredeten. So verkannten sie die Annahme des Erfurter Programm 2011 als „Erfolg“ der Linken in der Partei, weil es den Regierungssozialist:innen angeblich „rote Haltelinien“ bei der Regierungsbeteiligung auferlegt hätte. Christine Buchholz (damals marx21, heute Sozialismus von unten) und Sahra Wagenknecht freuten sich damals noch gemeinsam über das Programm. Gegenüber der Jungen Welt erklärte Buchholz: „Die Art und Weise, wie die Debatte gelaufen ist, stimmt mich da sehr zuversichtlich: Wir haben am Wochenende eine konstruktive Diskussion gehabt, nach der es weder Sieger noch Besiegte gibt. Ich persönlich bedaure z. B., dass unsere ‚Haltelinien‘ geschwächt sind, andere kritisieren andere Punkte – aber die Richtung stimmt.“

Wer solche „Siege“ erringt, braucht keine Niederlagen. Auch die AKL gab sich damals „insgesamt zufrieden“. Am kritischsten äußerte sich noch die SAV. Sie bemängelte zwar „Aufweichungen“ des Programms, lobte aber dessen grundsätzlich richtige „antikapitalistische Stoßrichtung“.

Stagnation, Krisen und Niedergang

Nach den Wahlerfolgen der Anfangsjahre trat freilich Ernüchterung ein, die sich in stagnierenden und fallenden Mitgliederzahlen und Wahlniederlagen widerspiegelte, in Flügelkämpfen und seit 2022 in einer existenziellen Krise.

Dabei formierten sich auch die politischen Flügel teilweise neu. Lange Zeit bildeten die ostdeutschen Realos den sog. Hufeisenflügel mit den angeblichen linken Wagenknecht-Anhänger:innen. Demgegenüber formierte sich die sog. Bewegungslinke, die ihrerseits ein strategisches Bündnis mit den Regierungssozialist:innen gegen Wagenknecht einging – natürlich alles zum Wohl der Partei und ihres Überlebens. Doch dürfen bei diesem allgemeinen Niedergang wichtige Veränderungen der Parteizusammensetzung und Wähler:innenbasis nicht übersehen werden.

Rund 60 % ihrer Mitglieder sind erst nach 2011 eingetreten, die ehemaligen PDS-Genoss:innen sind längst zu einer kleinen Gruppierung geworden. 15 % der Mitglieder sind unter 35. Dies ist mehr als bei jeder anderen Bundestagspartei und stellt auch einen Zuwachs seit Parteigründung dar. Zugleich stellen die Altersgruppen der 50- – 64-Jährigen und der 65- – 79-Jährigen je 27 % der Mitglieder. Die Linkspartei ist vergleichsweise schwach unter der Altersgruppe von 36 – 49 vertreten.

Die Linkspartei hat wichtige Schichten und die Bindekraft zu Arbeitslosen, ärmeren Teilen der Klasse und auch des Kleinbürger:innentums im Osten an die AfD verloren. Dies ist zweifellos Resultat von Regierungspolitik und Anpassung, aber auch eines Rechtsrucks und einer Demoralisierung von Teilen der Lohnabhängigen selbst.

DIE LINKE hat massiv Mitglieder, Verankerung und Wähler:innen in der Fläche im Osten verloren. Ihre, wenn auch oft geschwächte Mitglieder- und Wähler:innenbasis kommt aus Großstädten sowie Städten und Ortschaften zwischen 5.000 und 20.000 Einwohner:innen. In Kleinstädten und auf dem Dorf ist sie wenig bis gar nicht vorhanden. Zugleich hat sie im Westen eine stärkere Verankerung in der Arbeiter:innenklasse und der Jugend (und somit über längere Zeit auch bei jüngeren Lohnabhängigen) gewonnen. So entspricht der Anteil von „Arbeiter:innen“ unter den Berufstätigen 17 %, der von Angestellten 67 % (darunter 35 % im öffentlichen Dienst). Gleichzeitig dominiert noch immer ein überdurchschnittlich hoher Schulabschluss und Bildungsniveau unter den Mitgliedern, während der Anteil von Arbeitslosen und Auszubildenden geringer als in anderen Parteien ist. Das drückt sich auch in veränderten Größen der Landesverbände und einem stärkeren Gewicht im Westen aus.

Diese Verschiebungen verweisen auch darauf, dass die Linkspartei in den Gewerkschaften und Betrieben, also in der organisierten Arbeiter:innenklasse stärker geworden ist, und zwar deutlich mehr, als dies bei Wahlen zum Ausdruck kommt. Von den Mitgliedern her stützt sich die Partei vor allem auf die mittleren und bessergestellten urbanen Schichten der Lohnabhängigen. Sie verfügt also über eine für eine reformistische Partei eher typische stärkere Verankerung in der Arbeiter:innenaristokratie als unter der Masse des Proletariats.

Die betrieblichen und unteren gewerkschaftlichen Funktionsträger:innen betreiben zwar nicht einfach dieselbe Politik wie der sozialdemokratisch dominierte Apparat, aber sie fordern diesen nicht heraus, zumal ihre reformistische Politik natürlich auch im Rahmen tarifvertraglicher und sozialpartnerschaftlicher Regulierung bleibt. Die Linkspartei betreibt z. B. eine aktive Politik, ihre jüngeren AnhängerInnen aus den Unis in den Gewerkschaftsapparat zu schicken (z. B. über Organizing- und Trainee-Programme) und so ihre Verankerung zu stärken. Auch die Konferenz zur gewerkschaftlichen Erneuerung, die DIE LINKE zuletzt im Mai 2023 in Bochum mit 1.550 Teilnehmer:innen organisierte, belegt einen gewachsene Verankerung im Gewerkschaftsapparat und unter betrieblichen Funktionär:innen.

Sie hat in den letzten Jahren an Verankerung in sozialen Bewegungen gewonnen, wenn auch nicht ohne Rückschläge und eher indirekt, also über die Zusammenarbeit, informelle Bündnisse mit Teilen der radikalen Linken (IL, Antifa) und Migrant:innenorganisationen (einige kurdische Vereine, Teile von Migrantifa). Der Beitritt von etlichen hundert Menschen aus dem „linksradikalen“ Milieu im November 2023 belegt diesen Trend.

Grundsätzlich kann aber gesagt werden, dass in den letzten 4 – 5 Jahren die Zuwächse im Westen die Verluste im Osten nicht mehr ausgleichen. Die Partei stagniert oder verliert fast überall. Das bildet letztlich auch den Boden für die innere Krise einer parlamentarisch fixierten reformistischen Partei, die um ihr Überleben als solche kämpft.

Dominanz der Funktionär:innenschicht

Über der sozialen Basis und den Mitgliedern und Wähler:innen erhebt sich ein Funktionär:innenapparat, der die Partei führt und prägt. Die Tätigkeit der aktiven Mitglieder ist wesentlich auf Vertretung in kommunalen, regionalen Strukturen, Ländern, Bund vertreten. DIE LINKE verfügt über 6.500 kommunale und sonstige Abgeordnete, über 200 Parlamentarier:innen und hauptberufliche Mitarbeiter:innen. Allein die Zahl der Kommunalpolitiker:innen, darunter hunderte Bürgermeister:innen, beläuft sich auf über 5.000 und diese sind vor allem im Osten tätig.

Der Stiftung der Partei beschäftigt natürlich auch vom Staat gesponsorte hauptamtliche Funktionär:innen – und diese bald in jedem Bundesland. Hinzu kommt noch ein Parteiapparat im Bund und allen Ländern. Wenn man all dies addiert, so kommt die LINKE auf mehrere hundert, wenn nicht tausend hauptamtliche Funktionär:innen, die Einkommen direkt aus dem Parteiapparat oder staatlichen Vertretungsorganen beziehen. Andere erhalten bloß Aufwandsentschädigungen. Hier sind noch gar nicht jene Abteilungen der Arbeiter:innenbürokratie in der LINKEN mitgezählt, die ihre Einkünfte aus anderen Quellen – dem Gewerkschaftsapparat oder als freigestellte Betriebsräte – beziehen.

All diese machen einen selbst für eine bürgerliche Partei untypisch hohen Anteil der Funktionär:innen an der aktiven Mitgliedschaft aus – von Funktionär:innen, die fest in die Tagesgeschäfte des bürgerlichen Systems eingebunden sind, und zwar nicht nur oder nicht einmal in erste Linie in Landesregierungen, sondern vor allem auf der kommunalen Ebene, wo die parteiübergreifende Zusammenarbeit noch viel pragmatischer geregelt wird, wo Klassenzusammenarbeit tägliches Brot darstellt und somit auch eine feste Basis für den Reformismus auf „höheren“ Ebenen abgibt. Diese Funktionär:innen machen insgesamt über 10 % der Mitgliedschaft aus. Ziehen wir in Betracht, dass die Mehrheit der Mitglieder passiv ist, am regelmäßigen Parteigeschehen nicht teilnimmt, so dominiert diese Schicht im Grunde alle größeren Strömungen der Partei. Der Unterschied besteht dann eher darin, mit welchen Milieus (Kommunalpolitik, gewerkschaftliches Organizing, soziale Bewegungen und NGO-artige Kampagnen) sie verbunden sind.

Selbst wo die Partei noch längst nicht Regierungsfunktionen ausübt, präsentiert sie sich allzu oft staatstragend. So z. B. bei der Solidaritätskundgebung mit Israel im Bundestag.

Taktik

Angesichts der aktuellen Angriffe und des gesellschaftlichen Rechtsrucks stellt DIE LINKE weiter eine organisierte Kraft der Arbeiter:innenklasse dar, die zur gemeinsamen Aktion aufgefordert, der gegenüber auf verschiedenen Ebenen (bis hin zur kritischen Wahlunterstützung) die Taktik der Einheitsfront angewandt werden muss. Aber wir dürfen uns dabei keine Illusionen über den Charakter der Partei machen und müssen uns vergegenwärtigen, dass sie nicht nur eine aktive Minderheit der organisierten Arbeiter:innenklasse vertritt, sondern zugleich auch ein Hindernis für den Aufbau einer wirklichen Alternative, einer revolutionären Arbeiter:innenpartei darstellt.

Daher muss die Anwendung einer Einheitsfronttaktik Hand in Hand mit einer marxistischen Kritik und dem Kampf für eine revolutionäre Alternative zur Linkspartei einhergehen.

Natürlich ist es unter den gegebenen Bedingungen notwendig, z. B. in DWE oder den Gewerkschaften gemeinsam zu kämpfen. Es ist auch notwendig, den gemeinsamen Kampf gegen laufende und kommende Angriffe zu intensivieren, von der Linkspartei dies einzufordern.

Heute geht es aber nicht primär darum, gemeinsame Handlungsfelder auszuloten, sondern darum, was die Linkspartei ist und was Sozialist:innen oder Kommunist:innen daraus folgern sollen: Sie sollten sich keinen Illusionen in die Partei hingeben, sondern selbst eine linke Kritik entwickeln und am Aufbau einer revolutionären Alternative zur Linkspartei mitwirken, den Aufbau einer revolutionären Arbeiter:innenpartei vorantreiben!

Eine solche Partei wird sicherlich nicht einfach durch lineares Wachstum aus einer der bestehenden kommunistischen oder sozialistischen Kleingruppen oder deren bloßer Vereinigung entstehen können. Es braucht eine Kombination aus gemeinsamem Kampf und gemeinsamer Bewegung mit einer programmatischen Klärung. Das heißt aber auch Überwindung der reformistischen Begrenztheit und Schwächen der Linkspartei, nicht nur des Wagenknecht-Flügels und der Regierungssozialist:innen, sondern auch der sog. Transformationsstrategie.




Zur “Revolutionären Realpolitik” der Linkspartei: Revolution oder Transformation?

Martin Suchanek, Neue Internationale 279, Dezember 2023 / Januar 2024 ursprünglich veröffentlich im Dezember 2016

Die Berliner LINKE koaliert mit dem Segen der Parteispitze, Bodo Ramelow führt eine Rot-Rot-Grüne Koalition in Thüringen an.

In der Luxemburgstiftung, dem hauseigenen Think Tank, wollen sich deren Vordenker:innen mit der platten Rechtfertigung dieser Politik oder gar den unvermeidlichen Verrätereien durch Teilnahme an den Regierungen allein nicht zufriedengeben. An etlichen Stellen kritisieren sie sogar die allzu euphorischen Anhänger:innen rot-roter oder rot-rot-grüner Koalitionen offen, zu viele Zugeständnisse an die „Partner:innen“ zu machen.

Das ist nicht nur selbstgefälliger, entschuldigender Gestus linker Theoretiker:innen angesichts der unvermeidlichen Niederungen reformistischer Regierungspolitik. Es geht ihnen auch darum, der Partei eine höhere strategische Ausrichtung zu verleihen. Dazu prägen sie seit Jahren Begriffe wie „Transformationsstrategie“, „revolutionäre“ oder „radikale Realpolitik“, um die Programmatik der Linkspartei als eine moderne Version einer „sozialistischen Partei“ zu präsentieren.

Es ist immerhin ein Verdienst dieser politisch-ideologischen Richtung, dass sie in den Veröffentlichungen der Stiftung ihre Anschauungen darlegt; so z. B. in der Broschüre „Klasse verbinden“, herausgegeben im April 2016 vom US-amerikanischen Magazin Jacobin und der Luxemburg-Stiftung, oder im Aufsatz „Rückkehr der Hoffnung. Für eine offensive Betrachtungsweise“ von Michael Brie und Mario Candeias.

Revolutionäre „Realpolitik“

Seit Jahren wird neben Antonio Gramsci ausgerechnet Rosa Luxemburg als Patin für die „Transformationsstrategie“ der Linkspartei ins Feld geführt.

Sie selbst verwendet den Begriff „revolutionäre Realpolitik“ unter anderem in der Schrift „Karl Marx“, die anlässlich seines 20. Todestags verfasst wurde:

„Es gab vor Marx eine von Arbeitern geführte bürgerliche Politik, und es gab revolutionären Sozialismus. Es gibt erst mit Marx und durch Marx sozialistische Arbeiterpolitik, die zugleich und im vollsten Sinne beider Worte revolutionäre Realpolitik ist.

Wenn wir nämlich als Realpolitik eine Politik erkennen, die sich nur erreichbare Ziele steckt und sie mit wirksamsten Mitteln auf dem kürzesten Wege zu verfolgen weiß, so unterscheidet sich die proletarische Klassenpolitik im Marxschen Geiste darin von der bürgerlichen Politik, dass bürgerliche Politik vom Standpunkt der materiellen Tageserfolge real ist, während die sozialistische Politik es vom Standpunkt der geschichtlichen Entwicklungstendenz ist.“ (Luxemburg, Werke, Band 1/2, S. 375)

Und weiter: „Die proletarische Realpolitik ist aber auch revolutionär, indem sie durch alle ihre Teilbestrebungen in ihrer Gesamtheit über den Rahmen der bestehenden Ordnung, in der sie arbeitet, hinausgeht, indem sie sich bewusst nur als das Vorstadium des Aktes betrachtet, der sie zur Politik des herrschenden und umwälzenden Proletariats machen wird.“ (Ebenda, S. 376)

Luxemburg betont zwar, dass Reform und Revolution nicht als ausschließende Momente einander entgegengestellt werden dürfen, hält aber zugleich fest, dass die Revolution das entscheidende Moment dieses Verhältnisses darstellt. Nur in Bezug auf diesen Zweck kann eine revolutionäre (Real-)Politik bestimmt werden.

Sie grenzt sich daher gegen zwei politische Fehler innerhalb der Arbeiter:innenbewegung ab: einerseits den utopischen Sozialismus, andererseits die bürgerliche Realpolitik. Der Revisionismus oder Reformismus des 20. und 21. Jahrhunderts stellen letztlich Spielarten dieser bürgerlichen Realpolitik dar.

Das Revolutionäre an Luxemburgs „Realpolitik“ besteht genau darin, dass sie den Kampf für Reformen als Moment des Kampfes um die revolutionäre Machtergreifung des Proletariats bestimmt.

„Real“politik ist revolutionäre Politik in dem Sinne und Maß, wie eine Partei ihre Taktik auf einem wissenschaftlichen Verständnis der inneren Widersprüche des Kapitalismus und deren Entwicklungslogik aufbaut. Daraus ergibt sich, dass die Revolution nicht „jederzeit“ als reiner Willensakt „gemacht“ werden kann, sondern eine tiefe Krise des Gesamtsystems voraussetzt, eine Zuspitzung der inneren Widersprüche, die zu ihrer Auflösung drängen.

Innere Widersprüche

Für Luxemburg (und generell für den Marxismus) zeigt die Analyse der inneren Widersprüche des Kapitalismus zweitens, dass die Arbeiter:innenklasse in der bürgerlichen Gesellschaft noch keine neue, eigene Produktionsweise vorfindet, die sie mehr und mehr ausbauen könnte, sondern dass vielmehr die gegenteilige Entwicklung prägend ist. Der innere Widerspruch zwischen zunehmend gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung spitzt sich zu in der Konzentration des Reichtums in den Händen einer immer kleineren Schicht von Kapitalbesitzer:innen.

Genau deshalb greift Luxemburg auch Bernsteins Idee an, dass Genossenschaften, selbstverwaltete Betriebe und der zunehmende Kampf der Gewerkschaften für soziale Verbesserungen Schritt für Schritt zum Sozialismus führen könnten. Allenfalls stellen sie begrenzte Hilfsmittel zur Verbesserung der Lage der Klasse dar und können, im Fall der Gewerkschaften, Mittel zur Selbstorganisation und für die Entstehung von Klassenbewusstsein werden. Für sich genommen sprengt der gewerkschaftliche Kampf jedoch nicht den Rahmen des bestehenden Systems der Lohnarbeit (und erst recht nicht tun dies selbstverwaltete Betriebe).

Schließlich greift sie die darauf aufbauende, korrespondierende Vorstellung des Revisionismus an, dass der Parlamentarismus, die Sammlung einer numerischen Mehrheit bei Wahlen, Mittel zur erfolgreichen „Transformation“ der Gesellschaft sein könnten. Im Gegenteil: Luxemburg erblickt in der Integrationskraft des bürgerlichen Parlamentarismus auch eine Basis für das Vordringen der bürgerlichen „Realpolitik“ in der Arbeiter:innenbewegung, über „sozialistische“ Regierungen auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft mehr und mehr den „Sozialismus“ einführen zu können.

Für sie hingegen zielt „revolutionäre Realpolitik“ wesentlich auf den Übergang der politischen Macht von einer Klasse auf die andere, durch das Zerbrechen der bürgerlichen Staatsmaschinerie, den Übergang der Macht an die Arbeiter:innenräte, auf die Diktatur des Proletariats.

Was die Luxemburg-Stiftung aus Luxemburg macht

Die Theoretiker:innen der Linkspartei rekurrieren zwar gern auf Luxemburgs Begrifflichkeit und präsentieren ihre Strategie so, als würde sie ihr Verständnis von Reform und Revolution aufgreifen.

Dieser Schein wird nicht nur durch Entstellungen ermöglicht, sondern auch durch einen anderen Ausgangspunkt der Theorie Bernsteins und der aktuellen Theoretiker:innen der Luxemburg-Stiftung untermauert. Bernstein behauptete, dass sich Marx und Engels in ihrer Analyse der inneren Widersprüche des Kapitalismus geirrt hätten, dass diese nicht nur ihr Tempo überschätzt, sondern auch ihre grundlegende Entwicklungsrichtung verkannt hätten. Demgegenüber hält Luxemburg mit Marx und Engels an der grundlegenden Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Systems und der ihm innewohnenden Tendenz zum Zusammenbruch fest.

Zu Recht weist sie darauf hin, dass die Leugnung dieser Schlussfolgerungen aus der Marxschen Analyse des Kapitals einer Preisgabe des wissenschaftlichen Sozialismus gleichkommt. Die Überwindung des Kapitalismus stellt dann keine gesellschaftliche Notwendigkeit mehr dar, sondern kann nur moralisch begründet werden.

Anders als Bernstein geht die Luxemburg-Stiftung von einer Systemkrise des Kapitalismus aus.

„Die strukturelle Krise ist nicht gelöst und sie lässt sich im alten Rahmen auch nicht lösen. Die Versuche, den Finanzmarkt-Kapitalismus zu stabilisieren, verlängern nur die Agonie und zerreißen die Europäische Union und unsere Gesellschaften. Die Situation ist jedoch nicht durch Aufbruch gekennzeichnet, vielmehr gilt ein altes Zitat von Gramsci: ‚Das Alte stirbt, das neue kann nicht zur Welt kommen. Es ist die Zeit der Monster.’“ (Brie/Candeias)

Das obige Zitat zeigt aber auch eine Differenz zur marxistischen Analyse. Aus den Fugen geraten ist nicht der Kapitalismus als System, sondern nur der „Finanzmarktkapitalismus“. Bei aller verbalen Radikalität wird so ein theoretisches „Hintertürchen“ für eine reformistisch gewendete „revolutionäre Realpolitik“ geöffnet.

Hinzu kommt, dass der Kapitalismus zwar in einer historischen Krise stecken mag, eine sozialistische Revolution jedoch der Partei auch ausgeschlossen erscheint. Was bleibt also? Eine „Transformationsstrategie“. Was steckt aber hinter diesem unschuldigen Wort? Sind  nicht auch revolutionäre Marxist:innen dafür, erkennen sie nicht auch an, dass der revolutionäre Bruch mit dem Kapitalismus eine ganze Periode des Übergangs einschließt, dass nicht alle überkommenen gesellschaftlichen Verhältnisse und vor allem nicht die tradierte grundlegende Arbeitsteilung der alten Gesellschaft mit einem Schlag „abgeschafft“ werden können? Standen nicht die frühe Kommunistische Internationale und der Trotzkismus auf dem Boden eines Programms von Übergangsforderungen, das den Kampf für Reformen in eine Strategie zur Machtergreifung einbettet?

Genau diese Ausrichtung ist bei der Luxemburg-Stiftung nicht gemeint.

