Gräfenhausen: Solidarität mit dem Streik der LKW-Fahrer!

Stefan Katzer, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Dass sie in ihren LKWs übernachten müssen, gehört für die Fahrer, die sich seit Juli auf der Raststätte Gräfenhausen im Streik befinden, zum Alltag. Statt in ihren Kabinen übernachten sie nun allerdings auf Matratzen, die sie auf die Ladeflächen ihrer Fahrzeuge gelegt haben. Paletten wurden zu Tischen umfunktioniert, die Planen mit Sprüchen beklebt: „No money“ ist darauf zu lesen.

Die vor allem aus Georgien, Usbekistan, der Ukraine und der Türkei stammenden LKW-Fahrer, die seit Wochen auf dem Rastplatz ausharren, stellen eine zentrale Forderung: Sie verlangen von ihrer Spedition die Auszahlung ihrer Löhne. Unterstützt werden sie dabei von Edwin Atema, einem Funktionär des Niederländischen Gewerkschaftsbundes FNV und der Europäischen Transportarbeitergewerkschaft. Er ist mit der Spedition und deren Auftraggeber:innen in Verhandlungen getreten, bisher allerdings ohne Erfolg.

Über eine halbe Millionen Euro schuldet die polnische Spedition Mazur den Fahrern, die unter anderem für IKEA, Audi, Red Bull, DHL, Porsche und Obi Waren quer durch Europa transportieren. Pro Arbeiter handelt es sich bei Tagessätzen von rund 80 Euro um mehrere Tausend Euro, die ihnen und ihren Angehörigen fehlen. Doch weder die Spedition noch die von ihr belieferten Unternehmen zeigen sich bisher bereit, die ausstehenden Löhne zu zahlen.

Da die Spedition auch nach Wochen des Streiks nicht auf die Forderung der Fahrer eingegangen ist, stattdessen sogar mit Anzeigen gegen sie reagiert hat, haben sich 30 von ihnen entschieden, in den Hungerstreik zu treten. Eine ganze Woche lang haben sie sich geweigert, Nahrung zu sich zu nehmen, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen und den Druck auf die Unternehmen zu erhöhen. Nach einer Woche haben sie den Hungerstreik auf Anraten eines Arztes allerdings wieder abgebrochen. Zu groß sei die Gefahr für ihre Gesundheit.

Überausbeutung mit System

Doch ihr Kampf um die Auszahlung ihrer Löhne geht weiter. Denn während sich ihre Mägen langsam wieder mit Essen füllen, bleibt ihr Konto trotz geleisteter Arbeit vorerst leer. Wie lange die Fahrer noch durchhalten werden, ist allerdings ungewiss. Bei einigen schwindet bereits die Hoffnung, dass sie jemals ihren Lohn erhalten werden.

Die Tatsache, dass die Arbeiter bereit waren, in den Hungerstreik zu treten, bringt ihre Verzweiflung deutlich zum Ausdruck. Es zeigt außerdem, wie kaltblütig die Kapitalist:innen sind, wenn es darum geht, möglichst viel Profit aus „ihren Arbeiter:innen“ herauszupressen. Sie halten sich nicht an Verträge, umgehen Arbeitsvorschriften und verweigern die Auszahlung von Löhnen – alles, um den eigenen Profit zu steigern.

Die Speditionen wie Mazur bedienen sich dabei eines Systems der Scheinselbstständigkeit, was den Fahrern das Einklagen ihrer Löhne weiter erschwert. Die LKWs werden von der Spedition geleast, weshalb diese auch schon versucht hat, diese mit eigenen paramilitärisch agierenden Securities zu kapern, was allerdings verhindert werden konnte. Die Kund:innen der Speditionen waschen derweil ihre Hände in Unschuld. Sie kaufen schließlich nur die Transportleistung, überweisen den Betrag dafür an die Spedition und hätten keinen Einfluss auf die Arbeitsbedingungen.

Auch die Gesundheit „ihrer“ Mitarbeiter:innen ist den Spediteur:innen (wie auch deren Großkund:innen) letztlich egal. Das ist auch der Grund, weshalb ein Hungerstreik nicht die gleiche Wirkung entfalten kann wie ein Streik, der das bedroht, was den Kapitalist:innen wirklich am Herzen liegt: ihren Profit.

Welche Perspektive?

Die Gewerkschaften und Unterstützer:innen der Fahrer:innen konzentrieren sich bisher vor allem darauf, die Spedition und die Großunternehmen, die sie beliefern, durch öffentlichen Druck zum Einlenken zu zwingen. Im April war dies nach einem ersten Kampf gegen die Nichtauszahlung der Löhne erfolgreich. Damals besuchten Europaabgeordnete den Parkplatz in Gräfenhausen, die Kund:innen von Mazur übten wegen der schlechten Publicity Druck auf die Spedition aus.

Doch diese Methode wirkt offenbar nicht dauerhaft, weil dieses Geschäftsmodell längst zur Norm in wichtigen Teilen der Logistikbranche geworden ist. Daher werden Medienarbeit, Unterstützung bei Verhandlungen sowie materielle Unterstützung durch Gewerkschafter:innen vor Ort nicht ausreichen.

Zuerst wäre eine Verbindung mit ähnlichen Streiks in Europa nötig. So legten in diesem Jahr auch schon Beschäftigte von Mazur in Niedersachsen, Südtirol und der Schweiz die Arbeit nieder.

Die Ausweitung des Streiks mit dem Ziel, die Arbeitsbedingungen für alle im Transportsektor Beschäftigten zu verbessern, eine massive Erhöhung der Löhne und Inflationsausgleich durchzusetzen, ist dabei ein entscheidender Schritt. Er müsste aber auch verbunden werden mit dem Kampf um die entschädigungslose Enteignung der Unternehmen, die sich weigern, die Löhne ihrer Mitarbeiter:innen auszuzahlen – und das sind faktisch alle in der Branche.

Dazu ist es aber auch notwendig, dass die Gewerkschaften mit ihrer sozialpartnerschaftlichen Politik brechen. Zweitens braucht es eine europaweite Kooperation mit einem gemeinsamen Kampfplan aller Branchengewerkschaften. Um das zu ändern, müssen die Gewerkschaften selbst umgekrempelt und unter die Kontrolle ihrer Mitglieder gebracht werden. Sie müssen wieder zu Waffen der Lohnabhängigen werden, mit denen sie Kämpfe auch tatsächlich gewinnen können. Symbolische Aktionen reichen nicht aus. Nicht diejenigen sollten hungern, die keine Löhne erhalten, sondern diejenigen, die keine Löhne auszahlen.

Lasst uns den Kampf der Fahrer nach allen Kräften unterstützen! Spenden und Solidaritätsadressen können dazu beitragen, den Kampfeswillen der Streikenden aufrechtzuerhalten.




Arbeiter:innen „RE-WOLT“ gegen Wolt

Minerwa Tahir, Infomail 1226, 21. Juni 2023

English translation: https://arbeiterinnenmacht.de/2023/06/21/workers-re-wolt-against-wolt/

Berlin: Fünfzig Wolt-Beschäftigte und Sympathisant:innen versammelten sich am Montag, den 19. Juni 2023, auf dem Platz vor dem Zentrum Kreuzberg am U Kottbusser Tor, um gegen die Nichtzahlung von Löhnen, den Entzug der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und andere arbeitsrechtliche Bestimmungen zu protestieren. Auf ihrem Transparent stand „Wolt schuldet uns Geld und Rechte“, gefolgt von dem Logo der Protestkampagne „ReWolt“ – eine Anspielung auf den Namen des Unternehmens und das Wort „Revolte“.

Kampagne

Der Protest wurde vom Wolt Workers Collective organisiert, einem Netzwerk von Wolt-Beschäftigten in Berlin, die bereits am 13. April dieses Jahres einen Protest organisiert hatten. Der Protest am Montag war die Fortsetzung einer Reihe von Protesten, die die Arbeit„nehmer“:innen organisieren wollen, bis sie ihre Grundrechte erhalten. Die jüngste Protestbewegung in Berlin begann, als einer Flotte von 120 eingewanderten Arbeiter:innen über mehrere Monate hinweg die Bezahlung verweigert wurde, was sich auf mehrere Tausend Euro an unbezahlten Löhnen belief. Sie waren von Wolt über einen Subunternehmer angeheuert worden, der auf den Namen Ali hört und in Neukölln in der Karl-Marx-Straße ein Geschäft für Handyzubehör namens Mobile World betreibt. Bei der letzten Protestaktion fuhren die Arbeiter:innen mit dem Fahrrad vom U Karl-Marx-Straße zur Wolt-Zentrale in Friedrichshain, wo sie der Wolt-Geschäftsführung eine schriftliche Charta mit ihren Forderungen für die nicht gezahlten Löhne übergeben wollten. Mitglieder der Gruppe Arbeiterinnenmacht waren dort anwesend, und wir wurden Zeu:ginnen, wie die Geschäftsführung sich weigerte, auch nur aus ihren Büros zu kommen, um die Charta mit den Forderungen entgegenzunehmen. Als Muhammad, der Anführer des Protests, versuchte, die Charta in den Briefkasten des Unternehmens zu werfen, wurde ihm gesagt, dass Wolt keinen habe.

Was als Kampagne unbezahlter Arbeiter:innen begann, denen unter dem Vorwand der Ausrede eines Subunternehmers der Lohn verweigert wurde, hat sich nun zu einem kollektiven Kampf entwickelt, an dem auch direkt bei Wolt Angestellte beteiligt sind. Gemeinsam fordern sie die ihnen zustehenden Löhne, Sicherheit am Arbeitsplatz, eine Entschädigung, ein Ende des ausbeuterischen und illegalen Systems der Untervergabe von Aufträgen sowie bezahlten Urlaub im Krankheitsfall und andere Rechte. Um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen, organisierten sie am Montag eine Protestveranstaltung, bei der eine Reihe von Arbeit¡nehmer“:innen sowie ihre Freund:innen und Sympathisant:innen gegen die Ungerechtigkeiten sprachen, denen sie ausgesetzt sind.

Arbeiter:innen klagen an

„Ich bin ein Student mit Migrationshintergrund und kämpfe darum, hier in Deutschland mit meiner Familie leben zu können“, sagte Muhammad, der Anführer des Protests. „Meine Frau und ich arbeiten in Gelegenheitsjobs, um über die Runden zu kommen. Wolt hat mir drei Monate meines Lohns gestohlen. Und ich bin nicht allein. Wir sind viele Student:innen mit Migrationshintergrund, die sich in der gleichen Situation befinden und von diesem Unternehmen ausgebeutet werden. Weil wir Migrant:innen sind, haben viele Studierende sogar Angst zu protestieren. Ich war achtmal persönlich in der Wolt-Filiale, um meinen Lohn einzufordern. Der Geschäftsführer, den alle nur als Ali von der Mobile World GmbH kennen, weigerte sich jedoch immer wieder und sagte schließlich, dass er von Wolt nicht dafür bezahlt wurde, unseren Lohn zu zahlen. Wenn wir Aufträge pünktlich und mit ehrlichem Einsatz ausgeliefert haben, ist das Mindeste, was wir verdienen, dass wir bezahlt werden! Jede Arbeit hat ihre Würde. Es ist ein Verbrechen, dass Menschen in diesem reichen Land leben und Hungerlöhne erhalten.“

Seine Kollegin Shiwani Sharma, die ebenfalls ihren Lohn nicht erhalten hat, sprach über die Härten, denen diese Arbeiter:innen infolge des Lohndiebstahls ausgesetzt sind. „Ich bin Studentin an einer privaten Universität in Berlin und es ist schon sehr schwierig, mit den Herausforderungen der hohen Miete und Studiengebühren fertigzuwerden“, sagte sie. „Ich bin im Dezember bei Wolt als Fahrerin eingestiegen. Es war eiskalt, aber wir gingen von Tür zu Tür, um die Kund:innen mit Essen zu versorgen. An manchen Tagen hatten wir starke Schmerzen in den Händen, weil das Wetter so kalt war. Die ganze Zeit über saß die Geschäftsführung von Wolt in ihren gut geheizten Büros. Dank unserer harten Arbeit bekommen sie das Geld, um ihre Büros zu heizen, aber dann nehmen sie uns auch noch unseren mageren Lohn ab. Wir verdienen es, bezahlt zu werden! Und wir verdienen zumindest einen Mindestlohn pro Stunde statt der Bezahlung pro Auftrag. Dieses System der auftragsbezogenen Bezahlung muss abgeschafft werden!“

Ein anderer Fahrer indischer Herkunft, Abhay, beschrieb seine Erfahrungen mit Wolt als Achterbahnfahrt. Ihm zufolge arbeiteten diese Arbeiter:innen in den eisigen Monaten Dezember und Januar acht bis zehn Stunden, weil sie dachten, sie würden bezahlt, um ihre Universitätsgebühren und andere Ausgaben bestreiten zu können. „Was bekomme ich nach dieser Arbeit? Wolt hat sich geweigert, mich zu bezahlen. Ich dachte, sie würden mich im nächsten Monat bezahlen. Aber ich habe für November, Dezember und Januar kein Geld bekommen. Die Personalabteilung von Wolt hat sogar schon geleugnet, dass wir ihre Beschäftigten sind. Wir haben alles, um zu beweisen, dass wir für Wolt gearbeitet haben. Wir wollen bezahlt werden.“

Janno, ein Freund der Arbeiter:innen von der Kampagne Welcome United, sagte, dass illegale Geschäftspraktiken wie Lohndiebstahl gestoppt werden müssen. „Viele der Lieferdienste verletzen täglich grundlegende Rechte und Gesetze auf dem Rücken ihrer Fahrer:innen“, sagte er. „Das ist kein Zufall, kein Ausrutscher. Es ist ihr Geschäftsmodell.“

Lieferfahrer:innen von Gorillas, Lieferando und anderen Unternehmen dieser Art waren ebenfalls anwesend, um ihre Argumente gegen prekäre Arbeit vorzubringen. Joey vom Workers Centre, der auch ein Gorillas-Fahrer ist, sprach über die Notlage von Arbeitsmigrant:innen in der deutschen Gig-Economy und stellte sie in den größeren europäischen Kontext des strukturellen Rassismus. Sie verurteilten die Untätigkeit der griechischen Behörden und die europäische Gleichgültigkeit im Allgemeinen gegenüber den pakistanischen, syrischen und anderen Opfern des jüngsten Ertrinkens der Insass:innen eines überfüllten Bootes im Mittelmeer.

Zum Abschluss führte das Theater X einen theatralischen Sketch über die Notlage der betroffenen Zusteller:innen auf.

Kapitalismus und Überausbeutung

Die Krise der Lebenshaltungskosten in Deutschland wird schon jetzt von Tag zu Tag unerträglicher. Schon jetzt ist es für uns Beschäftigte so schwer, mit dem Mindestlohn über die Runden zu kommen. Den Beschäftigten im prekären Sektor wird nun sogar dieser Lohn vorenthalten. Es ist absolut beschämend, dass diese Praxis des Lohndiebstahls in einem so genannten demokratischen Staat wie Deutschland stattfinden kann. Aber es zeigt auch, dass der Staat immer die Interessen der Kapitalist:innenklasse vertritt.

Und deshalb müssen wir uns als Arbeiter:innen zusammenschließen und die Gewerkschaften zu kollektiven Kampforganisationen machen, die uns vertreten, aber wir brauchen auch eine Arbeiter:innenpartei, die uns und unsere Interessen in Wirklichkeit vertritt.

Unser Genosse Martin hielt auf der Demonstration eine bewegende Rede. Er sagte, er sei Mitglied der IG Metall (der größten Industriegewerkschaft in Deutschland und Europa), und auch wenn seine Gewerkschaft einer anderen Branche angehöre, sei es wichtig, dass wir uns als gemeinsam kämpfend verstehen.

„Das ist etwas, was die Gewerkschaften in Deutschland gar nicht oder nicht ausreichend tun. Das ist etwas, was wir in den nächsten Jahren gemeinsam ändern müssen. Euer Ringen, euer Mut, euer Kampf gegen Outsourcing, gegen Leiharbeit, gegen Lohnraub zeigt nicht nur, welche Maßnahmen Wolt und andere kriminelle Kapitalist:innen ergreifen, um ihre Gewinne zu sichern. Es zeigt auch, dass ihr keine Opfer seid und ihr euch wehren könnt, und ihr habt bewiesen, dass ihr euch organisieren könnt und wir uns organisieren können. Deshalb ist es wichtig, dass wir Solidarität und einen gemeinsamen Kampf mit den Gewerkschaften im gleichen Sektor wie der NGG, ver.di und allen anderen fordern, denn der Kampf, den ihr führt, ist nicht nur für euch wichtig, er wird auch für die gesamte Arbeiter:innenklasse wichtig sein. Je mehr sich der prekäre Sektor ausweitet, desto mehr werden die Löhne überall gedrückt! Deshalb ist es nicht nur eine Frage der Solidarität, sondern auch eine Frage des Eigeninteresses aller Arbeiter:innen, diesen Kampf zu unterstützen. Wir müssen unabhängig vom Wetter Lebensmittel kaufen und Miete zahlen, und deshalb müssen wir das System in Frage stellen, das hinter dem Diebstahl eines Lohns steckt, der selbst für die Deckung der Grundbedürfnisse nicht ausreicht. Hunderte Millionen von Migrant:innen, Frauen und die am stärksten benachteiligten und unterdrückten Teile der Arbeiter:innenklasse werden durch die Ausweitung der Gig-Economy in diese Bedingungen getrieben. Wenn wir ein Ende dieses Systems wollen, müssen wir auch das Recht auf die Gewinne in Frage stellen, die Lieferando, Wolt, Flink und all die anderen für sich selbst erzielen. Wenn sie nicht bereit sind, die Löhne pünktlich zu zahlen, wenn sie nicht bereit sind, Löhne zu zahlen, die zum Leben reichen, dann sollten diese Unternehmen entschädigungslos enteignet werden! Wir müssen aus einem System, das auf Ausbeutung, Rassismus, Krieg und Unterdrückung fußt, Geschichte machen!“

Es ist nicht das erste Mal, dass die Frage der Enteignung in Berlin auf die Straße gebracht wird. Im Jahr 2021 war das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ erfolgreich, auch wenn der Gesetzgeber den Willen der Berliner Bevölkerung, die angesichts der Wohnungs- und Mietkrise für die Enteignung der Immobiliengesellschaft Deutsche Wohnen und anderer gestimmt hat, nicht umgesetzt hat. „Wir sind nicht länger bereit, mit unseren überhöhten Mieten die Gewinne der Aktionär:innen zu finanzieren“, heißt es auf deren Website. Die Profite der Unternehmen, die von den Privilegien der Kapitalist:innenklasse durch prekäre Gig-Arbeit profitieren, werden nun zunehmend in Frage gestellt. Auch einige deutsche Schüler:innen waren zu der Demonstration gekommen, um ihre Solidarität mit den unbezahlten eingewanderten Arbeiter:innen zu bekunden. „Die Tatsache, dass das Management nicht bereit ist, euch zu bezahlen, ist eine Frechheit“, sagte Kai, der auch Mitglied der kommunistischen Jugendgruppe Revolution ist. „Als Jugendliche, die sich für unsere Zukunft interessieren, sehen wir die Notwendigkeit, uns mit eurem aktuellen Kampf und mit dem Kampf der ganzen Welt zu vereinen. Heute sind wir Student:innen oder Auszubildende und eines Tages werden wir Arbeiter:innen sein. Euer Kampf jetzt ist auch ein Kampf für unsere Zukunft. Auch wir werden von demselben System unterdrückt, das euch unterdrückt.“ Als er seine Rede beendete, rief die Menge unisono: „Student:innen und Arbeiter:innen, vereinigt euch und kämpft!“

Eine Solidaritätsbotschaft des Sprechers der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) lautete: „Ich drücke meine Solidarität mit eurem Kampf aus. Als jahrzehntelang aktiver Gewerkschafter muss ich sagen, dass es eine Schande ist, dass die Nichtbezahlung von Arbeit„nehmer“:innen in diesem Land wieder möglich ist. Dass das Mindestrecht der Lohnarbeit, dass der Lohn gezahlt wird, nicht respektiert wird! Die Gewerkschaften des DGB, die Parteien, die für sich in Anspruch nehmen, die arbeitenden Menschen zu vertreten, SPD und Linkspartei, müssen dafür kritisiert werden, dass sie die Gesetze für Leiharbeit und Plattformökonomie zulassen, die die Rechte der Arbeiter:innen ausgehöhlt haben. Es ist ihre Pflicht, für die Wiederherstellung dieser Rechte und für die Verteidigung der betroffenen Beschäftigten zu kämpfen.“

Positiv war, dass Ferat Koçak von der Partei DIE LINKE Neukölln unserem Aufruf zur Solidarität gefolgt ist. Da Ferat terminlich verhindert war, bekundete an seiner Stelle Genosse Daniel seine Solidarität. Wir rufen alle linken Kräfte und Gewerkschaften auf, gleichermaßen zu reagieren und diese Bewegung als aktiven Kampf mit aufzubauen. Schließlich liegt es im Eigeninteresse aller Lohnabhängigen, die Ausweitung prekärer Arbeit zu verhindern und gemeinsam für die Durchsetzung von Mindestlöhnen und anderen grundlegenden Arbeitsrechten für alle zu kämpfen! Deshalb rufen wir in einem ersten Schritt alle auf, am 27. Juli zur Gerichtsverhandlung zu erscheinen, damit auch die Gerichte wissen, dass wir zusammenstehen.

