Krankenhauspflege: Streiks und Reformen

Jürgen Roth, Infomail 1205, 30. November 2022

Nach bundesweiten Warnstreiks und 5 Verhandlungsrunden einigten sich Gewerkschaft und Klinikleitung lt. ver.di-Pressemitteilung vom 11.11.2022 auf einen Tarifvertrag bei der Sana AG.

Sana AG

Rund 10.000 Beschäftigte fallen unter den Konzern(haus)tarifvertrag. Deren Entgelte erhöhen sich – allerdings erst ab 1.6.2023 – um 7 %, mindestens aber 200 Euro. Zudem wurden Einmalzahlungen (2.000 Euro 2022, 500 Euro 2024) sowie höhere Zulagen vereinbart. Darüber hinaus gibt es ein Angebot des Konzerns, Teil der eigenen privaten betrieblichen Krankenversicherung zu werden.

Dem Abschluss waren Warnstreiks in Berlin und Nürnberg vorgegangen, nach die Beschäftigten schon im Oktober die Arbeit niedergelegt hatten. Zur 5. Verhandlungsrunde hatte ver.di zu einer Demo am Stammsitz in München mobilisiert. In Hof (Oberfranken) hatte am 14.10. etwa die Hälfte aller Pflegekräfte die Arbeit niedergelegt. In Nürnberg und Pegnitz erreichten die Warnstreiks am 20.10. ihren ersten Höhepunkt. Am gleichen Tag umzingelten die Lichtenberger:innen die ver.di-Zentrale in Berlin, wo die Verhandlungen stattfanden. Auf dieser Kundgebung erzählten Pflegende von Fortbildungen, die sie selbst bezahlen müssen und oft nicht mit Lohnsteigerungen verbunden sind, von überbelegten Kinderintensivbetten und der Arroganz ihrer Chef:innen, man könne ja das Unternehmen wechseln, wenn einem die Zustände nicht passten.

Ergebnisdetails

Im Einzelnen sieht das Tarifergebnis folgende Regelungen vor: Die Tabellenentgelte steigen zum 1. Juni 2023 um 7 Prozent, mindestens jedoch um 200 Euro monatlich; die Vergütungen für Auszubildende erhöhen sich zum selben Zeitpunkt um 100 Euro pro Monat. Ende dieses Jahres erhalten die Beschäftigten (Teilzeit anteilig) eine steuer- und abgabenfreie Einmalzahlung in Höhe von 2.000 Euro; Auszubildende erhalten dann eine Einmalzahlung in Höhe von 750 Euro. Zum 30. April 2024 erhalten die Beschäftigten (Teilzeit anteilig) eine weitere Einmalzahlung von 500 Euro, die für langjährig Beschäftigte um 100 Euro aufgestockt wird. Auszubildende bekommen zum selben Zeitpunkt noch einmal 200 Euro. Der Tarifvertrag hat eine Laufzeit bis 30. April 2024. Zudem werden die Zulagen, unter anderem für Wechselschicht und die Pflegezulage deutlich erhöht, ebenso die Zuschläge für Nachtarbeit und der Zuschuss zur betrieblichen Altersvorsorge. Neu eingeführt wird eine monatliche Zulage für langjährig Beschäftigte: Ab 20 Jahren bei Sana sind es 50 Euro, ab 30 Jahren 75 Euro und ab 40 Jahren 100 Euro.

Die Tarifkommission kündigte eine Mitgliederbefragung an, die bis zum 25.11.2022 abgeschlossen sein sollte. Natürlich ist deren Ergebnis nicht bindend, weil es nicht zum Vollstreik nach Urabstimmung kam.

Was ist mit Entlastung?

Für viele Beschäftigte ist ein Entlastungstarifvertrag eine weitere Option. So ist z. B. die Klinik in Berlin-Lichtenberg gut organisiert. Scheinbar großzügig erklärte ver.di, man werde die Kolleg:innen dabei unterstützen, sollten sie sich dafür entscheiden. Abgesehen davon, dass eine solche Entscheidung ohne funktionierende gewerkschaftliche Betriebsgruppe bzw. Vertrauensleutekörper schon kaum zu treffen sein wird, dürfte im unwahrscheinlichen Fall ihres Zustandekommens der Apparat bestenfalls auf einen Häuserkampf einschwenken. So schiebt er die Verantwortung und Initiative an die Basis weiter. Kein Wunder, wo er doch mal wieder wie bisher stets üblich Lohn- und Entlastungstarif künstlich trennt.