Da die sozialistische Revolution, die revolutionäre Machtergreifung der Arbeiter:innenklasse als unmöglich, fragwürdig erscheint, bezieht sich das Ziel der Transformation nicht auf das der „revolutionären Realpolitik“ einer Rosa-Luxemburg,  sondern darauf, dass die „Linke“ sich auf einen „Macht“wechsel auf dem Boden des Parlamentarismus vorbereiten müsse.

In einer offenen Krisensituation entsteht eine radikal neue Situation, in der sich die Eliten spalten, ein Richtungswechsel möglich wird – hin zu einem autoritären Festungskapitalismus wie aber auch hin zu einer solidarischen Umgestaltung. Die Linke muss sich jetzt vorbereiten, daran arbeiten, dass sie fähig wird, in eine solche Situation überzeugend einzugreifen. Darauf ist sie nicht eingestellt.“ (Brie/Candeias)

Wir möchten nicht widersprechen, dass die Linke auf diese Situation nicht vorbereitet ist. Entscheidend ist jedoch, dass die TheoretikerInnen der Linkspartei die eigentliche Alternative, die in einer solchen Phase aufgeworfen wird, verkennen – es geht um Revolution oder Konterrevolution, um Sozialismus oder Barbarei.

Für die Ideolog:nnen der Linkspartei stellt sie sich jedoch anders dar – „autoritärer Festungskapitalismus“ (womit Regierungen wie jene von Trump gemeint sind) oder „solidarische Umgestaltung“.

Hier wird die sozialistische Revolution aus der „revolutionären Realpolitik“ verabschiedet.

Regierung als Ziel

Daher ist es kein Wunder, dass die Strategie in eine Regierungsbeteiligung münden muss. Natürlich ist auch das Zeil einer jeden kommunistischen Strategie, eine revolutionäre Arbeiter:innenregierung zu schaffen. Diese ist aber letztlich nur als Mittel zum Übergang zur Herrschaft der Arbeiter:innenklasse oder, in ihrer eigentlichen Form, als „Diktatur des Proletariats“, möglich. Die „Realpolitik“ der Arbeiter:innenklasse kann nämlich nur vom Standpunkt ihrer zukünftigen Herrschaft und deren Vorbereitung richtig verstanden werden.

Diese grundlegende Schlussfolgerung Rosa Luxemburgs verschwindet bei der Luxemburg-Stiftung gänzlich, wird sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Zur strategischen Zielsetzung wird die „realistische“, „grundlegende“ Reform, die „solidarische Umgestaltung“.

Den Vordenker:innen der Linkspartei ist jedoch klar, dass eine solche „Umgestaltung“ keine Chance hat, wenn sie sich nur auf parlamentarische Mehrheiten stützt. Daher beurteilen sie das Regierungshandeln in Thüringen durchaus skeptisch, weil dieses keinem nennenswerten Druck von außen oder aus der Partei ausgesetzt ist. Sie halten eine Regierung auf Bundesebene erst recht für „verfrüht“ und erkennen, dass eine „Reformregierung“, die den Kurs der Großen Koalition fortsetzt, letztlich einer weiteren Stärkung der Rechten, v. a. der AfD, den Weg bereitet. Wie soll dieses Problem gelöst werden?

„Und schließlich muss die Linke an einer politischen Machtperspektive arbeiten. Dies darf nicht auf Wahlen verengt werden… Die punktuelle, aber konzentrierte Mobilisierung kann durchaus Erfolge zeitigen, sie ist aber immer prekär, wenn die Mobilisierung nicht mit einer nachhaltigen Verankerung und Organisierung verbunden wird. Eine politische Linke in den Vertretungsorganen ohne eine starke, eigenständige, kritische gesellschaftliche Linke, die in den Nachbarschaften, in Betrieben, in Initiativen und Bewegungen verankert ist, muss scheitern.“ (Brie/Candeias)

Die Linkspartei müsse einen „Spagat“ vollziehen zwischen „Bewegungspartei“ („Netzwerkpartei“) und „strategischer Partei“, die die verschiedenen Bewegungen, zusammenführt, Klassenfragen und Fragen der sozialen Unterdrückung vereint und ihnen eine Ausrichtung gibt.

Solcherart könne eine Umgestaltung vollzogen werden, die parlamentarische und institutionelle Mittel des Staates nutzt, den Kampf gewissermaßen „um den Staat und im Staat“ führt und gleichzeitig auch Gesamtstratege der heterogenen Widerstandsmilieus wäre.

Im Gegensatz zu naiven Bewegungslinken sehen sie ein, dass sich aus der Addition der spontanen Initiativen „von unten“, von Bewegungen, sozialen Kämpfen, Platzbesetzungen, Streiks, Betriebsbesetzungen, Selbstverwaltung oder „Produktion unter Arbeiter:innenkontrolle“, wie manche Projekte übertrieben genannt werden, keine gemeinsame Strategie ergibt. Eine „verbindende“ Partei reicht dazu nicht aus, es braucht eine strategische.

Es erhebt sich aber die Frage, warum Parteien wie Syriza diesen Spagat nicht durchzuhalten vermochten. In der Broschüre „Klasse verbinden“ wird lediglich festgehalten, dass sie die „Bewegungswurzeln“ nicht beibehalten konnte, dass eine  solche Entwicklung auch dem Linksblock in Portugal drohe oder auch die Bilanz der „linken“ Stadtverwaltung in Barcelona diskussionswürdig sei.

Strategische Partei und Staat

Die Lösung liege in einer „strategischen Partei“, die Elemente der „verbindenden Partei“ (Partei der Bewegungen) aufnimmt. Das sei notwendig, damit sie im Zuge der gesellschaftlichen Transformation eine doppelte Aufgabe erfüllen könne. Als Partei müsse sie den Staatsapparat transformieren, in dessen Institutionen eindringen. Dies könne aber nur gelingen, wenn sich ihr Handeln nicht auf den Staatsapparat, Parlament und Regierung konzentriert, wenn sie sich zugleich auf Massenbewegungen außerhalb stützt bzw. von diesen unter Druck gesetzt werden kann.

„Als Linke in die Institutionen zu gehen, ob in Athen, Barcelona oder Madrid, führt in einen politischen Limbo, sofern es nicht gelingt, diese Institutionen zu öffnen für die Initiative der Bewegungen, Nachbarschaftsgruppen und Solidaritätsstrukturen aus der Zivilgesellschaft und damit eine weiterreichende Partizipation aller populären Klassen zu verankern.“ (Candeias, Gedanken zu Porcaros „strategischer Partei“, in: Klasse verbinden, S. 20)

Dazu bedürfe es „eigener ‚stabiler Institutionen‘ jenseits des Staates, die heute zur strategischen Partei und morgen zum sozialistischen Staat einen dialektischen Gegenpol bilden können.“ (Ebenda, S. 20)

Reformismus reloaded

Diese „Institutionen“ sind einerseits politische und gesellschaftliche Bewegungen, andererseits wären es aber auch „Institutionen“, die „schon heute eine ‚materielle Macht‘ ausbilden, die eine Art unabhängige soziale Infrastruktur und produktive Ressourcen einer solidarischen Ökonomie entwickelt, um den Attacken des transnationalen Machtblocks standzuhalten – der oft zitierte Plan C.“ (Ebenda, S. 20). Dieser Plan ist nur eine Reformulierung des alten Revisionismus und der Sozialstaatspläne der Nachkriegssozialdemokratie auf niedrigem Niveau.

Die aktuelle Periode engt den „Spielraum“ für solche Pläne ein, verurteilt sie rasch dazu, zum reinen Reparaturbetrieb zu werden. Daran ändert auch die Verklärung von  selbstverwalteten Betrieben, besetzten Häusern, Nachbarschaftshilfe oder Beteiligungshaushalten zu Institutionen gesellschaftlicher „Gegenmacht“ nichts.

Die Strateg:innen der Linkspartei kommen hier bei Bernstein an – allerdings in einer widersprüchlicheren Form. Der „alte“ Revisionismus oder auch die Politik der Sozialdemokratie der 60er und frühen 70er Jahre versuchten ihre Politik durch angebliche Wandlungen des Kapitalismus zu begründen, die den Boden für eine schrittweise Verbesserung der Lage der Arbeiter:innenklasse und eine immer größere Demokratisierung des Systems abgeben würden.

Die mit Entstellungen der Arbeiten von Luxemburg oder Gramsci getränkte strategische Ausrichtung der Luxemburg-Stiftung akzeptiert hingegen, dass wir in einer Krisenperiode leben. Sie will aber nichts davon wissen, dass diese eine Strategie der revolutionären Machtergreifung der Arbeiter:innenklasse erfordert.

Syriza ist in Griechenland nicht daran gescheitert, dass der Spagat zwischen „Regierung“ und „Bewegung“ nicht funktionierte. Sie ist vielmehr an den inneren Widersprüchen einer reformistischen Realpolitik gescheitert – einerseits die Lage der Massen verbessern zu wollen und andererseits die gesellschaftlichen Grundlagen ihrer Verelendung, also den Kapitalismus selbst, nicht anzugreifen, sondern „mitzuverwalten“.

Klassencharakter des Staates

Die „Transformation“ des griechischen Staates ist nicht an einzelnen Fehlern von Syriza-Politiker:innen und am mangelnden Druck der Bewegung gescheitert. Sie wurde vielmehr unvermeidliches Opfer dieser Institutionen, weil der bürgerliche Staat selbst nicht zu einem Mittel der sozialistischen Umwandlung der Gesellschaft „transformiert“ werden kann. Genau das vertreten aber der „alte“ wie moderne Revisionismus, indem sie den Klassencharakter des bürgerlichen Staates negieren. Mit Luxemburg werden so auch gleich Marx‘ Lehren aus der Pariser Commune oder Lenins „Staat und Revolution“ entsorgt.

Die „revolutionäre Realpolitik“ entpuppt sich letztlich als bürgerliche, die bei allem Beschwören von „Bewegungen“ und „Gegenmacht“ letztlich auf einen friedlichen, graduellen, parlamentarischen Übergang zum Sozialismus, also auf den Sankt-Nimmerleinstag orientiert.

Für die Strateg:innen der Linkspartei ist der bestehende, wenn auch zu transformierende Staat, das entscheidende politische Instrument. Abgestützt werden müsse dieses durch Eroberung ideologischer Positionen und Vorherrschaft („Hegemonie“) in der Zivilgesellschaft und den Aufbau von „Gegenmacht“. Solcherart wäre eine schrittweise Transformation möglich. Dabei wird die Revolution zu einer Reihe von Reformen. Auch hier befindet sich die Linkspartei in Gesellschaft von Bernstein, nicht von Luxemburg:

„Es ist grundfalsch und ganz ungeschichtlich, sich die gesetzliche Reformarbeit bloß als die ins Breite gezogene Revolution und die Revolution als die kondensierte Reform vorzustellen. Eine soziale Umwälzung und eine gesetzliche Reform sind nicht durch die Zeitdauer, sondern durch das Wesen verschiedene Momente. Das ganze Geheimnis der geschichtlichen Umwälzungen durch den Gebrauch der politischen Macht liegt ja gerade in dem Umschlagen der bloßen quantitativen Veränderungen in eine neue Qualität, konkret gesprochen: in dem Übergange einer Geschichtsperiode, einer Gesellschaftsordnung in eine andere.“ (Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?, Werke, Band 1, S. 428)




Weder neu, noch internationalistisch: Die LINKE und der „neue Internationalismus“

Leo Drais, Neue International 279, Dezember 2023/Januar 2024

„Wir setzen dagegen auf Deeskalation, globale Gerechtigkeit und zivile Konfliktlösung, um der sich zuspitzenden Blockkonfrontation eine friedliche Alternative entgegenzusetzen. Das meint eine Politik, die nicht der Logik des Militärischen folgt, die die Bedrohung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit von innen und außen ernst nimmt, aber grenzübergreifend Ausgleich, Abrüstung und sozialer Gerechtigkeit verpflichtet ist. Eine Entspannungspolitik, die internationales Recht und den Weg der Diplomatie und Verhandlung stärkt. Die endlich die Fluchtursachen bekämpft – nicht die Geflüchteten. Die solidarischen Handel und gemeinsame Entwicklung stärkt, statt Standortkonkurrenz und neokoloniale Ausbeutung zu verschärfen. Die aktiv jene Menschen, Organisationen, Gewerkschaften und Bewegungen unterstützt, die für Demokratie und Gerechtigkeit eintreten, anstatt weiter Deals mit Diktatoren zu machen. Die dafür sorgt, dass die EU nicht ein Treiber des Wettrüstens bleibt, sondern eine Friedensunion wird.

Das kann gelingen mit einem neuen Internationalismus, der ohne Doppelstandards Völkerrecht und Menschenrechte achtet – und überall für Gerechtigkeit, Kooperation und Demokratie eintritt. Die Grenzen verlaufen zwischen oben und unten, unser Kampf für Gerechtigkeit ist universell. Denn es braucht weltweit soziale Gerechtigkeit, eine klimagerechte Wirtschaft und Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und handlungsfähige internationale Strukturen.“ (Linkspartei, Wahlprogrammentwurf zur Europawahl 2024)

Alt und bricht sofort

Das, was sich weiter Linkspartei nennt, in das über 1.000 neue Genoss:innen nach dem ersehnten Weggang Sahra Wagenknechts und ihrer Sänftenträger:innen eingetreten sind, wird nicht müde zu betonen, dass jetzt alles besser würde. Aufbruchstimmung, alles neu, beziehungsweise: Back to the roots. Und das trifft es. Denn der oben zitierte „neue Internationalismus“ ist gar nicht so neu. Vor zehn Jahren hätte das Ganze mehr oder weniger genauso im Wahlprogramm der LINKEN stehen können und damals wie heute wäre auch eine Sahra Wagenknecht damit zufrieden. Hinter floskelhaft Unkonkretem kann sich weiterhin fast alles und jede/r sammeln. Es ist ein Internationalismus, der außer dem Namen wenig Internationalistisches in sich trägt, eine Klammer, die Regierungssozialist:innen, Bewegungslinke und den Rest wie mit einem porösen Einweckgummi zusammenhält.

Und während der Gummi alt und ausgeleiert ist und nur durch den Weggang des Wagenknechtflügels eine gewisse Entlastung erfährt, wiegt die veränderte Weltlage so schwer. Die Linkspartei spricht ja selbst von einem „Epochenbruch“. Doch aus dieser Erkenntnis folgt keine Revision des Programms. Die alten Antworten sollen auch in der neuen Zeit die richtigen sein, dabei waren sie es in der „alten“ schon nicht.

Denn was so schön und einfach klingt – „friedliche Alternative“, „Ausgleich“, „Abrüstung“, „solidarischer Handel“, „soziale Gerechtigkeit“, „Menschenrechte“ – das ist fromm im religiösesten Sinn. Es wird geglaubt, versprochen und nicht analysiert. Fest geglaubt daran, dass Kapitalismus „fair“ und „friedlich“ gehen könne. Ein fortgesetzter Gottesdienst, der die Illusion streut, das Hier und Jetzt könnte einfach so anders werden. Das steht so zwar nicht da, aber es ist, worauf die Politik der Linkspartei wie eh und je hinausläuft. Oder besser: nicht hinausläuft. Denn nur weil sich etwas gewünscht wird, wird es nicht passieren. Die kapitalistische Welt ist eben eine ganz konkrete, von Widersprüchen durchzogene, in der Konkurrenz überhaupt das ist, worin sie sich verwirklichen kann. Selbst wenn die Linkspartei an der Regierung wäre, mit absoluter Mehrheit, würde alles, was sie sich wünscht, an diesen Sachzwängen zerrreißen und zerbrechen. Es gibt keinen Kapitalismus ohne Ausbeutung und Konkurrenz, die die Ausbeutung immer weiter zuspitzt und eben zu Neokolonialismus führen muss.

Das weiß sie vielleicht auch selbst. Aber ihr Wahlprogramm ist ja auch erst mal nur ein Stimmenfänger und dann sieht man, was möglich ist, innerhalb des Systems, mit ein bisschen sozialer Bewegung und Parlamentarisieren. Wenn aber die Welt nicht grundsätzlich infrage gestellt wird, was ist dann die Politik der LINKEN anderes als eine nationale, kapitalistische? Ihre „friedliche Alternative“ ist eine Lösung des Ukrainekrieges am Verhandlungstisch der Großmächte Russland und NATO, keine des Selbstbestimmungsrechts der Menschen, die in der Region leben. Ihr „Völkerrecht“ ist das der UNO und damit einer imperialistischen Institutionen schlechthin. Ihr „solidarischer Handel“ ist immer noch Ausbeutung.

So wenig neu wie das Programm für ein „Comeback“ ist, so wenig neu ist eigentlich auch unsere Kritik daran. Wir haben die Programme der Linkspartei in den letzten Jahren wiederholt Kritiken unterzogen, auch hinsichtlich des Internationalismus, der nur so halbgar daherkommt. Was sich jedoch mit der „Epochenwende“ durchaus verändert, ist, dass Ansprüche früher mit der Realität kollidieren, wobei die kapitalistische Realität bei diesem Zusammenprall keinen Schaden nimmt, wohl aber die Linkspartei und die, die an sie glauben oder doch wenigstens ein kleines bisschen in Ermangelung von Alternativen auf sie hoffen. Die Partei ist getrieben von der Welt.

Offene Grenzen

Als Beispiel dafür dient die Forderung nach offenen Grenzen, inzwischen entsorgt und opportun durch ihre Negation ersetzt, nämlich der Absage an Grenzkontrollen (Beschluss des Parteivorstandes vom 23. Oktober 2023). Natürlich war das mit den offenen Grenzen nie wirklich ernstgemeint. Solange es eine im Vergleich zu heute überschaubare Migration gab (die schon 2014 für Tausende den Tod im Mittelmeer bedeutete), war das etwas, womit man sich gut schmücken konnte.

Dann kam 2015, dann die AfD und es stellte sich wirklich die Frage, wie mit Millionen Geflüchteten umgegangen werden soll. Die Antwort oben: Fluchtursachen bekämpfen. Das ist zwar an sich richtig, aber es verkommt zur Phrase, wenn es als Ersatz für eine konkrete Antwort herhalten soll, ob Hunderttausende Geflüchtete aufgenommen werden sollen oder nicht. Man weicht also aus und setzt auf „Gerechtigkeit“ usw., also auf Plattitüden.

Das ist einfacher, als offene Grenzen wirklich mal konsequent weiter zu denken und jenen zu vermitteln, die tatsächlich eine damit verbundene Angst haben, jedoch noch nicht in den Fängen der AfD oder von BSW stecken. Dies nicht zu tun, heißt ansonsten, dass sich DIE LINKE im Endeffekt unter jene einreiht, für die Grenzkontrollen usw. alternativ sind. Sie mag zwar die Politik der Regierung in einzelnen Fällen kritisieren, aber selbst formuliert sie in dieser einen Grenzfrage eben keine Alternative.

Dass offene Grenzen mit der bestehenden Realität nicht vereinbar sind, ist dabei der Linkspartei selbst klar, sonst würde sie an der Idee festhalten. Aber obwohl, ja weil sie mit der imperialistischen Weltordnung unvereinbar ist, halten z. B. wir an der Idee fest. Sie führt im Grunde sofort zu der Frage: Wie soll die Gesellschaft, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit aussehen? Wer antirassistisch sein will, der muss dafür sein, dass alle Menschen das Recht haben, überall auf der Welt zu leben. Alles andere ist geheuchelt. Den Weg zu so einer Welt zu zeichnen und vorstellbar zu machen, das macht einen wirklichen Internationalismus aus. Daher muss Antirassismus als integraler Teil des Klassenkampfes verstanden werden. Verteilung der Arbeit auf alle, Sicherung von Wohnraum und soziale Absicherung für alle, Enteignung internationaler Konzerne, ein Plan zur Reparation der Schäden in der halbkolonialen Welt, multilinguale Ämter usw. sind davon genauso Eckpunkte wie eben die offenen Grenzen.

Ukraine

Ein anderes Beispiel für den halbgaren Internationalismus ist die Haltung zur Ukraine. Hier offenbart sich außerdem, dass der in der Partei weit verbreitete Pazifismus keine Antwort auf die Kriegsgefahr bietet. Zwar muss zugutegehalten werden, dass diese Pazifist:innen nicht so wie viele andere vom Krieg einfach umgeworfen wurden und auf der Seite der NATO landeten. Trotzdem stellt sich die Frage: Wenn man der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung zugesteht, wie soll sie dieses dann wahrnehmen? Zu sagen, dass mehr Waffen keinen Frieden bringen, dieser nur diplomatisch erreichbar sei, und an Putin, Biden und Scholz zu appellieren, sich doch an einen Tisch zu setzen, bedeutet im Grunde nur, den Großmächten der Welt zuzugestehen, dass sie über Krieg und Frieden und über die „Friedensordnung“ entscheiden. Das heißt jene, die sich nicht nur auf militärischem Gebiet im Kampf um eine Neuaufteilung der Welt befinden, sollen entscheiden, wie die Ukraine neu aufgeteilt wird. Ein solcher imperialistischer Frieden würde allenfalls die geostrategische Konfrontation, die den Krieg um die Ukraine auch, wenngleich nicht ausschließlich prägt, in neue Formen gießen. An der Aufrüstung, der Expansion der NATO wie ihrer imperialistischen Rivalität mit Russland und China würde das nichts ändern. Aber alles ist, was und wie es ist, so scheiße es auch ist.

Allgemein gesteht DIE LINKE zwar der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung gegen die imperialistische Invasion Russlands zu. Aber die Frage, wie die Anerkennung dieses Selbstbestimmungsrechts, das ohne die Mittel zur seiner Umsetzung nichts wert ist, mit dem Kampf gegen jede imperialistische Einflussnahme in der Ukraine verbunden werden kann, stellt sie sich erst gar nicht.

Als Revolutionär:innen gestehen wir zwar der Ukraine zu, sich die Mittel für ihre Verteidigung zu beschaffen, wir lehnen aber Forderungen an die westlichen imperialistischen Mächte, sich einzumischen, ab und treten offensiv für ein Ende der Sanktionen gegen Russland ein, weil diese integraler Teil eines neuen Kalten Krieges zwischen den Großmächten sind.

