Gegen Ausverkauf des Hamburger Hafens

Bruno Tesch, Infomail 1245, 21. Februar 2024

Die Gewerkschaft Vereinigte Dienstleistungen (ver.di) hat für den 21.2.2024 zu einer Demonstration vor dem Hauptsitz des Hamburger Hafen- und Logistikbetreibers HHLA in der Speicherstadt gegen den Verkauf von großen Anteilen an die weltgrößte Containerreederei MSC (Mediterranean Shipping Company), einen schweizerisch-italienischen Konzern, aufgerufen. MSC will die bisher an der Börse gehandelten HHLA-Aktien aufkaufen und erhält zusätzlich 19,9 % vom Hamburger Senat, was ihre Anteile auf 49,9 % hochhieven würde.

Was steht auf dem Spiel?

Die weitere Privatisierung birgt in erster Linie hohe Risiken für die Beschäftigten. Denn MSC ist bekannt für seine rigorosen Praktiken bei der „Umstrukturierung“ von Personal und Arbeitsverdichtung, die das Unternehmen bei einer solch grenzwertigen Beteiligung, einer fast überbordenden Minorität, geltend machen könnte.

Darüber hinaus wendet sich ver.di auch gegen die Gefährdung von Interessen für die „Stadtgesellschaft“, denn nicht nur die HHLA, auch der Gesamthafen mit anhängenden Betrieben wäre betroffen. Der Hamburger Hafen, lange Zeit Vorzeigeobjekt und Identifikationsmuster für die Weltgeltung der Hansestadt, hat es mit Auslastungsschwankungen zu tun. Fehlende Instandhaltung des technisches Arsenals bedingt, dass immer wieder Teile des Fahrzeug- und Containergeschirrs an den Kränen stillstehen. Die Geschäftsführung drängt auf stärkere Zentralisierung und Automatisierung der Betriebsabläufe und damit Kostendämpfung, um im Containergeschäft wieder attraktiver zu werden. Die Reedereien wiederum können durch Absprachen ihre Marktmacht spüren lassen.

Der Deal wurde bereits im Vorjahr vom Hamburger Senat eingefädelt. Der sieht darin eine strategische Partner:innenschaft, um in einem Umbau des Hafenbetriebs mit mehr Rentabiltät und Effizienz gegen den weltweit steigenden Konkurrenzdruck die Fahrrinne zu verbreitern.  Der gesamte Containerbereich soll umorganisiert werden, um Einsparungen von bis zu 150 Millionen Euro zu erreichen.

Konkret würde das v. a. bedeuten, dass mindestens 400 Arbeitsplätze, laut ver.di-Rechnung sogar 718 Vollzeitstellen, künftig entfallen. Teams in den Terminals werden aufgelöst.

Seit diese Pläne bekanntgeworden sind, haben etliche Kolleg:innen  darauf reagiert und bereits „abgemustert“, weil sie angesichts der  Ungewissheit, ob sie nicht von Umschichtungen mit Lohneinbußen und gesteigerter  Arbeitsintensität oder gar Jobverlust betroffen sein werden, keine Zukunft mehr für sich und ihre Familien sehen.  So menschlich verständlich diese Abwanderungen auch sein mögen, sind sie doch das völlig falsche Signal.

Gegenwehr

Als die Mine vom geplanten Verkauf hochging, löste dies am 6.11.2023 eine spontane eintägige Arbeitsniederlegung der HHLA-Belegschaft aus. Diese wurde daraufhin kurzerhand von der bürgerlichen Justiz für illegal erklärt und zog Abmahnungen gegen Streikbeteiligte nach sich. Die Unterstützung der Gewerkschaften beschränkte sich auf nachfolgende Protestveranstaltungen. Die Mehrheit der derzeit noch rund 3.600 lohnabhängig Beschäftigten bei der HHLA lehnt den schmutzigen Deal nach wie vor vehement ab. Durch ihren Druck und den hohen Aufmerksamkeitswert für die Hafenthematik sieht sich die Gewerkschaft ver.di nun bemüßigt, unter dem Motto „Wir lassen uns nicht verraMSChen“ eine Demonstration anzusetzen.

Mit großer Teilnahme ist zu rechnen, denn auch die Betriebsräte von Burchardkai und Altenwerder haben nicht nur zur Beteiligung am Protest aufgerufen, sondern schon im Vorwege durch einen täglich erscheinenden Rundbrief unter dem Titel „Kaikante“ die Mitarbeiter:innen auf das Ereignis eingestimmt.

Natürlich ist zu erwarten, dass die Bürokrat:innen aus Gewerkschaft und Betriebsrat der Schlagseite einer nationalistischen bzw. provinziellen Sichtweise zuneigen werden und es bei punktuellen Protesten belassen.  Allerdings sind sie in diesem Zusammenhang aus den „Ewig grüßt das Murmeltier“-Tarifrundenmühlen ausgeschert und haben sich in ein politisches Fahrwasser begeben.

Diese Klippe hoffen sie, durch Appelle an die Regierenden (zumeist ja ihre sozialdemokratischen Parteifreund:innen) und das Hervorkehren ihrer Qualitäten als Verhandlungsprofis zu umschiffen. Wie bereit der Senat zum Einlenken ist, hat er ja bereits im November bewiesen, als seine Vertreterin Gespräche mit den Streikenden abgelehnt hat. Seither ist er keinen Deut von seiner Deallinie mit dem Privatinvestor abgewichen.

In den Mittelpunkt der Forderungen muss nicht nur die Bewahrung von öffentlichem Eigentum, sondern vor allem die Frage, wer kontrolliert es, gerückt werden. Dazu braucht es gewählte und jederzeit abrufbare Organe aus der Arbeiter:innenbewegung und eine Ausweitung von Kampfmaßnahmen, die sich nicht vom bürgerlichen Apparat und seinen Gerichten abschrecken lässt.

Diese Ausweitung muss sowohl räumlich wie auch thematisch angegangen werden. Die Streiks der Hafenarbeiter:innen im Sommer 2022 – auch an anderen Standorten – sind noch nicht vergessen. Hier liegt Potenzial, auf das die Aktivist:innen unter den HHLA-Beschäftigten zur Unterstützung und Verbreiterung der Kampffront zurückgreifen könnten. Ebenso notwendig ist das Andocken an verwandte Bereiche wie das Transport- und Verkehrswesen, das im Augenblick im angrenzenden Niedersachsen sich in Streikbewegung befindet.

Ferner bedarf es eines rationalen Seeverkehrskonzepts, das anstelle der selbst im nationalen Rahmen zunehmenden unsinnigen Konkurrenz mit weitreichenden Folgen für Beschäftigte und Natur (Elbvertiefung) die Güterströme international und rational regelt. Dies kann nur unter Arbeiter:innenkontrolle aller europäischen und Überseehäfen und Hinzuziehen von Expert:innen, die das Vertrauen der Beschäftigten genießen, erfolgen. Dieser Plan richtet sich sowohl gegen privates Kapital in Gestalt der Logistikkonzerne und Reedereien wie staatliches, z. B. des Ausverkäufers Senat.




Hamburg: HHLA-Streit und Streik

Bruno Tesch, Infomail 1237, 16. November 2023

Bei der Hafenbetreiberin Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) brodelt es, und das nicht erst seit den letzten Wochen. Schon vor Jahren wurde über private bzw. fremdstaatliche Investitionsinteressen in Form von Beteiligungen oder gar Übernahmen spekuliert. Hochgekocht ist die trübe Gerüchtebrühe durch die Bekanntgabe, dass ein Kaufangebot der Mediterranean Shipping Company (MSC) über Anteile von 49,9 % an der HHLA vorliegt, über das am 20.11. entschieden werden soll. Diese Nachricht wiederum löste am 6.11. eine spontane eintägige Arbeitsniederlegung der HHLA-Belegschaft aus. MSC ist die weltweit größte Containerreederei mit Sitz in Genf und über Tochterunternehmen auch im Kreuzfahrt- und Fährgeschäft engagiert.

Hintergründe zum Hafen-Deal

Der Hafen als Image für die Weltoffenheit der Hansestadt war seit jeher von herausragender Bedeutung, vor allem aber hat der Güterumschlag das Portfolio der Handelsmetropole prall gefüllt. Seit 20 Jahren jedoch hat sich der Wind gedreht. Hamburg liegt jetzt im Lee und ist im Vergleich mit den europäischen Seeumschlagplätzen und erst recht mit Konkurrent:innen weltweit auf den 20. Rang zurückgedrängt worden.

Der große Nachteil gegenüber Rotterdam und Antwerpen, dass der Hamburger Hafen nur einen vermittelten Zugang zum Meer hat und Belgien und die Niederlande ozeanografisch leichter anzufahren sind, lässt sich auf natürlichem Wege einfach nicht ausgleichen. Da helfen auch keine Maßnahmen wie die Elbvertiefung, um größere Pötte einlaufen zu lassen.

Kürzere Fahr-, Liege- und Warenumschlagszeiten zählen heute doppelt. So ist es auch erklärlich, dass im Containerbereich die Hamburger Umsätze bereits seit einiger Zeit stagnieren, ja im ersten Halbjahr 2023 befanden sie sich sogar im beschleunigten Krebsgang von -11.7 %.

Das war vermutlich auch das Signal für den Hamburger Senat, in Verhandlungen mit einer potenten Investorin einzutreten. Man glaubte, sie in MSC gefunden zu haben. Dieser Konzern, in italienischem Privatbesitz und mit Geschäftssitz in der „Seefahrtnation“ Schweiz, kann damit repräsentieren, als mittlerweile global größte Reederei zu gelten, die gleichermaßen die Sparten maritimer Güterverkehr und die besonders einträgliche Kreuzschifffahrt bedient. Mit Hilfe der MSC, die über ein weitgespanntes und expandierendes Netz an Geschäftsverbindungen verfügt, hofft Hamburg, seine Investitionsvorleistungen wie Bau der Hafen-City mit ihren eigens angelegten Verkehrswegen und Gewerbeflächen amortisieren zu können und den Hafen wieder auf Volle-Kraft-voraus-Kurs zu bringen.

Der zu entrichtende Preis wäre jedoch eine Reduktion des stadtstaatlichen Anteils an der HHLA von 69 % auf 50,1 %. Daraus ergibt sich, dass die Hamburger Regierung einen kompakten Klotz an Aktienminorität am Bein herumschleppen müsste, der ihr nicht nur die HHLA, sondern auch infrastrukturelles Hafenumfeld betreffend, Zugeständnisse im MSC-Interesse abringen könnte.

Der Deal muss von der Hamburger Bürgerschaft noch abgenickt werden. Proteste für seine Entscheidung erntete der Hamburger SPD-geführte Senat sowohl von den alteingesessenen Reedereien wie Hapag-Lloyd, die sich konkurrenzmäßig übergangen fühlten, wie auch von der CDU-Opposition, die den „grotesk niedrigen“ Übernahmepreis bemängelte und meinte, bei einer öffentlichen Ausschreibung hätte wesentlich mehr herausgeschlagen werden können.

Schwierigkeiten ganz anderer Art mit diesem Senatsdeal haben allerdings die HHLA-Beschäftigten. Der Terminalbetreiber Eurogate hat bereits vor einigen Jahren in einer internen Studie die mangelnde Automatisierung und daraus resultierend den um 25 % geringeren Containerumschlag im Hamburger Hafen moniert. Wenn denn an den natürlichen Gegebenheiten nicht gerüttelt werden kann, so ist der Einsatz der menschlichen Arbeitskraft jedoch eine veränderbare Größe. Das weiß sicher auch die MSC, ohne diese Studie kennen zu müssen, und sie wird auf Verschlankung der Produktion, sprich Entlassungen, drängen. Das haben auch die Arbeiter:innen bei der HHLA als elementaren Knackpunkt erkannt und sind daraufhin am 6. November in den Ausstand getreten. Sie fürchten um ihre Arbeitsplätze und die Verschlechterung von Arbeitsbedingungen!

Kampfperspektive

Am Nachmittag des 6. November legten 150 Hafenarbeiter am Burchardkai ihre Arbeit nieder, die Abfertigung an dem Terminal wurde eingestellt. Die nächsten vier Schichten schlossen sich dem wilden Streik an.

Der Streik wurde schnell von der „neutralen“ Justiz einkassiert und als „illegal“ kriminalisiert, weil er sich nicht an das Tarifrecht, das Politisierung untersagt, gehalten habe. Dies bot die Handhabe für etliche Abmahnungen durch die HHLA-Geschäftsführung. Die Streikenden hatten um unverzügliche Gespräche mit dem Senat über den Deal gebeten. Diese Bitte wurde ihnen jedoch von den zuständigen Vertreter:innen abschlägig beschieden, weil sie mit der Arroganz der Macht dem Streik die Legitimität absprechen wollten.

Das Vorgehen der Klassenfeind:innen in Politik, Justiz und Unternehmen hat Empörung dagegen und Solidaritätsbekundungen mit den Kolleg:innen von Seiten zumeist gewerkschaftlicher Arbeiter:innenorganisationen im In- und Ausland hervorgerufen. Die Gewerkschaft ver.di veröffentlichte Forderungen nach:

  • Kein Verkauf der HHLA an MSC oder andere private Investor:innen!

  • Keine Privatisierung öffentlichen Eigentums – insbesondere im Bereich der kritischen Infrastruktur!

Aber die dringlichste Forderung ließ sie vermissen:

  • Sofortige Rücknahme der Abmahnungen und keine weiteren Repressalien gegen die Streikbeteiligten!

Ver.di zieht sich offenbar auf eine Vermittlerposition für Gespräche mit dem Senat zurück und hat zu einer Kundgebung am Hamburger Rathaus aufgerufen. Ein Appell an die Regierenden reicht bei weitem nicht aus. Verhandlungen und Entscheidungen von solcher Tragweite – gerade in Hamburg hängen mit Infrastruktur, Zulieferbetrieben usw. schätzungsweise zehntausende Existenzen von Hafen und Umgebung ab – müssen von der Arbeiter:innenbewegung öffentlich kontrollierbar gemacht und gegebenenfalls zurückgenommen werden können. Zusätzlich muss die nationale Binnenkonkurrenz unter den deutschen Seehäfen – z. B. Tiefwasserhafen Wilhelmshaven mit weiterer Elbvertiefung –, aber auch die europaweite zugunsten eines planvollen Konzepts für eine rationale Verkehrswende im Sinne einer integrierten bundesweiten und kontinentalen öffentlichen Infrastruktur zu Land, Wasser und in der Luft unter Arbeiter:innenkontrolle und -planung aufgehoben werden. Im Zusammenspiel mit einem staatlichen Außenhandelsmonopol würden auf diese Weise der Güterverkehr auf sein rationales menschliches wie ökologisches Maß schrumpfen und die gleichmäßigere Auslastung der Häfen erreicht werden können.

