EU-Grenzen: Nein zur rassistischen Mobilmachung!

Robert Teller, Neue Internationale 260, November 2021

Die rassistische EU-Grenzpolitik geht über Leichen. An der belarussisch-polnischen Grenze hat dies zuletzt am 21. Oktober ein Todesopfer gefordert. Der 19-jährige Syrer ist das achte Opfer entlang dieser Grenze im laufenden Jahr.

Dutzende Menschen sind derzeit unter lebensgefährlichen Bedingungen entlang des Grenzverlaufs gefangen, weil ihnen sowohl von polnischen als auch belarussischen Sicherheitskräften verwehrt wird, sich im jeweiligen Staatsgebiet zu bewegen. Die polnische Seite verhindert die Versorgung dieser Menschen mit lebensnotwendigen Gütern, vom belarussischen Militär werden sie laut Berichten bestenfalls notdürftig versorgt. Auf polnischer Seite gilt seit dem 2. September im Grenzgebiet der Ausnahmezustand. Das Militär wurde entsandt, der Einsatz soll von 2500 auf 10000 SoldatInnen aufgestockt werden. Hilfsorganisationen und JournalistInnen haben keinen legalen Zutritt. Die Auswirkungen der menschenverachtenden Abschottung sollen so vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen werden. Gleichzeitig bauen Polen, Lettland und Litauen an einer Grenzbefestigung entlang der belarussischen Grenze mit kräftiger Unterstützung durch die EU, darunter auch Deutschland.

EU und Polen einmal einig

Amnesty International berichtete am 20. Oktober, dass eine Gruppe von 17 AfghanInnen seit etwa zwei Monaten an der Grenze gestrandet ist, nachdem sie im August von polnischem Territorium aus zur Grenze deportiert wurden. Eine Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs ordnete bereits am 25. August an, dieser und einer weiteren Gruppe irakischer Flüchtlinge Lebensmittel und medizinische Versorgung zukommen zu lassen, doch die Entscheidung wird von der Regierung missachtet. Die angeordneten und systematisch praktizierten Rücktransporte (Pushbacks) sind ohnehin nach internationalem und europäischem Recht illegal, auch wenn sie mit einer im Oktober durch das Parlament erfolgten Gesetzesänderung nun legitimiert werden sollen. Doch diese offenkundigen Rechtsbrüche spielen keine Rolle in dem Konflikt mit den EU-Institutionen, die der polnischen Regierung vorwerfen, mit ihrer Justizreform „europäische Werte“ zu missachten.

Obwohl die EU von tiefen Konflikten durchzogen ist, herrscht vielmehr Einigkeit in der rassistischen Abschottungspolitik gegenüber allen Menschen, die hierher wollen, aber nicht dürfen. Dass gegen die „Bedrohung“ durch ein paar tausend flüchtende Menschen jedes Mittel recht ist, darüber besteht unter den europäischen PartnerInnen kaum ein Zweifel. Eine gemeinsame Mission ist in jedem Fall die „Sicherung der Außengrenzen“, die „Abwehr“ flüchtender Menschen an den Grenzen durch Einsatz menschenverachtender und tödlicher Gewalt. Florian Hahn, Europapolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, erklärt dazu: „Die Grenze zu Belarus muss so schnell wie möglich befestigt, sicher und undurchlässig gemacht werden. Vor allem dürfen wir Warschau mit diesem Problem jetzt nicht allein lassen.“ In einer gemeinsamen Erklärung fordern 12 Regierungen (osteuropäische EU-Mitglieder, Österreich und Dänemark) den Bau einer von der EU finanzierten Grenzbarriere.

Grenzkontrollen und Rechte

Wer es doch in die EU schaffen sollte, ist längst nicht sicher. Auch an der deutsch-polnischen Grenze sind mittlerweile Einheiten der Bundespolizei im Einsatz, um all jene zurückzuschicken, die es soweit geschafft haben. Im bürgerlichen Mainstream angekommen ist auch die völkische Metapher der „Flüchtlingsinvasion“, wenn etwa Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU) von „hybrider Kriegsführung“ spricht. Diese Rhetorik ist eine Einladung für FaschistInnen wie den „Dritten Weg“, die die Sache gerne selbst in die Hand nehmen.