Nebenbei bemerkt: In punkto Tarifvertrag Entlastung stellt sich die GEW Berlin gerade als Speerspitze mit dem 6. Warnstreik im Lauf der letzten Woche (3.000 plus Teilnehmer:innen) auf. So erfuhren wir dort, dass die Aufnahme von Entlastungsforderungen durch Druck auf den bundesweiten Apparat in der nächsten Ländertarifrunde erfolgen soll. Diesem Beispiel folgt die Gewerkschaft ver.di für die nichtärztlichen Krankenhausbeschäftigten leider nicht, sondern beschränkt sich auf flächendeckende Tarifrunden nur in der Frage der Entlohnung, nicht Entlastung. Hier blieb es beim „Häuserkampf“ großer Kliniken wie an den Universitäten oder bei Vivantes Berlin.

Chancen

Die Sana AG ist Deutschlands drittgrößter privater Krankenhauskonzern, betreibt 44 Akutkrankenhäuser, 3 Herzzentren, 4 orthopädische Fach- und 3 Rehakliniken, 4 Pflegeheime und 28 Medizinische Versorungszentren. Insgesamt arbeiten 36.000 Menschen bei Sana.

Unter den Konzerntarifvertrag fallen aber nur 20 Kliniken. Das ist nur etwas mehr als ein Viertel aller Beschäftigten. Zunächst hatte ver.di einen Sockelbetrag von 150 Euro und 8 % linear für eine Laufzeit von 12 Monaten gefordert.

Kurz zuvor kämpften die Beschäftigten der 4 Unikliniken Baden-Württembergs für bessere Bedingungen und höhere Löhne und legten die Arbeit nieder. Ebenfalls wird es wohl demnächst im Bereich der ärztlichen Klinikbeschäftigten zu Arbeitskampfmaßnahmen kommen. Der Marburger Bund, bei dem die überwältigende Mehrheit organisiert ist, tritt in Verhandlungen ein.

Diese Beispiele zeigen: Es tut sich was! Gerade das Beispiel Sana zeigt, dass auch in privaten Konzernkliniken Streikbereitschaft existiert, auch wenn sie von der ver.di-Spitze nur unzulänglich ausgeschöpft wird. Umso wichtiger wird es für alle Krankenhausbeschäftigten, dagegen und für flächendeckende Entlastungspläne über alle Berufsgruppen hinweg eine innergewerkschaftliche Opposition zu bilden und sich der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) anzuschließen. Das gilt auch für den Marburger Bund.

Vorsicht Krankenhaus„reform“!

Der Bundesvorstand der Linkspartei hat Alternativen zu Lauterbachs Plänen für eine Krankenhausreform verabschiedet. Insbesondere moniert er, dass die Abschaffung der DRGs (Fallpauschalen) nicht auf der Tagesordnung der Ampelkoalition steht. Deren Aussetzung (!) zumindest für die Kinderstationen hatte der Bundesgesundheitsminister noch im Oktober angekündigt.

DIE LINKE fordert ein Halte- und Rückholprogramm des Bundes für Pflegekräfte, die ihren Job verlassen haben. Eine Zulage von 500 Euro monatlich soll aus einem Bundesfonds finanziert werden. Was ist mit denen, die ihre Arbeitszeit reduziert haben, um sie wieder aufzustocken? Zudem gibt es noch 2 Pferdefüße: a) Statt Lohnsubvention für einige zu betreiben, müssten alle eine gleich höhere Bezahlung erhalten; b) der Bund soll nicht nur zahlen, sondern alle Kliniken enteignen und unter seiner oder Regie anderer Gebietskörperschaften verstaatlichen sowie einen integrierten nationalen Gesundheitsdienst organisieren gemäß dem organisatorischen Vorbild des NHS in Britannien.

Ferner fordert der Bundesvorstand: Pflegepersonalschlüssel für bundesweit 100.000 zusätzliche Pflegestellen; Gewinnverbot für Krankenhäuser; Bundesfonds zur Rekommunalisierung privatisierter Kliniken.

Doch wie will man Ersteres ohne Abschaffung der Fallpauschalen und des Klinikwettbewerbs umsetzen? Und sollen bei der Rekommunalisierung die Klinikaktionär:innen entschädigt werden, vielleicht sogar zum Börsenwert?