Um die Fragen der Knebelung des Streikrechts und Forderung nach Arbeiter:innenkontrolle über die Entscheidungen zu öffentlichen Einrichtungen muss eine bundesweite Kampagne entfaltet werden. Ansätze bieten sich, dies in den Rahmen einer jetzt angelaufenen kämpferischen Tarifrunde der Länder zu stellen.

Nicht außer Acht gelassen werden darf außerdem, dass gerade in der jetzigen internationalen Situation Seehäfen einen neuralgischer Punkt für den Versand von Kriegsmaterial, v. a. an die israelische Armee, bilden. Solche Waffenlieferungen müssen verhindert werden, und dies ist v. a. eine Aufgabe der internationalen Arbeiter:innenbewegung.




Krankenhausreform: Kliniksterben in zwei Stufen

Jürgen Roth, Neue Internationale 276, September 2023

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte eine „Revolution“ angekündigt, doch seine Krankenhausreform endete als laues Lüftchen nach der Einigung mit seinen Länderkolleg:innen. Doch über die bundesdeutsche Kliniklandschaft wird sie als Orkan fegen, der Schneisen der Verwüstung hinterlassen wird.

Drohendes Defizit

Nach einem für 2023 gestopften Milliardenloch droht für 2024 ein erneutes Defizit. 2022 erzielten die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) noch ein Plus von 451 Millionen Euro. Die Einnahmen hatten sich pro Mitglied durch reguläre und Zusatzbeiträge um 4,37 % erhöht, die Ausgaben nur um 4,09 %. Doch die strukturellen Finanzierungsprobleme sind längst nicht beseitigt. Ihr Spitzenverband moniert, dass der Bund sich mehr an der Finanzierung versicherungsfremder Leistungen wie Schwangerschafts- und Mütterversorgung beteiligen müsse. Das brächte allein 10 Milliarden zusätzlich ein.

Eigentlich wollte das Bundesgesundheitsministerium bis zum 31. Mai 2023 Empfehlungen für eine „stabile, verlässliche und solidarische Finanzierung“ vorgelegt haben. Daraus wurde nichts. Die Finanzierungslücke von 17 Milliarden Euro für 2023 wurde mit einmaligen Maßnahmen geschlossen. Unter anderem wurden Reserven der GKV und des Gesundheitsfonds, eines bürokratischen Monsters zwecks Risikoausgleichs zwischen den einzelnen Kassen, um 7,2 Milliarden abgebaut und der Zusatzbeitrag stieg von 1,36 auf 1,51 % (2,5 Milliarden).

Der GKV-Spitzenverband favorisiert eine Neuausrichtung der Krankenhausversorgung und fordert eine Verminderung der Klinikanzahl um 400 auf 1.250. Dabei wurden seit Einführung der Fallpauschalen (DRGs) 2004 ein Viertel aller Kinderkliniken geschlossen, 40 % Betten abgebaut, obwohl die Zahl der Kinder in Deutschland von 9,8 Millionen 2013 auf 10,9 Millionen 2022 zugenommen hat. Bis 2025 wird ein Viertel der Kinderärzt:innen in den Ruhestand gehen.

Ursachen

Bei Fortschreibung der Ertragsabschlüsse von 2021 bis 2023 droht bereits dieses Jahr 18 % der Krankenhäusern die Insolvenz, 2030 44 %. Ende diesen Jahres schrieben dann 47 % keine schwarzen Zahlen, 2030 58 %. Seit Beginn der Pandemie haben sie insgesamt 13 % weniger Patient:innen. Im Jahr 2021 waren die 437.000 Betten der Allgemeinkrankenhäuser nur zu 66 % ausgelastet. Der Krankenhaus-Rating-Report fordert denn auch einen Abbau auf 310.000 Betten, 1.165 Einrichtungen würden ausreichen. Diese Berechnung bleibt also noch unter der Zahl des GKV-Spitzenverbands.

Zudem wird es im Gegensatz zu akuten Pandemiezeiten keinen staatlichen Rettungsschirm mehr geben. 20 % der noch stationär erbrachten Leistungen könnten künftig ambulant erfolgen, so der Report. Doch die Hoheit über den stationären Sektor liegt bei den Ländern. Baden-Württemberg und Bayern verzeichnen mit 40 % den höchsten Anteil von Häusern mit Verlusten. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) verlangt ein Vorschaltgesetz zum Inflationsausgleich. Die Erlössteigerungen von insgesamt 6,5 % für 2022 und 2023 seien bei Preissteigerungen um 17 % unzureichend. Monat für Monat verschuldeten sich die Häuser um weitere 600 Millionen Euro.

Kernpunkte der Reform stoßen auf Widerstand

Dazu zählen 1. eine Änderung des Vergütungssystems, 2. Neuordnung mit Versorgungsstufen, 3. Einführung von Leistungsgruppen. Spezialisierung und Konzentration werden hierbei mit Qualitätsverbesserung gleichgesetzt. Bei ausbleibender Reform wird eine Rationierung von Leistungen befürchtet.

Am 29. Juni 2023 erzielte die Bund-Länder-Runde keine Einigung. Die Länder blockierten eine einheitliche Regelung der Level (Versorgungsstufen) und schrieben weitere Ausnahmen zu den vorgesehenen Leistungsgruppen fest. Die DKG schätzt die finanziellen Belastungen infolge Kapazitätsverlagerungen, Fusionen und Neubauten auf einen Betrag zwischen 24 und 50 Milliarden Euro. Lauterbach verweigerte sich dem Ansinnen des Vorschaltgesetzes. Auch die Bundesländer hätten keine Möglichkeit, hier finanzielle Unterstützung zu leisten. Einzig das Konzept der Vorhaltepauschalen, die die Abrechnung nach DRGs aufweichen sollen, traf auf Zustimmung.

Am 29. Juni blieb von der Verpflichtung zur Einteilung in verschiedene Level lediglich ihr Charakter als Empfehlung über. Der Bund will aber im Rahmen einer sog. Transparenzoffensive eine Qualitätsbewertung der Kliniken offenlegen mit Daten zu Komplikationsraten, Fallzahlen, Facharztdichte und Pflegepersonalausstattung.

Vorhaltekosten, die unabhängig, ob Patient:innen behandelt werden, entstehen, sollen je nach Leistungsgruppe ermittelt werden. In der Übergangszeit wird ihr Anteil je nach Leistungsgruppe auf zwischen 20 und 40 % festgesetzt und für die vereinbarte Fallzahl dem Krankenhaus ausbezahlt unabhängig davon, ob diese auch erreicht wurde. Jede Fallpauschalenabrechnung wird um diesen Anteil gekürzt.

Ökonomisierung geht weiter

Eine Revolution sucht man in diesem Regelwerk vergebens. Die Reform soll budgetneutral gestaltet sein, also nichts kosten. Der Warencharakter der Behandlung bleibt erhalten, weil die Abrechnung über DRGs weiter erfolgt, wenn auch mit Abschlägen. Die tatsächlichen Vorhaltekosten werden nicht refinanziert, sondern als auf Fallzahlen bezogene Pauschalen erstattet. Eine zweckgebundene Verwendung ist nicht vorgeschrieben, so dass sie als Gewinne ausgeschüttet werden können.

Die um ihr wirtschaftliches Überleben ringenden Einrichtungen werden die Reform gar nicht erleben oder sie wird ihnen nicht helfen, da sie budgetneutral umgesetzt werden soll. Während niemand auf die Idee käme, die Feuerwehr für ihre Löscheinsätze zu bezahlen oder Gewinne zu erwarten, ist das beim stationären Sektor grundsätzlich anders. Letztlich bleibt für viele Häuser nur die Wahl zwischen kaltem oder reguliertem Strukturwandel, Sterben vor der oder durch die Reform.

Einigung

Am Montag, den 10. Juli 2023, erfolgte dann doch noch rechtzeitig zur Parlamentssommerpause die Einigung zu den Eckpunkten einer zukünftigen Krankenhausreform zwischen Bund und Ländern mit einer Gegenstimme aus Bayern und einer Enthaltung aus Schleswig-Holstein. Somit kann Lauterbachs Hoffnung aufgehen, das Gesetz nach den Lesungen in beiden Kammern zum 1. Januar 2024 in Kraft treten zu lassen. Die Veröffentlichung der Qualitätsdaten je Haus soll die Länder zum Handeln zwingen. Diese können entscheiden, ob sie 2025 oder 2026 in die Umsetzung gehen. Die Länder können als Plus verbuchen, dass sie bei der Definition von Leistungsgruppen mitwirken können und ihnen ihre jahrelange Unterfinanzierung der Investitionskosten nicht vorgehalten wird, die dazu geführt hat, dass die Kliniken auf Kosten von Personal und Patient:innen zum Ausgleich gezwungen wurden, mit noch mehr Fällen mehr Geld zu verdienen. Der Bund kreidet sich als Plus an, dass es kein zusätzliches Geld geben wird.

Lauterbach wurde nicht müde zu betonen, dass die Reform eine „Existenzgarantie für kleine Kliniken auf dem Land“ bedeute. Die „Revolution“ der Vorhaltepauschalen – der Minister sprach sogar von 60 % – ermögliche das. Es ist genau umgekehrt: Sie erhalten nur Kliniken, die entsprechende Qualitätskriterien bzgl. Ausstattung, Personal und Behandlungserfahrungen – sprich hohen Fallpauschalen – erfüllten. Sie nutzen also v. a. den Versorgungsstufen II und höher, je höher desto mehr – und der Volksverdummung durch den Bundesgesundheitsschwätzer!

Über den Sommer soll nun eine Arbeitsgruppe mit Vertreter:innen des Bundes sowie aus dem SPD-geführten Hamburg, dem grünen Baden-Württemberg, dem CDU-regierten Nordrhein-Westfalen und dem rot-roten Mecklenburg-Vorpommern ein Gesetz entwerfen. Nach Beschluss durch Bundestag und Bundesrat bis zum Jahresende soll es 2024 und 2025 in entsprechende Landesgesetze gegossen und jeweils ein Jahr später mit der Umsetzung begonnen werden.

Aufkommende Skepsis

DKG-Vorstand Gerald Gaß bemängelte, kaum waren die Eckpunkte festgezurrt, die vielen Prüfaufträge und Auswertungsanalysen, die noch realisiert werden müssten. Er fürchtete, die Mehrfachdokumentationspflicht werde durch die Vorhaltepauschalen noch größer. Zu den regionalen Gesundheitszentren gebe es keine genauen Vorstellungen. Ein Gerangel über die Zuständigkeiten sei zwischen Bundesländern und Kassenärztlichen Vereinigungen zu erwarten. Unklar bleibe auch, wer in welchem Umfang den Transformationsfonds finanzieren solle, klar indes, dass Konsens herrsche, dass vor der Reform Standorte verlorengehen würden, denn die Erlöse hinkten hinter den Kostensteigerungen (Inflation!) her. Ein Vorschaltgesetz sei ja dezidiert abgelehnt worden. Ins gleiche Horn tutete der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags Helmut Dedy. Zwar wollten einige Bundesländer ihre vernachlässigten Investitionen aufstocken, doch schon jetzt seien Finanzierungsprobleme mit Händen zu greifen. Laut Minister Lucha (Baden-Württemberg) erkennt die dortige GKV die Tarifsteigerungen in der Psychiatrie nicht an.

Im Gegenzug kritisierten die gesetzlichen Krankenkassen Pläne von Bund und Ländern, mit Zuschlägen für einzelne Leistungsgruppen in ihre Taschen zu greifen. Die Vorsitzende der Ärzt:innengewerkschaft Marburger Bund, Susanne Johna, wies darauf hin, schon die Zusammenlegung von Abteilungen und Umbauten seien nicht zum Nulltarif zu haben. Dem Deutschen Pflegerat fehlt eine jetzt gebotene neue Kompetenzverteilung der Gesundheitsfachberufe, sprich ein Bedeutungszuwachs für die Pflege.

Kritik der Linkspartei

„Integrierte Versorgung statt Kahlschlag in der Krankenhauslandschaft“ lautet ein 14-seitiges Konzept, das u. a. von den Bundestagsabgeordneten Kathrin Vogler und Ates Gürpinar sowie gesundheitspolitischen Sprecher:innen aus 8 Bundesländern erarbeitet wurde. Hintergrund sei die „Zurückdrängung“ von Profit und Kostendruck. Auch der Linksreformismus verschreibt sich also fruchtloser Sisyphusarbeit als Transformationsstrategie, als sei die zentrale Akkumulationsdynamik unterm Kapitalismus eine lässliche Option. Parteivorsitzende Janine Wissler beschwichtigte gleich die bürgerliche Öffentlichkeit. Man habe es, versichert sie, nicht auf die Enteignung privater Kliniken abgesehen, sondern um einen rechtlich sicheren Weg zur Entprivatisierungs- und Rekommunalisierungsoffensive. Hauptsache legal und dem Kapital nichts gestohlen, so ist der Weg zum Sozialismus für die Genossin zwar verbaut, aber „rechtlich sicher“. Solche Worte erinnern an den Tenor sämtlicher „Sozialisierungs“- und DWE-&-Co.-Expert:innenkommissionen zur Verschleppung und Verhinderung der Enteignung.

Statt Fallpauschalen Erstattung der tatsächlichen Kosten und Ausgleich der Defizite durch die öffentliche Hand. Der Stein der Weisen ist das nicht! Vor der Einführung der DRGs erstatteten die Krankenkassen nicht die tatsächlichen Kosten, sondern zurrten in zähen Verhandlungen das Budget mit jeder einzelnen Klinik fest. Und warum soll die öffentliche Hand das finanzieren statt durch eine Reichensteuer?

Ferner bemängelt DIE LINKE die fehlende Finanzierung, auch der Investitionskosten durch die Länder und warnt vor der Existenzgefahr für viele Häuser – vor der Reform wie durch sie selbst. In der Hauptstadt könnte von 60 nur die Hälfte übrigbleiben. Schon jetzt erhielten manche keine Kredite mehr und Fachkräfte bewerben sich nicht bei kleinen Einrichtungen. Die Auswahl der Reformberater:innen durch den Bundesgesundheitsminister sei undemokratisch. Patient:innen- und Beschäftigtenvertretungen fehlten, Arbeitsbedingungen stünden nicht zur Debatte. Als künftiges Rückgrat einer wohnortnahen und integrierten Gesundheitsversorgung empfiehlt DIE LINKE Versorgungszentren in kommunaler Trägerschaft mit ambulanten, stationären und notfallmedizinischen Leistungen aus einer Hand und Anbindung an Krankenhäuser höherer Versorgungsstufen. Zu einer Rettungsstelle dürften höchstens 30 Fahrminuten liegen. Dass diesem richtigen Vorschlag zur Einebnung der Unterschiede zwischen ambulantem und stationärem Sektor seitens der niedergelassenen Ärzt:innenschaft erbitterter Widerstand entgegenschlagen wird, darauf sollte sich die Linkspartei allerdings einstellen. Sie will nach der Reform wegfallende Häuser entweder mit Zuschüssen erhalten (von wem?) oder in medizinische Versorgungszentren nach skandinavischem Vorbild (mit Gemeindepflegekräften) umgewandelt sehen.