Bezüglich der Waffenlieferungen an die Ukraine geht es vor allem darum: Wie kann dafür gesorgt werden, dass diese nicht zur Aufrüstung der NATO in Polen oder im Baltikum genutzt werden? Im Endeffekt bedeutet es zu fordern, dass Waffentransporte nicht durch die Armeen und NATO-Staaten kontrolliert werden, sondern durch die Transportarbeiter:innen selbst. Immerhin gibt es in Europa kleine Beispiele, wo sowas passierte. Es verweist aber auch auf das, was wirklich dem Krieg das Handwerk legen kann.Nicht die Diplomatie der Imperialist:innen, sondern eine internationale Antikriegsbewegung auf Straßen, Gleisen und in Rüstungsfabriken. Nur diese wäre in der Lage die Unterstützung des ukrainischen Selbstbestimmungsrechtes und den Kampf gegen die Imperialist:innen auf allen Seiten miteinander zu kombinieren. Eine solche Bewegung müsste in klarer Opposition zur Selenskyj-Regierung stehen und die linken und gewerkschaftlichen Kräfte in der Ukraine unterstützen und zwar vor allem jene, die für von allen bürgerlichen und imperialistischen Kräften unabhängige Arbeiter:innenpolitik einstehen. Klar sind wir davon weit weg. Wäre trotzdem die Aufgabe der Linkspartei, vermittelt über ihren Einfluss in Gewerkschaften, so etwas aufzubauen. Es ist allemal sinnvoller, als für ein Ende der Kriege durch UNO, Diplomatie und Pazifismus einzutreten. Es wäre die Bereitschaft zum Klassenkampf: sich darauf vorzubereiten, allem, was ist, glaubwürdig den Krieg zu erklären.

Palästina

Und damit kommen wir zu Palästina, heute der Gretchenfrage, wenn es um internationale Solidarität deutscher Linker geht. Im Bundestag hatte sich die Linkspartei allen anderen Parteien schnell angeschlossen, als es um die Verurteilung des Hamasterrors und die Solidarität mit Israel ging.

Auch wir verurteilen die Ermordung unschuldiger Zivilist:innen am 7. Oktober und lehnen die Politik und Strategie der Hamas ab. Aber das ändert nichts daran, dass der palästinensische Widerstand gegen die seit Jahrzehnten andauernde Vertreibung und Besatzung auch unter einer schlechten, reaktionären Führung wie jener der Hamas legitim ist.

Wenn, wie Gregor Gysi sagt, die Palästinenser:innen die Unterdrückten sind, dann stellt sich für Linke die Frage: Wie kann diese Unterdrückung beendet werden? Dieser Weg führt darüber, dass eine linke Alternative zur Hamas aufgebaut werden muss, die den Kampf nicht einfach für sich selbst und eine Zwei-Staaten-Lösung führt, sondern wirklich ein Programm bietet, was jede Unterdrückung in der Region beendet. Die der Palästinenser:innen durch Israel. Die palästinensischer Frauen in einer extrem konservativen Gesellschaft. Die der rassistisch unterdrückten Israelis durch den Zionismus. Der Weg dahin führt nicht über eine Unterstützung des Staates, der wesentlich die Ursache für die heutige Situation darstellt. Man kann solidarisch mit ermordeten und entführten Zivilist:innen sein, ohne sich auf die Seite des Staates zu stellen, der auf ihrem Pass steht.

Das aber hat die Linkspartei nicht getan. Sie bietet auch heute keine Perspektive und keine klare Unterstützung der Unterdrückten, weder vor Ort noch in Palästina. Sie landet maximal dort, wo wir sie schon oben kritisierten: bei der Illusion eines Völkerrechts, einer gerechten Weltordnung in einer grundsätzlich ungleichen Welt. Bei zähen Debatten, bei verwundenen Begründungen, warum man da steht, wo man steht. Damit ist die Linkspartei noch weniger glaubwürdig als alle anderen Parteien.

Denn während diese den Boden, auf dem sie agieren – den deutschen Imperialismus  –, auch verbal gar nicht in Frage stellen und sich eben für diesen strategisch in die Bresche werfen, wenn auch mit unterschiedlichen Ideen, so bezeichnet sich die Linkspartei ja schon als eine demokratisch-sozialistische Partei. Weder in Palästina noch der Ukraine noch sonst wo ist jedoch ersichtlich, wie ihr Selbstverständnis zu einer demokratisch-sozialistischen Welt werden kann. Und, das sei mal unterstellt, auch wenn der Traum davon bei vielen Mitglieder ein aufrichtiger ist, in der Realität ist das nur eine verschwommene Erinnerung an die letzte Nacht und genauso viel wert.




Europaparteitag DIE LINKE: Vom Abbruch zum Aufbruch?

Martin Suchanek, Infomail 1237, 20. November 2023

Vorweg: Das Programm zur Europawahl spielte auf dem Parteitag in Augsburg allenfalls eine Nebenrolle. Natürlich gab es um das 84-seitige Papier auch Debatten, einige Änderungsanträge und sogar etwas Kritik. Doch insgesamt war dies eine Marginalie, eine Quasipflichtübung zum eigentlichen Zweck: der Wahl einer Kandidat:innenliste zu den Europawahlen 2024 und einer Zurschaustellung eine neuen Einheit, Geschlossenheit und Zuversicht. Augsburg soll für Aufbruch stehen – und, wenigstes medial, ist diese Inszenierung einigermaßen gelungen.

So attestiert die Tagesschau: „Diszipliniert beschließt DIE LINKE ihr Europawahlprogramm, die Einigkeit ist groß: Ohne das Wagenknecht-Lager wirkt DIE LINKE wie befreit.“ Und das Neue Deutschland, das der Partei am weitaus freundlichsten gesonnene Medium, verteilt gute Noten. Der Anfang sei gemacht, jetzt müsse „nur“ noch geliefert werden.

Bemerkenswert an diesem Aufbruch ist zuallererst, dass das Wahlprogramm inhaltlich vor allem für Kontinuität steht. Wo Differenzen auftauchten, wie vor allem bei der Nahost-Frage, greift man, auch nicht gerade originell, zum gemeinsam verabredeten Formelkompromiss. Das hilft zwar in der Sache nicht, wohl aber in Sachen „Einheit der Partei“.

Reformistischer Wein in nicht so neuen Schläuchen

Programmatisch präsentierte der Parteitag alten reformistischen Wein in gar nicht so neuen Schläuchen. Gegenüber früheren Programmen ist das für 2024 inhaltlich eher noch einmal weichgespült.

Wie in so ziemlich jedem sozialdemokratischen Reformprogramm der letzten Jahrzehnte stellt auch DIE LINKE nicht die Eigentumsfrage, sondern die nach „Umverteilung und sozialer Gerechtigkeit“ ins Zentrum. Als Hauptursache der Probleme wird nicht der Kapitalismus, sondern der „Neoliberalismus“ ausgemacht. Daher soll aus der EU auch ein reformierter Hort der Gerechtigkeit werden:

„Wir treten an gegen ein Europa der Reichen, Rechten und Lobbyisten – und für die Interessen der abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen, all der Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen. Sie sind unsere Leute. Für sie machen wir Politik. Deswegen wollen wir eine europäische Zeitenwende für Gerechtigkeit. Deshalb wollen wir, dass die EU zu einer Kraft für soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz und Frieden wird. Ein unabhängiges Europa, das den Menschen verpflichtet ist, nicht dem Profit.“

Diese Credo bürgerlicher Arbeiter:innenpolitik zieht sich durch die folgenden fünf Abschnitte des Programms: „Umverteilen für soziale Gerechtigkeit“, „Wirtschaft sozial und ökologisch gerecht umbauen“, „Klimagerechtigkeit“, „Frieden und soziale Gerechtigkeit weltweit“ und „Mehr Demokratie, weniger Lobbyismus“.

Insbesondere das erste Kapitel „Umverteilen und soziale Gerechtigkeit“ enthält hunderte, für sich genommen zumeist unterstützenswerte Forderungen, die allesamt auf höhere Einkommen und Löhne, Mindestsicherungen, gute und kostengünstige Sozialleistungen auf der einen Seite und gleichzeitig auf Gewinnabschöpfung und Besteuerung des Kapitals und der Reichen auf der anderen zielen. Schon hier zeigt sich ein durchgängiges Problem: Wie diese Forderungen gegen die Reichen und Mächtigen, gegen das Kapital, seine Regierungen und staatlichen Institutionen erkämpft werden sollen – das kommt im Reformprogramm erst gar nicht vor. Die folgenden Abschnitte behalten diesen grundlegenden Zug nicht nur bei, sie verschlimmern ihn eher noch.

Im gesamten Programm werden große Bögen um zentrale Fragen gemacht. Erstens um die Eigentumsfrage. Diese wird nur bei den Immobilien wirklich gestellt, wobei auch dort die Frage der Entschädigung oder eben Nicht-Entschädigung ausgeklammert wird. An die Banken wagt sich die DIE LINKE jedoch erst gar nicht ran. Statt ihrer entschädigungslosen Verstaatlichung und Zentralisierung unter Arbeiter:innenkontrolle beschwört die Linke mehr „Transparenz“ und ihre Verkleinerung. Insgesamt soll der private Finanzsektor „auf eine dienende Funktion für die Gesellschaft“ zurechtgestutzt werden, so dass die Profitmacherei nur noch ausnahmsweise am Rande stattfinde. Wünsch Dir was im Kapitalismus, also.

Der andere durchgängige Fehler besteht darin, dass, mitunter auch recht kleinteilig, an der Verbesserung der bestehenden bürgerlichen Institutionen herumgeschraubt wird. Die EU wird recht detailreich „reformiert“, demokratisiert und, jedenfalls im Programm der Linkspartei, zu etwas ganz anderem gemacht, als sie eigentlich ist. Dass es sich bei ihr um einen imperialistischen Staatenblock unter deutscher und französischer Führung handelt, kommt im Programm erst gar nicht vor. Vielmehr leidet dieser „nur“ unter Fehlentwicklungen, die scheinbar wegreformiert werden könnten. DIE LINKE wendet sich zwar zu Recht gegen nationale Abschottungsstrategien, von der sozialistischen Alternative zum Europa des Kapitals – von Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas – will sie jedoch nichts wissen.

Damit bleibt ihr jedoch eine wirkliche Alternative zur populistischen Rückbesinnung auf die „Unabhängigkeit“ der Nationalstaaten verbaut, ja die Europapolitik der Linkspartei verkommt unwillkürlich zu einer utopistischen Verklärung der bestehenden EU.

Doch nicht nur dort. Zwar nimmt DIE LINKE den Kampf um die Neuaufteilung der Welt zur Kenntnis, erkennt die Gefahr von immer heftigeren Kriegen – aber ihre Antwort bleibt nicht nur vollkommen reformistisch, sondern ist offenkundig auch utopisch. Die Stärkung und Reform der UNO gerät so zum Credo ihre Außenpolitik, zum Wundermittel „friedlicher Konfliktlösung“.

Dabei zeigen alle aktuellen Kriege, ob nun der russische Angriff auf die Ukraine, die türkischen Bombardements Rojavas, Israels Invasion in Gaza oder der Bürgerkrieg im Jemen, dass sich die UNO regelmäßig als wirkungslos erweist, weil sei eben nur Ausdruck eines globalen Kräfteverhältnisses zwischen den alten und neuen imperialistischen Mächten und kein, über der imperialistischen Ordnung stehendes Organ der „Weltgemeinschaft“ ist.

Daher fehlt aber auch im internationalen Teil des Wahlprogramms jeder Bezug auf Kämpfe der Arbeiter:innenklasse, von national Unterdrückten, auf die imperialistische Konkurrenz zwischen den Großmächten. In der Ukraine erkennt die Partei zwar zu Recht das Selbstverteidigungsrecht des Landes gegen den russischen Imperialismus an, aber sie zeigt gleichzeitig keine klare Kante gegen die westliche und deutsche imperialistische Einmischung, ja sie stützt diese mit der Verteidigung von Sanktionen gegen Russland.

In Palästina verurteilt die Partei zu Recht die Ermordung unschuldiger Zivilist:innen durch die Hamas, aber sie weigert sich auch, die Legitimität des palästinensischen Widerstandes gegen die Unterdrückung durch Israel anzuerkennen. Stattdessen werden die utopische und reaktionäre Zwei-Staatenlösung und die Vermittlung durch die UNO beschworen.

Diese reformistische Grundausrichtung des Wahlprogramms ist natürlich nichts Neues, sondern bestimmt die Politik der Linkspartei seit ihrer Gründung. Inhaltlich brachte der Parteitag weder einen Neuanfang noch einen Bruch, sondern vielmehr Kontinuität auf der Basis eines nicht einmal allzu linken reformistischen Wahlprogramms, in dem auf 84 Seiten das Wort Sozialismus erst gar nicht erwähnt wird.

Plan 2025

Der „Aufbruch“ entpuppt sich aber nicht nur in dieser Hinsicht als mehr Schein als Sein. Anders als bei früheren Wahlen zum EU-Parlament geht DIE LINKE mit Spitzenpersonal aus der Partei und bekannten und anerkannten Aktivist:innen aus sozialen Bewegungen in den Wahlkampf. Die Kandidat:innen der Parteiführung erhielten anders als bei früheren Parteitagen durchweg gute Wahlergebnisse.

So erzielte der Spitzenkandidat und Parteivorsitzende Schirdewan 86,9 Prozent, ein Gegenkandidat aus dem Wagenknecht-Lager, der noch vor der Wahl seinen Austritt erklärte und sich als politischer Geisterfahrer zum Clown machte, verabschiedete sich mit 2 %. Die Umwelt- und Seenotaktivistin Carola Rackete wurde ohne Gegenkandidatin von 77,78 % gewählt. Die EU-Abgeordnete Özlem Demirel steht auf Listenplatz 3 mit 62,04 Prozent (gegen 28,86 % für Didem Aydurmus). Der Sozialmediziner Gerhard Trabert erzielte mit 96,81 % das weitaus beste Ergebnis des Teams der vier Spitzenkandidat:innen.

Klar ist aber auch eines: Die Wahlen in den Jahren 2024 und 2025 stehen im Zentrum der Aktivitäten der Linkspartei. So werden im „Plan 2025“ zum „Comeback der Linken“ die verschiedenen Urnengänge bis zur nächsten Bundestagswahl – für eine elektoral ausgerichtete Partei durchaus konsequent – als entscheidende „Etappenziele“ für den Aufbruch und Neuaufbau angeführt. Das Überleben und der viel bemühte „Gebrauchswert“ der Linkspartei hängen somit vor allem davon ab, ob wie Europawahl, die Landtagswahlen und vor allem die Bundestagswahl 2025 ausgehen werden.

Wahrscheinlich stehen der Partei in den kommenden Monaten noch etliche, womöglich mehrere Tausend Austritte von Anhänger:innen der Bewegung um Sahra Wagenknecht bevor, spätestens wenn die neue populistische Partei gegründet wird. Insofern sind die stetigen Verkündigungen von Neueintritten mit Vorsicht zu genießen. Umgekehrt wird DIE LINKE jedoch auch nicht kurzfristig zusammenbrechen. Die neue Einheit der Partei ohne Wagenknecht und Co. ist nämlich nicht bloß inszeniert. Regierungssozialist:innen und Bewegungslinke erwiesen sich nur als scheinbare Gegensätze. In Wirklichkeit bilden sie zwei Seiten einer Medaille. Es wächst zusammen, was zusammengehört – und das wird sicher dadurch erleichtert, als die Linkspartei in nächster Zukunft immer weniger in die Verlegenheit von Regierungsbeteiligungen kommen wird, also viel leichter ihr „Bewegungsgesicht“ zeigen kann. Schließlich wird sich DIE LINKE gegen alle anderen Parteien – einschließlich des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) – als einzige Partei präsentieren, die überhaupt den Rechtsruck in Deutschland beim Namen nennt und gegen diesen steht. Da dieser eine Realität ist, trifft sie damit ein reales Problem und es ist keineswegs auszuschließen, dass ihr das eine gewisse Anziehungskraft verleihen kann. Das eigentliche Problem besteht darin, dass DIE LINKE keine Antwort oder, genauer, eine falsche auf den Rechtsruck gibt.

Sie erkennt zwar an, dass diesem auch eine Krise der kapitalistischen Ordnung zugrunde liegt, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt unterminiert und die bürgerliche Demokratie samt der politischen Mitte erodieren lässt. Doch ihrer Vorstellung zufolge liegen dem nicht fallende Profitraten und eine strukturelle Überakkumulation von Kapital zugrunde, die ihrerseits die Konkurrenz, den Kampf um die Neuaufteilung der Welt und die ökologische Krise verschärfen und den Nährboden für Rassismus, Militarismus, Populismus, Autoritarismus und faschistische Tendenzen bilden. Der Reformismus hält auch diese Probleme im Rahmen einer „regulierten“ Marktwirtschaft für lösbar, sofern nur eine verfehlte, neoliberale Politik durch eine „richtige“ der Umverteilung, des sozialen Ausgleichs und der Demokratisierung ersetzt würde. Daraus ziehen diese Sozialist:innen den Schluss, dass heute keine revolutionäre Antwort möglich und sinnvoll sei, sondern dass man sich auf eine „realistische“ Reformpolitik konzentrieren müsse.

Darin liegt der bürgerliche, aber auch utopische Kern der Vorstellungen der Linkspartei. Auch wenn die sozialistische Revolution angesichts der Führungskrise der Arbeiter:innenklasse in weiter Ferne zu liegen scheint, so erfordern alle großen Probleme unsere Zeit nichts weniger als eine revolutionäre Antwort – und das heißt zuerst auch den Bruch mit reformistischen Vorstellungen und den Kampf für den Aufbau einer revolutionären Arbeiter:innenpartei und -internationale.




1848 und die Linke

Martin Suchanek, Infomail 1237, 15. November 2023

Der folgende Text ist ein Redemanuskript, das dem Beitrag bei der von Platypus Leipzig am 2. Oktober durchgeführten Veranstaltung zu „1848 und die Linke“.

„Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eigenen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus.“ (Marx, 18. Brumaire des Louis Bonaparte)

Betrachten wir die Revolution von 1848, so brachten wir sie als Revolutionär:innen vom Standpunkt der Revolution des 20. und 21. Jahrhunderts, ihre Verwerfungen, Aufgaben – nicht und nie bloß in einer geschichtlichen Rückschau.

Diese Bemerkung erklärt aber, warum ein großer Teil der sog. Linken – inklusive derer, die sich selbst radikal nennen, so wenig Interesse an der Revolution von 1848 und auch anderen Revolutionen der Vergangenheit haben. Nehmen wir nur den Oktober 1923, dessen Niederlage einen weltgeschichtlichen Wendepunkt darstellte.

Die Revolution von 1848 stellt auch einen solchen weltgeschichtlichen Wendepunkt dar, weil sie die Parameter der Klassenverhältnisse und revolutionärer Politik damals und bis heute mitprägt. Worin besteht das, dazu thesenhaft.

1. Die REVOLUTION von 1848 war eine internationale Revolution

Auch wenn sie – wie viele Revolutionen – unvorhergesehen, wenn sie, in Marx Worten, in Frankreich mit einer „Überrumpelung“ beginnt, so breitet sie sich über ganz Europa aus.

Sie ist kein nationales Ereignis, sondern ein internationales, auch wenn es Deutschland und Osteuropa um den die Nachvollziehung der bürgerlichen Revolution geht.

2. Die Revolution von 1848 ist zwar eine gescheiterte bürgerliche Revolution, zugleich aber geht sie schon über diese hinaus und zwar in mehrfacher Hinsicht.

– Erstens verbindet die Entwicklung in England und jene auf dem Kontinent die Frage der sozialistischen mit der bürgerlichen Revolution.

  • Zweitens zeigen alle Revolution und Erhebungen in Europa, dass das Bürger:innentum nicht mehr zu einer entschlossenen, konsequenten Revolution gegen die Dynastien und das alte Regime fähig ist. Die bürgerliche und kleinbürgerlichen Parteien Deutschland, Frankreich, Österreich usw. ziehen letztlich die Niederlage einer zu weit gehenden Revolution vor.

  • – Dies hängt drittens untrennbar mit der Entwicklung des Klassenkampfes und dem Hervortreten der Arbeiter:innenklasse als eigenständiger, unabhängiger revolutionärer Kraft zusammen, vor allem und zuerst in Frankreich. Die Klasse der Lohnabhängigen trägt auch gemeinsam mit den unteren Schichten des städtischen Kleinbürger:innentums die Hauptlast der Revolution.

  • Daher enthalten viertens das Programm der Arbeiter:innenklasse – wie im Kommunistischen Manifest, aber sehr viel genauer in den Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland im März 1848 dargelegt – sehr radikale Eigentumsforderungen und Übergangsforderungen.

  • Die Revolution enthält also fünftens schon wichtige Aspekte der permanenten Revolution, der Revolution in Permanenz, der Verbindung von demokratischen Aufgaben – nationale Einheit, Demokratie und Republik, Landfrage, Abschaffung aller feudalen Überreste – mit Fragen der proletarischen Revolution. Schon im Kampf treten letztlich Proletariat und Bürger:innentum als Kräfte auf, die um die Führung der Revolution im Streit liegen.

  • Die Revolution zeigt die Notwendigkeit der Organisierung der Arbeiter:innenklasse als eigenständige politische Kraft, als Partei, im Gegensatz zu anderen Klassen – auch als Voraussetzung für Taktik und Bündnispolitik gegen die Reaktion.

3. Das Scheitern der Revolution führt Marx und Engels zu einer schonungslosen und nüchternen Neubestimmung der Aufgaben von Revolutionär:innen.