Zugleich liefert die Kriegsrhetorik einen Vorwand für den Aufbau einer militärischen Drohkulisse gegenüber Russland und für weitere Sanktionen gegen das belarussische Regime. Dass sich letzteres nicht bedingungslos der Forderung der EU fügt, im Sinne einer vorgelagerten EU-Flüchtlingsabwehr Menschen gar nicht erst ins eigene Land zu lassen, gilt bereits als Kriegsakt. Als vorbildliches Gegenbeispiel sei etwa das Partnerland Libyen genannt, mit seinem effektiven Flüchtlingsabschreckungspotential wie Folterlagern oder einer schießwütigen Küstenwache, die auf Frontex-Befehle hört.

Natürlich handelt auch das belarussische Regime aus einem rassistischen Kalkül heraus. Die Hauptschuldigen sind aber die Regierungen der EU. Dass nun vermehrt Menschen über Belarus den Weg in die EU suchen, ist überhaupt erst das Resultat einer brutalen Abschreckungspolitik, die die Fluchtrouten über die Balkanländer und über das Mittelmeer gefährlich und für viele Flüchtende unpassierbar gemacht hat.

Offene Grenzen!

Die Offensive des staatlichen Rassismus in Europa erfordert Widerstand. Ebenso müssen wir rechten und faschistischen Banden entgegentreten, die als “Grenzschutz” ihr Unwesen treiben. Dies wird umso dringender, wenn sich eine neue Ampelregierung daran machen wird, den deutschen Führungsanspruch in der Festung Europa zu erneuern.

Die ArbeiterInnenbewegung, alle linke und antirassistischen Kräfte müssen organisiert gegen diese Politik auftreten. Das erfordert einerseits gegen die faschistischen und rechte Gruppierungen vorzugehen, noch dringender und wichtig ist es jedoch, dem staatlichen Rassismus entgegenzutreten.

Notwendig ist eine europaweite Bewegung, die für volle Bewegungsfreiheit nach und in Europa kämpft, für offene Grenzen und gleiche Rechte unabhängig von Herkunft und Staatsangehörigkeit – und die dies verbindet mit der Verteidigung sozialer Errungenschaften der europäischen ArbeiterInnenklasse gegen das Kapital, um den Kampf gegen Rassismus über die organisierte Linke hinaus zu verankern.




Streit mit Polen: neue Zerreißprobe für die EU?

Aventina Holzer, Neue Internationale 260. November 2021

Der Konflikt zwischen der EU und Polen eskaliert. Das Parlament und die Regierung in Warschau weigern sich weiterhin, den übergeordneten Charakter des EU-Rechts gegenüber dem nationalen anzuerkennen. Das rechte, nationalistische PiS-geführte Kabinett wehrt sich gegen eine „schleichende Kompetenzerweiterung“ der EU. Ministerpräsident Morawiecki bezichtigt sie der Erpressung.

Das eigentliche Ziel der polnischen Regierung besteht vor allem darin, eigene rechte und reaktionäre Verfassungsreformen und Angriffe auf Frauenrechte gegen etwaige Einsprüche der europäischen Gerichtsbarkeit zu sichern. Das Ziel von Morawiecki und Co. ist also durchweg reaktionär.

Gleichwohl geht es natürlich auch der EU nicht um abstrakte, rechtsstaatliche Prinzipien, sondern vielmehr darum, die Vereinigung eines imperialistischen Blocks unter deutscher und französischer Vorherrschaft voranzutreiben. Und dazu gehört auch, dass nationales Recht dem der EU untergeordnet ist, um so auch über diesen Hebel die Dominanz der stärksten Staaten gegenüber ökonomisch und politisch untergeordneten zu sichern.

Nachdem die polnische Regierung nicht freiwillig nachgeben will, packt die EU die Keule aus. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) verurteilte Polen zu einem Zwangsgeld von einer Million Euro für jeden Tag, an dem die vom obersten europäischen Gericht gefällten Urteile nicht umgesetzt werden.

Diese Sanktionen sind finanziell noch leicht zu verkraften. Dramatisch würde es für Polen, wenn die EU die Auszahlung der Gelder aus dem Corona-Hilfsfonds, ingesamt 36 Milliarden Euro, ganz oder teilweise zurückhalten würde.

Was ist passiert?