Bei aller Kritik ist dieses Konzept doch der Kritik am Strohhalm im Auge der Reform überlegen und in etlichen Punkten unterstützenswert.

Gemeingut in Bürger:innenhand (GiB)

Wesentlich härter als DIE LINKE geht GiB mit der geplanten Reform ins Gericht. Eine Analyse des Bundesgesundheitsministeriums selbst (!) bestätigt, dass demnach 40 % keine stationäre Allgemein- und Notfallversorgung anbieten, weil sie entweder zu ambulanten Gesundheitszentren oder reinen Fachkliniken „abgestuft“ werden. Die lautstarke Opposition der Länder sei lediglich Symbolpolitik. Klaus Holetschek (Gesundheitsminister Bayerns, CSU) habe gegen die Eckpunkte gestimmt, weil Lauterbachs Versorgungsstufen (Level) das Angebot in der Fläche reduzierten. Das tun aber auch die von ihm favorisierten Leistungsgruppen. Die Landesregierungen, die seit Jahren gesetzlich vorgeschriebene Investitionsmittel zurückhielten, könnten diese nun im Zuge des Reformkahlschlags ganz legal einsparen. Durch geplante Umwandlungen und Schließungen seien weit über 100.000 Stellen betroffen, es drohten weitere Wege zum Arbeitsplatz, noch mehr Bürokratie und Arbeitsverdichtung und der Verlust von Ausbildungsplätzen. Über das Programm der LINKEN hinaus fordert die Bürger:innenbewegung Renditeverbot und in 30 Minuten erreichbare Allgemeinkrankenhäuser mit mindestens den Abteilungen Chirurgie, Innere Medizin, Gynäkologie, Geburtshilfe, Intensivmedizin und Basisnotfallversorgung.

Lauterbach sei es gelungen, sein Prinzip von der Verwaltung des Mangels durchzusetzen. Zuvor hatte er in den Haushaltsberatungen so viele Kürzungen geschluckt wie kein anderes Ressort. Zum ganzen Prozedere passe auch die neue Richtlinie zur Ersteinschätzung in der ambulanten Notfallversorgung, wonach künftig in Rettungsstellen Patient:innen ohne ärztliche Begutachtung abgewiesen werden dürften. Die Einschätzung, Klinikschließungen könnten dem Markt mehr Personal zur Verfügung stellen und Geld für die Behandlungen sparen, weist GiB als Legende zurück. Werden an anderer Stelle mehr Patient:innen behandelt, braucht man dort auch mehr Personal. Viele Beschäftigte wollten aber gar nicht wechseln und bei größeren Konzentrationsprozessen dem Beruf den Rücken kehren. Auch Maximalversorger würden pro Bett mindestens die gleichen Summen brauchen.

Dem Fazit der GiB ist Recht zu geben: „Bis 2026 werden wir ein regelloses Sterben unter den 60 Prozent der Kliniken erleben, die seit Jahren rote Zahlen schreiben. Mit Inkrafttreten der Reform kommt die Phase des geregelten Kliniksterbens – dann steuert der Bund die Schließungen über seine Qualitätsvorgaben, die festlegen, dass kleine Krankenhäuser zumachen und ihr Personal an Großkliniken abgeben müssen.“ (GiB-Infobriefe 1.6.2023 und 13.7.2023)

Kliniksterben in zwei Stufen eben!

Gegenwehr und Forderungen

Doch weder DIE LINKE noch GiB gehen über mehr oder weniger richtige Vorschläge, Lobbyismus und Parlamentarismus hinaus.

Forderungen wie Gemeineigentum unter demokratischer Verwaltung verklären dagegen sowohl den bürgerlichen Staat wie seine Demokratie. Sie umgehen nicht nur die Frage der entschädigungslosen Enteignung bei der Wiederverstaatlichung der privaten Klinikketten, sondern suggerieren, staatskapitalistisches Eigentum sei schon Vergesellschaftung (Gemeineigentum). Der staatliche und frei-gemeinnützige Krankenhaussektor hinderte die herrschende Klasse in der BRD in der Vergangenheit ja nicht an umfangreichen Kostendämpfungsprogrammen, die schließlich über zahlreiche Stufen zur immer mehr gesteigerten Umwandlung in die heutige weiße Fabrik geführt haben und weiter führen werden.

Dagegen können nur Klassenkampfmethoden bis hin zum Generalstreik den geplanten Kahlschlag wirksam verhindern!

Erste Ansprechpartnerin dafür sollte die Krankenhausbewegung sein, von der der Startschuss dafür auf einer Strategiekonferenz gegen Krankenhausumstrukturierungen fallen muss. Schließlich hat sie für Entlastung zumindest teilweise erfolgreich bekämpft und sollte eine solche „Lösung“ der Personalknappheit unbeugsam bekämpfen.

Doch reicht ein Tarifvertrag dafür nicht. Auf Regierungskommission, ja selbst auf skeptische Bundesländer und DKG dürfen wir uns nicht verlassen! Die Arbeiter:innenbewegung braucht ihre eigene politische Gegenmacht in Gestalt von Kontrollräten über das gesamte Gesundheitswesen einschließlich seiner Finanzierung durch Progressivsteuern und gesetzliche Sozialversicherungspflicht für alle unter Kontrolle von Gewerkschaften, Beschäftigten und Patient:innen, um den Weg zu seiner nachhaltigen, integrierten, letztendlichen sozialistischen Umgestaltung einschlagen zu können.




GDL – Genossenschaft Deutscher Lokomotivführer?

Leo Drais, Infomail 1226, 12. Juni 2023

Die Führung der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL, Eigenschreibweise nicht gegendert) hat am 5. Juni an einem selbstverkündeten „Großen Tag“ ihre Forderungen für die Tarifrunde mit allen Unternehmen für 2023 präsentiert.

Mit viel Applaus wurden die „Fünf für Fünf“ aufgenommen: 555 Euro mehr in der Tabelle, darunter deutliche Entgelterhöhung für Azubis; Zulagen + 25 %; 35 Stunden-Woche für Schichtarbeitende (inkl. Wahlrecht für Beschäftigte zwischen 40- und 35- Stundenwoche); Inflationsausgleichsprämie 3.000 Euro; 5-Schichten-Woche, 5 % Arbeit„geber“:innenanteil für die betriebliche Altersversorgung; nach 5 Schichten, spätestens nach 120 Stunden muss der nächste Ruhetag beginnen (Mindestfrei: 48 Stunden); 12 Monate Laufzeit.

Neben diesen Forderungen gab es dann noch eine Überraschung. Die GDL hat zum Juni 2023 eine eigene Genossenschaft eintragen lassen, die als Leiharbeitsfirma zunächst Triebfahrzeugführer:innen für den Eisenbahnmarkt stellen will. Mitglied werden kann nur, wer in der GDL ist. Die Konditionen sollen dabei den Forderungen der GDL entsprechen.

Fair Train e. G.

Die Gründung der Genossenschaft Fair Train kommt nicht ungefähr. Sie ist eine versuchte doppelte Kampfansage: Sowohl an gewisse Eisenbahnunternehmen –  allen voran den „roten Riesen“ DB – aber auch in Richtung der Konkurrenzgewerkschaft EVG.

Bereits im Vorfeld sollen Gespräche über Fair Train gelaufen sein – natürlich nicht mit der Mitgliedschaft, die mehr oder weniger vor den Kopf gestoßen war, sondern mit den sogenannten Wettbewerbsbahnen, also Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU), die nicht im Eigentum des Bundes sind (sog. NE-Bahnen). Man muss ja als gute, als bessere Sozialpartnerin erstmal abchecken, ob der Sozialpartner Kapital überhaupt Interesse an den verliehenen Kolleg:innen hat.

Anscheinend gibt es dieses Interesse – und warum auch nicht. Insbesondere im Güterverkehr würde über Leiharbeit für die Unternehmen ein Risiko genommen werden, nämlich wenn man z. B. im Falle einer Wirtschaftskrise und abbestellter Güterzüge das lästige Personal an der Backe hat. Neben dem rollenden Material (das auch oft genug geleast ist oder gemietet) wäre man dann einen anderen laufenden Kostenfaktor los und man könnte sich ganz aufs Kerngeschäft, also Geld Verdienen, konzentrieren.

Den begünstigenden Rahmen für Fair Train stellen dabei im Gegensatz zum Fernverkehr auf der Straße zwei Faktoren da. Erstens ist, auch wenn der Eisenbahnmarkt europaweit liberalisiert ist, das Bahngeschäft nach wie vor ein vor allem nationales Ding. Während auf deutschen Autobahnen als Folge der EU-Osterweiterung sehr viele Fahrer:innen aus osteuropäischen Ländern unterwegs sind und es einen gnadenlosen Preiskampf nach unten gibt (ausgetragen u. a. über Lohnkosten, schlechte Arbeitsbedingungen usw.), fahren auf deutschen Gleisen in den allermeisten Fällen nach wie vor deutsche Lokführer:innen. Denn während die Sprache für das Fahren eines LKW quasi egal ist und die Straßenverkehrsregeln auch weitestgehend gleich sind, ist der Bahnbetrieb etwas, das zwingend die Landessprache voraussetzt sowie eine besondere Qualifikation, im jeweiligen Land Züge bewegen zu dürfen. Das begrenzt von vornherein natürlich den Arbeitskräftemarkt enorm, der – und das ist der zweite Aspekt – weitgehend leergefegt ist.

Das führt uns zum Kalkül der GDL-Chef:innen. Wenn ausreichend viele Lokführer:innen zu Fair Train wechseln, dann könnte sich die GDL zumindest für das Lokpersonal die Tarifverhandlungen sparen, sondern dem Markt einfach die eigenen Konditionen aufdrücken. Weit davon entfernt, diese Größe zu haben, werden die nächsten ein, zwei Jahre zeigen, ob die e. G. by GDL ein Experiment oder mehr ist.

Politisch falsch und fatal ist sie schon jetzt.

Kampf statt Markt

Die Idee, sich durch den Zusammenschluss zu einer Genossenschaft dem Gewitter des Marktes, also dem Druck der Kapitalist:innen zu entziehen, ist nicht neu. Gewisse Überbleibsel gibt es davon bis heute, etwa in Form von Wohnungsbaugenossenschaften, Volksbanken oder der Raiffeisensparkasse. Auch Produktionsgenossenschaften oder eine Art Arbeiter:innenselbstverwaltung sind nicht neu.

Für die Arbeiter:innenklasse birgt diese Strategie, Wettbewerb durch Wettbewerb zu ersetzen, mehrere problematische Aspekte:

  • Das Geschäftsrisiko der Kapitalist:innen wird automatisch zu unserem. Haben wir als Beschäftigte z. B. der Deutschen Bahn in Krisensituationen immer noch die Möglichkeit, die Kosten der Krise dem Konzern aufzudrücken (im Endeffekt kommt unser Lohn selbst in dem maroden Cargo-Laden immer noch pünktlich), gibt es diese Möglichkeit für Beschäftigte einer Leiharbeitsgenossenschaft nicht. Der Kunde bestellt die Dienstleistung ab und fertig.
  • Sollte Fair Train keine marktrelevante Stellung einnehmen, kann es sehr schnell in einen Preiskampf mit anderen Personaldienstleister:innen geraten. Die Mitglieder der Genossenschaft werden zu Selbstausbeuter:innen. Ökonomisch exakt betrachtet, sind sie es von vorneherein. Im Endeffekt muss hier auf einen Nachfrageüberhang für Arbeitskräfte spekuliert werden.
  • Nicht zuletzt bedeutet der Schwenk von der Gewerkschaft zur Genossenschaft auch nicht, einer Arbeiter:innenselbstverwaltung näherzukommen. Im Gegenteil wird hier wie in allen Genossenschaften zwar einmal im Jahr zur regulären Mitgliederversammlung geladen werden, die wirtschaftlichen Geschicke der Firma liegen aber ganz in den Händen einer intransparenten und nicht wählbaren Führung.
  • Die Genossenschaft wird also nicht nur einem Zentralisierungs- und Bürokratisierungsprozess unterzogen, sie fungiert vor allem als Kapital. Die GDL wandelt sich, je nach Erfolg der Unternehmung, von einer Gewerkschaft zu einer weiteren Zeitarbeitsfirma. Die Genossenschafter:innen mit einem hohen Anteil entwickeln sich entweder selbst zu Leuten, die vom Gewinn ihrer Unternehmung leben wollen. Die Genossenschafter:innen mit geringen Anteilen, die weiter als Lokführer:innen ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, geraten in eine widersprüchliche Klassenposition – und das umso mehr, je höher ihr Anteil an der Genossenschaft ist.

Dass die Führung der Unternehmung intrasparent, nicht wählbar sein und gemäß dem Diktat des Marktes agieren wird müssen, bringt uns zurück zur aktuellen Situation. Einerseits befindet sich die GDL dank Tarifeinheitsgesetz z. B. bei der Deutschen Bahn AG in Konkurrenz zur Gewerkschaft EVG (über die man am „Großen Tag“ in populistischer Manier gepfeffert herzog, als sei sie die eigentliche Feindin, und wenn man sich den Eisenbahnbossen schon mit einer Leiharbeitsfirma andient, ist an dieser Vermutung vielleicht auch was dran – kampfstarke Streikgewerkschaft hin oder her), die bei der DB abgesehen vom Zugpersonal die Mitgliedermehrheiten innehat. Daher auch das Eintreten der GDL-Führung und Claus Weselskys für die Zerschlagung der DB. Für eine weitere Liberalisierung des Eisenbahnmarktes stünde die GDL dann schon mit Fair Train in den Startlöchern, ganz nach dem Motto: Egal, welches Unternehmen den Zug besitzen, mieten oder fahren lassen will: Wir stellen das Personal.

