Argentinien nach 100 Tagen ultra-neoliberaler Regierung

Jonathan Frühling, Infomail 1249, 23. März 2024

Seit ca. 100 Tagen ist Javier Milei nun in Argentinien an der Macht. Er war am 10. Dezember als Präsident Argentiniens vereidigt worden, um die Wirtschaftskrise zu lösen. Seine Mittel dafür sind neoliberale Maßnahmen, die weltweit ihresgleichen suchen.

Angriff mit der Kettensäge

Nur wenige Tage nach Amtsantritt am 10. Dezember trat die neue Regierung mit einem Dekret der Notwendigkeit und Dringlichkeit (DNU) hervor, welches ca. 350 Gesetze sofort abgeschafft oder verändert hat. Milei hat, durchaus treffend, die Motorsäge als Symbol seiner Angriffe gewählt, indem er ankündigte, alle Errungenschaften der Arbeiter:innenbewegung abzusägen.

Die Inflation explodiert unter Milei

Die Inflation ist in den drei Monaten seiner Amtszeit schon massiv gestiegen – genau um ungefähr 100 % auf 250 % pro Jahr. Grund dafür war u. a. eine 50%ige Abwertung der Währung gegenüber dem US-Dollar. Außerdem wurden Subventionen für den öffentlichen Verkehr, Gas, Strom und Wasser gekürzt. Noch dazu kam, dass eine Preisbindung für Medikamente und Produkte des täglichen Bedarfs aufgehoben wurde. Die Konzerne haben das genutzt, diese sofort extrem zu verteuern. Die Inflation trifft zwar auch die großen Unternehmen, aber natürlich weitaus weniger als die große Masse der Bevölkerung. Ihre Preise sind es ja, die steigen, so dass sie die erhöhten Kosten zu einem beträchtlichen Teil an die Käufer:innen weitergeben, besonders bei lebensnotwendigen Gütern. Dasselbe passiert, wenn Subventionen wegfallen.

Durch die Abwertung der Währung wird außerdem der Warenexport begünstigt. Die Großgrundbesitzer:innen, deren Erzeugnisse 60 % des Exports ausmachen, freut’s. Importe hingegen – vor allem Fahrzeuge, Erdölerzeugnisse, Maschinen und elektronische Geräte – werden jedoch teurer und heizen die Inflation so weiter an.

Angriff auf demokratische Rechte: das Protokoll Bullrich

Die Ministerin für Innere Sicherheit, Bullrich, hat bereits einen heftigen Angriff aufs Demonstrationsrecht gestartet. Demonstrationen dürfen nicht mehr den Verkehr stören, was dem Staat faktisch die Möglichkeit gibt, kleine Demos zu schikanieren und große aufzulösen. Wie sollen Tausende oder sogar Hunderttausende Demonstrant:innen auf den Bürgersteigen durch die Stadt marschieren!? Bei kleinen Demos wurde das Gesetz bereits angewendet. Auch werden massenhafte anlasslose Kontrollen in öffentlichen Verkehrsmitteln autorisiert.

Abbau staatlicher Leistungen

Direkt nach seiner Amtsübernahme wurden das Kultur- und das Frauen- und Geschlechterministerium aufgelöst. Durch Streichung von Infrastrukturprojekten fallen zehntausende Arbeitsplätze im Bausektor weg. Auch viele andere Ministerien wurden zusammengelegt und umstrukturiert, wobei tausende Staatsbedienstete entlassen wurden. Die Regierung prüft laufend tausende von Verträgen und wird so in Zukunft weitere Menschen entlassen. Besonders trifft es auch die sozialen Bereiche. Z. B. wurden bereits unzählige Sozialarbeiter:innen, die sich für Jugendliche engagieren, gefeuert. Mitte März hat es die staatliche Medienorganisation getroffen.

Zusammen genommen wurden so bis Januar die größten Haushaltskürzungen der Geschichte des Landes beschlossen, wie die Regierung stolz verkündete. Im Vergleich zum Januar 2023 wurden die öffentlichen Investitionen um 75 % gekürzt, die Sozialausgaben um 59 %, die Transferleistungen an die Provinzen um 53 %, die Renten um 32 %, die Personalausgaben um 18 %, die Familienzulagen um 17 % und die Ausgaben für Universitäten um 16 %! Das Land schreibt im Februar erstmal wieder schwarze Zahlen. Es wird also der Bevölkerung das weggenommen, um es den internationalen Gläubiger:innen in den Rachen zu stecken.

Die Rückkehr des Hungers

Die Anzahl der Menschen, die auf Suppenküchen und Tafeln angewiesen sind, hat sich in den letzten Monaten drastisch erhöht. Laut Aljazeera nehmen 10 Millionen die Angebote der ca. 38.000 lokalen Tafeln an. Das ist fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung! Grund dafür ist, dass sich die Armutsquote seit der Amtsübernahme von Milei von 40 % auf 57 % erhöht hat. Es herrschen also bereits Zustände wie während der Krise 2001 – 2003. Das hinderte die Regierung nicht, die Staatshilfen für Suppenküchen kurzerhand zu streichen. Argentinien steuert damit direkt auf eine Hungerkrise zu.

Die Hilfeleistenden bemühen sich weiterzumachen, aber zum Teil erodiert die Solidarität angesichts der Krise: Privatpersonen und vor allem Geschäfte, die vorher an die Tafeln gespendet haben, können sich das einfach nicht mehr leisten. Tatsächlich hat es auch schon die ersten Hungerproteste vor dem neugeschaffenen Humankapitalministerium gegeben. Die Situation wird sich bereits in den nächsten Monaten extrem verschärfen. Ausgewachsene Hungerrevolten sind damit schon sehr bald eine Möglichkeit.

Die Regierung schwächelt

Glücklicherweise wurde zumindest das sogenannte Omnibusgesetz vom Parlament abgelehnt. Es enthielt alle Gesetze, die nicht durch ein DNU durchgedrückt werden konnten. Um die Schwere der Angriffe klarzumachen, sollen hier einige Punkte genannt werden: Finanzierung der Unis nach Anzahl der Absolvent:innen, Schließung der meisten staatlichen Kulturorganisationen, faktisch der meisten öffentlichen Bibliotheken, Freigebung indigener Waldschutzgebiete für Bergbauaktivitäten, Privatisierung aller restlichen 41 staatlichen Unternehmen (u. a.  Transportunternehmen, Wasser-, Strom- und Gasversorger), die Festlegung der Renten durch die Regierung am Parlament vorbei. Die Regierung versucht nun aber natürlich, die Gesetze einzeln und/oder in veränderter Form durch das Parlament zu schleusen.

Eine weitere Schwächung ist der ewige Streit mit Mileis Vizepräsidentin Victoria Villarruel. Sie hat sich von Beginn an vom kompromisslosen Kurs Mileis abgegrenzt und auf Verhandlungen mit dem Parlament gesetzt. Das war vielleicht auch ein Grund, warum dieser sie nicht mit einem hohen Posten (z. B. dem Innenministerium) ausgestattet hat. Zuletzt ist der Streit wieder eskaliert, als öffentlich wurde, dass sie sich mit dem Expräsidenten Macri getroffen hatte, um an Milei vorbei politische Alternativen zu seinem Vorgehen zu besprechen. Außerdem hat sie die Abstimmung des DNU im Senat angesetzt, was Milei hinauszögern wollte. Das führte prompt zu einer Abstimmungsniederlage für Milei, da das DNU im Senat abgelehnt wurde. Jetzt steht bald die Abstimmung im Unterhaus an, wo die Mehrheitsverhältnisse für ihn jedoch günstiger sind.

Zudem hat Milei weiter Unterstützung verloren, als er Zahlungen des Staates an die Provinzen strich. Diese haben sich deshalb gegen ihn aufgelehnt und gedroht, Gas- und Öllieferungen in den Norden einzustellen. Am 1. März verkündete die Regierung, dass die Provinzen ihr Geld erhalten würden, wenn sie ihre Gesetzesvorhaben im Kongress unterstützen. Details sollen bis Ende Mai unterschriftsreif sein. Der Ausgang dieses Schachzuges ist jedoch keineswegs gewiss. Umgekehrt zeigt sich daran jedoch auch, dass von den „oppositionellen“ Eliten und unzufriedenen Anhänger:innen Mileis allenfalls ein Schacher um einzelne Maßnahmen seiner Regierungspolitik zu erwarten ist, so dass sie ihre Sonderinteressen absichern. Letztlich steht die herrschende Klasse Argentiniens jedoch noch immer hinter dem Generalangriff auf die Arbeiter:innenklasse. Sie will jedoch dabei eigene Pfründe gesichert wissen und ein „Mitspracherecht“ bei den Maßnahmen.

Und die Arbeiter:innenbewegung?

Am 24. Januar Januar fand ein Generalstreik in Argentinien statt, welcher 1,5 – 2 Millionen Menschen auf die Straße brachte. Es war der erste seit 2019 und eine erste Machtdemonstration der Gewerkschaften. Danach hieß es jedoch: nach Hause! An den Protesten vor dem Parlament zur Abstimmung des Omnibusgesetzes beteiligte sich nur die radikale Linke. Besonders tat sich dabei das Bündnis aus vier trotzkistischen Gruppen mit dem Namen FIT-U hervor. Doch die maximal 10.000 – 20.000 Menschen, die sich während der zwei Tage an den Kundgebungen beteiligt haben, sind einfach zu wenig. Das ermutigte die Polizei wohl auch am Ende des zweiten Tages, als nur noch ca. 1.500 Menschen vor dem Parlament waren, mit Motorrädern in die Menge zu fahren und die friedlichen Demonstrant:innen wahllos mit Gummischrot zu beschießen, wobei viele verletzt wurden. Das ist aber wohl nur ein Vorgeschmack auf die Repression, die die Regierung entfesseln wird, wenn sich die unterdrückten Klassen weiter wehren werden.

Die peronistischen Organisationen glänzten gleich ganz mit Abwesenheit. Und das bei einer solchen Schärfe der Angriffe! Die Ablehnung des Omnibusgesetzes im Senat gibt ihnen jetzt noch einen Vorwand, nicht auf die Straße zu gehen. Bis Ende März 2024 sind keine weiteren Streiktage geplant, gibt es von Seiten der Gewerkschaften keinen Aktionsplan gegen die Hungerkrise, Inflation, Entlassungen und die weiteren gesetzlichen Verschärfungen.

Anscheinend hoffen die Führer:innen der peronistischen Partei, dass sie nach Milei sowieso wieder an die Regierung kommen (mit dem Vorteil, dass die bis dahin betriebene Austeritätspolitik nicht auf ihre Kappe geht). Und sie hoffen, mit der Rücknahme einiger Gesetze ggf. sogar wieder das Vertrauen der Massen gewinnen. Doch das Leben hat sich bereits jetzt für die Menschen drastisch verändert. Ein „irgendwie weiter so“ kann es für die in Armut und Elend Getriebenen nicht geben!

Klar ist, dass es keine Hoffnung auf Populismus in Gestalt der Peronist:Innen geben darf. Der Peronismus hat das Land erst in die Krise geführt, in der es sich heute befindet. Auch der peronistische Präsidentschaftskandidat Massa hat eine straffe Austeritätspolitik im Wahlkampf angekündigt und die peronistische Vorgängerregierung hat unter Präsident Fernández und Massa als Wirtschaftsminister die Sparpolitik Macris einfach fortgesetzt. Letztlich dienen sie genauso den herrschenden Klassen, nur eben auf eine etwas andere Art und Weise als Milei. Sie haben lange Zeit die korporatistische Einbeziehung und Ruhigstellung der Lohnabhängigen über die Gewerkschaften und der Arbeitslosen über die Einbindung der Arbeitslosenorganisationen in die Verteilung von Hilfsgeldern bewerkstelligt.

Das Pulver des Populismus ist jedoch angesichts der historischen ökonomischen Krise verschossen. Das Konzept des Ausgleichs zwischen den Klassen hat abgewirtschaftet. Dennoch hegen viele noch Illusionen in die peronistische Partei Partido Justicialista oder sehen diese zumindest als das kleinere Übel an. Diese Illusionen können jedoch nicht nur durch Propaganda, Enthüllung und Denunziation enthüllt werden, es braucht auch eine aktive Politik gegenüber den peronistisch dominierten Gewerkschaften und der Partei- und Wähler:innenbasis, zum Aufbau einer Einheitsfront gegen die Angriffe.

Es beginnt zu brodeln …

Bereits jetzt sind die Auswirkungen der von Milei verordneten Schocktherapie enorm. In den nächsten Monaten werden sie sich weiter zuspitzen, besonders wenn die Regierung ihre Angriffe fortsetzt. Sicherlich wird das die Möglichkeit zu größeren Protesten eröffnen, wenn es Organisationen gibt, die den Weg dafür weisen. Es regt sich nämlich schon jetzt Widerstand über den Generalstreik am 24. Januar hinaus. Lehrer:innen in sieben Provinzen sind am 26. Februar in dem Streik getreten. Am 4. März gab es einen weiteren Streiktag. Grund dafür sind Gehaltskürzungen für Schullehrer:innen und eine faktische Kürzung des Universitätsbudgets um 50 %. Auch Eisenbahn- sowie Krankenhausarbeiter:innen im öffentlichen wie in privaten Krankenhäusern sind in den Ausstand getreten. Es beginnt offensichtlich in der Arbeiter:innenklasse zu brodeln. Das hat den Gewerkschaftsdachverband endlich bewogen, über einen neuen Generalstreik „nachzudenken“, bislang ohne jeden konkreten Termin oder Mobilisierungsplan. Auch die Beliebtheitswerte Mileis waren schon 2 Monate nach seiner Amtsübernahme um 15 % auf mittlerweile unter 50 % gefallen.

In Buenos Aires haben sich in einigen Vierteln Stadtteilversammlungen gebildet, die Nachbarschaftshilfe leisten, zusammen diskutieren und zu Demos mobilisieren. Das sind Keimzellen richtiger Stadtteilkomitees, die neben der, aus der Not geborenen Übernahme von Hilfeleistungen, die Bevölkerung in basisdemokratischen Strukturen fest organisieren könnten.

Kampf um die Gewerkschaften

Die Gewerkschaftsführung organisiert momentan nur begrenzte Aktionen einzelner Sektoren oder halbtägige Generalstreiks. Das hat zwar im Januar eine gewisse Mobilisierungsfähigkeit gezeigt und war insofern ein Fortschritt. Aber die Streiks dürfen nicht zu einem Ritual verkommen, welches dazu dient, dass die Menschen ihrem Ärger Luft machen können, damit sie danach brav an die Werkbank oder ins Büro zurückkehren. Das ist nämlich momentan die Taktik der bürokratischen Gewerkschaftsführung.

In Wirklichkeit können und sollen die begrenzten und Teilstreiks zwar genutzt werden, um Erfahrungen zu machen und die Bewegung auszuweiten. Aber das allein wird nicht reichen, um die Angriffe der Regierung zurückzuschlagen. Dafür braucht es aber die Macht der großen Gewerkschaften. Ohne deren Kampfkraft wird es keinen Erfolg geben. Es stellt sich also vor allem die Frage, wie sie wieder in Instrumente der Arbeiter:innenklasse verwandelt werden können.

Dazu ist es unerlässlich, die Forderung nach einem unbefristeten Generalstreik, Aktionskonferenzen zu dessen Vorbereitung und einem Kampfplan nicht nur an die Gewerkschaftsbasis, sondern auch ihre Führung zu stellen. Denn der Druck der Ereignisse und der Basis kann die Spitzen zwingen, weiter zu gehen, als sie selbst wollen, und zugleich dazu genutzt werden, um diese Forderungen herum in den Betrieben und Gewerkschaften die Basis zu mobilisieren und Kampfstrukturen aufzubauen, die auch ohne die Bürokratie aktions- und handlungsfähig sind.

Wenn die Arbeiter:innen so das Heft des Handelns selbst in die Hand nehmen, können sie die reformistische Führung oder Teile davon zum Handeln zwingen und zugleich eine organisierte, klassenkämpferische Opposition aufbauen, die der reformistischen Führung der Gewerkschaften die Stirn bietet und diese zu ersetzen vermag.

Wichtig ist dabei, sich an den existierenden Kämpfen aktiv zu beteiligen und andere selbst anzustoßen. Und wie könnte das besser gehen als mit dem Aufbau betrieblicher Aktionskomitees und lokaler Bündnisse, an denen sich linken Organisationen und Parteien, Nachbarschaftsorganisationen, Gewerkschaften usw. beteiligen können, die den Kampf ernsthaft aufnehmen wollen? Das Ziel muss eine Kampfeinheit aller Organisationen der Klasse sein, die eine konstante Bewegung gegen die Regierung aufbaut. Dabei ist es essentiell, dass solche Strukturen nicht nur in den Betrieben und auf lokaler Ebene bestehen, sondern sie landesweit zentralisiert werden und so auch die Führung eines Generalstreiks übernehmen können. Das Gebot der Stunde ist eine Arbeiter:inneneinheitsfront!

Sozialismus und Generalstreik

Um siegreich zu sein, braucht es auch eine sozialistische Perspektive, die eine Politik über die Abwehr der Angriffe hinaus bieten kann. Das würde den Menschen wieder Hoffnung geben und sie zum Kampf motivieren. Glücklicherweise gibt es in Argentinien in Form der trotzkistischen Wahlplattform FIT-U eine radikale Linke, die stärker ist als in fast jedem anderen Land. Sie erhält bei den Wahlen rund 3 Prozent und zwischen einer halben und einer Million Stimmen. Sie repräsentiert damit eine wichtige Minderheit der Arbeiter:innenklasse.

Doch die FIT-U ist selbst bislang nur ein Wahlbündnis von vier trotzkistischen Organisationen, keine Partei. Als effektive Einheit existiert sie nur im Wahlkampf und bei gemeinsamen Demonstrationen (was jedoch auch ohne die FIT-U organisiert werden könnte). Militante Arbeiter:innen und Jugendliche, die die FIT-U wählen, können ihr nicht beitreten. Die FIT-U selbst verfügt über keine Basisstrukturen. Eine Beteiligung ist für bislang Unorganisierte, die nach einem revolutionären Ausweg suchen, nur möglich durch den Eintritt in eine ihrer vier Mitgliederorganisationen, was letztlich zu einer Stagnation der FIT-U bei den Wahlen der letzten Jahre führte.

Vor allem aber versagt die FIT-U zur Zeit darin, ihre Möglichkeiten zu nutzen, um das Kernproblem der argentinischen Arbeiter:innenklasse aufzugreifen – das Fehlen einer revolutionären Partei der Arbeiter:innenklasse.

Eine solche könnte und müsste ideologisch und organisatorisch die Führung in den Kämpfen übernehmen, damit die Regierung gestürzt werden kann. Dafür muss sie jedoch ihre eigene Zersplitterung überwinden und die organisatorische Einheit suchen. Zweifellos trennen die verschiedene Teile der FIT-U wichtige programmatische Differenzen, doch diese müssen im Hier und Jetzt angegangen werden. Der beste Weg, das zu tun, wäre eine breite und öffentliche Diskussion über ein Aktionsprogramm gegen die Angriffe, für den Generalstreik und die Errichtung einer Arbeiter:innenregierung, die sich auf Räte und Arbeiter:innenmilizen stützt. Ein solches Programm ist unerlässlich, denn ein wirklicher Generalstreik wird in Argentinien unwillkürlich die Machtfrage aufwerfen – und auf diese muss eine revolutionäre Partei eine klare Antwort geben können.




Defender 2024: Nur wer übt, wird kriegstüchtig

Linda Loony, Infomail 1248, 15. März 2024

„Kriegstüchtig“ und zum „Rückgrat der Abschreckung“ müsse die Bundeswehr lt. Verteidigungsminister Pistorius wieder werden. Dafür legt sich die Truppe zur Zeit mächtig ins Zeug.

Das „Steadfast Defender“-Manöver der NATO (STDE24/SD24; deutsch: standhafte Verteidigung), aktuell im Gange, markiert die größte militärische Übung des Bündnisses seit dem Ende des Kalten Krieges vor 35 Jahren. Die Simulation eines Konfliktszenarios mit Russland als potenziellem Gegner an der Ostflanke ist keine bloße Übung, sondern eine ernsthafte Vorbereitung. Denn nach Einschätzungen der Bundeswehr könnte Russland in wenigen Jahren bereit sein, einen Krieg gegen die NATO zu führen – und darauf will sich das Bündnis vorbereiten, indem die eigene Angriffsfähigkeit demonstriert und geübt wird.

Doch der Aufschrei in Bevölkerung und Medien scheint im kollektiven Halse steckengeblieben zu sein. Auf der Straße gibt es keine Großdemonstrationen gegen Krieg und Aufrüstung, die Berichterstattung über das Manöver und seine Ziele ist begrenzt und im Betrieb oder Freund:innenkreis dürften die wenigsten bisher darüber in Diskussionen geraten sein. Laut einer Bevölkerungsumfrage mit rund 2.200 Personen sind 70 % überzeugt, dass Deutschland weiterhin der NATO angehören muss, 65 % befürworten die finanziellen Zusagen an sie. Die Bundeswehrmissionen an der NATO-Ostflanke werden ebenfalls überwiegend unterstützt.

Die Einstellung zur Bündnisverteidigung hängt jedoch stark von der Wahrnehmung Russlands als Bedrohung der „Freiheit“ ab, also wie sehr die NATO-Ideologie verfängt, dass es sich nicht um einen immer schärferen innerimperialistischen Gegensatz handeln würde, sondern um einen Konflikt zwischen „Demokratie“ und „Autokratie“. Zweifellos wirkt diese Darstellung besonders angesichts der imperialistischen Aggression und Besatzung Russlands gegenüber der Ukraine. Der Kenntnisstand über die Bundeswehrmissionen an der NATO-Ostflanke selbst ist jedoch eher gering (1). Dabei rasseln die Säbel in Europa so laut wie lange nicht mehr.

Dieser Artikel soll zunächst einen Überblick über das aktuell laufende Steadfast Defender- Manöver der NATO geben. Im Anschluss wird eine globale politische Einordnung vorgenommen. Abschließend beschäftigt sich der Artikel mit der Frage der Programmatik, für die die Arbeiter:innenklasse in diesen Zeiten gewonnen werden muss.

Alle machen mit

Die Teilnahme an diesem gigantischen Manöver erstreckt sich über alle 32 NATO-Mitgliedsstaaten. Ziel ist es, die Alarmierung nach dem Bündnisfall zu üben, sich auf den Einsatz vorzubereiten, Truppen in die Einsatzräume zu verlegen und letztlich „den Aggressor im Gefecht abzuwehren“ (2). Mit einer Stärke von 90.000 Soldat:innen soll die NATO ihre Schlagkraft demonstrieren und Russland zugleich vor Augen führen, welche Konsequenzen ein Angriff auf das Bündnisgebiet haben würde. Abschreckung ist das erklärte Ziel an der NATO-Ostflanke.

Das Manöver erstreckt sich über einen Zeitraum von drei Monaten und umfasst verschiedene Übungen: Grand North, Grand Center, Grand South und schließlich die Abschlussübung Grand Quadriga. Dabei operiert die Bundeswehr nicht nur in Deutschland, sondern auch in Norwegen, Polen, Ungarn, Rumänien und Litauen. Diese umfangreiche Präsenz verdeutlicht, dass es nicht nur um eine regionale Verteidigungsübung geht, sondern um eine Koordination auf internationaler Ebene.

Der Menschen- und Materialeinsatz ist beeindruckend: Rund 90.000 Soldat:innen, 50 Marineschiffe, 80 Flugzeuge und über 1.100 Kampffahrzeuge werden mobilisiert. Die Bundeswehr ist mit ihrem Manöver Quadriga 24 Teil der NATO-Operation. Generalinspekteur Breuer betont die Bedeutung Deutschlands als Dreh- und Angelpunkt für die Verteidigung Europas (3). Quadriga 24 beinhaltet die Verlegung von Militärkonvois in vier Teilmanövern zu unterschiedlichen Zeiten, und es handelt sich um die größte Übung deutscher Landstreitkräfte seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Mit 12.000 Soldat:innen, 3.000 Fahrzeugen und 30 Luftfahrzeugen ist dies ein beachtliches Aufgebot.

Der Gegner Russland

Seit zwei Jahren tobt nun ein heißer Krieg in der Ukraine. Dies hat die Konfrontation zwischen den westlichen Imperialismen und ihrem russischen Gegenspieler in einem Maß verschärft, das es seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr gegeben hat. Obwohl keine kämpfenden Einheiten der NATO direkt involviert sind, wurden und werden die ukrainischen Streitkräfte vor und während des Krieges massiv ausgerüstet. Die Unterstützung umfasst Waffen, Logistik, Informationsdienste und Ausbildung an modernen Waffensystemen. Die gelieferte Ausrüstung stammt aus westlichen Armeen, begleitet von einer Modernisierung der eigenen Rüstungsindustrie.

Der westliche Imperialismus hat sich dabei hierzulande die moralische Deutungshoheit über die Kriegssituation gesichert: Russland als undemokratischer, reaktionärer Staat greift die Ukraine an und bedroht damit den Frieden, die Freiheit und Demokratie in ganz Europa, während der Westen nur als selbstloser Helfer agiere. Auch wenn die Selbstverteidigung der Ukraine gegen die Invasion berechtigt ist und es zynisch wäre, den ukrainischen Massen vorzumachen, dass es egal wäre, ob ihr Land besetzt wird oder nicht, so geht es der NATO und der Bundesrepublik darum, selbst die Kontrolle über möglichst große Teile der Ukraine zu erlangen, diese als ihr Ausbeutungs- und Investitionsgebiet zu sichern und die NATO selbst nach Osten auszudehnen.

Dies soll demnach auch sämtliche Aufrüstungsprogramme der NATO legitimieren und dient den Herrschenden als Propagandamittel. Die Moral des westlichen Imperialismus bei der Verurteilung despotischer Regierungen wird aufmerksamen Beobachter:innen jedoch als recht dehnbar auffallen, denn sie hängt lediglich von der Nützlichkeit des betreffenden Staates für die Umsetzung eigener nationaler Interessen ab. So hat die EU weniger Probleme damit, den autoritären Staat Türkei im Krieg gegen die Kurd:innen gewähren zu lassen, denn schließlich hält dieser Massen geflüchteter Menschen zurück, die anderenfalls potenziell Zuflucht hinter der Mauer der Festung Europa suchen würden. Sie haben offenkundig auch kein Problem damit, die Bombardierung Gazas politisch und militärisch zu unterstützen – denn schließlich verteidigt das zionistische Regime westliche imperialistische Interessen.

Diese propagierte moralische Notwendigkeit der Verteidigung schmeckt jedenfalls deutlich besser, als würde offen propagiert werden, dass seit jeher der westliche wie auch der russische Imperialismus jeweils ihre eigenen geopolitischen und damit ökonomischen Interessen verfolgen, die nun in der Einflusssphäre Ukraine kollidieren. Das bedeutet, der Konflikt geht nicht nur darum, ob die Ukraine ein unabhängiger Staat ist, sondern er ist zugleich mit der Frage verwoben, ob sie eine Halbkolonie Russlands oder der NATO-Imperialist:innen sein soll. Kurzum, die Ukraine ist heute sowohl Schauplatz eines Kampfes gegen die russische Invasion wie zwischen den rivalisierenden imperialistischen Mächten um die Neuaufteilung der Welt.

Der Kampf um Einflusssphären

Die NATO verfolgt seit den 1990er Jahren das Projekt der Erweiterung ihrer Mitgliedsstaaten und Einflussgebiete nach Osten. Die Aufnahme Nordmazedoniens im Jahr 2020 bildet die vorläufig letzte Etappe der Integration ehemaliger „sozialistischer Länder“. Zu deren Integration in die NATO gehört auch die permanente Stationierung von NATO-Bataillonen in Osteuropa, die seit 2016 umgesetzt wird. Auf dem NATO-Gipfel 2022 wurde dann deren deutliche Aufstockung beschlossen. Deutschland sagte im Juni 2023 zu, für dieses Vorhaben 4.000 Soldat:innen samt Ausrüstung dauerhaft in Litauen zu stationieren. Zurzeit sind rund 40.000 NATO-Soldat:innen in Osteuropa stationiert.

Russland wiederum erlebt dadurch seit jeher eine Bedrohung seiner eigenen Einflusssphären und forderte darüber hinaus als Reaktionen auf bevorstehende oder mögliche Beitritte immer wieder die militärische Neutralität von Staaten in Ost- und Südosteuropa als „Pufferzonen“ zwischen sich und der NATO ein. Hier ist ersichtlich, dass Russland umgekehrt die NATO als Angreiferin auf seine Souveränität und Sicherheit propagiert und auf Nationalismus als ideologisches Bindeglied setzt. Russland reagiert außerdem auf diese Aktivitäten seinerseits mit provokanten Manövern.

Hieraus wird deutlich, dass die militärische Mobilmachung des westlichen Imperialismus keine unmittelbare Folge des Angriffskrieges von Russland auf die Ukraine darstellt, sondern vielmehr eine fortbestehende Notwendigkeit im Kampf um Einflusssphären ist. Es wird ebenso deutlich, dass selbst ein Ende des Krieges in der Ukraine nicht das der Aufrüstung bedeuten würde, denn ein kriegsfähiges Militär ist essenziell im Konkurrenzkampf imperialistischer Staaten um die Ausbeutungshoheit über ihre Halbkolonien (4).

Kriegsvorbereitung

Mit dem „Krieg für die Freiheit in Europa“ verfügt der westliche Imperialismus über einen ideologischen Vorteil, um alle Krisensymptome, die die Arbeiter:innenklasse zu spüren bekommt, Russland in die Schuhe zu schieben und damit auch wirtschaftliche Angriffe auf soziale Errungenschaften der Lohnabhängigen als „patriotische“ Notwendigkeiten zu tarnen. So stimmte beispielsweise die Führung der IG Metall als gewerkschaftliche Vertretung in der deutschen Rüstungsindustrie in ihrem Positionspapier zur Sicherheits- und Verteidigungsindustrie im Januar 2024 in den Tenor ein und unterstrich ihrerseits, dass sie die Aufrüstungsziele der Bundesregierung unterstütze. Die Gewerkschaft stellt die so gewonnenen bzw. erhaltenen Arbeitsplätze als Errungenschaft heraus und erklärt, Waffenexporte zu unterstützen. Die Gewerkschaftsbürokratie bewegt sich hier also vollständig auf Kurs der deutschen Bourgeoisie.

Auch die reformistische SPD stellt sich nicht gegen das Mantra der Aufrüstung, während DIE LINKE nicht so recht weiß, ob sie für oder gegen eine solche „Sicherheitspolitik“ sein soll. Während sie auf Parteitagen immer noch ein Bekenntnis zum „Frieden“ abgibt, verstoßen Parlamentarier:innen und Funktionär:innen vom rechten, „regierungssozialistischen“ Flügel immer wieder gegen diese Beschlüsse. In der Praxis fällt DIE LINKE vor allem dadurch auf, dass sie der Kriegsfrage möglichst aus dem Wege geht.

Jedoch ergaben sich auch kürzlich Konflikte innerhalb der Herrschenden darüber, welche der Zugeständnisse an die Lohnabhängigen für die Aufrüstungspläne gestrichen werden sollen. So hatte die SPD den Vorschlag des FDP-Vorsitzenden und Finanzministers Lindner kritisiert, bei denen das Sondervermögen für die Aufrüstung durch Einsparungen in den Sozialleistungen gedeckt werden sollte. Doch dieses kleinen Aufbegehren der Reformist:innen darf nicht als wahrer Einsatz für die Arbeiter:innenklasse verkannt werden, denn sowohl die SPD als auch die Grünen befürworten und gestalten die aktuelle Aufrüstungspolitik.

Welche Bewegung?

Laut der bereits zitierten Bevölkerungsumfrage sprach sich letztes Jahr über die Hälfte der Befragten weiterhin für eine Erhöhung des Verteidigungsetats, eine Aufstockung der Soldat:innen und eine Wiedereinführung der Wehrpflicht aus. Nur 8 % plädieren für eine Reduzierung der Verteidigungsausgaben und des Personals.

Die ideologische Mobilmachung scheint zu fruchten: Bürgerliche Arbeiter:innenparteien wie die SPD und Gewerkschaftsführungen (und in Teilen auch die Linkspartei) tragen die Staatsraison mit und versuchen, die Lohnabhängigen durch kurzfristige ökonomische Argumente sowie durch den Kampf für das vermeintlich moralisch „richtige“ Ziel zu binden, also die Verteidigung westlicher Freiheit und Demokratie.