Seit Jahren spitzt sich der Konflikt zwischen der EU und Polen immer mehr zu. Ursprung der Debatte ist eine 2017 verabschiedete Justizreform die im Widerspruch zum geltenden EU-Recht steht. Ihr Hauptpunkt befasst sich mit einer engeren Verzahnung von Legislative (Politik) und Judikative (Justiz), zum Beispiel die Möglichkeit für den/die JustizministerIn, Gerichtsvorsitzende inklusive StellvertreterInnen abzuberufen.

Der ursprüngliche Konfliktauslöser waren Wahlen von fünf neuen VerfassungsrichterInnen in Polen. Diese gerieten zum Anlass für sechs Gesetze zur Novellierung des Verfassungsgerichts, die fast alle die Möglichkeiten der Nachbesetzung oder Sanktionierung der RichterInnen durch die Politik betrafen. 2018 wurde eine Disziplinarkammer im Verfassungsgerichtshof eingerichtet, die jede/n RichterIn oder Staatsanwalt und Staatsanwältin entlassen kann.

Dies wurde explizit gegen Einwände der EU-Kommission beschlossen, die jetzt beim EuGH versucht, die Gesetzesänderungen in Polen durch Klagen rückgängig zu machen. Eine weitere Eskalation als Reaktion darauf inszenierte der polnische Verfassungsgerichtshof im Oktober 2021. Dieser entschied, dass Teile des EU-Rechts nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar seien, die ihrerseits über dem EU-Recht stehen würde.

Hintergründe

Solche Konflikte sind innerhalb der EU nicht neu. Im Grunde tauchen sie immer wieder auf, wenn die Integration des Staatenbundes vertieft, nationale Gesetze vereinheitlicht werden sollen – und Widerstand gegen EU-Recht, das mit dem eigenen im Widerspruch steht oder eigene nationale Ansprüche beschränkt, erfolgte in der Geschichte der EU keineswegs nur seitens Leuten wie Orbán oder Morawiecki. Denken wir nur an die sog. Flüchtlingskrise, bei der die GegnerInnen einer zeitweiligen Öffnung der EU-Grenzen ihrerseits Grenzkontrollen errichteten oder die Rettung von Menschen im Mittelmeer verhinderten. Diese Gewaltorgien, an denen sich etliche der heute schärfsten KritikerInnen Polens an vorderster Front beteiligten, verdeutlichen, dass es beim aktuellen Konflikt weder von Seiten Polens noch der EU um Demokratie und BürgerInnenrechte geht.

Letztlich ist dieser Zwist nur ein Vorwand. Die EU-Kommission und die sie tragende Parlamentsmehrheit, hinter der der Mainstream der politischen Kräfte steht, nehmen die Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien, deren sich Polen oder auch Ungarn schuldig gemacht haben, zum Anlass, in der Staatengemeinschaft für klarere Verhältnisse zu sorgen.

Ziel ist dabei sicher nicht, Polen aus der EU zu treiben. Ebenso wenig will das eigentlich die Regierung in Warschau, denn nicht nur für die EU, sondern vor allem für das Land selbst wäre ein Austritt aus der Union eine politische und vor allem ökonomische Katastrophe.

Polen spielt wie ganz Osteuropa eine wichtige Rolle im Rahmen der Wertschöpfungsketten und Gesamtproduktion des deutschen Kapitals. Es ist integraler Bestandteil des halbkolonialen Hinterlandes des deutschen Imperialismus.

Wie in vielen anderen osteuropäischen Ländern haben die neoliberalen Reformen und die Zerstörung ganzer Strukturen nach der Restauration des Kapitalismus auch dazu geführt, dass große Teile des KleinbürgerInnentums, die Bauern-/Bäuerinnenschaft, aber auch die städtischen Mittelschichten und vor allem die ArbeiterInnenklasse diese „Reformen“ mit Arbeitslosigkeit, prekären Arbeitsbedingungen und sozialer Unsicherheit bezahlen mussten. Auf politischer Ebene drückte sich das darin aus, dass nach Jahren der wirtschaftsliberalen Regierungen und dem Abwirtschaften der aus den ehemaligen stalinistischen Parteien hervorgegangenen Sozialdemokratie der Rechtspopulismus als nationale und soziale Alternative erschien.