Dem was wir, auch aus Sicht einer Verkehrswende, brauchen, bringt uns das nicht näher. Anstatt einer Genossenschaft, wo sich die Eisenbahner:innen zusammenfinden sollen gegen einen durchliberalisierten Markt oder einen Managementselbstbedienungsladen DB, braucht es eine einzige staatliche Bahn, die wir als Eisenbahner:innen in Verbindung mit den lohnabhängigen Kund:innen demokratisch kontrollieren. Denn Eisenbahn können wir besser als „die da oben“ – sitzen sie im Bahntower, auf der Bühne oder uns gegenüber. Sie wollen alle nur das Beste für uns, Herr Seiler, Herr Weselsky und Herr Burkert – und doch sind sie die Fortsetzung einer eisenbahnzerstörenden Geschichte.




Deutsche Bahn: Zwischen Tarifkämpfen und Umstrukturierung

Leo Drais, Neue Internationale 274, Juni 2023

An sich kann so ein Eisenbahnsystem eine feine Sache sein, das Rückgrat einer umfassenden Verkehrswende, überall auf dem Kontinent in einem stabilen Netz mit hoher Taktung und für alle da.

Züge werden sicher auf einem Gleis geführt. Eine ganze Reihe an funktionierenden Sicherungssystemen wie Stellwerken oder Zugbeeinflussungen sorgt dafür, dass keine Kollisionen passieren und Weichen und Bahnübergänge sicher befahren werden können. Geschehen einmal menschliche Fehler, greift die Technik ein. Ein gut ausgebildetes Eisenbahnpersonal weiß mit Störungen souverän umzugehen, hat dafür ein widerspruchsfreies und anwendungsorientiertes Regelwerk zur Hand und ist für Reisende überall mit Rat und Tat da.

So faszinierend wie ausgereift.

Und dann noch der bestechende Vorteil in der Klimabilanz. Das System wird flächendeckend mit Strom aus erneuerbaren Energien durch eine Oberleitung versorgt und muss seine Energie daher nicht mitführen. Beim Bremsen wird eine große Menge Strom zurückgespeist, wobei der Energieverbrauch pro Tonne sowieso schon viel geringer als bei Straßenfahrzeugen ist. Durch die geringe Reibung zwischen Stahlrad und Schiene kann ein durchschnittlicher erwachsener Mensch eine 80 Tonnen schwere Lok im ebenen Gleis von Hand verschieben.

Die schöne Welt der Eisenbahn.

Nur, so ist sie nicht.

Sinnbildliche Entgleisung

In der deutschen Bahnwelt ist das alles höchstens teilweise vorhanden, wenn überhaupt. Verspätungen und Ausfälle kennen alle. Weniger bekannt ist, was die Ursachen dafür sind. „Gründe dafür sind Verzögerungen im Betriebsablauf“, eine euphemistische Tautologie, eine schöngerechnete Statistik, ausgefallene Züge gelten nicht als verspätet. Der Streik der EVG Ende März bedeutete für DB Fernverkehr den pünktlichsten Tag seiner Geschichte – wo kein einziger Zug fährt, kann doch im DB-Neusprech auch keiner verspätet gewesen sein?

Die Verzögerung ist doch nicht anderes als eine synonyme Verspätung, aber warum gibt es sie? Da sind die Gleise, die nicht mehr vorhanden sind oder nur noch eingeschränkt befahren werden können. Da sind die Züge, die kaputt sind, ohne Ersatz. Da ist das Personal, das es nicht gibt. Aber auch das sind ja Symptome, keine Ursachen einer privatwirtschaftlich ausgerichteten Bahn im Staatsbesitz. So bleibt man gerade auf einem durchschnittlich soeben noch erträglichen Level, dort festgehalten von Kolleg:innen, die trotz literweise Eisenbahnherzblut die Schnauze voll haben und sich sagen „So geht es nicht weiter!“, und am nächsten Tag geht es doch weiter, irgendwie, vielleicht sogar mal zufällig ganz nach Plan. Der Zusammenbruch des Bahnbetriebs droht nicht an einem Tag X in der nahen Zukunft, er findet täglich statt, mal nur punktuell, dann regional und beim nächsten Herbststurm mal wieder flächendeckend.

Dass es so nicht weitergehen darf, dieser Meinung sind auch FDP, CDU und Grüne. Sie meinen, die Fehler der ersten Bahnreform von 1994 erkannt zu haben und fordern schon länger eine Bahnreform 2.0. Was die SPD im Koalitionsvertrag noch durch Verklausulierung abtun wollte, wurde im April von der Union mit einem Reformpapier wieder in die Debatte getragen. Leider darf man nicht darauf hoffen, dass die Bestrebungen im Bundestag wie alle anderen Absichtserklärungen zu einer besseren Bahn im Tagesgeschäft von Parlament und Autoministerium untergehen. Es scheint, als würde die Bahn ab 1. Januar wirklich von allen Problemen befreit – InfraGo!

Die Ideen der Union einerseits und von FDP und Grünen in der Ampel andererseits sind nicht deckungsgleich, aber teilen eine gemeinsame Motivation: die weitere Trennung von Netz und Betrieb, eine Losung, die bereits bahntechnische Ahnungslosigkeit, dafür politischen Neoliberalismus offenbart.

Das Rad-Schiene-System ist eines, wo kurz gesagt im Zug Triebfahrzeugführer:innen sitzen und diesen fahren und vom Stellwerk aus Fahrdienstleiter:innen diesen lenken. Beide gestalten Bahnbetrieb, netz- und fahrzeugseitig. Kein anderes Transportsystem verfügt über eine innigere Verbindung zwischen Fahrweg und Fahrzeug. Allein schon deshalb ist beide voneinander zu trennen nichts anderes als eine sinnbildliche Entgleisung.

Aber aus neoliberaler Sicht macht diese seit Jahrzehnten Sinn. Denn während es (Großbritannien hat es vorgemacht) kaum möglich ist, die sehr aufwendige und komplexe Fahrweginfrastruktur gewinnbringend zu privatisieren, ohne dass sie binnen kürzester Zeit wirklich unbefahrbar wird, ist das mit Fahrzeugen eher möglich. Immerhin operieren sich gegenseitig im Weg stehend in Deutschland mittlerweile 400 sogenannte Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) auf den Gleisen der bundeseigenen DB Netz AG, wobei hinter vielen dieser EVU auch nur große Monopole oder Töchter anderer europäischer Staatsbahnen stehen.

KaputtGo

Die Ampel sieht vor, ab dem 1. Januar 2024 die Infrastruktursparten DB Netz und DB Service und Station zusammenzuführen – Name: InfraGo, „Infrastruktur gemeinwohlorientiert“, ein Ansatz der im Gegensatz zum Begriff der Gemeinnützigkeit zu nichts verpflichtet.

Das ist sicher sinnhaft, immerhin ist die Trennung zwischen Bahnsteigkante (DB Service und Station) und Gleis (DB Netz) eine Lücke, die Reisende beim Einstieg in den Zug (der dann DB Regio oder Abellio oder Transdev  oder … gehört) zwar mühelos überschreiten, aber innerbetrieblich mitunter unüberwindbar scheint. Diese Infrastruktursparte, zu der DB Energie wiederum nicht gehören soll, obwohl ein Zug so wenig ohne Strom oder Diesel fahren kann wie ohne Gleis, soll zu 100 Prozent im „integrierten DB-Konzern“ verbleiben.

Aber was steht sonst noch im Koalitionsvertrag? Man wolle die DB in öffentlicher Hand weiterführen, man wolle die Struktur und Transparenz verbessern, die Infrastruktursparte dürfe ihre Gewinne behalten, und man beabsichtige, mehr in letztere zu investieren. Außerdem würden die EVU markt- und gewinnorientiert weitergeführt.

Diese Klauseln lassen viel Spielraum. Klar ist jedoch, dass man zwischen einem „Weiter so“, einem „Irgendwie muss es besser werden“ und einem „Da lässt sich doch Geld mit verdienen“ liegt. Am grundlegenden Gedanken – der Staat pumpt Steuergeld in die Infrastruktur, die EVU fahren auf dieser, unterbieten sich und verdienen Geld, das auf Kosten der Reisenden und Beschäftigten in privater Hand (oder der anderer DB-Unternehmen oder Staatsbahnen) landet – wird nichts geändert. Letzteres ist in den vergangenen Jahren im Nahverkehr wiederholt in die Hose gegangen, Stichwort Abellio Baden-Württemberg.

Darüber hinaus lassen die Ideen der Ampel die Tür zu einer Teilprivatisierung anderer DB-Teile außerhalb der Infrastruktur offen, schließen dafür die, durch die von staatlicher Seite her Investitionen ins rollende Material (bspw in eine große europäische Nachtzugflotte) stattfinden sollten.

Die Pläne der Union laufen demgegenüber auf eine offenere Zerschlagung hinaus. Sie will eine Autobahn-GmbH 2.0, sprich die Schieneninfrastruktur in eine GmbH des Bundes überführen. Scheuer weiß eben, wie es geht. Begründet wird dies damit, dass bei einer AG wie der DB der Durchgriff der Eigentümerin ins Geschäft des Konzerns fehle, eine GmbH ermögliche diesen. Der DB-Konzern solle weiterhin ein international tätiger Logistikkonzern bleiben – immerhin ist DB Schenker die Profitperle von dem Laden, der außerdem „im Hinblick auf China“ stark bleiben müsse.

Weder der eine noch der andere Plan wird uns ein Eisenbahnsystem bringen, das dem beschriebenen Verkehrswendetraum aus der Einleitung näher kommt. Weder InfraGo im DB-Konzern, noch eine bundeseigene Schienen-GmbH ändern etwas an den neoliberalen strukturellen Problemen, nichts daran, dass beim gegenwärtigen Planungsrecht und Investitionsstau der Ausbau der Oberleitung noch 175 Jahre dauert, bis das gesamte Netz elektrisch fährt. Es ändert nichts daran, dass das, was 30 Jahre lang zerstört, runtergefahren und entlassen wurde, unter kapitalistischen Bedingungen nicht in ein, zwei Jahren repariert, ausgebaut, eingestellt, ausgebildet ist. Es verkleinert nicht den Managementwasserkopf auf das gesamte Bahnsystem hin betrachtet, wo jedes Unternehmen natürlich seinen eigenen hat. Es ändert nichts an der politischen Bevorzugung der Straße gegenüber der Schiene. Deutschland – Autoland, passend waren die Ex-Chefs der DB Mehdorn und Grube Zöglinge der Autoindustrie, und keiner von beiden hatte vergessen, wer ihn groß gemacht hat.

Und es bleibt vermutlich dabei, dass die Schweiz 5 – 6 mal mehr pro Kopf in die Schiene steckt als die BRD.

Und die Gewerkschaften?

Die unterschiedliche bahnpolitische Ausrichtung von Union und Ampel findet ihren Spiegel in den Gewerkschaften EVG und GDL und passt „zufälligerweise“ zum Parteibuch ihrer Vorsitzenden.

Die „Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer“ (GDL) mit ihrem großen Vorsitzenden Claus Weselsky (CDU) steht für eine Zerlegung des DB-Konzerns, die „Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft“ (EVG) mit dem ehemaligen SPD Bundestagsabgeordneten Martin Burkert an der Spitze der Bürokratie will die DB behalten.

Hinter beidem steht ein politisches Kalkül der jeweiligen und konkurrierenden Apparate. Die DGB-Gewerkschaft EVG ist historisch eng mit dem DB-Konzern verflochten. Der frühere Vorsitzende der Vorgängerin Transnet, Norbert Hansen, ist damals dann auch mir nichts, dir nichts vom Vorstand der Gewerkschaft in den des Konzerns gewechselt. Viele ihrer Mitglieder arbeiten in Büroetagen der DB AG und es ist vor allem dieser Konzern, wo die EVG insgesamt eine Mitgliedermehrheit gegenüber der GDL hat. Zudem gibt es wohl hunderte EVG-Betriebsräte, die ihr Pöstchen eben in einem der vielen DB-Wahlbetriebe besetzen, wo die GDL bisher nicht gut ihren Fuß reinbekommen hat. Logisch, dass da im Apparat die Alarmglocken schrillten, als die FDP und Grünen während der Koalitionsverhandlungen mit ihren Zerschlagungsplänen um die Ecke kamen. Es wurde eine Demo in Berlin organisiert, und die mit dem EVG-Apparat verbundene SPD setzte die oben beschriebenen Klauseln durch. Hauptsache, erstmal regieren! Jetzt machen ihre Koalitionär:innen Ernst und es hängt tatsächlich an der SPD, ob und in welcher Form InfraGo kommt.

Die GDL (Mitglied im historisch konservativen Beamtenbund) rechnet dafür darauf, dass eine Zerschlagung der DB ihren Einfluss im Eisenbahnsektor unterm Strich vergrößern würde. Sie ist in der DB vor allem in Opposition zur EVG und hierin durch härter geführte Tarifkämpfe und ein verbal lauteres Donnerwetter groß geworden. Die von der Transnet Verratenen fanden eine Alternativgewerkschaft, die seither vieles durchsetzten konnte, was die EVG dann nachgetragen bekam. Trotzdem – und hier kommt das von Burkert und SPD mit gebaute und verabschiedete Tarifeinheitsgesetz ins Spiel – hat in vielen der DB-Unternehmen die EVG die Mehrheit oder ihr wurde sie zweifelhaft zugesprochen (S-Bahn Berlin). Heißt: Der Tarifvertrag der EVG gilt, nicht der der GDL. Und es ist was dran, wenn Claus Weselsky der DB eine größere Nähe zur EVG vorwirft. Trotzdem und ganz gleich, ob darin mehr Kritik oder Neid liegt (auch die GDL-Spitze will zuerst Sozialpartnerin sein, auch ihre Führung verbringt mehr Zeit mit Vorständen und Aufsichtsräten als mit den Beschäftigten an der Basis), Weselsky musste die Kränkung erfahren, dass die EVG beim Streik aufgrund einer besseren Organisiertheit in den Stellwerken das schaffte, was der GDL bisher nicht gelang – weitgehender Stillstand auf den Schienen.

Während sich die GDL in den letzten Jahren bei Tarifverhandlungen oft als die kämpferischere Gewerkschaft präsentierte, steht sie bei der Frage der Zerschlagung der DB deutlich rechts von der EVG. Während letztere ein Bündnis mit Bahnvorstand und der SPD in dieser Frage sucht, sekundiert die GDL den Neoliberalen von CDU, FDP und Grünen und der Seite der konkurrierenden Kapitalfraktionen.