Hoch die Internationale Solidarität!




Workers „RE-WOLT“ against Wolt

Minerwa Tahir, Infomail 1226, 21. Juni 2023

Deutsche Übersetzung: https://arbeiterinnenmacht.de/2023/06/21/arbeiterinnen-re-wolt-gegen-wolt/

Berlin: Fifty Wolt workers and sympathisers took to the square in fron of Zentrum Kreuzberg at U Kottbusser Tor on Monday, 19th June 2023, to protest against non-payment of wages, deprivation from paid sickness leave and other labour law provisions. Their banner read “Wolt owes us money and rights” followed by the logo of the protest campaign, called “ReWolt” – a play on the company’s name and the word “revolt”.

The protest was organised by the Wolt Workers Collective, which is a network of Wolt workers in Berlin who had earlier organised a protest on April 13 this year. Monday’s protest was a continuation of the series of protests that workers have planned to organise until they are given their basic rights. The recent protest movement in Berlin began when a fleet of 120 migrant workers were denied payment for several months, amounting to several thousands of euros in unpaid wages. They had been hired by Wolt through a subcontractor who goes by the name Ali and runs a mobile phone accessories shop in Neukölln on Karl Marx Straße by the name Mobile World. At the last protest, workers cycled their way from U Karl Marx Straße to the Wolt headquarters in Friedrichshain where they had intended to deliver a written charter of their demands for the unpaid wages to Wolt management. Members of Gruppe Arbeiterinnenmacht were present there and we witnessed how management refused to even come out of their offices and receive the charter of demands. When Muhammad, the leader of the protest, tried to put the charter in the mailbox of the enterprise, he was told that Wolt did not have a mailbox.

What began as a campaign of unpaid employees being denied wages under the farce of a subcontractor excuse has now evolved and grown into a collective struggle that also involves directly hired employees of Wolt. Together, these workers demand their rightful payment of wages, occupational safety, workers‘ compensation, an end to the super-exploitative and illegal subcontracting system, and paid sickness leave among other rights. To make their voice heard, they organised a protest on Monday, where a number of workers and their friends and sympathisers spoke against the injustices they have been facing.

Workers accuse

“I am a migrant student and struggle to live here in Germany with my family,” said Muhammad, the leader of the protest. “My wife and I work odd jobs to make ends meet. Wolt has stolen three months of my wages. And I am not alone. We are many migrant students facing the same situation at the hands of this company. Because we are migrants, many students are even afraid of protesting. I went to the Wolt store in person eight times to claim my wages. However, the manager, whom everyone only knows as Ali from Mobile World GmbH, repeatedly refused and finally said that he has not been paid by Wolt to pay our wages. When we have delivered orders on time and with honest dedication, the least we deserve is to be paid! All labour has dignity. It is a crime for people to live in this rich nation and receive starving wages.”

His colleague, Shiwani Sharma, who has also not been paid her wages, spoke about the hardships these workers have been facing as a result of the wage theft. “I am a student in a private university in Berlin and it is already very difficult to cope with the challenges of high rent and high tuition fees,” she said. “I joined Wolt as a rider in the month of December. It was freezing cold weather but we would go door to door to deliver food to customers. On some days, we would get severe pain in our hands because the weather was so cold. All the while, the Wolt management sat in their comfortably heated offices. They get the money to heat their offices due to our hard work but then they deprive us of even our meagre wages. We deserve to be paid! And we deserve at least a minimum wage per hour instead of the per order payments. This per order payment system must be abolished!”

Another rider of Indian background, Abhay, described his experience with Wolt as a roller coaster ride. According to him, these workers worked eight to ten hours in the freezing months of December and January, thinking that they might be paid to be able to afford their university fees and other expenses. “What do I get after this work? Wolt denied to pay me. I thought they will pay me next month. But I have not been paid for November, December and January. The HR department of Wolt has even denied before that we are their workers. We have everything to prove that we worked for Wolt. We want to be paid.”

Janno, a friend of the workers from the Welcome United campaign, said that illegal business practices such as wage theft must be stopped. “Many of the delivery services violate basic rights and laws on the backs of their riders on a daily basis,” he said. “It’s not a coincidence. It’s not an accident. It’s their business model.”

Delivery riders from Gorillas, Lieferando, and other such companies were also present to make their case regarding precarious work. Joey from Workers Centre, who is also a Gorillas rider, spoke about the plight of migrant workers in Germany’s gig economy and situated it in the larger European context of structural racism. They condemned Greek authorities’ inaction and European apathy in general towards the Pakistani, Syrian and other victims of the recent drowning of an overcrowded boat in the Mediterranean.

At the end, Theater X performed a theatrical sketch on the plight of affected delivery workers.

Capitalism and superexploitation

Germany’s cost of living crisis is already becoming more and more unbearable with each passing day. It is already so difficult for us workers to make ends meet even on minimum wage. Workers employed in the precarious sector are now deprived of even that wage. It is absolutely shameful that this practice of wage theft can happen in a so-called democratic state like Germany. But what it also shows is that the state is always representative of the interests of the capitalist class. And that is why we as workers have to unite ourselves and make the trade unions collective fighting organisations that represents us but also that we need a workers’ party that in reality represents us and our interests.

Our comrade, Martin, gave a moving speech at the protest. He said he was a member of IG Metall (the largest industrial union in Germany and Europe), and even though his union belongs to a different trade, it is important that we see ourselves as waging a struggle together. “This is something that the trade unions in Germany do not do at all or do not do sufficiently. This is something that we need to change in the next years together. Your struggle, your courage, your fight against outsourcing, against subcontracting, against the robbing of your wages shows not only what kind of measures Wolt and other criminal capitalists are undertaking in order to secure their profits. It also shows that you are not victims and you can fight back and you have proven that you can organise and that we can organise ourselves. Therefore, it is important that we demand solidarity and a common struggle with the trade unions in the same sector like the NGG, Ver.di and all others because the struggle you wage is not only important for you, it will also be important for the whole working class. The more the precarious sector expands, the more it will undercut wages everywhere! This is why it is not just a question of solidarity but rather a question of self-interest of every worker to support this struggle. We have to buy food and pay rent irrespective of the weather and that is why we have to question the system that is behind stealing of a wage that is itself insufficient to pay for basic needs. Hundreds of millions of migrant workers, women and the most disadvantaged and oppressed sections of the working class are driven into these conditions by the expansion of gig economy. If we want an end to this system, we also have to question the right to the profits which Lieferando, Wolt, Flink and all the others are making for themselves. If they are not prepared to pay the wages on time, if they are not prepared to pay wages sufficient for a living, then those companies should be expropriated without compensation! We need to make history out of a system which stands on exploitation, on racism, on war and oppression!”

This is not the first time that the question of expropriation has been raised in the streets of Berlin. In 2021, the Deutsche Wohnen Enteignen (Expropriate Deutsche Wohnen) referendum was successful, even if lawmakers have failed to act on the will of the Berlin population who voted in favour of expropriating the real estate company, Deutsche Wohnen, in light of the housing and rent crisis. “We are no longer willing to finance the profits of the shareholders with our excessive rents!” reads their website. Profits of companies enjoying the privileges offered to the capitalist class through precarious gig work are now increasingly coming under question. Some German school students had also come to the protest to express solidarity with the unpaid migrant workers. “The fact that the management is not willing to pay you is an insolence,” said Kai, who is also a member of communist youth group Revolution. “As youth interested in our future, we see the necessity to unite with your current struggle and with the struggle of all around the world. We are students or trainees today and we will be workers one day. Your struggle now is also a struggle for our future. We are also being oppressed by the same system that oppresses you.” As he ended his speech, the crowd shouted in unison, “Students and workers, unite and fight!”

A solidarity message received from the speaker of the Vernetzung für kämpfersiche Gewerkschaften read: “I express my solidarity with your struggle. As an active trade unionist for many decades, I have to say that it is a shame that the non-payment of workers is possible again in this country. That the minimum right of wage-labour, that the wage is paid, is not respected! The trade unions of the DGB, the parties that claim to represent the working people, SPD and the Left Party, have to be criticised for allowing the laws for temporary work and platform economy that have eroded workers’ rights. It’s their duty to fight for re-establishment of these rights and for the defence of the workers concerned.”

It was positive that Ferat Kocak of Die Linke Neukölln responded to our call for solidarity and sent Comrade Daniel in his stead to express solidarity with the workers. We call upon all left forces and trade unions to respond alike and help build this movement as an active struggle. After all, it is in the self-interest of all workers to prevent the expansion of precarious work and to collectively fight for the application of minimum wage and other basic labour rights on all! Therefore, as a first step, we call on everyone to come to the court hearing on 27 July, so that the courts also know that we stand together.

Hoch die Internationale Solidarität!




Gemeinsam gegen Arbeitsrechtsverletzungen: Arbeiterinnen und Arbeiter von Wolt, Lieferando, Flink sitzen zusammen

Minerwa Tahir, Infomail 1223, 17. Mai 2023

„Zwei Tage nachdem meine sechsmonatige Probezeit am 8. Mai endete, wurde ich am 10. Mai per E-Mail entlassen. Ich brauchte das Geld für meine Studiengebühren.“

Dies ist die Geschichte des 22-jährigen K*, der an der Berlin School of Business Innovation den Master in Finance studiert. Er kam aus Kerala, Indien, nach Deutschland. „Meine Eltern haben mich dabei unterstützt, hierherzukommen, aber was kann ich noch mehr von ihnen verlangen“, sagt er. „Es ist auch für sie schwierig, mich von Indien aus zu unterstützen. Ich habe aus der Not heraus angefangen, bei Flink zu arbeiten, auch, weil mir die Idee gefiel, mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Und jetzt, nach sechs Monaten guter Arbeit, wurde mir ohne Grund gekündigt.“

Versammlung

K* war am Montag, den 15. Mai, bei einer Versammlung der Wolt-Zusteller:innen anwesend. Das Treffen wurde mit dem Ziel organisiert, allen Zusteller:innen, die von Nichtbezahlung, Kündigungen ohne Grund, Entzug grundlegender Arbeitsrechte wie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und anderen Problemen betroffen sind, Rechtsbeistand zu leisten. Martin, ein Rechtsanwalt, war anwesend, um die Beschäftigten aus rechtlicher Sicht zu beraten, da er über Erfahrungen mit Fällen von Lohnabhängigen bei verschiedenen Lebensmittellieferant:innen wie Gorillas, Lieferando, Flink und Wolt verfügt. Andere, die für andere Lebensmittellieferant:innen als Wolt arbeiten oder gearbeitet haben, sowie einige Aktivist:innen waren ebenfalls anwesend.

Laut K* behandelt Flink seine Mitarbeiter:innen seit einigen Monaten auf unfaire Weise. „Flink hat nicht so viel Geld verdient, wie es erwartet hatte, und jetzt wälzen sie die Last ihrer Verluste auf die Beschäftigten ab, indem sie sie entlassen“, sagte er. „Ich verstehe, dass ein Unternehmen das manchmal tun muss, aber das Mindeste, was sie tun können, ist, uns eine 30-tägige Kündigungsfrist einzuräumen.“

Er teilt sich ein Zimmer mit einem anderen Freund, weil die Miete ohnehin schon so schwer bezahlbar ist. Jetzt, da ihm plötzlich gekündigt wurde, macht er sich Sorgen, wie er in diesen prekären Zeiten seine Finanzen regeln soll. „In meinem Vertrag steht, dass man innerhalb der sechsmonatigen Probezeit jederzeit gekündigt werden kann“, sagte er. „Aber mich nur zwei Tage nach Ablauf der Probezeit fristlos zu entlassen, ist geradezu grausam.“

Der Fall von K* ist weder neu noch ein Einzelfall. Eine andere Person, die bei dem Treffen anwesend war, berichtete von einer ähnlichen Erfahrung mit Flink. Inzwischen haben Wolt-Mitarbeiter:innen wie Mohamed nicht einmal einen Arbeitsvertrag. Zusammen mit einem anderen Wolt-Arbeiter hat er im Juli einen Termin für die Anhörung ihrer Fälle vor einem Gericht.

Mohamed sagte, dass der Eigentümer von Mobile World, der die Arbeiter:innen des Fuhrparks von Wolt als Subunternehmer:innen beschäftigte und ihnen Löhne im Wert von 3.000 Euro nicht zahlte, jetzt neue Leute einstellt. „Es gibt eine Anzeige auf Ebay unter Alis Namen“, sagte er. „Diesmal sind es aber nur Autofahrer:innen, die er einstellt.“

Arbeiter:innen von Lieferando, Wolt und Flink diskutierten ähnliche Probleme. Einige beschwerten sich darüber, dass sie für ihre erste Bestellung überhaupt und auch für die erste nach einer Pause nicht für die gefahrenen Kilometer entschädigt werden. R* sprach darüber, dass Wolt von ihm erwartet, dass er nachts zu ungewöhnlichen Zeiten arbeitet, obwohl er einen „flexiblen“ Vertrag gewählt hat, um sich um sein Kind zu kümmern.

Es wurde auch über die Bildung (und die damit verbundenen Schwierigkeiten) eines Betriebsrats für die Wolt-Beschäftigten diskutiert, da die Lieferando-Beschäftigten bereits einen haben. Schließlich wurde beschlossen, eine weitere Protestaktion zu organisieren, um Druck und Bewusstsein zu schaffen. Beim nächsten Treffen am 22. Mai sollen die Aktionspläne konkretisiert werden.

Solidarität

Die Gruppe Arbeiter:innenmacht erklärt ihre volle Solidarität mit allen Zusteller:innen, die für ihre Rechte kämpfen. Ihr Kampf ist gerecht und mehr denn je absolut notwendig. Die Lebensmittellieferant:innen sind sich der begrenzten Möglichkeiten bewusst, die auf migrantische Student:innen aus südasiatischen Ländern aufgrund von Sprachbarrieren existieren. Die meisten dieser Studierenden kommen aus nicht sehr wohlhabenden Verhältnissen und müssen als Lieferfahrer:innen arbeiten, um über die Runden zu kommen.

Internationale Lebensmittellieferant:innen nutzen ihre prekäre Lage aus und halten sich dabei nicht einmal an die deutschen arbeitsrechtlichen Vorschriften. Das liegt daran, dass die meisten Migrant:innen ihre Rechte nicht kennen und viele, die sie kennen, Angst haben, das Unternehmen zu verklagen. Nicht wenige haben mit ihrem Studium und mehreren Gelegenheitsjobs kaum Zeit, sich kollektiv zu organisieren. Das stille Leiden der Mehrheit hat dazu geführt, dass sich diese blutsaugenden Unternehmen zu einem Monster entwickelt haben, das völlig ungestraft agiert.

Die Auslieferung von Lebensmitteln ist ein fester Bestandteil des Lebens in Deutschland, was zeigt, wie wichtig diese Lohnabhängigen heute sind. Jeden Tag sieht man Hunderte dieser jungen Männer und Frauen, die sich auf unseren Straßen mit dem Fahrrad fortbewegen. Wir rufen alle Lohnabhängigen und Gewerkschaften auf, die Kämpfe dieser sogenannten informellen Arbeiter:innenklasse zu unterstützen. Der Kapitalismus hat sie zu einer Unterklasse degradiert, und es ist eine Schande, dass die deutschen Behörden dies direkt vor ihrer Nase zugelassen haben.

Wir als Arbeiter:innen sind stärker, wenn wir geeint und organisiert sind. Aber diese Einheit und Organisation wird sich nicht von selbst ergeben. Es ist die Pflicht aller Sozialist:innen und Kommunist:innen, die bereits in Gewerkschaften organisiert sind, das Thema der Solidarisierung mit den Beschäftigten des informellen Sektors aufzugreifen und in ihren bestehenden Gewerkschaften dafür zu streiten. Es ist unsere Pflicht, an den Treffen und Veranstaltungen unserer Klassenbrüder und -schwestern teilzunehmen, um ihnen zu zeigen, dass wir an ihrer Seite stehen. Wir können nie wirklich wissen, wann solche „Ausnahmen“ zur Regel für alle werden könnten. Bereiten wir uns also schon jetzt darauf vor und stellen wir uns auf die richtige Seite der Geschichte.

Auch für die Beschäftigten des informellen Sektors wäre es von Vorteil, sich in der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) zu organisieren, aber auch Teil des klassenkämpferischen Netzwerks der Gewerkschaften, der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) zu werden, das im Januar 2020, kurz vor Beginn der Pandemie, gegründet wurde. Diese ist zwar offiziell „vorbei“, aber unser kollektives Leid ist es noch lange nicht. Deshalb müssen wir uns zusammenschließen und streiken!

* Namen zum Schutz der Identitäten verborgen.




Minijobs: Der Weg in die Altersarmut wird ausgebaut

Paul Neumann, Infomail 1179, 5. März 2022

SPD und Grüne versprachen in ihren Wahlprogrammen, Minijobs abschaffen. Die Koalitionsvereinbarung verkündet nun das Gegenteil: Minijobs sollen ausgebaut werden. Die Geringfügigkeitsgrenze soll von 450 auf 520 EUR sozialversicherungsfrei angehoben werden. Das freut alleine die Unternehmer:innen und Wohlhabende, werden doch für sie prekäre Arbeitsverhältnisse wie Minijobber:innen und Haushaltshilfen noch lohnender. Für die in Minijobs Beschäftigten sind Entqualifizierung und Altersarmut vorprogrammiert.