Das schließt natürlich auch ein, dass wir heute in der Politik und Analyse von Marx und Engels auch wichtige Schwächen und Fehler kritisch benennen müssen. Das bezieht sich z. B. auf die falsche Konzeption von historischen und geschichtslosen Völkern, die sie, wie Rosdolsky in „Friedrich Engels und das Problem der ‚geschichtslosen’ Völker“ zeigt, von Hegel letztlich unkritisch übernehmen. Es bezieht sich aber auch auf die Frage der eigenständigen Arbeiter:innenorganisation, deren Wichtigkeit erst mit dem Niedergang der Revolution deutlicher hervorgehoben wird.

Jetzt aber zu den positiven Lehren:

  • Anerkennung der Niederlage der Revolution. Ablehnung der Vorstellung, dass diese künstlich wiederbelebt werden könne.

  • Hinwendung zur tieferen, ökonomischen Analyse der Verhältnisse. Die Niederlage wird nicht einfach aus politischen Fehlern und Verrat erklärt, sondern auch aus einer Unreife der Arbeiter:innenklasse, die ihrerseits durch die Unreife der bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung in Deutschland, tw. in Frankreich verursacht ist.

  • Zugleich tritt das Proletariat schon so sehr in Erscheinung, dass das Bürger:innentum als revolutionäre Klasse ausfällt, vor dem Kampf zurückschreckt, weil das Proletariat zu weit gehen könnte, den bürgerlich Rahmen der Verhältnisse in Frage stellen könnte. Umgekehrt betrachten Marx und Engels die bürgerliche Revolution nur als Übergangsstadium.

  • Die Konterrevolution kann sich auf die Erschöpfung der revolutionären Klassen stützen – unreifes Proletariat, zögerliche bürgerlich/kleinbürgerliche demokratische Kräfte – aber auch auf „Mittelklassen“ und die Bäuer:innenschaft auf dem Land. Der Sieg der Konterrevolution nimmt eine spezifische Form an, führt zur Etablierung eines bonapartistischen Staatsapparates oder Regimes. Am klarsten in Frankreich, aber auch in Preußen.

  • Die gescheiterte Revolution macht auch deutlich, dass die Arbeiter:innenklasse die bürgerliche, bürokratische Staatsmaschinerie, die mehr und mehr perfektioniert wird, nicht einfach in Besitz nehmen kann für ihre Zwecke. Der bürgerliche Staat muss vielmehr zerschlagen werden, damit eine wirkliche Volksrevolution mit dem Proletariat an der Spitze siegen kann.

4. Warum kräht 2023 kaum jemand nach der Revolution 1848?

Das hängt sicher nicht nur damit zusammen, dass 175 Jahre ein etwas sperriger Jahrestag sind. Auch die Revolution von 1923 interessiert wenig, ob wir den 100. Jahrestag erleben.

Der Grund ist eine andere. Für Marxist:innen ist die Betrachtung vergangener Revolution untrennbar mit der Betrachtung zukünftiger verbunden. Oder wie Marx formuliert: die soziale Revolution schöpft ihre Poesie auf der Zukunft.

Für eine Linke jedoch, für deren große Mehrheit die Revolution ein toter Hund, eine Utopie, eine bloße Erinnerung an die Vergangenheit geworden ist, gibt es auch keine Lehren aus der Revolution.

Die heutige Linke steht in ihrem Verhältnis zur Revolution von 1848 allenfalls auf dem Standpunkt des radikalen Kleinbürger:innentums von 1848, das die Revolution irgendwie wollte, aber auch nicht zu viel und zu radikal. Heute will man eine entschlossene, transformatorische Reformpolitik, Sozialismus, aber im Rahmen des bürgerlich-demokratischen Staatsgebäudes.

Nur wenn die sozialistische Umwälzung, nur wenn die Revolution als reale Möglichkeit und Aufgabe unserer historischen Periode begriffen wird – als einzige wirkliche Antwort auf die Krise des Kapitalismus, auf den Krieg, auf die ökologische Zerstörung, auf Rassismus und zunehmende Reaktion in allen Formen – nur dann können überhaupt die Lehren vergangener Revolutionen fruchtbar gemacht werden.




Antisemitismus und Antizionismus

Teil 3 des Podcasts zum Thema Antisemitismus und wie er bekämpft werden kann

Lage der Klasse, Folge 6, Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1231

Herzlich willkommen zur Lage der Klasse, dem Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht zu marxistischer Theorie und revolutionärer Praxis. Heute mit Lina und Katjuscha und der Frage: Wie zeigt sich Antisemitismus heute und wie können wir ihn erfolgreich bekämpfen?

Die Zuspitzung der Kämpfe in Palästina seit der Aufnahme unserer letzten Folge zeigen, wie brandaktuell diese Fragen sind. Im Zuge der Bombenangriffe und der drohenden Bodenoffensive der israelischen Armee in Gaza nach den Angriffen der Hamas am 07. Oktober wird der vorgebliche Kampf gegen Antisemitismus immer wieder als Rechtfertigung für das Vorgehen gegen den palästinensischen Widerstand genutzt und dient als Legitimierung der Unterdrückung und Ermordung von Palästinenser:innen. Eine genauere Einschätzung der aktuellen Lage wollen wir in unserer kommenden Folge vornehmen, in der es um ein Aktionsprogramm zu Palästina gehen soll. Heute wollen wir zeigen, welche Gefahr eine solche Verwischung des Antisemitismusbegriffs darstellt, nicht nur für den berechtigten Befreiungskampf der Palästinenser:innen, sondern vor allem auch für den Kampf gegen Antisemitismus. Denn wie wollen wir gegen Antisemitismus vorgehen, wenn wir kein präzises Verständnis davon haben?

Antisemitismus heute

Wir sprechen heute darüber, in welchen Formen Hass gegenüber Juden/Jüdinnen derzeit in verschiedenen Teilen der Gesellschaft zum Ausdruck kommt, und wollen beleuchten, welche Ansätze gegen Antisemitismus historisch bereits vertreten worden sind, um euch anschließend unsere eigene Position – also die Forderungen der Gruppe Arbeiter:innenmacht – näherzubringen.

Viele Rechtspopulist:innen aus AfD und ähnlichen Kreisen behaupten, dass Antisemitismus aktuell in Deutschland kaum noch eine Rolle spielt. Das einzige Problem seien die vielen Geflüchteten, die einen neuen Antisemitismus mit ins Land brächten. Es wird hier vom Antisemitismus als importiertes Problem unzivilisierter Völker schwadroniert. Tatsächlich zeigen Studien, dass es in den vergangenen Jahren einen Anstieg antisemitischer Straftaten gab, die aber vorwiegend von deutschen Rechten und eben nicht von Migrant:innen verübt wurden. Andererseits ist das eine gefährliche Gleichsetzung von Widerstand gegen nationale Unterdrückung, wesentliche Quelle der Ablehnung Israels im Nahen Osten, mit dem eliminatorischen Antisemitismus. Der schreckliche Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019 und die Angriffe auf ein jüdisches Restaurant in Chemnitz 2018 zeugen davon. Für die AfD und dessen Gründungsmitglied Alexander Gauland sind Hitler und die Nazis ein „Vogelschiss“ in der sonst so „erfolgreichen deutschen tausendjährigen Geschichte“, wie er diese verharmloste. Hier ist der angebliche Kampf gegen Antisemitismus ein willkommenes Mittel, ihren antimuslimischen Rassismus salonfähig zu machen und Repressionen und Abschiebungen von Geflüchteten zu legitimieren.

Wir befinden uns in einer Zeit, in der nicht nur explizit rechte Kräfte gegen Migrant:innen wettern, sondern auch alle anderen bürgerlichen einen zunehmenden Abschreckungs- und Abschottungskurs gegenüber Geflüchteten fahren. Die Kündigung von Landesaufnahmeprogrammen von Geflüchteten, die Ausweitung der sogenannten „sicheren Herkunftsländer und -regionen“, schnellere Abschiebungen, verstärkter Grenzschutz und Migrationsabkommen – unter anderem mit Tunesien –, welche Flüchtende schon vor der europäischen Grenze stoppen sollen, sorgen medial kaum für Aufschrei und werden von allen bürgerlichen Parteien mitgetragen. Aktuell zeigt die EU Asylrechtsreform, welche die Abschaffung des geltenden Asylrechts und die Nutzung von Asylzentren bzw. eher Gefängnissen an den EU Außengrenzen vorsieht, dass es eine breite Unterstützung dieser rassistischen Abschottung gibt. Im Bundestag lehnte nur die Linkspartei die Reform ab, während SPD, FDP und Grüne diese mittrugen und CDU/CSU sogar noch weitere Schritte forderten. Der Wall um die Festung Europa soll ausgebaut werden – darin sind sich die meisten einig. Olaf Scholz erklärte gegenüber dem Spiegel: „Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben.“ Der Rassismus gegenüber Migrant:innen dient dazu, unsere Klasse zu spalten und die Auswirkungen der kapitalistischen Krisen – wie finanzielle Not, Unsicherheit und Abstiegsangst – den Migrant:innen in die Schuhe zu schieben. Das zeigt sich, wenn Geflüchteten unterstellt wird, dass sie angeblich nur wegen der Sozialleistungen nach Deutschland kämen und damit den Deutschen alles wegnähmen. Auf die Spitze getrieben hat dies CDU-Chef Friedrich Merz, der die absurde Unterstellung äußerte, dass Migrant:innen beim Arzt säßen, um sich die Zähne neu machen zu lassen, während die deutschen Bürger:innen nebenan keine Termine bekämen.

Das Bild der „bösen Migrant:innen“ wird aktuell auch im Zuge der Solidaritätsproteste mit Palästina verbreitet. Es wird dabei das Bild der in Anführungszeichen „terroristischen Migrant:innen“ gezeichnet und eine angebliche Bedrohung durch die Solidaritätsbekundungen mit den Palästinenser:innen konstruiert, die gerne auch mal auf alle Migrant:innen ausgeweitet wird. Demonstrationen werden verboten und massive Repressionen ausgeübt. Es wurde sogar über die Abschiebung von sogenannten „Straftäter:innen“ gesprochen, was von der Bundesinnenministerin Nancy Faeser befürwortet wurde. Dies alles findet unter dem Deckmantel des angeblichen Kampfes gegen Antisemitismus statt.

Hierbei ist zu sagen, dass es sich nicht wirklich um einen Kampf gegen Antisemitismus handelt, sondern vielmehr die imperialistischen Interessen im Nahen Osten und die damit einhergehende Unterstützung von Israel ideologisch gerechtfertigt werden sollen. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Kampf gegen Antisemitismus dafür instrumentalisiert wird, eine zunehmend rassistische Front gegenüber Migrant:innen zu verfestigen. Wir müssen hier klar sagen, dass dieser Scheinkampf einem wirklichen Kampf gegen Antisemitismus niemals gerecht wird – und, so behaupten wir, dem auch nicht gerecht werden kann.

In den vergangenen Folgen haben wir unser Verständnis von Antisemitismus dargelegt und verschiedene Formen des Hasses gegenüber Juden und Jüdinnen genauer beleuchtet. Im Kampf gegen Antisemitismus ist es zwingend notwendig, ein präzises Verständnis seiner Entstehung zu entwickeln, um Fehleinschätzungen zu vermeiden. Denn nur so kann verhindert werden, dass die AfD als „Volkspartei des gesunden Menschenverstandes“ erscheint – wie es die antideutsche Zeitschrift Bahamas schreibt – und die Proteste der antirassistischen Linken gegen sie als Verharmlosung des Holocausts dargestellt werden.

Definitionen und Kritik

In der öffentlichen Debatte ist aktuell eine Vielzahl diverser Definitionen von Antisemitismus im Umlauf. Auch gibt es zahlreiche Studien zu diesem Thema, die auf unterschiedlichen Verständnissen von Antisemitismus aufbauen und damit nur schwer vergleichbare Ergebnisse hervorbringen. David Ranan, der am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin arbeitet, hat diese Problematik genauer beleuchtet und einige übliche Antisemitismusdefinitionen und Untersuchungsmethoden vorgestellt. Er problematisiert, dass er häufig mit Israelkritik gleichgesetzt wird, statt seine verschiedenen Formen differenziert zu erfassen. Eben jene Gleichsetzung verurteilt auch Moshe Zuckermann, ein israelisch-deutscher Soziologe und Professor an der Universität Tel Aviv. Er kritisiert, dass es in Deutschland inzwischen die Norm sei, „Israel“ und „Zionismus“ mit „den Juden/Jüdinnen“ gleichzusetzen. Er verweist darauf, dass der Staat Israel und seine Verteidiger:innen auf diese Gleichsetzung angewiesen sind. Er setzt sich für eine klare Trennung der Phänomene ein, ebenso wie für die Trennung von „Israelkritik“, „Antizionismus“ und „Antisemitismus“.

Ranan zeigt in seinen Publikationen auf, dass in der Antisemitismusforschung in Deutschland eine solche Trennung nicht stattfindet und undifferenzierte Erhebungsinstrumente zur Erfassung von Antisemitismus verwendet werden. Beispielsweise verwende die Antidiffamierungsliga seit 1913 zur Erfassung von Antisemitismus ein Instrument, das durch 11 Stichpunkte typische antijüdische Stereotype erfragt. Ein beispielhafter ist: „Juden haben zu viel Kontrolle über die US-Regierung“. Wer mehr als 6 von diesen Fragen gemäß Stereotyp beantwortet, gilt als antisemitisch. Sicherlich ist der Fragebogen hilfreich, um Vorurteile und Verschwörungstheorien zu erfassen, allerdings wird nicht notwendigerweise festgestellt, ob dahinter auch mit Aggression aufgeladener Hass gegenüber Juden und Jüdinnen lauert, welcher nochmal eine andere Qualität hat und die potenziell viel größere Gefahr darstellt.

Als weiteres Beispiel führt Ranan die „Mitte“-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung gemeinsam mit der Universität Bielefeld von 2016 an. Diese unterscheidet zwischen „klassischem“, „sekundärem“ und „israelbezogenem“ Antisemitismus. Hier wird also zwischen dem offenen Hass gegenüber Juden und Jüdinnen, einem unterschwelligen und verkleideten Antisemitismus, der sich beispielsweise in der Verharmlosung der Schoa äußert, und einem mit der Kritik an Israel verknüpftemn Antisemitismus unterschieden. Ranan kritisiert, dass die Studie den Eindruck erweckt, dass der israelbezogene im Vergleich zum sekundären Antisemitismus das größere Problem darstellt. Die Autor:innen der Studie gehen davon aus, dass zwar prinzipiell eine „neutrale Kritik“ an Israel möglich ist, diese aber äußerst selten vorkomme und in der Regel antisemitisch unterfüttert sei. Eine solche Verwischung der Unterschiede zwischen Israelkritik und latentem Antisemitismus ist vehement abzulehnen, denn sie verkennt, dass Letzterer mit aggressivem Verdrängungspotenzial belastet ist und langfristig die weitaus größere Gefahr darstellt.

Beide Beispiele zeigen, dass eine undifferenzierte Analyse und besonders die Gleichsetzung von Israelkritik mit Antisemitismus mögliche reaktionäre Einstellungen hinter den Stereotypen  über Juden und Jüdinnen aus dem Fokus lässt und zu einem verzerrten Bild der Verteilung von Antisemitismus in unserer Gesellschaft führt. Es kann schnell der Fehlschluss gezogen werden, dass Antisemitismus unter Menschen mit arabischem Migrationshintergrund sehr viel stärker verbreitet ist, da diese durch persönliche oder familiäre Erfahrungen natürlich tendenziell häufiger die Politik des Staates Israel kritisieren. Zugleich wird unter Deutschen die klassische Sündenbockaggression gegenüber Juden/Jüdinnen unterschätzt, denn viele Deutsche haben in ihrer Schulzeit gelernt, ihren antijüdischen Hass zu verschleiern und vermeintlich „korrekt“ auf Fragen, wie sie zu statistischen Zwecken gestellt werden, zu antworten. Es wird also suggeriert, dass Muslim:innen die größere Gefahr darstellen, während die Gefahr deutscher Rechter unterschätzt wird. Hierin ist ein gefährlicher Trugschluss begründet.

Die zentrale These Ranans lautet, dass es in Deutschland unter Menschen mit muslimischem Migrationshintergrund eine verstärkte Bereitschaft gibt, aberwitzige Stereotype über Juden und Jüdinnen zu teilen. Diese resultiere aus der Empörung über die Politik Israels gegenüber den Palästinenser:innen und dem Kurzschluss, diese auf Juden und Jüdinnen im Allgemeinen zu beziehen. Das Primäre sei also die Kritik an Israel, hinter der sich in den meisten Fällen keine antijüdische Haltung verberge. Im Vergleich dazu seien bei einigen Deutschen die antisemitischen Einstellungen das Primäre, die hinter einer Kritik am Staat Israel verborgen werden. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen dem eliminatorischen Antisemitismus, den wir schon in unseren letzten Folgen genauer beleuchtet haben und einer antijüdischen Haltung der Unterdrückten, die sie von ihren Unterdrücker:innen auf alle Juden/Jüdinnen verallgemeinern.

Wir wollen in keiner Weise antijüdische Stereotype verharmlosen. Als Revolutionär:innen müssen wir uns aktiv gegen diese stellen und ankämpfen. Antisemitismus und antislawischer sind in Deutschland die beiden zentralen geschichtlichen Erscheinungsformen von Rassismus, so muss der Kampf dagegen sich auch fokussieren. In den letzten Jahren hat der antimuslimische Rassismus in Deutschland eine immer größere Bedeutung eingenommen. Gleichzeitig dürfen wir nicht leugnen, dass die größte Gefahr für Juden und Jüdinnen in Deutschland noch immer von Rechten ausgeht, deren Antisemitismus nach wie vor tief sitzt und im Kern einen vernichtenden Charakter aufweist. Diese Art des Antisemitismus steht in Tradition der deutschen Faschist:innen, für deren Ideologie er von Beginn an ein Wesensmerkmal darstellte. Wie wir in den vergangenen Folgen schon gehört haben, fungierten Juden und Jüdinnen dabei als Sündenböcke für die hässlichsten Auswirkungen des Kapitalismus, was zu einem schrecklichen historisch singulären Vernichtungsprozess führte. Nazis präsentierten sich als Verteidiger:innen der angeblich „überlegenen europäischen Zivilisation“ und konstruierten in Jüdinnen und Juden eine Bedrohung für die vermeintlich „überlegene deutsch-arische Rasse“. Dies diente unter anderem zur Legitimation der Expansionspläne in Osteuropa. Opfer der Schoa wurden zum großen Teil verarmte Juden/Jüdinnen aus Osteuropa, die der Erweiterung des sogenannten „Lebensraumes im Osten“ im Wege standen. Heute kann sich diese aggressive Form des Antisemitismus nicht mehr in einer solchen Offenheit zeigen und tritt eher latent auf. Dennoch keimt sie in der Mitte der Gesellschaft und kann potenziell wieder in vernichtender Weise eskalieren. Der zunehmende Rechtsdrall, der einerseits den rassistischen Kurs gegenüber Migrant:innen ebnet, kann ebenso den Boden für die weitere Ausbreitung eines gefährlichen Antisemitismus bereiten. Man muss sich nur den Fall Hubert Aiwanger anschauen, dessen faschistisches Flugblatt als „Jugendsünde“ abgetan und dessen Antisemitismus damit normalisiert wird. Trotz dieser antisemitischen Entgleisungen – oder gerade deshalb – konnte die Freien Wähler bei den diesjährigen Landtagswahlen sogar an Stimmen gewinnen.

So wie sich Rassismus gegenüber Migrant:innen gerade flächendeckend ausbreitet, ist dies ebenso mit Antisemitismus möglich. Wir müssen Antisemitismus also dort – in der Mitte unserer Gesellschaft – an der Wurzel packen und bekämpfen und ihn als Wucherung unserer kapitalistischen Gesellschaft begreifen.

Blick in die Geschichte

Um den Kampf gegen Antisemitismus nachzuvollziehen, machen wir aus dem Jetzt einen Sprung in die Vergangenheit: Historisch war es vor allem die Arbeiter:innenbewegung, die ihn aktiv geführt hat. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts trat diese als anwachsend organisierte Kraft auf, wobei sich jüdische und nicht-jüdische Arbeiter:innen gemeinsam in Gewerkschaften und sozialistischen Parteien organisierten und gegen ihre Ausbeutungsbedingungen kämpften. Als der Marxismus zunehmend an Einfluss gewann, verbreitete sich ein tieferes Verständnis der Zusammenhänge zwischen Kapitalismus und Antisemitismus. Es wurden die Klasseninteressen des Proletariats herausgearbeitet und aufgezeigt, dass diese im klaren Gegensatz zu Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus stehen. Auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1893 betonte deren Mitbegründer August Bebel den reaktionären Charakter von Antisemitismus und machte deutlich, dass er nur im Kampf für Sozialismus endgültig besiegt werden kann. Er vertrat die Ansicht, dass Antisemitismus den Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung auf einen kleinen Teil des Kapitals – das jüdische – ablenke und somit nicht im Interesse der Arbeiter:innenklasse stehen könne. Doch auch damals zeigte die Antisemitismusanalyse der Sozialdemokratie deutliche Mängel. Dem Antisemitismus wurde eine „revolutionäre“ Seite angedichtet. Die Ansicht war verbreitet, dass v. a. das Kleinbürger:innentum, das von der Krise gebeutelt war und sich von antisemitischer Propaganda verführen ließ, früher oder später schon merken würde, dass sie die Ursachen der Krise nur unzureichend erklären kann. Mit voranschreitender Zeit würde es im Kapitalismus die wahren Gründe seiner Verelendung automatisch erkennen und zum Kampf gegen ihn antreten. Dieser Irrglaube, dass die fehlgeleiteten Massen auf lange Sicht schon die Täuschung der antisemitischen Politik durchschauen werden, führte zur verhängnisvollen Unterschätzung ihrer Gefährlichkeit.