Für revolutionäre Kräfte gilt es, den Widerspruch zwischen den Zielen der Bourgeoisie und dem objektiven Interesse der Lohnabhängigen aufzuzeigen, und das nicht nur durch symbolische Aktionen auf der Straße. Es muss ein politischer und ideologischer Kampf in der Arbeiter:innenbewegung geführt werden. Es gilt, die ideologische Mobilmachung aufzubrechen.

Dies gilt für die Arbeiter:innenschaft in Russland wie auch in den westlichen imperialistischen Staaten. Dieser Kampf bedeutet auch, mit Antikriegsforderungen, die einer pazifistisch-kleinbürgerliche Grundlage entspringen, zu brechen. Es geht nicht darum, Phrasen wie „Nie wieder Krieg“ zu wiederholen oder gar die Hoffnung zu schüren, dass uns eine „europäische Verteidigungsarchitektur“ besser als die NATO beschütze oder die Bundesregierung unseren Forderungen nachkommen würde.

Eine Antikriegsbewegung, die über dies nicht hinauskommt oder sich auf die Seite einer imperialen Macht stellt, ignoriert den systemischen Charakter des Krieges und ist letztlich zum Scheitern verurteilt. Denn der Krieg ist im Rahmen der Klassengesellschaft und der imperialistischen Weltordnung ein politisches Mittel zur Durchsetzung der Interessen der Bourgeoisie. Der (Irr-)Glaube, man müsse sich beim Kräftemessen der Großmächte und deren Kriegsvorbereitung nur auf die „moralisch“ richtige Seite des Friedens stellen oder die Regierung um Einhalt bitten, greift vielleicht die Auswirkung des Krieges kurzfristig an, doch verfehlt es, seiner Voraussetzung den Kampf zu liefern: dem kapitalistischen System.

Proletarischer Antimilitarismus

Das Programm für die Arbeiter:innenklasse muss daher ein konsequenter proletarischer Antimilitarismus sein, d. h. ein Bekenntnis zum Defaitismus im neuen Kalten Krieg.

Der Hauptfeind ist nicht in einem imperialistischen Konkurrenten zu sehen, sondern im eigenen Land, in der eigenen nationalen Bourgeoisie. Und ein unmittelbares Ziel besteht darin, zu verhindern, dass der Kampf um die Ukraine zu einem offenen globalen Krieg zwischen den imperialistischen Mächten eskaliert.

In Russland muss die Arbeiter:innenklasse gegen den Einmarsch in die Ukraine kämpfen und die sofortige Beendigung des Krieges sowie den Abzug aller russischen Truppen fordern. Angesichts des autokratischen Charakters des Putin-Regimes ist der Kampf für demokratische Rechte, Meinungsfreiheit und die Freilassung politischer Gefangener entscheidend. Dieser muss mit dem Ziel verbunden werden zu verhindern, dass die Arbeiter:innen die Kosten des durch Sanktionen verursachten Elends und der Kriegstreiberei tragen müssen. Die Auseinandersetzung muss in den Betrieben verwurzelt sein und den Kampf gegen den Krieg mit Massenstreiks und der Enteignung der Oligarch:innen verbinden. In der Ukraine ist der Kampf gegen die Besatzung zwar ein gerechtfertigter, aber er muss mit einem politischen Kampf gegen die reaktionäre Regierung Selenskyj, die falschen Hoffnungen in den westlichen Imperialismus und für den Aufbau einer unabhängigen Arbeiter:innenbewegung und revolutionären Partei verbunden werden.

In den NATO-Ländern muss dazu aufgerufen werden, sich als Arbeiter:innenschaft gegen Kriegstreiberei, Aufrüstung und Sanktionen zu stellen, die kein reaktionäres Regime stürzen, sondern in ihrer Konsequenz der russischen Arbeiter:innenklasse schaden, vor allem aber die imperialistische Konfrontation weiter zuspitzen. Die Parteien der Arbeiter:innenklasse, Gewerkschaften und linke Kräfte müssen jede „nationale“ Einheit mit den westlichen Regierungen ablehnen und gegen reaktionäre Gesetze kämpfen. Eine echte Antikriegsbewegung muss die imperialistischen Interessen der westlichen Unterstützung für die Ukraine aufdecken. Dabei müssen Revolutionär:innen gegen Sozialpazifismus und Sozialchauvinismus vorgehen und den wahren Charakter des Krieges den Massen verständlich machen.

Perspektivisch bedeutet das auch, dass revolutionäre Kräfte Arbeit in der Armee leisten müssen, gerade bei einer potenziellen Wiedereinführung der Wehrpflicht, die das Heer aus der breiten Masse der Arbeiter:innenklasse zusammensetzen würde, statt wie aktuell nur aus Freiwilligen. Antimilitaristische Arbeit unter den und Organisierung der einfachen Soldat:innen und Wehrpflichtigen sind Schritte auf dem Weg zum Kampf gegen die Militarisierung und Aufrüstung der eigenen Nation.

Die Enteignung der Rüstungskonzerne und damit verbundene Kontrolle über die Produktion muss eine weitere Kernforderung der proletarischen Antikriegsbewegung sein. Ein proletarisches Antikriegsprogramm muss aber gleichzeitig auch Lösungen für die Arbeiter:innenschaft dieser Konzerne vorschlagen, d. h. für die dort Beschäftigten müssen Umschulungsangebote geschaffen werden, die ihnen einen Branchenwechsel zu gleichem Einkommen ermöglichen.

Es braucht einen Kursumschwung in der Arbeiter:innenbewegung und die beschriebene programmatische Methode gilt es sinngemäß auf sämtliche kriegerische Auseinandersetzungen anzuwenden, die vom westlichen Imperialismus unterstützt werden wie bspw. der Krieg im Gazastreifen. Die Schaffung einer internationalistischen Antikriegsbewegung ist das unabdingbare Mittel, den Kampf gegen die Kriegsgefahr in einen Klassenkampf gegen die Kapitalist:innenklasse zu transformieren.

Endnoten

(1) Quelle: ZMSBw-Bevölkerungsbefragung: https://zms.bundeswehr.de/de/bevoelkerunsgbefragung-zeitenwende-in-den-koepfen-5730686

(2) Quelle: Quadriga 2024: NATO-Landstreitkräfte üben den Bündnisfall [bundeswehr.de]

(3) Ebenda

(4) Mehr zu dem Thema auch hier: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/03/09/der-krieg-in-der-ukraine-und-der-kampf-um-die-neuaufteilung-der-welt/ bzw. hier https://arbeiterinnenmacht.de/2024/02/12/100-milliarden-sondervermoegen-fuer-die-bundeswehr-hochruestung-fuer-deutsche-kapitalinteressen/




Kritik des transnationalen Feminismus

Leonie Schmidt, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Transnationaler Feminismus? Viele, insbesondere im deutschsprachigen Raum, haben diesen Begriff wahrscheinlich noch nicht gehört. Doch Autorinnen wie Arruza, Bhattacharya und Fraser, die „Feminismus für die 99%“ verfasst haben oder Verónica Gago, die in„How to change everything“ einen Vorschlag für eine feministische Internationale skizziert – sie alle sind  von theoretischen Konzeptionen des transnationalen Feminismus geprägt. Daher durchziehen diese Ideen auch die Frauen-/Fem*Streikbewegungen, die in den letzten Jahren in verschiedenen Ländern am 8. März viele Personen auf die Straße bringen konnten.

Feministische Streikwelle

Die Streiks haben ihren Ursprung 2016 in Lateinamerika im Rahmen der ursprünglich argentinischen Bewegung #Ni Una Menos (Nicht eine mehr), welche sich vor allem auf die vielzähligen Femizide bezog, und breiteten sich bis 2019 weltweit aus. So gingen am 8. März 2018 in über 177 Ländern Menschen für die Rechte der Frauen auf die Straße. Allein in Spanien streikten 2018 und 2019 6 Millionen Frauen gegen sexuelle Gewalt, für gleiche Löhne und das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper. In der Türkei demonstrierten mehrere Tausende trotz starker Repression seitens des Erdogan-Regimes. In Pakistan beteiligten sich am Aurat-Marsch in den größeren Städten wie Lahore, Karatschi, Hyderabad und Islamabad ebenfalls Tausende an den Aufmärschen. Doch Pandemie und daraus resultierende Einschränkungen von Protestmöglichkeiten haben scheinbar zu einem Abflachen der Bewegung geführt. Es folgten Solidarisierungen mit dem Protest iranischer Frauen sowie lokale Streiks, welche über das Jahr verteilt stattfanden, wie in der Schweiz, Baskenland oder in Island (siehe Artikel dazu in dieser Ausgabe).

Doch die immense Kraft des internationaler Frauen-/ Fem*Streiks konnte auf lokaler Ebene nicht derartig reproduziert werden. Denn wenngleich sich die Organisator:innen immer wieder auch auf Frauen in anderen Ländern und deren Kämpfe bezogen, das Ausbleiben von internationaler Absprache und Koordinierung, die diese Streikbewegung auf ein höheres Level heben könnten, blieb aus.

Die Potenziale und die ursprüngliche Anziehungskraft, die die Frauen-/Fem*Streikbewegung ausübte, wurden also nicht genutzt. Im Folgenden wollen wir uns deswegen anschauen, welche Rolle der transnationale Feminismus dabei spielt. Dafür wollen wir zuerst betrachten, was diesen überhaupt ausmacht, wie er entstehen und sich etablieren konnte, und gehen dann über in eine Kritik der theoretischen Ansätze. Im letzten Teil wollen wir dann aufzeigen, was unserer Meinung nach stattdessen notwendig ist, um den Imperialismus und seine patriarchalen Strukturen weltweit zu schlagen.

Was ist überhaupt transnationaler Feminismus?

Wie bei den meisten politischen Strömungen, gibt es auch im transnationalen Feminismus unterschiedliche Ausprägungen und Schwerpunktsetzungen. Den gemeinsamen Kern bildet jedoch die Ablehnung einer globalen, international zusammenhängenden und koordinierten feministischen Bewegung. Dies entspringt aus der Annahme, dass nicht alle Frauen auf die gleiche Weise und aus gleichen Gründen unterdrückt werden. Somit haben und können sie auch  keine gleichen Interessen vertreten. Die Ausmaße dieser Ablehnung sind von Theoretiker:in zu Theoretiker:in unterschiedlich stark ausgeprägt. So fordern fordern manche durchaus eine lose Zusammenarbeit, eine gegenseitige Bezugnahme und einen Erfahrungsaustausch, wie sie auch in der Frauen-/Fem*Streikbewegung stellenweise umgesetzt wurden.

Dem zugrundeliegende Idee ist die Ablehnung der „globalen Schwesternschaft“, die vom westlichen Feminismus propagiert wird. Das schließt auch ein, dass feministische Ideale oder Werte, wie sie von westlichen Feminist:innen auf Frauen aus Halbkolonien projiziert werden, als eurozentrisch, unangebracht sowie paternalistisch verstanden werden. Das Leben in der westlichen Welt solle als Ideal übergestülpt werden – obwohl es komischerweise auch dort noch Frauenunterdrückung gibt. Ein nachvollziehbares Beispiel sind Vertreter:innen wie Alice Schwarzer, die der Meinung sind, Frauen aus Halbkolonien müssten in erster Linie gegen religiöse Unterdrückung kämpfen und wären frei, sobald sie beispielsweise das Kopftuch ablegen „dürften“ – ganz egal ob diese vielleicht ganz andere Probleme für ihre Unterdrückung als Frau identifizieren (zum Beispiel imperialistische Ausbeutung und Abhängigkeiten). Oftmals geht dies damit einher, Frauen aus Halbkolinien in eine Opferrolle zu drängen. Schließlich müssen die „erstmal über ihre Rechte aufgeklärt werden“. Gleichzeitig gehen Teile des transnationalen Feminismus (z. B. Spivak, Mitbegründerin der postkolonialen Theorie) sogar von einer Kompliz:innenschaft westlicher Frauen mit dem westlichen Imperialismus aus, weswegen das Ziel von Spivak nicht darin besteht, Gemeinsamkeiten in ihrer Lage als unterdrückte Frauen zu erkennen, sondern die Verbindung („linkage“) zu begreifen. Daraus resultiert auch eine Ablehnung von  generalisierenden Theorien wie etwa der marxistischen über Imperialismus oder eines Klassenbegriffs, da diese den Blick von den spezifischen lokalen Zusammenhängen ablenken würden.

Zuerst das Positive: Eine Kritik am Begriff der „globalen Schwesternschaft“ ist mehr als notwendig und berechtigt. Es gibt zwar Probleme, die alle Frauen treffen, aber eben nicht auf die gleiche Art und Weise – sei es beim Kampf gegen Gewalt an Frauen, Selbstbestimmung über den eigenen Körper oder der Ungleichverteilung der Hausarbeit. Das erzeugt letzten Endes trotzdem die Illusion von Frauen als Gesamtheit. Nachvollziehbar ist das am besten am Beispiel der „Girlboss“-Mentalität. Während auf der ganzen Welt Frauen in schlechten, zumeist informellen Arbeitsbedingungen angestellt sind sowie der Gender Pay Gap ein reales Problem ist, wird oftmals der Fokus auf Forderungen wie „Frauenquote in Führungsetagen“ gelegt oder die Förderung von Frauen als Unternehmerinnen, ganz nach dem Motto „Representation matters“. Sind diese jedoch in der Führungsriege angekommen, liegt es – Überraschung! – nicht in ihrem Interesse, dass  Löhne steigen, denn das könnte den Profiten schaden. Sie werden nicht zugunsten der „globalen Schwesternschaft“ anfangen, höhere Löhne zu zahlen oder  unbefristete Verträge auszustellen. Das würde ihre eigene Position innerhalb der kapitalistischen Konkurrenz gefährden. (Und wenn sie es tun, würden sie aufgrund dieser untergehen.) Somit hilft die Girlboss-Mentalität der Mehrheit der Frauen der Arbeiter:innenklasse sowohl in imperialistischen Staaten als auch in Halbkolonien kein Stück. Für sie ist es letzten Endes egal, wer in der Führungsetage sitzt, wenn es darum geht, ob man vom Lohn das Leben bestreiten kann. Dabei muss angemerkt werden, dass die Lage der Arbeiterinnen nicht komplett gleich ist. In den imperialistischen Staaten ist die Arbeiter:innenklasse natürlich privilegierter als die in Halbkolonien. Doch auf diese Frage wollen wir später noch einmal zurückkommen.

Herauszustellen ist, dass auch wir die Idee des bürgerlichen Feminismus ablehnen, es würde eine globale klassenübergreifende Schwesternschaft geben. Ein damit einhergehendes Problem ist nämlich auch, dass die bürgerlichen Feminismen keine Antwort darauf haben, wie Frauenunterdrückung eigentlich überwunden werden kann. Sie setzen sich nur für Reformen und somit für die Festigung ihrer eigenen Stellung ein und da sie daher den Imperialismus nicht angreifen (wollen), müssen sie sich auch umso mehr aufklärerisch und eurozentristisch gegenüber Frauen in Halbkolonien verhalten. Somit basiert der weiße bürgerliche Feminismus auch auf der Überausbeutung der Frauen in Halbkolonien. Dies entspringt jedoch nicht aus kulturellen Unterschieden, einer  „besonderen Psychologie“ der Frauen in den Halbkolonien oder einer grundsätzlichen, klassenunabhängigen Kompliz:innenschaft westlicher Frauen. Das Problem liegt woanders und zwar in der Klassengesellschaft und im Imperialismus selbst. Diese benötigen die doppelte Ausbeutung der Arbeiterin, da diese einerseits Mehrwert in der Produktion erwirtschaftet und andererseits die unentlohnte Reproduktion der Ware Arbeitskraft in der Arbeiter:innenfamilie verrichtet. Hier sehen wir also den Grund, warum es keine globale Schwesternschaft gibt: Die Interessen der Frauen verschiedener Klassen unterscheiden sich genauso wie die konkrete Lage der Frauen in imperialistischen Staaten und in Halbkolonien. Doch gleichzeitig hegen Frauen der Arbeiter:innenklasse international nicht nur ein gemeinsames objektives Interesse, die materielle Grundlage der Frauenunterdrückung, den Kapitalismus, zu überwinden; sondern auch die Fähigkeit dazu aufgrund ihrer Stellung im Produktions- und Verwertungsprozess.

Wie ist der transnationale Feminismus entstanden und wie hat er sich entwickelt?

Verfasst wurden die Grundlagen des transnationalen Feminismus bereits in den 1970er, 1980er Jahren und stellen eine Reaktion auf das Fehlen eines internationationalistischen Programms dar, das weder bürgerliche Feminist:innen aufgrund ihres Fehlschlusses der globalen Schwesternschaft geben konnten noch die damalige Arbeiter:innenbwegung, in der Reformismus sowie Stalinismus die führenden Kräfte darstellten. So gewann diese Strömung mit dem Zusammenbruch des Stalinismus sowie  der Veränderung der Weltlage – dem Beginn der Globalisierung – schließlich mehr Relevanz in den 1990er Jahren. Diesen Prozess wollen wir im Folgenden skizzieren, um für die kommende Auseinandersetzung mit den Theoretiker:innen eine Grundlage zu schaffen.

a) Verrat und Zerfall des Stalinismus

So wie der transnationale Feminismus eine Strömung innerhalb des feministischen Spektrums ist, so der Stalinismus eine der Arbeiter:innenbewegung, die noch dazu als Marxismus auftritt. Einen vollen Abriss der Entwicklung können wir an dieser Stelle nicht geben, jedoch halten wir es für notwendig, auf eine Punkte einzugehen, um aufzuzeigen, warum einige Kritikpunkte seitens der transnationalen Feminist:innen berechtigt sind – aber letzten Endes nicht den Marxismus, wohl aber seine stalinistischen und reformistischen, verfälschenden Lesarten treffen. Dabei können wir an dieser Stelle nicht auf alle Kritikpunkte eingehen. Für den Gegenstand relevant sind jedoch vor allem zwei Punkte: Die dem Stalinismus zugrundeliegende Etappentheorie sorgte für fehlerhafte politische Außenpolitik, da sie zur illusionären Strategie der globalen „friedlichen Koexistenz“ mit dem Imperialismus führt. So wurden Initiativen der Arbeiter:innenklasse wie in Griechenland oder Polen und Revolution wie in Spanien und anderen Ländern verraten, da Unterstützung nur in in Unterordnung unter die außenpolitischen Ziele der stalinistischen Bürokratien bei ihren eigenen Manövern mit dem Imperialismus stattfand. Zudem spielte in den 1980er Jahren die UdSSR beispielsweise in Afghanistan eine konterrevolutionäre Rolle sowohl in der Art, wie sie die fortschrittlichen Kräfte unterstützte, wie auch in ihrem beschämenden Abrücken von jenem Lager im Zuge seiner Kapitulation vor dem Imperialismus. Auch die „Volksdemokratische Partei Afghanistans“ war zum Beispiel bereit, die Kampagne gegen Analphabetismus unter Frauen zu stoppen, um mit den islamischen Stammesfürsten zu einem Kompromiss zu kommen. Doch der Stalinismus verriet die Interessen der proletarischen Frauen auch auf anderer Ebene: Während es nach der Oktoberrevolution 1917 diverse Anstrengungen gab, die Hausarbeit zu vergesellschaften und Rechte auf körperliche Selbstbestimmung umzusetzen, drängte der Stalinismus darauf, die sogenannte „neue Familie“ umzusetzen, letztendlich auch nichts anderes als das Ideal der bürgerlichen Familie mit sowjetischem Anstrich, bei dem die Mutterrolle auf eine reaktionäre Art und Weise stark unterstrichen und die Frau somit wieder in die häusliche private Reproduktionsarbeit gedrängt wurde. Auch die Mangelwirtschaft der UdSSR fiel insbesondere den Frauen zur Last, da sie nicht die Möglichkeit hatten, Küchengeräte zu nutzen, die in imperialistischen Ländern längst Einzug gehalten hatten und dort die Intensität der Hausarbeit massiv verkürzten. Auch die Nahrungsmittelknappheit fiel vor allem Frauen zur Last. Die staatlichen und gesellschaftlichen Führungspositionen in Partei, Gewerkschaft usw. blieben außerdem auch eine Domäne der Männer. Es gab zwar auch diverse Errungenschaften, aber nicht im Ansatz genügend, was notwendig gewesen wäre, um die Frauenbefreiung wirklich voranzutreiben. Im Angesicht dieser Politik ist es nicht verwunderlich, dass diese, unter dem Label des Marxismus betrieben, kein Mittel zur Befreiung sein kann – ob nun für Frauen insgesamt oder in der halbkolonialen Welt.

Die Restauration des Kapitalismus in Russland, China und Osteuropa stellt zwar auch eine Niederlage der Arbeiter:innenbewegung dar und wurde von vielen als Beweis betrachtet, dass sich gezeigt habe, dass der Marxismus nicht siegen könne und gescheitert wäre. Somit kehrten viele ihm den Rücken zu und suchten nach anderen Ideen und Theorien, die „moderner“ erscheinen sowie die Fehler des angeblichen Marxismus nicht wiederholen sollten – z. B. Theorien des Poststrukturalismus und des Dekonstruktivismus. Auch der Queerfeminismus von Butler entspringt dieser Zeit.

b) Aufkommen der Globalisierung

Gleichzeitig kam es unter anderem aufgrund dessen, dass kein Systemantagonismus mehr bestand, zu einer Periode der Globalisierung. Die USA mussten sich als Hegemon beweisen, um der ganzen Welt eine einheitliche ökonomische Politik aufzuzwingen. Gleichzeitig mussten sie die Überakkumulation mitsamt den immer weiter fallenden Profitraten in der heimischen Wirtschaft vorerst versuchen zu kompensieren. Dafür stülpten sie ihr Wirtschaftssystem immer größeren Teilen der Welt über und dehnten ihre Konzerne ebenso in diese Regionen aus. Die Unternehmen hatten zwar bereits früher zweitrangige Niederlassungen in Halbkolonien, doch sie wurden nun wirklich multinational. Ein bedeutender Teil der Warenproduktion selbst wurde weg aus den imperialistischen Staaten in die Halbkolonien ausgelagert, da billigere Arbeitskraft und generell die geringeren Produktionskosten dort höhere Profite versprachen. Das ging auch mit dem Anspruch auf Steuererleichterungen und diverse Sonderrechte gegenüber den Regierungen der Halbkolonien einher. Die Folge davon sind „Löhne“ am absoluten Existenzminimum, hochgefährliche Arbeitsplätze (z. B. hinsichtlich des Feuer- oder Gesundheitsschutzes), Sklaverei und Kinderarbeit. Ebenso wurden Freihandelszonen errichtet. Zusätzlich wurden staatliche Vermögen von diesen Unternehmen aufgekauft und wurde Geld von ausländischen Regierungen geliehen. Somit spitzte sich auch der Imperialismus immer weiter zu, da die Arbeiter:innen der halbkolonialen Staaten nun in Teilen direkt von der westlichen Bourgeoisie ausgebeutet und auch die Regierungen und die regionale Bourgeoisie immer abhängiger vom USA-Finanzkapital wurden. Durch die sich verschärfende Situation in den Halbkolonien gewann die Idee des transnationalen Feminismus an Bedeutung und die Kämpfe bezogen sich nun explizit auf die Ausbeutung von Frauen in dortigen multinationalen Unternehmen, antikoloniale sowie Kämpfe indigener Bevölkerungen gegen Vertreibung und Zerstörung bzw. Landgrabbing ihrer Landflächen durch imperialistische Konzerne.

Zu einem besonderen Höhepunkt kam es während der Invasion der USA in Afghanistan: Durch die Instrumentalisierung von Frauenrechten im Kampf gegen die Taliban versuchten die USA, ihre geopolitischen Interessen in diesem Krieg zu verstecken. Westliche Feminist:innen beteiligten sich an dieser Stimmungsmache, wo die andere Kultur allgemein rassistisch verunglimpft wurde und sie als barbarisch im Gegensatz zur eigenen, zivilisierten dargestellt werden sollte. Ähnliches passierte beim Irakkrieg: Die Rechte der Irakerinnen wurden auf einmal zu einem wichtigen Ansatzpunkt der USA während der Invasion, während man sich davor jedoch gar nicht um sie scherte. Insbesondere diese Ereignisse verliehen der Theorie des transnationalen Feminismus mehr Bedeutung innerhalb der feministischen Debatten.

Dekonstruktivistische Elemente und Ablehnung von Generalisierungen

Im Gegensatz zur marxistischen Zielsetzung der Überwindung der materiellen Grundlage von Ausbeutung und Unterdrückung liegt das Ziel transnationaler Feminist:innen darin, den westlichen Feminismus auf einer postkolonialen, antiimperialistischen und intersektionalen Ebene zu kritisieren und daraus Schlüsse für das lokale Vorgehen in feministischen Kämpfen zu ziehen. Dafür bedienen sie sich in gewissem Maß des Dekonstruktivismus, wie bereits im „transnational“ zu erkennen ist: Die Vorsilbe „trans“ soll hier darauf hinweisen, dass nicht nur  nationalstaatliche Grenzen überwunden werden sollen und der Kampf auch in „Sphären“ außerhalb staatlicher Strukturen geführt werden (zum Beispiel in der Nachbarschaft, der Familie, der Freund:innengruppe), sondern auch, dass die Nation an sich als Kategorie in Frage gestellt werden soll. Somit werden Nationalstaaten nicht als „real existierende Gebilde“ angesehen, welche eine wichtige Funktion für Kapitalismus und Imperialismus erfüllen und die es natürlich durchaus zu kritisieren und zu überwinden gilt, sondern eher als Narrative, die subjektive Meinungen widerspiegeln würden und mit anderen Ideen anstatt mit tatsächlich radikalem Handeln bekämpft werden müssten.

Ein weiteres Element des Dekonstruktivismus im transnationalen Feminismus ist die bereits erwähnte Annahme, dass es keine generalisierenden Theorien geben könne. Damit einher geht die Idee, es würde keine außerhalb des Diskurses existierende, objektive Wahrheit geben. Jede Erfahrung von Unterdrückung ist somit grundsätzlich anders und die Verbindungen müssen alle berücksichtigt werden, um sie nachvollziehen zu können. In diesem Fall soll allerdings der subjektive Idealismus dieser Annahme dadurch verschleiert werden, dass es sich bei den Betroffenen nicht um Einzelpersonen handelt und sie in einem regionalen Kollektiv zusammengeschlossen werden können. Trotzdem sei diese regionale Erfahrung völlig anders als jede andere und könne nicht kategorisiert werden. Solch eine Auffassung nimmt offensichtlich den Nährboden für jegliche objektive Analyse weg und vor allem für eine gemeinsame Praxis der Unterdrückten für gesamtgesellschaftlichen Veränderung. Sie ist einerseits idealistisch und andererseits rückschrittlich, da sie verhindert aufzuzeigen, woher gemeinsame, aber auch unterschiedliche  Unterdrückungserscheinungen kommen. Im Gegensatz dazu gibt es im Marxismus durchaus die Möglichkeit einer Überwindung von reiner Subjektivität: das revolutionäre Bewusstsein, welches von den geschichts- und erkenntnisstiftenden Elementen in der gesellschaftlichen Arbeit und ihren Wandlungen im historischen Materialismus getragen wird und der Anerkennung dessen, dass es durchaus eine objektive, materialistische Realität gibt, die dafür sichtbar gemacht werden muss. Warum dies notwendig ist, um kollektive Befreiung zu erreichen, wollen wir um Folgenden argumentieren, indem wir uns mit verschiedenen Theoretiker:innen näher auseinandersetzen.

Khaders Kritik am westlichen Feminismus

Die transnational-feministische Theoretikerin Serene Khader bezeichnet den westlichen Feminismus auch als missionarisch, da die westlichen Feminist:innen von ihrer ideologischen Vormacht überzeugt seien. Sie bezieht sich hierbei auf ihre folgenden Werte:

1. die westliche Überlegenheit, legitimiert durch das quasi theologische Paradigma der Aufklärung, und damit einhergehend:

2. der Unabhängigkeitsindividualismus, was bedeutet, dass es als Ideal gilt, wenn Frauen in keinerlei Abhängigkeit zur Familie und Beziehungspersonen stehen,

3. Aufklärungsfreiheit, was das Infragestellen von Traditionen und religiösen Überzeugungen zu einem Ideal macht, und

4. der Ansatz, dass Genderrollen Geschlechtergerechtigkeit verhindern und für die Befreiung von sexistischer und sexueller Unterdrückung aufgehoben werden müssen.

Diese Werte und daraus hervorgehenden Lebensarten würden imperialistische Strukturen festigen, da sie zur Idealisierung westlicher Werte und Verschleierung des Einflusses der imperialistischen Ausbeutung auf die Halbkolonien beitragen würden. Um diese Probleme zu überwinden, seien Ansätze notwendig, die Wertschätzung der Beziehungsabhängigkeiten, Tradition, Religion und Geschlechterrollen ermöglichen sollen. Deswegen sei es nötig, die spezifischen Kontexte in Betracht zu ziehen und eine konkrete Praxis anstelle idealistischer, abstrakter Moralvorstellungen zu etablieren. Denn bei einer Generalisierung könne es sonst dazu kommen, dass die Unterdrückung in den lokalen Unterschieden und nicht im imperialistischen System verortet wird. Des Weiteren solle der Widerstand gegen antifeministische Praktiken nur von den Betroffenen selber kommen und keine Intervention von außen erfolgen, um sie nicht zu entmündigen. Erstmal ist es natürlich völlig richtig, den westlichen bürgerlichen Feminismus und seinen Überlegenheitsanspruch in Frage zu stellen. Jedoch sollte hier differenziert werden, denn manche seiner Ideen und Forderungen stellen zumindest keinen falschen Ausgangspunkt dar.

a) Fortschritt und Entwicklung im historischen Materialismus

Die Grundsätze der Aufklärung wie Kritik der Kirche als Institution, Fokus auf Vernunft und naturwissenschaftliche Erkenntnisse sowie Bürger:innenrechte stellen – auch wenn sie bürgerliche Errungenschaften sind –  innerhalb der historischen Entwicklung einen Fortschritt dar. Zwar dienten sie zur Legitimation der bürgerlichen Herrschaft gegenüber dem Feudalsystem, also letztendlich des Kapitalismus, verkörperten aber gleichzeitig eine Verbesserung gegenüber dem religiös geprägten Austausch. Zudem ist die Behauptung, die Aufklärung sei eine rein westliche Erfindung bereits eine Rückkehr zum Orientalismus, den die postkolonialen Theorien, auf die sich der transnationale Feminismus bezieht, eigentlich kritisiert hatten. So gab es auch beispielsweise im Osmanischen Reich vergleichbare Ansätze und der Bezug auf Rationalität und Naturwissenschaftlichkeit ist kein rein „europäisches Phänomen“.

Wichtig ist, dass der Fortschritt einer einzelnen Gesellschaftsformation nicht als „ewig“, starr und unantastbar gelten darf, sondern im Verhältnis zu seinen eigenen Potentialen und auch Entwicklungshemmnissen beurteilt werden muss. Denn jede dieser von Widersprüchen geprägten Gesellschaftsform verliert irgendwann ihren fortschrittlichen Charakter und muss sich ihrer Fesseln entledigen (oder fällt zurück). Das heißt, dass es nur Brüche und Umwälzungen der Produktionsformen sind, die einen wirklichen Fortschritt bringen können, nicht die unaufhörliche Weiterentwicklung der jeweiligen Gesellschaftsform. Sichtbar kann das zum Beispiel werden, wenn wir die rückschrittlichen Tendenzen des Kapitalismus in seinem aktuellen Stadium betrachten: Er ist zu einer Fessel des Fortschritts und der Befreiung der Menschheit geraten.

Demnach ist es jedoch völlig richtig, im Rahmen der Imperialismustheorie die halbkolonialen Staaten als unterentwickelt zu betrachten. Das soll keine Herabwürdigung darstellen, sondern beschreibt ihr materialistisches, dialektisches Verhältnis zu den imperialistischen Staaten. Halbkolonien sind gar nicht in der Lage, sich gleichsam wie diese zu entwickeln, da sie aufgrund ihrer Abhängigkeit die Entwicklung nicht aufholen können. Es ist sogar ein erklärtes Ziel der imperialistischen Staaten, sie unterentwickelt zu halten, auch wenn mit „Entwicklungshilfe“ etwas anderes suggeriert werden soll. Das darf jedoch nicht in eine ideologische Vormachtstellung insofern umschlagen, als dass man die Unterdrückten selbst auch als „unterentwickelt“ einschätzt und sie somit rassistisch abwertet, ihnen die eigene Perspektive aufzwingt oder dies zur Legitimierung des bestehenden Systems nutzt.