Geringfügige Beschäftigung

Mit der Agenda 2010 in den Jahren 2002 – 2004 wurde neben der Schaffung eines Niedriglohnsektors auch die „geringfügige Beschäftigung“ neu geregelt. Seitdem steigt die Zahl der Minijobs kontinuierlich an. 2019 waren ca. 7 Millionen Menschen in einem 450-Euro-Job beschäftigt, d. h. jedes 5. Beschäftigungsverhältnis in Deutschland ist ein prekäres. Nur für ein Drittel stellt der Minijob einen Nebenverdienst dar, aber für zwei Drittel der in diesem Bereich Beschäftigten das alleinige Einkommen. Das ist mit massiven negativen Folgen verbunden: Eine Einzahlung in die Renten- und Sozialkassen findet praktisch nicht statt. Der/Die „Arbeitgeber:in“ kann einen Pauschalbetrag zur Rentenversicherung über die Minijobzentrale einzahlen, was aber lediglich bei 450 EUR Einkommen zu einem Rentenzuwachs in Höhe von 3,64 EUR/mtl. führt, so dass ca. 80 % der Minijobber:innen sich von der Rentenversicherungspflicht befreien lassen.

Ebenso sind sie nicht gegen Arbeitslosigkeit versichert, was in der Corona-Krise für ca. 2 Millionen entlassene Minijobber:innen fatale Folgen hatte. Weder besteht ein Anspruch auf Arbeitslosen- noch Kurzarbeiter:innengeld, so dass sie Leistungen beim Jobcenter beantragen mussten. Darüber hinaus werden ihnen grundlegende Rechte systematisch vorenthalten. Grundsätzlich stehen geringfügig Beschäftigten die gleichen Rechte zu wie Vollzeitbeschäftigten. So haben sie einen Anspruch auf bezahlten Urlaub, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Mutterschutz oder Elternzeit. Die Realität sieht anders aus. Laut einer Studie des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) erhält rund ein Drittel keinen bezahlten Urlaub und fast der Hälfte wird die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall verweigert. Ebenso werden gesetzliche Pausen und Ruhezeiten eher selten eingehalten. Zudem verfügen mehr als die Hälfte über eine Ausbildung in dem Bereich, in dem sie beschäftig sind, werden aber i. d. R. mit Mindest- oder Aushilfslohn abgefertigt.

So ist es kein Wunder, dass eine eigenständige Existenzsicherung mit einem Minijob nicht möglich ist. Die materielle Abhängigkeit, besonders von Frauen, von einem Partner mit Einkommen wird so gefördert. Wer nicht in dieser „glücklichen“ Lage ist, wie viele alleinerziehende Frauen, dem/r bleibt nur der Gang zum Jobcenter. 2020 bezogen mehr als 1 Millionen berufstätige Menschen, als sog. Aufstocker:innen, Leistungen nach SGB II (Hartz IV). Ein Drittel davon ist als Minijobber:in beschäftigt. Durch die rot-grüne Koalition wurde mit der Agenda 2010 faktisch ein Kombilohn zugunsten der Unternehmen geschaffen, der auf Kosten der Lohnabhängigen jährlich mit 10 Milliarden EUR subventioniert wird und zusätzlich den Sozialversicherungen Einnahmeausfälle von über 3 Milliarden EUR beschert.

Wurden jahrelang Minijobs, gerade für Langzeitarbeitslose, also Hartz-IV-Bezieher:innen, als Brücke zurück in den 1. Arbeitsmarkt angepriesen, zeigt die o. g. Studie des IAB, dass das Gegenteil der Fall ist: Minijobs verdrängen im großen Stil reguläre Arbeitsverhältnisse und stellen nur in sehr geringen Umfang eine Brücke in den 1. Arbeitsmarkt dar. Einmal Minijobber:in, immer Minijobber:in ist die Realität. Betroffene verbleiben vielmehr „oft im Niedriglohnsegment und arbeiten in vielen Fällen unterhalb ihres Qualifikationsniveaus“, so die Bilanz des IAB. Allein in Kleinbetrieben sollen lt. IAB 500.000 reguläre Arbeitsplätze durch Minijobs abgebaut worden sein.

Was tun die Gewerkschaften?

Haben die Gewerkschaftsspitzen von 2002 – 2004 unter Rot-Grün aktiv an der Regierungs-/Unternehmer:innenkommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ unter der Leitung des VW-Personalvorstandes Hartz mitgewirkt und die Legalisierung von Minijobs als Nebenerwerb und die Entgrenzung der Tätigkeit von 15 Wochenstunden unterstützt, so ist ihr Verhalten heute ambivalenter. Schließlich haben „hunderttausende Beschäftigte im Gastgewerbe ihren Minijob in der Corona-Krise verloren – ohne jede Absicherung durch Kurzarbeiter- oder Arbeitslosengeld. Minijobs sind eine Falle und dienen oft dazu, Schwarzarbeit zu legitimieren“ (Guido Zeitler, Gewerkschaft NGG). Der DGB fordert, geringfügige Beschäftigung sollte vollständig sozialversicherungspflichtig werden.

Die Konsequenz aus diesen Einsichten, die Organisierung von prekär Beschäftigten voranzutreiben, um für die Abschaffung solcher Arbeitsverhältnisse zu kämpfen, bleibt jedoch aus. Stattdessen setzen die Gewerkschaften auf folgenlose Appelle an die Regierung und fordern staatliche Regulierung. Nach dem Willen des DGB sollen Beschäftigte vom Staat besser über ihre Rechte aufgeklärt und Verstöße gegen den Gleichheitsgrundsatz härter bestraft werden.

Haushaltshilfen

Deutlich wird dieser staatskorporatistische Umgang des DGB mit der wachsenden prekären Beschäftigung am Beispiel von Minijobs in Privathaushalten. Von den ca. 3,6 Millionen Haushaltshilfen, die in deutschen Haushalten arbeiten, sind ca. 80 % nicht über die Minijobzentrale angemeldet, also illegal beschäftigt. Ein Großteil arbeitet als Pflegekräfte in den Familien.

Besonderer Beliebtheit erfreut sich hier das Modell der „24-Stunden-Pflege“. Das System der 24-Stunden-Pflege alter Menschen in den eigenen vier Wänden funktioniert vor allem, weil Zehntausende schlecht bezahlter ausländischer Pflegekräfte, vorwiegend Frauen aus EU-Osteuropa und der Ukraine, sie betreuen, pflegen und versorgen. Für das deutsche Pflegemodell sind die osteuropäischen Betreuungskräfte mittlerweile systemrelevant. Ohne sie würde das System zusammenbrechen, sie ersparen den Pflegekassen Milliardenbeträge. Dafür schaut der Staat seit Jahren weg und toleriert die durch die Bank prekären Arbeitsbedingen der osteuropäischen Pflegekräfte. Die arbeiten in der Regel unter sehr fragwürdigen Bedingungen: rund um die Uhr, kein Urlaub, wenig Geld (1.300 – 1600 EUR). „Das Bundesarbeitsgericht in Erfurt hat dem Laissez-Faire durch ein Grundsatzurteil nun Grenzen gesetzt. Das höchste deutsche Arbeitsgericht entschied, dass einer Bulgarin, die von einer bulgarischen Agentur vermittelt wurde und die nach eigenen Angaben rund um die Uhr eine über 90 Jahre alte Seniorin in Berlin versorgte, der deutsche Mindestlohn zusteht – auch für Bereitschaftszeiten. Das System der 24-Stunden-Pflege gerät damit ins Wanken.“ (ARD,Tagesschau, 25.06.2021)

Das Grundsatzurteil setzt dieser Praxis nun Grenzen? Oder? Davon ist noch nichts zu sehen und nichts zu erwarten. Danach stehen einer 24- Stunden-Pflegekraft über 9.000 EUR/mtl. zu. Das können sich nur wenige leisten. Zudem ist der Entscheid erstmal ein Einzelurteil für die bulgarische Pflegekraft. Dass nun massenhaft Klagen bei den Arbeitsgerichten eingehen, ist bisher nicht der Fall und auch nicht zu erwarten. Denn auch die meisten migrantischen Pflegekräfte sind auf die Scheißjobs angewiesen, da Besseres nicht zu haben ist – nicht in Deutschland und in ihren Heimatländern schon gar nicht. So schränkt man sich ein, wohnt im Haushalt der Pflegebedürftigen, pflegt, kocht, putzt und kümmert sich 12 Std. am Tag und schläft auf dem Sofa neben dem Pflegefall in Dauerbereitschaft. Für Unterkunft und Verpflegung werden i. d. R. noch einige Hundert EUR angerechnet, sodass oftmals weniger als 1.000 EUR netto an die Familie ins Heimatland geschickt werden können, die dort ihren Lebensunterhalt notdürftig sichern. „Unzulässige Arbeitszeiten, mangelnde Integration und soziale Absicherung, aber auch unklare Qualifikation und Haftung sind nur einige der kritischen Punkte“, so der Forderungskatalog von Andreas Westerfellhaus, des Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung. Die 24-Stunden-Betreuung müsse daher zu einem „Megathema der Politik“ werden. Das Ziel sei weder, funktionierende Pflegesettings zu zerstören noch prekäre Arbeitsbedingungen und fragwürdige rechtliche Konstellationen zu tolerieren.

Das Gesundheitsministerium sieht das offenbar anders. Es gebe keine Pläne, die in Deutschland geltenden Ausnahmen von internationalen Arbeitsschutzvorschriften für 24-Stunden-Pflegekräfte zu ändern, schreibt es. „Bedarf für Änderungen mit Blick auf das von Deutschland ratifizierte Übereinkommen Nr. 189 über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte der internationalen Arbeitsorganisation sieht die Bundesregierung nicht“, heißt es in der Antwort des Ministeriums auf eine Anfrage der Linkspartei. Die Konvention der internationalen Arbeitsorganisation ILO regelt unter anderem die Arbeitszeiten. Davon sind in Deutschland aber Personen ausgenommen, die im Haushalt von Pflegebedürftigen leben. Dazu zählen damit auch Beschäftigte im Rahmen einer 24-Stunden-Pflege.

So bleibt erst einmal alles beim Alten.

Im Konzept des DGB, mit dem schönen Namen „Arbeitsplatz Privathaushalt – Gute Arbeit ist möglich“, steht nicht etwa die Interessenvertretung der meist migrantischen Beschäftigten im Zentrum, sondern die Bezuschussung professioneller Dienstleister:innen zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung im Haushalt. Auch sollen nicht mehr die Vermittlungsagenturen, bei denen die ausländischen Haushaltshilfen rechtlich angestellt sind und die fette Vermittlungsprovisionen kassieren, nach den Plänen des DGB für die Sozialversicherungsbeiträge aufkommen, sondern der Staat. Zudem soll der Zoll bisher unzulässige Kontrollen in Privathaushalten durchführen, um die Schwarzarbeit zu bekämpfen.

Während in Europa und weltweit immer mehr Gewerkschaften prekär Beschäftigte organisieren und diese Schichten der Arbeiter:innenklasse vielerorts schon das Rückgrat der Gewerkschaftsbewegung bilden, um mit konsequenten Arbeitskämpfen für eine Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen zu kämpfen, setzen die deutschen Gewerkschaften auf staatliche Regulierung und Kontrollen statt auf gewerkschaftlichen Kampf mit den Betroffenen.

  • Abschaffung aller nicht sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsmodelle!
  • Keine Beschäftigungsmodelle unterhalb des Mindestlohn im Beschäftigungsland, wie z. B. für Haushaltshilfen, Saisonarbeitskräfte/Erntehelfer:innen, Werk- und ausländische Arbeitsverträge!
  • Aufnahme von allen in Deutschland beschäftigten Ausländer:innen in die Gewerkschaften.



Gorillas: Von Ausbeutung und Klassenkampf

Jan Hektik, Infomail 1174, 31. Dezember 2021

„2021 in a nutshell: Gorillas“ – mit dieser Werbung trat der Lieferdienst Gorillas vor ungefähr einem Jahr erstmals auf. Für viele Beschäftigte könnte daran sogar etwas dran sein, denn für sie heißt Gorillas in a nutshell: Ausbeutung, Schikane, Kündigung, Arbeitsrecht-mit-den-Füßen-treten.  Seit Monaten kämpfen sie gegen das Unternehmen um grundlegende Arbeitsrechte und eine Betriebsratsgründung.

Wer ist eigentlich Gorillas? Es ist ein so genanntes „Start-up“-Unternehmen aus Berlin, welches als Geschäftsmodell in Zeiten der Pandemie die kostengünstige und schnelle Auslieferung von (vor allem) Lebensmitteln per Fahrrad betreibt. Wie bei anderen Unternehmen dieser Art auch (z. B. Flink) ist es hierbei wichtig, sehr schnell liefern zu können und dabei möglichst nicht wesentlich teurer zu sein als der Gang zum Supermarkt, quasi das Amazon-Geschäftsmodell für Lebensmittel. Doch wer in der Schule mal den Sozialkundeunterricht besucht hat und zudem Addition und Subtraktion beherrscht, weiß, dass die Einnahmen aus den Verkäufen, neben den Anschaffungskosten von Rädern, dem Bezahlen von Mieten und den Löhnen der ArbeiterInnen auch noch Gewinne für den/die UnternehmerIn abwerfen sollen. Da wundert es nicht, dass die FahrerInnen (Rider) Mindestlohn erhalten, eher, dass sie ihn überhaupt bekommen.

Es ist eine Mischung aus Tricksereien arbeitsrechtlicher Grauzonen, halblegalen oder ganz illegalen Arbeitszeitbemessungs-, Kündigungspraktiken und Befristungen sowie quasi keinen Ausgaben für die Ausrüstung. Das Ergebnis dessen ist, dass die ArbeiterInnen neben miesen Lohnbedingungen zusätzlich enormem Zeitdruck und verheerenden Sicherheitsrisiken ausgesetzt sind, während sie gleichzeitig jeden Monat nachrechnen müssen, ob sie nicht um ihre Arbeitszeit beschissen werden.

Lebensgefährliche Arbeitsbedingungen

Wer innerhalb von 15 Minuten mit einem Fahrrad Einkäufe ausliefern soll, muss sich schnell im Straßenverkehr bewegen. Jede Person, die in deutschen Großstädten schon mal so unterwegs war, weiß, dass das schon nicht ungefährlich ist, wenn man Zeit hat. Aber wenn einem/r unter Zeitdruck und mit übermäßigem Gepäck beladen der Lenker oder der Sattel mitten auf der Kreuzung abfällt, ist die Grenze zum Wahnsinn erreicht. Genau das berichten aber vermehrt Rider und zwar auch, nachdem sie explizit auf solche Defekte hingewiesen haben. Das ist auch gewissermaßen vorhersehbar. Schließlich ergibt die Lösung oben beschriebener Subtraktionsaufgabe, dass es weder häufige Wartung noch neue Räder geben kann, wenn man noch Gewinn einfahren will. Interessant hierbei ist auch, dass viele der Rider migrantisch sind und teilweise kein oder sehr schlecht Deutsch sprechen. Böse Zungen könnten gar behaupten, hier werde versucht, mangelnde Kenntnisse über Regeln des deutschen Arbeitsrechts und Möglichkeiten der Vernetzung auszunutzen.

Ganz nebenbei räumt hier die Wirklichkeit mit dem Klischee der lieben netten Start-ups und Kleinbetriebe auf, in denen die ArbeiterInnen und der/die UnternehmerIn ein Teil derselben Familie seien und die Klassengegensätze wohlwollend aufgelöst würden. Aber wie in der Familie ist die schöne idyllische Fassade oft nur dazu da, die Misshandlungen und Schindereien dahinter zu verbergen.

Arbeitskampf

Wie es in Start-ups und in prekären Verhältnissen üblich ist, ist die gewerkschaftliche Organisierung quasi gleich null. Dies ist einerseits darauf zurückzuführen, dass der Betrieb neu und es auch unwahrscheinlich ist, dass Menschen, die scheinbar noch nicht lange genug im deutschen Arbeitsleben stehen, um die Sprache zu sprechen, eine gewerkschaftliche Organisierung aufweisen. Andererseits ist das auch eine Folge der Ausrichtung der Gewerkschaften auf die sogenannten Stammbelegschaften bzw. das Fernhalten von LeiharbeiterInnen und sonstig prekär Beschäftigten.

Auch wirkt die zurückhaltende und bürokratische Gewerkschaftslandschaft insbesondere auf prekär Beschäftigte nicht unbedingt reizvoll, da diese eigentlich auf kämpferische Gewerkschaften und Solidaritätsstreiks anderer für das Gesamtkapital schmerzhafterer Sektoren als LieferantInnen und TelefonistInnen angewiesen wären. Doch der Streik ist rechtlich nur geschützt, wenn er von einer Gewerkschaft ausgerufen wird und nicht gegen die Friedenspflicht verstößt. Davon abweichende Arbeitskämpfe stellen einen Kündigungsgrund dar.

Dass ursprünglich Streiks nicht nur mit Kündigung, sondern auch mit Polizeigewalt und Schlägertrupps bekämpft wurden und das Streikrecht nur ein Ergebnis des Kampfes und des Kräfteverhältnisses ist, haben hierzulande scheinbar allzu viele vergessen. Nicht so jedoch die Gorillasworkers. Eine Reihe von selbstorganisierten, sogenannten wilden Streiks und Besetzungen wurde mit Kündigungen beantwortet. Dagegen wurde geklagt und gekämpft, Kündigungen wurden zum Teil zurückgenommen. Gegen die anstehende Betriebsratswahl klagt das Start-up weiterhin und baut seine Strukturen um, um die Betriebsratsgründung zu vermeiden. Die Medien und die radikale Linke wurden aufmerksam. Letztere versuchte sich in Solidarität mit den Kämpfen.

Perspektive

Ein Blick auf die Zahlen zeigen aber auch, welche Schwierigkeiten noch vor den Beschäftigten und allen UnterstützerInnen liegen. An den Arbeitskämpfen beteiligten sich an vielen Standorten weniger als 10 % der FahrerInnen, die an den Betriebsratswahlen sieht nicht viel besser aus. Lediglich ein Berliner Store wurde fast vollständig bestreikt.

Angesichts der schwierigen Voraussetzung sollte das niemand kleinreden. Andererseits drücken sich natürlich auch die widrigeren Kampfbedingungen aus. Gerade hier muss ver.di dafür kritisiert werden, sich des Kampfs nicht anzunehmen, und stattdessen zum Beispiel mit seinen riesigen Ressourcen mehrsprachige Flugblätter und Betriebsinfos zu drucken und verteilen.

Zweitens wird bei Gorillas wie auch bei anderen Firmen mit prekären Arbeitsbedingungen, wo mitunter schon seit Jahren immer und immer wieder gegen miese Löhne und so weiter gekämpft wird –  denkt an Amazon – deutlich, dass der Kampf gegen die Ausweitung des prekären Sektors eigenlich eine Antwort der ArbeiterInnenklasse insgesamt braucht. Es geht nicht nur darum, in einzelnen Betrieben zu kämpfen (was natürlich ein Ausangspunkt sein kann), sondern dass Gewerkschaften und reformistische Parteien dazu getrieben werden müssen, auf gesetzlicher Ebene für deutlich höhere Mindestlöhne; massive Strafen für Unternehmen, die Unionbusting betreiben und Betriebsratswahlen verhindern; eindeutige Arbeitszeitregelungen von einer 30-h-Woche usw. einzustehen.

Uns ist klar, dass die ChefInnen von ver.di und der DGB sich davor drücken, diesen Kampf zu führen. Umso mehr beweist er, dass es nicht einfach nur darum geht, ver.di mehr ins Boot zu holen, sondern auch, die Gewerkschaften basisdemokratisch zu reorganisieren, um es nicht der Führung zu überlasssen, auf welche privilegierten Schichten der ArbeiterInnenklasse sich gestützt wird – und auf welche armen und überausgebeuteten nicht. Das Prekariat organisieren heißt, für klassenkämpferische Opposition in ver.di und Co. einzutreten – und sie selbst aufzubauen. Denn das ist die Bilanz von 2021 und Gorillas in a nutshell.