Auf ökonomischer Ebene erweist sich dieser als durchaus willfährig und rollt ausländischen InvestorInnen besonders aus Deutschland geradezu den roten Teppich aus, wenn es um Arbeitsrecht, Umweltschutz usw. geht. Umso schriller und aggressiver versuchen sich Nationalismus und Populismus, bei anderen Fragen in Szene zu setzen – z. B. den Angriffen auf Frauenrechte wie das auf Abtreibung, auf die Pressefreiheit oder in Verfassungsfragen. Garniert wird das Ganze mit demagogischen Angriffen auf die EU-Institutionen, die für alle Probleme des Landes verantwortlich gemacht werden, insbesondere auch die Zerstörung „polnischer“ oder „christlicher“ Werte.

Schließlich kommt hinzu, dass Polen in der EU seinen eigenen Spielraum zu erweitern trachtet, indem es sich als enger Verbündeter der USA und vor allem ihrer aggressiven Politik gegenüber Russland präsentiert. Schließlich arbeiten die maßgeblichen Parteienbünde und deren Stiftungen in der EU auch daran, in Ländern wie Polen und Ungarn bei zukünftigen Wahlen ihre engeren Verbündeten an die Macht zu bringen.

Reaktion der EU

Angesichts dieser Lage wird sich der Konflikt zweifellos verschärfen. Auch wenn die Staats- und RegierungschefInnen Deutschlands und Frankreichs, Merkel und Macron, die Lage nicht zu sehr eskalieren wollen, so gibt es letztlich wenig Kompromissspielraum.

Die EU, die bereits einige Sanktionen gegen Polen verhängt hat, wird auch weitere Methoden nutzen, um es unter Druck zu setzen. Unter anderem ist ein Vertragsverletzungsverfahren möglich, wobei schon eines im Juli wegen Verletzung von Grundrechten von LGBTQIA+-Personen eingeleitet wurde. Auch ein „Artikel 7“-Verfahren wäre denkbar. Dies kommt einer Suspendierung gleich und würde Polen das Stimmrecht kosten. Unmittelbar ist aber damit zu rechnen, dass Druck über die EU-Gelder (in diesem Fall zum Beispiel Covid-19-Hilfezahlungen, die um die 36 Milliarden Euro ausmachen) ausgeübt wird, bis bestimmte Gesetze (wie die Justizreform) zurückgenommen werden.

Alle diese Faktoren spitzen den Konflikt natürlich weiter zu. Wegen der langen oppositionellen Haltung zur EU wird auch schon länger spekuliert, ob Polen nicht auch mit dem Ausstieg aus der Föderation liebäugelt. Einige führende PolitikerInnen der PiS drohten schon konkret mit dem Austritt. Eine Person verglich die Rolle der EU mit der Besatzung durch „die Nazis und die Sowjets“. Das sind jedoch vereinzelte Stimmen und die Opposition versucht momentan stark, die PiS in eine Rolle der EU-skeptischen Partei zu drängen. Die polnische Bevölkerung ist überwiegend für einen Verbleib in der EU (über 80 %). Das wurde auch nochmal durch Donald Tusks Demonstrationen gezeigt, die sich für einen Verbleib von Polen in der EU stark machten. Morawiecki weiß, dass ein Polexit extrem unpopulär wäre. Daher erklärte er wiederholt, dass Polen mit Sicherheit nicht die Absicht hätte, die EU zu verlassen.

Die ökonomische Situation verdeutlicht auch, wie selbstmörderisch dieses Unternehmen wäre. Die EU muss hierbei als ökonomischer Block und nicht als „Wahrerin der Rechtsstaatlichkeit“ oder als „Friedensprojekt“ verstanden werden. Dann werden die Abhängigkeitsverhältnisse augenscheinlicher. Polen ist der größte Empfänger von EU-Geldern und stark abhängig vom Zugang zum Binnenmarkt. Als Zulieferer, speziell für Deutschland, bildet es ein wichtiges Glied in den Wertschöpfungsketten Europas.

Wie geht es weiter?

Der Austritt Polens bleibt also unwahrscheinlich, genauso aber die Rücknahme der Justizreform durch die gegenwärtige Regierung.