Vom GDL-Vorstand gibt es daher erst gar keine Vorbehalte gegen die weitere Bahnprivatisierung. Doch auch die EVG-Spitze spricht nicht wirklich an, was notwendig wäre, um die Eisenbahn stabil einzugleisen, so dass es heißen muss: Nein zur Zerschlagung der DB, aber auch kein weiter so als DB! Keine Kungelei mit dem DB-Vorstand in dieser Frage! Einem technisch untrennbaren System muss nicht nur eine ebensolche organisatorische Struktur entsprechen. Es kommt auch darauf an, wer diese in wessen Interesse kontrolliert und umbaut – in der eines staatlichen, gewinnorientierten Konzerns oder in dem der Beschäftigten und lohnabhängigen Nutzer:innen? Das heißt, eine verstaatlichte europäische Bahn ohne Gewinnausrichtung und unter Kontrolle der Lohnabhängigen und Nutzer:innen muss das Ziel sein!

Dies wäre ein Schritt zu einem integrierten, europäischen Verkehrssystem. Ein solches wird jedoch auf privatkapitalistischer Basis nie zu haben sein, es erfordert nicht nur technische Kompetenz, massiven Ausbau des öffentlichen Verkehrs und dementsprechende Neueinstellungen, sondern auch eine demokratische planwirtschaftliche Reorganisation der gesamten Produktion und Infrastruktur im Verkehrssektor.

Ansatz Tarifrunden

Spricht man diese Vorstellungen aus, treffen sie auf Zustimmung und offene Ohren unter Kolleg:innen, aber in der Folge darauf sofort auch auf Resignation und Fatalismus. Daran tragen beide – GDL wie EVG – ihren Anteil. Ihre Politik läuft darauf hinaus, der neoliberalen Realität eines zerstörten Bahnsystems nicht eine andere mögliche Realität entgegenzuhalten, sondern wesentlich den eigenen Platz in hunderten Bahnunternehmen zu finden und ihn der anderen Gewerkschaft nicht zu überlassen. Gesetzen wird sich sogar verbal gefügt, der Realität sowieso. „Es ist nun einmal so, wie es jetzt ist, die Bahnreform ist lange passiert, es gibt kein Zurück mehr.“ Visionen werden als Träumerei abgetan, nett zwar, aber eben – unrealistisch.

Es ist die Aufgabe aller linken Eisenbahner:innen klarzumachen, dass das Jetzt keine Unvermeidlichkeit darstellt, eine andere Bahn möglich ist, auch wenn sie nicht vom Himmel fällt und es viel Ausdauer dafür braucht. Ansätze dafür sind da. Wer das als Träumerei abtut, für den wird es schwerlich ein Erwachen aus dem gegenwärtigen Albtraum geben können.

Die künstliche Trennung zwischen Netz und Betrieb zu beenden, heißt die Spaltung zwischen den Eisenbahner:innen in zwei Gewerkschaften zu überwinden.

Was jetzt gerade zwar ein gewisses Feuer in die Tarifrunden bringt, ist auf lange Frist und in der täglichen Zusammenarbeit schädlich. Dass die gerade in Tarifverhandlungen stehende EVG-Spitze noch keinen schlechten Abschluss wie ver.di bei der Post oder im öffentlichen Dienst unterschrieben hat, liegt nicht nur daran, dass die Angebote der DB so beschissen waren und der Druck durch die Inflation hoch ist, sondern eben auch daran, dass im Hintergrund eine GDL lauert, die ab Herbst verhandeln und sich entsprechend auf alles konzentrieren wird, was die EVG nicht abschließt.

Darüber hinaus bringt die Spaltung zwischen EVG und GDL jedoch nur ihren Apparaten (beide existieren durch sie) und den Unternehmen was. Beide Apparate haben ein paternalistisches Verständnis ihren Mitgliedern gegenüber: Die EVG schrieb in ihrem letzten Aushang so was wie „Wir verhandeln weiter, es kann jedoch sein, dass wir Euch nochmal brauchen.“ Beide wollen die Kontrolle über die Kämpfe behalten und nicht der Basis überlassen. Beide haben kein Interesse, die der DB vorgeworfene intransparente Struktur bei sich selbst durch direkte Wählbarkeit und jederzeitige Abwählbarkeit aller Funktionär:innen zu ersetzen, führen Tarifgespräche hinter verschlossenen Türen, tätigen Abschlüsse, die unter Umständen für viel Unmut sorgen.

Die drohende Zerschlagung der Bahn – um nicht immer beim verharmlosenden Wort Umstrukturierung zu bleiben – stellt letztlich für die Beschäftigten und Nutzer:innen einen noch grundlegenderen Angriff als die Tariffragen dar. Doch genau für diese sieht das deutsche Recht keine Streikmöglichkeit vor. Das erschwert natürlich objektiv die Kampfbedingungen, zumal die EVG-Führung peinlich darauf achtet, nicht über das gesetzlich Vorgegebene hinauszugehen. Umso dringender ist es, dass klassenkämpferische Gewerkschafter:innen in EVG und GDL das Spiel ihrer eigenen Führungen nicht länger mitmachen und einen gemeinsamen Kampf gegen die sog. Bahnreformen fordern, ein klares NEIN zu jeder Zerschlagung und weiteren Privatisierung. Um diesem Angriff entgegenzutreten, braucht es gemeinsame Belegschaftsversammlungen und die Vorbereitung von Arbeitskampfmaßnahmen bis hin zu unbefristeten politischen Streiks. Eine solche Bewegung bedarf zugleich der Unterstützung der gesamten Arbeiter:innenklasse, aller Gewerkschaften.

Das alles sind Punkte, um eine Opposition gegen festgefahrene und undemokratische gewerkschaftliche Strukturen, aber auch gegen die der Eisenbahn selbst aufzubauen, um überhaupt erstmal wieder die Diskussion darüber zu führen, wie alles anders sein könnte und wie wir konkret – per Bahn – dahin kommen.




Österreich: Solidarität mit den Streikenden in den privaten Bildungseinrichtungen

Flo Kovacs, Infomail 1222, 8. Mai 2022

Im Innenhof eines Unterrichtsstandorts sind Transparente aufgehängt, die allesamt eine zu schlechte Bezahlung beklagen. Beinahe alle der etwa 150 Anwesenden haben entweder eine Ratsche oder eine Trillerpfeife in der Hand, um ein paar Hälse hängen auch selbst zusammengeschweißte Blechtrommeln. Die Stimmung ist ausgelassen. Auf der provisorischen Bühne schwingt der Betriebsrat kämpferische Reden, bevor gemeinsam in die Etagen der Streikbrecher:innen zum Lärm Machen aufgebrochen wird. Zumindest an einem der Betriebe, die am Mittwoch und Donnerstag gestreikt haben, hat es so ausgesehen. Eines unserer Mitglieder war selbst als Streikender vor Ort.

Diese Woche, am 3. und 4. Mai, haben die Betriebsräte in den privaten Bildungseinrichtungen zum ersten Mal in der österreichischen Geschichte zum Warnstreik gerufen. Hier möchten wir uns kurz mit den Hintergründen und Forderungen auseinandersetzen, bevor wir unsere Einschätzung abgeben.

Den freiwilligen Zusammenschluss der „Berufsvereinigung der Arbeitgeber:innen privater Bildungseinrichtungen“ (BABE) gibt es seit 1999, ein gemeinsamer Kollektivvertrag (KV) für diese Vereinigung wird seit 2005 jährlich verhandelt. Wer nicht viel mit der Erwachsenenbildung zu tun hat, wird von den eingeschlossenen Betrieben nur wenige kennen. Hervorzuheben sind die einzelnen Berufsförderungsinstitute (BFI) der Bundesländer, die zur Gänze der Arbeiterkammer und dem Gewerkschaftsbund gehören und einen großen Teil der AMS-Kurse veranstalten, sowie der Verband der österreichischen Volkshochschulen.

Dass ansonsten noch eine hohe Zahl an mittelgroßen bis kleinen Bildungsbetrieben beteiligt ist, hilft nicht bei der Organisierungsrate. Generell ist durch die Zugehörigkeit zu Bildungssektor und Sozialbereich eine schwach ausgeprägte Streikkultur erwartbar. Außerdem befinden wir uns in Österreich, wo es eine solche ohnehin nicht gibt. Das beklagen auch kämpferische Betriebsräte, bevor sie zum Eintritt in die Gewerkschaften aufrufen. Eine weitere Schwäche stellt die Verteilung des Sektors über mehrere Gewerkschaften dar. Zwar deckt die GPA einen großen Teil der Beschäftigten ab, je nach Bereich der Ausbildung – etwa von Deutschkursen bis zu Schweißausbildungen – kann das aber variieren. Deswegen sitzt auch die vida am Verhandlungstisch, während wieder weitere, wie die Gewerkschaft Bau Holz, nur zu den einzelnen Betriebsversammlungen kommen (können).

Diese Aufteilung bildet sich auch in der Streikbereitschaft der einzelnen Betriebe ab. Da steht auf der einen Seite mit dem BFI Wien ein kämpferisches, größeres Haus, das die kompletten zwei Tage ausnützt, für die der ÖGB seine Streikfreigabe erteilt hat. Auf der anderen Seite gibt es Einrichtungen wie die Wiener Volkshochschulen, deren Kurse hauptsächlich am Abend stattfinden, die nur an einem Tag von 11 bis 14 Uhr die Arbeit niederlegen. Der Wille zum Aufbau von Druck durch die Basis ist also nicht durchgängig gegeben.

Ziele und Probleme

Die Betriebsräte fordern eine Lohnerhöhung von 15 % im Vergleich zum Vorjahr. Der damalige Abschluss wird von jenen Betriebsrät:innen, die ihm wohl selbst auch zugestimmt haben, rückblickend als eine Frechheit bezeichnet, als lächerlich niedrig im Vergleich zu den anderen aus dem letzten Jahr. Das überrascht nicht, immerhin ist das alljährliche Theaterspiel zu den KV-Verhandlungen ein fixer Teil der Sozialpartner:innenschaft. Sieht man sich die Vertragsabschlüsse verschiedener Industrien, die letztes Frühjahr getroffen worden sind, an, dann liegen die auch konsequent über den 3,4 % der BABE. Einzelne andere Branchen schlossen noch deutlich schlechter ab, aber daran soll man sich ja besser nicht orientieren.

Neben dem schwachen Abschluss 2022 kämpft die Branche mit zwei weiteren Problemen. Erstens sind gerade die größeren Häuser von den Bildungsmaßnahmen abhängig, die sie für das AMS oder den Integrationsfonds durchführen. Diese sind aber zu nennenswerten Teilen zeitlich begrenzt und bieten keine Möglichkeit mehr zur Vollzeitanstellung, weil die Stundenanzahl schlicht nicht ausreicht. Das bedeutet zwar eine geringere Arbeitszeit, was für manche Lebenslagen sicher gut passt. Wer allerdings noch auf eine Pension hofft, ist nach langer Teilzeitarbeit deutlich stärker von Altersarmut betroffen. Außerdem bietet eine derart befristete Arbeitsweise immer die Gefahr einer Prekarisierung, wie sie gerade bei vielen privaten Sprachbildungsinstituten vorherrscht.

Zweitens wurde im Zuge des KV-Abschlusses 2010 eine neue Gehaltsstufe eingeführt, die für die meisten der seither eingestellten Trainer:innen ein niedrigeres Gehalt bedeutet. In die bis dahin für Trainer:innen (das sind in der Erwachsenenbildung alle, die unterrichten) allgemein geltende Stufe 5 kommen nun bestenfalls solche, die neue Kurse konzipieren und einführen. Für alle anderen gibt es seither die Stufe 4a, deren Einstiegsgehalt bei Vollzeitanstellung aktuell gut 200 Euro darunter liegt. Das bietet eine willkommene Einsparungsmöglichkeit für die Bosse, die nicht alle, aber viele von ihnen natürlich nutzen.

Inspiration

Die Forderung nach 15 % Lohnerhöhung kommt nicht von ungefähr. Die aktuell in den BABE-Einrichtungen geführten Kämpfe orientieren sich stark an den Arbeitskämpfen der letzten Jahre im Sozialbereich. Dieser ist eine ähnlich schwach und kleinteilig organisierte Branche mit historisch nicht vorhandener Streikkultur, die deswegen immer stärker in Richtung Prekarität gerutscht ist. Nachdem über die vergangenen Jahre hinweg immer mehr Streikhandlungen gesetzt wurden, im Zuge derer sich die Branche untereinander vernetzte, gegenseitig stärkte und ein solidarisches Bewusstsein aufbaute, erreichte sie dieses Jahr einen Abschluss mit knapp über 10 % Lohnerhöhung. Der stellt immer noch keine Lösung für die gravierenden Probleme im österreichischen Sozialbereich dar, ist aber zumindest im Vergleich zu anderen Branchen trotzdem eher im oberen Bereich angesiedelt. Und etwas Ähnliches erhoffen sich die Verhandler:innen auch vom nächsten BABE-Abschluss. Dabei bekommen sie auch moralische Unterstützung von den Betriebsrät:innen aus dem Sozialbereich, von denen auch zwei auf der branchenweiten öffentlichen Betriebsversammlung gesprochen haben. Dementsprechend verkünden die Vertreter:innen: „Wenn nicht jetzt, wann dann?“

Was die Verhandlungen bei den BABE etwas interessanter macht, ist auch die andere Seite am Verhandlungstisch. Denn während diese anderswo aus Größen von Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung besetzt wird, sitzen hier auch alteingesessene Gewerkschaftsbürokrat:innen auf der Gegenseite. Das ergibt sich aus der Größe der einzelnen BFIs, die allein dadurch innerhalb der Berufsvereinigung nennenswerte Macht haben. Die rekrutieren, wie es ihre Besitzverhältnisse anbieten, die Führungsetage auch aus den Reihen von ÖGB und AK. Das führt dann dazu, dass Personen, die sich in ihrem eigenen Leitbild als fester Teil der Gewerkschaftsbewegung verstehen, sich gleichzeitig gegen Lohnerhöhungen in der eigenen Branche stemmen.

Und das tun sie bisher sehr erfolgreich. Vom Einstiegsangebot von 9 % Erhöhung hat man sich in den größten Gehaltsgruppen noch kein halbes Prozent hinaufbewegt. In ihren Aussendungen versichern die Betriebsräte, dass sie auf keinen Fall mit einem Abschluss unter 10 % in die Betriebe zurückgehen werden. Ob sie diese Ankündigung wahrmachen, wird sich zeigen. Ein Blick auf die anderen, kürzlich abgeschlossenen KVs stimmt nicht sonderlich zuversichtlich. Da kommt neben dem SWÖ-Kollektivvertag nämlich gerade einmal die Papierindustrie auf ein zweistelliges Ergebnis.

Was können wir erwarten?