Black Friday, Cyber Monday: Rabattschlachten in Pandemiezeiten

Leonie Schmidt, Infomail 1171, 28. November 2021

Auch in diesem Jahr fand trotz Corona-Rekordinzidenzen traditionell wieder der Black Friday statt. Das aus den USA importierte Äquivalent zum Sommer- und Winterschlussverkauf stellt einen Tag (oft sogar eine ganze Woche) dar, an dem/in der es teilweise irrsinnige Schnäppchen gibt. Zusätzlich gibt es noch den Cyber Monday, wo besonders das Online-Shopping im Vordergrund steht. Der Black Friday markiert in den USA dabei den Beginn der Weihnachtseinkäufe und wurde erstmals 1966 so genannt. Er ist nicht zu verwechseln mit dem Börsencrash im Oktober 1929, welcher im Deutschen auch als schwarzer Freitag bezeichnet wird.

Seit 2013 ist der Black Friday auch unter diesem Namen in Deutschland bekannt. 2006 warb Apple als erstes in Deutschland mit Schnäppchen am Black Friday – allerdings ohne diesen Namen zu erwähnen. Insbesondere in den USA gibt es auch immer wieder Szenen von Menschenmassen, welche sich um die günstigsten Produkte streiten und bereits in der Nacht in Schlangen vor den Geschäften zelten. In der BRD geht es zwar etwas gesitteter zu – die lockenden Sonderangebote bleiben aber bestehen. Viele nutzen die Angebote auch, um günstige Weihnachtsgeschenke einkaufen zu können. Im Jahr 2020 belief sich der Umsatz des Black Fridays und Cyber Mondays in Deutschland auf 3,8 Milliarden Euro (22 % des Novemberumsatzes). Für 2021 wird ein starker Anstieg um 27 % Prozent auf 4,9 Milliarden Euro prognostiziert (Quelle: Handelsverband Deutschland).

Die Schnäppchen lohnen sich also für den Einzelhandel. Das ist auch insbesondere in und nach Zeiten von Lockdowns und Ausgehbeschränkungen dringend für die KapitalistInnen notwendig, denn die Läden hatten viele Einbrüche in den Jahren 2020 – 2021 zu beklagen. Zwar stieg der Umsatz insgesamt, jedoch verursachten die Covid-Maßnahmen natürlich auch Kosten im klassischen stationären Einzelhandel und viele kauften lieber online ein. Des Weiteren stiegen Rohstoff- sowie Transportpreise (auch wegen coronabedingter Grenzschließungen und der daraus resultierenden Problemen mit der Just-in-time-Produktion).

Alles nur mehr Konsum?

ExpertInnen mutmaßen allerdings, dass der diesjährige Black Friday sich auf das vermeintlich neue Konsumverhalten der Kundschaft einstellen müsse. So seien viele KundInnen mittlerweile bedachtsamer und würden keine Spontankäufe tätigen, sagte die Wirtschaftspsychologin Petra Jagow in einem Radiointerview des rbb. Am Mythos der Spontankäufe bzgl. des Black Fridays wird allerdings weiterhin festgehalten. Insbesondere für die ArbeiterInnenklasse war jegliche Art von Sales und Rabattaktionen weniger ein Anlass, noch mehr zu konsumieren, wie von vielen KonsumkritikerInnen behauptet, sondern eher die Möglichkeit, sich etwas zu kaufen, was sie sich anderweitig gar nicht leisten könnten.

Das trifft insbesondere in Pandemiezeiten zu, denn nicht nur der stationäre Einzelhandel hatte Einstürze zu beklagen, auch die ArbeiterInnen und die lohnabhängige Mittelschicht haben Einkommensengpässe auszuhalten – ob Kurzarbeit oder Jobverlust und dementsprechende Arbeitslosigkeit: Die Pandemie hat ihre Auswirkungen hinterlassen. So befanden sich im April 2020 ca. 6 Millionen Angestellte in Kurzarbeit. Ein Jahr später im April 2021 waren es immerhin noch 2,5 Millionen. Zwar nahmen die Zahlen im Laufe des Jahres 2021 immer mehr ab, jedoch werden sie mit den erneuten Einschränkungen wohl auch wieder steigen; die Arbeitslosenzahl liegt aktuell bei 2,38 Millionen Menschen. Auf der anderen Seite konnten Menschen, die normal weiter verdienten, ihr Geld weniger in bspw. Urlaube oder Unterhaltung und Restaurantbesuche stecken, haben also mehr Kapazitäten für den diesjährigen Black Friday.

Aber – lohnen sich die Rabatte und Sonderaktionen wirklich für VerbraucherInnen? Meist wird mit großen Zahlen gelockt, zwischen 50 – 90 %, heißt es. Aber Untersuchungen zeigen, dass sich die wirklichen Einsparungen im Jahre 2019 eher auf ca. 8 % beliefen. Denn im Vormonat wurden die Preise nochmal ordentlich angezogen und die Prozente beziehen sich oftmals auf die unverbindliche Preisempfehlung und nicht auf den tatsächlichen Verkaufspreis, welcher viel niedriger ist. Vermutlich wird die Einsparung 2021 aufgrund der Pandemie für die KonsumentInnen aber noch geringer ausfallen, nicht zuletzt aufgrund der Inflation, die der ArbeiterInnenklasse das mühsam Ersparte langsam wegfrisst.

Monopol und Fetisch

Für sich genommen sind die Waren, die im Einzelhandel verkauft (verramscht) werden, nicht die großen Gewinnbringerinnen – die Masse macht‘s für den Konsumgütersektor. Wie überall im Kapitalismus hat sich hier eine brutale Konkurrenz zwischen einigen Riesenkonzernen entwickelt, wobei der Onlinehandel als eine zusätzliche Verschärfung dessen gesehen werden muss. Immerhin ist durch ihn der Preisvergleich für KonsumentInnen nie leichter gewesen. Black Friday und Cyber Monday setzen da einfach noch einen drauf, verschärfen den Preiskampf nach unten, dem sich – der Logik der Konkurrenz folgend – keiner widersetzen kann. In dem haben kleine bis mittelgroße HändlerInnen kaum eine Überlebenschance und selbst den großen Fischen (siehe Karstadt) kann das Wasser ausgehen.

Und noch etwas dem Kapitalismus in die DNA Geschriebenes zeigen der Black Friday und Cyber Monday in offensichtlicherer Weise als sonst üblich. Waren treten nicht einfach als das auf, was sie eigentlich sind: einfache Gegenstände und Ergebnisse menschlicher Arbeit, sondern sie werden zum Fetisch. Das ist nicht sexuell zu verstehen, sondern meint, dass die Waren gesellschaftlich überhöht werden und sich als Herrscherinnen über ErzeugerInnen und KonsumentInnen erheben. Etwas Ähnliches passiert, wenn sich bei einer Religion der Gott als Gebieter über den Menschen stellt, obwohl der Mensch die Götter in seinem eigenen Hirn entstehen lässt.

Übrigens wird der Warenfetisch im modernen Kapitalismus noch um einen weiteren erweitert – den Markenfetisch, wobei das Produkt nicht mehr nur ein T-Shirt ist, sondern ein Gucci-Shirt. Das bloße Logo schafft es, das einfache Ding T-Shirt noch begehrter zu machen, weil sich das Label mit dem darin versteckten Vorurteil „edel“ auf die BesitzerInnen überträgt. Auch das findet sich im Preis wieder.

Schließlich: Es wäre falsch, irgendwen für die Schnäppchenjagd zu verurteilen, gerade wenn man sich den lang benötigten neuen Kühlschrank ansonsten kaum kaufen kann oder durch seine Kleidung einfach mal irgendwo dazugehören will. Besser, wir verurteilen das System, dass gerade am Black Friday und Cyber Monday seinen ganzen Irrationalismus zeigt. Waren, die oft am anderen Ende der Welt mit Überausbeutung von verdammt Armen hergestellt werden, landen in Regalen und Onlineportalen. Dort werden sie, mitunter sehnsüchtig erwartet. Einmal im Jahr sind sie doch leistbar für die, die hier zu den Ärmsten zählen. Dagegen auch keine Konsumkritik – wohl aber die Enteignung von Amazon und Co!




Armut und Prekarisierung: Hartz IV muss weg!

Tobi Hansen, Neue Internationale, Dezember 2019/Januar 2020

Im November verkündete das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe das Urteil zu den Hartz-IV-Sanktionen. Ausgehend von einem Urteil des Sozialgerichts von Gotha musste überprüft werden, ob die umfangreichen Sanktionen des Hartz-Regimes noch mit dem Auftrag vereinbar wären, das „Existenzminimum“ zu sichern.

Selbst dem Gericht kamen diesbezügliche Zweifel. Es zog
damit immerhin eine banale Wahrheit in Erwägung, die Menschen, die auf Hartz IV
angewiesen sind, längst bekannt ist. Ein wie auch immer definiertes
„menschenwürdiges“ Leben gibt es für diese Bevölkerungsgruppe letztlich nicht.

Sanktionen

Die seit 2004 ausgesprochenen Sanktionen gehen in die
Hunderttausende, ja Millionen – pro Jahr! Für Arbeitslose war stets klar, dass
auch der „volle“ Satz ein „Existenzminimum“ mehr schlecht als recht sichert.
Das belegt allein schon der Ansturm auf die Geldautomaten an jedem Monatsende
in der Hoffnung, wieder Geld zu bekommen. Der Regelsatz für Alleinstehende
betrug 2004 335 Euro, 15 Jahre später liegt er bei 422 Euro. Zusätzlich werden
nur die Miete für eine „angemessene“ Wohnung und die Versicherungskosten
übernommen.

Was die Existenz noch sichern soll, welche Wohnung als
angemessen gilt, darüber entscheidet eine Bürokratie, deren Willkür alle
EmpfängerInnen ausgeliefert sind. Die sog. Sachverständigen rechneten rund um
den Warenkorb, versuchten dabei, die „soziale Teilhabe“ zu integrieren, und
hegten nach 2004 auch den Plan, bis zu zwei Drittel vom Regelsatz als
Sanktionen zu kürzen. Auch das würde nach ihren Berechnungen zum Überleben noch
reichen.

Diese Willkür wurde auch bei den Sanktionen umgesetzt.
Erscheint der/die stigmatisierte Hartzi nicht zum Termin, erfolgt eine Kürzung
von 10-30 %. Auch bei Verspätungen dürfen die SachbearbeiterInnen nach eigenem
Gutdünken entscheiden. Wer zu wenige Bewerbungen pro Monat schreibt oder
angebotene Billigjobs „verweigert“, gilt als „unwillig“ – und kann auch
sanktioniert werden.

Wenn die Entwürdigung und Bestrafung mit
Lebensmittelgutscheinen anstelle von Geld den/die Arbeitslose/n noch immer
nicht gefügig gemacht hat, wird auch die Leistung für die Wohnung gestrichen
bzw. eine Mieterhöhung nicht übernommen.

Mit diesem System wollte die damalige SPD-Grünen-Regierung
den Standort Deutschland für die 
Globalisierung fit machen. Der damalige SPD Fraktionschef Müntefering
brachte mit der Aussage „wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ nicht nur
seine Menschenverachtung zum Ausdruck, sondern auch, wie weitreichend die SPD
dem deutschen Kapital bei der Verarmung der ArbeiterInnenklasse behilflich sein
kann. Das Hartz- und Agenda-System markiert eine strategische Niederlage für
alle Lohnabhängigen, nicht nur die Erwerbslosen. Ohne dieses System wäre die
Ausdehnung „prekärer“ Arbeit, des Billiglohnsektors und erhöhter
Konkurrenzdruck auf die tariflich Beschäftigten unmöglich gewesen.

Dieses System wird grundsätzlich auch vom Verfassungsgericht
nicht in Frage gestellt. Nur seine schlimmsten, menschenverachtenden
„Auswüchse“ sollen abgeschafft oder gemildert werden.

Was wird umgesetzt?

So wird nach 15 Jahren festgestellt, dass die komplette
Streichung der Geldmittel und Zahlungen für die Unterkunft verfassungswidrig
gewesen sind und dem Menschenrecht und der Auslegung des Begriffs
Existenzminimum widersprechen. Nur Kürzungen bis zu 30 % sollen erlaubt sein.
Ausgenommen davon wären noch immer Menschen unter 25, da deren Situation gar
nicht verhandelt wurde.

Somit werden zunächst nur Kürzungen über 30 % ausgesetzt.
Die „Fachebene“ soll nun entscheiden, wie das Urteil praktisch umgesetzt werden
kann und ob die unter 25-jährigen Arbeitslosen auch darunter fallen könnten.
Die TechnokratInnen kapitalistischer Unterdrückung, z. B. im SPD-geführten
Arbeitsministerium, waren schon findig. Möglicherweise gebe es „Lücken“ im
Urteil des Verfassungsgerichts. Gemeinsam mit der Bild-Zeitung, welche nach dem
Urteil den Notstand ausrief, da jetzt die „FaulenzerInnen“ und
„SchmarotzerInnen“ wieder ganz einfach mit Hartz IV überleben könnten,
überlegen BeamtInnen des Arbeitsministeriums, inwieweit addierte Sanktionen
weitergeführt werden können. Die Idee ist so simpel wie zynisch. Wenn die
Kürzung um 60 % verboten ist, dann wäre vielleicht eine sechsmal ausgestellte
10%-ige legal.

Weder bei der Urteilsverkündung noch in der anschließenden
öffentlichen Debatte wurde die Frage gestellt, wie eigentlich mit den
vollstreckten illegalen Sanktionen jenseits der „erlaubten“ 30 % umgegangen
wird? Ein Recht auf Rückerstattung der Leistungen, auf Entschädigung für den
Verlust von Wohnungen, für Obdachlosigkeit … wurde offenbar erst gar nicht in
Erwägung gezogen. Dabei betrafen allein von 2009-2019 die nun als
verfassungswidrig festgestellten Sanktionen insgesamt zwischen 700.000 und eine
Million Menschen pro Jahr.

An dieser Fortschreibung des Unrechts lässt sich ermessen,
wie ernst „linke“ SPD-Versprechungen zu nehmen sind. Während Malu Dreyer als
Interimsvorsitzende mit dem Satz „Wir wollen Hartz IV hinter uns lassen“
hausieren ging, beriet das sozialdemokratisch geführte Arbeitsministerium über
die Fortführung des Sanktionsregimes.

Die Linkspartei fordert die Umsetzung des Urteils und fände
es schön, wenn auch alle Sanktionen abgeschafft würden – eine
Aktionsperspektive zur Abschaffung des Hartz- und Agenda-Systems präsentiert
aber auch sie nicht.

Eine breite Empörung über die staatliche Abzocke der
Arbeitslosen bleibt aus, obwohl es viele drastische Fälle gibt, wo Menschen
aufgrund von Kürzungen ruiniert wurden. So wurden erst vor kurzem die
Leistungen für eine physisch und psychisch erkrankte Hartz-IV-Bezieherin in
Bayern auf 4,24 Euro gekürzt, weil das Einkommen ihres Mitbewohners, eines
Gelegenheitsjobbers, gegen Hartz-IV verrechnet wurde. Da ihr Betreuer
fürchtete, dass sie zu Hause verhungern oder sich das Leben nehmen könnte, wurde
sie in die Psychiatrie eingewiesen.

So geht die Pauperisierung und Verelendung breiter Teile der
Klasse weiter, daran ändert auch der Mindestlohn wenig. Höhere Kosten für
Wohnung, Energie und Verkehr fressen für die Masse jede Erhöhung von Lohn und
Lohnersatzgeldern weg.

Was tun?

Schon 2004 stellte sich die DGB-Spitze gegen die
Anti-Hartz-Bewegung und die Montagsdemos. Die Gewerkschaften nahmen das Urteil
des Verfassungsgerichts zwar positiv auf, aber in den letzten 15 Jahren haben
sie praktisch keinen Finger für die Arbeitslosen krummgemacht.

Im Kampf gegen das gesamte Hartz-IV-System sollten wir uns
daher auch heute auf DGB, SPD, ja selbst auf die Linkspartei nicht verlassen.
Sie müssen vielmehr zu Gegenaktionen getrieben werden.

Gerade den Linken in den Gewerkschaften wie den
AktivistInnen in den sozialen Protesten (Mieten, Sozialinitiativen), aber auch
in neuen Bewegungen kommt dabei eine Schlüsselrolle zu.

Es geht um einen Neuanlauf gegen alle Hartz- und
Agenda-Gesetze. Dieser muss mit Themen wie Kampf gegen Altersarmut oder prekäre
Beschäftigung verbunden werden. Die Forderung nach Abschaffung von Hartz IV
müsste dabei mit dem Kampf um ein Mindesteinkommen von 1.100 Euro plus
Warmmiete für alle Erwerbslosen und RentnerInnen verknüpft werden, das jährlich
entsprechend der Steigerung der Lebenshaltungskosten erhöht wird.




Das „Prekariat“ – Klassenlage und Klassenkampf

Tobi Hansen, Revolutionärer Marxismus 44, November 2012

Die Begriffe „Prekariat“ oder „Prekarisierung“ sind vor einigen Jahren in den Sozialwissenschaften entwickelt worden. Mittlerweile haben sie Eingang in die bürgerliche Öffentlichkeit gefunden. Kein Wunder, denn die unter „Prekariat“ subsummierten Schichten der Bevölkerung sind spätestens im letzten Jahrzehnt auch in Deutschland zu einem Massenphänomen geworden, das schier unaufhaltsam weiter zunimmt.

Verwendung in der Soziologie

In der Soziologie wird „Prekariat“ auch mit „Unterschicht“ kombiniert oder zumindest festgestellt, dass „die Grenzen fließend sind“. In unserem Artikel wollen wir die soziologische Betrachtungsweise verlassen und das Prekariat einer Klassenanalyse unterziehen. Dabei untersuchen wir, welche Beschäftigungsgruppen und -verhältnisse unter „Prekariat“ zusammen gefasst werden, welche Interessen beim „Arbeitgeber“, dem Kapital, hinter diesem Prozess stehen. Wir stellen uns auch die Aufgabe, programmatische Antworten für diese Teile der Klasse zu entwickeln bzw. das Prekariat als Teil der Arbeiterklasse zu definieren.

Dabei fragen wir, welche Rolle die Gewerkschaften für diese Beschäftigten einnehmen können und wie die DGB-Gewerkschaften auf diese neuen Beschäftigungsverhältnisse reagieren sollten, welche Forderungen und welche Organisierung sinnvoll ist.

Erweitern wollen wir das „Prekariat“ auch um die Bereiche, welche nicht ausschließlich im Niedriglohnbereich zu finden sind. Auf die Gruppen, welche in die „Selbstständigkeit“ getrieben wurden, die entkoppelt worden vom „unbefristeten“ Arbeitsverhältnis. Dazu gehören auch die Veränderungen am Arbeitsmarkt, die Neustrukturierung des Kaufs der Ware Arbeitskraft durch das Kapital – sei es durch „Arbeitsverleiher“ oder Internetplattformen fürs Projektmanagement.

Schließlich müssen wir diese Prozesse auch einordnen in die aktuelle Krisenperiode des globalen Kapitalismus. Die Entwicklung eines „Prekariats“ in der BRD steht im internationalen Zusammenhang der kapitalistischen Arbeitsteilung und den Anforderungen an das globale Proletariat bzw. was sich der Kapitalismus darunter vorstellt.

Neben diesen Einordnungen wird es auch wichtig sein, einen Blick auf die Lebenswirklichkeit dieser Teile der Beschäftigten zu werfen, um anhand dessen die Möglichkeiten, aber auch die Einschränkungen für den politischen Kampf wahrzunehmen.

Über wen sprechen wir überhaupt?