Vielmehr setzt die EU, ähnlich wie in Ungarn, auf ein breites, klassenübergreifendes Oppositionsbündnis, das die PiS-geführte Regierung bei den nächsten Wahlen ablösen kann. Betrachten wir den Charakter der Bewegungen für das Recht auf Abtreibung und gegen die Einschränkungen demokratischer Rechte in Polen, so ist eine solche Entwicklung nicht von der Hand zu weisen. Im letzten Herbst demonstrierten Hunderttausende gegen die Regierung. Die politische Führung der Opposition lag und liegt freilich bei der „Bürgerkoalition“ Koalicja Obywatelska (KO), die von Liberalkonservativen wie Donald Tusk, dem ehemaligen Minister- und EU-Ratspräsidenten, geführt wird.

Die ArbeiterInnenklasse, Gewerkschaften und linke Parteien wie die SLD (Bund der Demokratischen Linken) und Lewica Razem (Linke Gemeinsam) ordnen sich in diesen Bewegungen dieser faktisch politisch unter. In Polen erscheint der politische Konflikt als einer zwischen nationalkonservativem Populismus und EU-konformem Liberalismus. Genau darin aber besteht das zentrale politische Problem.

Die Lösung der politischen Krise kann und wird nicht darin bestehen, dass die EU Sanktionen gegen das Land verhängt. Im Gegenteil. Dies wird es der PiS erleichtern, den Unmut in der Bevölkerung zu kanalisieren und von ihrer reaktionären Politik abzulenken, indem sie z. B. die EU für fehlende Corona-Hilfen verantwortlich machen kann. Daher müssen Linke und die ArbeiterInnenklasse in der EU diese Politik der EU-Kommission zurückweisen.

Notwendig ist vielmehr, dass die linken Parteien und die Gewerkschaften sich selbst zu einer eigenständigen und führenden Kraft in der Bewegung gegen die PiS erheben, indem sie den Kampf gegen nationale Abschottung, die reaktionäre Flüchtlingspolitik, Angriffe auf die Rechte der Frauen mit dem gegen Armut, Entlassungen, Billigjobs und andere grundlegende Forderungen der ArbeiterInnenklasse verbinden.




Abtreibungsverbot in Polen: Massenproteste und Streiks für Selbstbestimmung

Aventina Holzer/Martin Suchanek, Infomail 1124, 30. Oktober 2020

Seit Tagen gehen in Polen tausende DemonstrantInnen auf die Straße. Auf ihren Schildern und Bannern ist zu lesen: „Sie haben Blut an ihren Roben“ und „Schützt die Frauen!“, „Verpisst Euch!“ und „Dies ist Krieg“. Der Grund für den anhaltenden Unmut ist eine von der Regierungspartei PiS (Prawo i Sprawiedliwość, dt.: Recht und Gerechtigkeit) eingeleitete Untersuchung des Abtreibungsgesetzes auf Verfassungstreue. Am Donnerstag, den 22. Oktober, entschied das Verfassungsgericht fast einstimmig, dass Abtreibungen aufgrund von Fehlbildungen des Fötus dem von der Verfassung garantierten „Recht auf Leben“ widersprechen würden. Die frauenverachtende Entscheidung kam wenig überraschend. Bereits 2017 wurde Polen von der EU abgemahnt aufgrund der politischen Nähe der VerfassungsrichterInnen zur Regierungspartei. Jetzt sind Abtreibungen nur noch möglich, wenn die Schwangerschaft aufgrund einer vor Gericht erwiesenen Vergewaltigung oder von Inzest eintritt oder das Leben der Mutter durch die Schwangerschaft oder Geburt ernsthaft bedroht wird.

Weitere Verschärfung

Die Situation ist sehr ernst. Polen hat mit der neuen Entscheidung eines der ohnehin schon restriktivsten Abtreibungsgesetze Europas weiter verschärft. Schon seit Jahrzehnten werden bei einer Bevölkerung von 38 Millionen höchstens 2.000 Schwangerschaftsabbrüche legal durchgeführt. Im Jahr 2019 wurden von den insgesamt 1.100 legalen Eingriffen 97 % aufgrund des jetzt verbotenen Grundes – Missbildung der Föten – durchgeführt.