Generell offenbaren diese Verhandlungen die doppelte Unzulänglichkeit der modernen Sozialpartner:innenschaft. Zu tatsächlichen Lohnerhöhungen kommt sie nicht, die Reallöhne stagnieren in Österreich seit Jahrzehnten. Außerdem stellt dieser Warnstreik eine Ausnahme dar in einem Sektor, der dieses Mittel wahrscheinlich bisher noch nie in Erwägung gezogen hat. Es ist also schon positiv hervorzuheben, wenn der ÖGB einmal eine Streikfreigabe erteilt und nicht noch schnell ein Abschluss hermuss, um den Warnstreik dann doch zu verhindern. Außerdem fehlt mittlerweile auch in den traditionell starken Branchen, wie der Metallindustrie, die Vorbildwirkung, die dann die anderen Bereiche nachziehen kann. Es müssen also nun andere aufstehen, um in Zeiten der Hochinflation keine starken Reallohnverluste einstecken zu müssen. Ohne eine kämpferische Gewerkschaft, die den Kapitalismus auch angreift, statt ihn entspannt bürokratisch mitzuverwalten, werden tatsächliche Verbesserungen für Lohnabhängige weiterhin unerreichbar bleiben. Es braucht außerdem eine automatische Anpassung der Löhne an die tatsächlich spürbare Inflation, damit Arbeitskämpfe endlich aus der Abwehrhaltung in den Angriff übergehen können.

Direkte demokratische Kontrolle über die Streiks in den einzelnen Betrieben sollte von demokratischen Streikkomitees der Beschäftigten der Standorte ausgeübt werden. Um den öffentlichen Druck zu erhöhen und auch die Öffentlichkeit auf seine Seite zu ziehen, braucht es bei zukünftigen Streikmaßnahmen Streikkundgebungen im öffentlichen Raum. Auch hier hat der Sozialbereich mit tausenden Menschen starken Demonstrationen gezeigt, wie einerseits die Solidarität innerhalb der Beschäftigten auch über Standorte hinaus gestärkt und gleichzeitig breite Solidarität und Aufmerksamkeit in der Bevölkerung geschaffen werden können. Wenn sich die Verhandlungsteams auf einen Kollektivvertrag geeinigt haben, braucht es als Mindestmaß der demokratischen Mitbestimmung eine Urabstimmung darüber.

Obwohl also leider von keinen großen Gewinnen auszugehen ist, gilt unsere Solidarität den Streikenden in den privaten Bildungseinrichtungen. Denn sie sind es, die durch ihre Berufs- und Weiterbildungen zehntausenden Beschäftigten Chance auf bessere Arbeit geben, die migrierten und geflüchteten Personen durch Sprachkurse eine Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen und auch die einzigen, die durch massenhafte Umschulungen eine ökologische Transformation in der Industrie ermöglichen könnten. 15 Prozent Lohnerhöhung sind dafür das Mindeste!




Spanien: Massenproteste gegen Verfall des Gesundheitswesens

Ernst Ellert, Infomail 1217, 22. März 2023

Vor den Kommunal- und Regionalwahlen im kommenden Mai erhebt sich in Spanien eine riesige Protestwelle gegen die Verschlechterung der medizinischen Grundversorgung.

Madrid

Deren Speerspitze bildet die Hauptstadtregion. Hier regiert seit 2019 Isabel Diaz Ayuso (PP; Volkspartei). Die Konservativen stützen sich auf die neoliberalen Ciudadanos (Bürger:innen) und die ultrarechte Vox (Die Stimme). Am Sternmarsch im vergangenen November hatten sich 700.000 beteiligt. Am 12. Februar 2023 wurde ein neuer Rekord mit 1 Million erreicht. Am 1. und 2. März wurden die Notfallstationen bestreikt. Ayuso reagierte darauf, indem sie 100 % der Beschäftigten zur Minimalversorgung verdonnerte. Für den 26. März ist wieder eine Großdemonstration angesetzt.

Die Initiative „Grundversorgung für alle“ setzt auf zivilen Ungehorsam. Ihre Mitglieder ketten sich an Gesundheitsstationen. Die Pflegerin Cristina Sanz findet es nur richtig, dass sich die Bewegung explosiv ausbreitet. Verhandlungen hätten zu nichts geführt. Stattdessen sei eine Ausnahmesituation eingetreten, da Ayuso sogar das Sammeln von Unterschriften verbiete. Rosa López, Sprecherin der Gewerkschaft Summat, prüft eine Strafanzeige wegen Aushebelung des Streikrechts durch die Dienstverpflichtungen.

Drittklassige Grundversorgung

Im von Korruptionsskandalen geschüttelten Madrid zeigt sich das Missverhältnis im Gesundheitswesen besonders scharf. Der Hauptstadtfaktor führt dazu, dass es sich um die Region mit dem höchsten Durchschnittseinkommen handelt. Doch mit nur zehn Prozent des Budgets an Ausgaben für die Grundversorgung liegt sie abgeschlagen auf dem letzten Platz. Internationale Standards, die Ärzt:innen und Pfleger:innen durchsetzen wollen, sehen dagegen 25 % vor.

Einst verfügte Spanien gerade in einer funktionierenden Grundversorgung über ein relativ gut ausgestattetes und günstiges Gesundheitssystem. Nach Ansicht vieler Ärzt:innen soll dies geschleift werden mit dem Ziel, die Menschen in Privatversicherungen zu drängen. Zwar seien die Policen noch relativ günstig, aber nur, weil die Unternehmen bei Komplikationen oder in teuren Fällen die Behandlung doch wieder ans öffentliche Gesundheitswesen abgeben. So fahren die Versicherungsgesellschaften trotz vergleichsweise niedriger Tarife noch Gewinne ein, solange es noch funktioniert. Was eine Versicherung kosten würde, die auch teure Krebsbehandlungen und Operationen abdeckt, zeigt sich in den USA: monatlich mehrere hundert Euro.

Baskenland

Im Baskenland regte sich ebenfalls Widerstand gegen den seit 2010 eingeschlagenen Liberalisierungskurs. Am 24. Februar 2023 erlebten die Metropolen Bilbao, San Sebastián und Vitoria große Kundgebungen mit mehreren zehntausend Menschen. Den Hintergrund dafür bildet, dass die Verantwortung für die Gesundheitsversorgung bei den Regionen liegt, so dass es überall Proteste gibt.

Manuel Ferran Mercadé, Berater der „Spanischen Vereinigung für Familien und Gemeinschaftsmedizin“ (semFYC) und Sprecher für den Bereich der Grundversorgung der Basisorganisation „SOS Bidasoa“ in Irun, merkte an, dass sich verhältnismäßig wenige junge Menschen an den Kundgebungen beteiligt hatten. Doch er hob auch hervor, dass alle Gewerkschaften mobilisierten. Allein im Gesundheitswesen gibt es eigene Gewerkschaften. Dazu kommen die allgemeinen. Normalerweise liegen die der Ärzt:innen und Pfleger:innen, die baskischen mit den spanischen miteinander im Clinch. Die baskischen ELA und LAB setzen eher auf Konfrontation, die spanischen CCOO und UGT auf Sozialpakte. Mit dem Vorgehen der Regionalregierung, die den Dialog scheut und nur Verlautbarungen und Ankündigungen abgibt, ist diese seltene Einmütigkeit zu erklären. UGT und CCOO haben in den baskischen Provinzen gegen die Politik der Bundesregierung mit demonstriert, in der die Baskisch-Nationalistische Partei und Sozialdemokratie den Ton angeben.

Gesundheitsökonomie auf Spanisch

Das Baskenland rühmt sich, über das beste Gesundheitswesen im spanischen Staat zu verfügen. Trotzdem gehen auch hier Beschäftigte und Patient:innen auf die Barrikaden. Grund dafür ist die seit der Jahrtausendwende einsetzende brutale Unterfinanzierung, die mit der Zentralisierung im Gesundheitssystem zu tun hat. Zuvor gab es zwei Haushalte: einen für die Grundversorgung und einen für die Kliniken. Deren Integration setzte im Baskenland erst vor 10 Jahren ein. Es gibt auch hier jetzt nur noch einen Haushalt und eine:n Chef:in. Zulasten der Grundversorgung floss das meiste Geld in den stationären Bereich. Je stärker man die Grundversorgung ausbluten ließ, umso mehr Menschen landeten zur teuren Behandlung in den Krankenhäusern.

Bei den Gesundheitsausgaben liegt das Baskenland über, im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung unter dem Landesdurchschnitt. Es gibt zwar weniger Privatkliniken, wie Mercadé bemerkt, doch wird viel Geld für externe Beratung rausgeschmissen und Material gekauft, das kein/e Arzt/Ärztin bestellt hat.

Die langen Wartelisten werden mit dem Fehlen ärztlichen Personals begründet. In Bezug zur Bevölkerungszahl scheint es jedoch ausreichend. Spanien ist weltweit das Land mit der zweithöchsten Zahl medizinischer Fakultäten. Doch ein Gutteil der Ausgebildeten wandert in den privaten Sektor, nicht in den öffentlichen. Noch weniger finden sich in der Grundversorgung mit schlechten Arbeitsbedingungen und mieser Bezahlung. Angesichts der Ausbildungszeitdauer von durchschnittlich 11 Jahren bräuchte es eine vernünftige Planung in einem integrierten Gesundheitssystem, damit Mediziner:innen und Pfleger:innen abwechselnd auf allen Positionen und in allen Sektoren bei einheitlicher Ausbildung zum Einsatz kommen können. Die zweite Voraussetzung dafür: Abschaffung des privaten Gesundheitswesens!

Personalmangel – wie in Deutschland

In wenigen Jahren werden 30 % der Ärzt:innen in Rente gehen und Spanien wird vor einem großen Personalproblem stehen, das nicht durch kurzfristige Erhöhung der Studierendenzahl zu bewältigen sein wird. Auch „unsere“ Unternehmen klagen über Fachkräftemangel, ohne sich dabei an die eigene Nase zu fassen. Bei allen Unterschieden bilden in Deutschland wie Spanien die Kliniken das Einfallstor für den Einzug des Kapitals in den Gesundheitsbetrieb. In Spanien geht das zulasten eines rationalen Systems der Grundversorgung durch Integration, Zentralisierung und Privatisierung von Gesundheitsanbieter:innen wie Krankenversicherungen.

In Deutschland wurde der Krankenhausbereich schon in den frühen 1970er Jahren aus der öffentlichen Finanzierung durch die Gemeinden (Kameralistik) entlassen und auf ein duales Regime (Betriebskosten erstatten die Krankenkassen, Investitionen die Bundesländer) eingeführt. Schließlich wurde auf einen vollständigen inneren Markt (Fallpauschalen) umgestellt mit der Folge gesteigerten Personalmangels, zunehmender Arbeitshetze, Schließungen und Privatisierungen sowie übermäßig zunehmenden  planbaren Operationen einer- und blutigen Entlassungen bei „unprofitablen“ Fällen andererseits.

Der Siegeszug des Neoliberalismus geht aber zunehmend dem einstigen Standbein des BRD-Gesundheitswesens an den Kragen – der niedergelassenen Ärzt:innenschaft und ihren Praxen, die wie Kleinbetriebe fungieren. In Gestalt der Medizinischen Versorgungszentren (MVZ), oft an Kliniken vor Ort angebunden, entsteht eine Konkurrenz, die an die Polikliniken der DRR erinnert. Allerdings werden die heutigen nur zum Zwecke größtmöglicher Rentabilität betrieben wie der ganze kranke Laden, der sich Gesundheitswesen nennt. Seine Rettung kann indes nicht im Zurück zur „Idylle“ der kleinen Praxen liegen.

Internationale Verbindung

Ein Vergleich der Krise des Gesundheitswesens in Spanien mit Deutschland wie mit praktisch allen anderen Ländern Europas verdeutlicht, dass wir es mit einem länderübergreifenden Phänomen zu tun haben. Das betrifft auch die Mobilisierung des Personals. Doch auch, wenn sie allesamt Resultat der kapitalistischen Krise und neoliberaler Angriffe, von Einsparungen und Privatisierungen sind, so werden die Kämpfe bislang nebeneinander, national oder gar lokal beschränkt geführt. Dabei schreien Forderungen wie die Verstaatlichung des gesamten Gesundheitswesens unter Kontrolle der Beschäftigten und Patent:innen, nach einem freien und garantierten Zugang für alle und nach ausreichender Finanzierung und Ausbau des Gesundheitswesens durch die Besteuerung des Kapitals geradezu nach einer gemeinsamen, international koordinierten Bewegung.




Britannien: Tod durch tausendfache Kürzungen im Gesundheitswesen

Rebecca Anderson, Infomail 1208, 27. Dezember 2022

Die Winterkrise im britischen Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) ist so akut wie nie zuvor. Die Zahl der Betten, die von Patient:innen belegt sind, die seit mehr als drei Wochen im Krankenhaus liegen, ist die höchste in den letzten fünf Wintern. Neunzehn von zwanzig Betten auf den Stationen in England sind voll ausgelastet. Dies geht einher mit einer Krise des Notfallversorgungssystems. Fast drei von zehn Patient:innen, die mit dem Rettungswagen eingeliefert werden, müssen vor den Krankenhäusern Schlange stehen, die zu voll sind, um sie aufzunehmen – etwa doppelt so viele wie vor der Pandemie.

Plan zur Zerschlagung des NHS

7,2 Millionen Menschen stehen in England auf Wartelisten für Krankenhausbehandlungen – 60 % mehr als vor der Pandemie. In Schottland steht jede/r Siebte auf einer Warteliste, und die Zahl in Wales hat einen neuen Höchststand erreicht. Die Versicherungsfirma Confused.com wirbt derweil damit, eine private Krankenversicherung abzuschließen, um diese Wartelisten zu umgehen. All dies ist Teil eines langfristigen Plans zur Zerschlagung des NHS, zu dem auch gehört, ihm die Mittel zu entziehen, die in Behandlungsgeräte und Gehälter fließen, die eine ausreichende Zahl von Beschäftigten im Gesundheitswesen anziehen können.

Der NHS, um den die Patient:innen in den USA und vielen Teilen Europas einst beneidet wurden, gerät immer mehr ins Hintertreffen und droht zu einer Zweiklassenmedizin mit Privilegien für die Ober- und Mittelschicht und einer marginalen Versorgung für die Arbeiter:innenklasse und die Armen umgewandelt zu werden, ähnlich dem Medicaid-System in den USA.

Der britische Gesundheitsminister Stephen Paul („Steve“) Barclay beharrt darauf, dass lange Wartelisten und überfüllte Krankenhäuser nicht das Ergebnis von Unterfinanzierung seien. Allerdings betrugen die durchschnittlichen jährlichen Investitionsausgaben im Vereinigten Königreich zwischen 2010 und 2019 5,8 Mrd. Pfund, verglichen mit einem EU-Durchschnitt von 38,8 Mrd. Pfund, was bedeutet, dass Großbritannien über weitaus ältere und weniger gut gewartete Einrichtungen verfügt, und zwar in geringerer Zahl.