Wir beginnen bei der Sprache. Bei Wikipedia lesen wir: „Prekariat ist ein Begriff aus der Soziologie und definiert „ungeschützte Arbeitende und Arbeitslose“ als eine neue soziale Gruppierung. Der Begriff selbst ist ein Neologismus, der vom Adjektiv prekär (schwierig, misslich, bedenklich) analog zu Proletariat abgeleitet ist. Etymologisch stammt das Wort „Prekariat“ vom lat. precarium = ein bittweises, auf Widerruf gewährtes Besitzverhältnis (Prekarium).“ (1)

In dieser sprachlichen Herleitung finden wir einige Hinweise über die Beschäftigungsverhältnisse. Besonders das Prekarium bringt schon inhaltlich die heutige Form der Zeitarbeit auf den Punkt – das auf kurze Zeit befristete Verhältnis des Verkaufs der Ware Arbeitskraft.

Widersprüchlich ist sicher die Definition als „neue soziale Gruppierung“, da der „ungeschützte Arbeitende und Arbeitslose“ keine neue Entwicklung im Kapitalismus ist, sondern eine wichtige Grundlage des Aufstiegs des Kapitalismus als Weltsystem darstellt. Hinzu kommt, dass diese Lage für die Masse der Lohnabhängigen außerhalb der imperialistischen Zentren (und der degenerierten Arbeiterstaaten, solange sie existierten) immer ein durchaus „normales“ Verhältnis darstellte.

Wenn Soziologen von einer „neuen“ Gruppierung sprechen, dann meinen sie meist den Gegensatz zum „Normalarbeitsverhältnis“. Dieser Gegensatz ist natürlich vorhanden, wie auch die soziale Differenzierung innerhalb der Arbeiterklasse nicht neu ist. Im Gegenteil: die Geschichte des Kapitalismus ist immer von Differenzierungen in der Arbeiterklasse geprägt, die auch einem historischen Wandel unterworfen sind.

Die erste und wichtigste, treibende Veränderung ist dabei die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise selbst. Diese hat z.B. eine permanente Tendenz zur Entwertung der Ware Arbeitskraft und eine permanente Tendenz, die Arbeiterklasse zum Verkauf der ihrer Arbeitskraft unter ihrem Wert zu treiben – durch die Herausbildung einer „industriellen Reservearmee“ und einer „relativen Überbevölkerung“. So spricht Marx im Kapital schon von der Entwicklung von Schichten des Subproletariats, vom Pauperismus bis hin zum Absinken ins Lumpenproletariat. (2)

Ende des 19. Jahrhunderts analysierte auch Engels, dass das britische Welthandelsmonopol zur Absonderung einer relativ privilegierten Schicht der Arbeiterklasse – der „Arbeiteraristokratie“ führt. (3) Lenin arbeitet später in seiner Analyse des Imperialismus heraus, dass die „Arbeiteraristokratie“ zu einem allgemeinen Phänomen aller imperialistischen Staaten und zu einer sozialen Hauptstütze des Reformismus, zur Basis bürgerlicher Arbeiterparteien – und damit zur Sicherung bürgerlicher und imperialistischer Herrschaft – wird. (4) Dieses Phänomen hat sich bis heute erhalten und lässt sich selbst in halb-kolonialen Ländern, insbesondere den industriell entwickelten finden, wenn auch als weitaus kleinere Schicht innerhalb der Arbeiterklasse.

Bildlich gesprochen: Der „Arbeiteraristokrat“ ist heute jener, dessen Haustarifvertrag höher ist als der Flächentarifvertrag der Branche, der, welcher nach zwei Nullrunden während der Rezession eine Prämie im fünfstelligen Bereich ausgeschüttet bekommt – in der BRD arbeitet dieser meist in der Exportindustrie.

Der „Subproletarier“ wäre heute dann wohl in der Zeitarbeit beschäftigt, wäre „saisonal“ arbeitslos und müsste den Zeitarbeitslohn von der ARGE „aufstocken“ lassen oder hätte am Wochenende noch einen Mini-Job.

Diese simple soziale Gegenüberstellung lässt Zweifel aufkommen, inwieweit der Begriff „Normalarbeitsverhältnis“ eine brauchbare Kategorie ist. Wenn die Soziologie damit die unbefristete Festanstellung mit überdurchschnittlichem Lohn und Sozialversicherung meint, so müssen wir – marxistisch betrachtet – feststellen, dass dieses im Kapitalismus nie „normal“ war, also nie für die Mehrheit der globalen Arbeiterklasse galt. Nur für einzelne Länder waren sie für einen begrenzten Zeitraum von 30-40 Jahren die Regel.

Hinzu kommt, dass das „Normalarbeitsverhältnis“ selbst nicht einfach vom Kapital zugestanden wurde, sondern meist erst nach Kämpfen der Lohnabhängigen.

Zunahme prekärer Verhältnisse

Der Prozess der „Prekarisierung“ von Beschäftigung lässt sich v.a. in der Zunahme der Zeit- und Leiharbeit in der BRD in den letzten 10 Jahren feststellen. Prekarisierung bedeutet dabei, dass Teile der vormaligen „Normal“arbeitsverhältnisse – grob gesagt unbefristete, tarifliche Beschäftigung – entrechtet wurden.

An erster Stelle steht dabei die zeitliche Befristung der Beschäftigung. Dem folgt zwangsläufig die Senkung des Lohns und die Auslagerung von Produktionsstätten und Sphären aus dem Kernbereich des Unternehmens.

Gleichzeitig werden vormals „volle“ Stellen in Teilzeitstellen umgewandelt. Unter dem Stichwort „Flexibilität“ ist vom 400-Euro-Minijob, über 630-Euro-Stellen und „Teilzeit“ oder Altersteilzeitmodelle ziemlich viel zu finden.

Diese Veränderung des Arbeitsmarktes war eine direkte Folge der „Hartz-Gesetz“ unter Rot/Grün, die Agenda 2010 war seit der  kapitalistischen Wiedervereinigung der heftigste Angriff in der BRD-Geschichte auf das Lohnniveau der Arbeiterklasse und der  Arbeitslosen.

Durch diese Angriffe explodierte der Leih- und Zeitarbeitssektor, ebenso wurde ein staatlicher Zwangsarbeitssektor durch die Ein-Euro-Jobs eingeführt. Für die Ausbreitung der Leiharbeit war das VW-Projekt „5.000 x 5.000“ der Startschuss, dabei bekamen die VW-internen LeiharbeiterInnen damals 5.000 DM brutto, ca. ein Drittel weniger als der damalige Haustarif bei VW. Inzwischen haben alle „Global Player“ des deutschen Kapitals ausgegliederte Beschäftigungsgruppen. Zumeist gehört den Konzernen auch die Leiharbeitsfirma, mit denen ganze Bereiche der Produktion niedriger bezahlt werden.

Auch die Einführung der „Ich -AG´s“ gehört zu dieser Neustrukturierung der Beschäftigungsverhältnisse, dort entstand ein Druck Richtung Selbstständigkeit inkl. günstiger Kredite, wodurch in Hochzeiten über 100.000 als „Ich AG“ geführt wurden.

Alle heutigen Entwicklungen im „Prekariat“, im Niedriglohnbereich haben daher einen Ausgangspunkt in den Angriffen der Schröder/Fischer Regierung. Hier sollte der Arbeitsmarkt „fit für die Globalisierung“ gemacht werden, dies hieß v.a. Lohnsenkung im großen Stil, Kürzung der sozialen Transferleistungen inkl. der Zusammenlegung von ALG 2 und Sozialhilfe.

Als Folge davon konnte die offizielle Arbeitslosigkeit gesenkt werden, die Beschäftigungszahlen stiegen, während die Lohnstückkosten in den letzten 10 Jahren fielen und die Reallöhne sanken – insoweit war ein wichtiges Ziel des deutschen Kapitals erreicht.

Ausmaß prekärer Beschäftigung

Von den ca. 40 Millionen Beschäftigten, die in der BRD gezählt werden, sind 14 Millionen Stellen nicht oder nur eingeschränkt sozialversicherungspflichtig. Die Zahlen der voll sozialversicherungspflichtigen Jobs sinkt konstant und liegt derzeit bei ungefähr 26 Millionen.

Im Niedriglohnbereich arbeiten derzeit nach verschiedenen Zählungen zwischen 6-8 Millionen Beschäftigte. Dazu kommen die Beschäftigten im Teilzeitbereich mit halben oder „Drittel“-Stellen, Mini-Jobs und in Altersteilzeit.

Die ILO hat folgende Definition für prekär Beschäftigte: „ …die aufgrund ihres Erwerbsstatus nur geringe Arbeitsplatzsicherheit genießen, die wenig Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung ihrer Arbeitssituation haben, die nur partiell im arbeitsrechtlichen Schutzkreis stehen und deren Chancen auf materielle Existenzsicherung durch Arbeit in der Regel schlecht sind.“ (5)

In der BRD orientiert sich die Existenzsicherung am allgemeinen Durchschnittslohn. Dieser lag im 1. Quartal 2011 bei ca. 3.200 Euro brutto. 36% aller Beschäftigten verdienen weniger als 2/3 des Durchschnittslohns, mehr als die Hälfte von diesen verdient weniger als die Hälfte des Durchschnittslohns. Diese Lohngruppen stellen den Niedriglohnbereich bzw. die als „Working Poor“ bezeichneten Teile der Klasse dar.

Besonders die Zunahme der „Mini-Jobs“ von 1996-2006 um 163% (6) ist eine entscheidende Triebfeder der Prekarisierung. Hier werden immer mehr „Normalarbeitsverhältnisse“ in Teilzeit- oder Mini-Jobs verwandelt. Immer mehr Menschen müssen mehrere Jobs ausüben, wie auch gleichzeitig größere Bereiche der Klasse unbefristet und unsicher beschäftigt sind. Dabei steigt zwar die Gesamtzahl der Beschäftigten, aber nicht die Zahl der Arbeitsstunden, diese werden nur auf mehr Köpfe und Hände verteilt.

Generation prekär?

Es ist nicht verwunderlich, dass gerade die junge Generation einen Hauptteil der prekär Beschäftigten ausmacht. An dieser Generation werden die Neuerungen des Arbeitsmarkts direkt getestet. Somit ist die Jugend im Niedriglohnbereich führend, ebenso in der Erwerbslosigkeit (doppelt so hoch wie im Durchschnitt).

Laut einer Jugendstudie des DGB arbeiten nur 30% der unter 35jährigen in einem „Normalarbeitsverhältnis“, inkl. unbefristeter Anstellung und einem Lohn von mindestens 2.300 Euro brutto. Einen wichtigen Teilaspekt der „Generation Praktikum“ macht auch die Herausbildung eines wissenschaftlichen Prekariats aus. Zur „Generation Praktikum“ gab es eine Kampagne der DGB-Jugend. Bei den öffentlichen Kundgebungen und Aktionen liefen zumeist AktivistInnen mit weißen Masken, welche die „Gesichtslosen“ der Betriebe und Firmen darstellen sollten – gesichtslos sind diese zumeist auf den Lohnzetteln, aber nicht in den Abteilungen und gegenüber den anderen Beschäftigten.

So kennt fast jeder Azubi auf der Berufsschultour der DGB-Jugend Berlin-Brandenburg PraktikanntInnen im Betrieb und fast jeder kennt auch ein Hauptmerkmal – die PraktikantInnen arbeiten umsonst. Diese Sklaven-Praktika bestimmen den Markt und gelten oft als Voraussetzung für zukünftige Einstellungen oder für einen Ausbildungsplatz. Die Hälfte dieser Stellen wird nicht entlohnt – trotz Vollzeit und oft vergleichbarer Arbeit wie die Festangestellten. Wenn dann doch Lohn oder “Entschädigung“ gezahlt wird, dann werden 30% der Praktika mit weniger als 500 Euro entlohnt. Davon kann niemand leben. Dort müssen dann die Einkommen der Eltern oder Erspartes dran glauben.

Die Azubis wissen auch, dass diese PraktikantInnen KonkurrentInnen am Arbeitsplatz sind. Zwischen 16 und 18 müssen viele Jugendliche ein Praktikum machen, um überhaupt Chancen auf einen Ausbildungsplatz zu haben. Gerade für Jugendliche mit einem mittleren Schulabschluss (z.B. Realschule) oder mit Hauptschulabschluss ist das Praktikum meist die Einstiegserfahrung in den Arbeitsmarkt.

Dieser Einstieg wird mittlerweile aber auch für viele HochschulabsolventInnen zur ersten Erfahrung auf dem Arbeitsmarkt. Inzwischen berichten auch bürgerliche Medien regelmäßig über die Praktika-Rotation von Uni-AbsolventInnen bei Großkonzernen. Es wird davon geredet, wie die Hoffnung auf eine Festanstellung beständig schwindet und das nächste Praktikum begonnen wird. Besonders die „Projektabteilungen“ der Konzerne, welche meist selber schon „outgesourct“ sind, beschäftigen so immer wieder dutzende PraktikantInnen – per Kooperation mit den jeweiligen Fachbereichen an den Unis wird so für steten Nachschub gesorgt.

Ideologisch verbrämt wird dieses Dilemma der kapitalistischen Arbeitswelt durch das Motto „einen Fuß in die Tür bekommen“. Damit wird seit Jahrzehnten das Umsonst-Praktikum beworben. So könne man sich am besten für eine feste Stelle präsentieren. Daraus haben die meisten Unternehmen eine Beschäftigungsnische geschaffen, in der den PraktikantInnen regelmäßig die Tür wieder zugeschlagen wird, was aber kein Problem ist, da die nächsten schon auf Abruf bereit stehen.

Sollte die Erwerbslosigkeit am Beginn stehen, dann sorgt die Arbeitsagentur für die Eingliederung in den Niedriglohnbereich. Wenn 18jährige nach der Schule Hartz IV beantragen, da sie keine Ausbildungsstelle bekommen haben, investiert die ARGE keine Mittel in die Ausbildung und Qualifizierung der Jugendlichen; sie werden vielmehr zu den Leih- und Zeitarbeitsfirmen gejagt. Nach der nun gültigen Eingliederungsvereinbarung darf der Jugendliche keinen Zeitarbeitsjob mehr ablehnen. Wenn er/sie das dennoch tut, droht sofort eine 20prozentige Kürzung und im nächsten Schritt die Streichung von Geldleistungen. Diese Jugendlichen landen zumeist in Hilfsarbeiterjobs, werden saisonal von Zeitarbeitsfirmen an die Großfirmen verschachert und bilden eine Kernschicht des Niedriglohnsektors in Deutschland.

Auf der anderen Seite finden wir die jungen AkademikerInnen, die seit der BA/MA-Reform einige akademische Privilegien verloren haben. Dort nimmt die Prekarisierung v.a. die Form der Befristung an, von Teilzeitarbeit und geringeren Aufstiegsmöglichkeiten. Während die Fachbereiche mit Drittmittelförderung durch Unternehmen neue Stellen schaffen können bzw. dortige Privilegien weiter Bestand haben, sind andere Fachbereiche von Kürzungen und Rationalisierungen betroffen, gerade dort tritt eine „Proletarisierung“ verschiedener akademischer Mittelschichten ein.

Prekariat, Arbeitslose, ArbeiterInnen

Während die Soziologie das Prekariat als „Grenzgänger des Arbeitsmarkts“ vom „normalen“ Proletariat trennt, muss eine Klassenanalyse tiefer greifen. Die soziologischen Trennungen beziehen sich auf Lebenswelten und Einstellungen, also eher Beobachtungen an der Oberfläche – wobei dann „grundlegende Unterschiede“ festgestellt werden und deswegen die Gruppen sozial getrennt werden. Solche Erscheinungen der Lebenswelt bzw. die Unterschiede sind natürlich wichtig, um das Prekariat gesellschaftlich zu verorten, um daraus eine Perspektive des sozialen und politischen Kampfes zu entwickeln und letztlich Forderungen für diese soziale „Schicht“ der Arbeiterklasse zu entwickeln, genau wie es für Arbeitslose, weibliche Beschäftigte, MigrantInnen und die Jugend ebenso nötig ist, spezifische Forderungen aufzustellen und Organisationsformen zu schaffen, die ihrer Benachteiligung innerhalb der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen entgegenwirken.

Gerade dort, wo die prekär Beschäftigten zwischen Beschäftigung und Arbeitslosigkeit pendeln, gehören diese „Grenzgänger“ natürlich zum Proletariat und teilen dessen Interessen, wie sie auch objektiv die Interessen der Arbeitslosen vertreten müssten, da auch sie mit Hartz, mit Aufstockung etc. ihre Erfahrungen haben. Natürlich werden diese Gruppen sozial und politisch gegeneinander in Stellung gebracht, die ideologische Spaltung der Arbeiterklasse will niemand bestreiten, ebenso wenig die massive Zunahme der Konkurrenz untereinander, welche die Spaltungen vertieft.

Aber im Gegensatz zur Soziologie muss es das Ziel einer marxistischen Analyse sein, die Interessen der Gesamtklasse zu formulieren und alle „neuen“ Entwicklungen darin zu integrieren. Wir fixieren uns eben nicht nur auf die soziotopischen Unterschiede, sondern richten unseren Blick auf die gemeinsamen Interessen im Klassenkampf gegen Kapital und bürgerlichen Staat – und da gibt es sehr viele Überschneidungen. Daher müssen hier die Entwicklungen bei den Erwerbslosen, den Beschäftigten und darunter und dazwischen dem Prekariat stets als Ganzes verstanden und analysiert werden – nur so wird ein gesamtgesellschaftlicher Kontext deutlich.

Die Arbeiterklasse verändert sich in ihrer Zusammensetzung, die Bedingungen der Ausbeutung werden derzeit neu bestimmt, die Prekarisierung ist ein Hauptmittel dabei. Wenn dort soziologische „Schnitte“ angebracht werden, dient dies meist einer ausführlichen Einzelbetrachtung der jeweiligen Existenz, was sicherlich auch interessant ist – allerdings entwickelt es eben keine wissenschaftliche Antwort auf das „Warum“, sondern bleibt beim „Wie“ stehen. So bleibt die Kapitalismus-Analyse meist auf ein „Ende des Postfordismus“ beschränkt, seitdem verändern sich die Arbeitsprozesse und deswegen auch die sozialen Verhältnisse.

Natürlich müssen wir bei der Klassenanalyse auch die neuen Formen der Selbstständigkeit berücksichtigen. Dort werden Viele ins Kleinbürgertum gedrängt, meist unfreiwillig, sei es nun als selbstständige/r KurierfahrerIn, AltenpflegerIn oder als „Freelancer“ in der IT Branche. Während dort Teile der Arbeiterklasse ausgesondert werden, für die es dann meist keine „normalen“ Festanstellungsverhältnisse mehr gibt, gibt es auch eine verschärfte Konkurrenz im Kleinbürgertum selbst. Zuletzt wurde dies v.a. beim „wissenschaftlichen Prekariat“ untersucht. Dort befindet sich v.a. das „Bildungsbürgertum“ in einer gewissen „Prekarisierung“, heißt konkret Verlust von festen Stellen und Privilegien – was auch mit „Proletarisierung“ bezeichnet werden könnte.

Internationale Arbeitsteilung im Imperialismus

Die Aussonderung bestimmter Teile der Arbeiterklasse ist kein neues Phänomen, es liegt in der Natur des Kapitalismus selbst, stets „überflüssige Arme“ (Arbeitskräfte) zu reproduzieren. Seit Beginn des industriellen Kapitalismus ist die Entstehung der Erwerbslosigkeit eine Konstante, wie auch zyklische Veränderungen der Höhe der Erwerbslosigkeit, immer auftreten.