Das 1993 erlassene Gesetz, das nun vom Verfassungsgericht weiter eingeschränkt wurde, zwang die große Mehrzahl aller Frauen zur illegalen Abtreibung im Land, oder ins Ausland zu gehen. Die Zahl der Abtreibungen wird dabei auf durchschnittlich 140.000 pro Jahr gezählt, manche gehen auch von 200.000 aus. Dies zeigt einerseits, wie restriktiv die Gesetzeslage ohnedies schon war und wie eng sie ausgelegt wurde. Viele Betroffene berichten, dass ihnen auch nach Nachweisen von gesetzlich legitimen Gründen die Abtreibung verwehrt wurde. Andererseits zeigen die Zahlen auf, dass ungewollte Schwangerschaften nicht unbedingt weniger werden, sondern diese Schwangeren nur in die Illegalität gedrängt werden. Wie die Situation jetzt aussieht, müssen Schwangere, die einen Abbruch vornehmen wollen, aus eigener Tasche einen Auslandsaufenthalt mit dort vorgenommener Abtreibung zahlen oder sich auf illegale bzw. sogar selbst durchgeführte medizinische Eingriffe einlassen, die nicht nur rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen können, sondern auch die Gesundheit und das Leben von Frauen bedrohen.

Auch wenn klar gegen diese drastische Verschlechterung aufgestanden werden muss, so muss man aber auch für viel mehr kämpfen. Es kann nicht sein, dass die Selbstbestimmung über den eigenen Körper durch veraltete Dogmen überschattet wird. Schwangerschaftsabbruch muss aus egal welchem Grund möglich sein und die Kosten müssen vom Staat übernommen werden. Hier handelt es sich um medizinische Versorgung, auf die jede Frau ein Anrecht haben sollte. Wenn ein Staat ungewollte Schwangerschaften vermeiden möchte, so braucht es kein Verbotsgesetz, sondern Information, gratis Verhütungsmittel und gute Sexualaufklärung an Schulen, die mehr als zwei Geschlechter und eine Sexualität bespricht.

Rechtsruck

Neben diesem Schlag ins Gesicht, den der neue Verfassungsentscheid darstellt, zeigen andere Maßnahmen, die durch die PiS angestoßen wurden, dass die Partei nicht nur frauenfeindlich ist, sondern aktiv gegen alle Unterdrückten Politik macht. Die Partei, die sich für „kirchliche“ Werte einsetzt, sticht durch eine Verklärung der eigenen Geschichte hin zu einem nationalistischen Ideal und der Verneinung von Sexualitäten und Geschlechtsidentitäten, die nicht in ihre Norm passen, heraus.

Diese aggressive reaktionäre Politik entspricht dem rechtspopulistischen Charakter der gegenwärtigen Regierung. Mit dem faktischen Totalverbot von Abtreibungen geht es auch darum, eine reaktionäre, kleinbürgerliche Massenbasis bei der Stange zu halten und gegen eine angebliche Bedrohung von außen zu mobilisieren. Nationalismus und vor allem der Katholizismus bilden hierfür die ideologischen Anknüpfungspunkte, um hinter der bürgerlichen Regierung und dem Gericht eine klassenmäßig heterogene AnhängerInnenschaft – von der eigentlichen Elite und Staatsführung bis zu kleinbürgerlichen Schichten und rückständigen ArbeiterInnen in Stadt und Land – zu sammeln. Daher finden sich im Schlepptau von Kirche und PiS auch die extrem nationalistische und faschistische Kräfte unter den AbtreibungsgegnerInnen, die seit Jahren sexuell Unterdrückte und deren Aktionen angreifen – geduldet oder gar ermutigt von Polizei und Kirche.

Der reaktionäre Angriff auf die Rechte der Frauen wird als Kampf gegen eine angebliche kosmopolitische, vom „Genderwahn“ erfasste Elite inszeniert. Dabei trifft er in Wirklichkeit vor allem die arbeitenden Frauen, die Lohnabhängigen wie auch armen Bäuerinnen.

Die Proteste spitzen sich zunehmend zu. Seit Montag, den 26. Oktober, wurden in Warschau Blockaden errichtet. Für die nächsten Wochen wird mit Streiks gedroht, sollte das Verfassungsgericht (deren Entscheid nebenbei erwähnt gerade auch juristisch angezweifelt wird) nicht nachgeben. Mit Letzterem ist sicher nicht zu rechnen. Im Gegenteil, die polnische bürgerliche und rechtspopulistische Reaktion hat die Einschränkung des Abtreibungsrechts zu einer Kernfrage ihrer Politik gemacht. Der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński und eigentliche Strippenzieher der polnischen Innenpolitik rief seine AnhängerInnen am 29. Oktober zur Verteidigung der Kirchen und der Gesetzesverschärfung um „jeden Preis“ auf: „Lasst uns Polen verteidigen, den Patriotismus verteidigen und Entschlossenheit und Mut zeigen. Nur dann können wir den Krieg gewinnen, der direkt von unseren Gegnern erklärt wurde.“