Diese Fehleinschätzung lehnten die Bolschewiki vehement ab. Im Gegensatz zur Sozialdemokratie, die sich aus Angst, Wähler:innenstimmen zu verlieren, teils sehr zögerlich zeigte, gegen Antisemitismus Stellung zu beziehen, blieben die Bolschewiki sehr klar und prinzipienfest. Sie können historisch zu den entschiedensten Kämpfer:innen gegen Antisemitismus gezählt werden. Trotzki erkannte sehr früh die Gefahr, die von den Nazis – speziell für Juden und Jüdinnen – ausging und analysierte den Charakter des Faschismus als bisher am meisten zugespitzte Form des eliminatorischen Antisemitismus und die zentrale Rolle des Kleinbürger:innentums in der faschistischen Bewegung. Auch in ihrer praktischen Arbeit kämpften die Bolschewiki entschieden gegen die Unterdrückung von Juden/Jüdinnen. Sie traten für die Anerkennung von Minderheitenrechten ein – wie beispielsweise der Etablierung von Schulunterricht auf Jiddisch – und kämpften gegen die Abschaffung diskriminierender Gesetze. Lenin arbeitete beispielsweise 100 Gesetzesstellen heraus, die geändert werden mussten, schrieb Artikel zum Thema und forderte die Parteiorganisationen zum Sammeln von Unterstützungserklärungen auf. Wichtig anzumerken ist, dass vor allem in der jungen Sowjetunion ein aktiver Kampf gegen Antisemitismus geführt wurde. Als sich zunehmend der Stalinismus mit seiner Theorie des Sozialismus in einem Land durchsetzte und damit einhergehend Patriotismus und völkischer Populismus propagiert wurden, schwand auch das Interesse am Kampf gegen Antisemitismus. Viele der Errungenschaften wurden zurückgenommen. Er fand wieder zunehmend Verbreitung und wurde teils bewusst als Ventil für den Unmut gegenüber der Bürokratie und zum Vorgehen gegen Linksoppositionelle eingesetzt.

Historisch waren es sicherlich vor allem aber Juden und Jüdinnen selbst, die einen Ausweg aus dem Hass, der ihnen entgegenschlug, suchten. Sie kämpften in Gewerkschaften, sozialistischen oder kommunistischen Parteien, gründeten Selbstverteidigungsgruppen und wurden zu eigenständigen, selbstorganisierten Subjekten ihrer Geschichte. Ende des 18. Jahrhunderts entstand der „Allgemeine jüdische Arbeiter:innenbund“, kurz „Bund“ genannt – eine jüdische Arbeiter:innenpartei, die kurz nach ihrer Gründung mehrere zehntausende Mitglieder gewann und in verschiedenen osteuropäischen Staaten wirkte. Für die Mitglieder des „Bundes“ war die Befreiung vom Antisemitismus unmittelbar mit dem Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung verknüpft. Er richtete sich also gleichzeitig gegen Antisemitismus und das Kapital. Ziel war es, die Welt als Ganzes zu verändern und die Klassengesellschaft überall aus den Angeln zu heben. Der Kampf dafür sollte im eigenen Land beginnen. Die Ansichten des „Bundes“ standen somit im Widerspruch zur zionistischen Idee, die als Antwort auf Antisemitismus die Auswanderung nach Palästina und Schaffung eines jüdischen Staates propagierte und eine jüdische Nation konstruierte. Der „Bund“ lehnte dies strikt ab und bewertete die Auswanderung nach Palästina als Realitätsflucht in eine Scheinwirklichkeit. Heute wird der Zionismus häufig als alternativlos im Kampf gegen Antisemitismus dargestellt. Der Kampf jüdischer Arbeiter:innen aber zeigt, dass der Zionismus historisch nicht der einzige Weg war und eine sozialistische Organisierung der Massen als Alternative möglich gewesen wäre. Der Vollständigkeit halber erwähnen wir noch die einflussreiche Strömung des liberalen Juden-/Jüdinnentums, die sich für eine Assimilierungsbewegung in den jeweiligen Nationalstaaten einsetzte. Moses Mendelssohn ist ihr wohl bekanntester Vertreter.

Allerdings verschoben sich die Machtverhältnisse in Richtung zionistischer Ideen. Innerhalb der sozialistischen Bewegung entbrannten heftige Diskussionen über die Frage der „jüdischen Nation“. Zwar lehnte es ein Großteil ab, in den Juden und Jüdinnen eine eigene Nation zu sehen und befürwortete ihre möglichst schnelle Integration dort, wo sie lebten. Rosa Luxemburg war beispielsweise eine der stärksten Verfechterinnen dieser Forderung. Dabei ist zu sagen, dass unter Integration nicht die Assimilierung im Sinne einer Unterordnung unter die bestehende nationale Leitkultur gemeint ist, sondern eine gleichberechtigte Entwicklung einer gemeinsamen, internationalen Kultur, bei der die progressiven Elemente der einzelnen Kulturen verschmelzen. Doch war die nationale Frage äußerst umstritten. Der „Bund“ verfolgte das Ziel, alle jüdischen Arbeiter:innen des zaristischen Russlands in einer sozialistischen Partei zu vereinen und die gesetzliche Anerkennung der Juden/Jüdinnen in Russland als eigene Nation mit Minderheitenstatus zu erreichen. Er vertrat also die Ansicht, dass Juden und Jüdinnen eine eigene Nation darstellten und sahen daher auch die Notwendigkeit, dass sie sich in einer eigenständigen Organisation zusammenschlossen. Die Bolschewiki lehnten die Vorstellung des Bundes von getrennten Parteien, die dann in einer sozialistischen Föderation zusammenarbeiten würden, ab. Sie vertraten die Position einer einheitlichen Partei, in der es autonome Sektionen für jüdische Arbeiter:innen geben müsse, denn sie verstanden, dass nur die gemeinsame Erfahrung im Klassenkampf die Mauern sozialer Unterdrückung sprengen kann.

Schließlich kam es zur Spaltung, aus der „Bund” und „kommunistischr Bund“ hervorgingen. Auch spalteten sich einige tausend Arbeiter:innen ab, die sich der Idee des Zionismus zuwandten. Es entstand die „Jüdische Sozialdemokratische Partei – Poale Zion“ – was auf Deutsch „Arbeiter:innen Zions“ bedeutet. Damit hatte der Zionismus, der bis dahin nur in kleinbürgerlichen Zirkeln bestand, zum ersten Mal eine größere Arbeiter:innenpartei hinter sich.

Sowohl die Gründung des „Bundes“ als auch die Entstehung der zionistischen Bewegung muss als Reaktion der jüdischen Bevölkerung auf den zunehmenden Antisemitismus im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts verstanden werden. Beide sahen in der Selbstorganisation der Juden und Jüdinnen die einzige Möglichkeit, gegen selbsterfahrene Diskriminierung und Gewalt zu kämpfen. Doch je nach Klassenzugehörigkeit unterschieden sich die Antworten auf die antisemitische Bedrohungslage. So war es insbesondere das Großbürger:innentum, welches die Auswanderung armer osteuropäischer Juden und Jüdinnen nach Palästina förderte, um diese mit wenig finanziellem Aufwand loszuwerden. Die jüdische Arbeiter:innenbewegung, insbesondere in Osteuropa, hingegen, setze sich für die Befreiung von Unterdrückung und Antisemitismus durch das Erkämpfen des Sozialismus ein und positionierte sich somit entschieden emanzipatorisch und eben nicht zionistisch. Anfangs war die zionistische Idee eine kleinbürgerlich-nationalistische. So hieß es auf dem ersten Zionistischen Weltkongress 1897: „Der Zionismus erstrebt die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina für diejenigen Juden, die sich nicht anderswo assimilieren können oder wollen.“ Der geschaffene Staat Israel sollte also als Schutzraum für alle Menschen jüdischen Glaubens fungieren. Der ideologische und organisatorische Kopf der zionistischen Bewegung war Theodor Herzl, der das bekannte Werk „Der Judenstaat“ verfasst hat. Wesentliche Triebfedern der zionistischen Idee waren die Angst vor der Auflösung jüdischer Identität in der Diaspora, aber auch die Sorge, dass der Antisemitismus weiter zunehmen würde, je mehr jüdische Geflüchtete aus Osteuropa zuwanderten. Als Lösung strebte der Zionismus also einen „eigenen“ Nationalstaat an, für den jedoch die grundlegenden Voraussetzungen fehlten: Abgesehen davon, dass mit Beginn der imperialistischen Epoche der Nationalstaat nichts Fortschrittliches mehr an sich hatte, fehlte es der jüdischen Gemeinschaft an einem gemeinsamen Territorium sowie einer gemeinsamen Hochsprache. So musste die zionistische Idee automatisch von tiefen Widersprüchen durchzogen sein, von denen wir hier einige benennen möchten:

Schon der altösterreichische Sozialhistoriker und marxistische Ökonom Roman Rosdolsky weist richtigerweise darauf hin, dass der Zionismus eine Art umgekehrter Antisemitismus ist, der nicht die jüdische Solidarität, sondern das Nationalstaatsprojekt in den Vordergrund stellt und paradoxerweise den Antisemitismus unbedingt als seine Legitimation benötigt. Nur durch massiven weltweiten Antisemitismus kann der Zionismus sein Ziel erreichen, was darin besteht, dass die jüdische Diaspora beendet wird, indem die Juden/Jüdinnen dieser Welt nach Israel gehen. Läge kein Antisemitismus vor und wären Menschen jüdischen Glaubens dort, wo sie leben, vollständig assimiliert und zufrieden, gäbe es kaum Anlass für sie, nach Israel auszuwandern.

Kommen wir zum zweiten Widerspruch: Zwar beteuert der Zionismus, säkular zu sein, doch die nationalstaatliche Aufladung der Stadt Jerusalem, auf welche man sich zuvor Jahrhunderte lang rein religiös-spirituell bezogen hatte, sowie der Umstand, dass aufgrund ihrer Heterogenität den israelischen Einwanderer:innen nur die Religion als einzige Gemeinsamkeit blieb, zeigten, dass hier Nationalismus und Religion untrennbar miteinander verflochten sind.

Ein weiterer gravierender ideologischer Widerspruch des Zionismus besteht darin, dass, zumindest unter kapitalistischen Bedingungen, die angebliche Befreiung der einen, also der Juden und Jüdinnen, zugleich die Unterdrückung der anderen, also der bereits seit Jahrtausenden dort lebenden Palästinenser:innen, bedeuten muss. Hier wird also deutlich, dass Israel von Beginn an ein kolonialistisches Projekt gewesen ist und die Zionist:innen schon immer auf die Unterstützung einer oder mehrerer imperialistischer Mächte angewiesen waren, die ihnen dabei halfen und heute noch helfen, sich gegen diejenigen, die zu Recht gegen ihre Vertreibung aufbegehren, sowie gegen die umliegenden arabischen Länder militärisch und ökonomisch zur Wehr zu setzen. So waren es nach 1918 der britische und nach 1956 bis heute der US-amerikanische Imperialismus, dem sich die Zionist:innen und der Staat Israel anbiedern mussten und die als Schutzmacht Israels dienten. Diese Großmächte unterstützten die Idee jüdischer Selbstbestimmung selbstverständlich nicht aus Nächstenliebe, schließlich gewährten sie die von den Nazis verfolgten Juden und Jüdinnen in ihren eigenen Ländern keine Zuflucht. Vielmehr war ihr Handeln geleitet durch ein geostrategisches Interesse, was ihnen eine Vormachtstellung im Nahen Osten und Zugriff auf große Erdölvorkommen bot. Neben diesem Kalkül hat jedoch der vermeintliche Kampf gegen Antisemitismus auch eine ideologisch tragende Rolle eingenommen: Die Unterstützung Israels seitens der imperialistischen Mächte, hier vor allem Deutschlands, soll als Kampf gegen Antisemitismus schlechthin dienen. Dies wird auch deutlich, wenn wir uns die Aussagen führender Politiker:innen seit dem 7. Oktober 2023 anhören, die von der Sicherheit Israels „als deutsche Staatsräson“ sprechen, während antisemitische Flugblätter aus der Vergangenheit billigend in Kauf genommen werden. In den vergangenen Jahrzehnten gelang es weiten Teilen der bürgerlichen Politik, die Überzeugung, die bloße Unterstützung Israels als den einzigen Kampf gegen Antisemitismus zu rühmen und die Ablehnung seiner Politik als bloßen Antisemitismus zu verurteilen, populär werden zu lassen. Auch, wenn sich uns hier Tag um Tag ihre Heuchelei zeigt, so sind diese Überzeugungen keineswegs bewusst gestreute, sondern vielmehr Folge geostrategischer Zwänge und einer zionistischen Idee, die in der Debatte um Antisemitismus eine tragende Rolle eingenommen hat.

Abgesehen von dem eben benannten Widerspruch ist zudem offensichtlich, dass es für die jüdische Arbeiter:innenklasse in einem kapitalistischen Staat, wie Israel einer ist, keine wirkliche Befreiung geben kann. Auch hier wird das jüdische Proletariat von der herrschenden Klasse ausgebeutet und immer wieder durch ihren großen gewerkschaftlichen Dachverband, der Histadrut, verraten. An diesem Umstand konnten auch die Labourzionist:innen mit ihren Ideen der Kibbuzim und Moschawim nichts Grundlegendes ändern (Kibbuz; wörtlich: Versammlung; Moschaw; wörtlich: Sitz, Siedlung. Beides bezeichnet genossenschaftlich-kollektive Landbebauungsformen). Diese ohnehin wenig fortschrittlichen Projekte sind mittlerweile durch andere Wirtschaftszweige verdrängt oder gänzlich privatisiert worden. Zugleich wird die jüdische Arbeiter:innenklasse in Israel ebenfalls durch die regelmäßigen Großspenden unterstützt, was die ideologische Abhängigkeit vom Zionismus als Projekt festigt.

Häufig wird von Zionist:innen behauptet, Juden und Jüdinnen hätten schon immer in ihre ursprüngliche und damit ihnen zustehende Heimat zurückgewollt. Dieses Argument ist historisch einerseits nicht haltbar – wie wir in Folge 1 unserer Podcastreihe aufgezeigt haben – und andererseits durch seine religiöse Begründung anachronistisch. Zudem vermittelt es, Araber:innen hätten seit ganzen 2.000 (!) Jahren zu Unrecht in Palästina gelebt. Würden alle Völker Ansprüche auf territoriale Realitäten von vor 2.000 Jahren erheben, so versänke die Welt in einem einzigen Blutbad. Paradoxerweise sind es gerade die USA, die das Argument des historisch begründeten territorialen Anspruchs in ihrem eigenen Land nicht für legitim halten.

Ein Widerspruch, auf den besonders wichtig hinzuweisen scheint, betrifft die Haltung des Zionismus gegenüber der arabischen Bevölkerung, welche stets zwischen Ignoranz und Rassismus schwankt. Im bereits erwähnten Buch „Der Judenstaat“ erwähnt Theodor Herzl die Araber:innen mit keinem Wort. Einer der frühesten Wahlsprüche der Zionist:innen lautete „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land!“ Hier wird die Existenz der arabischen Bevölkerung gänzlich geleugnet oder aber ihr wird offen rassistisch begegnet, indem unterstellt wird, sie sei unfähig, das Land ordentlich zu bestellen – wie es der erste Premierminister Israels, Ben-Gurion, formulierte. Hieraus lässt sich also angesichts der theoretischen und praktischen Ausrichtung des Zionismus schlussfolgern, dass Antizionist:in zu sein, bedeutet, das politische Programm der zionistischen Organisationen abzulehnen. Antijüdisch zu sein, bedeutet hingegen, rassistisch zu sein. Es gilt, Antizionismus und Antisemitismus strikt voneinander zu trennen. Auch jüdische linke Organisationen und Intellektuelle fordern diese Unterscheidung. Hier ist beispielsweise auf die „Jüdische Stimme für gerechten Frieden im Nahen Osten“ oder auf den israelischen Antisemitismusforscher Moshe Zuckermann hinzuweisen. Es zeigt sich, dass nicht alle Juden/Jüdinnen hinter der Politik Israels stehen. Ihre Gleichsetzung mit der zionistischen Ideologie oder einem zionistischen Staat ist generalisierend und damit antisemitisch,

Mit der Klarheit, mit der Antisemitismus und Antizionismus voneinander zu trennen sind, treten bürgerliche Institutionen wie deutsche Parteien, die UNO oder die EU leider nicht bei ihrer Suche nach treffenden Antisemitismusdefinitionen auf. Hier sind israelische Gremien stets bemüht, zu intervenieren und die Frage eines israelbezogenen Antisemitismus in die Debatte einfließen zu lassen oder direkt Antizionismus mit Antisemitismus gleichzusetzen. So entschied sich die deutsche Bundesregierung als Mitglied der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken, deren Antisemitismusdefinition politisch zu implementieren. Hier heißt es unter anderem: „[…] Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher [also antisemitischer] Angriffe sein.“ Zusätzlich entwarf der damalige israelische Innenminister Scharanski den sogenannten „3-D-Test für Antisemitismus“. Dieser gibt vor, unterscheiden zu können, wann Kritiken am Staat Israel antisemitisch seien und wann nicht. Dabei setzt er faktisch Antizionismus mit Antisemitismus gleich und trägt so dazu bei, die Gräueltaten Israels zu legitimieren, während das Aufbegehren dagegen weiter unterdrückt wird. Die Kriterien des Tests, also „Dämonisierung, Doppelstandards und Delegitimierung“, haben diverse Arbeitsdefinitionen in der europäischen und deutschen Politik maßgeblich beeinflusst.

Fortschrittlicher Antizionismus

Was in Gänze konsequenter und fortschrittlicher Antizionismus für uns bedeutet, darauf wollen wir gleich ausführlich eingehen. Die Entstehungsgeschichte des israelischen Staates thematisieren wir in unserer kommenden Spezialfolge, in der es um ein Aktionsprogramm für Palästina gehen soll. Darin wollen wir auch thematisieren, inwiefern auch ein falscher Antizionismus als Deckmantel für ein rassistisches und antisemitisches Programm genutzt werden kann, von dem wir uns in jedem Falle klar abgrenzen und es zutiefst verurteilen. Angesichts der anstehenden Bodenoffensive als Antwort auf den Angriff aus Gaza auf Israel am 7. Oktober 2023 hat die Frage nach einem progressiven Antizionismus erneut an Aktualität gewonnen. Auf die derzeitige Lage im Nahen Osten werden wir ebenfalls in unserer kommenden Folge vertieft eingehen. Vorerst möchten wir hier aber darstellen, aus welchen Überlegungen heraus Antizionismus für uns, also die Gruppe Arbeiter:innenmacht, legitim und notwendig ist und wofür wir stattdessen eintreten. Um unsere Position nachvollziehen zu können, ist es unvermeidbar, sich den Charakter und die Entstehungsgeschichte Israels vor Augen zu führen: Für die Schoa trugen die Araber:innen und Palästinenser:innen keine Verantwortung. Die darauffolgende große Einwanderungswelle nach Palästina hätte zu diesem Zeitpunkt nicht zwangsläufig zu der seit Jahrzehnten anhaltenden Entrechtung, Vertreibung, Einkesselung und dem dagegen laufenden Widerstand führen müssen. Der Charakter des israelischen Staates und dessen Stellung im imperialistischen Weltsystems führte erst zu den dramatischen Auseinandersetzungen, wie sie seit Jahrzehnten zwischen Israel und Palästina zu beobachten sind. Aber worin genau besteht dieser? Zum einen entschied man sich mit der Staatsgründung für eine kapitalistische Wirtschaftsorganisation, in der es ein Recht auf Privateigentum gibt, sowie für die Inanspruchnahme der Unterstützung durch imperialistische Großmächte. Dies führt neben der arabischen Segregation auch innerhalb der jüdisch-israelischen Gesellschaft zur Verschärfung der sozialen Spaltung. Für die dort Herrschenden fungiert der zunehmende Nationalismus als Bändigung gegen steigende Unzufriedenheit innerhalb der Arbeiter:innenklasse. Ein weiteres Charakteristikum ist, dass es aus zionistischer Sicht der Unterdrückung und Vertreibung der Araber:innen aus dem israelischen Herrschaftsgebiet bedurfte, um den jüdischen Charakter Israels zu garantieren. Dies macht es immer mehr zu einem Apartheidstaat, wie ihn auch Amnesty International bezeichnet. Die Apartheidsdefinition der UN umfasst unter anderem das Verweigern des „Recht[s] auf Verlassen des Landes und auf Rückkehr ins Heimatland, auf Staatsangehörigkeit, auf Freizügigkeit der Bewegung und des Aufenthalts“. Zudem wird auch „die Enteignung von Grundbesitz einer ethnischen Minderheit“ als Teil der Definition benannt. In Israel sind demnach mittlerweile grundlegende Züge von Apartheid zu erkennen. So existieren beispielsweise mehr als 50 Gesetze, die palästinensisch-israelische Bürger:innen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen diskriminieren, und Wohngebiete werden rassistisch getrennt.

Zu guter Letzt sei als Merkmal zu nennen, dass in Palästina faktisch eine reaktionäre „Einstaatenlösung“ unter Aufrechterhaltung der Fiktion einer „Zweistaatenlösung“ praktiziert wird.
Wir sprechen uns gegen ein Israel in dieser Verfassung als sich entwickelnder Apartheidstaat und imperialistischen Brückenkopf aus. Jedoch dürfen wir als konsequente Antizionist:innen nicht dabei stehen bleiben, sondern müssen eine fortschrittliche Lösung zur Überwindung des aktuellen israelischen Staates aufzeigen, von der sowohl Palästinenser:innen als auch Juden und Jüdinnen profitieren. Selbstverständlich kann es sich hierbei nicht darum handeln, den „jüdischen Staat“ durch einen „palästinensischen“ zu ersetzen. Stattdessen treten wir für einen binationalen Staat ein, in dem Juden/Jüdinnen und Palästinenser:innen gleichberechtigt leben dürfen. Jeder „Antizionismus“, der die Berechtigung von Ersteren, in Israel zu leben, leugnet, ist reaktionär und tatsächlich antisemitisch.