Marx zitiert im Kapital den Professor für politische Ökonomie H. Merivale: „gesetzt, bei Gelegenheit einer Krise raffte die Nation sich zu einer Kraftanstrengung auf, um durch Emigration einige 100.000 überflüssige Arme loszuwerden, was würde die Folge sein? Dass bei der ersten Wiederkehr der Arbeitsnachfrage ein Mangel vorhanden wäre. Wie rasch auch immer die Reproduktion von Menschen sein mag, sie braucht jedenfalls den Zwischenraum einer Generation zum Ersatz erwachsener Arbeiter. Nun hängen die Profite unserer Fabrikanten hauptsächlich von der Macht ab, den günstigen Moment lebhafter Nachfrage zu exploitieren und sich so für die Periode der Erlahmung schadlos zu halten. Diese Macht ist ihnen nur gesichert durch Kommando über Maschinerie und Handarbeit. Sie müssen disponible Hände vorfinden; sie müssen fähig sein, die Aktivität ihrer Operationen wenn nötig höher zu spannen oder abzuspannen, je nach Stand des Markts, oder sie können platterdings nicht in der Hetzjagd der Konkurrenz das Übergewicht behaupten, auf das der Reichtum dieses Landes gegründet ist.“ (7)

Hier wird recht deutlich, welche Funktion die „industrielle Reservearmee“ im Kapitalismus hat – als disponible Ware Arbeitskraft, als Masse, welche den konjunkturellen Anforderungen des Kapitals gehorcht, je nach den Bedingungen der Konkurrenz.

Der Begriff und die arbeitsrechtliche Stellung des „Tagelöhners“ bringt diese abstrakte Beschreibung recht konkret auf den Punkt. Dieses Phänomen ist in der BRD mit Hartz IV auch wieder Realität. In bestimmten „Arbeitsagenturen“ können Erwerbslose ab 4 Uhr morgens im Wartezimmer Platz nehmen und ab dieser Zeit gebucht werden. Auf „erweiterter Stufenleiter“ vollstrecken dann die Zeit- und Leiharbeitsunternehmen dieses Prinzip, in dem diese Unternehmen die konjunkturell zusätzlich erforderliche Arbeit organisieren und auch die „konjunkturunabhängigen“ Arbeitsplätze der „Kernbelegschaften“ angreifen bzw. in die Zeit- und Leiharbeit integrieren.

Der entscheidende Faktor der „Flexibilität“ ist neben der zeitlichen Befristung v.a. die Lohnhöhe. Der „Tagelöhner“ oder Zeit- und Leiharbeiter kostet zwischen 25-50% weniger Lohn und Sozialabgaben (also indirekte Lohnbestandteile). Somit stellt der gesamte Niedriglohnbereich einen Übergang zwischen Erwerbslosigkeit und Beschäftigung dar, konkret zu bemessen an arbeitsrechtlichen Bedingungen und Lohnhöhen – quasi eine „Pufferzone“, durch die das Kapital den Wert der Ware Arbeitskraft beständig senkt, mit direkten Auswirkungen auch auf die Sektoren der Beschäftigten und der Erwerbslosen.

Die Leiharbeit bedroht direkt die Arbeitsbedingungen der Tarifbeschäftigten. Die KollegInnen arbeiten für ein Drittel weniger im gleichen Betrieb, oft werden sogar ganze Produktionszweige oder Abteilungen auf diese Art ausgegliedert. Diese Ausgliederungen weg vom branchenüblichen Tarifvertrag werden meist vom Kapital mit konjunkturellen Erfordernissen begründet. Als hauptsächliche Drohung, welche dann auch meist von den Gewerkschaftsfunktionären und Betriebsräten akzeptiert wird, ist die Drohung der Verlagerung bzw. dass andere Standorte diese Arbeit zu günstigeren Konditionen übernehmen könnten. Angefangen mit dem VW-Modell „5.000 x 5.000“ haben alle Großkonzerne, Zulieferer, Mittelstand und Handwerk dieses Modell der Aufsplittung der Beschäftigungsstruktur übernommen.

Damit einhergehend wurden in der BRD mit der Agenda 2010 die größten Sozialkürzungen vorgenommen. Der ominöse „Lohnabstand“ zwischen Beschäftigten und „Arbeitslosen“ wurde angepasst – speziell zwischen Niedriglohn und Sozialleistung.  Diese Sozialleistung wurde auf das „Existenzminimum“ gesenkt, inklusive des Niedriglohnbereichs ist ein gutes Drittel der erwerbstätigen Bevölkerung beim Einkommen unter 70% des Durchschnittslohns angekommen und somit, je nach statistischer oder soziologischer Erklärung, armutsgefährdet bzw. „Working Poor“.

Das Kapital hält die „Pauper“ chronisch an der Existenzgrenze. Somit steht diese Gruppe stets in Konkurrenz zu zwei Seiten – zu den „Tarifbeschäftigten“ und den Erwerbslosen, allerdings meist mit der Gefahr, in die Erwerbslosigkeit zu rutschen und weniger mit der Aussicht, eine tarifliche Entlohnung zu erreichen.

Solidarität in der Arbeiterklasse begann oft mit Solidarität am Arbeitsplatz, im Betrieb. Sich nicht nach Abteilungen, nach Standorten und Berufsgruppen spalten zu lassen, gehörte zu den Grundlagen gewerkschaftlicher Entwicklung und Entstehung. Dieses Prinzip wird durch Niedriglohn und Prekariat aufgeweicht bzw. hier schlägt das Kapital offen zu.

Diese Entwicklungen und Zusammenhänge innerhalb der Arbeiterklasse machen einen marxistischen Ansatz der Analyse und Methode dringend notwendig. Beschäftigte, Erwerbslose und das Prekariat sind nur verschiedene Formen der Ausbeutung im Kapitalismus, sind nur verschiedene Abteilungen der Arbeiterklasse. Für diese Gruppen muss eine gemeinsame Klassenpolitik praktiziert werden. Nur wenn wir die Zusammenhänge zwischen Beschäftigten, Erwerbslosen und dem zahlenmäßig steigenden Prekariat analysieren und ihre gemeinsamen Interessen gegenüber dem Kapital formulieren können, ist es möglich, die soziologische und politische Spaltung innerhalb der Klasse zu überwinden.

Prekäre Situation in den Mittelschichten

In der soziologischen Forschung, hauptsächlich bei Dörre und Castel (8) wird die Kategorie „Prekarisierung“ von verschiedenen Standpunkten aus untersucht. Aus der Sicht einer Klassenanalyse sind die Auswirkungen der Prekarisierung auf die lohnabhängigen „Mittelschichten“, die Arbeiteraristokratie und in Teilen des Kleinbürgertums interessant, auch wenn in der Soziologie diese klassenmäßig unterschiedlichen Schichten oft irrtümlich unter „Mittelschicht“ zusammengefasst werden.

Die soziologische Forschung stellt in diesen Schichten eine „gefühlte Unsicherheit“ fest, welche auf zunehmende Prekarisierung zurückzuführen ist, gerade bei den Teilen, die (noch) nicht davon betroffen sind.

Speziell die „Unsicherheit“ und die Entwicklungen in den Mittelschichten müssen politisch-ökonomisch analysiert werden – in welchen Klassenzusammenhängen gibt es Veränderungen? In der Soziologie wird die Prekarisierung dieser Gruppen oft getrennt vom Prekariat untersucht, speziell aufgrund milieu-typischer psychosozialer Entwicklungen in den Mittelschichten.

Diese „Mittelschichten“ erreichen meist den Einkommensdurchschnitt bzw. übertreffen ihn. Teile der deutschen Arbeiteraristokratie gehören dazu, auch die höheren Angestellten und Beamten des Öffentlichen Dienstes, bis zu den klassisch kleinbürgerlichen Gruppen wie Apotheker, Kaufmann, Selbstständige und Freiberufler wie Architekten, Anwälte etc.

Getrennt davon sind die Angehörigen des „Mittelstandes“ zu betrachten. Dieser ist in Deutschland besonders stark ausgeprägt und gehört eigentlich zur Kapitalistenklasse, dazu zählen Unternehmen mit einigen tausend Beschäftigten. Viele von diesen Unternehmen sind direkt an die deutsche Exportindustrie, also an das Monopolkapital, gekoppelt.

In unserer Betrachtung wollen wir die Beschäftigten untersuchen und weniger die Produktionsmittel-Besitzer im industriellen Mittelstand, obwohl diese natürlich auch in der Krise neuem Druck von Seiten des Großkapitals ausgesetzt sind.

Die Prozesse der Prekarisierung bringen Unsicherheit in diese lohnabhängigen Mittelschichten. Verstärkt tritt diese Unsicherheit in den Krisenperioden des Kapitalismus auf – was für das Proletariat gilt, trifft auch auf die Mittelschichten zu. Das Großkapital verstärkt die Konkurrenz untereinander. Um dem Fall der Profitrate und v.a. der Profitmasse entgegenzuwirken, verschärft das Großkapital den sozial-ökonomischen Druck.

Diesen Druck bekommen auch kleinere Kapitale zu spüren, z.B. als Zulieferer – so wie diese beiden Kapitalfraktionen ihrerseits den Druck auf das Handwerk erhöhen. Sei es das Aufweichen der deutschen Handwerksordnung, inkl. des Meisterzwangs und der -gebühr oder der Zugang von Internet-Apotheken auf dem deutschen Markt – hier geraten auch Überreste des ständischen deutschen Kleinbürgertums unter Beschuss, die zuvor noch Jahrhunderte überdauert hatten.

Beispiel IT-Branche

Diese Branche galt bis zum Platzen der „New Economy“-Blase 2000/01 als potentieller Hochlohnsektor, die Firmen hatten eigene Fachleute beschäftigt, um ihre Unternehmen fit für das Internet zu machen. Dementsprechend explodierten auch die Ausbildungsquoten Jahr für Jahr. In Indien werden pro Jahr mehrere hunderttausend IT-Fachkräfte ausgebildet – die Ware Arbeitskraft erscheint in Hülle und Fülle.

Bald fingen die Unternehmen jedoch damit an, ihre IT-Abteilungen auszugliedern bzw. an selbstständige Dienstleister zu vergeben. Zur Konfiguration eines Programms oder zur Erstellung einer Software braucht die IT-Fachkraft keine Produktionshalle und auch keine feste Beschäftigung – daraus entwickeln diese Firmen eine völlig neue Beschäftigungsstruktur.

Während die ausgebildeten IT-Fachkräfte oft nur in Dienstleistungsunternehmen überhaupt feste Stellen finden, beginnen die Großkonzerne eine grundlegende Umstrukturierung hin zum „freien Mitarbeiter“. „Frei“ bedeutet in diesem Zusammenhang v.a. die Freiheit des Unternehmens, frei von Sozialabgaben zu sein und keine unbefristeten Stellen zu haben.

Eine andere, oft damit verbundene Form besteht darin, Konkurrenz zwischen Beschäftigten und Abteilungen ins Unternehmen zu verlagern. So haben Firmen wie IBM angefangen, mittels des Internets einen neuen Arbeitsmarkt aufzubauen. Mit Plattformen wie „Topcoder“ oder „Liquid“ werden Auftragsarbeiten des Konzern virtuell angeboten und die „freien“ Mitarbeiter können dann ihre Angebote abgeben und treten in Konkurrenz zu den (noch) fest Beschäftigten.

Diese Auftragsarbeiten können dazu führen, dass verschiedene Projektgruppen als „freelancer“ für das Unternehmen einen Auftrag erledigen – unabhängig voneinander und ohne die Möglichkeit, gemeinsame Interessen (wie Lohn, Honorare) gegenüber dem Unternehmen zu vertreten. Die Ware Arbeitskraft wird über das „Werkzeug“ der IT-Fachkraft ausgegliedert – mit dem Laptop, so ist die bestechende Logik, kann ja jeder zu jeder Zeit an jedem Ort diese Arbeit machen. Damit ist dem Kapital fast etwas Historisches gelungen: es hat die Arbeitskraft aus ihren sozialen, kulturellen und örtlichen Zusammenhängen heraus gebrochen, in der „Cloud-Plattform“ treten alle „Anbieter“ in Konkurrenz zueinander, nach dem Ebay-Versteigerungsprinzip entscheidet das Unternehmen, welche Konditionen die günstigsten sind.

Natürlich klappt Gleiches nicht mit der Reinigungskraft, diese wird nie per Laptop reinigen können. Auch in den Konzernen erzeugt das keineswegs immer die gewünschten Ergebnisse. Aber diese Art von Ausgliederung funktioniert insofern, als sie in einem Hochlohnbereich erfolgreich zur Preissenkung der Ware Arbeitskraft führt.

Wenn vormals relativ privilegierte Teile der Beschäftigten unter Druck geraten und ihre soziale Stellung gefährdet ist, dann hat dies stets auch politische Implikationen. Der Statusverlust kann in der Krise zum Verlust der „Klassenzugehörigkeit“ führen, Teile der Mittelschichten werden proletarisiert, verlieren vormals bestehende soziale Errungenschaften.

Andere fallen noch tiefer, werden nicht durch schlechtere feste Beschäftigungsverhältnisse „aufgefangen“, sondern in die Selbstständigkeit getrieben und/oder verlieren komplett ihre soziale Existenz. Diese Situation lässt soziale Angst in den Mittelschichten aufkommen. Diese Angst kann sich leicht zu reaktionären Antworten auf die Krise verdichten, wenn es keine kämpferische Antwort der Arbeiterklasse gibt.

In den Niederlanden oder in Finnland sind derzeit Rechtspopulisten sehr erfolgreich in den kleinbürgerlichen Schichten unterwegs, während der FPÖ in Österreich meistens Ausländer- und EU-Hetze reichten, spielen diese Formationen auch die „soziale“ Karte. Die „Freiheit“ aus den Niederlanden und die „Wahren Finnen“ verweigern die Hilfen für südeuropäische Länder, wollen stattdessen die nationalen „Leistungsträger“ unterstützen – hier werden dem Kleinbürgertum und den Mittelschichten rechte und autoritäre Krisenlösungen vorgeschlagen. In Griechenland, das derzeit am schärfsten von der Krise geschüttelt ist, sehen wir diese Zuspitzung auch am Zulauf für die Faschistenpartei „Goldene Morgendämmerung“.

In der Krise ist das Kleinbürgertum gewissermaßen orientierungslos, etablierte Parteien können das Kleinbürgertum nicht mehr genügend schützen, die verschärften Konkurrenzbedingungen – losgetreten vom Großkapital – unterwerfen diese Mittelschichten einer Zäsur. Auf diese Veränderungen müssen die Organisationen der Arbeiterklasse, Gewerkschaften und Parteien reagieren, müssen Lösungen anbieten – ansonsten ist sind diese Schichten ein gefundenes Fressen für Rechtspopulisten, Faschisten oder rassistische Hetzer a la Sarrazin.

Ein Beispiel. Genügend Selbstständige sind finanziell nicht in der Lage, alle Versicherungsleistungen als Selbstständige auch zu bezahlen, eine mögliche Pflichtzahlung an die staatliche Rentenversicherung kann das Ende von manch „Ich-Unternehmen“ sein. Wenn ein IT-Selbstständiger eine Initiative gegen die Pflichtzahlung zur Rentenversicherung startet, so startet dieser eine Initiative gegen die objektiven Interessen seiner „Schicht“.

Als Antwort brauchen wir keine neoliberale Aktion gegen die Pflichtversicherung; wir brauchen eine gesetzliche, aus der Besteuerung der Reichen – also der Kapital- und Vermögensbesitzer – finanzierte Mindestrente, welche die Reproduktionskosten deckt. Solange dies nicht politisch-gewerkschaftlich vertreten wird, ist die Abgleitfläche für solche Initiativen sehr groß – diese Initiative orientiert sich vom Staatsverständnis eher an der stockreaktionären „Tea Party“-Bewegung in den USA. Dies bietet keine Perspektive zur sozialen Absicherung.

Frauen und Prekarisierung

Die weibliche Beschäftigung trägt strukturell prekäre Merkmale. 45% aller beschäftigten Frauen arbeiten in Teilzeitverhältnissen mit einer Spannbreite vom 400-Euro-Job bis zur 27,5-Stunden-Woche. Besonders im Einzelhandel wurden Festangestellte abgebaut, in jedem Konsum-Center in der Republik finden wir höchst vielfältige, niedrig entlohnte Teilzeitjobs. 49% der Teilzeit arbeitenden Frauen verdienen weniger als 800 Euro im Monat.

Bei der Prekarisierung und Entrechtung von Arbeitsverhältnissen sind speziell „weibliche“ Beschäftigungsfelder schon immer ein Experimentierfeld im Kapitalismus gewesen. In kapitalistischen Staaten gab es häufig die „Zuverdienerin“ als weibliche Beschäftigungsform, im Verkauf, der Pflege, der Reinigung u.ä. Sektoren sollte die Frau den Hauptverdiener ergänzen, aber gleichzeitig auch den „häuslichen Pflichten“ nachkommen können. Idealerweise trat die Frau dann wieder ins Berufsleben, wenn die Kinder groß waren. Dies war in der alten BRD ein typisches Procedere, während bei den ostdeutschen Frauen heute noch andere Strukturen vorzufinden sind. (9)

Bei weiblichen Vollzeitbeschäftigten können wir eine weitere Gruppe dem Prekariat zuordnen. Dieses Drittel ist im Niedriglohnbereich beschäftigt. So lässt sich sagen, dass gut zwei Drittel aller weiblichen Beschäftigten prekären Zuständen ausgesetzt sind.

Allerdings müssen wir hier auch unterscheiden – „prekäre Zustände“ sagt nicht alles über die sozio-ökonomische Situation der Frauen aus. Wenn sie als Zuverdienerin einen 400-Euro-Job ausübt, so ist dieser Job wahrscheinlich schlecht bezahlt und sie kann wenig Einfluss nehmen – ihr Beschäftigungsverhältnis ist somit prekär, ihre soziale Lage muss es aber nicht sein, wenn denn ein anderes „Ernährereinkommen“ vorhanden ist.

So war in der alten BRD weibliche Arbeit stark auf Teilzeit, auf Zuverdienst orientiert. Dies nimmt aber nun in den Reproduktionsverhältnissen eine immer größere Rolle ein. Der Zuverdienst wird natürlich umso wichtiger, je geringer das (männliche) Vollzeiteinkommen ausfällt, aus Mini-Job wird Teilzeit oder eine Zwei-Drittel-Stelle, je mehr Vollzeitstellen abgebaut werden, desto mehr Teilzeitjobs können geschaffen werden.

Ost/West-Unterschiede und Geschlechterverhältnis (10)

Auch zwanzig Jahre nach der kapitalistischen Wiedervereinigung finden wir noch Besonderheiten in den Beschäftigungsverhältnissen von Frauen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Diese Frauen sind weiterhin überdurchschnittlich Vollzeit beschäftigt, während die „klassische“ Hausfrauenehe im Osten eher wenig zu finden ist (6% aller Haushalte). Weiterhin vorherrschend ist der Unterschied bei den Paaren mit zwei Vollverdienern. Im Osten trifft dies auf 41% aller Paare zu, im Westen auf 23%, hier befinden sich aber auch 25% der Frauen noch in der Hausfrauenehe. Im Gegensatz dazu ist in Ostdeutschland auch ein eher neues “Ernährerinnen-Modell“ aufgetaucht: in 25% aller Haushalte ist die Frau AlleinverdienerIn geworden, davon sind die Hälfte Alleinerziehende.

Hier ist in vielen Bereichen die „männliche“ Beschäftigung verschwunden. Die massive  Deindustrialisierung am Beginn der 90er Jahren hat v.a. männliche Erwerbsbiographien ruiniert. Auch heute pendeln zwischen 350.000 und 400.000 v.a. männliche ostdeutsche „Wanderarbeiter“ in die industriellen Zentren in Süddeutschland, was auch Ausdruck der fehlenden Arbeitsplätze in Ostdeutschland ist.