Im Rahmen des Sparprogramms der Regierung nach der Rezession von 2007 wurde die Finanzierung des NHS zwischen 2008 und 2018 gekürzt. Jede der aufeinanderfolgenden Regierungen hat behauptet, die Mittel für den Gesundheitssektor zu erhöhen, aber damit das NHS-Budget wirklich gestiegen wäre, müsste es sowohl mit der Inflation als auch mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten. Real sind die Mittel für den NHS heruntergefahren worden. Zwischen 1949/50 und 2016/17 stiegen die Gesundheitsausgaben im Durchschnitt um 3,3 % pro Jahr. Betrachtet man jedoch nur den Zeitraum zwischen 2009/10 und 2016/17, so sinkt dieser Durchschnitt deutlich auf 0,6 % und liegt damit weit unter der Inflationsrate.

Obwohl die Mittel für den NHS während der Pandemie aufgestockt wurden, konnten die Probleme, die bereits durch die chronische Unterfinanzierung entstanden waren, nicht gelöst werden. Der NHS war zu Beginn des Jahres 2020 bereits am Rande der Belastungsgrenze. Er verfügte über 6,6 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner:innen, verglichen mit 29,2 in Deutschland, 12,5 in Italien und 10,6 in Südkorea.

Personalmangel

Derzeit sind 133.400 Stellen unbesetzt, darunter 47.500 Stellen in der Krankenpflege. Der derzeitige Trend bewegt sich dahin, dass immer mehr Stellen frei werden – mehr Pflegepersonal verlässt den Beruf, als neu hinzukommt. Das Royal College of Nursing (Königliche Pflegepersonalausbildungsstätte, RCN) fordert eine über der Inflationsrate liegende Lohnerhöhung nicht nur für die bestehenden Arbeitskräfte, deren Löhne seit Jahren niedrig gehalten werden, sondern auch, um die Personalbeschaffung zu unterstützen.

Ein wichtiger Teil des Plans der Regierung zum Abbau des Covid-Rückstands ist eine verstärkte Werbekampagne im Ausland mit dem Ziel, bis 2021/22 10.000 internationale Arbeitskräfte einzustellen.

Die Behandlung internationalen Pflegepersonals durch den NHS wurde jedoch vom RCN kritisiert. Der Verband setzt sich für eine „ethische internationale Rekrutierung“ ein und verweist auf weit verbreitete Probleme mit hohen Gebühren für die vorzeitige Ausreise in Höhe von bis zu 14.000 Pfund, mit denen Arbeiter:innen unter Druck gesetzt werden, ihre Verträge einzuhalten oder die Gebühren unter Androhung der Abschiebung zurückzuzahlen. Das RCN ist auch besorgt darüber, dass die angeworbenen Arbeitskräfte darüber getäuscht werden, wie einfach es sei, Familienangehörige ins Vereinigte Königreich zu holen, und dass sie, wenn sie entdecken, wie schwierig es ist, sich im britischen Einwanderungssystem zurechtzufinden, bereits in einen Vertrag gebunden sind.

Der NHS hat auch Probleme, das vorhandene Personal zu halten: 16 % der Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen wollen die Branche ganz verlassen, wobei sie Personalmangel, Bezahlung und Arbeitsbelastung als Gründe anführen. Es ist ein Teufelskreis, denn je weniger NHS-Mitarbeiter:innen vorhanden sind, desto größer wird der Druck auf diejenigen, die bleiben. Allein im August 2021 gab es zwei Millionen Fehltage wegen Krankheit, ein Viertel davon wegen psychischer Probleme.

Tod durch tausend Einschnitte

In den 1980er Jahren wollte Margaret Thatcher den NHS vollständig privatisieren, da sie ihn als einen weiteren Teil des „Sozialismus“ betrachtete, den sie unbedingt zerstören wollte. Eine Revolte im Kabinett hielt sie jedoch davon ab, so dass sie den Chef des Supermarktkonzerns Sainsbury, Roy Griffiths, mit der „Reform“ beauftragte. Den Ärzt:innen wurde die Führung in den Krankenhäusern entzogen und sie wurde einer Kaste von hochbezahlten Leuten aus der Privatwirtschaft übergeben, die den Dienst wie ein Unternehmen führen sollten. Ein neoliberaler US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler, Alain Enthoven, riet dazu, die Disziplin des Marktwettbewerbs einzuführen.

Die Verwaltungskosten verdoppelten sich über Nacht. Als die Labour-Partei unter Tony Blair 1997 einen erdrutschartigen Wahlsieg errang, wurde der Marktöffnungsprozess trotz der im Wahlprogramm gemachten Zusagen nicht rückgängig gemacht. Der Schatzkanzler Gordon Brown weitete die Private Finance Initiative (Privatfinanzinitiative, PFI) der Tories sogar noch aus und nutzte sie für den Bau von Krankenhäusern, die damit faktisch in den Besitz des privaten Sektors übergingen.

Als die Tories 2010 an die Regierung zurückkehrten, brachte der Hardliner-Gesundheitsminister Andrew Lansley 2011 das Gesundheits- und Sozialfürsorgegesetz ein, das den NHS in eine völlig neue Phase der Privatisierung führte. Das Gesetz von 2012 öffnete alle NHS-Dienste für Ausschreibungen, offen für konkurrierende private Unternehmen.

Trotz der Empörung unter der Ärzt:innenschaft und dem Pflegepersonal haben private Unternehmen wie Virgin und Circle ihre Warnungen einfach übertönt. Schlimmer noch: Unison, die größte Gewerkschaft des Gesundheitswesens, rief während der gesamten fünf Jahre der Regierung von David Cameron zu keinem einzigen Streik und keiner einzigen Demonstration auf, und die Gesundheitsminister Lansley und Jeremy Hunt setzten die Aufteilung des Dienstes in kleinere regionale Systeme mit der Befugnis zu entscheiden, welche Dienste verfügbar sein werden und wer sie erbringen würde, mühelos fort. Bis 2017 gingen 43 % des Gesamtwerts dieser Verträge an den privaten Sektor. Allein Virgin erhielt den Zuschlag für NHS-Aufträge im Wert von über einer Milliarde Pfund.

Die Kampagnengruppe Keep Our NHS Public (Unser Gesundheitsdienst muss öffentlich bleiben) zeigte auf, dass die aktuelle „Marktreform“, der Long Term Plan (Langfristiger Plan), die Kosten senkt, indem sie den Zugang zur Gesundheitsversorgung einschränkt, die Qualität mindert und profitorientierte Unternehmen wie die US-Giganten McKinsey, UnitedHealth und Kaiser Permanente einbezieht.

Darüber hinaus wird das „Nationale“ aus dem NHS herausgenommen, indem er in lokale Integrierte Versorgungssysteme mit ihren eigenen, streng kontrollierten Budgets aufgeteilt wird, was bedeutet, dass Gebiete mit einem höheren Grad an schlechter Gesundheitsversorgung – Merseyside, Newcastle, Hackney – mit ihren eigenen Problemen fertigwerden müssen. Der NHS England hat bereits 83 Organisationen mit dieser Aufgabe betraut, von denen 76 private Unternehmen sind, 23 mit Sitz in den USA, darunter Centene, Cerner, Deloitte, GE Healthcare, IBM, McKinsey und Optum, der britische Zweig von UnitedHealth.

Der Plan wird dazu führen, dass die Gesundheitsversorgung zu einer weiteren Ware wird, die internationalen Handelsabkommen unterliegt: Der NHS wird zu einem Logo, das auf private Unternehmen aufgeklebt wird. Die Zukunft kann man in den USA besichtigen, wo die Gesundheit eine Ware ist und Menschen, die sich keine Versicherung leisten können, oft ohne Notfallbehandlung sterben und Arztrechnungen Menschen in den Bankrott treiben.

Wer zahlt?

Der NHS benötigt zweifelsohne eine massive Finanzspritze, sowohl um den Bedarf an höheren Gehältern und mehr Personal als auch den Investitionsbedarf für neue Krankenhäuser und Ausrüstung zu decken. Die Gebühren für Medizinstudent:innen- und Pflegeschüler:innen müssen abgeschafft und ein Stipendium in Höhe eines existenzsichernden Lohns wieder eingeführt werden, ebenso wie kostenlose, hochwertige Kinderbetreuung vor Ort, um den Bedürfnissen der Eltern gerecht zu werden. Die Gebühren für die vorzeitige Ausreise internationaler Krankenschwestern und -pfleger sollten abgeschafft werden, ebenso wie die Einwanderungsbestimmungen, die ihnen mit Abschiebung drohen und sie von ihren Familien trennen.

Unsere Antwort muss lauten, dass die Reichen und die Großkonzerne gezwungen werden müssen, für die Krise des NHS zu zahlen, genauso wie sie gezwungen werden müssen, für die Krise der Lebenshaltungskosten und die kommende Rezession zu zahlen.

Grundsätzlich muss das Gesundheitswesen wieder vollständig in öffentliches Eigentum überführt, ohne Entschädigungszahlungen an die Profiteur:innen, und unter der demokratischen Kontrolle von Beschäftigten und Patient:innen betrieben werden. Alle privaten Finanzierungsinitiativen (PFIs) gehören abgeschafft.

Wir müssen auch die Pharmakonzerne und all jene enteignen, die durch die Ausbeutung von Kranken riesige Profite erpressen, und zwar unter der Kontrolle der Arbeiter:innenklasse und ohne einen Pfennig Entschädigung für die Bosse.

Für die Krise des NHS sind Regierungen der Bosse, einschließlich derjenigen von New Labour, maßgeblich verantwortlich. Die Gewerkschaften sollten als Preis für die Finanzierung der nächsten Wahlkampagne von Labour darauf bestehen, dass das Parteiprogramm oben skizzierte Maßnahmen enthält. Deshalb geht es beim aktuellen Streik um mehr als nur Löhne. Es geht um das Überleben des NHS – und der öffentlichen Dienste und der sozialen Sicherung im Allgemeinen.




Nein zur Zerschlagung der Bahn – Schiene statt Gewinnmaschine!

Leo Drais, Gegenwehr! Betriebs- und Gewerkschaftsinfo der Gruppe ArbeiterInnenmacht, 16. November 2021

Es gibt unter uns EisenbahnerInnen ziemlich viele, für die das mit den Zügen nicht einfach nur ein Job ist. Wir kennen das Potential, das eine funktionierende Eisenbahn hätte. Wir merken, wie gut das System aus Fahrzeugen, Infrastruktur und uns Beschäftigten ineinandergreifen könnte und welche Möglichkeiten der Schienenverkehr an sich böte.

Wir merken das, weil wir in unserer täglichen Arbeit (oft) das Gegenteil erleben. Störungen, Verspätungen, Ausfälle bekommen nicht nur Reisende und KundInnen nach außen mit, sondern vor allem auch wir. Für uns heißt das: liegengebliebene Züge, Regelwerkswidersprüche, Fremdeinwirkung, Langsamfahrstellen, Rotausleuchtung, PZB-Ausfall, fehlende Bremshundertstel usw. usf. Und wir leiden da mit. Selbst dann noch, wenn längst Zynismus oder Resignation eingesetzt haben. Weil es Stress und einen späteren Feierabend bedeutet, die kaputte Weiche zu bearbeiten oder Umleitungen zu fahren. Und weil wir, die wir auf Loks, in Stellwerken und Betriebszentralen, in Werkstätten und in den Gleisen mit dem Mangelhaften arbeiten müssen, Bahnbetrieb eigentlich können – es liegt zum Wenigsten an uns, dass die Bahn in Deutschland ist, wie sie ist.

DB AG und Staat

Denn an der DB AG und der bundesdeutschen Verkehrspolitik gibt es so gut wie nichts zu feiern. Seit der Bahnreform 1994 ist das Netz verstümmelt, das Land abgehängt, der Service verkümmert, Bahngelände verscherbelt. In Stuttgart und andernorts sind Milliarden für Sinnlosigkeiten verbrannt worden. Zugleich – so die Verkehrswende auf Deutsch – wurden 6 000 km Bundesstraßen und Autobahnen gebaut.

Und natürlich wollen wir nicht vergessen, wie tausende KollegInnen gegangen wurden oder gingen und ewig kein Nachwuchs kam oder um wie viel sich unsere Arbeitsbedingungen verschlechterten.

Nein, an diesem hochverschuldeten Konstrukt DB AG mit einer aufgeblähten Führungsebene, die uns schwer auf den Schultern lastet, gibt es nicht viel zu verteidigen. Sie ist ein eigener Verschiebebahnhof – von Geldern. Regio, Cargo und Fernverkehr zahlen Trassengebühren an den Netzbereich. Steuergelder und Subventionen landen in Auslandsgeschäften. Am Ende findet sich alles in derselben schöngerechneten Bilanz wieder. Die AG trimmte die Eisenbahn – ganz nach dem Willen des Eigners Bund – auf einen Börsenkurs, dem nur die Krise von 2008 zuvorkam. Sie beantwortet die Krise im Gütergeschäft mit dem Abbau von Gleisanschlüssen, das Ausbleiben von Fahrgästen mit Streckenschließungen. Sie versteht unter der Verkehrswende Fahrpreiserhöhungen und, den Fernverkehr 40 Meter tief unter Frankfurt zu vergraben –, als ob ein S21 nicht schon zu viel wäre.

Staat und Verkehrsministerium machten bei diesem Spiel immer freudig mit – wenn mal ausnahmsweise nicht gerade die Autoindustrie hofiert wurde. Die Staatsinvestitionen in die Schiene betragen in der BRD nur etwa ein Fünftel im Vergleich zur Schweiz. Mit Milliarden soll aber das E-Auto vorangebracht werden. Naiv zu glauben, eine Trennung von Netz und Betrieb würde die Bahn verbessern! Das hieße auch zu glauben, dass das nächste Verkehrsministerium keine speichelleckende Lakaiin der Autokonzerne mehr sei.

Zerschlagung und Wettbewerb

Die Monopolkommission – diese personifizierte ideelle Gesamtkapitalistin, die so tut, als ob hinter der jetzt schon bestehenden bunten Eisenbahnlandschaft keine (Staats-)Monopole stünden, sowie Grüne und FDP schlagen aber genau das vor: Trennt die DB, treibt das Messer zwischen Rad und Schiene, zwischen Infrastruktur und Betrieb! Bahnreform 2.0.

Die Motivation der Baerbock- und Lindner-Truppe mag verschieden ausfallen, die konkrete Ausarbeitung ist noch lange nicht klar, aber die zwei groben Ideen scheinen aber durch: Die kostenintensive, aufwendige Infrastruktur mit riesigem Investitionsstau bleibt (vorläufig) in Staatshand. Was draußen fährt, wird noch mehr dem Wettbewerb ausgeliefert.