Es sollte bis hierher klar geworden sein, dass die zionistische Idee den Antisemitismus in der Welt weder aufheben noch den Juden und Jüdinnen einen wirklichen Schutzraum bieten kann. Im Gegenteil, sie akzeptiert durch ihre Schlussfolgerungen eine antisemitische Welt als unveränderlich gegeben. Zudem lenkt die altbekannte Gleichsetzung von Antizionismus mit Antisemitismus, welche ohnehin politisch falsch ist, vom erstarkenden, wirklichen Antisemitismus der Rechten ab. Einer Rechten, die sich letztlich in die Geschichte der Schoa einreiht und den eliminatorischen Antisemitismus stets als Keim in sich trägt. Darüber hinaus fungiert der Vorwurf des Antisemitismus als einschüchterndes und mundtot machendes Werkzeug gegen all jene, welche sich solidarisch mit antiimperialistischen Befreiungskämpfen zeigen, aber auch ganz allgemein gegen internationalistische Linke, Gewerkschafter:innen und sogar linke Reformist:innen wie beispielsweise Corbyn – ganz unabhängig von der jeweils aktuellen Thematik. Diese Gleichsetzung ist ein Instrument von antideutschen Pseudolinken bis hin zur AfD.

Gegen Antisemitismus zu kämpfen, heißt für uns, nicht nur aufzuzeigen, weshalb die zionistische Idee keine Heil bringende ist. Gerade jetzt, in einer Zeit, in der antisemitische Gewalttaten und diverse Verschwörungstheorien in Reaktion auf die vielfältigen Krisen unserer Zeit wieder zunehmen, müssen wir den Kampf gegen ihn noch stärker zuspitzen. Krisen wie die Wirtschaftskrise 2007/08, die Niederlagen in verschiedenen Klassenkampfsituationen wie dem Arabischen Frühling oder dem Widerstand gegen das europäische Spardiktat sowie die Coronapandemie führten zu einem verstärkten Rechtsruck in vielen Ländern der Welt. Das bedeutet, dass der Kampf gegen Antisemitismus für uns vor allem auch einer gegen eben diesen Rechtsruck und das kapitalistische System sein muss, welches durch seine Produktionsweise und die damit verbundenen wiederkehrenden Krisen die Grundlage für antisemitische Ideologien abgibt. Für dieses Vorhaben braucht es ein antikapitalistisches Programm, welches der Arbeiter:innenklasse einen Weg aufzeigt, wie der Kampf gegen Rassismus, Rechtsruck und Nationalismus zu einem für eine befreite Gesellschaft ausgeweitet werden kann. Es ist notwendig, dass große Teile der Arbeiter:innenklasse für ein solches Programm gewonnen werden, denn nur sie sind es, die die Macht besitzen, dem kapitalistischen System seine Grundlage zu entziehen.

Wo immer sie uns begegnen, müssen wir antisemitischen Vorurteilen und Anfeindungen entschieden entgegentreten. Im Hier und Jetzt müssen wir daher Forderungen aufstellen, die dem Antisemitismus entgegenwirken und die Widersprüche des Kapitalismus zuspitzen. Dazu gehört unter anderem die Verteidigung des Rechts auf freie Ausübung der Religion und Kultur. Ebenso müssen wir das Recht auf Schutz gegenüber Angriffen auf jüdische Einrichtungen und Privatpersonen einfordern und antirassistische Selbstverteidigungsstrukturen organisieren. Zugleich müssen wir uns dafür einsetzen, dass Fluchtwege stets offenbleiben, damit Menschen, die flüchten müssen, in einem anderen Land Schutz finden können. Die Forderung nach offenen Grenzen und vollen Staatsbürger:innenrechten für alle ist daher eine zentrale im Kampf gegen Antisemitismus und eine wichtige Antwort auf die Fragen, die globale Migrationsbewegungen heute aufwerfen. Wie wir bereits eingangs erwähnt haben, ist es unmöglich, dass ein kapitalistischer Nationalstaat vollständigen Schutz gegenüber Antisemitismus gewähren kann. Daher muss der Kampf für den Sozialismus mit der Forderung nach einem binationalen, säkularen Staat unbedingt verbunden werden.

Lasst uns den rechten Pseudokämpfen gegen Antisemitismus eine revolutionäre antikapitalistische Perspektive auf der Grundlage einer marxistischen Analyse entgegensetzen, damit sich die Schoa niemals wiederholt!

Wir hoffen, euch die soziale und politische Dimension des modernen Antisemitismus, des Zionismus sowie unsere Haltung dazu ein wenig nähergebracht zu haben. Sicherlich gibt es zu dem Thema noch weitaus mehr zu sagen. Wenn ihr neugierig geworden seid, so empfehlen wir Euch unser theoretisches Journal mit dem Namen „Revolutionärer Marxismus“, welches wir in regelmäßigen Abständen herausgeben. Das 51. Werk dieser Buchreihe trägt den Namen „Antisemitismus, Zionismus und die Frage der jüdischen Nation“ und vertieft einige Themen, die wir in dieser Folge angerissen haben. Wie bereits angekündigt, werden wir in den kommenden Wochen eine Spezialfolge zu den aktuellen Geschehnissen im Nahen Osten und der Frage, wie wir uns als Revolutionär:innen zum palästinensischen Befreiungskampf positionieren sollten, herausbringen.

Aber das in einer anderen Folge von „Lage der Klasse.“




Redefreiheit und die Linke

Lukas Müller. Infomail 1236, 10. November 2023

Im Folgenden geben wir die einleitenden Thesen von Gen. Lukas Müller als Vertreter der Gruppe Arbeiter:innenmacht wieder, die er am 4. November bei einer Podiumsdiskussion in Leipzig vorgestellt hat.

1. These

Das bürgerliche Recht und bürgerliche Freiheiten erscheinen nur auf einer rein formalen Ebene als etwas Neutrales (neutrales Recht, neutrale Freiheiten), sind aber Ausdruck eines bestimmten Klasseninteresses – dem der Kapitalist:innenklasse.

Sie drücken primär ihr Interesse aus und nicht das aller Klassen (also z. B. auch der Arbeiter:innenklasse, auch wenn es so erscheint, als würde das bürgerliche Recht die gemeinsamen Interessen der gesamten Gesellschaft wiedergeben.

Aber solche gemeinsamen Interessen der Gesellschaft, also aller Klassen, gibt es nicht

Denn: Über der kapitalistischen Produktionsweise als ökonomischer, materieller Basis der Gesellschaft erhebt sich deren ideologischer, rechtlicher, moralischer Überbau. Dieser ist also Ausdruck der ökonomischen Basis (Basis und Überbau bei Marx).

D. h., das bürgerliche Recht, die bürgerliche Freiheiten, die bürgerliche Moral usw. entsprechen der kapitalistischen Produktionsweise und reproduzieren diese auf politischer und ideologischer Ebene. Damit dienen sie in erster Linie der herrschenden Klasse, der Bourgeoisie.

Freiheit des/r einen ist gleichzeitig die Unterdrückung des/r anderen (unternehmerische Freiheit). Die Freiheit der Kapitalist:innen, von ihrer ökonomischen (und damit auch politischen) Macht Gebrauch zu machen, zieht gleichzeitig und unausweichlich die Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiter:innenklasse nach sich. Es gibt also nicht DIE allgemeine Freiheit, sondern sie muss im Kontext von Klassen gesehen werden

Die Frage nach Freiheit ist die: „Für welche Klasse“?

Wir sind für die Freiheit der Arbeiter:innenklasse und aller Unterdrückten, aber gleichzeitig für die Unfreiheit der Kapitalist:innenklasse (ganz allgemein und plakativ gesprochen).

Jede Person hat das Recht, wählen zu gehen, Demonstrationen anzumelden, Parteien oder Zeitungen zu gründen usw. Aber durch ihre ökonomische Macht verfügt die Kapitalist:innenklasse über einen vielfach größeren Einfluss auf Staat und öffentliche Meinung. Sie ist durch unzählige Fäden mit dem Staat verbandelt, sodass sie dadurch auch zur politisch herrschenden Klasse wird, teils ganz direkt durch das Schreiben von Gesetzen, oft aber auf indirekt Art und Weise.

Letztlich ist in Artikel 14 GG auch das „Recht“ auf Privateigentum Erbschaft, also eine auf Privatbesitz an Produktionsmitteln fußende Gesellschaft, unveränderlich festgeschrieben (und damit der Kapitalismus).

Demokratische Rechte werden den unterdrückten Klassen oft nur deshalb (teilweise) gewährt, um sie ins bestehende System zu integrieren, zur Aussöhnung mit diesem und um der Kaschierung der ökonomischen und damit indirekt auch politischen Herrschaft der Kapitalist:innenklasse willen.

Was selbstverständlich nicht heißt, dass wir demokratische Rechte nicht gegen jeden staatlichen Angriff verteidigen würden! Dazu gleich mehr.

2. These  (damit eng zusammenhängend)

Das bürgerliche Recht und bürgerliche Freiheiten erscheinen auch nur auf einer rein formalen Ebene als für alle gleichermaßen gültig. Nur weil Rechte und Freiheiten formal für alle gleich existieren, heißt das noch lange nicht, dass Staat und Kapitalist:innenklasse diese von allen in gleichem Umfang in Anspruch nehmen lassen.

Das sieht man z. B. aktuell an der massiven Repression gegen Palästinasolidarität. In zahlreichen Städten wurden alle Demonstrationen und Kundgebungen, die in Solidarität mit Palästina stehen könnten, verboten. Hunderte Teilnehmer:innen wurden bundesweit festgenommen. An Berliner Schulen wurden das Tragen der Kufiya, Zeigen von Aufklebern und Stickern mit Aufschriften wie „Free Palestine“ verboten. Auf Demonstrationen, die stattgefunden haben, waren viele Parolen als angeblich „antisemitisch“ verboten, in Berlin z. B. die Parole „Stoppt das Morden, stoppt den Krieg“.  Palästinenser:innen, Araber:innen und Muslim:innen, die keine deutschen Pässe haben, droht die Abschiebung bei propalästinensischer Aktivität.

Palästinasolidarität ist nur ein Beispiel, man könnte viele weitere nennen:

Es gibt keine Neutralität der Richter:innen. Kapitalist:innen können Staranwält:innen bezahlen. Rechte von Geflüchteten (Menschenwürde) usw. usf. werden von diesen nicht vertreten, wenn sie staatlich eingeschränkt werden. Der Staat versucht also, die formal jedem/r garantierten Rechte nach Belieben gesetzlich einzuschränken oder setzt sich schlicht über seine eigenen Gesetze hinweg. Sie sind also mehr Schein als Sein.

Was wie gesagt nicht heißt, dass wir nicht auch formale (also gesetzliche) Rechte und Freiheiten gegen Angriffe verteidigen. Das halten wir sehr wohl für relevant und notwendig.

Unter den Bedingungen der Illegalität ist es selbstverständlich deutlich schwieriger für die Arbeiter:innenklasse, sich zu organisieren, als unter Bedingungen voller demokratischer Freiheiten.  Formale Freiheiten sind also keineswegs völlig irrelevant, weil eh nur das aktuelle Interesse der Kapitalist:innenklasse zählt. Wenn wir formal ein Recht haben, schafft das tendenziell günstigere Bedingungen, dieses auch praktisch durchzusetzen. Daher sind wir allgemein für größtmögliche demokratische Freiheiten.

Es geht aber darum, dass in der kapitalistischen Klassengesellschaft kein Automatismus existiert, welcher allen Menschen die praktische Inanspruchnahme von formalen Rechte und Freiheiten garantiert, zum einen durch ökonomische Macht und Zwänge,  zum anderen durch die Macht des Staates, Rechte einzuschränken, abzuschaffen und zu übergehen.

3. These

Bürgerliche Freiheiten (z. B. Meinungsfreiheit) und demokratische Recht sind für Arbeiter:innen- wie auch Kapitalist:innenklasse kein Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck. Sie dienen nämlich der Verteidigung ihrer objektiven Klasseninteressen. Sie haben somit keinen Wert an sich, sondern immer nur Bedeutung, wenn sie ihren Interessen  zu einer gegebene Zeit nutzen.

Daran bestimmt sich auch allgemein unser Verständnis von Recht und Moral oder, wann wir Rechte oder Einschränkungen verteidigen oder was wir selbst vornehmen: „Recht ist, was der proletarischen Klasse nützt“ (Lenin).

Im Eingangstext zur Veranstaltung wurde das Engagement von Marx, Engels und der II. Internationale fürs Recht auf freie Meinungsäußerung angesprochen. Dieses zu erkämpfen, war in der Tat eine wichtige Aufgabe der damaligen Zeit (und bis heute).

Aber Marx, Engels und die II. Internationale kämpften nicht für Recht auf freie Meinungsäußerung als Wert an sich, damit sich halt alle Menschen frei (freier) äußern können, sondern damit SIE und die internationale Arbeiter:innenklasse sich frei äußern und vor allem legal organisieren können mit dem Ziel, diese Freiheiten nutzen zu können, um die Zerschlagung des Kapitalismus und seiner bürgerlichen Staaten vorzubereiten.

Denn zu dieser Zeit gab es die Sozialistengesetze in Deutschland und ähnliche, teilweise noch schärfere Gesetze in anderen Ländern, welche Kommunist:innen und Sozialdemokrat:innen in den Untergrund, die Illegalität und zu Tauenden ins Gefängnis drängten.

Demokratische Rechte allgemein bilden für die Arbeiter:innenklasse eine Art Rahmen, in dem politisches Handeln möglich ist. Wenn diese in spezifischer Situation den Interessen der Arbeiter:innenklasse schaden, ist es legitim und notwendig, diese einzuschränken oder abzuschaffen.

Hitler wurde demokratisch an die Macht gewählt (gleichzeitig gestützt auf eine militante Massenbewegung auf der Straße). Haben Kommunist:innen deshalb die Wahl widerstandslos akzeptiert, aus Hochachtung vor der Demokratie als Selbstzweck? Nein!

Nennen wir als zweites Beispiel  das Verbot der anderen Sowjetparteien durch die Bolschewiki im Bürger:innenkrieg.

Demokratie hat für uns keinen Wert an sich, sondern nur einen, solange sie den Interessen der Arbeiter:innenklasse nützt, und umgekehrt gewährt die Kapitalist:innenklasse demokratische Rechte und Freiheiten nur, solange ihre eigene Klassenmacht dadurch nicht bedroht wird. Sobald sie ihre Interessen durch politische Bewegungen gefährdet sieht, wird sie deren demokratische Rechte übergehen, einschränken, abschaffen.

Das kann sogar darin gipfeln, dass Kapitalist:innen zur Sicherung ihrer ökonomischen Macht (also des Kapitalismus) nicht nur einzelne demokratische Rechte einschränken, sondern die faschistische Karte ziehen und damit grünes Licht geben zur Abschaffung der gesamten bürgerliche Demokratie. So geschehen bei Hitlers Treffen mit der deutschen Großindustrie kurz vor Machtergreifung und danach.

Die Frage von Recht, Freiheit und Demokratie ist schlicht die von Klassenkampf. Wir verteidigen das Demonstrationsrecht gegen staatliche Angriffe, schränken dieses zeitgleich aber selber aktiv für Faschist:innen ein, indem wir ihre Demonstrationen blockieren.

Wir verteidigen das Recht auf freie Meinungsäußerung („Propagandafreiheit“) gegen staatliche Angriffe, reißen Plakate und Sticker von Faschist:innen ab, werfen ihre Flyer, wo sie ausliegen, in den Müll.

So verhalten wir uns allerdings nicht gegenüber gewöhnlichen bürgerlichen Parteien wie CDU, FDP, Grünen oder bürgerlichen Arbeiter:innenparteien wie SPD und Linkspartei. Diese verbreiten zwar bürgerliche Ideologie und damit die der Kapitalist:innenklasse und müssen dementsprechend politisch bekämpft werden.

Allerdings unserer Meinung nach nicht durch Blockieren von Versammlungen oder Zerstören von Wahlplakaten.

1. Weil es gegen so große und mächtige Parteien ziemlich ineffektiv ist diese durch Sabotage bekämpfen zu wollen. Wir müssen vielmehr Arbeiter:innen, welche Illussionen in diese Parteien hegen, durch politisch-inhaltlichen Kampf von diesen lösen und für uns gewinnen;

2. weil von bürgerlichen Parteien keine so direkte physische Gefahr für linke und proletarische Aktivist:innen ausgeht, weil deren Ziel nicht in der Zerschlagung der Arbeiter:innenbewegung selbst besteht;

3. weil wir diesen Parteien, die ja auch z. T. an der Regierung sind, damit einen Vorwand liefern, umgekehrt uns zu sabotieren durch Gesetze, die unsere Rechte einschränken.

Es würde uns schwerfallen, diese demokratischen Rechte dann öffentlichkeitswirksam als politische Minderheit zu verteidigen, wenn wir sie der politischen Mehrheit selbst nicht zugestehen. Es wäre also taktisch einfach unklug und der Öffentlichkeit schwer zu vermitteln, während das Blockieren von Faschisten:innen und anderen Rechten leichter zu begründen ist, weil sie eine unmittelbare Gefahr für die Existenz von zumindest Teilen der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten (Migrant:innen, Geflüchtete) darstellen bzw. die Organisationen der Klasse zerschlagen wollen.

Wir tun das also nicht, weil wir die demokratischen Freiheit an sich so hoch schätzen, sondern wir uns nicht mit taktisch unklugem Verhalten selbst schaden wollen. Taktische Erwägungen sind allgemein von großer Relevanz im Klassenkampf.

Natürlich wird die Kapitalist:innenklasse so oder so unsere demokratischen Rechte einzuschränken versuchen, uns polizeilich und juristisch sabotieren, sobald sie uns als reale Gefahr wahrnimmt. Und da sind wir dann an dem Punkt, wo das Kräfteverhältnis und die öffentliche Stimmung entscheiden, wer sich durchsetzt.

4. These

Das Wahrnehmen bzw. Durchsetzen von Rechten und Freiheiten ist nicht in erster Linie eine juristische, sondern eine Frage des Kräfteverhältnisses.

Ob der Staat es schafft, ein bestimmtes Gesetz zu erlassen, bspw. das Versammlungsrecht zu beschneiden, ist abhängig vom Ausmaß des Widerstands, den wir schaffen, auf der Straße, in Betrieben, an Unis und Schulen zu entfalten. Wenn sich die öffentliche Stimmung dermaßen gegen solche Gesetzesvorhaben dreht oder mit massiven Streiks dagegen zu rechnen ist, kann der Staat davor zurückschrecken und das Gesetz wieder zurücknehmen müssen.

Weiter ist es auch eine Frage des Kräfteverhältnisses, ob und inwieweit wir uns über bestehende Gesetze oder andere staatliche Einschränkungsversuche hinwegsetzen können. Formal mag eine Demonstration verboten sein, aber wenn dennoch Zigtausende kommen, können wir diese womöglich gegen die Einschränkungen durch die Staatsmacht durchsetzen.

Letztlich besteht unser Ziel darin, das Kräfteverhältnis so zu verschieben, dass die Arbeiter:innenklasse selber die Kontrolle darüber übernehmen kann, welche demokratischen Rechte es gibt, was gesagt und getan werden darf, um sie somit massiv auszuweiten. Das heißt, wir treten z. B. dafür ein, dass die Arbeiter:innen der großen Zeitungen, sozialen Medien usw. selber entscheiden, was erlaubt ist und was nicht. In diesem Sinne kann der Kampf für die Verteidigung demokratischer Rechte mit dem für Arbeiter:innenkontrolle und ein Programm von Übergangsforderungen verbunden werden.




Deutscher Oktober 1923 – Parteidebatte um die Niederlage

Bruno Tesch, Neue Internationale 278, November 2023

Die KPD offenbarte nach dem Oktober 1923 bei der Ursachenbetrachtung der Niederlage tiefe Unterschiede in der Gewichtung und vor allem auch im Verständnis der Einheitsfronttaktik und setzte damit ihre nach wie vor bestehenden ungeklärten Differenzen fort.

Selbst bei der scheinbaren Einigkeit über die Einschätzung der deutschen Situation „als objektiv revolutionär“ sind Zweifel angebracht. Festgemacht wurde dies in erster Linie am Grad der Zerrüttung der bürgerlichen Demokratie und der Polarisierung in ein klar reaktionäres, gestützt auf kleinbürgerliche Bewegungen und Militär, und ein revolutionäres Lager. Dessen Zusammensetzung und das Kräfteverhältnis zum feindlichen Pol wurden jedoch unterschiedlich interpretiert.

In der Debatte zeichneten sich drei Flügel ab: Linke, Mitte und Rechte. Wir untersuchen und bewerten im Folgenden ebenso deren Antworten wie jene aus dem Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI). Dabei beschränken wir uns aus Platzgründen auf Sinowjews Buch und die im Ergänzungsheft 1 der „Internationale“ (Januar 1924) geführte Debatte und liefern diese sowie weitere Quellen am Schluss.

Unterschiedliche Lehren: in Parteiführung … 

In ihren „Thesen zur Oktoberniederlage und zur gegenwärtigen Lage“ hielten Thalheimer und Brandler fest:

„1. Der Oktoberrückzug war unvermeidlich und richtig.

2. Die grundlegenden Ursachen der Oktoberniederlage sind objektiver Art und nicht wesentlichen taktischen Fehlern der KPD geschuldet. Die entscheidende Ursache ist der noch zu starke hemmende Einfluss der Sozialdemokratie. Die Mehrheit der Arbeiterklasse war nicht mehr bereit, für die Novemberdemokratie zu kämpfen, die ihnen bereits materiell nichts mehr gab, und noch nicht bereit, für die Rätediktatur und den Sozialismus zu kämpfen. Oder anders ausgedrückt: Die Mehrheit der Arbeiterklasse war noch nicht für den Kommunismus gewonnen.

3. Der gemeinsame Fehler der Exekutive (der Komintern) wie der Zentrale der KPD war die falsche Beurteilung des Kräfteverhältnisses innerhalb der Arbeiterklasse, zwischen SPD und KPD. Die KPD, hat in dieser Beziehung sich kritisch gegenüber der Exekutive verhalten, aber nicht genügend energisch. Die Exekutive hat dieser Kritik nicht das genügende Gewicht beigelegt.