Speziell die weibliche Alleinverdienerin ist das Resultat dieser Entwicklung. Hier müssen Teilzeitjobs die Hauptlast der Reproduktion tragen können; wenn die 27,5 Stunden-Stelle (höchste Teilzeitform) im Niedriglohnbereich nicht ausreicht, um den vergleichbaren Hartz IV-Satz zu erreichen, dann muss „aufgestockt“ werden. Diese Teile der Klasse stellen in der wiedervereinigten BRD einen Teil der Armutsschicht der Gesellschaft, ihre Lohnarbeit deckt nicht die Reproduktionskosten, ohne Sozialleistungen sind sie nicht lebensfähig.

Dies trifft besonders auf allein erziehende Frauen zu. Hier sind alle soziologischen Risiken geballt. Wenn dann noch schlechte Ausbildung oder Migrationshintergrund dazu kommen, ist der Weg in die Armut vorprogrammiert. Ausdruck dieser Sozialpolitik des letzten Jahrzehnts war ein Gerichtsurteil aus Hamburg, bei dem festgelegt wurde, dass eine erwerbslose alleinerziehende Frau, sobald das Kind 3 Jahre alt ist, dem Arbeitsmarkt „teilweise“ wieder zur Verfügung stehen müsste. Dies würde den jungen Müttern den „Wiedereinstieg“ ins Berufsleben erleichtern, meinte die Richterin. Im Klartext heißt das, dass die Kürzung der Bezüge ab dem 3. Lebensjahr rechtens sind, wenn die Mutter sich nicht wieder „eingliedern“ möchte – von möglichen Kita-Plätzen und Gebühren stand natürlich nichts im Urteil. Somit zwingt der Staat die Alleinerziehenden in die Teilzeit und nutzt somit die prekäre soziale Situation aus.

Die Rolle der Gewerkschaften – wie organisieren, was nicht organisiert werden soll?

Bei der Frage wie Gewerkschaften mit Niedriglohn, Erwerbslosigkeit, Prekariat umgehen, muss zunächst eine politische Analyse der DGB-Politik erfolgen, um anhand dieser dann die massiven Probleme der Gewerkschaften in diesem Bereich erklären zu können.

Zu Anfang eine Anekdote: Zur Einführung von Hartz IV lud die Kasseler Erwerbslosen-Initiative KEI im Frühjahr 2004 ins regionale DGB-Haus zur Diskussionsveranstaltung ein. Anwesend waren auch einige lokale Gewerkschaftsbosse. Die Initiative legte diesen Fragen vor, wie denn die DGB-Gewerkschaften die Proteste unterstützen könnten bzw. wie in ihrer Mitgliedschaft Aufklärung gegen die massive staatliche und mediale Hetze zu organisieren wäre.

Während einige um warme Worte für die Initiative bemüht waren, brachte der Ortsvorsteher der IG Metall und spätere SPD-Bundestagsabgeordnete seine Position, wie folgt auf den Punkt: Ich vertrete in erster Linie die Beschäftigten, die Arbeit haben. Um die Arbeitslosen können wir uns nicht auch noch kümmern und schließlich muss ja auch irgendwas verändert werden.

Diese Episode illustriert die gängige Praxis der heutigen DGB-Gewerkschaften. Die eigenen Erwerbslosenstrukturen verfügen über „Jahresetats“, für die manch ein Vollzeitfunktionär keine 14 Tage arbeiten muss. Konkret hieß dies z.B. 2.000 Euro für die registrierten knapp 900 erwerbslosen ver.di-Mitglieder der Region Nordhessen. Die Aktivitäten des Erwerbslosen-Ausschusses waren dementsprechend begrenzt. Es reichte für die Teilnahme von mehreren Personen an verschiedenen Konferenzen in diesem Jahr und einen Flyer.

Diese Schilderung zeigt den mühseligen Kampf von Erwerbslosen um gewerkschaftliche Organisierung. Zumeist bleibt die Sozialberatung als einzige reale Unterstützung übrig, von einem „Nischen-Dasein“ zu sprechen ist fast schon eine Übertreibung.

Dementsprechend waren dann auch die Proteste des DGB gegen die Einführung von Hartz IV. Aus den „Montagsdemo“ gegen Hartz IV zogen sich die Gewerkschaften mit höchst fadenscheinigen Begründungen zurück. Angeblich würden Rechte die Demos in einigen ostdeutschen Städten unterlaufen und andernorts würden die PDS und Linksradikale alles in gefährliche Bahnen lenken, so dass sich der DGB zurückziehen müsse.

Diese obskure Mischung aus Verleumdungen und politischer Feigheit hatte nur einen Zweck – der DGB wollte nicht gegen „ihre GenossInnen“ in der Regierung demonstrieren. Im November 2003 war es zu einer Großdemo gegen die Agenda 2010 gekommen. Ca. 100.000 aus Gewerkschaften und sozialen Bewegungen protestierten – „natürlich“ ohne die DGB-Spitze. Danach sabotierte der DGB den Widerstand. Als das nichts half, musste die Bewegung von der Spitze gebrochen werden. 2004 mobilisierten  die Gewerkschaften mehrere Hunderttausend – dann war der Protest am Ende. DGB-Vorsitzender Sommer kündigte zwar öfter „heiße“ Jahreszeiten an, das SPD-Mitglied Sommer blieb aber seiner Regierungspartei treu.

Reformistische Gewerkschaftspolitik und daraus resultierende Widersprüche

Durch die Konkurrenz zwischen Erwerbslosen und Beschäftigten ist eine der tiefsten Spaltungen der Arbeiterklasse begründet und damit einhergehend auch das Versagen der sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften im letzten Jahrhundert. In allgemeinen Deklarationen setzen sich natürlich auch heute noch Gewerkschaftsbosse für die Erwerbslosen ein. Zumindest wird Hartz IV „irgendwie“ abgelehnt, während gleichzeitig kein Kampf dagegen geführt wurde und auch bis heute kein Kampf des DGB z.B. gegen Hartz IV und für die Rechte der Erwerbslosen erkennbar ist.

Die sozioökonomische Spaltung zwischen Beschäftigen und Erwerbslosen ist aber einer der Pfeiler der verschärften Ausbeutung der Arbeiterklasse insgesamt – abgesichert durch die „Interessenvertreter“ der Beschäftigten.

In den Gewerkschaften bildet die Politik für die „normal“ Beschäftigten, die „Kernbelegschaften“, die FacharbeiterInnen, letztlich für die Arbeiteraristokratie die soziale Grundlage für die Bürokratie, den Apparat und deren Kontrolle über die Organisation. Rein fiskalisch ist der Apparat darauf angewiesen, besonders die Hochlohngruppen zu organisieren. Diese sichern organisch die Existenz ihrer Interessenvertretung. Es ist heute auch nicht verwunderlich, in welchen Bereichen eine  Organisationsquote von über 80, 90, 95% erreicht wird: in der Automobilbranche, im Stahlbereich, im Maschinen- und Anlagenbau, in der Chemie, in der Energiesparte – sprich in den industriellen Kernsektoren des deutschen Imperialismus.

Diese Teile der BRD-Arbeiterklasse sind beispielhaft für die Arbeiteraristokratie. Diese Kernsektoren des deutschen Imperialismus sind „Global Player“ der internationalen Konkurrenz. Hier wird der Extraprofit für die deutsche Bourgeoisie erzielt. Die dort Beschäftigten sind die soziale Elite der Arbeiterklasse – in Deutschland ein Zustand, der schon länger als 100 Jahre andauert und sich heute in hohen Haustarifverträgen (zumeist höher als der Flächen/Manteltarif), höheren Prämienzahlungen etc. äußert. Für die Lohnzurückhaltung der IG Metall während der schärfsten Krise 2009 wurden im Aufschwung-Jahr 2011 fast fünfstellige Prämien in den Exportsektionen ausgeschüttet.

Ökonomischer Kern der Arbeiteraristokratie ist ihre enorme Produktivität, diese ist quasi das Herzstück des deutschen Imperialismus, diese steigt jährlich (in manchen Branchen tw. zweistellig) und die Beschäftigten werden konsequent und extrem ausgebeutet. In diesen Bereichen findet die stärkste Verdichtung und Rationalisierung von menschlicher Arbeit statt, dies ist der oft bemühte „Standortvorteil“.

Direkt daran gekettet sind die betrieblichen und gewerkschaftlichen Apparate. Diese hatten in der Geschichte auch schon höchst kämpferische und revolutionäre Ausrichtungen, wie beim Berliner Metallarbeiterverband im 1. Weltkrieg, als von der „aristokratischen“ Berufsgruppe der Dreher die Initiativen für Streiks und später auch für politische Streiks ausgingen, allerdings ist hier auch der Einfluss des „Trade Unionismus“, der reformistischen Standortpolitik, am stärksten ausgeprägt.

Doch die Politik der Bürokratie hat mit einem gewaltigen inneren Widerspruch zu kämpfen. Ihre stetigen Zugeständnisse an das Kapital lassen nicht nur die „unteren“ Schichten der Klasse, ja zunehmend deren Mehrheit im Regen stehen – sie unterminieren sogar die Positionen der Arbeiteraristokratie.

Es ist Teil der inneren Widersprüchlichkeit der Bürokratie, dass es diese Kernsektoren der gewerkschaftlichen Organisierung waren, in denen die Einführung von Leih- und Zeitarbeit als erstes durchgedrückt wurde. Mit diesen Ausgliederungen wurde das Fundament für die Entstehung des Niedriglohnbereichs gelegt, welcher seitdem die Löhne der Kernbelegschaften ständig bedroht. Als Erpressung von Bourgeoisie und Staat zog am meisten die Angst vor der Verlagerung (Osteuropa, China) und dass die BRD nicht mehr konkurrenzfähig sein würde – seitdem hat die Konkurrenzfähigkeit des deutschen Imperialismus bedrohlich zugenommen, siehe auch die aktuelle EU-Krise und die stärkere Position des BRD-Imperialismus in Europa.

Die „Standort-Partnerschaft“ und das „Co-Management“, als politisch-ökonomische Strategie der aktuellen Gewerkschaftspolitik greifen entgegen der Intentionen der Bürokraten die Grundlagen der Gewerkschaften jedoch stetig an. Die voll- sozialversicherungspflichtigen Stellen wurden in den letzten 10 Jahren abgebaut und somit auch die Kernbelegschaften angegriffen und unterhöhlt.

Innerhalb eines Jahrzehnts entstand ein riesiger Niedriglohnbereich, auf den die Gewerkschaften wenig Zugriff und die dort Beschäftigten kaum Zugang zu Gewerkschaften haben. In diesen Sektoren ist ein nahezu gewerkschaftsfreier Raum entstanden, in dem das Ansprechen des Betriebsrat zur Kündigung führen kann, die Beschäftigten der Willkür der Geschäftsleitung ausgeliefert sind und viele der erkämpften Arbeitsrechte mit Füßen getreten werden.

Während die gewerkschaftlichen AktivistInnen im Einzelhandel mit Schikanen, Gerichten und Entlassungen rechnen müssen, betreibt die Spitze fortgesetzte „Burgfriedenspolitik“ mit Bourgeoisie und Staat, aktuell besonders devot gegenüber einer schwarz/gelben Regierung. Wie diese Gewerkschaften unter dieser Führung und mit dieser Politik für Mindestlohn, für ein Ende der Rente mit 67 o.a. unmittelbare Kampfziele real kämpfen könnten und wollten, ist heute schwer vorstellbar.

Das gilt v.a. für die Gruppen, die dem Prekariat angehören. Für sie sind Gewerkschaften kaum auffindbar, die Forderungen kaum bekannt – sie kennen oft nur die Konkurrenzstellung gegenüber tariflich entlohnten Beschäftigten. Objektiv wären sie aber genau jene Gruppen, um die die Gewerkschaften kämpfen müssten, hier sind die schlimmsten Auswüchse des Lohnarbeitsverhältbnisses zu finden – aber leider kein entschlossener gewerkschaftlicher Kampf.

Für Erwerbslose, Niedriglohn- und TeilzeitarbeiterInnen, (Schein)Selbstständige, Mini-JobberInnen stellen die heutigen Gewerkschaften keine Interessenvertretung dar. Das Prekariat ist sozioökonomisch nicht organisiert – im Gegensatz zu den „Kernbelegschaften“ des Exportkapitals oder zum Öffentlichen Dienst. Mit der aktuellen Politik verschärft die DGB-Spitze die Spaltung zwischen diesen Teilen der Klasse und passt sich somit auch den Anforderungen von Kapital und Staat an die Lohnarbeit von heute an.

Was ist prekär-selbstständig?

Besonders schwierig gestalten sich gewerkschaftliche Organisierungsprozesse, wenn es um „Selbstständige“ geht. Zwischen „Freiberuflern“, Ich-AGs, Schein-Selbstständigen und den „gezwungenen“ Selbstständigen, gibt es viele Formen, die analytisch geklärt werden müssen.

Architekten, Anwälte, Notare u.a. Dienstleister am Kapital waren historisch immer bestens beraten, sich „ständisch“, d.h. als Berufsgruppe zu organisieren und so die eigenen Gebühren festsetzen zu können – dies ist die Sahnehaube der „Mittelschicht“, des gut verdienenden Kleinbürgertums. Sie sind selbstständig, weil sie historisch und funktional eng an die Kapitalistenklasse gebunden sind, ja manche sogar zu kapitalistischen Unternehmen wurden (große Kanzleien, große Architekturbüros).

Auf der Spiegelseite der Selbstständigkeit finden wir „freischaffende“ PaketfahrerInnen, den zuletzt auch von Günter Wallraff dargestellten Logistik-Kleinunternehmer, die selbstständige mobile Altenpflegerin oder Reinigungskraft, die Werbedesignerin oder den IT-Entwickler – dieser sehr vielfältige Bereich ist nicht freiwillig selbstständig, kann keine eigenen Gebühren und Honorare festsetzen, sondern kann über diesen Weg allein die Ware Arbeitskraft verkaufen.

Für diese Teile der Arbeiterklasse ist das „Normalarbeitsverhältnis“ in den letzten 10 Jahren systematisch abgeschafft worden, was früher als „Schein-Selbstständigkeit“ galt, ist heute Normalität geworden. Oft sind diese Selbstständigen nur für einen „Arbeitgeber“ tätig. Was früher als Schein galt und verboten war, ist heute die Grundlage dutzender Beschäftigungsstrukturen in verschiedensten Bereichen. Während „klassische“ kleinbürgerlich-selbstständige Sektoren wie VersicherungsvertreterIn oder Gastgewerbe in den letzten 10 Jahren eher abgenommen haben, ist insgesamt die Zahl der Selbstständigen um 500.000 gestiegen, allein mehr als 300.000 im Bereich der privaten Dienstleistungen. Soweit die Zahlen des Statistischen Bundesamtes, wobei wir berücksichtigen müssen, was das Bundesamt nicht erfasst: diejenigen, die einen Minijob haben und gleichzeitig selbstständig auf Auftragsbasis arbeiten, oder Leute, die es „illegal“ mit Hartz IV tun oder nirgends „arbeitsrechtlich“ gemeldet sind.

Im Bereich Erziehung und Unterricht stieg die Zahl von 84.000 im Jahr 2000 auf 140.000 im Jahr 2009, hier finden wir die prozentual größte Steigerung. Die nächstgrößte findet sich im angesprochenen Dienstleistungsbereich von 764.000 im Jahr 2000 auf 1.068.000 im Jahr 2009, es folgt das Gesundheits- und Sozialwesen. Hier stieg die Zahl der Selbstständigen von 320.000 (2000) auf 442.000 (2009).

Die Ausgliederung spart dem Kapital Sozialabgaben, während gleichzeitig den neuen Selbstständigen auch zusätzliche Pflichten und Hindernisse (Krankenversicherung, Sozialkassen) aufgebürdet werden.

Ideologisch wird das alte Selbstständigenmotto (lieber 16 Stunden für mich arbeiten, als 8 Stunden für einen anderen) heute mit den „neuen Anforderungen“ des Arbeitsmarktes, der Globalisierung, der Flexibilität begründet, inklusive aller möglichen Freiheits- und Unabhängigkeitsversprechungen. Der selbstständige Traumjob wird zumeist per Laptop oder Tablet ausgeführt – zu angeblich selbstbestimmten Arbeitszeiten und Orten. Alles ist flexibel und erfolgreich – Arbeit, Freizeit und Urlaub gehen fließend ineinander über – das „alte“ Beschäftigungsverhältnis scheint überholt zu sein, alle können ihre eigenen Unternehmer sein. Dazu sprießen seit einigen Jahren die „Selfmade“-Rezepte am Büchermarkt. Promis, die während der Wirtschaftskrise reich wurden, lassen auch noch darüber schreiben – nach dem Motto „Wie windig komme ich zu meiner ersten Million?“

Über die Kehrseite dieses Unternehmertums berichtet inzwischen sogar RTL. Die Zustände beim Logistik-Riesen GLS werden derzeit einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Dort wurden die „angestellten Sub-Unternehmer“ in Schulden und Pleite getrieben – diese „Unternehmer“ waren nicht mehr in der Lage, Miete oder Stromrechnungen zu bezahlen und sind oft genug insolvent.

Nicht anders läuft es bei anderen Logistik-Konzernen, besonders DHL/Post vergibt immer mehr Aufträge an Subunternehmen. Diese bekommen dann meist eine Strecke/Gebiet/Region, haben dafür 10-50 FahrerInnen und müssen Zeiten/Quoten erfüllen und werden danach bezahlt. Diese Unternehmen bekämpfen jede  gewerkschaftliche Organisierung am schärfsten – wohl wissend, dass mit tariflicher Bezahlung der Beschäftigten „ihr“ Unternehmen sofort pleite wäre, da sie dann die Anforderungen des Großkonzerns, der diesen Geschäftszweig vorsorglich ausgegliedert hat, nicht erfüllen könnten.

Die Gewerkschaften müssen gerade in den Betrieben mit starker Verankerung dafür sorgen, dass es keine Ausgliederung gibt, dass keine (Schein)Selbstständigen zur Spaltung der Beschäftigten beitragen und dass jegliche Arbeit des Unternehmens unter tariflichen Bedingungen stattfindet. In der aktuellen Situation ist diese Spaltung für das Kapital nützlich, es gibt keine Solidaritätsaktionen oder gar Streiks der „Normalarbeitsverhältnisse“ für die ausgegliederten, prekarisierten Beschäftigten – stattdessen herrschen Konkurrenz und Zwietracht, wobei beide Gruppen immer wieder gegenseitig in Stellung gebracht werden.

Wenn dieser Kampf nicht geführt wird, entstehen immer mehr „gewerkschaftsfreie Zonen“, dies führt zu einer weiteren Schwächung der Gewerkschaften und dazu, dass die ausgegliederten Gruppen keinen Zugang zur organisierten Arbeiterschaft bekommen. Von einer formalen Selbstständigkeit sollte sich dabei die gewerkschaftliche Arbeit nicht täuschen lassen bzw. dieses (Schein)Argument überall scharf bekämpfen. Die Gewerkschaften müssen dafür eintreten, dass diese Selbstständigen, die für den Großkonzern arbeiten, die gleichen Konditionen haben wie die Beschäftigten; dass keine Aufträge an Subunternehmen vergeben werden, die Konzerne auch keine eigenen gründen dürfen und somit ein wichtiger Schritt zur Überwindung der Spaltung gemacht werden kann.

Eine wichtige Frage wird also sein: Wie organisieren die Gewerkschaften das Prekariat, wie entwickeln sie gemeinsame Forderungen und Kampfformen und wie können aktive GewerkschafterInnen dafür in den Gewerkschaften kämpfen?