Gleichsam darf man nicht zur Schlussfolgerung kommen, wie sie auch Stalinist:innen entwickelten, es sei erst eine bürgerliche Revolution in den Halbkolonien notwendig, um dann diese noch einmal erneut überwinden zu müssen. Sehr wohl müssen aber die bürgerlich-demokratischen Aufgaben vollendet werden, was einen wichtigen Ansatzpunkt für revolutionäre Kräfte darstellt. Dazu aber  später mehr. Erstmal stellt sich hier natürlich die Frage nach der Notwendigkeit des Bruches mit der vorkapitalistischen Ausbeuter:innenordnung: Dieser ist nicht notwendig, da die Halbkolonien bereits in das imperialistische Weltsystem und dessen grenzenlosen Drang nach Wertschöpfung integriert sind. So haben bereits gemäß Trotzkis Gesetz der kombinierten und ungleichzeitigen Entwicklung die fortschrittlichen Technologien in den Halbkolonien Einzug erhalten, denn die Produktivkräfte kennen den nationalen Rahmen nicht und müssen nicht in jeder Region neu erfunden werden. Das äußert sich auch darin, dass die Entwicklung in den Branchen, welche für die Kapitalbewegung interessant sind, vorangetrieben wird. Daher breitet sich zum Beispiel die Arbeiter:innenklasse in den Halbkolonien immer weiter aus, während gleichzeitig die rückschrittlichen Produktionsformen und -techniken trotzdem weiterhin gefestigt werden, zum Beispiel in der Landwirtschaft, um die Reproduktionskosten und damit das Lohnniveau weiterhin so günstig wie möglich zu halten. Was könnte eine bürgerliche Revolution nun ändern? Vermutlich wenig. Denn die lokale Bourgeoisie kann sich aufgrund ihrer geringen Größe und ihres unbedeutenden Einflusses nicht von den internationalen Investor:innen lossagen und fürchtet die Rebellion der eigenen Bevölkerung viel mehr. Vor allem aber stellen diese rückständigeren Formen im modernen Kapitalismus im Wesentlichen keinen „störenden Überrest“ einer vorhergehenden Produktionsweise dar, sondern wurden in das kapitalistische Gesamtsystem integriert.

Auch in den Halbkolonien müssen Traditionen, kulturelle Praktiken und Religionen Kritiken unterzogen werden, um einen gesellschaftlichen Fortschritt gewährleisten zu können, da sie oftmals reaktionäre Elemente enthalten, die sich schon über Jahrhunderte entwickelten. So übte beispielsweise auch Marx Religionskritik aus, da er davon ausging, dass diese in jeder Klassengesellschaftsformation zur Verschleierung der materiellen Lage und Ausbeutung dient. Eine Kritik der Religion ist demnach notwendig, um die wahren Ursachen – die Klassengegensätze – zu Tage zu bringen. Das heißt, dass Religion nicht die Basis der Unterdrückung liefert, sondern ihren Überbau, der benötigt wird, um sie aufrechtzuerhalten und zu legitimieren. Herleitend ist es also sogar im Sinne der Bourgeoisie, diese beizubehalten, da so die imperialistischen und neokolonialen Unterdrückungsmechanismen mystifiziert werden können. Letztendlich stellt sich die Behauptung Khaders, man müsse Konzepte entwickeln, die Religion und Co wertschätzen, genau in diesen Dienst der Imperialist:innen. Da Marxist:innen erkennen, dass die Religion eine materielle Basis in den bestehenden Verhältnissen hat, jedoch auch, dass diese wie jede andere bürgerliche oder kleinbürgerliche Ideologie nicht „abgeschafft“ werden kann, solange die Verhältnisse weiter bestehen, die sie hervorbringen.

Daher ist es falsch, von Frauen in Halbkolonien grundsätzliche Ablehnung ihrer Religion zu fordern, um ihre antisexistische Emanzipation voranzutreiben oder es gar zu einer Bedingung für den gemeinsamen Kampf zu machen. Jedoch ist der gegen theokratischen Regime fortschrittlich, denn diese errichten i. d. R. Diktaturen zum Leidwesen von Frauen, LGBTIA*-Personen, nationalen Minderheiten sowie der gesamten Arbeiter:innenklasse. Demnach können die Forderungen im Sinne der permanenten Revolution Trotzkis nach bürgerlichen Rechten wie Demokratie, gleichen Persönlichkeitsrechten für alle, Befreiung von feudalistischen und anderen vorkapitalistischen Rückständen, Frieden und Wohlstand jedoch als revolutionäres Vehikel funktionieren. Denn es ist klar, dass sie sich eben unterm Kapitalismus für Halbkolonien nicht erfüllen lassen, sondern die Strukturen der Klassengesellschaft überwunden werden müssen, um gleiche Rechte für alle und wirkliche Demokratie gewährleisten zu können. Ebenso dürfen diese Kämpfe nicht im nationalen Rahmen stehenbleiben, sondern müssen so viele Gebiete wie möglich umfassen und zu einer Weltrevolution werden.

b) Unabhängigkeitsindividualismus und Geschlechterrollen

Auch dieser Punkt an Khaders Kritik bedarf einer näheren Betrachtung. Für sie stellt der westliche Feminismus die unabhängige Karrierefrau in den Mittelpunkt, die keine Zeit für Familie, Kinder und Haushalt hat. Daraus resultiert, dass sie die Reproduktionsarbeit, die ihr durch die Geschlechterrollen als Frau aufgehalst werden würde, anders lösen muss: nämlich, indem sie andere Frauen dafür einstellt. Somit kann man sagen, dass die Reproduktionsarbeit auch im Kapitalismus schon in einer gewissen Hinsicht vergesellschaftet ist, allerdings unter dem Vorzeichen der herrschenden Klasse. Wer sich die Auslagerung von Reproduktionsarbeit leisten kann, hat Glück. Hierbei wird vor allem deutlich: Es handelt sich nicht um „den westlichen“ Feminismus per se, sondern um bürgerlichen Feminismus. Denn auch in halbkolonialen Ländern ist diese Form der Auslagerung für Frauen aus der herrschenden Klasse und Teile der Mittelschicht möglich.

Das Bedürfnis nach Unabhängigkeit kann also im Kapitalismus nicht wirklich für alle Beteiligten zufriedenstellend aufgelöst werden. Es ist zwar richtig, dass durch den Kapitalismus eine Entfremdung von der Gemeinschaft, die vorher in einer gewissen Hinsicht z. B. im Feudalismus existierte, ausgelöst wurde, das kann jedoch in den jetzigen Strukturen nicht überwunden werden, da sie auf der aktuellen Produktionsweise beruht. Angebliche Konzepte vorkapitalistischer Gemeinschaft und der Abhängigkeit fördern nicht die Frauenbefreiung. Ökonomische Abhängigkeiten sorgen oftmals dafür, dass Frauen eben nicht ihrem gewalttätigen Mann entfliehen können, da sie in ihrem Job aufgrund ihrer Verpflichtungen zur Reproduktionsarbeit, die ihnen mithilfe der Geschlechterrollen auferlegt wurden, zu wenig verdienen, um wirklich unabhängig zu leben. Das trifft natürlich auch Frauen, die gar nicht berufstätig sein dürfen (sei es aufgrund des Verbots durch Mann oder Staat). Es ist aber auch so, dass zum Beispiel alleinerziehende Mütter, die keine gesellschaftliche Unterstützung erfahren, auch nicht unbedingt bessere Lebensbedingungen haben. Um ihre Kinder großziehen zu können, sind sie oftmals auf flexible Arbeitsstellen mit Schichtarbeit angewiesen, damit sie alles unter einen Hut bekommen können. Flexible Jobs sind meistens auch im Niedriglohnsektor angesiedelt. Jedoch ist ihre Lage genauso darin zu verorten, dass die Reproduktionsarbeit ins Private verschoben wurde, anstatt eine gemeinschaftliche Pflege und Erziehung von Kindern bzw. Alten zu gewährleisten. Auch die Abhängigkeit von der eigenen Verwandtschaft geht sehr wohl mit patriarchaler Unterdrückung einher, wenn es zum Beispiel um Konzepte von Familienehre oder Zwangsheirat geht.

Natürlich sollte das Ziel nicht darin liegen, ein einsames zurückgezogenes Leben zu führen, um jeglicher Abhängigkeit zu entfliehen und alleine erfolgreich zu sein oder sich zumindest gerade so über Wasser halten zu können.

Der zentrale Punkt ist jedoch, dass für die Aufhebung der Strukturen, die Frauen in die Abhängigkeit drängen, wie das Ideal der bürgerlichen Familie, die der damit einhergehenden Geschlechterrollen und der ins Private gedrängten Reproduktionsarbeit den Schlüssel darstellen und nicht eine Illusion von spirituellen Gemeinschaften und traditionsreichen Abhängigkeiten. Denn diese stellen nur den ideologischen Ausdruck (den Überbau) der Frauenunterdrückung dar. Auch eine bloße Kritik der Geschlechterrollen kann keine Befreiung herbeiführen. Erst die Überwindung des Kapitalismus und die Kollektivierung von Produktion und Reproduktion können die aktuelle Entfremdung überwinden und zu einer neuen Gemeinschaft führen, die geprägt von vielerlei zwischenmenschlichen Beziehungen ist. Die Annahme, Geschlechterverhältnisse seien in Halbkolonien grundsätzlich anders und hätten auch einen anderen Ursprung als in imperialistischen Staaten, entbehrt jeder Logik. Der ideologische Überbau und der Grad der sozialen Unterdrückung können sich zwar unterscheiden, aber zum Beispiel fortschrittlichere Gesetzgebungen können in imperialistischen Staaten auch wieder zurückgenommen werden, wie man an Abtreibungsrechten in den USA oder der Aberkennung von Rechten queerer Eltern in Italien in den letzten Jahren sieht. Gleichstellung auf dem Papier heißt nicht, dass diese wirklich konsequent umgesetzt und verfolgt wird, wie man  an der Anzahl der Femizide und sexualisierter Gewalt auch in imperialistischen Staaten feststellen kann.

Es mag in Halbkolonien vielleicht Strukturen geben, wo Gemeinschaft und Hausarbeit anders gelebt und geleistet werden, als das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie suggerieren soll. Das überschreitet aber trotzdem meistens nicht den Rahmen einer Familie und beschreibt dann eher die Zusammenarbeit von Frauen aus verschiedenen Generationen innerhalb ihrer, wie es auch in feudalen und anderen vorkapitalistischen Verhältnissen üblich war. Diese Umstände werden auch in manchen Fällen von den Imperialist:innen bewusst gefördert oder zumindest unangerührt gelassen. Es mag auch indigene Völker geben, deren Gesellschaftsstruktur mehr noch der des „Urkommunismus“ ähnelt, trotzdem stellen sie eine Seltenheit dar. Somit bleibt die Hausarbeit in den Halbkolonien also trotzdem im Privaten. Des Weiteren ist die Klasse der Lohnarbeiter:innen auch mittlerweile so ausgedehnt, dass die Notwendigkeit der Reproduktion im privaten Bereich dort ebenso besteht und ausgeführt wird. Die Grundlage der Unterdrückung der Frau bleibt also dieselbe: die Klassengesellschaft.

c) Entstehung des Bewusstseins

Die Annahme, es dürfe im Kampf gegen Antisexismus keine Interventionen von „außen“ geben, geht ebenso auf die bereits erwähnte Idee zurück, dass es keine objektive, vom Bewusstsein unabhängige Wirklichkeit geben könne und lediglich die subjektiven Wahrnehmungen der Betroffenen ihnen Erkenntnisse über ihre individuelle Situation bringen könnten. Das heißt also, ausschließlich die Frauen in der jeweiligen Halbkolonie haben die Möglichkeit zu erkennen, warum sie unterdrückt werden, da sie die Betroffenen sind.

Erst einmal kommt niemand zum Bewusstsein, nur weil die Person unterdrückt wird. Sonst würde es bereits jetzt keinen Kapitalismus mehr geben. Natürlich kann die eigene Betroffenheit eine Anregung sein, um sich tiefergehender mit Hintergründen zu beschäftigen und Ideen dagegen zu entwickeln. Aber man kann genauso auch komplett falsch in seiner Analyse liegen. Denn das Bewusstsein ist eine kollektive Frage, welche ihre Grundlage und ihren Gradmesser von Wahrheit zwar in den ökonomischen Strukturen und im gemeinsamen Kampf gegen diese hat, jedoch auch mit theoretischen Erkenntnissen verknüpft werden muss, welche von außen in die Klasse getragen werden müssen. Das gilt auch für eine proletarische Frauenbewegung. Das soll natürlich nicht heißen, dass westliche Feminist:innen alles bestimmen, jedoch, dass es neben gemeinsamen Kämpfen auch eine gemeinsame internationalde Analyse der Welt braucht, wobei Internationalismus das Fundament bilden muss, um zu gewährleisten, dass die objektive Lage auch erfasst wird und nicht von nationalistischen Ideen bzw. imperialistischem Chauvinismus geprägt ist. Darauf aufbauend kann es dann Diskussionen über die gemeinsame Ausrichtung geben. Außerdem ist es auch notwendig, dass aus Erfolgen und Misserfolgen von Arbeiter:innen- und Frauenbewegungen der Vergangenheit Lehren gezogen werden. Denn wenn jede:r Unterdrückte erst einmal unbehelligt wieder denselben Fehler machen soll, nur um nicht bevormundet zu werden, sieht es für unsere klassenlose und befreite Zukunft wahrscheinlich eher düster aus. Aber das darf natürlich keineswegs eine Einbahnstraße sein. Genauso muss der westliche Feminismus mitsamt seinen neoliberalen und individualisierenden Tendenzen scharf kritisiert werden, damit eine sinnvolle klassenkämpferische Einheit gegen Frauenunterdrückung gebildet werden kann, die sich auch wirklich Antiimperialismus und Antikapitalismus auf die Fahne schreiben kann und erfolgversprechend ist.

Kritik des Marxismus von Kaplan, Grewal und Spivak

Ein Blick auf die transnationalen Feministinnen Kaplan und Grewal zeigt jedoch, dass solch ein Ansatz nicht im Sinne des transnationalen Feminismus ist. Sie stellen in ihrem Text „Transnational Feminist Cultural Studies: Beyond the Marxism/Poststructuralism/Feminism Divides (1994)“ hauptsächlich infrage, dass es ein homogenes Weltproletariat gibt, und wollen damit beweisen, dass die marxistische Theorie veraltet sei. So würde es bei Anwendung eines Klassenbegriffes zu einer Gemeinmachung von Mann und Frau kommen, sowie würden soziale Unterdrückung und imperialistische Ausbeutung nicht beachtet werden. Dem zugrunde liegt die Annahme, dass das Kapital heutzutage keine Konformität mehr produziert, also kein generalisiertes revolutionäres Subjekt, sondern, es die Personen in ihrem zugrundeliegenden kulturellen Kontext anspricht. Communities anstatt Klassen produzieren Bewusstsein, insbesondere durch den Versuch, mit Diversität die Ausbeutung zu verschleiern. Mit Bezugnahme auf Spivak argumentieren sie, es würde durch die imperialistische Wertschöpfungskette nicht nur der Wohlstand für die imperialistischen Staaten, sondern auch gleich die Möglichkeit zur kulturellen Selbstrepräsentation von den Halbkolonien produziert werden. Spivak geht davon aus, dass die Marx’sche Wertschöpfungstheorie nicht genügend erklären kann, wie soziale Unterdrückung entsteht. Sie schlussfolgert, dass kulturelle Dominanz und Ausbeutung Hand in Hand gehen und sich gegenseitig formen. Daraus herleitend lehnen Kaplan und Grewal jegliche generalisierenden Theorien und Kategorien ab, da diese nicht in der Lage seien, die Komplexität zu erfassen. Sie schlagen Solidarität und Koalitionen vor, aber keinen konkreten gemeinsamen Kampf oder gar gemeinsame Organisierung.

a) Zur Frage des Weltproletariats

Zuerst einmal ist es keine falsche Annahme, dass es kein homogenes Weltproletariat gibt. Der marxistische Klassenbegriff ist keine starre Kategorie, die die Arbeiter:innenklasse an ihrem monatlichen Einkommen misst, sondern argumentiert, dass die Arbeiter:innenklasse im Verhältnis zur Kapitalist:innenklasse und zu den Produktionsmitteln existiert. Der Weltmarkt schuf internationale Wertschöpfungsketten. Im Zuge der Globalisierung wurden vor allem in Asien, aber auch in weiteren Teilen der Welt Millionen in diesen integriert – als Arbeiter:innen, Landlose oder Arbeitslose ohne Zugang zu Produktionsmitteln. Die Kapitalbewegung bestimmt hier die Zusammensetzung der Arbeiter:innenklasse und die konkrete Form der Ausbeutung, welche in Zeiten des Aufschwungs durchaus etwas liberaler oder bequemer ausgestaltet sein kann. In Zeiten von Krisen hingegen nehmen die Unterschiede zwischen der Lage der Klasse in imperialistischen Staaten und in den Halbkolonien immer weiter massiv zu. Die Arbeiter:innen der imperialistischen Staaten sind zweifelsohne privilegiert gegenüber denen in den halbkolonialen Staaten, aber sie bleiben dennoch die Ausgebeuteten, sie werden nicht selbst zur herrschenden Klasse. Abgeleitet aus diesen Punkten muss man schon die Existenz einer internationalen Arbeiter:innenklasse an sich gegen diese Annahme sprechen. Diese ist jedoch – wie bereits geschrieben – nicht homogen und es gibt Hindernisse, die dazu führen dass sie nicht als Klasse für sich auf internationaler Ebene agiert.

Hervorzuheben ist in diesem Kontext die Schicht der Arbeiter:innenklasse, die wir als Arbeiter:innenaristokratie bezeichnen. Sie stellt in den imperialistischen Kernzentren einen privilegierten Teil dar – finanziert aus den Extraprofiten, d. h. der Überausbeutung der Arbeiter:innen der halbkolonialen Welt, und ist teilweise durch Kampfkraft entstanden, teilweise weil sie an einer derartig relevanten Stelle im Wertschöpfungsprozess angesiedelt ist, dass diese Schichten aus Mitteln der imperialistischen Überausbeutung heraus sozial befriedet wurden. Bedeutend ist diese Schicht, weil sie die soziale Stütze der Bürokratie in der Gewerkschaft bildet, die die Politik der Sozialpartnerschaft stützt. Die Bürokratie bringt die Aristokratie nicht hervor, aber sie kann die Verfassung, den Bewusstseinszustand von arbeiter:innenaristokratischen Schichten beeinflussen. Die Gewerkschaftsbürokratie ist jedoch nicht bloß eine Verlängerung, Apparat gewordene Form des falschen, weil ungenügend entwickelten gewerkschaftlichen Bewusstseins. Sie ist historisch zu einer Kaste entwickelt, die im Interesse der Kapitalist:innen in den Organisationen der Arbeiter:innenklasse wirkt – als politische Polizei, verlängerter Arm des Staatsapparats. Als bürokratische Schicht entwickelt sie selbst ein materielles Interesse, ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital zu verewigen – und damit auch, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse zu verteidigen. Das ist der Kern der Sozialpartnerschaft. Die Arbeiter:innenbürokratie bindet die Klasse somit an die Lohnform, selbst verschleierter Ausdruck des Klassengegensatzes. Sie ist in diesem Sinne ein strategisches Hindernis für Revolutionär:innen, die sich der Aufgabe stellen, den alltäglichen Widerstand (von Teilen) der Arbeiter:innenklasse in unerbitterlichen Widerspruch gegen die Klassengesellschaft zu bringen. Nicht nur, weil das Programm der Sozialpartnerschaft verhindert, dass Kämpfe in imperialistischen Zentren erfolgreich geführt werden, sondern weil die Idee der „Standortlogik“ sowie „Wettbewerbsfähigkeit“ eine reale Hürde für die Herausbildung eines internationalistischen Standpunkts ausmachen und die Klasse spalten. Deswegen ist es auch zentral, diesem ein politisches Programm entgegenzustellen, anstatt die Unterschiede zwischen Arbeiter:innen in imperialistischen Ländern und Halbkolonien als gegeben hinzunehmen. Dies naturalisiert letzten Endes die vorhandene Spaltung.

Denn gleichzeitig sind die Privilegien der Arbeiter:innenaristrokatie nicht automatisch dauerhaft. Während diese Schicht selbst immer kleiner wird, wie man an Ländern wie Deutschland sehen kann, findet paralell eine fortschreitende Fragmentierung der Klasse in ihrer Gesamtheit statt. Das heißt: Durch den Ausbau des Niedriglohnsektors nehmen Prekarisierung sowie Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse zu und der Unterschied zwischen der Arbeiter:innnenaristokratie und den Arbeiter:innen der Niedriglohnsektoren in den imperialistischen Kernzentren wird größer. Auch die doppelte Ausbeutung in Produktion und Reproduktion der Arbeiterin werden in einer marxistischen Analyse nicht unter den Teppich gekehrt.

Auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag, dass die Arbeiter:innenklasse von der Überausbeutung ihrer Kolleg:innen in den Halbkolonien profitiert, so liegt es letzten Endes nicht in ihrem objektiven Interesse, wenn es darum geht, den Kapitalismus zu überwinden. Dies kann letztlich nur auf einer internationalen Ebene erfolgreich sein oder ist zum Scheitern verurteilt. Um das zu gewährleisten, müssen Forderungen aufgestellt werden, die sich gegen die Auswirkungen des Imperialismus stellen – sei es beispielsweise im Falle von imperialistischen Interventionen, Sanktionen, der Auslagerung umweltschädlicher Produktion oder Ausbeutung. Dies ist möglich, da die entscheidende Gemeinsamkeit in der Ausbeutung der Ware Arbeitskraft besteht. Demnach vereint diese auch das objektive Interesse, diese Ausbeutung zu überwinden und ermöglicht, es gemeinsame Kämpfe zu führen. Doch die postkoloniale Tradition des transnationalen Feminismus stellt hier die Differenz zwischen Ländern anstatt zwischen Klassen in den Vordergrund.

b) Kulturelle Vorherrschaft und Mehrwertschöpfung

Auch kann nicht behauptet werden, dass die kulturelle Vorherrschaft durch die Wertschöpfungsketten gleich mitproduziert wird, so wie von Spivak behauptet. Es handelt sich hierbei um ein völlig falsches Verständnis von Mehrwertschöpfung und Kapital. Die kulturelle Vorherrschaft dient dem Imperialismus als Begründung und Verschleierung der Ausbeutung, sie bildet einen Teil des gesellschaftlichen Überbaus. Hiermit wird die Spaltung der Klasse vertieft, werden Lohndumping und Differenzen begründet und die Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Ländern im Geiste „kultureller“ oder „rassischer“ Überlegenheit erzogen.

Im Endeffekt ist es zwar überhaupt nicht im objektiven Interesse des westlichen Proletariats, aber diese reaktionäre Ideologie stellt eine extrem wichtige Waffe in den Händen der herrschenden Klasse zur Sicherung ihrer globalen Herrschaft dar. Diese wird durch die Privilegien verstärkt, die die Lohnabhängigen – hier vor allem die Arbeiter:innenaristokratie – der imperialistischen Nationen im Verhältnis zu jenen der Halbkolonien genießen. Aber längerfristig und vom historischen Interesse der Lohnabhängigen aus betrachtet, bieten diese nicht nur keine Perspektive zur Überwindung der Ausbeutung, sondern stellten vielmehr eine Fessel für die Arbeiter:innenklasse auch in den imperialistischen Ländern dar, die sie an ihre Ausbeuter:innen bindet.

Diese Annahmen der kulturellen Vorherrschaft kritisieren zwar Spivak, Kaplan und Grewal zu Recht und der Kampf gegen diesen Chauvinismus, Nationalismus und Rassismus muss in der Arbeiter:innnenklasse und ihren Organisationen entschlossen geführt werden – und zwar sowohl im Hier und Jetzt wie sicher auch nach erfolgreicher Revolution, denn selbst dann werden rückständige, über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte fest verankerte Ideen und Verhaltensweisen nicht ohne bewussten Kampf dagegen verschwinden. Die Theorie kritisiert zwar reaktionäres Bewusstsein in der Arbeiter:innenklasse der imperialistischen Länder – sie kapituliert aber letztlich davor, dieses zu bekämpfen. Direkt reaktionär ist ihre Ideologisierung rückständiger Bewusstseinsformen, z. B. religiöser Ideen in der Arbeiter:innenklasse der halbkolonialen Länder. Diese sind letztlich nichts anders als Mittel, mit denen die herrschende Klasse der Halbkolonien „ihre“ Arbeiter:innen (und armen Bauern/Bäuerinnen) politisch-ideologisch an eine kapitalistische Ordnung bindet. Hier zeigt sich der Klassencharakter dieser Theorien (wie postkolonialer Theorie). Scheinbar springen sie den „rückständigen“ Massen der Halbkolonien gegen „eurozentristische“ oder „universalistische“ Kritik bei. In Wirklichkeit zementriert ihr bürgerlicher Paternalismus ideologisch die Unterordnung und Ausbeutung der Lohnabhängigen in der halbkolonialen Welt.

Gagos Vorschlag einer feministischen Internationale: nichts Halbes, nichts Ganzes

Zum Schluss wollen wir uns noch Verónica Gago als zeitgenössische Vertreterin des transnationalen Feminismus kurz näher anschauen. Sie kann als Theoretikerin der mehr oder weniger aktuellen Frauen-/Fem*streikbewegung verstanden werden. Dabei ist herauszustellen, dass die Vernetzung und eine Gleichzeitigkeit der Aktionen am 8. März einen Fortschritt darstellen. Das beweist auch der anfängliche Erfolg der Bewegung, der in der Einleitung beschrieben wurde. Allerdings sind es die theoretischen sowie strategischen Mängel, die dafür sorgten, dass es nicht so bahnbrechend weitergehen konnte, wie die Bewegung begann. In der Tradition des transnationalen Feminismus lehnt Gago natürlich jegliche Homogenisierung der Bewegung durch ein gemeinsames Programm ab. Es ist zwar richtig, dass ein solches auf die unterschiedliche Lage von imperialistischen Staaten und Halbkolonien eingehen muss, jedoch kann es dennoch zwangsläufig einen gemeinsamen Kampf und ein gemeinsames Ziel geben. Schließlich sind die Gegenspieler, die imperialistischen Kapitale, auch dieselben Feinde, die nur in der Masse geschlagen werden können. Stattdessen kann die feministische Internationale Gagos überall praktiziert werden, sei es im Bett, auf derArbeit oder Straße.

Die Annahme, dass ein Streik außerhalb der Lohnarbeit genauso effektiv sein kann, und sei er noch so klein, wie zum Beispiel auf ein Lächeln zu verzichten, geht auch aus dem neuen Klassenbegriff von Gago hervor, welcher Arbeiter:innen, das Bäuerinnen-/Bauerntum und das niedere Kleinbürger:innentum zusammenschließen will, als ob diese in irgendeiner Form wirklich ein gemeinsames objektives Klasseninteresse hätten. Natürlich sollten Marxist:innen versuchen, auch diese Klassen und Schichten auf die Seite der Arbeiter:innenklasse zu ziehen, aber dennoch formen diese oft selbstständige Zwischenklassen, da sie durchaus Produktionsmittel besitzen, sich aber selber ausbeuten müssen und Gefahr laufen, zwischen dem Hauptklassenantagonismus zerrieben zu werden. Trotzdem ist die grundsätzliche Generalisierung nicht unproblematisch und verhindert in gewisser Hinsicht auch, ein konkretes Programm aufzustellen. Denn das revolutionäre Subjekt ist weiterhin die Arbeiter:innenklasse, da nur sie das objektive Klasseninteresse hat, den Kapitalismus zu stürzen, um sich von Ausbeutung und Unterdrückung zu befreien, und insbesondere da sie aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess auch die Möglichkeit hat, diese gesellschaftliche Macht als Kollektiv zu entfalten.

Die Ablehnung von Strategie, Taktik und Programm und das Setzen auf spontane Erhebungen, wie Gago es beschreibt, bezieht sich auf die Annahme, das Bewusstsein der feministischen Bewegung würde spontan entstehen können. Es stellt in gewisser Weise eine Übertragung des Ökonomismus auf Frauen- und LGBTIA* -Kämpfe dar. Aber die Geschichte hat schon oft genug bewiesen, wie zum Beispiel beim Arabischen Frühling, dass spontanes Bewusstsein eben nicht einfach so entsteht und auch kein Programm ersetzen kann, wenn der Aufstand oder die Bewegung erfolgreich sein will. Ein loser Zusammenhang ohne Diskussionen und Debatten über konkrete Forderungen, Taktiken und Strategien führt nicht zur anhaltenden Wirkung der Bewegung.

Was wir stattdessen brauchen

Es braucht eine länderübergreifende Organisierung, die als Grundprinzip das internationale, gemeinsame und koordinierte Handeln verfolgt. Hierbei können nicht die Unterschiede zwischen der gemeinsamen Lage im Vordergrund stehen, wie es zum Beispiel Spivak forderte. Diese müssen anerkannt werden und Raum finden, doch angesichts der globalen Krisen und des Rollbacks gegenüber Frauen (sowie LGBTIA*-Personen) und des Rechtsrucks bleibt unbedingt notwendig, sich als ersten Schritt auf gemeinsame Forderungen für den koordinierten globalen Kampf zu einigen. Dafür schlagen wir folgende Eckpunkte vor:

1. Volle rechtliche Gleichstellung und Einbezug in den Produktionsprozess!

Auch wenn es als positiv dargestellt worden ist, dass nun fast überall auf der Welt Frauen wählen dürfen, haben sie vielerorts nicht die gleichen Rechte. Das bedeutet praktisch beispielsweise erschwerte Scheidungsmöglichkeit oder keine politische Teilhabe. Ein Verbot, arbeiten zu gehen oder dies nur von zuhause aus tun zu können, bedeutet vollkommene ökonomische Abhängigkeit von Partner oder Familie. Dort, wo diese Frauen nicht organisiert sind, müssen wir die Gewerkschaften dazu auffordern, sie für unsere Reihen zu gewinnen. Dies ist ein wichtiger Schritt, der deutlich macht, dass auch sie Teil der Arbeiter:innenklasse sind.

2. Gleiche Arbeit, gleicher Lohn!

Während Reaktionär:innen versuchen, den Lohnunterschied damit zu erklären, dass Frauen einfach in weniger gut bezahlten Berufen arbeiten, weil sie angeblich „nicht so hart arbeiten können“ wie Männer, ist für uns klar: Der Unterschied in der Lohnhöhe folgt aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die der Kapitalismus reproduziert. Der Lohn der Frau erscheint bis heute in den meisten Ländern als „Zuverdienst“ zum Mann.

3. Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

Ob durch religiöse Vorschriften, rassistische Hetze oder Abtreibungsgegner:innen: Überall auf der Welt sind Frauen damit konfrontiert, dass man versucht, über ihre Körper zu bestimmen. Deswegen treten wir dafür ein, dass sie selbstständig entscheiden können, was sie anziehen dürfen oder ob sie schwanger werden oder bleiben wollen.

4. Recht auf körperliche Unversehrtheit!

Ob nun sexuelle Grenzüberschreitungen, Vergewaltigungen oder Femizide: Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig!

Dabei ist herauszustellen, dass dies ein internationales Problem verkörpert und nicht auf bestimmte Regionen bzw. Religionen beschränkt ist, wie manche Reaktionär:innen behaupten. Es ist vielmehr eine Frage der gesellschaftlichen Basis und politischen Bedingungen, wo und wie stark religiöse Vorstellungen zur Ideologie rückschrittlicher Bewegungen werden und Einfluss gewinnen.

Essentiell ist es, die Forderung nach Selbstverteidigungskomitees aufzuwerfen, die in Verbindung mit der Arbeiter:innenbewegung und den Unterdrückten stehen. Der Vorteil solcher Strukturen besteht darin, dass Frauen nicht passive Opfer bleiben sollen, sondern man ihnen die Möglichkeit gibt, sich aktiv gegen Unterdrückung zu wehren. Daneben ist die Forderung nach Selbstverteidigungskomitees für Marxist:innen wichtig, weil wir nicht auf Polizei oder Militär als verlässliche Verbündete setzen können. Diese stehen oft vielmehr auf der Seite der Täter oder sind selbst welche. Außerdem schaffen Selbstverteidigungsstrukturen ein Gegengewicht gegen ihr Gewaltmonopol und das des bürgerlichen Staates allgemein.