4. Die Folgen dieser falschen Beurteilung des Kräfteverhältnisses waren:

a) ein zu früher Termin des Endkampfes

b) die Vernachlässigung der Teilkämpfe und der politischen Vorbereitung

c) infolge der mangelnden Verbindung zwischen politischer und technischer Vorbereitung litt auch die militärisch-technische Vorbereitung

5. Mängel zweiter und dritter Ordnung waren:

a) in Sachsen und Thüringen nicht genügende Ausnützung der gegebenen Positionen sowohl in Bezug auf Zersetzung der SPD und Heranziehung der SPD-Arbeiter an die KPD, wie auch in Bezug auf die Organisation der militärischen Abwehr.

b) Schwerfälligkeit der organisatorischen Umstellung der Partei für den Bürgerkrieg.

6. All diese Fehler und Mängel ändern nichts Wesentliches an dem grundlegenden Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse.“

In „Zur gegenwärtigen Lage“ stellten sie aber eine Militärdiktatur fest, mithin ein scharfes Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie. Der Einfluss der Oktoberniederlage auf Stimmung innerhalb der Arbeiter:innenklasse und Zustimmung zur KPD fand keinen Niederschlag, auch nicht in den nachfolgenden erläuternden Gedankengängen von Thalheimer zu den Thesen.

Brandler sprach in seinem Beitrag jedoch davon, dass der kampflose Sieg der Reichsexekutive, der Truppen des Generalleutnants Müller, der in Sachsen Befehlsgewalt hatte, demoralisierend auf die Arbeiter:innenklasse und Teile der Partei gewirkt habe – ein Schwächezustand, der durch die Umstellung auf die Illegalität in Verbindung mit dem Oktoberrückzug die Aktivität lähmte.

Zur Frage, warum die linkssozialdemokratisch beeinflussten Arbeiter:innen doch der passiven Regierungsführung in Sachsen/Thüringen gefolgt sind, führte Thalheimer aus:

„Wir haben nicht geglaubt, dass die linken SPD-Führer kämpfen wollten, aber dass die linken SPD-Arbeiter zum Kampf bereit waren. Es hat sich gezeigt, dass die Wirkung des organisatorischen Bandes viel stärker ist, als wir annahmen.“ Zur Festigung der Position in Sachsen und Thüringen bemerkte Thalheimer:

„Der bürgerliche Staatsapparat war unseren Genossen in Sachsen und Thüringen sehr wenig vertraut. [ … ] Es zeigte sich in der Praxis die Notwendigkeit der sofortigen Zerschlagung und völligen Neubaus dieses Apparates.“

Brandler wies eine Schuld durch taktische Fehler der Partei zurück und lastete sie dem Verrat der SPD an. Der Fehler bestände nur in der Unterschätzung der Zähigkeit der konterrevolutionären Fraktion der SPD und in der Überschätzung der eigenen Kräfte.

Er sah in „Lehren der Oktoberniederniederlage“ drei Fehlerquellen bei der falschen Beurteilung der Kräfteverhältnisse: zum einem habe die Außerachtlassung der gesamten internationalen Situation, das Verbot der proletarischen Hundertschaften und Kontrollausschüsse in Preußen sowie in Rheinland-Westfalen durch die Okkupationsarmee den Ausbau der proletarischen Klassenorgane gehemmt.

… und Parteigliederungen: Abrücken von der Mehrheitslinie

Andere Stimmen aus den Reihen der Parteimehrheit konstatierten eine Krise der Partei und verwiesen darauf, dass bereits bei den Kämpfen in den Bergbauregionen im Frühjahr Vorbereitungsarbeit auf entscheidende Kämpfe hätte geleistet werden sollen, und hielten eine Weiterführung von Teilkämpfen zur Deckung des Rückzugs der Partei für erforderlich.

Einen kritischen Schritt weiter gingen Genoss:innen, die von der Parteiführung (in einem namentlich nicht gezeichneten Beitrag „Zur Taktik des Oktoberrückzugs und zu den nächsten Aufgaben der Partei“) abrückten und der Partei vorhielten, dass sie In den Länderregierungen die Kampfpositionen nicht genügend ausgenutzt hätte, um die Mobilisierung der Massen zum organisierten Widerstand durchzuführen.

„Der Kardinalfehler der strategischen Einstellung war, dass die Partei sich auf einen ,Endkampf’ zur Eroberung der politischen Macht vorbereitete und die Einleitung von Teilkämpfen, Kämpfen mit Teilforderungen und weniger aggressiven Mitteln und Kampfmethoden ablehnte und verhinderte.

Nur aus der Verteidigung der mitteldeutschen Position zum entscheidenden Kampf überzugehen, war falsch. Nach Einzug der Weißen in Mitteldeutschland trat deshalb überall eine starke Desorientierung ein.

Der kampflose Rückzug war falsch, dem aktiven Teil des Proletariats unverständlich, Vertrauen auch der sympathisierenden Sektoren in die Partei geschwächt.“

Weitere Argumente (H. Lemann: „Um den proletarischen Machtkampf) wurden mit dem Hinweis vorgebracht:

„Statt über den Weg der Konzentration auf die regionalen Regierungen als Machtbasis für den sogenannten Endkampf hätte die Kampfaufnahme bedeutet: Generalstreik über das Reichsgebiet mit dem politischen Ziel, zunächst die Regierung und die Staatsgewalt unter Druck zu setzen und die Truppentransporte nach Sachsen zu verhindern. Zugleich mit dem Generalstreik konnte man auf bewaffnete Erhebungen unter Förderung und Führung der revolutionären Vorhut rechnen. Erst aus diesen Kämpfen mit Minimalzielen hätte man prüfen müssen, ob weitere Ziele erreichbar sind.“

Schlussfolgerungen der Parteiopposition

Noch grundlegendere Vorwürfe erhob A. Kleine in seinem Aufsatz „ Die Oktoberniederlage des Proletariats und die Aufgaben der KPD“, v. a. im Abschnitt „Die Fehler der Partei“.

Er bestritt die Aussage: „Es hat sich herausgestellt, dass der europäische Menschewismus viel tiefere Wurzeln in der Arbeitermasse hat, als wir es annehmen konnten.“ Kleine verwies in dem Zusammenhang auf Trotzkis „Anti-Kautsky“ („Terrorismus und Kommunismus“) und folgerte: „Die Partei konnte nicht das wahre Kräfteverhältnis erkennen, weil sie jeden anwachsenden Kampf der Massen abzubremsen versuchte, um ihn in den Rahmen des von der Partei vorbereiteten Widerstand einzugliedern.“

Kein Organ der Partei, keine Hundertschaft, kein Kontrollausschuss, kein Minister hätten trotz der gespannten Lage die Vereinbarungen mit der SPD durchbrochen, obwohl die reformistischen Führer:innen den gemeinsamen Kampf gegen die drohende „weiße“ Gefahr hintertrieben. In Berlin waren breitere Teile des Proletariats als in dem Anti-Cuno-Streik zum Kampfe bereit. „Was hat die Partei diesen Massen gesagt? Wir werden nicht siegen! Der Feind ist stärker, die Zeit arbeitet für uns; lasst ihn die Macht übernehmen. In dieser Situation war der Oktoberrückzug falsch.“ Die Mehrheit der Klasse war nur gewinnbar, wenn die Partei ihre Kampfbereitschaft auch beweisen konnte, wie das Hamburger Beispiel es vorgeführt hätte. Der Nichteinbezug der Massen in die Kampfvorbereitung zeigte, dass die Partei, v. a. die Leitung, ein unzulängliches Verständnis für die Verhältnisse zwischen ihr und den Massen und die Rolle der Partei im Kampfe um die Einheitsfront bewiesen hat.

Fehler waren schon vor dem Streik gegen die Regierung absehbar. Betriebsrätebewegung und militärische Vorbereitung hätten gestärkt werden müssen. Dass dies unterblieb, war als Ausdruck der Unterschätzung der Rolle der KPD in einer Epoche des Kampfes um die Einheitsfront des Proletariats zu werten. Die Partei hat im Großen und Ganzen das Vertrauen in die linken Führer:innen der SPD gestärkt. Die Hoffnung auf die Chemnitzer Konferenz, um diese Führung in den Kampf hineinzuziehen, trog. Das Stillhalten der KPD in der Regierung rächte sich. Kleine räumte allerdings ein, dass sich große Teile noch keine Kampferfahrung erworben hatten. Auch die Betriebsräte in Berlin hatten zum Oktober Teile ihres Einflusses eingebüßt.

Noch schärfer ging Max Albert in dem Artikel „Alles oder nichts“ mit der Parteiführung ins Gericht. Er stellte die Situation als ununterbrochenen Aufstieg und gewaltige Stärkung der revolutionären Bewegung des Proletariats dar und verwies auf Zersetzungserscheinungen im Lager der Arbeiter:innenfeinde – Schwarze Reichswehr, monarchistische (Kronprinz-)Truppe, Deutschnationale, katholische Gruppen –, die hätten genutzt werden sollen, um selbst nach dem Einmarsch in Sachsen aktive Gegenwehr zu leisten.

Die Unterschätzung der eigenen Kräfte – in Hamburg wurden die linken sozialdemokratischen Arbeiter:innen nicht eingeweiht und führten keinen synchronisierten Aufstand durch – und Überschätzung der gegnerischen wären der schwerste Fehler in der Oktoberniederlage gewesen. Albert beschuldigte aber beide Flügel, Parteiführung und „linke“ Opposition, eine falsche Vorstellung von Bürgerkrieg gehabt zu haben. Dieser könne nicht mit „Entscheidungskämpfen“ beginnen, was sich auf die falsche Alternative Sieg oder Niederlage zuspitzen würde. Die Vertagung des Kampfes führte zu einer schweren Niederlage nicht nur der KPD, die zu einer des deutschen, ja internationalen Proletariats geriet. Ebenso im Debakel endete die Einschätzung, den Kampf leicht gewinnen zu können.

Die Ankündigung wirtschaftlicher Maßnahmen wie Lebensmittelverteilung wären kein Mittel zur Mobilisierung des sächsischen Proletariats angesichts des drohenden Reichswehreinmarschs gewesen. So wurde im Gegenteil das Gefühl geweckt, als sei eine Besserung ihrer Lebenslage auch ohne Kampf möglich, als könnten ein paar sächsische Minister für sie die Revolution machen. Wenn am Ende der Chemnitzer Konferenz plötzlich die Parole: Generalstreik, die gleichzeitig bewaffneter Endkampf heißen sollte, „wie ein Dachziegel in die Versammlung flog, soll man sich doch nicht darüber wundern, wenn diese Parole nicht sofort mit großer Begeisterung aufgenommen wurde.“

Albert erblickte auch Fehler darin, dass in der Periode der Kampfvorbereitung die politische Arbeit durch die militärischen Vorkehrungen sehr stark verdrängt wurde. Bewaffnung von Kadern reichte nicht, sie musste vielmehr aus der Massenbewegung heraus entwickelt werden.

Strategiekritik des linken Flügels

Der Flügel, der sich v. a. um Parteikräfte in Berlin und Brandenburg gruppiert hatte, stand von Beginn an in Fragen von Einheitsfront und Arbeiter:innenregierung in Opposition zur Parteimehrheit. Die einzige scheinbare Gemeinsamkeit eines situativen Fixpunktes bestand in der Ausrichtung auf den „Endkampf“, der auch von den Oppositionellen als richtig erachtet wurde, wie in der „Skizze zu den Thesen über die politische Situation und über die Lage der Partei“ durch die Bezirksleitung Berlin-Brandenburg festgehalten wurde. Die Wegbeschreibung und Einschätzungen über die notwendige Politik unterschieden sich jedoch diametral. In diesem Papier hieß es, die Situation sei objektiv reif für die Machteroberung des Proletariats, die Siegesaussichten der KPD im Oktober seien groß gewesen. Den Kampf hätte die Partei wagen müssen. Die Parteileitung hätte jedoch im August eine Perspektive linkssozialdemokratischer, rein gewerkschaftlicher Regierung verbreitet und durch eine Popularisierung der linken SPD durch Einheitsfront und Bündnis, deutlich geworden in den Regierungen Sachsen und Thüringen, ein falsches Bild von Arbeiter:innenregierung erzeugt. Die KPD-Führung habe die Schwächung der Position des Proletariats und der Partei zu verantworten.

Ruth Fischer, die führende Feder des Flügels, schrieb dazu ausführlicher in: „Zur Lage in Deutschland und zur Taktik der Partei“ über die Taktik der KPD in Sachsen. Sie kreidete der Parteiführung eine

„- falsche Einschätzung der Kräfteverhältnisse

– falsche Anwendung der Einheitsfronttaktik, u. a. in Regierungsbeteiligung Sachsen und Thüringen

– reformistische Betrachtung der Regierungsbeteiligung, des Staates, der Staatsmacht und der ,Ausnützung des Staatsapparates’“ an.

In Sachsen sei die KPD nicht so stark wie behauptet, sondern politisch unselbstständig, schwankend gewesen. Dies zeigte sich bei Wahlen zum Metallarbeiter:innenverband, beim Antifaschistischen Tag, Auguststreik und während der Regierungsbeteiligung besonders zum Ende. Die Stärke der sächsischen Hundertschaften wurde übertrieben.

In der Einheitsfrontpolitik sei der „ehrliche[r] Wille, zusammen mit der linken SPD, Arbeiterpolitik im Rahmen der Demokratie zu betreiben“, betont worden. Jedes Wort dieses Leitsatzes unserer sächsischen Politik war ein prinzipieller wie taktischer Fehler, Betonung auf der Unfähigkeit der SPD, Arbeiter:innenpolitik (d. h. revolutionäre Politik) zu treiben, notwendig. Ziel musste sein, die Einheitsfront mit ihnen zu vernichten. Jede Zusammenarbeit mit diesen Führer:innen habe ihnen Kredit verschafft, gefolgert aus der These des Leipziger Parteitags, „dass auch die Sozialdemokratie revolutionäre Kämpfe führen“ könne.

Fischer kritisierte ferner: „Unsere Einheitsfronttaktik bestand in einigen Spitzenverhandlungen und parlamentarischen Kombinationen unter bewusstem Verzicht auf Betriebsrätekongresse. Selbst nach Ermordungen von Arbeitern im Frühjahr und Generalstreiksabotage während Regierungsbeteiligung ist die Front nicht gesprengt worden. Stattdessen hätten klare Signale durch mobilisierende Aktivität zu einem echten Fundament für eine Einheitsfront mit den Massen gelegt werden können, um sie von unseren revolutionären Kampfeswillen und Zielen zu überzeugen. Durch unsere Taktik in Sachsen haben wir die Entwicklung der KPD aufgehalten, die Zersetzung der SPD gehemmt, ihren ‚linken Flügel‘, die gefährlichste Barriere für die Revolution, konsolidiert und die besten revolutionären Elemente der eigenen Partei wie des Proletariats der KPD gegenüber misstrauisch gemacht. Jede bürgerliche Regierung mit einem intakten Staatsapparat und einer Spitze, die aus Personen mit sozialdemokratischem (oder auch kommunistischem) Mitgliedsbuch in der Tasche besteht, ist eine bürgerliche Regierung und handelt als und ist eine solche. Eintritt in diese Regierung konnte nur den Sinn haben, den Apparat zu sprengen, einen proletarischen an seine Stelle zu setzen und den Angriff gegen die Bourgeoisie zu beginnen. Voraussetzung hierzu war: Massenmobilisierung, Rätekongress, Beginn der Bewaffnung. Eine Änderung des Staatstyps in einen proletarischen, ohne den Widerstand der Bourgeoisie zu brechen, ist praktischer Revisionismus der Staatstheorie.“

Auch in der Praxis der Regierungsbeteiligung hätten sich viele skandalöse Fehler ereignet, z. B. die Mitverantwortung für ein Regierungsprojekt, das in Zeiten höchster Hungerkrise dem ehemaligen Königshaus ungeheure Wertobjekte schenkt, Verzicht auf selbstständige Aktionen zur Verteidigung der Regierung. Hamburg, so meinte Fischer, hätte trotz Niederlage und personeller Verluste mehr genützt als geschadet, den Kommunist:innen eher einen Prestigegewinn verschafft.

Diese Zusammenschau der Sichtweisen auf das Revolutionsjahr 1923 und die Rolle der KPD darin drückt gravierend große Gräben innerhalb der Partei aus, wobei die Brandler/Thalheimer-Führung deutlich angeschlagen aus der Niederlage der Revolution hervorging.

Sinowjews Haltung

Rückenwind erhielt der linke KPD-Flügel durch Sinowjew, der als Vorsitzender des Exekutivausschusses der Kommunistischen Internationale (EKKI) an exponierter Stelle stand, zumal er die treibende Kraft bei der Festlegung eines bewaffneten Aufstands im Herbst 1923 war. Seiner Beurteilung, die er in „Probleme der deutschen Revolution“ niederlegte, kam besonderes Gewicht zu. Rückblickend hielt er die Taktik der KPD in Sachsen für richtig, sie konnte und durfte eine Teilnahme an einer Koalition mit der SPD nicht ablehnen. Es gab keinen Grund zur Reue über das sächsische Experiment, weil dort ein Bankrott der linken Sozialdemokratie offenbart worden wäre. Im Nachwort revidierte er jedoch diese pauschale Absegnung:

„Der Eintritt der Kommunisten in die sächsische Regierung war gedacht als militärisch-politische Episode, mit dem Zwecke, für die kämpfende Avantgarde einen Stützpunkt zu schaffen. Dieses Ziel ist nicht erreicht worden. Die ganze Episode begann, einer banalen parlamentarischen Zusammenarbeit der Kommunisten mit den sogenannten ‚linken‘ Sozialdemokraten zu ähneln. Um diesen Versuch erfolgreich zu gestalten, hätte man sofort einige Zehntausend Arbeiter bewaffnen müssen. Man hätte die Frage der Nationalisierung der Großindustrie auf die Tagesordnung setzen müssen. Man hätte die Fabrikanten verhaften müssen, die die Arbeiter aussperren. Man hätte sofort die Schaffung von Arbeiterräten in Angriff nehmen müssen.“ Die sich dem widersetzende Sozialdemokratie hätte von Anfang an dafür an den Pranger gestellt werden müssen. „Das alles geschah nicht. Und darin besteht der größte Fehler der Partei.“ 

In der Frage der Einheitsfront vollzog Sinowjew eine Kehrtwendung, weg von den Kominternbeschlüssen auf dem 4. Weltkongress, die eine Einheitsfront von Kommunist:innen mit reformistischen Organisationen auf allen Ebenen befürwortete. Er sagte nun:

„Die Taktik der Einheitsfront ist in eine neue Phase eingetreten. Als Lehre muss nun gelten: ,Wir verzichten auf jegliche Verhandlungen mit dem Zentralkomitee der Sozialdemokratie und mit der Zentralleitung der deutschen Gewerkschaften. Einheit von unten heraus – das ist unsere Losung.’“ Lokale Verhandlungen mit linken Sozialdemokrat:innen seien allerdings möglich und notwendig.

Aus der Erfahrung mit dem Hamburger Aufstand folgerte er: „Ihre Schattenseite besteht darin, dass sie die organisatorischen Mängel unserer Partei erbarmungslos aufdeckte und deutlich hervorhob, dass vorläufig noch eine elementare technische Ausbildung nicht vorhanden ist.“ Es habe sich aber auch gezeigt, „dass die Sympathie bedeutender Schichten der Kleinbourgeoisie für das revolutionäre Proletariat gesichert ist.“

Sinowjew kritisierte die KPD an dem Punkt, „dass in den Tagen des Bestehens der Arbeiterregierung in Sachsen niemand von den Kommunisten an die Schaffung von Räten gedacht hat“, auch in Hamburg vor der Aktion nicht. Er propagierte auch die Formel der „Arbeiter- und Bauernregierung“, die er für „unveränderlich“ und „ewig“ erklärte und die „in der allgemeinen Form auch für das heutige Deutschland“ tauge. Er bediente sich dabei einer fragwürdigen Übertragung der Verhältnisse in der SU (Klassenbündnis, -zusammenschluss Smytschka), auf Deutschland und überging die Unterschiede der bäuerlichen ökonomischen Schichtung und politischen Tradition in beiden Ländern. Sinowjew beschwor die Einheit der Partei, zu der jedoch weder sein noch das eher Laisser-faire- und dann überstürzte Verhalten der gesamten KI zur Lage in Deutschland 1923 beigetragen hatte. Sinowjews Resümee nach dem Oktober brachte den Klärungsprozess der KPD nicht wirklich weiter.

Die Lage nach der Niederlage

Auch mit seiner Prognose zur Weiterentwicklung der Lage saß er einer Fehleinschätzung auf.

Sinowjew glaubte nach den Vorkommnissen noch an einen Aufschwung der revolutionären Bewegung. „Das dringende Bedürfnis der Arbeiter, sich zu bewaffnen, erhält erst jetzt Massencharakter. Die Entscheidungskämpfe werden für einige Zeit verschoben.“ Er war der Meinung, dass die Arbeiter:innen nun zu der Einsicht gelangen werden, die linken Führer:innen der SPD seien nur ein Anhängsel der konterrevolutionären rechten Mehrheit. 

Sinowjew ging auch davon aus, dass sich die wirtschaftliche Lage Deutschlands noch weiter verschlechtern würde.

Dem war jedoch nicht so. Die im November 1923 erfolgte einschneidende Währungsreform und der im April 1924 vorgelegte Dawes-Finanzierungsplan, der im August 1924 im Reichstag angenommen wurde, bewirkten eine Revision der Reparationsleistungen des deutschen Reichs gegenüber den alliierten Kriegssiegermächten und bereiteten den Weg für eine Stabilisierung der v. a. durch Inflation und ungeregelte Reparationsforderungen aus dem Lot geratenen kapitalistischen Wirtschaft und stützten auch die politische Herrschaft der Bourgeoisie.