Übersetzt bedeutet das nicht nur bei der Verkehrswende, weitere Jahre mit stümperhaften Umstrukturierungen zu verbringen und tausende Jobs zu streichen und sie woanders (unter vielleicht schlechteren Bedingungen) hin zu verfrachten, es heißt auch, dass die Qualität auf der Schiene nicht besser wird – eher im Gegenteil. Wettbewerb heißt immer, möglichst günstig zu fahren, um die Konkurrenz zu schlagen, was wiederum sparen heißt … Und wo bietet sich das am besten an, wo sich doch mit dem Zugbetrieb sowieso kaum was verdienen lässt? Bei Mensch und Material! Auch verlagert sich der viel erwähnte DB-Wasserkopf damit nur. Denn jedes einzelne Unternehmen hat seinen eigenen! Im Vergleich zum DB-Riesen vielleicht nur im Modellbahnformat, aber ziehen wir hunderte kleine Chefetagen zusammen, haben wir wieder – einen Riesen, den Fahrgäste und SteuerzahlerInnen finanzieren.

SPD, EVG und GDL

Dass die SPD und die eng mit ihr verbundene EVG (in der der Autor dieses Textes Mitglied ist) die Zerschlagung ablehnen, ist erst mal richtig. Eine Aufspaltung bedeutet, die Belegschaft zu spalten,  unsere Kampfbedingungen zu schwächen, die neoliberale Klinge erneut an unsere Arbeitsbedingungen zu legen!

Aber EVG und SPD stellen sich zugleich auch hinter eine Konzernspitze, die das Trauerspiel Deutsche Eisenbahn seit bald 30 Jahren zu verantworten hat. Und das überrascht ja auch nicht. Die EVG-Führung und ihre VorgängerInnen sind selbst eng mit der AG verwachsen, nicken alles ab und haben überhaupt, was mit der Bahn seit den Neunzigern passiert ist, mitgetragen.

Genauso wenig überrascht, dass die GDL die grün-gelben Pläne unterstützen wird, erhofft sich ihre Führung doch, vom Aufbrechen der DB und damit der EVG zu profitieren. Zugleich sind viele ihrer Mitglieder ebenso gegen die Zerschlagung. Sie sollten einfordern, dass ihre Führung um Claus Weselsky mit der rückschrittlichen, bahnzerstörenden Position bricht und mit allen Bahn-Beschäftigten gegen die Zerschlagung kämpft.

Die Trennung von Netz und Betrieb gehört deshalb abgelehnt, weil sie die DB-Misere vertieft.

Alle, die sich gegen eine Zerschlagung stellen und dabei aber auch kein Deutsche-Bahn-weiter-so wollen, sollten sich weder auf die SPD noch auf Hommel, Borchert und Co. verlassen. Eine rote Linie kann  schließlich auch mal ganz schnell ihre Farbe wechseln. Wir müssen SPD und Linkspartei auffordern, dass sie die DB-Zerschlagung kategorisch ablehnen! Von der GDL fordern wir einen Kurswechsel. Die DGB-Gewerkschaften sollen zu Solidaritätsdemonstrationen und -streiks aufrufen, denn die drohende Zerschlagung der Bahn betrifft alle Lohnabhängigen. EVG sowie Betriebsräte müssen gewerkschafts- und betriebsübergreifende Versammlungen organisieren, auf denen der Angriff diskutiert und unsere Abwehr besprochen wird – inklusive des Streiks gegen die Zerschlagung!

In den kommenden Auseinandersetzungen können wir uns letztlich nur auf uns selbst und unsere Kampfkraft verlassen. Lasst uns daher auf Belegschaftsversammlungen Aktionskomitees wählen, um den Kampf zu organisieren! Nehmen wir unser Schicksal selbst in die Hand!

Anhang: Verkehrswende = EINE Eisenbahn

Wer eine gut funktionierende Bahn will und die Verkehrswende ernst meint, sollte für EINE einzige staatliche Bahn einstehen. Das heißt auch, alle Privatisierungen der letzten drei Jahrzehnte zurückzunehmen und die sogenannten Privatbahnen zu enteignen sowie die Länderbahnen in eine bundesdeutsche zu überführen. Nur so werden Schnittstellen weniger, Kommunikation einfacher und vor allem: die Bahn dem zermürbenden Wettbewerb entzogen.

Statt einer Zerschlagung braucht es einen Investitions- und Ausbauplan für die Schiene – und zwar finanziert durch massive Besteuerung der Konzerne und AktionärInnen, die mit einer klimaschädlichen Verkehrsweise Milliarden Gewinne gemacht haben: Oberleitung statt E-Auto, Flächenbahn statt Flächenautobahn, kostenloser Nahverkehr statt Pkw-Kaufprämien, Daseinsversorgung Schiene statt Gewinnmaschine!

Allein, dass es eine Staatsbahn gibt, ist natürlich kein Garant für einen funktionierende, breit ausgebauten Schienenverkehr mit guten Arbeitsbedingungen – siehe DB und ihre beiden Vorgängerinnen. Die drohende Zerschlagung bietet da auch eine Chance zur Diskussion, nämlich darüber: Wer kontrolliert eigentlich die Bahn und überhaupt die Verkehrswende? DB-Wasserkopf, Autokonzerne und Verkehrsministerium? Oder wäre es vielleicht eine Alternative, dass die Bahnbeschäftigten direkt und demokratisch zusammen mit anderen VerkehrsarbeiterInnen und Fahrgästen in Komitees darüber entscheiden und wachen, wie die Verkehrswende schnellstmöglich vorankommt? Wir brauchen keine Konzernspitze und keinen neuen Andi Scheuer dafür. Wir haben das Fachwissen und die Kenntnis darüber, wie Eisenbahn gut funktionieren kann als Teil eines nachhaltigen, integralen Verkehrssystems.

Klingt erst mal utopisch, aber wir können schon heute anfangen, solch eine Selbstorganisation aufzubauen, indem wir Aktionskomitees wählen, auch den politischen Streik als Kampfmittel diskutieren und verwirklichen! Wir sagen: Uns gibt‘s nicht für Profite, uns gibt‘s fürs Fahren!




Landesparteitag DIE LINKE Berlin: mit gebührender Begleitmusik

Jürgen Roth, Infomail 1167, 21. Oktober 2021

Wenig überraschend hat DIE LINKE Berlin auf ihrem außerordentlichen Landesparteitag am 19.10.2021 mit deutlicher Mehrheit der Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit SPD und Grünen zugestimmt. Das 6-seitige Sondierungspapier, das eine Kommission aus den 3 Parteien vorgelegt hat, stellt damit kein Hindernis für die Fortführung der alten Senatskoalition (R2G) – unter geänderten Kräfteverhältnissen aufgrund des Wahlergebnisses als RGR – mehr dar.

Umstrittene Sondierungsergebnisse

Es blieben im Wesentlichen zwei: die von der scheidenden grünen Verkehrssenatorin forcierte Ausschreibung der S-Bahn und damit ihre Zerschlagung und forcierte Privatisierung sowie der Umgang mit dem Volksentscheid für die Enteignung der großen Immobilienkonzerne mit mehr als 3.000 Wohneinheiten. Innensenator Geisel (SPD) darf es beruhigen, dass das von ihm verlangte neue Landespolizeigesetz von keiner der 3 Parteien mehr infrage gestellt wird.

In der Wohnungsfrage setzte sich im Sondierungspapier die Handschrift der designierten Regierenden Bürgermeisterin, Franziska Giffey, durch. Der Schwerpunkt liegt demnach auf dem Neubau von angestrebten 20.000 Wohnungen pro Jahr. Ein Bündnis für bezahlbaren Neubau mit der renditehungrigen privaten Immobilienlobby soll es also richten. Reiner Wild, Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, hält das Ziel von 200.000 bezahlbaren Wohnungen bis 2030 für unrealistisch. Für ihn bleibt unklar, wer die denn bauen soll. Dem schließt sich auch der Berliner BUND-Landesgeschäftsführer, Tilmann Heuser, an: „Es ist relativ klar, dass zu den aktuellen Baukosten kein bezahlbarer Wohnraum entstehen kann.“ (NEUES DEUTSCHLAND, 19.10.2021, S. 9)

Wild hält zudem die Einstellung, dass man über den Markt, über die Neubaumenge die Preise im Bestand beeinflussen könne, für problematisch. Linksfraktionsmitglied Katalin Gennburg bemängelt, dass das Verhältnis von einem Prüfauftrag für den klaren Volksentscheid zur reinen Orientierung auf ein Neubaubündnis der Realität und der eingeleiteten stadtpolitischen Wende nicht standhalte.

Gedämpfte Begleitmusik im Saal …

Spitzenkandidat der Linkspartei, Klaus Lederer, hatte im Vorfeld des Parteitags die Einsetzung einer ExpertInnenkommission zur Ausarbeitung eines Enteignungsgesetzes empfohlen. Von der Kontrolle der Umsetzung durch die von der Kampagne Deutsche Wohnen & Co. enteignen (DWe) mobilisierte Volksentscheidsmehrheit und MieterInnenbasis insbes. in der Frage der Entschädigungshöhe und Betriebsführung der verstaatlichten Wohnungen redet dieser auf den parlamentarischen Kuhhandel fixierte Reformist also erst gar nicht.

Das tut auch die innerparteiliche Opposition um Landesvorstand Moritz Warnke und die 3 Abgeordneten Elif Eralp, Katalin Gennburg und Niklas Schenker leider nicht. Doch immerhin formulierte sie einen Antrag an den Landesparteitag, dass die Verpflichtung zur Vorlage eines vom zukünftigen Senat erstellten Enteignungsgesetzes im Abgeordnetenhaus im Koalitionsvertrag verankert und dies zur zwingenden Voraussetzung gemacht werden soll, um in eine Koalition mit SPD und Grünen einzutreten. Damit steht sie deutlich links von Lederer. Es versprach also, ein lebhafter Parteitag zu werden, auch wenn die AntragstellerInnen grundsätzlich eine Koalition mit einer offen bürgerlichen Partei wie den Grünen für möglich halten.

Natürlich wurde auch diese Opposition im Vorfeld unter Druck gesetzt und die Abstimmung über den Antrag von Warnke und anderen wurde erst abgehandelt, nachdem über die Aufnahme der Koalitionsverhandlungen entschieden worden war. Dies geschah mit einer deutlichen Mehrheit, eine Auszählung der Gegenstimmen und Enthaltungen gab es nicht.

Schließlich wurde der Antrag abgestimmt, die Erstellung eines Enteignungsgesetzes zur Bedingung für eine Koalition zu machen. Er selbst kam jedoch nie zur Abstimmung, weil unter diesem Punkt zuerst ein Ergänzungsantrag der Mehrheit des Landesvorstandes behandelt wurde, der zwar das Ziel eines Enteignungsgesetzes bekräftigte, aber dies nicht zur Bedingung für eine Koalition macht.

Diese Ergänzung, die den Antrag praktisch in sein Gegenteil verkehrte, wurde mit 86 Ja- bei 53 Nein-Stimmen und einer Enthaltung angenommen. Damit war die Opposition geschlagen.

Katina Schubert, die für den Antrag des Parteivorstandes eintrat, stellte die Sache so dar, als ginge es nur um eine taktische Frage, wie das gemeinsame Ziel – die Fortsetzung der Koalition und die Verhinderung einer Ampel – erreicht werden könne.

Hier handelt es sich jedoch keineswegs bloß um ein untergeordnetes Manöver. Vielmehr wird darin deutlich, dass die Linkspartei und besonders deren Führung eine Koalition mit SPD und Grünen, also die Bildung eines linksbürgerlichen Senats, zum Credo „linker“ Politik macht, dem alles andere – auch die Reformsprechen der Linkspartei, auch die Umsetzung einer klaren demokratischen Entscheidung von über einer Million BerlinerInnen – untergeordnet wird.

Der ansonsten gern beschworene Dialog mit den sozialen Bewegungen, als deren parlamentarische Vertretung sich die Linkspartei gern darstellt, fand auf dem außerordentlichen Parteitag daher erst gar nicht statt. Die VertreterInnen von DWe, Gemeingut in BürgerInnenhand (GIB) und die Streikenden der Vivantes-Töchter durften unter dem fadenscheinigen Vorwand des Hygieneschutzes keine Delegation auf den Parteitag entsenden.

… lautstarkes Open-Air-Konzert davor

Das sahen gut 100 AktivistInnen vor dem ND-Gebäude am Franz-Mehring-Platz, in dem die Linksparteidelegierten tagten, anders. Sie rekrutierten sich überwiegend aus DWe, GIB, das u. a. gegen die Zerschlagung der S-Bahn und Schließungen von Krankenhäusern eintritt, und zahlreichen Streikenden aus den Tochterunternehmen des kommunalen Krankenhauskonzerns Vivantes, die sich weiterhin im Ausstand befinden. Letztere nehmen es dem Senat übel, dass er in der abgelaufenen Legislaturperiode sein Versprechen, die Töchter wieder unterst Dach der Landesunternehmensmütter zurückzuführen, nicht wahrmachte, sondern auch als quasi Eigentümervertretung für ihren Kampf um eine demgegenüber bescheidene Forderung nach Angleichung an den TVöD bisher keinen Finger krummgemacht hat.

„TvöD – für alle an der Spree!“, „S-Bahn für alle – jetzt!“ und „Vonovia & Co. enteignen – jetzt!“ waren denn folgerichtig auch die am meisten und lautesten gebrüllten Parolen. Welch herzerfrischender Kontrast zur üblichen Konzentration aufs parlamentarische Gerangel!

Die Mehrheit der Delegierten scheint das kaltgelassen zu haben.

Doch es ist dieses Potenzial, auf dem sich ein zukünftiges Antikrisenbündnis gegen die zu erwartenden Angriffe der nächsten Bundesregierung aufbauen lässt. Die Linken in DIE LINKE werden sich fragen müssen, wie weit sie noch den Niedergang ihrer Partei „kritisch“ begleiten wollen. Den Widerspruch, die Parlamentspartei zu verkörpern, die sich am meisten auf solche sozialen Bewegungen stützt, und letztere stets durch die Politik des vermeintlich kleineren Übels vor den Kopf zu stoßen, können sie nur positiv lösen, indem sie nicht weiter immer giftigere Kröten im Interesse der Parteieinheit schlucken. Sie müssen vielmehr eine einen offenen Kampf gegen die RegierungssozialistInnen führen und dürfen dabei auch vor einem politischen und organisatorischen Bruch nicht weiter zurückschrecken.