5. Vergesellschaftung der Hausarbeit!

Dies ist eine wesentliche Forderung, um die Doppelbelastung von Frauen zu beenden und letzten Endes auch einer der Schritte, die die geschlechtliche Arbeitsteilung – und mit ihr die Stereotype – beenden. Grundgedanke ist es, die Arbeit, die wir tagtäglich verrichten, um uns zu reproduzieren (essen, Wäsche waschen, Kindererziehung), nicht länger im stillen Kämmerlein alleine zu absolvieren, sondern sie kollektiv zu organisieren und auf alle Hände zu verteilen. Diese kann dann beispielsweise in großen Wohneinheiten, Kantinen oder Waschküchen erfolgen.

Vom Frauen-/Fem*streik zur proletarischen Frauenbewegung

Diese Frauenbewegung muss multiethnisch und international sein, da die patriarchalen Strukturen und der Kapitalismus ein weltweites System darstellen und es in den vorherrschenden kleinbürgerlich geprägten Feminismen oftmals nur um „die westliche, weiße cis Frau“ geht, wie es zurecht vom transnationalen Feminismus kritisiert wurde. Es ist wichtig, dass eben auch die Belange von Frauen aus halbkolonialen Ländern oder rassistisch Unterdrücken in imperialistischen Staaten ins Zentrum gerückt werden, weil sie unter besonders heftigen Formen der Ausbeutung leiden und, global betrachtet, den größten Teil der proletarischen Frauen ausmachen.

Des Weiteren darf es sich nicht nur um einen losen Zusammenschluss handeln, da dessen Mobilisierungspotential zeitlich ebenso wie in der Schlagkraft begrenzt ist, wenn es sich nur um unkoordinierte lokale bzw. nationale Aktionen handelt. Die Frauenbewegung steht dann letzten Endes vor zwei Aufgaben:

Erstens, sich als globale, organisierte Bewegung um gemeinsame Ziele, verbindliche Aktionen und Kampagnen zu koordinieren. Dazu müssen gemeinsame Bezugspunkte wie die obigen Forderungen gefunden, aber auch gemeinsame Kämpfe verschiedener Strömungen geführt werden bspw. mit der Organisierung und den Streiks in der Pflege, der Umweltbewegung oder der gegen Rassismus. Beispielsweise könnte gerade der gemeinsame Kampf mit Pflegekräften und betroffenen Frauen im Rahmen der Abtreibungsproteste relevant werden. Diese Forderungen müssen in die Bereiche unseres alltäglichen Lebens getragen werden wie Schule, Uni und Arbeit. Hier müssen wir uns dafür einsetzen, dass darüber nicht nur geredet wird, sondern auch konkrete Errungenschaften damit einhergehen. Dafür müssen Aktions- und Streikkomitees aufgebaut werden. Mit diesen alltäglichen Forderungen wie bspw. Recht auf körperliche Selbstbestimmung  ist es revolutionären Frauen möglich, einen gemeinsamen Kampf auch mit Reformist:innen oder kleinbürgerlichen Feminist:innen zu führen. Jedoch darf es nicht nur bei diesen alltäglichen Forderungen bleiben, sie müssen in ein umfangreiches Aktions- und letztendlich in ein revolutionäres Übergangsprogramm eingeschlossen werden, um den Weg zu einer befreiten Gesellschaft aufweisen zu können. Für dieses müssen revolutionäre Frauen kämpfen, ebenso wie sie auch für Solidaritätsstreiks der gesamten Arbeiter:innnenklasse agitieren müssen.

Entscheidend ist demnach, welche Klasse einer solchen Bewegung ihren Stempel aufdrückt. Oben genannte Forderungen können dabei die Grundlage für den Aufbau einer internationalen, proletarischen Frauenbewegung bilden, in der Revolutionär:innen um politische Hegemonie und kommunistische Führung kämpfen.

Eng damit verbunden ist eine zweite Aufgabe, nämlich für eine Internationale zu werben und die Notwendigkeit dieser Organisierungsform aufzuzeigen. Das hängt eng zusammen mit der notwendigen Zerschlagung des imperialistischen Weltsystems. Denn wer keinen Plan dafür hat und davon ausgeht, dass das sowieso dann alles spontan funktioniert, nimmt in Kauf, dass Leute sich nach dem Misserfolg der Bewegung demoralisiert abwenden, was keine Seltenheit ist. Die stalinistische Idee des „Sozialismus in einem Land“ ist im 21. Jahrhundert noch deutlich illusorischer, als sie es im 20. Jahrhundert war, und bereits hier hat der Stalinismus durch Umsetzung dieser Idee schon Millionen von Arbeiter:innen verraten und dafür gesorgt, dass der Marxismus als gescheitert angesehen wird. Gleichzeitig sind aber durch die internationalisierten Produktionsketten und aufgrund der enormen Fortschritte in der Geschwindigkeit des Austausches und der Kommunikation die Bedingungen für internationale Solidarität um einiges einfacher geworden. Antworten auf diese Fragen und, wie die Kämpfe zu gewinnen sind, können wir nur ausreichend beantworten (und vor allem umsetzen), wenn wir an allen Orten der Welt die fortschrittlichsten Arbeiter:innen, Frauen und Jugendlichen organisieren und für die Perspektive des antikapitalistischen Kampfes gewinnen. Außerdem braucht eine Bewegung nicht nur gemeinsame Forderungen, sondern auch eine Führung und klare klassenpolitische Ausrichtung, um erfolgreich zu sein. Wohin lose, wenngleich dynamische Bewegungen führen, können wir an verschiedensten Kämpfen sehen: seien es der Arabische Frühling, Fridays for Future oder auch die Frauen-/Fem*streikbewegung. Die Dominanz bürgerlicher, kleinbürgerlicher oder reformistischer Kräfte hat diese Bewegungen selbst in eine Krise oder gar zum Scheitern geführt.

Revolutionäre Frauen stehen daher nicht „nur“ vor der Aufgabe, in den Frauen-/Fem*streiks und anderen Foren und Kämpfen um eine klassenpolitische Ausrichtung zu ringen. Auch jene Kräfte, die die Notwendigkeit einer internationalen, ja selbst einer proletarischen Frauenbewegung anerkennen, müssen wir zu Konferenzen aufrufen, um zu gemeinsamen Forderungen und international koordinierten Aktionen zu kommen. Dazu müssen wir auch reformistische Organisationen wie Linkspartei, DGB-Gewerkschaften oder selbst die SPD sowie feministische Gruppierungen und Kampagnen adressieren, um so vor allem deren Basis in die Aktion zu ziehen, gemeinsame Kämpfe zu führen und zugleich praktisch die Fehler der reformistischen Führung offenzulegen. So kann nicht nur die aktuelle Schwäche der Frauen-/Fem*streikbewegung überwunden werden.

Die gemeinsame Aktion und der Kampf für eine internationale Frauenbewegung erfordern auch ein internationales Programm und den Kampf für eine neue Arbeiter:inneninternationale. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Frauenunterdrückung selbst untrennbar mit dem kapitalistischen System verbunden ist, also nur durch den Sturz dessen wirklich beseitigt werden kann. Daher ist der Kampf für eine proletarische Frauenbewegung untrennbar mit dem für eine revolutionäre, Fünfte Internationale verbunden.




ITO-LFI-Erklärung

Internationale Trotzkistische Opposition (ITO) und Liga für die Fünfte Internationale (LFI), 8. Februar 2024, Infomail 1244, 8. Februar 2024

Die Internationale Trotzkistische Opposition (ITO) und die Liga für die Fünfte Internationale (LFI) haben über die letzten anderthalb Jahre eine Reihe von Treffen und anderen Begegnungen sowie darüber hinaus Briefwechsel und Dokumentenaustausch geführt.

Am 17. Dezember 2023 hielten die führenden Gremien der ITO und der LFI eine Videokonferenz ab, in der bestätigt wurde, dass sie in vielen programmatischen Positionen und einer Analyse der weltpolitischen Lage im Wesentlichen übereinstimmen.

Wir erkennen beide an, dass die gegenwärtige Periode durch einen sich verschärfenden Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten, den alten imperialistischen Staaten wie den USA und ihren Verbündeten (den westeuropäischen imperialistischen Mächten, Japan, Australien und anderen) auf der einen und den neuen imperialistischen Mächten, China und Russland, auf der anderen Seite gekennzeichnet ist.

Wir sind uns einig, dass alle diese imperialistischen Mächte und aufstrebenden Blöcke bekämpft werden müssen. Die Arbeiter:innenklasse darf keine/n von ihnen unterstützen. In allen imperialistischen Staaten muss sie erkennen, dass die Hauptfeindin in diesem Kampf „im eigenen Land steht“, ihre „eigene“ imperialistische Bourgeoisie.

Gleichzeitig erkennen wir an, dass diese globale Rivalität und dieser Konkurrenzkampf die Notwendigkeit, das Recht auf Selbstbestimmung und die demokratischen Kämpfe unterdrückter Nationen zu verteidigen, nicht in den Hintergrund drängen.

Im Ukrainekrieg müssen wir nicht nur die Kriegstreiberei des russischen Imperialismus zurückweisen, sondern auch die Wirtschaftssanktionen und den neuen Kalten Krieg, der von den USA, Großbritannien, Deutschland und der gesamten EU geführt wird. Allerdings macht der globale imperialistische Konflikt den ukrainischen Kampf gegen die russische imperialistische Invasion nicht reaktionär. Die Arbeiter:innenklasse muss die Ukraine gegen Putins Angriff verteidigen, ohne die reaktionäre Selenskyj-Regierung zu unterstützen, und für die politische Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse von allen bürgerlichen Kräften kämpfen.

Wir stimmen auch darüber überein, dass Revolutionär:innen den palästinensischen Widerstand in Gaza und im Westjordanland gegen den von Israel geführten Krieg mittragen müssen. Es ist die dringende Pflicht aller Revolutionär:innen, die weltweite Bewegung der Solidarität mit Palästina maximal zu fördern und gleichzeitig eine klare revolutionäre antikapitalistische Perspektive für seine Entwicklung aufzuzeigen, indem sie für einen säkularen, demokratischen, sozialistischen Staat in ganz Palästina als Teil einer sozialistischen Föderation im Nahen Osten eintreten.

Wir sind uns einig über die Notwendigkeit der Neugründung einer revolutionären Arbeiter:innen-Internationale und über das Gebot, sofortige praktische Schritte zur Neuformierung zu unternehmen. Dieser Prozess hat dazu geführt, dass beide Seiten zugestimmt haben, in eine Phase der Diskussion einzutreten, die auf eine Fusion auf der Grundlage einer programmatischen Übereinstimmung abzielt.

In zwei wichtigen methodischen Fragen, die mit diesem Prozess zusammenhängen, sind wir jedoch weiterhin unterschiedlicher Meinung.

Punkte der Diskussion

Die ITO und die LFI sind sich einig, dass keine Bewegung, auch nicht die der Gewerkschaften, eine revolutionäre Internationale aufbauen kann, und zwar im Wesentlichen aus den gleichen Gründen, aus denen keine Bewegung, auch nicht die Gewerkschaftsbewegung, eine revolutionäre Partei aufbauen kann. Wie Lenin in „Was  tun?“ erklärt hat, ist Spontaneität nicht genug. Um dieses Ziel zu erreichen, sind ein revolutionäres marxistisches Programm und eine Führung erforderlich.

Wir stimmen zu, dass in einigen Ländern und zu bestimmten Zeiten – wenn es keine Vertretung der Arbeiter:innenklasse im politischen Spektrum gibt, wichtige Gewerkschaftsorganisationen existieren und die revolutionäre Bewegung schwach ist – Revolutionär:innen möglicherweise vorschlagen müssen, dass Massenorganisationen der Arbeiter:innen oder Unterdrückten eine eigene politische Partei gründen. Dieser Vorschlag könnte an die Gewerkschaften in Form einer Arbeiter:innenpartei oder an eine dynamische Massenbewegung eines Sektors der Arbeiter:innenklasse gerichtet werden.

Revolutionär:innen sollten ein antikapitalistisches Übergangsprogramm für eine solche Partei vorschlagen und gleichzeitig erklären, dass die Gründung der Partei einen Schritt nach vorn für die Arbeiter:innenklasse darstellen würde, unabhängig davon, ob ihr Programmvorschlag angenommen wird oder nicht.

Wir stimmen mit Trotzki, Cannon und den amerikanischen Trotzkist:innen von 1938 darin überein, dass diese Partei nicht mit der revolutionären marxistischen Partei oder einer Sektion einer revolutionären Internationale verwechselt werden darf, da diese sich auf aktive Kämpfer:innen stützen müssen, die sich auf der Grundlage des vollständigen marxistischen Programms und der marxistischen Theorie neu gruppieren und entlang demokratisch-zentralistischer Linien organisiert sind.

Die LFI ist allerdings der Auffassung, dass eine solche Arbeiter:innenpartei unter günstigen Umständen als Brücke oder Übergang zu einer vollständig revolutionären Partei dienen könnte, je nachdem, ob es den revolutionären Kräften gelingt, sie für ihr Programm und die leninistische Parteiorganisation zu gewinnen.

Die ITO hingegen sieht diese mögliche Arbeiter:innenpartei als eine Einheitsfrontorganisation wie die Gewerkschaften, deren politischer Ausdruck sie ist. Das Ziel der revolutionären Partei wäre es, zu versuchen, maximalen Einfluss und möglicherweise die Hegemonie in der Arbeiter:innenpartei zu gewinnen, um sie als unterstützendes Instrument im Kampf um die Macht zu nutzen.

Die ITO argumentiert, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass spontane Bewegungen internationale Organisationen gründen, es sei denn, sie werden von Gewerkschaftsbürokrat:innen, reformistischen politischen Parteien und Nichtregierungsorganisationen so stark dominiert, dass die Taktik der Arbeiter:innenparteien nicht mehr angemessen ist.

Die LFI vertritt dagegen die Auffassung, dass Gewerkschafts- und Bewegungsaktivist:innen ein internationales Forum schaffen könnten, das, wenn es nicht wie die Sozialforen des ersten Jahrzehnts des Jahrhunderts von bürokratischen und kleinbürgerlichen Kräften dominiert würde, von Revolutionär:innen mit der Taktik angegangen werden könnte, sie zum Aufbau einer neuen Internationale zu bewegen. Die LFI ist der Ansicht, dass es keinen guten Grund für die Annahme gibt, dass dies prinzipiell weniger fruchtbar ist als die von Trotzki in den späten 1930er Jahren entwickelte „Arbeiter:innenparteitaktik“.

Es könnte damit beginnen, koordinierte gemeinsame Aktionen zur Verteidigung von Arbeiter:innen im Kampf in verschiedenen Ländern und Kontinenten zu organisieren, einschließlich derjenigen, die unter geschlechtsspezifischer, rassistischer oder nationaler Unterdrückung leiden, oder im Widerstand gegen imperialistische Kriege und Interventionen. Aber gleichzeitig wäre es notwendig, unermüdlich für ein vollständig revolutionäres Programm und die Schlüsselelemente des demokratischen Zentralismus zu kämpfen, um dadurch eine revolutionäre Führung und eine Internationale in der Tradition der vorherigen vier zu schaffen.

Die ITO wiederholt auf internationaler Ebene unsere oben beschriebene Analyse der Position von Trotzki und Cannon in den 1930er Jahren, die einfach die Verteidigung der leninistischen Grundsätze zur Notwendigkeit und Rolle der revolutionären Arbeiter:innenpartei in Bezug auf eine komplexe Taktik gegenüber der allgemeinen Arbeiterbewegung darstellt.

Sollte die von der LFI vorgebrachte Hypothese eintreten – was uns (der ITO) äußerst unwahrscheinlich erscheint –, würde die ITO sie nicht als einen Schritt in Richtung der revolutionären Internationale unterstützen, sondern als den Aufbau einer Einheitsfrontorganisation, die auf internationaler Ebene eingesetzt werden soll, wie wir es für eine Arbeiter:innenpartei auf nationaler Ebene angedeutet haben.

Wäre das Forum klassenübergreifend, wie die Weltsozialforumbewegung oder Fridays for Future, wäre die Aufrechterhaltung der politischen Unabhängigkeit und der demokratisch-zentralistischen Disziplin der revolutionären Organisation sowohl in klassenbezogener als auch politischer Hinsicht notwendig.

Der Unterschied hat keine unmittelbaren praktischen Auswirkungen, da der Weltgewerkschaftsbund (WGB) und andere derzeit bestehende internationale Foren von bürokratischen und kleinbürgerlichen Kräften dominiert werden und die LFI nicht vorschlägt, ihnen gegenüber eine Taktik nach Art der Arbeiter:innenparteien anzuwenden. Aber wir müssen die methodologische Meinungsverschiedenheit untersuchen, um zu sehen, ob sie in der Zukunft zu Problemen führen könnte.

ITO und LFI sind sich einig, dass es notwendig ist, sich in einem gemeinsamen Kampf und einer gemeinsame Debatte mit uns nahestehenden revolutionären marxistischen und linksgerichteten zentristischen Organisationen zu engagieren, ihre politischen Positionen zu untersuchen und sich mit ihnen zu vereinigen, wenn wir zu einer prinzipiellen Übereinstimmung kommen.

Wir sind jedoch uneins darüber, wie andere trotzkistische Organisationen zu charakterisieren sind. Die ITO betrachtet die trotzkistischen Organisationen, denen sie den Vorrang gegeben hat, als wirklich revolutionäre Organisationen mit verschiedenen politischen Grenzen und theoretischen oder praktischen Fehlern. Die LFI betrachtet sie als linke Zentrist:innen, die sich hoffentlich nach links bewegen, wie diejenigen, die Lenin in die Dritte und Trotzki in die Vierte Internationale hineingezogen hatten.

Wir sind verschiedener Meinung, ob es ein allgemeines Muster gibt, dass linksgerichtete Aktivist:innen vom Trotzkismus angezogen werden, und daher unsererseits die Notwendigkeit einer allgemeinen Politik der revolutionären Umgruppierung gegenüber konsequent trotzkistischen und linksgerichteten trotzkistisch-zentristischen Kräften besteht.

Die LFI begrüßt zwar alle linksgerichteten nationalen Organisationen oder internationalen Strömungen und wird auf deren Einheit hinarbeiten, glaubt aber nicht, dass eine neue Internationale einfach eine vergrößerte Sammlung von Propagandagruppen sein kann, sondern ein Ziel ist, das in den kämpfenden Massenorganisationen der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten angestrebt und erkämpft werden muss.

Die ITO stimmt zu, dass eine neue Internationale nicht einfach eine vergrößerte Sammlung von Propagandagruppen sein kann, sondern die Masse der Arbeiter:innenavantgarde einbeziehen muss. Das Problem ist, dass die ITO, die LFI und andere revolutionäre marxistische internationale Gruppen noch zu klein sind, um in den Massenorganisationen viel Einfluss zu haben. Wir sind kämpfende Propagandagruppen, greifen in Kämpfe ein, um unsere Orientierung zu entwickeln und zu demonstrieren. Wir sind dabei, die Kräfte neu zu gruppieren, um in einem größeren Rahmen zu intervenieren. Wir befinden uns in der Phase der „Erklärung der Vier“ in der Entwicklung der Vierten Internationale.

Die ITO und das LFI werden Dokumente austauschen und Treffen organisieren, um die beiden ungelösten Fragen zu erörtern. Um eine unbestimmte Verlängerung der gegenwärtigen Diskussionsphase zu vermeiden, werden wir uns maximal achtzehn Monate Zeit lassen, um zu einem Ergebnis zu kommen. Wenn die Schlussfolgerung positiv ausfällt, werden wir eine Vorkongressdiskussion über einen Fusionskongress eröffnen, an der nach Möglichkeit auch andere gleichgesinnte Kräfte teilnehmen.

In der Zwischenzeit werden wir die gegenwärtige Phase unserer Diskussion fortsetzen und vertiefen, und zwar durch einen Meinungsaustausch über aktuelle Ereignisse, durch gemeinsame Erklärungen zu wichtigen Fragen, durch die weitere Prüfung von Dokumenten und durch Treffen, um unseren praktischen Ansatz bei klassenkämpferischen Interventionen kennenzulernen und zu überprüfen, ob wir wirklich so einig sind, wie wir in anderen Fragen zu sein scheinen.




Pakistan-Wahlen: Nieder mit der Scheindemokratie! Vorwärts zu einer Arbeiter:innen-Alternative!

Minerwa Tahir und Shehzad Arshad, Infomail 1244, 6. Februar 2024

Am 8. Februar finden in Pakistan Parlamentswahlen statt. Dies wäre zwar das dritte Mal in Folge, dass die Pakistaner:innen eine zivile Regierung wählen, die nicht von Militärdiktaturen unterbrochen wird. Doch die Grenzen dieser demokratischen Struktur sind unübersehbar. Der zum Politiker gewordene Cricketspieler Imran Khan befindet sich heute in der gleichen Lage wie Nawaz Sharif bei der Wahl 2018. Die beiden scheinen die Plätze in dem Rollenspiel getauscht zu haben, das alle etablierten politischen Parteien abwechselnd vor dem mächtigen Militär des Landes spielen.

Wahlen an einem entscheidenden Punkt

Innenpolitisch ist Pakistan mit einer hohen Inflation und Arbeitslosigkeit konfrontiert, und ein Ende der Abhängigkeit vom Internationalen Währungsfonds (IWF) ist nicht in Sicht. Aufgrund des hohen Zinssatzes haben Unternehmen mit Schließung gedroht. Die Übergangsregierung hat auch die Privatisierung und den Verkauf der nationalen Fluggesellschaft als Teil der IWF-Vereinbarung abgeschlossen, wobei die Pakistanische Muslimliga Nawaz (PML-N) versprochen hat, den Prozess nach ihrer Regierungsübernahme zu beschleunigen.

Die Inflation ist so hoch, dass Menschen Selbstmord begangen oder ihre eigenen Frauen und Kinder getötet haben. Am 31. Januar erhöhte die geschäftsführende Regierung den Benzinpreis um weitere 13,55 Rupien pro Liter für die nächsten vierzehn Tage. Er liegt nun bei 272,89 Rupien pro Liter, verglichen mit 95 Rupien im Jahr 2018. Der Strompreis pro Einheit für Haushalte ist von 12 im Jahr 2018 auf 30 Rupien angestiegen. Die Gaspreise haben sich mehr als verdoppelt. Der US-Dollar war im August 2018 123 Rupien wert. Heute liegt er bei 279 Rupien. In der Zwischenzeit hat die nationale Unterdrückung verschiedene Gemeinschaften dazu veranlasst, gegen das Leid, das ihnen durch das mörderische kapitalistische System zugefügt wird, auf die Straße zu gehen. Belutschische Frauen haben eine massive Kampagne gegen die ihrer Meinung nach staatlichen Entführungen und außergerichtlichen Tötungen von belutschischen Männern und Jugendlichen ins Leben gerufen. In Gilgit-Baltistan eine Massenbewegung gegen die Streichung der Subventionen für Weizenmehl im Gange, während im pakistanisch verwalteten Kaschmir Millionen von Menschen sich weigern, ihre Stromrechnungen zu bezahlen. In Chaman, einer kleinen Stadt an der Grenze zu Afghanistan, protestieren zahlreiche Menschen seit drei Monaten gegen diskriminierende Gesetze, die sich gegen die lokale paschtunische Bevölkerung (Achakzai) richten.

Nach außen hin ist Pakistan von Nachbarn wie Afghanistan, Indien und Iran umgeben, zu denen die Beziehungen von offener Feindseligkeit bis hin zu Verhärtungen reichen. Die jüngsten Eskalationen mit dem Iran sowie die Massenabschiebungen afghanischer Flüchtlinge haben Pakistan ins internationale Rampenlicht gerückt. China, der vermeintliche Freund Pakistans, tritt oft als Vermittler auf, wenn die Spannungen in der Region eskalieren. Es ist auch die imperialistische Macht, deren Einflussbereich auf Pakistan immer größer zu werden scheint, insbesondere durch den China-Pakistan-Wirtschaftskorridor (CPEC). Zugleich setzt sich die Unterordnung Pakistans unter die USA und andere westliche Mächte fort. Neben der Bindung an den IWF zeigt sich diese Unterordnung am deutlichsten in der drastischen Änderung der pakistanischen Haltung gegenüber Palästina. Während Pakistan den Staat Israel nicht anerkennt, hat der geschäftsführende Premierminister offen darüber gesprochen, wie der Frieden im Nahen Osten durch eine Zweistaatenlösung erreicht werden könnte, und ist damit in die Fußstapfen seiner saudischen Geldgeber getreten und hat den Weg für die Anerkennung des zionistischen Gebildes geebnet.

Prekäre Lage

Zudem ist die Sicherheitslage rund um die Wahlen prekär. Am 31. Januar wurde ein der Pakistan Tehreek-e-Insaf-Partei (PTI; Bewegung für Gerechtigkeit, Partei Imran Khans) nahestehender Kandidat bei einer Wahlkampfveranstaltung in der Region Bajaur in Khyber Pakhtunkhwa erschossen. Am selben Tag kam es in Belutschistan zu zwei weiteren Zwischenfällen: Ein Mitglied der Awami-Nationalpartei (ANP) wurde während einer Wahlkampfveranstaltung der Partei in Chaman getötet, während fünf weitere Personen bei einem Granatenangriff auf das Wahlbüro der Pakistan Peoples Party (Pakistanische Volkspartei, PPP) in Quetta verletzt wurden. Am 30. Januar wurden bei einer Bombenexplosion auf einer PTI-Kundgebung im Verwaltungsdistrikt Sibi (Belutschistan) vier Menschen getötet und sechs weitere verletzt. Die Terrororganisation Islamischer Staat bekannte sich zur Verantwortung dafür. Die Aktivitäten der belutschischen Aufständischen und die staatliche Repression gegen sie gehen ebenfalls weiter. Die Belutschische Befreiungsarmee (BLA) soll 15 Menschen getötet haben, während das Militär am 2. Februar erklärte, dass in den vergangenen drei Tagen bei Feuergefechten und Räumungsaktionen in den Städten Mach und Kolpur 24 „Terrorist:innen“ der BLA getötet worden seien. Das Ausmaß der Sicherheitsprobleme in Pakistan lässt sich an der Tatsache ablesen, dass es im Jahr 2023 bei 789 Terroranschlägen und Antiterroroperationen 1.524 gewaltbedingte Todesopfer und 1.463 Verletzte gab, darunter fast 1.000 Todesopfer unter Zivilist:innen und Sicherheitskräften. Trotzdem sollen die Wahlen abgehalten werden.

Die Wahl in Pakistan wird auch internationale Auswirkungen haben. Welche Partei auch immer an die Regierung kommt, wird den künftigen Kurs des Landes in Bezug auf Schlüsselfragen wie die Abhängigkeit des Landes vom imperialistischen Gendarmen IWF, die Neutralität oder deren Fehlen im Russland-Ukraine-Krieg, die Haltung gegenüber den großen Rivalen China und USA, gegenüber dem Iran, insbesondere vor dem Hintergrund des anhaltenden Konflikts im Nahen Osten, und die Anerkennung des Staates Israel bestimmen. Pakistan könnte in dem sich zunehmend verändernden globalen Konflikt eine wichtige Rolle spielen, vor allem jetzt, da es Berichte gibt, dass die Saudis noch vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen ein Militärabkommen mit den USA abschließen könnten, solange die Israelis bereit sind, die Möglichkeit einer Zweistaatenlösung mündlich zu bestätigen. Pakistan ist eines der wenigen Länder, das weiterhin Handelsbeziehungen mit dem Iran unterhält. Eine US-freundliche Regierung in Pakistan könnte unter Druck gesetzt werden, den Iran weiter zu isolieren, um die amerikanisch-saudische Verflechtung in der Region zu stärken. Dies würde auch Auswirkungen auf den chinesischen Einfluss in Pakistan und der Region zeitigen.

Wenig Begeisterung für die Wahlen

Weniger als eine Woche vor dem Wahltag ist die Stimmung in Pakistan alles andere als wahlbewegt. Bei einer Bevölkerung von 270 Millionen werden schätzungsweise 120 Millionen zur Wahl gehen. Doch die Massen scheinen wenig begeistert zu sein. Die Parteien beklagen, dass sie aufgrund steigender Kosten nicht genug Geld haben, um in Wahlkampfaktivitäten zu investieren. Angriffe auf Wahlkundgebungen durch nichtstaatliche Akteur:innen, ein hartes Vorgehen gegen diejenigen, die in Ungnade gefallen sind (Imran Khan und seine Partei), und das mangelnde Vertrauen der ausgebeuteten und unterdrückten Massen in das Wahlsystem haben ebenfalls zu dieser gedämpften Stimmung beigetragen.

Ein großer Teil derjenigen, die Vertrauen in den Staat und seine Wahlpolitik hegen, ist unzufrieden mit der repressiven Behandlung von Khan und seiner Partei. In einem Eilurteil verurteilte ein Antikorruptionsgericht Khan am 31. Januar zu 14 Jahren Haft wegen illegalen Verkaufs von Staatsgeschenken, nur einen Tag, nachdem er in einem anderen Fall zu 10 Jahren Haft verurteilt worden war. Dies ist seine dritte Verurteilung in den letzten Monaten. In den letzten Tagen vor den Wahlen wurden er und seine Frau in einem weiteren Fall wegen „unrechtmäßiger Heirat“ verurteilt. Das Gericht hat entschieden, dass ihre Ehe unislamisch und illegal war, da die Frau die „Iddah“-Frist (Wartezeit) nach der Scheidung von ihrem früheren Ehemann nicht eingehalten und Imran Khan vor Ablauf der vorgeschriebenen Dreimonatsfrist geheiratet hat.

Der ehemalige Cricketstar wurde außerdem für 10 Jahre von der Ausübung öffentlicher Ämter ausgeschlossen. Seiner Partei wurde das Wahlsymbol entzogen, und eine Reihe von Parteiführer:innen wurde ausgeschlossen oder ihre Ernennungsunterlagen wurden abgelehnt. Diejenigen, die noch zu den Wahlen antreten können, müssen als Unabhängige kandidieren. Zwar ist keine dieser Taktiken neu, doch das Ausmaß der Repression ist für „demokratische Wahlen“ beispiellos. Der Zeitpunkt der Verurteilung Khans deutet auch darauf hin, dass die Wähler:innenschaft für seine Partei gestimmt hätte. Inzwischen ist Sharif, ebenfalls ein ehemaliger Premierminister, aus seinem luxuriösen Exil in London zurückgekehrt. Er wurde abgesetzt und abgelehnt, weil er beim militärischen Establishment in Ungnade gefallen war, als Khan deren Unterstützung genoss und an die Regierungsmacht kam. Heute ist Sharif der Favorit für das Amt des nächsten Premierministers, während seine Vorstrafen in den Papierkorb gewandert sind.

Alle etablierten Parteien haben in jedem Wahlzyklus ein ähnliches Schicksal erlitten. Dennoch schaffen sie es nie, sich gegen diese Umgangsmethode zusammenzuschließen. Und warum sollten sie auch? Schließlich liegt es in ihrem Interesse, das System aufrechtzuerhalten, das sich auf ein allmächtiges Militär stützt, das das Sagen hat, während diese nationalen Spitzenpolitiker:innen abwechselnd als ihre Marionetten fungieren. Die Widersprüche des globalen kapitalistischen Systems zwingen sie dazu, sich irgendwann in ihrer Amtszeit gegen ihre Herr:innen in Uniform zu stellen, was dazu führt, dass Ausschlüsse und Entlassungen zur Routine zu werden scheinen. Man lasse sich aber nicht täuschen. Jedes Mal, wenn sich ein pakistanischer nationaler Bourgeois gegen die Streitkräfte stellt, ist dies darauf zurückzuführen, dass sie sich nicht einig sind über die Strategie zur Verteidigung der Interessen eines Teils der pakistanischen Kapitalist:innen. Meistens beruhen diese Spaltungen auf imperialistischen Rivalitäten. Verschiedene Teile des pakistanischen Kapitals sind mit verschiedenen globalen Mächten verbündet. Es geht immer darum, welcher Teil seinen Anteil am Kuchen bekommt, indem er seine Vorherrschaft durchsetzen kann. Doch für welche Seite sich ein:e Premierminister:in auch immer entscheidet, für die ausgebeuteten und unterdrückten Massen hat das wenig bis gar keine Auswirkungen. Die Kapitalfraktionen sind Bollwerke des neoliberalen Kapitalismus und Förder:innen der imperialistischen Enteignung. Das politische Programm einer jeden etablierten Partei basiert praktisch auf Privatisierung, Sparmaßnahmen, Inflation und Personalabbau. Insbesondere die PML-N und PTI sind Parteien des Großkapitals.