Sicher eine wünschenswerte Initiative trotz mancher Lücken, doch nicht mehr als fromme Reformwünsche vom Weihnachtsmann. Perspektiven der Umsetzung mittels Kampfmaßnahmen werden gar nicht erwähnt. Dabei ist zu befürchten, dass die kleinen, aber in der stationären Grundversorgung elementaren Krankenhäuser zugunsten ambulanter Zentren geschlossen werden sollen. Wir werden über die konkreten Pläne informieren.

Zweitens zeigen die Erfahrungen mit den bisherigen Entlastungstarifverträgen, dass es nicht zur Personalaufstockung gekommen ist. Wie auch, wenn nicht mehr Geld ins System fließt? Das scheitert aber an der finanziellen Lage der Krankenkassen. Gewerkschaften und DIE LINKE wären gut beraten, ihre Mitglieder auf den drohenden Kahlschlag bei der stationären Grundversorgung abseits von Großstädten ebenso aufmerksam zu machen wie auf die notwendige Finanzierung durch die gesetzlichen Krankenkassen.

  • Kein Krankenhauskahlschlag! Gesetzliche Sozialversicherungspflicht für alle und ohne Beitragsbemessungsobergrenzen! Entschädigungslose Verstaatlichung aller Krankenhäuser unter Kontrolle der Beschäftigten!



Streik der Unikliniken NRW beendet

Jürgen Roth, Infomail 1193, 21. Juli 2022

In der Nacht von Montag auf Dienstag einigten sich die Leitungen der 6 Universitätskliniken in Nordrhein-Westfalen (Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln, Münster) auf einen Tarifvertrag Entlastung (TVE).

Hartes Brot

Der nach Gewerkschaftsangaben längste Streik im Gesundheitswesen ist vorbei. Nach 79 Tagen Arbeitskampf einigten sich beide Seiten auf einen TVE. Es war beileibe kein leichter!

Anfang des Jahres hatten die Beschäftigten ein 100-Tage-Ultimatum für einen TVE verabschiedet. Das Kalkül dahinter: die damals amtierende schwarz-gelbe Landesregierung werde wohl kaum riskieren, dass dieses 2 Wochen vor der Wahl auslaufe und ein großer Streik ausbreche. Sie irrten gründlich! Alter und neuer Gesundheitsminister Laumann (CDU) und Landesregierung schoben bürokratische Probleme vor: Die Unikliniken könnten nicht aus dem Tarifvertrag der Länder (TV-L) ausscheiden, dies sei auch nicht im Interesse ver.dis.

Was sie „vergaßen“ zu erwähnen: Sie hatten sich gar nicht erst bei den Verbänden der „Landesarbeitgeber:innen“ für die Aufhebung von deren Blockadehaltung gegen einen bundesweit geltenden TVE eingesetzt, sondern drohten mit der Keule eines Rauswurfes aus der Tarifgemeinschaft, um auch den landeseigenen AdL (Arbeitgeberverband des Landes NRW), in dem sie ja schließlich die Unternehmensseite verkörpern, nicht mit solchem „Schnickschnack“ zu belasten.

Die Streikenden waren überdies mit einer Klage der Uniklinik Bonn vor 2 Arbeitsgerichtsinstanzen zwecks einstweiliger Verfügung zur Aussetzung des Streiks sowie einer nahezu vollständigen Mediensperre über ihre Arbeitsniederlegung konfrontiert. Das hielt sie nicht ab, ihre Stärken eindrucksvoll zu demonstrieren. Notdienstvereinbarungen sahen Bettensperrungen (1.800) und Abteilungsschließungen (50) vor, auch wenn das Landesarbeitsgericht Köln auf Klage der UKB hin die Öffnung zusätzlicher 25 OP-Säle in 2. Instanz landesweit anordnete. Machtvolle Kundgebungen und Demonstrationen, zuletzt am 21.6. in Münster und am 29.6. in Düsseldorf, Solidaritätsbekundungen bis in weite Teile der sog. Zivilgesellschaft hinein und die Vorstellung des Schwarzbuchs Krankenhaus in einer gerammelt vollen Kölner Kirche trugen das Ihrige dazu bei, der Verweigerungshaltung der „Arbeitgeber:innenseite“ die Stirn zu bieten.