Diese Drohung, diese Kriegsrhetorik in Trump’scher Manier müssen wir ernst nehmen. Freiwillig werden das Gericht und die Regierung die Verschärfungen nicht zurücknehmen, geschweige denn das Recht auf Abtreibung zugestehen. Diese Konfrontation mit der Reaktion kann nur mit den Mitteln des Klassenkampfes, nur durch radikale Protestaktionen, Massenmobilisierungen und politische Streiks gewonnen werden.

Potential nutzen

Die Chancen stehen dabei so schlecht nicht. Laut Umfragen lehnen fast 70 % der polnischen Bevölkerung nicht nur die Gesetzesverschärfungen ab, sondern stimmen auch der Aussage zu, dass Frauen selbst das Recht haben sollten zu entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft abbrechen.

Die Dynamik und das Potential der Bewegung in Polen zeigen sich auch auf der Straße und bei den Aktionen. Am 26. Oktober fanden Blockaden, Demonstrationen, Kundgebungen in über 150 Städten und Gemeinden in Polen und Europa statt.

Am Mittwoch, den 28. Oktober, wurde zum landesweiten Streik aufgerufen und zu zahlreichen anderen Aktionen. Diese finden auch bei Lohnabhängigen und kleineren Basisgewerkschaften wie der Inicjatywa Pracownicza (IP = ArbeiterInnen-Initiative) Anklang. Entscheidend wird jedoch sein, ob es gelingt, den Streik und die Protestbewegung in den Betrieben zu verankern. Alle regierungskritischen Gewerkschaften, insbesondere auch die OPZZ, müssen offen für den Kampf eintreten und ihre Mitglieder mobilisieren. In den Betrieben und Büro sollten Versammlungen organisiert werden, um die Arbeitsniederlegung zu organisieren und Streikkomitees zu wählen.

Die Frage des Einretens für die Rechte der Frauen und vor allem der Arbeiterinnen bedeutet in den Betrieben und in der ArbeiterInnenklasse zugleich auch einen Kampf, Lohnabhängige von den Gewerkschaften zu brechen, die die PiS unterstützen und für eine einheitliche Gewerkschaftsbewegung unabhängig von allen bürgerlichen Parteien einzutreten.

Die unverhohlene Kriegsdrohung Kaczyńskis bedeutet auch, dass die Frauenbewegung und alle, die auf die Straße gehen oder streiken, mit Angriffen durch rechte, nationalistische und sexistische Kräfte sowie Provokationen durch die Polizei rechnen müssen. Sie müssen ihre demokratischen Rechte auch gegen etwaige Demonstrations- und Streikverbote unter dem Vorwand des Pandemieschutzes verteidigen. Es braucht daher eine von unten organisierte und landesweit koordinierte Bewegung, die sich auf Streik- und Aktionskomitees der Demonstrationen und Kundgebungen stützt, sowie koordinierte Selbstverteidigungsstrukturen zur Abwehr drohender rechter Angriffe.

Internationale Solidarität

Die Bewegung in Polen bedarf auch unserer internationalen Solidarität. Im Kampf für das Abtreibungsrecht dürfen wir uns auf die EU und die „demokratischen“ Staaten Westeuropas nicht verlassen. Merkel und von der Leyen werden für das Abtreibungsrecht, das ohnedies nicht hoch auf ihrer Agenda steht, keinen weiteren Konflikt vom Zaun brechen. Die Zustimmung der polnischen Regierung zur EU-Krisenpolitik ist ihnen tausend Mal wichtiger als die Zukunft der polnischen Frauen.

Die wirklichen Verbündeten sind die Menschen, die in vielen Ländern Europas, in Deutschland, Österreich, Irland, Frankreich, Italien und einigen mehr an Solidaritätsdemonstrationen und Kundgebungen teilnahmen, um auch von außen Druck auf die polnische Regierung auszuüben. Betroffen sind einige – gemeint sind wir alle. Wir lassen uns das Selbstbestimmungsrecht auf den eigenen Körper nicht nehmen – in Solidarität mit den Frauen in Polen und voller Unterstützung für ihren geplanten Streik.