Und dann sind da noch die Arbeiter:innenklasse, die Bauern, Bäuerinnen und die Armen des Landes, deren Leben sich unter dem erdrückenden Diktat des IWF, das sowohl die Regime von Nawaz als auch von Khan gerne akzeptiert hatten, nur verschlechtert hat. Diese Schichten haben aus ihren Erfahrungen gelernt, dass die Wahl für sie nichts ändern wird. Das Grundverständnis des Wahlmanifests der PML-N besteht darin, wie man im Interesse des Großkapitals regiert, indem man die Industrie effizient betreibt, die Exporte steigert und die Inflation als Ergebnis dieser wirtschaftlichen Entwicklung senkt. Die PPP von Bilawal Bhutto Zardari hat ein vergleichsweise „besseres“ Manifest vorgelegt, aber Bhutto entlarvte dessen Realität, indem er es als einen Traum bezeichnete. Jede PPP-geführte Regierung hat in der Vergangenheit gezeigt, dass sie die Partei des neoliberalen Kapitalismus ist, die sich in einem leicht sozialdemokratischen Jargon präsentiert.

Was tun?

Die von Belutsch:innen bewohnten Bezirke des Punjab (Pandschab) und die Regionen Belutschistan, Kaschmir, Gilgit-Baltistan und Khyber Pakhtunkhwa haben sich gegen die wirtschaftliche und nationale Unterdrückung erhoben. Vor allem die Frauen der Belutsch:innen haben mit ihrem gefahrvollen Marsch von Turbat nach Islamabad ihr Bewusstsein unter Schichten der pandschabischen Massen verbreitet. Die Aufstände der Unterdrückten haben das Potenzial, den Widerstand in ganz Pakistan zu inspirieren. Alle politischen Parteien Pakistans haben gezeigt, dass sie Söldnerinnen des globalen Kapitalismus sind. Die Politik dieses Systems und die herrschenden Klassen, die die Show leiten, werden zunehmend entlarvt. Alle Herrscher:innen sind entblößt und abgelehnt. Wir sind zwar gegen das harte Vorgehen gegen die PTI, frönen aber gleichzeitig auch keinen Illusionen in diese Partei.

Deshalb brauchen wir eine Alternative aus der Arbeiter:innenklasse. Bei jeder Wahl mobilisiert die Bourgeoisie die plebejischen Massen, aber sie sorgt auch dafür, dass die politische Macht nicht mit ihnen geteilt wird. Auf diese Weise bleiben wir selbst bei sogenannten demokratischen Wahlen entrechtet, weshalb die vom IWF auferlegten Privatisierungen und Sparmaßnahmen unhinterfragt angenommen werden.

Während die Labour Qaumi Movement (LQM) ihre Kandidat:innen aufgrund technischer Probleme und rechtlicher Einschränkungen nicht aufstellen konnte, treten 45 Kandidat:innen anderer linker und fortschrittlicher Organisationen in verschiedenen Regionen zu den Wahlen an. Wir rufen Arbeiter:Innen, Gewerkschaften, Unterdrückte und alle linken, feministischen und fortschrittlichen Kräfte auf, für die Genoss:Innen der Barabri Party Pakistan, Awami Workers‘ Party, Haqooq-e-Khalq Party (HKP; vormals: Haqooq-E-Khalq Movement, HKM), Mazdoor Kisan Party und andere ArbeiterInnen- und fortschrittliche Organisationen zu stimmen, ohne deren im Wesentlichen reformistische Programme zu unterstützen. Gleichzeitig fordern wir diese Kandidat:innen auf, unmittelbar nach den Wahlen die folgenden Vorschläge aufzugreifen.

Wir rufen alle Arbeiter:innenorganisationen und fortschrittlichen Kräfte auf, eine Einheitsfront zu bilden, um sich auf die bevorstehenden Angriffe der nächsten Regierung vorzubereiten und dagegen zu kämpfen, die von der Auferlegung eines arbeiter:innenfeindlichen IWF-Programms und der Fortsetzung der Angriffe auf demokratische Freiheiten bis hin zur Unterdrückung nationaler und religiöser Minderheiten und der Abschiebung und Diskriminierung von Flüchtlingen reichen werden. Wir rufen die Arbeiter:innenorganisationen auf, eine landesweite Arbeiter:innenkonferenz einzuberufen, um den Kampf gegen die nächste kapitalistische Regierung zu koordinieren.

Gleichzeitig betonen wir die Notwendigkeit, dass die Arbeiter:innenklasse über eine eigene Partei verfügt. Wir unterstützen die Schritte der Labour-Qaumi-Bewegung in diese Richtung, und dies muss mit Entschlossenheit fortgesetzt werden. In dieser Hinsicht plädieren wir dafür, dass eine solche Partei eine revolutionäre Partei wird, die sich auf ein Programm der permanenten Revolution stützt, das die Klassenkämpfer:innen in die Lage versetzt, sich den Herausforderungen des Kapitalismus zu stellen, die Kämpfe der Arbeiter:innenschaft und Unterdrückten zu vereinen und für eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung zu kämpfen, die sich auf Arbeiter:innen- und Bäuer:innenräte und eine Arbeiter:innen- und Volksmiliz stützt, die das Großkapital und die imperialistischen Unternehmen enteignet und einen Notfallplan einführt, der den Bedürfnissen der Massen und nicht den Profiten einiger weniger dient.




Neue Konflikte zwischen Kosovo und Serbien

Frederik Haber, Infomail 1243, 24. Januar 2024

In den letzten zwölf Monaten haben sich die Konflikte zwischen Serbien und dem Kosovo mehrfach verschärft, nachdem sich die Lage über viele Jahre hinweg beruhigt zu haben schien. Diese Spannungen entstanden vor allem wegen drei Themen. Die Medien und Politiker im Westen gehen nur selten auf die Einzelheiten ein, sondern ziehen es vor, immer wieder das gleiche Narrativ zu verbreiten: Die Serb:innen wollen nur Ärger machen. Sie können immer noch nicht akzeptieren, dass der Kosovo für sie verloren ist, das Ergebnis der Kriege der 1990er Jahre, der Nato-Intervention und der einseitigen Unabhängigkeitserklärung von 2008. Die Botschaft der Medien lautet, dass hinter all dem Ärger die Russ:innen stecken, die immer bereit sind, einen Krieg anzuzetteln. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die Dinge alles andere als einfach sind und die gegensätzlichen Rechte und Interessen der Kosovar:innen und der serbischen Minderheiten schwer zu lösen sind. Darüber hinaus sind die Ziele und Maßnahmen der EU und der USA in keiner Weise geeignet, dem Balkan Frieden und Fortschritt zu bringen.

November und Dezember 2022: Straßensperren, Nummernschilder und Kommunalwahlen

Letztes Jahr begannen militante Aktivist:innen aus Serbien, drei Grenzübergänge zu blockieren, darunter auch Merdare, einen wichtigen Transitknotenpunkt. Dabei wurden sie offensichtlich von der Regierung in Belgrad unterstützt, denn die serbische Polizei griff in keiner Weise ein. Die Regierung in Pristina schloss daraufhin im Gegenzug die Grenzen.

Hintergrund ist die Tatsache, dass die Bewohner:innen der Städte und Dörfer mit serbischer Bevölkerungsmehrheit noch immer die alten serbischen Nummernschilder verwenden. Der Kosovo hatte dies bisher geduldet. Serbien hingegen hatte die kosovarischen Nummernschilder toleriert, wenn sie durch eine zusätzliche befristete Papplizenz zum Preis von 2 Euro abgedeckt waren.

Am 22. Dezember erklärte der Premierminister des Kosovo, Albin Kurti, dass die serbischen Nummernschilder nicht mehr akzeptiert würden. Serbien reagierte sofort und ließ keine Fahrzeuge mit kosovarischen Kennzeichen mehr über die Grenze. Neben den gegenseitigen Straßensperren wurden die Armeen in Alarmbereitschaft versetzt und die EU und die USA entsandten ihre Diplomat:innen dorthin.

Die EU zwang Kurti zum Rückzug

Bei den Kommunalwahlen in Bezirken mit serbischer Mehrheit, die am 18. Dezember 2022 stattfanden, rief die nationalistische serbische Partei zum Boykott auf, was von den serbischen Wähler:innen weitgehend befolgt wurde. Dies führte dazu, dass Albaner:innen in Städten und Dörfern, in denen sie eine kleine Minderheit darstellen, gewählt wurden. Außerdem traten alle öffentlichen Bediensteten wie Richter:innen und Polizeichef:innen von ihren Ämtern zurück. Die Regierung in Pristina reagierte darauf, indem sie sie durch staatstreue Personen albanischer Abstammung ersetzte. Ein ehemaliger Polizist wurde wegen eines Angriffs auf die Wahlkommission verhaftet.

Im Frühjahr kam es erneut zu Zusammenstößen, doch die schwersten Auseinandersetzungen fanden im September 2023 statt, als rund 30 schwer bewaffnete Kämpfer:innen aus Serbien ein Kloster in der Nähe von Mitrovica besetzten. Die kosovarische Polizei und serbische Truppen schalteten sich ein und 4 Menschen wurden getötet.

All diese Spannungen haben sich entwickelt, während die Verhandlungen zwischen den beiden Ländern unter Kontrolle der EU fortgesetzt wurden.

Abkommen von Ohrid

Bereits im Januar 2023 verpflichteten die EU-Staats- und Regierungschefs Kurti und den serbischen Staatspräsidenten Vucic in dem berühmten Badeort Ohrid im Süden Nordmazedoniens, ein Abkommen zu akzeptieren, das ihre Diplomat:innen bereits ausgearbeitet hatten.

Das „Abkommen über den Weg zur Normalisierung zwischen Kosovo und Serbien“, kurz Ohrid-Abkommen genannt, wurde laut EU (und Wikipedia) von der Europäischen Union „vermittelt“. Vermittlung ist per Definition ein Prozess, in dem ein oder mehrere „Vermittelnde“ versuchen, einen Konflikt zu lösen, indem sie beide Seiten eines Konflikts herausfinden lassen, was für sie am wichtigsten ist, und sie so bereitmachen, die Ziele ihrer Gegner:innen teilweise zu akzeptieren. Vermittelnde sollten natürlich neutral sein und keine eigenen Interessen hegen.

In Ohrid waren weder die EU-Führer:innen neutral noch wollten Kurti und Vucic dieses Abkommen. Obwohl beide versprachen, es am 27. Februar 2023 mündlich zu akzeptieren, wurde das Abkommen bis heute nicht unterzeichnet.

Dahinter steckt ein Manöver beider Seiten. Vucic hat mündlich zugestimmt, aber nie ein Papier unterzeichnet. Kurti sagte und sagt, er würde unterschreiben, um seinen guten Willen gegenüber der EU und den USA zu zeigen, verließ sich aber auf die Weigerung von Vucic, dies zu tun, um es nicht selber tun zu müssen.

Das Abkommen verpflichtet Serbien nicht ausdrücklich, den Kosovo als unabhängigen Staat anzuerkennen, aber es hindert es daran, sich dem Zugang des Kosovo zu internationalen Organisationen wie dem Europarat, der Europäischen Union oder der NATO zu widersetzen. Außerdem muss Serbien die nationalen Symbole, Pässe, Diplome und Kfz-Kennzeichen des Kosovo anerkennen.

Das Kosovo muss ein gewisses Maß an Selbstverwaltung für seine serbischstämmigen Einwohner:innen gewährleisten. Eine solche Gemeinschaft oder Assoziation sollte 2015 offiziell im Rahmen des kosovarischen Rechtsrahmens eingerichtet werden, aber ihre Gründung wurde wegen Konflikten über den Umfang ihrer Befugnisse verschoben. Im Rahmen eines von der Europäischen Union vermittelten Normalisierungsabkommens, das von den Staats- und Regierungschefs des Kosovo und Serbiens im März 2023 angenommen wurde, sollte das Kosovo unverzüglich in einen Dialog mit der EU eintreten, um ein gewisses Maß an Selbstverwaltung für seine serbischstämmige Gemeinschaft zu gewährleisten.

Als die Verhandlungen und Kämpfe weitergingen, waren es die Staats- und Regierungschef:innen der EU selbst, die am 26. Oktober 2023 einen Entwurf für ein Statut zur Bildung eines Verbands der Gemeinden mit serbischer Mehrheit im Kosovo vorlegten, und die Staats- und Regierungschefs des Kosovo und Serbiens erklärten sich bereit, ihre Verpflichtungen umzusetzen. Aber wieder einmal scheiterte es. Noch ist nichts unterschrieben. Die Formulierungen des Textes sind immer noch von keiner Seite veröffentlicht worden.

Grundlegende Konflikte

Die Position Vucics ist klar: Nach internationalem Recht ist die einseitige Abtrennung eines Staatsgebiets illegal und das Kosovo gehört letztlich zu Serbien. Dabei wird Serbien von Spanien und anderen Ländern unterstützt, die befürchten, dass sich Regionen abspalten und für unabhängig erklären könnten, wie Katalonien oder Euskadi (das Baskenland) im Falle Spaniens.

Serbien wird auch von Ländern wie Russland aus geostrategischen Gründen unterstützt. In der Frage des Selbstbestimmungsrechts vertritt Russland im Falle der Krim, die 2014 ein Referendum zur Loslösung von der Ukraine abhielt, oder der Donbass-Republiken genau das Gegenteil. Es erübrigt sich zu sagen, dass die USA, Deutschland und die meisten anderen westlichen Imperialist:innen das Selbstbestimmungsrecht im Falle der Krim oder des Donbass grundsätzlich ablehnen, nicht nur mit der Begründung, dass die Referenden demokratisch waren oder nicht.

Die zweite Frage ist, was eine solche Gemeinschaft von Gemeinden mit serbischer Mehrheit bedeutet. Kosovo befürchtet, dass sie eine fortgesetzte serbische Einmischung in die nationale Politik bedeutet, indem sie die serbischen Minderheiten als ihre Werkzeuge benutzt. Beispiele dafür liegen nicht weit entfernt. In Bosnien und Herzegowina werden der kroatische und serbische Teil der Bevölkerung von nationalistischen Parteien geführt, die direkt von Kroatien und Serbien kontrolliert werden. Aber auch die Aufteilung Bosniens in ethnische Einheiten und die Föderation durch EU und USA im Dayton-Abkommen ermöglicht es diesen imperialistischen Mächten, das Land dauerhaft wie eine Kolonie zu kontrollieren. Generell ist die Taktik der Instrumentalisierung von Minderheiten in vielen Ländern immer wieder angewandt worden.

Lulani i medvegjes, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons

Ein Blick auf die Karte der vorgeschlagenen Assoziation im Kosovo zeigt, dass sie aus dem Norden des Landes besteht, wo die Serb:innen eine starke Mehrheit haben, und einigen unzusammenhängenden Regionen im Süden, wo es keine klare Mehrheit gibt. Die Karte wurde auf Grundlage einer Volkszählung im Jahr 2011 erstellt, die weitgehend boykottiert wurde, sowie Annahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Die einzige halbdemokratische Abstimmung bzw. das einzige Referendum war eine Abstimmung der Goran:innen-Minderheit, einer slawischsprachigen muslimischen Bevölkerungsgruppe, im November 2013, in der der Wille zum Ausdruck gebracht wurde, der vorgeschlagenen Gemeinschaft serbischer Gemeinden beizutreten. Dies war jedoch die einzige Ausnahme von der Regel.

Die andere offene Frage in Bezug auf diese Struktur ist ihr Zweck. Dient sie dem kulturellen Austausch oder soll sie eine offizielle staatliche Struktur sein? Es sind nicht viele Informationen verfügbar, aber die EU plant, dass diese Vereinigung für Bildung, Kultur und Gesundheit zuständig sein soll. Da die kleinste dieser Regionen jedoch weniger als 2.000 Einwohner:innen zählt, bestehen Zweifel an der Realisierbarkeit einer solchen Einrichtung. Sie könnte immer noch zu einem Weg für die Teilung des Kosovo werden.

Das Projekt der EU, das auch von den USA und der NATO unterstützt wird, ist für die Nationalist:innen auf beiden Seiten mehr oder weniger unannehmbar: Für die serbischen Nationalist:innen würde es bedeuten, dass sie die Illusion aufgeben müssten, Kosovo sei eine „Provinz Serbiens“. Für das Kosovo würde es bedeuten, einige Enklaven in seinem Land zu haben, die außerhalb der Gesetzgebung und der Herrschaft der staatlichen Exekutive stehen und jederzeit für Provokationen genutzt werden könnten.

Vucic und Kurti haben den EU-Machthaber:innen gegenüber immer wieder Ja gesagt, aber gehofft, dass der andere Nein sagen wird. Vucic steht in seinem Land unter großem Druck, er kann es sich nicht leisten, die Unterstützung der nationalistischen Rechten zu verlieren. In Belgrad gab es in den letzten Monaten zahlreiche Proteste, und er setzt bewusst auf die nationalistische Agenda, um seinen Posten zu retten.

Deshalb rief Vucic zu Neuwahlen auf, die am 17. Dezember stattfanden. Vucics Partei gewann diese Wahlen und besiegte die liberale Opposition. Es gibt Behauptungen über Unregelmäßigkeiten, aber das Wahlergebnis ist eindeutig. Die Position von Vucic ist jetzt stärker.

Kurti hat die meisten der von ihm versprochenen sozialen Leistungen nicht erbracht, und die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich aufgrund der weltweiten Krisen. Natürlich ist er auch ein erbitterter Nationalist, aber als Teil seines „linken Bonapartismus“ befürwortet er nicht nur die „Unabhängigkeit“ von Serbien, sondern gibt auch vor, von der imperialistischen Vorherrschaft der USA und der EU unabhängig zu sein, und sein Widerwille, sich dem Diktat der EU zu unterwerfen, hat seine Unterstützung im Kosovo erhöht.

Imperialistische Interessen

Der gesamte Prozess macht auch deutlich, wo die Interessen der USA und der EU liegen. Die USA wollen ein Abkommen, das dem Kosovo den Beitritt zur NATO ermöglicht. Sie unterhalten bereits einen großen Militärstützpunkt im Kosovo in der Nähe der Stadt Ferizaj. Der Stützpunkt ist eine Art „Forward Operating Site“, die quer durch den vom US-Geheimdienst so bezeichneten Bogen der Instabilität verläuft und bis zu 7.000 Soldat:innen für direkte Interventionen in der Region aufnehmen kann.

Die EU will keinen Krieg in der Region, aber auch keinen stabilen Frieden. Das jahrhundertealte Konzept der imperialistischen Mächte, die Völker des Balkans in einem Dauerkonflikt zu halten und sie gegeneinander auszuspielen, funktioniert für sie auch heute noch. In der gegenwärtigen Situation konzentrieren sich die EU-Führer:innen ganz auf die Ukraine, Moldawien (Republik Moldau) und den Krieg gegen Russland. Sie wollen sich einfach nicht um den Balkan kümmern und werden das Ergebnis der serbischen Wahl sicher als Ausrede dafür nehmen.

Ein geringeres Interesse besteht darin, die beiden Politiker loszuwerden. Die USA haben Kurti immer gehasst, weil er nicht so einfach zu handhaben war wie seine Vorgänger, und haben bereits einen parlamentarischen Putsch organisiert, um ihn loszuwerden oder zumindest zu zähmen. Die EU würde sich sehr gerne Vucics entledigen. Daher sind beide beteiligten Mächte froh, sie vor ihrem Volk zu demütigen.

Demokratie und Sozialismus

Ein unterdrücktes Volk oder eine nationale Minderheit hat das Recht auf Selbstbestimmung. Dies ist die einzige Garantie gegen Diskriminierung und Unterdrückung. Das gilt für die Albaner:innen im Kosovo, die das Recht hatten, sich von Serbien abzuspalten, genauso wie für die Krim, den Donbass, Katalonien oder Tschetschenien. Die Frage, ob das unterdrückende Land (oder seine Verfassung) dies anerkennt, ist irrelevant. Im Gegenteil: Die Nichtgewährung des Selbstbestimmungsrechts stellt bereits eine Form der Unterdrückung dar. Dieses demokratische Grundrecht muss vor allem von der Arbeiter:innenklasse und der marxistischen Linken verteidigt werden. Sie können sich von den Interessen der nationalen Bourgeoisie in jedem Land oder jeder Nationalität befreien, die letztlich immer versucht, ein gewisses Maß an Kontrolle und Ausbeutung zu etablieren. Alle nach dem Zerfall Jugoslawiens entstandenen Republiken liefern den Beweis dafür, einschließlich der Gründung des Kosovo selbst und der Entwicklung der UCK-Führer:innen von „Freiheitskämpfer:innen“ zu Mafiabossen im Dienste der USA und EU.

Dies zeigt, dass die rein demokratische Forderung nach Selbstbestimmung und dem Recht auf Abspaltung keine endgültige Lösung verkörpert, solange Ausbeutung und Unterdrückung fortbestehen, und dies wird der Fall sein, solange Kapitalismus und Imperialismus die Welt beherrschen. In der gegebenen Situation verteidigen wir das Recht der Mitrovica-Region, sich vom Kosovo abzuspalten, angesichts der Diskriminierung, der Serb:innen und andere Minderheiten heute im Kosovo ausgesetzt sind. Aber weder für die Wirtschaft noch irgendeinen anderen Aspekt der Gesellschaft ist ein solcher Zersplitterungsprozess für sich genommen eine dauerhafte, längerfristige Perspektive. Unter einer bürgerlich-nationalen Führung in Serbien würde sich die nationale Unterdrückung höchstwahrscheinlich wieder gegen die albanische Minderheit richten.

Deshalb müssen Sozialist:innen den Kampf gegen nationale Unterdrückung mit einem Programm für die Zukunft des gesamten Balkans verbinden, das letztlich mit dem Sturz des Kapitalismus und der Ausbeutung verbunden ist. Seit mehr als hundert Jahren wird dies in der Losung einer „Föderation der sozialistischen Balkanstaaten“ ausgedrückt.

Heute müssen Sozialist:innen im Kosovo, in Serbien und im Rest der Welt das Recht der Kosovar:innen verteidigen, ihren eigenen, von Serbien unabhängigen Staat zu gründen, sollten aber gleichzeitig gegen jede Diskriminierung von Serb:innen, Roma/Romnja und anderen Minderheiten in diesem Staat kämpfen. Ebenso sollten sie sich gegen die Diskriminierung von Albaner:innen, Bosnier:innn usw. in Serbien wenden. Es ist besonders notwendig, die Arbeiter:innenklasse für diese Ziele zu gewinnen, denn alle Unterdrückung, Diskriminierung und nationalen Konflikte dienen letztlich der herrschenden Klasse für ihre Ausbeutung und politischen Manöver.

Sozialistische Föderation der Balkanstaaten

Selbst die demokratischsten Forderungen können angesichts der katastrophalen Lage in allen Ländern des Balkans und ihrer totalen wirtschaftlichen Abhängigkeit vom ausländischen, vor allem EU-Kapital, keine positive soziale und wirtschaftliche Perspektive bieten.

Es ist notwendig, dass Sozialist:innen aus allen Balkanländern die nationalistischen Ansichten, die die letzten Jahrzehnte dominiert haben, überwinden und ein Programm für die Region und alle ihre Völker entwickeln, das politische und wirtschaftliche Perspektiven verbindet.

Schlüsselelemente eines solchen Programms müssen sein:

  • Recht auf Selbstbestimmung. Gleiche Rechte für alle Völker, Anerkennung der vollen demokratischen Rechte aller Minderheiten (z. B. Verwendung ihrer Muttersprache in Schulen oder öffentlichen Einrichtungen).

  • Kostenlose und qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung und Bildung für alle, Verstaatlichung aller betroffenen Einrichtungen.

  • Renten, die einen angemessenen Lebensunterhalt ermöglichen. Für ein Programm öffentlicher Arbeiten zur Schaffung von Arbeitsplätzen für alle zu einem von der Arbeiter:innenbewegung festgelegten Lohnsatz, der an die Inflation gekoppelt ist.

  • Um die Produktivität der Landwirtschaft nachhaltig zu steigern, sind Bäuer:innenkooperativen mit staatlicher Unterstützung notwendig.

  • Nein zu jeder imperialistischen Einmischung und Ausplünderung; Streichung der Schulden der Länder.

  • Enteignung des gesamten Großkapitals, ob ausländisch oder einheimisch, um die Infrastruktur zu entwickeln und die Produktion zu planen. Wiederverstaatlichung aller privatisierten Dienstleistungen unter Arbeiter:innenkontrolle, nicht in den Händen von Staatsbürokrat:innen.

  • Für Arbeiter:innenregierungen, die sich auf Räte der werktätigen Massen und eine bewaffnete Miliz stützen. Für eine Sozialistische Föderation auf dem Balkan.

  • Für revolutionäre Parteien der Arbeiter:innenklasse und eine Internationale, die für ein solches Programm der permanenten Revolution kämpft.

Der andauernde Konflikt zwischen dem Kosovo und Serbien und die Unfähigkeit der nationalen Regierungen und der ausländischen Imperialist:innen, eine zufriedenstellende Lösung voranzutreiben, könnte eine gute Gelegenheit für Sozialist:innen bieten, sich mit ihren Vorschlägen auf einer solchen internationalistischen Grundlage Gehör zu verschaffen.




Neujahrserklärung der Chinesischen Revolutionären Sozialist:innen (Trotzkist:innen)

Chinesische Revolutionäre Sozialist:innen (Trotzkist:innen), 30. Dezember 2023, Infomail 1240, 1. Januar 2024

Wir veröffentlichen die folgende Erklärung in Solidarität mit ihren Verfasser:innen und als Beitrag zur Entwicklung revolutionärer Gruppen in China.

Das Jahr 2023 geht zu Ende und die Welt steht vor einer Krise, die möglicherweise tiefer ist als die Finanzkrise von 2008. Der russisch-ukrainische Krieg ist noch nicht beendet. Der Lebensstandard der Arbeiter:innenklasse in den europäischen und amerikanischen Ländern ist von der höchsten Inflation seit Jahrzehnten betroffen. Der palästinensisch-israelische Konflikt droht den gesamten Nahen Osten in einen Krieg zu stürzen, während die ohnehin schon schwachen Volkswirtschaften der meisten Länder der Dritten Welt unter dem Doppelschlag von Pandemien und geopolitischen Rivalitäten am Rande des Bankrotts stehen.

In China verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage, und das parteistaatliche System steuert stetig auf Instabilität zu. Die zwangsläufig ungleiche Entwicklung des Kapitals innerhalb Chinas in Verbindung mit den Verzerrungen der bürokratischen Kontrolle haben nicht nur zu sinkenden Wachstumsraten, sondern auch zu Spaltungen innerhalb der herrschenden bürokratischen Kaste geführt. Zu einem solchen historischen Zeitpunkt ist es nach Ansicht der chinesischen Trotzkist:innen an der Zeit, ihre Ansichten, Grundsätze und Positionen zur chinesischen Revolution öffentlich zu machen, sich von den Programmen der Maoist:innen (Mao-Linken) und der Liberalen abzugrenzen und die Strategie und Taktik für die bevorstehende Massenbewegung zu klären.

Als aufrichtige Marxist:innen-Leninist:innen halten wir diese Wahrheit für selbstverständlich, dass aufeinanderfolgende Produktionsweisen die menschliche Produktivität bis zu dem Punkt gesteigert haben, an dem ihre eigenen sozialen Strukturen eine weitere Entwicklung unmöglich machten. Damit die Produktion ein höheres Niveau erreichen konnte, mussten diese sozialen Strukturen in einer sozialen Revolution umgestürzt werden. Der Kapitalismus, der die Produktivkräfte bis zu einem globalen System der wirtschaftlichen Produktion entwickelt hat, hat nun den Punkt erreicht, an dem seine soziale Struktur die Gesellschaft vor die Alternative Sozialismus oder Barbarei stellt. Das Ziel des Sozialismus ist Freiheit, Gleichheit und die nachhaltige Entwicklung der Menschheit, und um diesem Ziel zu dienen, soll die Arbeiter:innenklasse, die selbst das Produkt des modernen Kapitalismus ist, die bürgerliche Staatsmaschinerie zerschlagen und durch einen Arbeiter:innenstaat ersetzen, um das kapitalistische System zur Erzielung von Profit zu stürzen und es durch eine Planwirtschaft zur Befriedigung der Bedürfnisse zu ersetzen, die den Weg zu einer staatenlosen und klassenlosen kommunistischen Gesellschaft ebnet.

Die Herrschaft von demokratisch rechenschaftspflichtigen Arbeiter:innenräten ist das entscheidende Merkmal eines Arbeiter:innenstaates, der den Weg zum Sozialismus und Kommunismus eröffnen kann. Dieses grundlegende Axiom des Marxismus wurde erstmals aus den Erfahrungen der Pariser Kommune von 1871 formuliert und von den Bolschewiki in der Russischen Revolution von 1917 weiterentwickelt. Es wurde durch die Erfahrungen der Sowjetunion, Chinas und der anderen degenerierten Arbeiter:innenstaaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind und von denen keiner in der Lage war, seine Wirtschaft auf ein höheres Niveau als die fortgeschrittenen imperialistischen Staaten zu entwickeln, auf der negativen Seite bestätigt.

Die Kommunistische Partei Chinas (im Folgenden KPCh) war bei ihrer Gründung 1921 eine echte revolutionäre Arbeiter:innenpartei. Dennoch sah sich die KPCh infolge der falschen Führung durch die stalinistische Dritte Internationale und der historischen Niederlage des chinesischen Proletariats im Jahr 1927 mit ungeheuer harten Bedingungen konfrontiert, als alle städtischen Arbeiter:innenorganisationen und die Vorhut vernichtet wurden. Weit davon entfernt, ihre soziale Basis in der Arbeiter:innenklasse aufrechtzuerhalten, war die KPCh gezwungen, auf dem konservativen und rückständigen Land zu überleben, und rekrutierte ihre Soldat:innen aus der revolutionären Bauern- und Bäuerinnenschaft. Der Klassencharakter der Partei änderte sich allmählich in qualitativer Hinsicht. Als Mao Zedong und die Rote Armee 1936 in Yan’an (Yenan) eintrafen, war die KPCh bereits zu einer konterrevolutionären Partei einer militärisch-bürokratischen Kaste geworden, die bereit war, ihre Macht um jeden Preis zu verteidigen. Hier entstand der Maoismus, der „Stalinismus mit chinesischen Merkmalen“.

1949 kam die KPCh an der Spitze einer Volksfront an die Macht, deren ursprüngliches Programm eine längere Periode der kapitalistischen Entwicklung vorsah. Als sich dies als unmöglich erwies, stürzte die KPCh, die in der Staatsbürokratie verwurzelt war, die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und schuf einen degenerierten Arbeiter:innenstaat. Obwohl die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse durch bürokratische Maßnahmen umgestürzt worden waren, wurde der Fortschritt hin zu qualitativ höheren Produktionsniveaus und sozialer Gleichheit durch die Herrschaft einer bürokratischen Kaste verhindert. Der Übergang zum Sozialismus erforderte daher den Sturz der KPCh durch eine politische Revolution.

Heute, 30 Jahre nach dem Beschluss der KPCh von 1992, den Kapitalismus wiederherzustellen, hat sich der Klassencharakter Chinas von einem kapitalistischen Land zu einem imperialistischen kapitalistischen Land mit globalen Ambitionen entwickelt. Die Aufgabe des chinesischen Proletariats ist daher nicht mehr die politische Revolution, sondern die soziale Revolution – mit anderen Worten, die proletarische Revolution müsste sowohl der Einparteiendiktatur als auch den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen, die vom Parteistaat verteidigt und gefördert werden, ein Ende setzen.

In der Epoche des Imperialismus – dem höchsten und letzten Stadium des Kapitalismus – sind die objektiven Voraussetzungen für eine proletarische Revolution überall auf der Welt reif. Die Geschichte zeigt jedoch immer wieder, dass die subjektiven Bedingungen für eine Revolution ebenso wichtig sind wie die objektiven. Deshalb verkünden wir, die chinesischen Trotzkist:innen, auf der Grundlage der Prinzipien und Erfahrungen des Bundes der Kommunist:innen, der Ersten Internationale, des linken Flügels der Zweiten Internationale, der Dritten Internationale in der Ära Lenins und der Vierten Internationale in der Ära Trotzkis den Bürger:innen in China und der Welt die folgenden 10 Punkte als unsere Haltung:

1. Nieder mit der bürokratischen Diktatur! Abschaffung der „führenden Rolle“ der KPCh.

China ist ein kapitalistisches Land, wir fordern die sofortige Anerkennung aller demokratischen Forderungen, die mit dem Kapitalismus vereinbar sind, wie Vereinigungs-, Rede-, Bewegungsfreiheit, das Recht, unabhängige Gewerkschaften und Parteien zu bilden. Die öffentliche Verwaltung ist notwendig, aber die bürokratische Herrschaft ist es nicht: Alle Parteikomitees und Posten der KPCh in allen Bereichen des Lebens, in der Wirtschaft, in der Politik und im sozialen Bereich müssen aufgelöst werden. Die bürokratische Herrschaft hat die grundlegende Spaltung der Gesellschaft zwischen den Arbeiter:innen und der Kapitalist:innenklasse verschleiert, die die bürokratische Herrschaft unterstützt, solange sie die Kapitalakkumulation garantiert. Kein Vertrauen in die Kapitalist:innen und ihre Verbündeten im Kampf für die Rechte der Arbeiter:innen.