Gewerkschaftliche Versuche

Auch in den Apparaten der Einzelgewerkschaften ist diese Entwicklung angekommen (auch bei deren Beschäftigungsstruktur, speziell in der Jugend) und es gibt erste Anläufe gewerkschaftlicher Aktivität. Ganz allgemein gibt es natürlich eine Kampagne gegen die Leiharbeit, gegen den Niedriglohnbereich und für einen Mindestlohn – also durchaus wichtige Fragen für Teile des Prekariats. Andere Teile, wie die „Selbstständigen“ werden nicht angesprochen bzw. es fehlen den Gewerkschaften passende Konzepte für diese neuen Beschäftigungsgruppen.

Als ver.di einmal zu einer Konferenz der offiziell 90.000 „selbstständigen“ KollegInnen in der Gewerkschaft aufrief, waren eher die Hochlohngruppen unter den ca. 60 anwesenden Selbstständigen vertreten, die Prekarisierten fanden keine Zeit für Konferenzen.

Bei ver.di und GEW gibt es Arbeitsgruppen und Arbeitskreise, welche sich mit prekären Beschäftigungsverhältnissen befassen und gewerkschaftliche Strategien zu entwickeln suchen, aber dies steckt noch in den „Kinderschuhen“ – während der „prekarisierte“ Arbeitsmarkt inzwischen 36% der Beschäftigten umfasst!

Als beispielhaft für eine gewerkschaftliche Organisierung im Bereich des Prekariats gelten die italienischen Gewerkschaften, von denen alle größeren Verbände inzwischen eigene Gliederungen aufgebaut haben. Deren größte ist die NIDiL (Neue Identität der Arbeit), welche zum größten Dachverband CGIL gehört und mehrere Zehntausend organisiert. Im Gegensatz zu den sonst üblichen Entwicklungen in Branchengewerkschaften sind 54% der Mitglieder von NIDiL jünger als 40, mehr als die Hälfte weiblich und es herrscht eine höhere Fluktuation in der Mitgliedschaft.

Zweifellos geht auch die Politik in Italien nicht über einen beschränkten reformistischen Rahmen hinaus. Das Beispiel widerlegt jedoch das Märchen, dass diese Schichten „prinzipiell“ unorganisierbar wären. Es verdeutlicht vielmehr, dass selbst „traditionelle“ Gewerkschaften durchaus in der Lage sind, prekarisierte Schichten der Klasse zu organisieren und eine Perspektive des gewerkschaftlichen Kampfes aufzuzeigen.

Für die DGB-Gewerkschaften liegt eine Gefahr in der bürokratischen Zuständigkeit und zuerst am fehlenden politischen Willen. Während gleichzeitig gleicher Lohn für gleiche Arbeit gefordert wird, tun sich die Branchengewerkschaften bislang schwer, die LeiharbeiterInnen und weiteres Prekariat ihrer Branche zu organisieren.

Nicht selten haben die Apparate genau den Ausgliederungen im Betrieb zugestimmt, in denen jetzt keine Tariflöhne mehr gezahlt und gewerkschaftliche Strukturen auf Schärfste bekämpft werden. Dies ist für deutsche Gewerkschaften ein neues Terrain. Natürlich gab es im BRD-Kapitalismus nach 1945 immer wichtige Bereiche, die gewerkschaftlich nicht oder nur wenig erfasst wurden. Diese waren aber nicht nur kleiner im Verhältnis zu den organisierten Bereichen. Jahrelang war es auch üblich, dass tarifliche Regelungen Allgemeingültigkeit für eine ganze Branche hatten – nämlich immer dann, wenn dominierende Kapitalverbände ein Interesse an der Verhinderung von „Schmutz“konkurrenz hatten und so ihre Monopolstellung sichern wollten.

Diese Zeiten sind vorbei. Jetzt müssen auch die „Shops“ erobert werden, dass taten DGB-Gewerkschaften einige Jahrzehnte nicht mehr, nicht umsonst gilt „Organizing“ als Lösung des Problems bzw. als erste Antwort.

Organizing soll v.a. in nicht-organisierten Sektoren/Betrieben stattfinden, dort soll gewerkschaftliche Basisarbeit über den Betrieb hinausgehen, die letzten bekannten Beispiele gab es im Bereich der Reinigungskräfte 2009 von der IG BAU. Nach diesem  Konzept bekommen immer einige schwer motivierte junge AktivistInnen, meist zuvor durch Akademien, Stipendien und Trainee-Programmen gejagt, den Auftrag, Mitglieder zu werben, Strukturen aufzubauen und Öffentlichkeit herzustellen.

Als eine der ersten Kampagnen rund um das Prekariat arbeitete die DGB-Jugend unter dem Motto „Generation Praktikum“ und versuchte speziell an den Universitäten, Aktive für das Thema zu gewinnen. Ein Problem war, dass die unbezahlten PraktikantInnen meistens eben nicht nebenher studieren, sie haben meist ein abgeschlossenes Studium und dementsprechend konnte die DGB-Jugend kaum „Betroffene“ organisieren. Schwierig ist es auch, wenn die Praktika bei Großkonzernen angeboten werden, die sonst Tariflohn zahlen und die betriebliche Gewerkschaft nicht wirksam für die Interessen der PraktikantInnen kämpft – die Kampagne zum Thema schuf durchaus etwas Aufklärung, konnte aber keinen Kampf organisieren, geschweige denn etwas am Zustand ändern.

Andererseits konnte die IG Metall auch einen tarifrechtlichen Sieg zur Leiharbeit einfahren. Seit dem Abschluss 2010 ist in der Stahlbranche das Ende der Leih- und Zeitarbeit geregelt, alle damaligen Stellen gingen in Vollzeit und Tarif über (auch wenn es „nur“ 3.3% der Beschäftigten betraf). Daraus entwickelte sich aber keine gemeinsame Kampagne aller Branchengewerkschaften gegen Leih- und Zeitarbeit, stattdessen gibt es gültige Tarifverträge mit Zeitarbeitsunternehmen in Höhe von 7,30 Euro.

Diese Beispiele zeigen, dass die deutschen Gewerkschaften schlecht aufgestellt sind, wenn es darum geht, auf neue Beschäftigungsstrukturen politische Antworten zu finden und gemeinsame Taktiken gegen die Interessen von Kapital und Staat umzusetzen.

Das zentrale politische Hindernis dabei ist die vorherrschende Politik des Apparats selbst, die die bornierten, kurzfristigen (und oft nicht minder kurzsichtigen) Einzelinteressen der privilegierten Schichten der Klasse zum Ausdruck bringt wie auch das Selbsterhaltungsinteresse der Bürokratie als Vermittler zwischen Lohnarbeit und Kapital.

Selbst dort, wo zentrale Themen der zunehmende Prekarisierung aufgenommen werden, so tauchen die unteren Schichten der Arbeiterklasse nicht als gewerkschaftliches und politisches Subjekt des Kampfes, sondern als Masse auf, die „organisiert“ und „für die“ etwas „geregelt“ werden soll. Sie gilt als Objekt für „Betreuung“ durch die Gewerkschaft und ihre Stellvertreterpolitik.

Der Apparat nimmt die zunehmende Prekarisierung nämlich nicht als notwendige Folge des niedergehenden Kapitalismus wahr, als zutiefst politische Frage, sondern v.a. als organisatorisches Problem.

Eine solche Politik ist letztlich zum Scheitern verurteilt. Der Kampf um die Organisierung des Prekariats ist daher auch untrennbar mit dem Kampf um die Umwandlung der Gewerkschaften zu Organisationen des Klassenkampfes, mit dem Kampf gegen die Bürokratie und für eine revolutionäre Führung verbunden. Diese grundsätzliche Schlussfolgerung bedeutet keineswegs, die subjektiven Schwierigkeiten zu ignorieren, wenn es gilt, diese „neuen“ Beschäftigungsgruppen zu organisieren. Aber sie sind Voraussetzung dafür, dass diese Organisierungsversuche nicht selbst in den Strudel bürokratische Bevormundung oder quasi-sozialarbeiterischer Betreuung geraten.

Es darf eben nichts dazwischen kommen …

Dieses Motto finden wir oft bei soziologischen Untersuchungen, eine Veröffentlichung sogar per Titel, diese Aussage bringt prekäre Zustände auf den Punkt. Wenn wir zuvor von schlecht bezahlten, befristeten und unsicheren Beschäftigungsverhältnissen geschrieben haben, so wollen wir hier anschauen, was das genau heißt. Wie ist die Lage dieser Teile der Klasse heute?

Der Kampf ums Existenzminimum und soziale Teilhabe prägt den Alltag der prekären Schichten. Allein die Trennung zwischen Existenzminimum und sozialer Teilhabe zeigt die Abstufung gesellschaftlicher Realität. Der Hartz IV-Satz reicht zur Nahrungsversorgung, möglicherweise auch inkl. Internet und Stromversorgung, dann wird es langsam knapp mit weiteren Anschaffungen.

Die Kategorie „soziale Teilhabe“ soll eine gesicherte Reproduktion beschreiben, die über das unmittelbar Lebensnotwendige hinausgeht und auch eine gewisse Dauerhaftigkeit und Sicherheit einschließt – wie z.B. Jahresurlaub, regelmäßiger Besuch von Kino, Konzert oder Theater, Essen im Restaurant, Klassenfahrten für die Kinder usw.

Die prekären Schichten kämpfen stets um diese für andere (noch) selbstverständlichen Konsumbedürfnisse. Sie sind stets bemüht, das Existenzminimum zu übertreffen, in bestimmten Gruppen gibt es auch Aufstiegsillusionen – Hauptsache der Gang zum Arbeitsamt kann verhindert werden.

Aufstiegsillusionen können wir v.a. bei Jüngeren beobachten. Junge ZeitarbeiterInnen oder die „Generation Praktikum“ hoffen natürlich, durch Fleiß und Tempo eine Festanstellung zu bekommen. Der selbstständige Webdesigner hofft auf den „Durchbruch“, den Top-Auftrag etc. Neben diesen Hoffnungen gibt es auch stetigen Druck, stetige Angst vor Statusverlust. Natürlich wissen die ZeitarbeiterInnen, dass ihre Stelle jederzeit gekündigt werden kann. Die PraktikantInnen haben auch schon mehrere Stellen gehabt und auch die Neu-Selbstständigen wissen, ab welchem Monat sie die Fixkosten nicht mehr bezahlen können.

Haben sich die verschiedenen Existenzformen des Prekariats einmal an den Status quo „gewöhnt“, gilt das Motto der Zwischenüberschrift. Sicherheit ist nicht planbar, die Unsicherheit ständiger Begleiter.

Gewisse Gruppen des Prekariats erfahren eine soziale Isolation, v.a. gegenüber den eigentlichen „KollegInnen“. Eine selbstständige Altenpflegerin sieht ihre KollegIn eben nicht auf Station oder im Heim wieder, sie hat keinen Kontakt – genau wie die IT-ProgrammiererInnen, die andere Projektgruppen der Firma auch nicht zu Gesicht bekommen. In diesen Arbeitsbereichen wurden kollektive Strukturen beseitigt, die Ware Arbeitskraft komplett individualisiert und somit eine gewerkschaftliche Organisierung erschwert.

Bei allgemeinen Untersuchungen über das Prekariat fällt auf, dass vielfältige soziale und psychische Grenzsituationen auftreten, bislang gab es solche Forschungen meist nur zu den Erwerbslosen. Soziale Unsicherheit, ständiger Druck und Angstzustände führen auch im Prekariat zu einer höheren psychischen Belastung, die sich in Depressionen, Manien und zunehmenden suizidalen Tendenzen ausdrücken. Diese Teile der Klasse erleben eine ständige soziale Bedrohung, sie haben wenig Möglichkeiten zur Regeneration und Reproduktion und verfügen kaum über soziale Schutzmechanismen.

All das ist Folge der Tatsache, dass das Prekatariat jener wachsende Teil der Arbeiterklasse ist, dessen Lohn unter die Reproduktionskosten gedrückt wird.

Einige programmatische Schlussfolgerungen

Der Ausgangspunkt für den Kampf gegen diese Zustände muss daher darin liegen, gemeinsam für die Sicherung der Reproduktionskosten dieses Teils der Klasse und für die Erwerbslosen zu kämpfen. Das kann aber nicht nur durch „Tarifpolitik“, durch das klassische Arsenal der bundesdeutschen Gewerkschaftspolitik, also durch rein ökonomischen Kampf erreicht werden. Es darf vielmehr von Beginn an eines politischen Kampfes.

Alle Formen von Zeit- und Leiharbeit ließen sich einfach mit einem erkämpften gesetzlichen Mindestlohn und der Abschaffung der Befristung von Arbeitsverträgen beenden. Solch ein Mindestlohn sollte die „soziale Teilhabe“ garantieren. Wir fordern daher 1.600 Euro Mindestlohn – damit gäbe es keinen Niedriglohnbereich mehr in Deutschland.

Damit einhergehend brauchen wir eine deutliche Erhöhung der Sozialleistungen. Nur wenn der Arbeitslose oder RentnerInnen ein Mindesteinkommen in der Höhe des Mindestlohnes erhalten, entfällt auch der Druck, jederzeit jede Billigarbeit anzunehmen.

Wenn der Abstand zwischen sozialen Leistungen und Löhnen auf diese Weise abgeschafft wird, können wir auch eine historische Spaltungslinie innerhalb der Arbeiterklasse – die zwischen Beschäftigten und Erwerbslosen – entschärfen, die Konkurrenz mildern.

Die auftretende Zersplitterung bestimmter Arbeitswelten muss mit und durch die Gewerkschaften bekämpft werden. Die Modelle aus Italien oder den USA mit eigenen Gliederungen der Branchengewerkschaften für das Prekariat können dem Teil der Klasse eine eigene Plattform bieten, dies ist schon mal ein großer Fortschritt.

Ebenso müssen die Gewerkschaften und politischen Gruppen auch Lösungen für das „selbstständige Prekariat“ entwickeln. Eine zentrale Forderung wäre dabei garantierte Gesundheitsversorgung und Mindestrente für alle.

Zum anderen geht es darum, diese „selbstständigen Gruppen“ in tarifliche Arbeitsverhältnisse einzugliedern.

Durch Prekarisierung verschiedenster Formen (Praktika, Leih- oder Zeitarbeit, Selbstständigkeit) drückt sich das Kapital vor den Sozialabgaben, senkt also praktisch den Arbeitslohn. Wo sich Unternehmen gegen eine Eingliederung der „freien MitarbeiterInnen“ oder von LeiharbeiterInnen wehren, müssen sie dazu gezwungen werden – bis hin zur entschädigungslosen Enteignung der Unternehmen unter Arbeiterkontrolle.

Wo diese „freien MitarbeiterInnen“ nicht eindeutig einem Betrieb zuzuordnen sind, die sie praktisch als Scheinselbständige ausbeuten, sollen sie im Rahmen eines Programms gesellschaftlich nützlicher öffentlicher Arbeiten zu tariflichen Bedingungen beschäftigt werden.

Ein solches Programm wird – dazu braucht es wenig Phantasie – auf den erbitterten Widerstand der herrschenden Klasse, von Regierungen, Unternehmen, Gerichten stoßen. Schließlich geht es „nur“ darum, die Einkommen und Arbeitsbedingungen von rund einem Drittel der Arbeiterklasse so anzuheben, dass sie wenigstens ihre Arbeitskraft dauerhaft erneuern, reproduzieren können.

Doch in der gegenwärtigen Periode des Kapitalismus erscheint es als Utopie, als Zumutung erster Ordnung, dass für immer größere Teile der LohnarbeiterInnen, die Lohnsklaverei nicht einmal mehr ihre Existenz sichert. Selbst in einem der reichsten imperialistischen Länder ist die Bourgeoisie offenbar nicht willens und fähig, für eine Millionenmasse von Lohnabhängigen wenigstens Löhne zu bezahlen, die dem Wert der Ware Arbeitskraft entsprechen. Hier offenbart sich eine grundlegende Tendenz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die nicht nur ihren ausbeuterischen Charakter, sondern letztlich auch ihre historische Überholtheit offenbart.

„Es tritt offen hiermit offen hervor, dass die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb der Bedingungen der Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muss, statt von ihm ernährt zu werden.“ (11)

Daraus geht hervor, dass eine revolutionäre, realistische Arbeiterpolitik klar vor Augen haben muss, dass der Kampf gegen die Prekarisierung zu keiner dauerhaften, stabilen Lösung im heutigen Kapitalismus führen kann. Sie ist vielmehr eng verbunden und nur dann wirklich Erfolg versprechend, wenn sie mit dem Kampf für den Sturz des Kapitalismus, der Eroberung der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse und der Etablierung einer demokratischen Planwirtschaft verbunden wird. Es ist ein schlagendes Beispiel für die Aktualität der Methode des Übergangsprogramms Leo Trotzkis:

„Die Vierte Internationale verwirft die Forderungen des alten Minimalprogramms nicht, soweit sie sich noch einige Lebenskraft bewahrt haben. Sie verteidigt unermüdlich die demokratischen Rechte und sozialen Errungenschaften der Arbeiter. Aber sie leistet diese Alltagsarbeit im Rahmen einer richtigen, realen, das heißt revolutionären Perspektive. Sofern die alten ‚minimalen‘ Teilforderungen der Massen mit den zerstörerischen und entwürdigenden Tendenzen des verfallenden Kapitalismus zusammenstoßen – und dies geschieht auf Schritt und Tritt – stellt die Vierte Internationale ein System von Übergangsforderungen auf, deren Sinn darin besteht, dass sie sich immer offener und entschiedener gegen die Grundlagen der bürgerlichen Herrschaft selbst richten. Das alte ‚Minimalprogramm‘ wird aufgehoben vom Übergangsprogramm, dessen Aufgabe darin besteht, die Massen systematisch für die proletarische Revolution zu mobilisieren.“ (12)

Fußnoten

(1) Wikipedia, Stichwort Prekariat, www.wikipedia.de

(2) Zur begrifflichen Unterscheidung der unteren Schichten des Proletariats (Pauperismus, Lazarusschicht der Arbeiterklasse) und Lumpenproletariat, das keinen Teil des Proletariats darstellt, siehe Marx, Das Kapital, MEW 23, S. 673 f.

Im Abschnitt über die „relative Überbevölkerung“ (MEW S. 670 ff) findet sich auf Seite 672 ein Zitat, das der Beschreibung des heutigen Prekariats in vielem verblüffend ähnlich ist:

„Die dritte Kategorie der relativen Überbevölkerung, die stockende, bildet einen Teil der aktiven Arbeiterarmee, aber mit durchaus unregelmäßiger Beschäftigung. Sie bietet so dem Kapital einen unerschöpflichen Behälter disponibler Arbeitskraft. Ihre Lebenslage sinkt unter das durchschnittliche Niveau der arbeitenden Klasse, und gerade das macht sie zur breiten Grundlage eigner Exploitationszwecke des Kapitals.“

(3) Engels, Brief an Marx, 7. Oktober 1858, MEW 29, S. 358

(4) Vergleiche u.a. Lenin, Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, in: Lenin, Werke, Bd. 23, S. 102 – 118

(5) B. Vogel aus APUZ 33/34 2008 S. 13

(6) Kalina/Weinkopf 2008, in: Standpunkte 8/2011

(7) Marx, Das Kapital, MEW 23, S. 662f

(8) Dörre/Kastel

(9) Kalina/Weinkopf 2008, in: Standpunkte 8/2011

(10) Standpunkte RosaLux – Klenner Studie WSI 2010

(11) Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 473

(12) Trotzki, Der Todeskampf der Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale, In: Trotzki, Das Übergangsprogramm, Essen 1997, S. 87f