Dies verfehlte auch nicht seine Auswirkungen auf die Arbeiter:innenschaft, deren Kampfmüdigkeit sich nach dem Oktober 1923 nicht mehr erholte. Die Anzahl der Streiks ging im Laufe des Folgejahres deutlich zurück, und sie blieben auch räumlich begrenzt, so z. B. bei den Remscheider Metallbetrieben um die Verkürzung der Arbeitszeit im Januar 1924. Der seit 1919 geltende Achtstundentag war von der Unternehmer:innenschaft während der Inflationsperiode durchlöchert worden. Hier hätte die KPD bspw. wieder einen Anknüpfungspunkt gehabt, um die Streikbewegung zu verbreitern und zu politisieren, aber ihr waren die Hände gebunden, denn:

Der Preis, den die KPD zahlen musste, bestand im Parteiverbot von November 1923 – März 1924. Die proletarischen Hundertschaften wurden aufgelöst. Der noch anfängliche Wahlerfolg im Mai 1924 (12,9 % Stimmanteil mit 62 Reichstagsmandaten) verflog im Dezember 1924 jedoch auf nur noch 9 %.

Politische Folgen

Stalin konnte sich scheinbar damit rühmen, frühzeitig die Aussichtslosigkeit eines bewaffneten Aufstands vorausgesehen zu haben. Sein erst später veröffentlichter Warnbrief als einzige bekanntgewordene Stellungnahme und seine ansonsten indifferente Haltung während der gesamten Phase der deutschen Entwicklung 1923 wiesen in Wirklichkeit jedoch bereits darauf hin, dass es ihm weniger darum zu tun war, die Weltrevolution zu fördern, als Machtpositionen im eigenen Land zu stärken.

Statt einer ernsthaften Aufarbeitung der Lehren des Oktobers 1923 gerade in der Frage von Einheitsfrontpolitik und Anwendung der Arbeiter:innenregierungstaktik wurde innerhalb der Komintern in erster Linie Kritik an der KPD-Führung geübt. Der linke Flügel ging zunächst personell gestärkt hervor. Im April 1924 wurde eine neue Parteiführung aus seinen Reihen gebildet. Trotzki nahm nach dem Oktober 1923 die alte KPD-Leitung insofern in Schutz, als er Sinowjews und Stalins alleinige Schuldzuweisung an Brandler für die Niederlage der deutschen Revolution als Ablenkungsmanöver von den eigenen Fehlern erachtete, denn der KI-Führung kam ein wesentlich höheres Maß an Verantwortung für dieses weltpolitisch markante Fiasko zu.

Weder das EKKI noch die KPD hatten die Einheitsfrontpolitik, insbesondere in der Frage der Arbeiter:innenregierung, im Geiste der entsprechenden Thesen und Resolutionen des III. und IV. Weltkongresses im entscheidenden Moment beherzigt, sondern schwankten zwischen rechtszentristischer, opportunistischer und linkszentristischer Auslegung (Einheitsfront nur von unten). Beide Linien traten schon zuvor auf: die ultralinke in der Märzaktion 1921 und die opportunistische in der Rathenaukampagne 1922, die sich auf den Aufruf zur Republikanisierung der Reichswehr durch Hinauswurf der monarchistischen Elemente beschränkte, aber von Arbeiter:innenbewaffnung und -regierung schwieg. Unsere Synopse legt nahe, dass sich Elemente richtiger Kritik und Perspektiven v. a. bei Anhänger:innen einer mittleren Opposition finden („Zur Taktik des Oktoberrückzugs und zu den nächsten Aufgaben der Partei“, Lemann). Splitter richtiger Einsichten finden sich auch bei Kleine und dem linken Flügel der Parteimehrheit, der die Untätigkeit der Leitung während und nach der Ruhrbesatzung betonte.

Die politischen Folgen waren in mehrfacher Hinsicht verheerend. Das Scheitern der Revolution 1923 erleichterte zumindest Stalins Bestrebungen, den Sowjetstaat zu bürokratisieren. Die schwankende Linie in der Arbeiter:inneneinheitsfrontpolitik mit deren übelstem Auswuchs, der Sozialfaschismusdoktrin gegenüber der Sozialdemokratie, mündete dann 10 Jahre später in ein noch maßloseres Verhängnis für das Proletariat, die Niederlage gegenüber dem Faschismus.

Namen und Pseudonyme

Max Albert (Pseudonym für Hugo Eberlein)

August Kleine (Pseudonym: Samuel Guralski)

H. Lemann (Pseudonym: wahrscheinlich Ernst Meyer)

Quellen

Sinowjew: Probleme der deutschen Revolution, Verlag Carl Hoym Nachf. Louis Cahnbley, Hamburg 1923

Ergänzungsheft Nr. 1, Jahrgang 6, Januar 1924; in: Die Internationale. Zeitschrift für Praxis und Theorie des Marxismus, Band 4, Reprint: Verlag Neue Kritik KG, Frankfurt/M. 1971 (darin u. a. Aufsätze von H. Brandler, A. Thalheimer, Karl Berger, H. Lemann, A. Kleine, Max Albert, Ruth Fischer)

Jahrgang 7, 28. März 1924; in: Die Internationale, a. a. O., Band 5, S. 33 – 152 (darin u. a. Aufsätze von Sinowjew, Edwin Hörnle, Wilhelm Koenen, St. Stefan, A. Maslow, Ruth Fischer, Sommer, Heinrich Brandler, August Thalheimer

Die Kommunistische Internationale Nr. 31 – 32, 5. Jahrgang, Band 7, Reprint: POLITLADEN ERLANGEN, Gaiganz 1974, S. 143 – 232 (darin u. a. Aufsätze von H. Remmele, A. Maslow, G. Sinowjew)




1923: Niederlage der Revolution

Bruno Tesch, Neue Internationale 277, Oktober 2023

1923 ergab sich in Deutschland nach 1918 die zweite große Möglichkeit, das Blatt der Geschichte zu wenden und durch eine siegreiche Arbeiter:innenrevolution sogar den Lauf der Weltgeschichte zu verändern. Dass dies nicht eintrat und welche Implikationen hierbei zu beachten waren, soll Gegenstand des folgenden Beitrags sein.

Revolutionäre Zuspitzung

Mitte 1923 haben wir in Deutschland alle zentralen Elemente einer revolutionären Situation: eine kapitalistische Ökonomie im Hyperinflationskollaps, Hungerrevolten und spontane Emeuten, eine schwere politische Krise auf Regierungsebene und eine gut organisierte revolutionäre KPD, die tatsächlich auf dem Sprung war, die jahrzehntelange Vorherrschaft der SPD über die deutsche Arbeiter:innenklasse zu beenden.

In Sachsen und Thüringen bildete die linke SPD mit Duldung der KPD eine Regierung, welche die Bildung bewaffneter Arbeitermilizen zuließ. Auf der anderen Seite der Barrikade stand die bewaffnete Reaktion zum Losschlagen bereit.

Einerseits wartete der Oberbefehlshaber der Reichswehr, von Seekt, auf die Ausrufung des Notstands durch den Reichspräsidenten Ebert (SPD), um eine Militärdiktatur zu errichten. Andererseits war der Notstand in Bayern schon vollzogen und ein autoritäres Regime errichtet, das sich unabhängig von der Reichsregierung erklärte. Hinter diesem Notstandsregime in Bayern versammelten sich auch offen faschistische Kampftruppen um Hitler und Ludendorff, die auf das Signal zum „Marsch auf Berlin“ (in Analogie zur Machtergreifung der Faschist:innen in Italien) warteten. Im Herbst 1923 marschierten bayrische Reichswehrverbände in Nordbayern auf. Alles lief auf eine Entscheidungsschlacht zwischen der revolutionären Arbeiter:innenschaft und der Reichswehr und den Faschist:innen hinaus.

Rückblickend ist die Zuspitzung der Situation, die nur als revolutionäre bezeichnet werden kann, seit August 1923 mit dem Sturz der Cuno-Regierung klar (siehe hierzu NI 276). Es ist daher lächerlich, wenn heute vielfach behauptet wird, die KPD habe sich auf Drängen der Komintern im Herbst 1923 auf ein „putschistisches Abenteuer“ eingelassen, in Deutschland wäre nie so etwas wie ein russischer Oktober denkbar gewesen.

Generalstreik und neue Regierung

Im Grunde erreichte die Krise nicht erst im Oktober, sondern im Sommer 1923 ihren ersten Höhepunkt. Die Kämpfe verdichten sich zum Generalstreik gegen die verhasste Cuno-Regierung im August 1923. Der Streik begann am 10. des Monats in Berlin mit dem Ziel, die rechtskonservative Reichsregierung zu stürzen. Dieses wurde erreicht, das Kabinett unter Cuno demissionierte am folgenden Tag. Der Streikaufruf hatte inzwischen etliche Arbeiter:innenzentren des Reichs erfasst.

Am selben Tag noch, dem 11. August, erfolgte der Ausruf einer neuen Regierung unter der Kanzlerschaft Stresemanns, der der liberal-konservativen Deutschen Volkspartei vorstand, die eine Koalition mit den bürgerlichen Partnerinnen Zentrum, der Deutschen Demokratischen Partei und der reformistischen Arbeiter:innenpartei SPD einging. Der Generalstreik flaute praktisch schon gegen Abend des darauffolgenden Tages, dem 12. August, ab.

Mit dem erzwungenen Rücktritt der alten Regierung hatte die Arbeiter:innenbewegung nur scheinbar triumphiert. Der Generalstreik war zwar von einer Reihe von Forderungen und der nach Bildung einer Arbeiter:innenregierung begleitet, aber die entscheidende Frage, wer konkret bereitstand, um diese Verantwortung zu übernehmen, wurde nicht gestellt. Sie beantwortete stattdessen die herrschende Klasse. Dass dies im Handumdrehen geschah, kann kein spontaner Zufall, sondern muss vorbereitet gewesen sein.

Der Bourgeoisie war längst klar geworden, dass das wirtschaftspolitische Steuer herumgerissen werden musste. In der Frage der Reparationszahlungen mussten neue Verhandlungen aufgenommen und die Politik des „passiven Widerstands“, die von der alten Regierung ausgegeben worden war, beendet werden. In der Währungspolitik musste möglichst bald die Reißleine gegen die Hyperinflation gezogen werden, selbst auf Kosten des Ruins großer Teile des Kleinbürger:innentums. Nicht zuletzt auch deswegen, weil aufgrund der Teuerung und Lebensmittelknappheit die Arbeiter:innenklasse sich seit dem Frühsommer 1923 zu einer herrschaftsbedrohlichen Bewegung emporgeschwungen hatte. Um aber diese einzubremsen und den neuen Kurs durchzusetzen, brauchte sie zwei verlässliche Kräfte, auf die sie sich stützen konnte, denn politisch war sie stark fraktioniert und angezählt: die Schaltstellen der Reichswehr als Garantin für die staatliche Ordnung, auch gegen partikularistische Bestrebungen in Bayern, und die Sozialdemokratie als politische Flankendeckung.

Faktor Sozialdemokratie

Die Sozialdemokratische Partei hatte sich im September 1922 durch die Fusion mit dem Rest der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei zahlenmäßig stärken können, damit aber linkere Elemente in ihre Reihen aufgenommen, die oft in Betrieben besser verankert waren. Im Laufe des Jahres 1923, v. a. zum Sommer hin, verschob sich das Kräfteverhältnis zugunsten der Kommunistischen Partei, die gerade in industriellen Zentren mit gezielter beharrlicher Einheitsfrontpolitik die SPD ein- und überholen konnte, weil sie Arbeiter:inneninteressen besonders durch Kampfmaßnahmen entschlossener und politisch pointierter wahrzunehmen wusste. Die KPD zog neben parteilosen, z. B. syndikalistischen Arbeiter:innen, auch ehemalige USPD-Anhänger:innen an.

Dies drückte sich bspw. auch in Wahlergebnissen auf parlamentarischer wie gewerkschaftlicher und Betriebsräteebene aus. Diese günstigen Zahlenverhältnisse – teilweise sogar mit Zweidrittelmehrheit gegenüber der SPD – dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der sozialdemokratische Parteiapparat weiterhin fest in der Hand der Kräfte lag, die 1918/1919 bereits die demokratische Konterrevolution erfolgreich gesteuert hatten. Nicht von ungefähr kam der Rückzug aus einer sozialdemokratischen Streikunterstützung bei der Beratung der Kommission der Berliner Gewerkschaften durch Intervention führender Parteivertreter:innen um Wels zustande.

Die SPD-Führung verfolgte offensichtlich das Ziel, durch einen raschen Eintritt in eine neue Regierungskonstellation der KPD zuvorzukommen und deren Bestrebung, die revolutionäre Bewegung in Richtung einer proletarischen Machteroberung voranzutreiben, zu unterbinden, und muss aus diesem Grund bereits frühzeitig Fühlung mit den möglichen bürgerlichen Koalitionspartner:innen für die unverzügliche Bildung einer neuen Regierung aufgenommen haben. Trotz ihrer schwindenden Dominanz spekulierte die SPD darauf, die Massen mit Sofortmaßnahmen wirtschaftlicher Art wie Herbeischaffung von Lebensmitteln und dem Versprechen, die gleitende Skala der Löhne gegen die Teuerung einzuführen, beschwichtigen zu können. Die Situation brachte sie in die Position, der Bourgeoisie diese Zugeständnisse abzuringen.

Aufstand

Nach der Regierungsumbildung ebbte die revolutionäre Bewegung deutlich ab. Dennoch konnten die Maßnahmen der Stresemann-Regierung, insbesondere gegen die Inflation, die sogar immer mehr an Fahrt aufnahm, nicht schlagartig greifen. Die Klassengegensätze wurden nicht eingeebnet, sondern spitzten sich weiter zu, insofern sich auch am rechten Rand der bürgerlichen Gesellschaft heterogene Teile von separatistischen, monarchistischen bis zu rechtsradikalen Kreisen formierten, die auch militärisch gerüstet waren.

Aus dieser Lage erwuchs die Einschätzung, dass Deutschland auf einen Bürger:innenkrieg zusteuern würde. Dazu musste sich die Arbeiter:innenbewegung rüsten. In dem Zusammenhang erhob sich unvermeidlich die Machtfrage. Die Exekutive der Kommunistischen Internationale rief Brandler vom Parteivorstand der KPD Mitte August zu sich und drängte auf die militärische Vorbereitung eines Aufstands, um die reaktionäre Gefahr abzuwenden, die Macht zu ergreifen und die Diktatur des Proletariats errichten zu können.

Der Anweisung kam die Parteizentrale, obwohl nicht wirklich davon überzeugt, nach und bereitete sich, da diese entscheidende Auseinandersetzung heranzunahen schien, für den Oktober auf den bewaffneten Aufstand vor. Der Erstschlag sollte in Sachsen geführt werden.

Dort hatte die KPD ein Hilfsersuchen der SPD-Landesregierung befolgt, die bereits im März 1923 als Ausdruck einer Linksentwicklung in der dortigen SPD gebildet worden war. Die Regierung Zeigner fürchtete den Einmarsch von reaktionären Verbänden aus der bayerischen Nachbarprovinz, der auch der ebenfalls von einer linkeren SPD geführten Regierung in Thüringen galt.

Gegen diese Bedrohung richtete sich auch der Appell im sächsischen Landtag zur Bewaffnung der Arbeiter:innen. Um einem eigenmächtigen Vorstoß aus Bayern zuvorzukommen und eine revolutionäre Bewegung im Keim zu ersticken, schickte der SPD-Reichspräsident Ebert zur Wiederherstellung der Ordnung die Reichswehrexekutive nach Sachsen.

Auf Anraten der Komintern-Exekutive war die KPD am 10. Oktober in die beiden Landesregierungen eingetreten. Dies spielte in der Aufstandsstrategie eine tragende Rolle. Die Länderregierungen sollten als Bastionen der Arbeiter:inneneinheitsfront  bewaffnet verteidigt werden und davon sollte eine Signalwirkung für das ganze Reich ausgehen.

Die KPD-Führung wollte jedoch noch das Votum einer Betriebsrätekonferenz in Chemnitz am 21.10. einholen. Doch ihr dort – einen Tag vor dem festgelegten Aufstandsdatum! – zur Abstimmung gestellter Aufruf zum Generalstreik und zum Aufstand stieß sogar bei den eigenen anwesenden KPD-Genoss:innen auf Ablehnung. Daraufhin sagte die Zentrale den Waffengang ab.

Dennoch kam es in Hamburg, weil dort diese Absage nicht rechtzeitig eintraf, zum Aufstand. Dieser wurde durch Polizei niedergeschlagen. In Sachsen rückten die Reichswehrtruppen des Generalleutnants Müller ohne Gegenwehr ein, brachten die Landesregierung zu Fall, in der sich die KPD in Koalition mit der SPD befand, und übernahmen die Exekutivgewalt. Das Gleiche geschah in Thüringen. Die KPD trat den Rückzug an, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden.

Politische Fehler

Die Hintergründe der Niederlage erschöpften sich nicht im organisatorischen Aspekt, sondern reichten wesentlich weiter zurück, sind politisch-strategischer Natur und hängen eng mit der Geschichte der Partei, aber auch mit ihrer Wahrnehmung durch die Komintern zusammen.

Schon in der Zeit der Ruhrbesetzung zeigte die KPD ein janusköpfiges politisches Antlitz. Während die Frontseite der Öffentlichkeit ein glattes, gesundes Bild durch Wachstum und Aktionsreichtum bot, das die scheinbare Einheitlichkeit der Partei nach außen unterstrich, war die Ebenmäßigkeit der Gesichtszüge auf anderen Seite durch andauernde Auseinandersetzungen zwischen im wesentlichen zwei Fraktionen entstellt.

Die Parteiführung um Brandler und Thalheimer, nach dem Märzabenteuer 1921 im Amt, befand sich im ständigen Widerstreit mit dem linken Flügel über Lageeinschätzung und Art des Vorgehens, setzte ihre Linie des steten Aufbaus durch Anwendung der Einheitsfronttaktik fort, reagierte jedoch nicht wendig auf die sich wandelnde politische Lage. Ihre Zielstrebigkeit beschränkte sich auf den Ausbau von Positionen v. a. in Betrieben und Gewerkschaften. Was die Parteizentrale an Möglichkeiten der Offensive unterschätzte, das überschätzte der linke Flügel tendenziell im Vertrauen auf die eigene Kraft und die Stimmung der Massen. Die entstandenen Kampforgane wie  die roten Hundertschaften, Fabrikausschüsse, Preiskontrollkomitees waren nur teilweise kommunistisch dominiert und nicht zentral organisiert.

Die Verantwortlichen der Komintern waren eher geneigt, den Berichten des linken Flügels der KPD über die Situation in Deutschland Glauben zu schenken, deren objektiv revolutionäre Reife gewiss unbestreitbar war, deren subjektive Voraussetzungen zum Zeitpunkt des anvisierten Aufstandes jedoch zu instabil waren und zu optimistisch beurteilt wurden.

Die von der KP-Führung landesweit gesetzten Aktionsakzente, namentlich der sogenannte Antifaschistische Tag Ende Juni und der Generalstreik gegen die Cuno-Regierung, waren  nicht Ergebnis einer vorbereiteten Kampagne und blieben auf halbem Wege stecken.

Die Forderung nach Machteroberung der Arbeiter:innenklasse als Konsequenz aus einem Programm von Übergangsforderungen tauchte gerade im Generalstreik erst nach dem Streikaufruf durch die Berliner Drucker:innen auf.

Diese inkonsequente Haltung äußerte sich schließlich noch in der Vorbereitung des Aufstands, wobei man nur die eigenen Genoss:innen bewaffnete und die Planung aus Furcht vor staatlichen Organen im Geheimen vor sich ging, da man wie schon bei den anderen Ereignissen vorzeitigen Zusammenstößen mit den Klassenfeind:innen aus dem Wege gehen wollte. Dies ging natürlich zu Lasten des Versuchs, einen großen Teil der Arbeiter:innenschaft im gesamten Reich zu mobilisieren. Als besonders fatal erwies sich, sich vom Zustandekommen einer sächsischen Betriebsrätekonferenz kurz vor dem festgelegten Aufstandstag abhängig zu machen.

Zusammengefasst kann gesagt werden: Der entscheidende Faktor für die Niederlage von 1923 war nicht eine „verräterische Führung“ oder eine mangelnde Kampfbereitschaft der Arbeiter:nnen. Entscheidend waren schwerwiegende Fehler in der politischen Einschätzung der Lage und Schwierigkeiten des Übergangs von einer defensiven, lange Zeit erfolgreichen Einheitsfrontpolitik zu einer offensiven Konfrontation mit der Reaktion. Nur in der Parteiführung einen solchen Beschluss zu fällen und konspirative Umsturzpläne zu schmieden, bedeutete auch einen Bruch mit der Politik, den gewonnenen Einfluss in den Basisorganisationen der Klasse für deren Mobilisierung zur Konfrontation zu nutzen. Fabrikkomitees, Regionalkonferenzen, proletarische Hundertschaften etc. hätten schon lange vor dem Oktober entsprechende Beschlüsse und Schritte diskutieren und beschließen müssen.

Eine solche Diskussion über einen entscheidenden Schritt zu einem Arbeiter:innenstaat hätte mit einer breiten Kampagne auf der Grundlage eines Programms für den Weg zur Machteroberung der Arbeiter:innenklasse verbunden sein und politisch zentralisierte Organe hätten frühzeitig formiert werden müssen.

Infolgedessen fehlte der Übernahme der Führung des Aufstands in Deutschland eine entsprechende Fundierung in Rätestrukturen in der Arbeiter:innenschaft. So blieb der KPD nur noch der mehr oder weniger geordnete Rückzug.

Manche Revolutionen werden nicht verraten – die Revolution von 1923 wurde schlicht verpasst und durch schwere politische Fehler in den Sand gesetzt. Dies ist ein wesentlicher Grund, warum die Beschäftigung mit diesen historischen Ereignissen heute noch wichtig für RevolutionärInnen ist. Sie zeigt klar die Bedeutung von revolutionären Organisationen und ihrer Führungen in sozialistischen Revolutionen, genauso wie die Möglichkeiten und Grenzen  der Einheitsfrontpolitik.