2. Für die Wahl von Betriebsausschüssen, die dann als Grundlage für Arbeiter:innenräte sich aus abwählbaren Delegierten zusammensetzen.

Aufgrund des Charakters des stalinistischen Regimes würde jede unabhängige Organisierung der Arbeiter:innenklasse sofort in Konflikt mit dem Staatsapparat geraten, welches Problem auch immer ihre Mobilisierung auslösen mag. In allen Betrieben und Fabriken sind die demokratisch gewählten betrieblichen Ausschüsse aller Arbeiter:innen die oberste Instanz. Die im Betriebsrat sitzenden Abgeordneten müssen jederzeit von einer Vollversammlung abberufen werden können. Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses, Offenlegung aller Management-Informationssysteme, Bücher und Konten zur Kontrolle durch die Arbeiter:innendeputierten.

Fabrikausschüsse sollen die Arbeiter:innenkontrolle in allen Aspekten der Produktion durchsetzen, einschließlich der Gewährleistung des Streikrechts und des Vetorechts gegen Entscheidungen der Unternehmensleitung – ob es um Löhne, Arbeitsbedingungen oder Entlassungen geht. Gegen die Privatisierung des Bankwesens und der staatlichen Monopolindustrien! Für Arbeiter:innenkontrolle über die People’s Bank of China (Chinesische Zentralbank), die Enteignung aller Geschäftsbanken und ihre Zusammenlegung zu einer einzigen Staatsbank, ein wesentlicher Schritt zur Einführung einer demokratischen Planung, die von einem staatlichen Planungsrat überwacht wird, wie es sowohl Lenin als auch die sowjetische linke Opposition in den frühen 1920er Jahren vorschlugen! Für Arbeiter:innenkontrolle über die staatlichen Industrien, einschließlich, aber nicht beschränkt auf Energie, Wasser, Elektrizität, Telekommunikation, Eisenbahn, Luftfahrt und Mineralien.

3. Außerhalb des Arbeitsplatzes muss das Proletariat unabhängige Gewerkschaften als zentrales Element seiner Klassenorganisation haben.

Entweder durch die Umgestaltung der bestehenden „staatlichen“ Gewerkschaften oder Schaffung neuer Gewerkschaften in der demokratischen Bewegung müssen unabhängige Gewerkschaften ihren Mitgliedern gegenüber rechenschaftspflichtig sein und von ihnen kontrolliert werden. Gewerkschaftsfunktionär:innen müssen von den Gewerkschaftsmitgliedern direkt gewählt und abwählbar sein; die „führende Rolle der Partei“ wird abgeschafft; Gewerkschaftsfunktionär:innen erhalten das Durchschnittsgehalt ihrer Mitglieder.

4. Gegen die Zensurgesetze der KPCh-Bürokratie sollten die Lohnabhängigen selbst entscheiden, was sie veröffentlichen wollen.

Unterstützung der freien Verbreitung aller literarischen und künstlerischen Werke. Öffnung des Zugangs zu Presse, Zeitungen, Radio und Fernsehen für alle Arbeiter:innenorganisationen und unabhängigen Gewerkschaften. Beseitigung der Zensur in den sozialen Medien und Abschaffung der Internetzensur Great Firewall. Die Arbeiter:innen sollen das Recht haben, ohne staatliche Einmischung über jede Art von Gesetzgebung zu diskutieren. Wahl von Richter:innen und Prozessen an Arbeiter:innengerichten.

5. Die Freiheit aller werktätigen Schichten, politische Parteien zu gründen, das Recht jeder Gruppe von Arbeiter:innen und Klein:bäuerinnen, bei jeder Wahl ihre eigenen Kandidat:innen aufzustellen.

Alle Einwohnner:innen haben das Recht, politische Parteien zu gründen, die die demokratischen Rechte respektieren (und damit die Faschist:innen ausschließen). Transparente Wahl der jederzeit abberufbaren Dorfbevollmächtigten. Offenlegung der Buchführung und Konten jedes Dorfes. Vollständige Entschädigung der Opfer von Landbeschlagnahmungen und illegalen Landverkäufen. Wahl ländlicher Räte, die von einer bäuerlichen Miliz bewacht werden und die über die Nutzung der kollektiven Landressourcen, das Verkehrswesen, den Betrieb öffentlicher Einrichtungen und den Umweltschutz entscheiden werden. Widerstand gegen die Privatisierung von Grund und Boden in den Städten und auf dem Land. Forderung nach kostenlosen Krediten für Landwirt:innen zum Kauf von Maschinen und Düngemitteln sowie nach Anreizen für einzelne Bewirtschafter:innen, sich Genossenschaften sowie Versorgungs- und Vermarktungsgemeinschaften anzuschließen. Kontrolle großer kapitalisierter Unternehmen durch die Beschäftigten, die sich seit der Privatisierung der Kolchosen und Produktionsgenossenschaften im Zuge der Reform von Deng Xiaoping entwickelt haben. Aufbau moderner staatlicher Großbetriebe als Modell für die freiwillige Umstellung der individuellen/familiären Landwirtschaft. Massive Investitionen zur Verbesserung der kostenlosen Gesundheitsversorgung, des Verkehrswesens und der kulturellen Dienstleistungen in ländlichen Gebieten. Bereitstellung von kostenlosem öffentlichem Wohnraum für Landlose. Schrittweise Beseitigung des Stadt-Land-Gefälles durch die „Kombination von Land- und Industriearbeit“. Abschaffung des Systems der „Landfinanzierung“ und entschädigungslose Verstaatlichung des Immobiliensektors. Bereitstellung von angemessenem und kostenlosem öffentlichem Wohnraum für Familien mit geringem Einkommen.

6. Im Zuge der Revolution werden die Polizei, die bewaffnete Polizei und die nationale Sicherheitsbehörde aufgelöst und durch ein Komitee für öffentliche Sicherheit nach dem Vorbild der Tscheka in der frühen Sowjetära ersetzt.

Wie die Erfahrungen des Arabischen Frühlings zeigen, werden Revolutionen in autoritären Ländern mit demokratischen Forderungen beginnen, können aber nur dann erfolgreich sein, wenn sie über das demokratische Stadium hinausgehen, die Soldat:innen von ihrem Oberkommando lösen und Teile von ihnen für die Revolution gewinnen. Das Massaker von Tian’anmen hat auch gezeigt, dass selbst bei einer Spaltung innerhalb der Bürokratie, wenn die dominierende Fraktion noch immer die Streitkräfte kontrolliert, diese zur Abwehr von Volksaufständen eingesetzt werden. In dieser Hinsicht besteht der Kern des revolutionären Programms daher darin, die Versammlungs-, Organisations- und Meinungsfreiheit der Soldat:innen zu unterstützen und ihre eigenen Befehlshaber:innen in Soldat:innenausschüsse zu wählen, die dann zum Soldat:innenrat werden.

Alle Arbeiter:innen erhalten eine militärische Ausbildung, bewaffnen sich und organisieren sich in betriebseigenen Milizen als Hüter:innen von Arbeiter:innenräten. Aufhebung des Gesetzes über die nationale Sicherheit in Hongkong. Sofortige Einführung des allgemeinen Wahlrechts. Einberufung verfassunggebender Versammlungen sowohl auf Provinz- als auch auf nationaler Ebene. Die Bestimmungen des Grundgesetzes über die Beziehungen zwischen der Region Hongkong und den Zentralbehörden werden der verfassunggebenden Nationalversammlung zur Überprüfung oder Änderung vorgelegt. Abschaffung der Todesstrafe. Für die bedingungslose Freilassung aller politischen Gefangenen.

7. Für die Rätedemokratie.

Um die bürokratische Diktatur zu stürzen, muss die Arbeiter:innenklasse ihre eigenen Mittel zur Ausübung der Staatsgewalt schaffen. Die unabhängigen Organisationen, die im Kampf gegen die Bürokratie entstanden sind, die Fabrikkomitees, müssen zu Arbeiter:innenräten (Sowjets) zusammengefasst werden. Die Sowjets werden die Arbeiter:innenklasse und ihre Verbündeten aus der armen Landbevölkerung organisieren, um einen Massenaufstand gegen den bürgerlichen Staat durchzuführen. Der Arbeiter:innenrat hat sowohl exekutive als auch legislative Funktionen. Der Arbeiter:innenrat und der Soldat:innenrat werden zusammengelegt, um die Sowjetregierung (Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung) als Form der proletarischen Diktatur zu bilden. Die Sowjetregierung setzt ein Preisüberwachungskomitee ein, das die Qualität und die Preise von Konsumgütern überwacht und die gleitende Skala der Löhne sicherstellt. Schaffung einer landesweiten Arbeitslosengewerkschaft, um den Arbeitslosen eine Berufsausbildung zu ermöglichen und die vorhandenen Arbeitsplätze anteilig auf die gesamte Erwerbsbevölkerung aufzuteilen.

8. Nieder mit jeder Art von sozialer Unterdrückung.

Ein typisches Merkmal der stalinistischen Regime ist, dass die Frauenbewegung und die Bewegung zur Befreiung der Homosexuellen tagtäglich von der Bürokratie unterdrückt und sogar verfolgt werden. In der Sowjetunion bedeutete die politische Konterrevolution der 1920er Jahre nicht nur die Errichtung einer bürokratischen Diktatur über Wirtschaft und Politik, sondern auch die Rückgängigmachung der nach 1917 eingeführten Reformen zur Bekämpfung der sozialen Unterdrückung. Der enorme Beitrag der Oktoberrevolution zur Befreiung der Homosexuellen und Frauen ist seit langem völlig zunichtegemacht worden. Reaktionäre Gesetze und Moralvorstellungen wurden wieder eingeführt. Überall in China verstärkte die stalinistische Bürokratie das bürgerliche Familienkonzept und diktierte weiterhin die Größe der Familie nach den unmittelbaren wirtschaftlichen Bedürfnissen. Die Restauration des Kapitalismus und die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen seit den 1990er Jahren haben die Unterdrückung der Frauen erheblich verschärft, und die chinesischen Frauen sind gezwungen, die dreifache Last von Arbeit, Haushalt und Kindererziehung zu tragen. Gleichzeitig wird die Jugend in Schulen und Klassenzimmern mit dem „Sozialismus mit chinesischen Merkmalen in der neuen Ära von Xi Jinping“ indoktriniert, und sie wird nicht nur durch eine reaktionäre patriotische Moral getäuscht, sondern auch ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung beraubt. In diesem Zusammenhang sollten wir die folgenden Forderungen aufstellen:

  • Sozialisierung der Hausarbeit und Einrichtung von 24-Stunden-Kinderkrippen. Verbot der geschlechtsspezifischen Diskriminierung bei Einstellungen und Zulassungen. Kampf für eine unabhängige proletarische Frauenliga. Umfangreiche Investitionen und Ausbau von Frauenhäusern, Waisenhäusern, öffentlichen Kantinen und Wäschereien, kostenlosen Kliniken usw.

  • Aufhebung aller aufgezwungenen Familienpläne. Abschaffung der „Bedenkzeit für die Scheidung“ und vollständige Freigabe des Scheidungsrechts. Härtere Strafen für Unzucht mit Kindern, Frauen- und Kinderhandel und Vergewaltigung.

  • Gleichstellung von LGBTIAQ-Personen. Gegen Belästigung und Gewalt aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Ausrichtung.

  • Unterstützung der demokratischen Kontrolle von Schulen und Bildungssystemen durch Schüler:innen, Eltern, Lehrer:innen und Psycholog:innen. Erhöhung der Investitionen in die Bildung durch Erlass aller Studiengebühren, Honorare und Kosten für Unterkunft und Verpflegung von der Grundschule bis zur Universität, unabhängig von der Nationalität. Jugendverbände werden von keiner politischen Partei reguliert und üben die Kontrolle über ihre eigenen Kultur-, Verlags- und Verbreitungsorgane aus.

  • Abschaffung der Zensur, die der Jugend den Zugang zum bestehenden kulturellen Erbe der Welt verwehrt. Dies wird nur ihren Intellekt und ihren Kampfgeist schwächen und sie zum Opfer reaktionärer Ideen machen.

  • Abschaffung der Diskriminierung junger Menschen in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit für Auszubildende, Zeitarbeiter:innen und Festangestellte.

9. Das Recht der unterdrückten Völker auf Selbstbestimmung ist ein absolutes und unbedingtes demokratisches Recht, das die Stalin-Maoist:innen jedoch ständig leugneten.

Trotz des föderalen Charakters Sowjetrusslands seit seiner Gründung behielt der Stalinismus, wie auch bezüglich anderer Aspekte der politischen Praxis der bolschewistischen Partei, die Form bei und beraubte sie ihres revolutionären Inhalts. In der Sowjetunion und in allen degenerierten Arbeiterstaaten, die folgten, waren weder der föderale Charakter (UdSSR und Jugoslawien) noch der Einheitsstaat (China) unter dem Deckmantel der „autonomen Regionen“ eine freiwillige Föderation der Völker, sondern ein gemeinsames Gefängnis für alle Völker.

Der Marxismus vertritt die Auffassung, dass die Nation ein neuzeitliches politisches Konzept ist, das aus der Bildung eines gemeinsamen Marktes im Prozess der kapitalistischen Entwicklung unter Berücksichtigung einer Reihe von Faktoren wie Geographie, Sprache, religiöse Überzeugungen usw. hervorgegangen ist. Daher bildet das Territorium Chinas während der dynastischen Periode ungeachtet seiner Grenzstreitigkeiten und historischen Veränderungen keine Quelle der Legitimität für den Anspruch auf „souveräne Integrität“. Im 19. und 20. Jahrhundert, in dieser kritischen Phase der nationalen Formierung in der kapitalistischen Entwicklung, haben Xinjiang (Sinkiang), Tibet und Taiwan entweder ihre Unabhängigkeit erklärt oder sich für lange Zeit von China abgespalten und sollten unter den Bedingungen der nationalen Formierung das Recht auf Selbstbestimmung genießen.

Nachdem die KPCh 1949 an die Macht gekommen war, marschierte die Volksbefreiungsarmee in Xinjiang und Tibet ein und beraubte die beiden ethnischen Gruppen ihres Selbstbestimmungsrechts. Seit den 1990er Jahren erlebten die Gebiete der ethnischen Minderheiten aufgrund der sozialen Konterrevolution, die durch die Restauration des Kapitalismus ausgelöst wurde, den Aufstieg religiöser Ideologien und Nationalismen. Wie die sozialen Gegenrevolutionen, die in anderen Bereichen des nationalen Lebens stattfanden, führte die Wiederherstellung des Kapitalismus einerseits zu separatistischen Gefühlen und andererseits zu eskalierenden Konflikten zwischen der von der KPCh unterstützten Han-Bevölkerung und den ethnischen Minderheiten. In den letzten Jahren ist Xinjiang zum typischsten Fall geworden.

Die proletarische Revolution muss zunächst das Selbstbestimmungsrecht der indigenen Bevölkerung in Xinjiang und Tibet anerkennen, was das Recht auf Abspaltung durch ein Referendum einschließt. Vor allem, welche Form der Selbstbestimmung das sein könnte und ob sie dieses Recht ausüben wollen, hängt vom Willen der Indigenen ab. Dies ist nicht nur prinzipiell richtig, sondern auch in der Praxis die einzige Möglichkeit, die Spannungen zwischen der Han-Mehrheit und ethnischen Minderheiten aufgrund staatlicher Unterdrückung abzubauen. Daher ist die nationale Selbstbestimmung der einzige Weg, um die Unterstützung des Proletariats der nationalen Minderheiten für die chinesische Revolution zu gewinnen.

In der Zwischenzeit müssen alle Sozialist:innen, ob Han-Chines:innen oder ethnische Minderheiten, die Bildung einer sozialistischen Föderation Asiens fordern, der die Mitgliedsstaaten freiwillig beitreten und wieder austreten können, und dass Han-Chines:innen, die sich im Rahmen des staatlichen Kolonialprogramms in Xinjiang und Tibet niedergelassen haben, das Recht haben zu wählen, ob sie bleiben und sich gemeinsam mit den ethnischen Minderheiten entwickeln oder in ihre Heimat im chinesischen Stammland zurückkehren wollen, unabhängig von der Zukunft von Xinjiang und Tibet.

Die Forderungen der Sozialist:innen lauten:

  • Auflösung des Produktions- und Baukorps von Xinjiang.

  • Abzug der in Tibet stationierten Truppen.

  • Freilassung aller Uigur:innen und Abschaffung der „Umerziehungslager“.

  • Für Religionsfreiheit, Freiheit der einheimischen Sprachen und Kultur.

  • Für das Recht auf nationale Selbstbestimmung.

  • Lang lebe eine Föderation der asiatischen Arbeiter:innenstaaten!

10. Eine Rückkehr zum proletarischen Internationalismus von Lenin und Trotzki.

Westliche Sozialist:innen haben die Auflösung der NATO, der Weltbank und des IWF gefordert, während chinesische Sozialist:innen die Auflösung der Asiatischen Infrastrukturinvestitionsbank (AIIB), den Erlass aller Schulden der Entwicklungsländer, die Abschaffung der Gürtel- und Straßeninitiative (Neue Seidenstraße) und die kostenlose Schenkung von Infrastrukturprojekten in Afrika und Südostasien an die lokale Bevölkerung fordern. In Ländern, die zu Halbkolonien des chinesischen Imperialismus geworden sind (z. B. Pakistan), sollten alle Truppen von den Militärbasen in Übersee abgezogen, alle ungleichen Privilegien abgeschafft und ein Plan zur Kompensation der durch die Verlagerung von Produktionskapazitäten verursachten Umweltschäden angekündigt werden. Anerkennung der Souveränität eines Arbeiter:innenstaates bei der Festlegung der Kontrolle und Entwicklung der chinesischen Unternehmen in Übersee. Abschaffung der Geheimdiplomatie. Offenlegung aller mit dem Ausland abgeschlossenen Geheimverträge. Verurteilung des vom russischen Imperialismus geführten Krieges in der Ukraine. Hände weg von Taiwan. Aufhebung aller Sanktionen oder Gegensanktionen. Ablehnung aller Militärausgaben des Parteienstaates. Verurteilung des israelischen Siedlerkolonialismus und Unterstützung eines einheitlichen, säkularen und sozialistischen Staats in Palästina. Stopp der offiziellen Fremdenfeindlichkeitspropaganda und der militärischen Aufrüstung mit nuklearen oder konventionellen Waffen. Volle und gleiche Rechte für ausländische Einwohner:innen. Abgabe der revolutionären Erklärung an die Regierungen aller Länder und Aufruf zur Weltrevolution.

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Am Vorabend der Amerikanischen Revolution im Jahr 1776 schrieb Thomas Paine: „Die Sache Amerikas ist in hohem Maße die Sache der gesamten Menschheit. Viele Umstände sind eingetreten und werden eintreten, die nicht lokal, sondern universell sind und durch die die Prinzipien aller Menschenfreund:innen betroffen werden und an deren Zustandekommen ihre Zuneigung interessiert ist.“ Heute ist die Sache des chinesischen Proletariats in erster Linie auch die Sache der gesamten Menschheit, weil der internationale Charakter einer proletarischen Revolution natürlich die Grenzen des bürgerlichen Nationalstaates überwindet und die chinesische Revolution ein Glied in der Weltrevolution und im Übergang zu einer sozialistischen Weltföderation sein wird. Obwohl die chinesische Bourgeoisie derzeit ihre eigenen Gründe hat, sich dem Parteistaat zu widersetzen, und die Republik China als Banner für eine „demokratische Revolution“ benutzen kann, kann die chinesische Revolution eine echte Revolution sein, wenn und nur wenn sie in einer Machtergreifung durch das Proletariat endet.

Trotzki hat bei der Erläuterung des philosophischen Denkens von Marx und Engels einmal darauf hingewiesen: „Die Menschheit hat die dunklen spontanen Kräfte aus der Sphäre der Produktion und der Ideologie vertrieben und die barbarischen Konventionen durch Wissenschaft und Technik ersetzt. Die Ersetzung der Religion durch die Wissenschaft, die zur Renaissance und Reformation des 15. und 16. Jahrhunderts führte, war das Streben nach intellektueller Rationalität; und dann vertrieb die Menschheit das Unbewusste aus der Politik und stürzte die Monarchie und die Hierarchie durch ein demokratisches, rein rationalistisches parlamentarisches System und dann ein völlig transparentes Sowjetsystem. Es war das Streben nach politischer Rationalität, das mit den bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts begann und in der Oktoberrevolution kulminierte; und schließlich schlugen die blinden, spontanen Kräfte die tiefsten Wurzeln in den wirtschaftlichen Verhältnissen – aber dort trieb die Menschheit diese mit der sozialistischen Wirtschaftsorganisation aus, was alles ermöglichte, die wirtschaftliche Rationalität zu erreichen.“

Das Besondere an China ist, dass es ein Land ist, in dem keine der drei Rationalitäten – ideologisch, politisch, wirtschaftlich – verwirklicht wurde, und daher muss die Mission der proletarischen Revolution die Kombination aller drei sein.

Folglich müssen alle Revolutionär:innen, die die oben genannten Forderungen unterstützen, zunächst in einer einzigen Partei organisiert werden. Eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei muss demokratischen Zentralismus praktizieren – „ein Mitglied – eine Stimme“ für ihre Mitglieder und volle Freiheit in der Diskussion, wobei die Minderheit der Mehrheit gehorchen muss, Demokratie in der Entscheidungsfindung und absolute Disziplin in der Durchführung von Aktionen. Wie Lenin betonte, muss eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei als Vorhut der Arbeiter:innenklasse den Organisationsgrad, die Moral und das Bewusstsein des Proletariats durch jeden einzelnen Kampf anheben, bis sie in der Lage ist, die gesamte Klasse durch einen Aufstand zum Sturz des bürgerlichen Staates zu führen und eine Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung einzusetzen. Jede Arbeiter:innenpartei darf daher ihre Regierung nur durch die Erringung der Mehrheit der Sitze im Arbeiter:innen- und Soldat:innenrat bilden und niemals den Parteiapparat selbst als Regierungsmacht betrachten. Um die revolutionären Bewegungen jenseits der Grenzen zu fördern, zu koordinieren und zu vereinigen, rufen wir schließlich zu einer neuen Revolutionären Internationale auf, die auf dem demokratischen Zentralismus basiert, als Weltpartei für die sozialistische Revolution.

Obwohl wir derzeit eine winzige Minderheit innerhalb des chinesischen Proletariats von insgesamt 400 Millionen sind, obwohl wir der Feindschaft der zweitgrößten imperialistischen Macht und eines völlig totalitären KPCh-Staates gegenüberstehen, glauben wir, dass das chinesische Proletariat in seiner gerechten Macht den absoluten Sieg davontragen wird. Am Vorabend des Neujahrs 2024 bitten wir die kämpferischen Arbeiter:innen zu Hause und in der ganzen Welt, unseren Forderungen Gehör zu schenken und unseren Aktionen zu folgen.

  • Arbeiter :innen und Unterdrückte aller Länder, vereinigt euch!

  • Lang lebe die chinesische Revolution!

  • Lang lebe die Weltrevolution!



Entstehung, Programm, Praxis – zum Charakter der Linkspartei

Martin Suchanek, Neue Internationale 279, Dezember 2023 / Januar 2024

Die Gründung der Partei DIE LINKE 2007 geht auf die Fusion von „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG) und der „Partei des demokratischen Sozialismus“ (PDS) zurück. Sie bildete eine Antwort auf die Agenda 2010, auf die sozialdemokratische Dominanz und den Verrat der SPD an der Arbeiter:innenklasse, der auch im Verhältnis zwischen dieser und Lohnarbeiter:innen eine nachhaltige Zäsur bedeutete.

Das Positive daran war sicherlich eine Erschütterung des SPD-Monopols auch in den Gewerkschaften, die – anders als bei den Grünen in den 1980er Jahren – nicht zur Bildung einer „radikalen“ kleinbürgerlichen, später offen bürgerlichen Alternative zur SPD führte, sondern zur Entstehung einer zweiten reformistischen Partei.

Mit Gründung der Linkspartei ist eine zweite, im Grunde linkssozialdemokratische Partei entstanden. Andererseits war DIE LINKE selbst nie mehr als eine Partei zur Reform und Bändigung des Kapitalismus – und wollte auch nicht mehr sein.

Entstehung

Das verdeutlichte bereits ihre Entstehung. Die PDS war trotz ihres parlamentarischen Überlebens eine schrumpfende Partei, die nur in den neuen Bundesländern und Berlin über einen Massenanhang verfügte. Die Mitgliedschaft betrug 1990 noch 285.000 Mitglieder, 1991 172.579 und im Jahr 2006, also vor Fusion mit der WASG, 60.338.

Die ehemalige PDS-Mitgliedschaft wies bei der Fusion einige Besonderheiten in der Sozialstruktur auf, die davon herrühren, dass sie aus der Partei der ehemals herrschenden Bürokratie der DDR hervorging und die dort politisch absolut dominierende gewesen war.

Mehr als 60 Prozent der PDS-Mitglieder waren 2006 älter als 65 Jahre, also Rentner:innen. Die jüngeren sind es jedoch, die im Apparat der Partei, in den Stiftungen, Landtagen, Kommunen usw. als Funktionär:innen tätig sind. Zweitens lag der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an der Parteimitgliedschaft in der PDS mit 37 Prozent deutlich unter jenem der SPD (57 Prozent). Drittens verfügten 54 % der PDS-Mitglieder über einen Hochschulabschluss gegenüber 33 Prozent bei der SPD, während umgekehrt nur 30 % die Schule mit einem  Hauptschulabschluss oder ohne Schulabschluss absolviert hatten – ein extrem geringer Prozentsatz für eine Massenpartei, die sich sozial auf das Proletariat stützt, 2006 auch extrem gering gegenüber 40 Prozent bei der SPD und 50 Prozent in der Gesamtbevölkerung.

Die PDS war zwar auch immer eine reformistische, bürgerliche Arbeiter:innenpartei. Aber anders als die SPD stützte sich ihre organische Verankerung kaum auf die Gewerkschaften. Diese wurde vielmehr über den Einfluss in anderen Massenorganisationen wie der Volkssolidarität, Mieter:innenvereinigungen, lokalen Verbänden sowie eine historisch gewachsene Verbindung zu den akademisch gebildeten Schichten der ostdeutschen Lohnabhängigen gebildet. Dazu kam ein Massenanhang auch unter sozial schlechter gestellten Teilen der Arbeiter:innenklasse, insbesondere auch Arbeitslosen im Osten.

Das wirkliche neue politische Phänomen bei der Fusion stellte die WASG dar. Diese war ein Resultat der Massenproteste und Mobilisierungen gegen die Angriffe der rot-grünen Regierung – Agenda 2010 und Hartz-Gesetze – und der damit verbundenen Krise der SPD.

Auch beim Blick auf die WASG ist jede nachträgliche Idealisierung fehl am Platz. Schon der Name „Wahlalternative“ war instruktiv dafür, worin die Praxis der zukünftigen Partei bestehen sollte. Zweitens war die WASG von Beginn an von einem „traditionalistischen“ Flügel der reformistischen Gewerkschaftsbürokratie, ihren akademischen Wasserträger:innen und ehemaligen SPD-Funktionär:innen um Lafontaine dominiert und geführt.

Für diese, die WASG von Beginn an prägende und dominierende Strömung war immer auch klar, wie eine zukünftige neue Partei der „sozialen Gerechtigkeit“ aussehen müsste. Sie sollte eine Wahlpartei sein, die im Zusammenspiel mit den Gewerkschaften und deren Führungen sowie anderen, vom Reformismus dominierten sozialen Bewegungen (z. B. attac, Friedensbewegung) v. a. an der Wahlurne einen „Politikwechsel“ erzwingt, eine Partei, deren Ziel die Verteidigung oder Wiedererrichtung des „Sozialstaates“ war.

Die WASG litt jedoch an einem inneren Widerspruch, der die reformistische Führung umtrieb und beunruhigte und zugleich das klassenkämpferische Potenzial der neuen Partei zum Ausdruck brachte. Die WASG zog nämlich als Mitglieder nur wenige Bürokrat:innen an, sondern vor allem Arbeitslose und Aktive aus den sozialen Bewegungen. Sie war eine Partei der Hartz-IV-Bezieher:innen; von Arbeitslosen, die damals mit 345 (West) bzw. 331 (Ost) Euro plus Wohngeld über die Runden kommen mussten. In vielen Städten machten diese die Hälfte der Mitgliedschaft oder mehr aus.

Auch wenn diese Schicht der Mitgliedschaft viele der Illusionen in den „Sozialstaat“, den Parlamentarismus und die Möglichkeit einer „Reformpolitik“ teilte, so wollte sie eine aktive Partei bilden, die für die Belange der Arbeitslosen und anderer Unterdrückter und Ausgebeuteter kämpft.

Die WASG war zwar von Beginn an eine bürgerliche Arbeiter:innenpartei. Doch die vorherrschende Bürokrat:innenclique verfügte noch nicht über einen starken, verlässlichen Apparat. Noch hatte sich in ihr kein stabiles Verhältnis zwischen Führung und Basis herausgebildet, das in langjährig etablierten reformistischen Parteien fast automatisch die Gefolgschaft der, meist passiven, Mitglieder sicherstellt. Die WASG hingegen war eine reformistische Partei mit einer außergewöhnlich aktiven Mitgliedschaft, was aus ihrer Verbindung zur Arbeitslosenbewegung herrührt.

Für die PDS und heute DIE LINKE oder die SPD war und ist es normal, dass die überwältigende Mehrheit der Mitglieder außer der Beitragszahlung nichts oder wenig tut, zu keinen Versammlungen erscheint oder, wo sie es tut, dort mehr oder weniger passiv agiert und die Vorgaben von oben abnickt. Das stärkt die Führung und das ist im Grunde auch so gewollt. Die aktiven Mitglieder reformistischer Parteien sind in der Regel die Funktionär:innen der Partei bzw. Funktionsträger:innen des bürgerlichen Staates oder korporatistischer Gremien wie Betriebsräten, von Sozialverbänden oder ähnlichem. Und genau diesen „Normalzustand“ einer bürgerlichen Partei – und eine solche, wenn auch besondere Form ist auch eine bürgerliche Arbeiter:innenpartei – wollten die Spitzen von WASG und PDS mit der Fusion zur Linkspartei bewusst herbeiführen.

Das haben sie mit der Fusion mit der PDS auch geschafft. Von den 12.000 WASG-Mitgliedern machte nur etwas mehr als die Hälfte die Fusion mit. Viele widersetzten sich der bürokratischen Fusion und der Regierungspolitik der PDS, die vor allem in Berlin katastrophal war. Den Höhepunkt erlebte diese Rebellion der Bewegungsbasis in der Kandidatur der Berliner WASG gegen die PDS 2006, wo die PDS 9,2 % der Stimmen verlor und auf 13,4 % absackte. Die Berliner WASG konnte einen Achtungserfolg mit 3,8 % der Erststimmen und 2,9 % der Zweitstimmen (40.504) verbuchen.

Dieser Erfolg der WASG und die Formierung des Netzwerks Linke Opposition (NLO) brachten das Potential eines Bruchs und einer weiteren Radikalisierung zum Ausdruck, der jedoch auch daran scheiterte, dass ein Teil der Linken, die den Wahltritt in Berlin unterstützt hatten, vor dieser Perspektive zurückschreckte und, allen voran die SAV, in den Schoß der Linkspartei zurückkehrte. Neben linken Fusionsgegner:innern blieben v. a. die Arbeitslosen, die unteren Schichten der Arbeiter:innenklasse, der neuen Partei fern.

Die Entstehung 2007 verdeutlicht auch das reale Verhältnis der Partei zu sozialen Bewegungen. Diese sind solange willkommen, als sie der Partei Mitglieder und Wähler:innen zutragen – nicht jedoch als eigenständiger Faktor, der der Spitze gefährlich werden und die Partei real zu einem Instrument von Klassenbewegungen von unten machen könnte.

Außerdem konnte DIE LINKE diese Verluste durch ein scheinbar stetes Wachstum und Wahlerfolge von 2007 – 2010 leicht kompensieren. Abgesehen von Bayern überwand sie in diesem Zeitraum bei allen westdeutschen Landtagswahlen die 5 %-Hürde. Auch im Osten fuhr DIE LINKE Rekordergebnisse ein, so 2009 in Thüringen (27,4 %) und Brandenburg (27,2 %). Bei den Bundestagswahlen 2009 brachte sie es auf 11,5 % (gegenüber 8,7 % 2005) und 76 Abgeordnete.

Bei ihrer Gründung 2007 hatte DIE LINKE insgesamt 71.711 Mitglieder in 16 Landesverbänden. In den Folgejahren stieg die Zahl auf 75.968 (2008) und 78.046 (2009). 2010 schrumpfte die Mitgliedschaft jedoch um fast 5.000 auf 73.658. Seither ist die Mitgliederzahl der Partei, wenn auch mit einzelnen Ausnahmen, stetig rückläufig. 2023 beträgt sie nur noch 55.000.

Programm und Strategie

Dem reformistischen Charakter der Partei entsprachen von Beginn an ihre programmatischen, strategischen Vorstellungen.

Das Programm der Partei DIE LINKE (Programmatische Eckpunkte, angenommen 24./25. März 2007) trug von Beginn an die Handschrift des keynesianischen, auf die Gewerkschaftsbürokratie und die Arbeiter:innenaristokratie orientierten Mehrheitsflügels der Partei. Als strategisches Ziel der Partei verortet es einen „Politikwechsel“, gestützt auf das Erringen einer „antineoliberalen gesellschaftlichen Hegemonie“.

DIE LINKE bekennt sich in den programmatischen Eckpunkten ihres Gründungsparteitages 2007 ausdrücklich zum freien Unternehmer:innentum. Dort heißt es: „Gewinnorientiertes unternehmerisches Handeln ist wichtig für Innovation und betriebswirtschaftliche Leistungsfähigkeit.“ (S. 3) Der Staat habe nur dafür zu sorgen, dass dieses im kreativen Überschwang nicht über die Stränge schlage und gegen das Gemeinwohl verstoße.

Dahinter steht die alte reformistische Mär, dass der Gegensatz von Kapital und Arbeit im Rahmen der kapitalistischen Verhältnisse durch die Intervention von Staat und Politik, wenn schon nicht überwunden, so erfolgreich abgemildert werden könne – was wiederum impliziert, dass „der Staat“ kein Instrument zur Sicherung zur Herrschaft der Bourgeoisie wäre, sondern über dem Klassengegensatz stünde.

Dabei ist den Strateg:innen der LINKEN durchaus klar, dass eine einfach Mehrheit im Parlament, ein Parteienbündnis von LINKEN und SPD (und evtl. den Grünen) nicht ausreicht, um die Sabotage jeder fortschrittlichen Maßnahme durch die herrschende Klasse, die Manipulation der öffentlichen Meinung durch die monopolisierten bürgerlichen Medien usw. abzuwehren.

Marx, Lenin und alle anderen revolutionären Marxist:innen haben daraus und aus der Aufarbeitung der Klassenkämpfe und Revolutionen seit Beginn der bürgerlichen Epoche den Schluss gezogen, dass das Proletariat – will es sich befreien, will es dem kapitalistischen Ausbeutungssystem ein Ende setzen – den bürgerlichen Staat nicht einfach übernehmen, nicht auf eine „Regulierung“ des Kapitalmonopols an den Produktionsmitteln hoffen darf, sondern die herrschende Klasse enteignen, den bürgerlichen Staatsapparat zerschlagen und durch die Herrschaft der in Räten organisierten bewaffneten Arbeiter:innenklasse ersetzten muss.

DIE LINKE schlägt hier einen ganz anderen, wenn auch nicht gerade originellen Weg vor. Eine „Reformregierung“ müsse sich auf die „gesellschaftliche Hegemonie“ stützen – sprich darauf, dass auch die „weitsichtigen“ und „sozialen“ Teile der herrschenden Klasse für eine Politik des Klassenausgleichs gewonnen werden müssen.

Eine solche Politik bedeutet notwendigerweise eine Unterordnung der LINKEN unter einen Flügel der herrschenden Klasse, eine Garantie für das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Es bedeutet notwendig eine staatstragende Politik der „Opposition“.

Der Partei schwebt eine Marktwirtschaft ohne große Monopole und Konzerne vor, ein Sozialismus auf Basis von Warenproduktion und pluralen Eigentumsverhältnissen.

DIE LINKE erkennt zwar die Existenz von Klassen und auch des Klassenkampfes an – aber nicht dessen Zuspitzung. Der Kampf für Sozialismus oder eine andere Gesellschaft durch die Linkspartei ist für die Alltagspraxis allerdings weitgehend fiktiv, eine Worthülse. Das drückt sich auch im Sozialismusbegriff aus. Dieser wird nicht als bestimmte Produktionsweise, sondern vor allem als Wertegemeinschaft verstanden. So heißt es im Grundsatzprogramm von 2011:

„Wir wollen eine Gesellschaft des demokratischen Sozialismus aufbauen, in der die wechselseitige Anerkennung der Freiheit und Gleichheit jeder und jedes Einzelnen zur Bedingung der solidarischen Entwicklung aller wird.“

Dieser Anklang an Marx ist allerdings auch schon alles, was mit dessen Vorstellung von Sozialismus/Kommunismus und dem Weg dahin zu tun hat. Anstatt einer Revolution als Vorbedingung zur Entwicklung gen Kommunismus sieht der Programmentwurf einen „längere(n) emanzipatorische(n) Prozess (vor), in dem die Vorherrschaft des Kapitals durch demokratische, soziale und ökologische Kräfte überwunden wird und die Gesellschaft des demokratischen Sozialismus entsteht.“ Der Boden des bürgerlich-demokratischen Systems ist ihr als politisches Terrain heilig, die sozialistische Revolution lehnt sie ab.

Das bedeutet aber auch, dass sie die Maßnahmen zur Verwirklichung ihrer Ziele und Version dieses Sozialismus durch Regierungsbeteiligungen herbeiführen muss. Wo die Linkspartei an der Regierung ist, gestaltet sie die bestehenden Verhältnisse mehr oder minder sozial mit. Dabei akzeptiert sie die Institutionen des bürgerlichen Systems als unüberschreitbaren Rahmen linker Politik, der allenfalls durch einzelne Reformen zu erweitern wäre.

Das entscheidende Problem dieser Konzeption liegt im Verständnis von Klassenkampf und Staat. Der bürgerliche Staat wird als Mittel zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse begriffen, als Terrain des Klassenkampfes, nicht als Staat des Kapitals, als Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie.

Der Unterschied zum Marxismus besteht dabei nicht darin, dass der Kampf um Reformen und für demokratische Rechte abzulehnen wäre. Er besteht auch nicht darin, dass nicht auch Kämpfe auf staatlichem Terrain ausgetragen werden können und müssen, sondern in der Annahme, dass diese den Klassencharakter des bürgerlichen Staats aufheben könnten. Die Transformationsstrategie begreift ihn als ein ein zu reformierendes Instrument gesellschaftlicher Veränderung hin zum Sozialismus.

Das findet sich auch im noch heute gültigen Grundsatzprogramm von 2011, dem angeblich linken „Erfurter Programm“ wieder:

„DIE LINKE kämpft in einem großen transformatorischen Prozess gesellschaftlicher Umgestaltung für den demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Dieser Prozess wird von vielen kleinen und großen Reformschritten, von Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe gekennzeichnet sein.“

Auch wenn hier nebulös von Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe gesprochen wird, so bleibt folgendes Kernproblem: Die Transformationsstrategie löst die Dialektik von Reform und Revolution so auf, dass die Revolution als eine in die Breite gezogene, bloß tiefer gehende, grundlegendere und langwierige Reform verstanden wird. Die Revolution bildet dann im Grunde nur eine Fortsetzung ewiger Reform- und Transformationsbemühungen.

Kommunistische Politik betrachtet die Frage gerade umgekehrt. Die Revolution stellt einen Bruch dar, ein qualitativ neues Moment, eine grundlegende Veränderung der Machtverhältnisse. So wichtig einzelne Reformen auch sein mögen, so zeichnet sich eine revolutionäre Veränderung durch die Machteroberung einer bisher ausgebeuteten Arbeiter:innenklasse aus. Dabei ist aber nicht die Transformation des bürgerlichen Staates kennzeichnend, sondern vielmehr umgekehrt das Zerbrechen oder Zerschlagen dieses Apparates. Die Herrschaftsinstrumente des Kapitals werden ersetzt durch qualitativ neue vorübergehende Formen politischer Herrschaft, die Räteherrschaft der Arbeiter:innenklasse, also die Diktatur des Proletariats anstelle der des Kapitals.

Vor diesem Hintergrund wird auch die Begrenztheit einer in der Linkspartei gern geführten Debatte zwischen linkem und rechtem Flügel ersichtlich, zwischen kommunaler/parlamentarischer Regierungsarbeit und Bewegungslinker/Parteiapparat. Die gesamte Transformationsstrategie verspricht zwar eine Verbindung dieser, stößt aber unwillkürlich selbst auf das Problem, dass eine bürgerliche Regierung auch mit der Linkspartei eine solche bleibt. D. h., die Partei muss dann notwendigerweise an der Regierung gegen die Interesse der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten handeln und jene der herrschenden Klasse vertreten – oder sie müsste mit ihrem gesamten Konzept brechen. Die Transformationsstrategie, die in der realen Regierungspraxis ohnedies keine Rolle spielt, erfüllt im realen Leben im Grunde nur die Aufgabe einer Rechtfertigungsideologie für die bestehende Praxis.

Wohin das Konzept der Linkspartei führt, zeigt sich an den Regierungen selbst, wenn sie teilweise aktiv in Bewegungen ist. Auch dort nimmt es eine zwiespältige Haltung an, z. B. in der Wohnungspolitik Berlins. Dort wird DWE unterstützt, aber die rot-roten Regierungen hatten mehr Wohnungen privatisiert als jede andere. Wo DIE LINKE regiert, erfüllt sie auch alle repressiven Aufgaben des Staates – z. B. regelmäßige Abschiebungen von Geflüchteten auch in Berlin oder Thüringen etc. Über diese Leichen im Keller spricht die Linkspartei nicht gerne. Dabei bilden sie das notwendige Resultat ihrer Realpolitik.

Selbst wo die Partei noch längst nicht Regierungsfunktionen ausübt, präsentiert sie sich allzu oft als staatstragend. So z. B. der Spitzenkandidat Bartsch, als er an einer Solidaritätskundgebung mit Israel während der Bombardierung von Gaza teilnahm.

Diese alles andere als sozialistischen Politiken sind keine Warzen im demokratisch-sozialistischen Gesicht der Linkspartei, sondern notwendige Folgen ihrer politischen Konzeption. Sie liegen in der Logik einer Partei, die den Kapitalismus nicht überwinden, die Herrschaft der Bourgeoisie nicht brechen, den bürgerlichen Staat nicht zerschlagen, sondern mit verwalten und transformieren will.

Programmatische Methode

Dies erfordert jedoch nicht nur eine Ablehnung, sondern auch eine Kritik der Methode des Programms. Allgemein fällt bei diesem auf, dass es zwar viele Forderungen inkludiert, aber vollkommen unklar ist, welchen Stellenwert sie für die Praxis und Strategie der Partei haben. Dieses Manko ist jedoch durchaus typisch für reformistische Organisationen. Schließlich will die Parteiführung nicht gern an den eigenen Versprechen gemessen werden. Sie will freie Hand haben und sich nicht mit Forderungen ihrer Mitglieder und Anhänger:innen konfrontiert sehen, welche die Erfüllung der Versprechen einfordern und Rechenschaft verlangen könnten.

Insgesamt offenbart der Entwurf ein Programmverständnis, das methodisch im Reformismus und Stalinismus wurzelt. Es ist vom Programmtyp her ein Minimal-Maximal-Programm, d. h. der Sozialismus als „historisches Endziel“ steht – trotz der scheinbaren Verbindung durch einen  längeren „transformatorischen Prozess“ – unverbunden neben (oft durchaus richtigen) Alltagsforderungen. Die Kämpfe um höhere Löhne, gegen Sozialabbau, Hartz IV, Krieg, Aufrüstung usw. sind aber nicht mit dem Ringen um den Sozialismus verwoben. Der Sozialismus ist als Losung im Grunde hier nichts anderes als das Amen in der Sonntagspredigt.

Anstelle eines Minimal-Maximal-Programms bräuchte es ein Programm von Übergangsforderungen. Ein solches müsste soziale, gewerkschaftliche und demokratische Kämpfe gegen Krise, Krieg und Rassismus mit der Perspektive der Machtergreifung der Arbeiter:innenklasse verbinden. Diese käme allerdings nicht etwa dadurch zustande, dass Forderungen wie „Gegen Entlassungen! Für Verstaatlichung!“ usw. einfach mit der Losung „Für Sozialismus!“ ergänzt werden. Dazu wäre es nötig, dass die Selbstorganisation der Klasse gefördert wird, dass sie sich eigene Machtpositionen und -organe im Betrieb, im Stadtteil und letztlich in der Gesellschaft erkämpft. Solche Forderungen sind z. B. jene nach Arbeiter:innenkontrolle über Produktion, Verteilung, Verstaatlichung, Sicherheitsstandards usw. Es sind Forderungen nach Streikkomitees, die von der Basis direkt gewählt und ihr verantwortlich sind; zur Schaffung von Streikposten, Selbstverteidigungsorganen, Preiskontrollkomitees usw. bis hin zu Räten, Arbeiter:innenmilizen und einer Arbeiter:innenregierung, die sich auf die Mobilisierungen und Kampforgane der Klasse stützt.

Diese – und nur diese – Übergangsmethodik würde programmatisch das repräsentieren, was Marx über den Sozialismus sagte: dass er die „wirkliche Bewegung“ ist und nicht etwa nur eine „Vision“ oder „Utopie“, wie es DIE LINKE gern formuliert. Diese Elemente fehlen in deren Programm völlig.

Dieser sicher nicht nur für diese Partei typische Mangel bedeutet konkret, dass die Arbeiter:innenklasse in ihrem Kampf über das, was sie als Führungen und Strukturen vorfindet, nie bewusst und gezielt hinauskommt. Es bedeutet, dass das Proletariat letztlich den reformistischen Parteien, Gewerkschaftsapparaten, Betriebsräten, dem Parlamentarismus oder, noch schlimmer, den spontan vorherrschenden bürgerlichen Ideologien dieser Gesellschaft ausgeliefert bleibt.

Das Fehlen von Übergangsforderungen bedeutet, dass die Klasse sich in ihrem Kampf bürgerlichen Strukturen und Ideen unterordnet. Gemäß der LINKEN soll also die gesellschaftliche Dynamik zur Überwindung des Kapitalismus in den Bahnen der alten Gesellschaft, also zu den Bedingungen der Bourgeoisie erfolgen. Daran ändern auch ein paar Volksentscheide oder ein bisschen mehr „Mitbestimmung“ nichts.

Methodisch wurzelt all das letztlich in einer undialektischen Sichtweise von Geschichte und Klassenkampf. Das Prinzip des Minimal-Maximal-Programmes entspricht der Vorstellung von gesonderten, nicht miteinander verbundenen Etappen der Revolution bzw. des historischen Prozesses allgemein. Wie im Stalinismus, der die Revolution auf die demokratische Phase beschränkte, geht es auch der LINKEN um begrenzte Reformen. Dass selbst diese objektiv oft eine Dynamik Richtung Sozialismus annehmen, selbst die Umsetzung grundlegender bürgerlich-demokratischer Aufgaben im imperialistischen Zeitalter nur durch das Proletariat und unter dessen Führung errungen und durch den Sturz der Bourgeoisie gesichert werden kann, bleibt der LINKEN ein Buch mit sieben Siegeln.

Das marxistische Programmverständnis hingegen geht vom aktuellen Stand des internationalen Klassenkampfes aus und unterbreitet Vorschläge, wie dieser – also Aktion, Bewusstsein und Organisierung – vorangebracht werden kann. Das impliziert auch, konkret zu benennen, welche Kampfformen, Konzepte, Organisationen und Führungen den Kampf behindern, schwächen oder falsch orientieren und wie die Klasse den Einfluss dieser Faktoren überwinden kann.

Das Programm der Linkspartei entspricht deren reformistischem Charakter. Es entspricht den politischen Zielen der zentralen Teile des Apparates und des Funktionärskörpers, der sie dominiert, entspricht der tagtäglichen realen parlamentarischen Praxis, ob nun als Regierung oder Opposition, und auch den gelegentlichen Ausflügen und Interventionen in Bewegungen und linke Gewerkschaftsmilieus, als deren Vertretung sich DIE LINKE betätigt. Das alles sollte niemanden überraschen, zumal die Spitzen der Linkspartei aus ihrem Reformismus auch nie ein Geheimnis gemacht haben.

Umso erstaunlicher und beschämender ist jedoch, dass große Teil der Linken in der Linkspartei jahrelang diese Tatsachen schönredeten. So verkannten sie die Annahme des Erfurter Programm 2011 als „Erfolg“ der Linken in der Partei, weil es den Regierungssozialist:innen angeblich „rote Haltelinien“ bei der Regierungsbeteiligung auferlegt hätte. Christine Buchholz (damals marx21, heute Sozialismus von unten) und Sahra Wagenknecht freuten sich damals noch gemeinsam über das Programm. Gegenüber der Jungen Welt erklärte Buchholz: „Die Art und Weise, wie die Debatte gelaufen ist, stimmt mich da sehr zuversichtlich: Wir haben am Wochenende eine konstruktive Diskussion gehabt, nach der es weder Sieger noch Besiegte gibt. Ich persönlich bedaure z. B., dass unsere ‚Haltelinien‘ geschwächt sind, andere kritisieren andere Punkte – aber die Richtung stimmt.“

Wer solche „Siege“ erringt, braucht keine Niederlagen. Auch die AKL gab sich damals „insgesamt zufrieden“. Am kritischsten äußerte sich noch die SAV. Sie bemängelte zwar „Aufweichungen“ des Programms, lobte aber dessen grundsätzlich richtige „antikapitalistische Stoßrichtung“.

Stagnation, Krisen und Niedergang

Nach den Wahlerfolgen der Anfangsjahre trat freilich Ernüchterung ein, die sich in stagnierenden und fallenden Mitgliederzahlen und Wahlniederlagen widerspiegelte, in Flügelkämpfen und seit 2022 in einer existenziellen Krise.

Dabei formierten sich auch die politischen Flügel teilweise neu. Lange Zeit bildeten die ostdeutschen Realos den sog. Hufeisenflügel mit den angeblichen linken Wagenknecht-Anhänger:innen. Demgegenüber formierte sich die sog. Bewegungslinke, die ihrerseits ein strategisches Bündnis mit den Regierungssozialist:innen gegen Wagenknecht einging – natürlich alles zum Wohl der Partei und ihres Überlebens. Doch dürfen bei diesem allgemeinen Niedergang wichtige Veränderungen der Parteizusammensetzung und Wähler:innenbasis nicht übersehen werden.

Rund 60 % ihrer Mitglieder sind erst nach 2011 eingetreten, die ehemaligen PDS-Genoss:innen sind längst zu einer kleinen Gruppierung geworden. 15 % der Mitglieder sind unter 35. Dies ist mehr als bei jeder anderen Bundestagspartei und stellt auch einen Zuwachs seit Parteigründung dar. Zugleich stellen die Altersgruppen der 50- – 64-Jährigen und der 65- – 79-Jährigen je 27 % der Mitglieder. Die Linkspartei ist vergleichsweise schwach unter der Altersgruppe von 36 – 49 vertreten.

Die Linkspartei hat wichtige Schichten und die Bindekraft zu Arbeitslosen, ärmeren Teilen der Klasse und auch des Kleinbürger:innentums im Osten an die AfD verloren. Dies ist zweifellos Resultat von Regierungspolitik und Anpassung, aber auch eines Rechtsrucks und einer Demoralisierung von Teilen der Lohnabhängigen selbst.

DIE LINKE hat massiv Mitglieder, Verankerung und Wähler:innen in der Fläche im Osten verloren. Ihre, wenn auch oft geschwächte Mitglieder- und Wähler:innenbasis kommt aus Großstädten sowie Städten und Ortschaften zwischen 5.000 und 20.000 Einwohner:innen. In Kleinstädten und auf dem Dorf ist sie wenig bis gar nicht vorhanden. Zugleich hat sie im Westen eine stärkere Verankerung in der Arbeiter:innenklasse und der Jugend (und somit über längere Zeit auch bei jüngeren Lohnabhängigen) gewonnen. So entspricht der Anteil von „Arbeiter:innen“ unter den Berufstätigen 17 %, der von Angestellten 67 % (darunter 35 % im öffentlichen Dienst). Gleichzeitig dominiert noch immer ein überdurchschnittlich hoher Schulabschluss und Bildungsniveau unter den Mitgliedern, während der Anteil von Arbeitslosen und Auszubildenden geringer als in anderen Parteien ist. Das drückt sich auch in veränderten Größen der Landesverbände und einem stärkeren Gewicht im Westen aus.

Diese Verschiebungen verweisen auch darauf, dass die Linkspartei in den Gewerkschaften und Betrieben, also in der organisierten Arbeiter:innenklasse stärker geworden ist, und zwar deutlich mehr, als dies bei Wahlen zum Ausdruck kommt. Von den Mitgliedern her stützt sich die Partei vor allem auf die mittleren und bessergestellten urbanen Schichten der Lohnabhängigen. Sie verfügt also über eine für eine reformistische Partei eher typische stärkere Verankerung in der Arbeiter:innenaristokratie als unter der Masse des Proletariats.

Die betrieblichen und unteren gewerkschaftlichen Funktionsträger:innen betreiben zwar nicht einfach dieselbe Politik wie der sozialdemokratisch dominierte Apparat, aber sie fordern diesen nicht heraus, zumal ihre reformistische Politik natürlich auch im Rahmen tarifvertraglicher und sozialpartnerschaftlicher Regulierung bleibt. Die Linkspartei betreibt z. B. eine aktive Politik, ihre jüngeren AnhängerInnen aus den Unis in den Gewerkschaftsapparat zu schicken (z. B. über Organizing- und Trainee-Programme) und so ihre Verankerung zu stärken. Auch die Konferenz zur gewerkschaftlichen Erneuerung, die DIE LINKE zuletzt im Mai 2023 in Bochum mit 1.550 Teilnehmer:innen organisierte, belegt einen gewachsene Verankerung im Gewerkschaftsapparat und unter betrieblichen Funktionär:innen.

Sie hat in den letzten Jahren an Verankerung in sozialen Bewegungen gewonnen, wenn auch nicht ohne Rückschläge und eher indirekt, also über die Zusammenarbeit, informelle Bündnisse mit Teilen der radikalen Linken (IL, Antifa) und Migrant:innenorganisationen (einige kurdische Vereine, Teile von Migrantifa). Der Beitritt von etlichen hundert Menschen aus dem „linksradikalen“ Milieu im November 2023 belegt diesen Trend.

Grundsätzlich kann aber gesagt werden, dass in den letzten 4 – 5 Jahren die Zuwächse im Westen die Verluste im Osten nicht mehr ausgleichen. Die Partei stagniert oder verliert fast überall. Das bildet letztlich auch den Boden für die innere Krise einer parlamentarisch fixierten reformistischen Partei, die um ihr Überleben als solche kämpft.

Dominanz der Funktionär:innenschicht

Über der sozialen Basis und den Mitgliedern und Wähler:innen erhebt sich ein Funktionär:innenapparat, der die Partei führt und prägt. Die Tätigkeit der aktiven Mitglieder ist wesentlich auf Vertretung in kommunalen, regionalen Strukturen, Ländern, Bund vertreten. DIE LINKE verfügt über 6.500 kommunale und sonstige Abgeordnete, über 200 Parlamentarier:innen und hauptberufliche Mitarbeiter:innen. Allein die Zahl der Kommunalpolitiker:innen, darunter hunderte Bürgermeister:innen, beläuft sich auf über 5.000 und diese sind vor allem im Osten tätig.

Der Stiftung der Partei beschäftigt natürlich auch vom Staat gesponsorte hauptamtliche Funktionär:innen – und diese bald in jedem Bundesland. Hinzu kommt noch ein Parteiapparat im Bund und allen Ländern. Wenn man all dies addiert, so kommt die LINKE auf mehrere hundert, wenn nicht tausend hauptamtliche Funktionär:innen, die Einkommen direkt aus dem Parteiapparat oder staatlichen Vertretungsorganen beziehen. Andere erhalten bloß Aufwandsentschädigungen. Hier sind noch gar nicht jene Abteilungen der Arbeiter:innenbürokratie in der LINKEN mitgezählt, die ihre Einkünfte aus anderen Quellen – dem Gewerkschaftsapparat oder als freigestellte Betriebsräte – beziehen.

All diese machen einen selbst für eine bürgerliche Partei untypisch hohen Anteil der Funktionär:innen an der aktiven Mitgliedschaft aus – von Funktionär:innen, die fest in die Tagesgeschäfte des bürgerlichen Systems eingebunden sind, und zwar nicht nur oder nicht einmal in erste Linie in Landesregierungen, sondern vor allem auf der kommunalen Ebene, wo die parteiübergreifende Zusammenarbeit noch viel pragmatischer geregelt wird, wo Klassenzusammenarbeit tägliches Brot darstellt und somit auch eine feste Basis für den Reformismus auf „höheren“ Ebenen abgibt. Diese Funktionär:innen machen insgesamt über 10 % der Mitgliedschaft aus. Ziehen wir in Betracht, dass die Mehrheit der Mitglieder passiv ist, am regelmäßigen Parteigeschehen nicht teilnimmt, so dominiert diese Schicht im Grunde alle größeren Strömungen der Partei. Der Unterschied besteht dann eher darin, mit welchen Milieus (Kommunalpolitik, gewerkschaftliches Organizing, soziale Bewegungen und NGO-artige Kampagnen) sie verbunden sind.

Selbst wo die Partei noch längst nicht Regierungsfunktionen ausübt, präsentiert sie sich allzu oft staatstragend. So z. B. bei der Solidaritätskundgebung mit Israel im Bundestag.

Taktik

Angesichts der aktuellen Angriffe und des gesellschaftlichen Rechtsrucks stellt DIE LINKE weiter eine organisierte Kraft der Arbeiter:innenklasse dar, die zur gemeinsamen Aktion aufgefordert, der gegenüber auf verschiedenen Ebenen (bis hin zur kritischen Wahlunterstützung) die Taktik der Einheitsfront angewandt werden muss. Aber wir dürfen uns dabei keine Illusionen über den Charakter der Partei machen und müssen uns vergegenwärtigen, dass sie nicht nur eine aktive Minderheit der organisierten Arbeiter:innenklasse vertritt, sondern zugleich auch ein Hindernis für den Aufbau einer wirklichen Alternative, einer revolutionären Arbeiter:innenpartei darstellt.

Daher muss die Anwendung einer Einheitsfronttaktik Hand in Hand mit einer marxistischen Kritik und dem Kampf für eine revolutionäre Alternative zur Linkspartei einhergehen.

Natürlich ist es unter den gegebenen Bedingungen notwendig, z. B. in DWE oder den Gewerkschaften gemeinsam zu kämpfen. Es ist auch notwendig, den gemeinsamen Kampf gegen laufende und kommende Angriffe zu intensivieren, von der Linkspartei dies einzufordern.

Heute geht es aber nicht primär darum, gemeinsame Handlungsfelder auszuloten, sondern darum, was die Linkspartei ist und was Sozialist:innen oder Kommunist:innen daraus folgern sollen: Sie sollten sich keinen Illusionen in die Partei hingeben, sondern selbst eine linke Kritik entwickeln und am Aufbau einer revolutionären Alternative zur Linkspartei mitwirken, den Aufbau einer revolutionären Arbeiter:innenpartei vorantreiben!

Eine solche Partei wird sicherlich nicht einfach durch lineares Wachstum aus einer der bestehenden kommunistischen oder sozialistischen Kleingruppen oder deren bloßer Vereinigung entstehen können. Es braucht eine Kombination aus gemeinsamem Kampf und gemeinsamer Bewegung mit einer programmatischen Klärung. Das heißt aber auch Überwindung der reformistischen Begrenztheit und Schwächen der Linkspartei, nicht nur des Wagenknecht-Flügels und der Regierungssozialist:innen, sondern auch der sog. Transformationsstrategie.




Zur “Revolutionären Realpolitik” der Linkspartei: Revolution oder Transformation?

Martin Suchanek, Neue Internationale 279, Dezember 2023 / Januar 2024 ursprünglich veröffentlich im Dezember 2016

Die Berliner LINKE koaliert mit dem Segen der Parteispitze, Bodo Ramelow führt eine Rot-Rot-Grüne Koalition in Thüringen an.

In der Luxemburgstiftung, dem hauseigenen Think Tank, wollen sich deren Vordenker:innen mit der platten Rechtfertigung dieser Politik oder gar den unvermeidlichen Verrätereien durch Teilnahme an den Regierungen allein nicht zufriedengeben. An etlichen Stellen kritisieren sie sogar die allzu euphorischen Anhänger:innen rot-roter oder rot-rot-grüner Koalitionen offen, zu viele Zugeständnisse an die „Partner:innen“ zu machen.

Das ist nicht nur selbstgefälliger, entschuldigender Gestus linker Theoretiker:innen angesichts der unvermeidlichen Niederungen reformistischer Regierungspolitik. Es geht ihnen auch darum, der Partei eine höhere strategische Ausrichtung zu verleihen. Dazu prägen sie seit Jahren Begriffe wie „Transformationsstrategie“, „revolutionäre“ oder „radikale Realpolitik“, um die Programmatik der Linkspartei als eine moderne Version einer „sozialistischen Partei“ zu präsentieren.

Es ist immerhin ein Verdienst dieser politisch-ideologischen Richtung, dass sie in den Veröffentlichungen der Stiftung ihre Anschauungen darlegt; so z. B. in der Broschüre „Klasse verbinden“, herausgegeben im April 2016 vom US-amerikanischen Magazin Jacobin und der Luxemburg-Stiftung, oder im Aufsatz „Rückkehr der Hoffnung. Für eine offensive Betrachtungsweise“ von Michael Brie und Mario Candeias.

Revolutionäre „Realpolitik“

Seit Jahren wird neben Antonio Gramsci ausgerechnet Rosa Luxemburg als Patin für die „Transformationsstrategie“ der Linkspartei ins Feld geführt.

Sie selbst verwendet den Begriff „revolutionäre Realpolitik“ unter anderem in der Schrift „Karl Marx“, die anlässlich seines 20. Todestags verfasst wurde:

„Es gab vor Marx eine von Arbeitern geführte bürgerliche Politik, und es gab revolutionären Sozialismus. Es gibt erst mit Marx und durch Marx sozialistische Arbeiterpolitik, die zugleich und im vollsten Sinne beider Worte revolutionäre Realpolitik ist.

Wenn wir nämlich als Realpolitik eine Politik erkennen, die sich nur erreichbare Ziele steckt und sie mit wirksamsten Mitteln auf dem kürzesten Wege zu verfolgen weiß, so unterscheidet sich die proletarische Klassenpolitik im Marxschen Geiste darin von der bürgerlichen Politik, dass bürgerliche Politik vom Standpunkt der materiellen Tageserfolge real ist, während die sozialistische Politik es vom Standpunkt der geschichtlichen Entwicklungstendenz ist.“ (Luxemburg, Werke, Band 1/2, S. 375)

Und weiter: „Die proletarische Realpolitik ist aber auch revolutionär, indem sie durch alle ihre Teilbestrebungen in ihrer Gesamtheit über den Rahmen der bestehenden Ordnung, in der sie arbeitet, hinausgeht, indem sie sich bewusst nur als das Vorstadium des Aktes betrachtet, der sie zur Politik des herrschenden und umwälzenden Proletariats machen wird.“ (Ebenda, S. 376)

Luxemburg betont zwar, dass Reform und Revolution nicht als ausschließende Momente einander entgegengestellt werden dürfen, hält aber zugleich fest, dass die Revolution das entscheidende Moment dieses Verhältnisses darstellt. Nur in Bezug auf diesen Zweck kann eine revolutionäre (Real-)Politik bestimmt werden.

Sie grenzt sich daher gegen zwei politische Fehler innerhalb der Arbeiter:innenbewegung ab: einerseits den utopischen Sozialismus, andererseits die bürgerliche Realpolitik. Der Revisionismus oder Reformismus des 20. und 21. Jahrhunderts stellen letztlich Spielarten dieser bürgerlichen Realpolitik dar.

Das Revolutionäre an Luxemburgs „Realpolitik“ besteht genau darin, dass sie den Kampf für Reformen als Moment des Kampfes um die revolutionäre Machtergreifung des Proletariats bestimmt.

„Real“politik ist revolutionäre Politik in dem Sinne und Maß, wie eine Partei ihre Taktik auf einem wissenschaftlichen Verständnis der inneren Widersprüche des Kapitalismus und deren Entwicklungslogik aufbaut. Daraus ergibt sich, dass die Revolution nicht „jederzeit“ als reiner Willensakt „gemacht“ werden kann, sondern eine tiefe Krise des Gesamtsystems voraussetzt, eine Zuspitzung der inneren Widersprüche, die zu ihrer Auflösung drängen.

Innere Widersprüche

Für Luxemburg (und generell für den Marxismus) zeigt die Analyse der inneren Widersprüche des Kapitalismus zweitens, dass die Arbeiter:innenklasse in der bürgerlichen Gesellschaft noch keine neue, eigene Produktionsweise vorfindet, die sie mehr und mehr ausbauen könnte, sondern dass vielmehr die gegenteilige Entwicklung prägend ist. Der innere Widerspruch zwischen zunehmend gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung spitzt sich zu in der Konzentration des Reichtums in den Händen einer immer kleineren Schicht von Kapitalbesitzer:innen.

Genau deshalb greift Luxemburg auch Bernsteins Idee an, dass Genossenschaften, selbstverwaltete Betriebe und der zunehmende Kampf der Gewerkschaften für soziale Verbesserungen Schritt für Schritt zum Sozialismus führen könnten. Allenfalls stellen sie begrenzte Hilfsmittel zur Verbesserung der Lage der Klasse dar und können, im Fall der Gewerkschaften, Mittel zur Selbstorganisation und für die Entstehung von Klassenbewusstsein werden. Für sich genommen sprengt der gewerkschaftliche Kampf jedoch nicht den Rahmen des bestehenden Systems der Lohnarbeit (und erst recht nicht tun dies selbstverwaltete Betriebe).

Schließlich greift sie die darauf aufbauende, korrespondierende Vorstellung des Revisionismus an, dass der Parlamentarismus, die Sammlung einer numerischen Mehrheit bei Wahlen, Mittel zur erfolgreichen „Transformation“ der Gesellschaft sein könnten. Im Gegenteil: Luxemburg erblickt in der Integrationskraft des bürgerlichen Parlamentarismus auch eine Basis für das Vordringen der bürgerlichen „Realpolitik“ in der Arbeiter:innenbewegung, über „sozialistische“ Regierungen auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft mehr und mehr den „Sozialismus“ einführen zu können.

Für sie hingegen zielt „revolutionäre Realpolitik“ wesentlich auf den Übergang der politischen Macht von einer Klasse auf die andere, durch das Zerbrechen der bürgerlichen Staatsmaschinerie, den Übergang der Macht an die Arbeiter:innenräte, auf die Diktatur des Proletariats.

Was die Luxemburg-Stiftung aus Luxemburg macht

Die Theoretiker:innen der Linkspartei rekurrieren zwar gern auf Luxemburgs Begrifflichkeit und präsentieren ihre Strategie so, als würde sie ihr Verständnis von Reform und Revolution aufgreifen.

Dieser Schein wird nicht nur durch Entstellungen ermöglicht, sondern auch durch einen anderen Ausgangspunkt der Theorie Bernsteins und der aktuellen Theoretiker:innen der Luxemburg-Stiftung untermauert. Bernstein behauptete, dass sich Marx und Engels in ihrer Analyse der inneren Widersprüche des Kapitalismus geirrt hätten, dass diese nicht nur ihr Tempo überschätzt, sondern auch ihre grundlegende Entwicklungsrichtung verkannt hätten. Demgegenüber hält Luxemburg mit Marx und Engels an der grundlegenden Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Systems und der ihm innewohnenden Tendenz zum Zusammenbruch fest.

Zu Recht weist sie darauf hin, dass die Leugnung dieser Schlussfolgerungen aus der Marxschen Analyse des Kapitals einer Preisgabe des wissenschaftlichen Sozialismus gleichkommt. Die Überwindung des Kapitalismus stellt dann keine gesellschaftliche Notwendigkeit mehr dar, sondern kann nur moralisch begründet werden.

Anders als Bernstein geht die Luxemburg-Stiftung von einer Systemkrise des Kapitalismus aus.

„Die strukturelle Krise ist nicht gelöst und sie lässt sich im alten Rahmen auch nicht lösen. Die Versuche, den Finanzmarkt-Kapitalismus zu stabilisieren, verlängern nur die Agonie und zerreißen die Europäische Union und unsere Gesellschaften. Die Situation ist jedoch nicht durch Aufbruch gekennzeichnet, vielmehr gilt ein altes Zitat von Gramsci: ‚Das Alte stirbt, das neue kann nicht zur Welt kommen. Es ist die Zeit der Monster.’“ (Brie/Candeias)

Das obige Zitat zeigt aber auch eine Differenz zur marxistischen Analyse. Aus den Fugen geraten ist nicht der Kapitalismus als System, sondern nur der „Finanzmarktkapitalismus“. Bei aller verbalen Radikalität wird so ein theoretisches „Hintertürchen“ für eine reformistisch gewendete „revolutionäre Realpolitik“ geöffnet.

Hinzu kommt, dass der Kapitalismus zwar in einer historischen Krise stecken mag, eine sozialistische Revolution jedoch der Partei auch ausgeschlossen erscheint. Was bleibt also? Eine „Transformationsstrategie“. Was steckt aber hinter diesem unschuldigen Wort? Sind  nicht auch revolutionäre Marxist:innen dafür, erkennen sie nicht auch an, dass der revolutionäre Bruch mit dem Kapitalismus eine ganze Periode des Übergangs einschließt, dass nicht alle überkommenen gesellschaftlichen Verhältnisse und vor allem nicht die tradierte grundlegende Arbeitsteilung der alten Gesellschaft mit einem Schlag „abgeschafft“ werden können? Standen nicht die frühe Kommunistische Internationale und der Trotzkismus auf dem Boden eines Programms von Übergangsforderungen, das den Kampf für Reformen in eine Strategie zur Machtergreifung einbettet?

Genau diese Ausrichtung ist bei der Luxemburg-Stiftung nicht gemeint.

Da die sozialistische Revolution, die revolutionäre Machtergreifung der Arbeiter:innenklasse als unmöglich, fragwürdig erscheint, bezieht sich das Ziel der Transformation nicht auf das der „revolutionären Realpolitik“ einer Rosa-Luxemburg,  sondern darauf, dass die „Linke“ sich auf einen „Macht“wechsel auf dem Boden des Parlamentarismus vorbereiten müsse.

In einer offenen Krisensituation entsteht eine radikal neue Situation, in der sich die Eliten spalten, ein Richtungswechsel möglich wird – hin zu einem autoritären Festungskapitalismus wie aber auch hin zu einer solidarischen Umgestaltung. Die Linke muss sich jetzt vorbereiten, daran arbeiten, dass sie fähig wird, in eine solche Situation überzeugend einzugreifen. Darauf ist sie nicht eingestellt.“ (Brie/Candeias)

Wir möchten nicht widersprechen, dass die Linke auf diese Situation nicht vorbereitet ist. Entscheidend ist jedoch, dass die TheoretikerInnen der Linkspartei die eigentliche Alternative, die in einer solchen Phase aufgeworfen wird, verkennen – es geht um Revolution oder Konterrevolution, um Sozialismus oder Barbarei.

Für die Ideolog:nnen der Linkspartei stellt sie sich jedoch anders dar – „autoritärer Festungskapitalismus“ (womit Regierungen wie jene von Trump gemeint sind) oder „solidarische Umgestaltung“.

Hier wird die sozialistische Revolution aus der „revolutionären Realpolitik“ verabschiedet.

Regierung als Ziel

Daher ist es kein Wunder, dass die Strategie in eine Regierungsbeteiligung münden muss. Natürlich ist auch das Zeil einer jeden kommunistischen Strategie, eine revolutionäre Arbeiter:innenregierung zu schaffen. Diese ist aber letztlich nur als Mittel zum Übergang zur Herrschaft der Arbeiter:innenklasse oder, in ihrer eigentlichen Form, als „Diktatur des Proletariats“, möglich. Die „Realpolitik“ der Arbeiter:innenklasse kann nämlich nur vom Standpunkt ihrer zukünftigen Herrschaft und deren Vorbereitung richtig verstanden werden.

Diese grundlegende Schlussfolgerung Rosa Luxemburgs verschwindet bei der Luxemburg-Stiftung gänzlich, wird sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Zur strategischen Zielsetzung wird die „realistische“, „grundlegende“ Reform, die „solidarische Umgestaltung“.

Den Vordenker:innen der Linkspartei ist jedoch klar, dass eine solche „Umgestaltung“ keine Chance hat, wenn sie sich nur auf parlamentarische Mehrheiten stützt. Daher beurteilen sie das Regierungshandeln in Thüringen durchaus skeptisch, weil dieses keinem nennenswerten Druck von außen oder aus der Partei ausgesetzt ist. Sie halten eine Regierung auf Bundesebene erst recht für „verfrüht“ und erkennen, dass eine „Reformregierung“, die den Kurs der Großen Koalition fortsetzt, letztlich einer weiteren Stärkung der Rechten, v. a. der AfD, den Weg bereitet. Wie soll dieses Problem gelöst werden?

„Und schließlich muss die Linke an einer politischen Machtperspektive arbeiten. Dies darf nicht auf Wahlen verengt werden… Die punktuelle, aber konzentrierte Mobilisierung kann durchaus Erfolge zeitigen, sie ist aber immer prekär, wenn die Mobilisierung nicht mit einer nachhaltigen Verankerung und Organisierung verbunden wird. Eine politische Linke in den Vertretungsorganen ohne eine starke, eigenständige, kritische gesellschaftliche Linke, die in den Nachbarschaften, in Betrieben, in Initiativen und Bewegungen verankert ist, muss scheitern.“ (Brie/Candeias)

Die Linkspartei müsse einen „Spagat“ vollziehen zwischen „Bewegungspartei“ („Netzwerkpartei“) und „strategischer Partei“, die die verschiedenen Bewegungen, zusammenführt, Klassenfragen und Fragen der sozialen Unterdrückung vereint und ihnen eine Ausrichtung gibt.

Solcherart könne eine Umgestaltung vollzogen werden, die parlamentarische und institutionelle Mittel des Staates nutzt, den Kampf gewissermaßen „um den Staat und im Staat“ führt und gleichzeitig auch Gesamtstratege der heterogenen Widerstandsmilieus wäre.

Im Gegensatz zu naiven Bewegungslinken sehen sie ein, dass sich aus der Addition der spontanen Initiativen „von unten“, von Bewegungen, sozialen Kämpfen, Platzbesetzungen, Streiks, Betriebsbesetzungen, Selbstverwaltung oder „Produktion unter Arbeiter:innenkontrolle“, wie manche Projekte übertrieben genannt werden, keine gemeinsame Strategie ergibt. Eine „verbindende“ Partei reicht dazu nicht aus, es braucht eine strategische.

Es erhebt sich aber die Frage, warum Parteien wie Syriza diesen Spagat nicht durchzuhalten vermochten. In der Broschüre „Klasse verbinden“ wird lediglich festgehalten, dass sie die „Bewegungswurzeln“ nicht beibehalten konnte, dass eine  solche Entwicklung auch dem Linksblock in Portugal drohe oder auch die Bilanz der „linken“ Stadtverwaltung in Barcelona diskussionswürdig sei.

Strategische Partei und Staat

Die Lösung liege in einer „strategischen Partei“, die Elemente der „verbindenden Partei“ (Partei der Bewegungen) aufnimmt. Das sei notwendig, damit sie im Zuge der gesellschaftlichen Transformation eine doppelte Aufgabe erfüllen könne. Als Partei müsse sie den Staatsapparat transformieren, in dessen Institutionen eindringen. Dies könne aber nur gelingen, wenn sich ihr Handeln nicht auf den Staatsapparat, Parlament und Regierung konzentriert, wenn sie sich zugleich auf Massenbewegungen außerhalb stützt bzw. von diesen unter Druck gesetzt werden kann.

„Als Linke in die Institutionen zu gehen, ob in Athen, Barcelona oder Madrid, führt in einen politischen Limbo, sofern es nicht gelingt, diese Institutionen zu öffnen für die Initiative der Bewegungen, Nachbarschaftsgruppen und Solidaritätsstrukturen aus der Zivilgesellschaft und damit eine weiterreichende Partizipation aller populären Klassen zu verankern.“ (Candeias, Gedanken zu Porcaros „strategischer Partei“, in: Klasse verbinden, S. 20)

Dazu bedürfe es „eigener ‚stabiler Institutionen‘ jenseits des Staates, die heute zur strategischen Partei und morgen zum sozialistischen Staat einen dialektischen Gegenpol bilden können.“ (Ebenda, S. 20)

Reformismus reloaded

Diese „Institutionen“ sind einerseits politische und gesellschaftliche Bewegungen, andererseits wären es aber auch „Institutionen“, die „schon heute eine ‚materielle Macht‘ ausbilden, die eine Art unabhängige soziale Infrastruktur und produktive Ressourcen einer solidarischen Ökonomie entwickelt, um den Attacken des transnationalen Machtblocks standzuhalten – der oft zitierte Plan C.“ (Ebenda, S. 20). Dieser Plan ist nur eine Reformulierung des alten Revisionismus und der Sozialstaatspläne der Nachkriegssozialdemokratie auf niedrigem Niveau.

Die aktuelle Periode engt den „Spielraum“ für solche Pläne ein, verurteilt sie rasch dazu, zum reinen Reparaturbetrieb zu werden. Daran ändert auch die Verklärung von  selbstverwalteten Betrieben, besetzten Häusern, Nachbarschaftshilfe oder Beteiligungshaushalten zu Institutionen gesellschaftlicher „Gegenmacht“ nichts.

Die Strateg:innen der Linkspartei kommen hier bei Bernstein an – allerdings in einer widersprüchlicheren Form. Der „alte“ Revisionismus oder auch die Politik der Sozialdemokratie der 60er und frühen 70er Jahre versuchten ihre Politik durch angebliche Wandlungen des Kapitalismus zu begründen, die den Boden für eine schrittweise Verbesserung der Lage der Arbeiter:innenklasse und eine immer größere Demokratisierung des Systems abgeben würden.

Die mit Entstellungen der Arbeiten von Luxemburg oder Gramsci getränkte strategische Ausrichtung der Luxemburg-Stiftung akzeptiert hingegen, dass wir in einer Krisenperiode leben. Sie will aber nichts davon wissen, dass diese eine Strategie der revolutionären Machtergreifung der Arbeiter:innenklasse erfordert.

Syriza ist in Griechenland nicht daran gescheitert, dass der Spagat zwischen „Regierung“ und „Bewegung“ nicht funktionierte. Sie ist vielmehr an den inneren Widersprüchen einer reformistischen Realpolitik gescheitert – einerseits die Lage der Massen verbessern zu wollen und andererseits die gesellschaftlichen Grundlagen ihrer Verelendung, also den Kapitalismus selbst, nicht anzugreifen, sondern „mitzuverwalten“.

Klassencharakter des Staates

Die „Transformation“ des griechischen Staates ist nicht an einzelnen Fehlern von Syriza-Politiker:innen und am mangelnden Druck der Bewegung gescheitert. Sie wurde vielmehr unvermeidliches Opfer dieser Institutionen, weil der bürgerliche Staat selbst nicht zu einem Mittel der sozialistischen Umwandlung der Gesellschaft „transformiert“ werden kann. Genau das vertreten aber der „alte“ wie moderne Revisionismus, indem sie den Klassencharakter des bürgerlichen Staates negieren. Mit Luxemburg werden so auch gleich Marx‘ Lehren aus der Pariser Commune oder Lenins „Staat und Revolution“ entsorgt.

Die „revolutionäre Realpolitik“ entpuppt sich letztlich als bürgerliche, die bei allem Beschwören von „Bewegungen“ und „Gegenmacht“ letztlich auf einen friedlichen, graduellen, parlamentarischen Übergang zum Sozialismus, also auf den Sankt-Nimmerleinstag orientiert.

Für die Strateg:innen der Linkspartei ist der bestehende, wenn auch zu transformierende Staat, das entscheidende politische Instrument. Abgestützt werden müsse dieses durch Eroberung ideologischer Positionen und Vorherrschaft („Hegemonie“) in der Zivilgesellschaft und den Aufbau von „Gegenmacht“. Solcherart wäre eine schrittweise Transformation möglich. Dabei wird die Revolution zu einer Reihe von Reformen. Auch hier befindet sich die Linkspartei in Gesellschaft von Bernstein, nicht von Luxemburg:

„Es ist grundfalsch und ganz ungeschichtlich, sich die gesetzliche Reformarbeit bloß als die ins Breite gezogene Revolution und die Revolution als die kondensierte Reform vorzustellen. Eine soziale Umwälzung und eine gesetzliche Reform sind nicht durch die Zeitdauer, sondern durch das Wesen verschiedene Momente. Das ganze Geheimnis der geschichtlichen Umwälzungen durch den Gebrauch der politischen Macht liegt ja gerade in dem Umschlagen der bloßen quantitativen Veränderungen in eine neue Qualität, konkret gesprochen: in dem Übergange einer Geschichtsperiode, einer Gesellschaftsordnung in eine andere.“ (Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?, Werke, Band 1, S. 428)




Weder neu, noch internationalistisch: Die LINKE und der „neue Internationalismus“

Leo Drais, Neue International 279, Dezember 2023/Januar 2024

„Wir setzen dagegen auf Deeskalation, globale Gerechtigkeit und zivile Konfliktlösung, um der sich zuspitzenden Blockkonfrontation eine friedliche Alternative entgegenzusetzen. Das meint eine Politik, die nicht der Logik des Militärischen folgt, die die Bedrohung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit von innen und außen ernst nimmt, aber grenzübergreifend Ausgleich, Abrüstung und sozialer Gerechtigkeit verpflichtet ist. Eine Entspannungspolitik, die internationales Recht und den Weg der Diplomatie und Verhandlung stärkt. Die endlich die Fluchtursachen bekämpft – nicht die Geflüchteten. Die solidarischen Handel und gemeinsame Entwicklung stärkt, statt Standortkonkurrenz und neokoloniale Ausbeutung zu verschärfen. Die aktiv jene Menschen, Organisationen, Gewerkschaften und Bewegungen unterstützt, die für Demokratie und Gerechtigkeit eintreten, anstatt weiter Deals mit Diktatoren zu machen. Die dafür sorgt, dass die EU nicht ein Treiber des Wettrüstens bleibt, sondern eine Friedensunion wird.

Das kann gelingen mit einem neuen Internationalismus, der ohne Doppelstandards Völkerrecht und Menschenrechte achtet – und überall für Gerechtigkeit, Kooperation und Demokratie eintritt. Die Grenzen verlaufen zwischen oben und unten, unser Kampf für Gerechtigkeit ist universell. Denn es braucht weltweit soziale Gerechtigkeit, eine klimagerechte Wirtschaft und Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und handlungsfähige internationale Strukturen.“ (Linkspartei, Wahlprogrammentwurf zur Europawahl 2024)

Alt und bricht sofort

Das, was sich weiter Linkspartei nennt, in das über 1.000 neue Genoss:innen nach dem ersehnten Weggang Sahra Wagenknechts und ihrer Sänftenträger:innen eingetreten sind, wird nicht müde zu betonen, dass jetzt alles besser würde. Aufbruchstimmung, alles neu, beziehungsweise: Back to the roots. Und das trifft es. Denn der oben zitierte „neue Internationalismus“ ist gar nicht so neu. Vor zehn Jahren hätte das Ganze mehr oder weniger genauso im Wahlprogramm der LINKEN stehen können und damals wie heute wäre auch eine Sahra Wagenknecht damit zufrieden. Hinter floskelhaft Unkonkretem kann sich weiterhin fast alles und jede/r sammeln. Es ist ein Internationalismus, der außer dem Namen wenig Internationalistisches in sich trägt, eine Klammer, die Regierungssozialist:innen, Bewegungslinke und den Rest wie mit einem porösen Einweckgummi zusammenhält.

Und während der Gummi alt und ausgeleiert ist und nur durch den Weggang des Wagenknechtflügels eine gewisse Entlastung erfährt, wiegt die veränderte Weltlage so schwer. Die Linkspartei spricht ja selbst von einem „Epochenbruch“. Doch aus dieser Erkenntnis folgt keine Revision des Programms. Die alten Antworten sollen auch in der neuen Zeit die richtigen sein, dabei waren sie es in der „alten“ schon nicht.

Denn was so schön und einfach klingt – „friedliche Alternative“, „Ausgleich“, „Abrüstung“, „solidarischer Handel“, „soziale Gerechtigkeit“, „Menschenrechte“ – das ist fromm im religiösesten Sinn. Es wird geglaubt, versprochen und nicht analysiert. Fest geglaubt daran, dass Kapitalismus „fair“ und „friedlich“ gehen könne. Ein fortgesetzter Gottesdienst, der die Illusion streut, das Hier und Jetzt könnte einfach so anders werden. Das steht so zwar nicht da, aber es ist, worauf die Politik der Linkspartei wie eh und je hinausläuft. Oder besser: nicht hinausläuft. Denn nur weil sich etwas gewünscht wird, wird es nicht passieren. Die kapitalistische Welt ist eben eine ganz konkrete, von Widersprüchen durchzogene, in der Konkurrenz überhaupt das ist, worin sie sich verwirklichen kann. Selbst wenn die Linkspartei an der Regierung wäre, mit absoluter Mehrheit, würde alles, was sie sich wünscht, an diesen Sachzwängen zerrreißen und zerbrechen. Es gibt keinen Kapitalismus ohne Ausbeutung und Konkurrenz, die die Ausbeutung immer weiter zuspitzt und eben zu Neokolonialismus führen muss.

Das weiß sie vielleicht auch selbst. Aber ihr Wahlprogramm ist ja auch erst mal nur ein Stimmenfänger und dann sieht man, was möglich ist, innerhalb des Systems, mit ein bisschen sozialer Bewegung und Parlamentarisieren. Wenn aber die Welt nicht grundsätzlich infrage gestellt wird, was ist dann die Politik der LINKEN anderes als eine nationale, kapitalistische? Ihre „friedliche Alternative“ ist eine Lösung des Ukrainekrieges am Verhandlungstisch der Großmächte Russland und NATO, keine des Selbstbestimmungsrechts der Menschen, die in der Region leben. Ihr „Völkerrecht“ ist das der UNO und damit einer imperialistischen Institutionen schlechthin. Ihr „solidarischer Handel“ ist immer noch Ausbeutung.

So wenig neu wie das Programm für ein „Comeback“ ist, so wenig neu ist eigentlich auch unsere Kritik daran. Wir haben die Programme der Linkspartei in den letzten Jahren wiederholt Kritiken unterzogen, auch hinsichtlich des Internationalismus, der nur so halbgar daherkommt. Was sich jedoch mit der „Epochenwende“ durchaus verändert, ist, dass Ansprüche früher mit der Realität kollidieren, wobei die kapitalistische Realität bei diesem Zusammenprall keinen Schaden nimmt, wohl aber die Linkspartei und die, die an sie glauben oder doch wenigstens ein kleines bisschen in Ermangelung von Alternativen auf sie hoffen. Die Partei ist getrieben von der Welt.

Offene Grenzen

Als Beispiel dafür dient die Forderung nach offenen Grenzen, inzwischen entsorgt und opportun durch ihre Negation ersetzt, nämlich der Absage an Grenzkontrollen (Beschluss des Parteivorstandes vom 23. Oktober 2023). Natürlich war das mit den offenen Grenzen nie wirklich ernstgemeint. Solange es eine im Vergleich zu heute überschaubare Migration gab (die schon 2014 für Tausende den Tod im Mittelmeer bedeutete), war das etwas, womit man sich gut schmücken konnte.

Dann kam 2015, dann die AfD und es stellte sich wirklich die Frage, wie mit Millionen Geflüchteten umgegangen werden soll. Die Antwort oben: Fluchtursachen bekämpfen. Das ist zwar an sich richtig, aber es verkommt zur Phrase, wenn es als Ersatz für eine konkrete Antwort herhalten soll, ob Hunderttausende Geflüchtete aufgenommen werden sollen oder nicht. Man weicht also aus und setzt auf „Gerechtigkeit“ usw., also auf Plattitüden.

Das ist einfacher, als offene Grenzen wirklich mal konsequent weiter zu denken und jenen zu vermitteln, die tatsächlich eine damit verbundene Angst haben, jedoch noch nicht in den Fängen der AfD oder von BSW stecken. Dies nicht zu tun, heißt ansonsten, dass sich DIE LINKE im Endeffekt unter jene einreiht, für die Grenzkontrollen usw. alternativ sind. Sie mag zwar die Politik der Regierung in einzelnen Fällen kritisieren, aber selbst formuliert sie in dieser einen Grenzfrage eben keine Alternative.

Dass offene Grenzen mit der bestehenden Realität nicht vereinbar sind, ist dabei der Linkspartei selbst klar, sonst würde sie an der Idee festhalten. Aber obwohl, ja weil sie mit der imperialistischen Weltordnung unvereinbar ist, halten z. B. wir an der Idee fest. Sie führt im Grunde sofort zu der Frage: Wie soll die Gesellschaft, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit aussehen? Wer antirassistisch sein will, der muss dafür sein, dass alle Menschen das Recht haben, überall auf der Welt zu leben. Alles andere ist geheuchelt. Den Weg zu so einer Welt zu zeichnen und vorstellbar zu machen, das macht einen wirklichen Internationalismus aus. Daher muss Antirassismus als integraler Teil des Klassenkampfes verstanden werden. Verteilung der Arbeit auf alle, Sicherung von Wohnraum und soziale Absicherung für alle, Enteignung internationaler Konzerne, ein Plan zur Reparation der Schäden in der halbkolonialen Welt, multilinguale Ämter usw. sind davon genauso Eckpunkte wie eben die offenen Grenzen.

Ukraine

Ein anderes Beispiel für den halbgaren Internationalismus ist die Haltung zur Ukraine. Hier offenbart sich außerdem, dass der in der Partei weit verbreitete Pazifismus keine Antwort auf die Kriegsgefahr bietet. Zwar muss zugutegehalten werden, dass diese Pazifist:innen nicht so wie viele andere vom Krieg einfach umgeworfen wurden und auf der Seite der NATO landeten. Trotzdem stellt sich die Frage: Wenn man der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung zugesteht, wie soll sie dieses dann wahrnehmen? Zu sagen, dass mehr Waffen keinen Frieden bringen, dieser nur diplomatisch erreichbar sei, und an Putin, Biden und Scholz zu appellieren, sich doch an einen Tisch zu setzen, bedeutet im Grunde nur, den Großmächten der Welt zuzugestehen, dass sie über Krieg und Frieden und über die „Friedensordnung“ entscheiden. Das heißt jene, die sich nicht nur auf militärischem Gebiet im Kampf um eine Neuaufteilung der Welt befinden, sollen entscheiden, wie die Ukraine neu aufgeteilt wird. Ein solcher imperialistischer Frieden würde allenfalls die geostrategische Konfrontation, die den Krieg um die Ukraine auch, wenngleich nicht ausschließlich prägt, in neue Formen gießen. An der Aufrüstung, der Expansion der NATO wie ihrer imperialistischen Rivalität mit Russland und China würde das nichts ändern. Aber alles ist, was und wie es ist, so scheiße es auch ist.

Allgemein gesteht DIE LINKE zwar der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung gegen die imperialistische Invasion Russlands zu. Aber die Frage, wie die Anerkennung dieses Selbstbestimmungsrechts, das ohne die Mittel zur seiner Umsetzung nichts wert ist, mit dem Kampf gegen jede imperialistische Einflussnahme in der Ukraine verbunden werden kann, stellt sie sich erst gar nicht.

Als Revolutionär:innen gestehen wir zwar der Ukraine zu, sich die Mittel für ihre Verteidigung zu beschaffen, wir lehnen aber Forderungen an die westlichen imperialistischen Mächte, sich einzumischen, ab und treten offensiv für ein Ende der Sanktionen gegen Russland ein, weil diese integraler Teil eines neuen Kalten Krieges zwischen den Großmächten sind.

Bezüglich der Waffenlieferungen an die Ukraine geht es vor allem darum: Wie kann dafür gesorgt werden, dass diese nicht zur Aufrüstung der NATO in Polen oder im Baltikum genutzt werden? Im Endeffekt bedeutet es zu fordern, dass Waffentransporte nicht durch die Armeen und NATO-Staaten kontrolliert werden, sondern durch die Transportarbeiter:innen selbst. Immerhin gibt es in Europa kleine Beispiele, wo sowas passierte. Es verweist aber auch auf das, was wirklich dem Krieg das Handwerk legen kann.Nicht die Diplomatie der Imperialist:innen, sondern eine internationale Antikriegsbewegung auf Straßen, Gleisen und in Rüstungsfabriken. Nur diese wäre in der Lage die Unterstützung des ukrainischen Selbstbestimmungsrechtes und den Kampf gegen die Imperialist:innen auf allen Seiten miteinander zu kombinieren. Eine solche Bewegung müsste in klarer Opposition zur Selenskyj-Regierung stehen und die linken und gewerkschaftlichen Kräfte in der Ukraine unterstützen und zwar vor allem jene, die für von allen bürgerlichen und imperialistischen Kräften unabhängige Arbeiter:innenpolitik einstehen. Klar sind wir davon weit weg. Wäre trotzdem die Aufgabe der Linkspartei, vermittelt über ihren Einfluss in Gewerkschaften, so etwas aufzubauen. Es ist allemal sinnvoller, als für ein Ende der Kriege durch UNO, Diplomatie und Pazifismus einzutreten. Es wäre die Bereitschaft zum Klassenkampf: sich darauf vorzubereiten, allem, was ist, glaubwürdig den Krieg zu erklären.

Palästina

Und damit kommen wir zu Palästina, heute der Gretchenfrage, wenn es um internationale Solidarität deutscher Linker geht. Im Bundestag hatte sich die Linkspartei allen anderen Parteien schnell angeschlossen, als es um die Verurteilung des Hamasterrors und die Solidarität mit Israel ging.

Auch wir verurteilen die Ermordung unschuldiger Zivilist:innen am 7. Oktober und lehnen die Politik und Strategie der Hamas ab. Aber das ändert nichts daran, dass der palästinensische Widerstand gegen die seit Jahrzehnten andauernde Vertreibung und Besatzung auch unter einer schlechten, reaktionären Führung wie jener der Hamas legitim ist.

Wenn, wie Gregor Gysi sagt, die Palästinenser:innen die Unterdrückten sind, dann stellt sich für Linke die Frage: Wie kann diese Unterdrückung beendet werden? Dieser Weg führt darüber, dass eine linke Alternative zur Hamas aufgebaut werden muss, die den Kampf nicht einfach für sich selbst und eine Zwei-Staaten-Lösung führt, sondern wirklich ein Programm bietet, was jede Unterdrückung in der Region beendet. Die der Palästinenser:innen durch Israel. Die palästinensischer Frauen in einer extrem konservativen Gesellschaft. Die der rassistisch unterdrückten Israelis durch den Zionismus. Der Weg dahin führt nicht über eine Unterstützung des Staates, der wesentlich die Ursache für die heutige Situation darstellt. Man kann solidarisch mit ermordeten und entführten Zivilist:innen sein, ohne sich auf die Seite des Staates zu stellen, der auf ihrem Pass steht.

Das aber hat die Linkspartei nicht getan. Sie bietet auch heute keine Perspektive und keine klare Unterstützung der Unterdrückten, weder vor Ort noch in Palästina. Sie landet maximal dort, wo wir sie schon oben kritisierten: bei der Illusion eines Völkerrechts, einer gerechten Weltordnung in einer grundsätzlich ungleichen Welt. Bei zähen Debatten, bei verwundenen Begründungen, warum man da steht, wo man steht. Damit ist die Linkspartei noch weniger glaubwürdig als alle anderen Parteien.

Denn während diese den Boden, auf dem sie agieren – den deutschen Imperialismus  –, auch verbal gar nicht in Frage stellen und sich eben für diesen strategisch in die Bresche werfen, wenn auch mit unterschiedlichen Ideen, so bezeichnet sich die Linkspartei ja schon als eine demokratisch-sozialistische Partei. Weder in Palästina noch der Ukraine noch sonst wo ist jedoch ersichtlich, wie ihr Selbstverständnis zu einer demokratisch-sozialistischen Welt werden kann. Und, das sei mal unterstellt, auch wenn der Traum davon bei vielen Mitglieder ein aufrichtiger ist, in der Realität ist das nur eine verschwommene Erinnerung an die letzte Nacht und genauso viel wert.