Ergebnis

2018 hatte ein fast gleich langer Streik an den Unikliniken Düsseldorf und Essen dort bereits zu einer Entlastung des Personals geführt. Doch wurde dieser von ver.di im Vorfeld der diesjährigen Auseinandersetzungen gekündigt. Die Unterschreitung der vereinbarten Mindestpersonalbesetzung blieb weitgehend konsequenzlos. Nach Abstimmung an den 6 Klinikstandorten segnete am Dienstagnachmittag auch die 75-köpfige Tarifkommission die Einigung mit überwältigender Mehrheit ab. Ob der Rat der 200 tatsächlich dabei wie versprochen das letzte Wort behielt, erschließt sich aus den Medienberichten nicht. Seit Mittwochmorgen ist der Streik ausgesetzt.

Der TVE gilt erst ab 1.1.2023. Für große Teile des Pflegepersonals wurde ein schichtgenaues Verhältnis von Beschäftigten zu Patient:innen festgelegt. Wird dieses unterschritten bzw. kommt es zu anderweitigen zusätzlichen Belastungen, erhalten die Beschäftigten entweder finanziellen Ausgleich oder einen Belastungspunkt. Für 7 gibt es 1 Tag Freizeitausgleich. Im 1. Jahr der Umsetzung können so bis zu 11, im 2. 14 und im 3. 18 Tage herauskommen. Erstmals wurden für viele Gruppen außerhalb der Pflege Mindestbesetzungen und Entlastungsausgleiche vereinbart (Radiologie, Betriebskitas, Therapeut:innen). Auszubildende erhalten mehr persönliche Anleitung und Tage für die Selbstlernzeit, Mindeststandards für Praxisanleitung und Zahl der Lehrkräfte sowie Belastungsausgleich bei Unterschreitungen.

Das kurze Streichholz zog das Personal in Servicebereichen, IT und Technik. Hier wurden pro Krankenhaus lediglich 30 zusätzliche Vollzeitstellen ausgehandelt, was zu vielen Diskussionen in den Belegschaften geführt haben soll.

Bewertung

Das Berliner Ergebnis wurde übertroffen, weil erstmals auch außerpflegerische Bereiche erfasst wurden. Katharina Wesenick, Landesfachbereichsleiterin Gesundheit im ver.di-Landesbezirk NRW, spricht von einem „wichtigen Etappensieg“, man habe die eigene Gesundheit und das Patient:innenwohl gegen die „Profitlogik“ im Krankenhaus durchsetzen müssen. An der Streikbewegung seien der demokratische Prozess, die große Beteiligung der Beschäftigten und deren Selbstermächtigung gewesen. Tausende hätten sich nicht nur am Streik, sondern auch als Expert:innen ihrer Arbeitssituation an Aushandlungsprozessen beteiligt.

Diesem Euphemismus können wir uns nur bedingt anschließen. Zum Ersten: Die Kliniken haben anderthalb Jahre Zeit, ihre Computersysteme auf das neue System umzustellen, was sich nicht in nennenswerter Aufstockung der IT niederschlägt! Für diese Übergangsphase gelten die vereinbarten Belastungsausgleiche nicht, sondern pauschal 5 Entlastungstage (nur) fürs Pflegepersonal.

Zum Zweiten: Interventionsmöglichkeiten des Personals bei Unterschreitung der Mindestbemessungsgrenzen wie Aufnahme- und Behandlungsstopps inkl. Bettensperrungen und Abteilungsschließungen finden ebenso wenig Niederschlag wie in Berlin. Kommt es also bei gleicher oder zunehmender Zahl von Fällen bzw. Fallschwere nicht zur Neueinstellung von Personal – bundesweit fehlen 200.000 Stellen allein in der Pflege –, droht eine Art von Langzeitarbeitskonto, dessen freie Tage sich zwar hübsch summieren, die die Beschäftigten aber mit ins Grab nehmen können.

Zum Dritten: Der Häuserkampf geht weiter, auch wenn Wesenick von einem flächendeckenden Ergebnis faselt. Schlimmer noch: Der TVE gilt nicht für den AdL! Der neue Landtag änderte das Hochschulgesetz und signalisierte so grünes Licht für das Ausscheiden der Unikliniken aus der Tarifgemeinschaft zwecks Abschlussmöglichkeit für einen TVE. In einem Anerkennungstarifvertrag ist festgelegt, dass sie in den kommenden 7 Jahren sämtliche Tarifregelungen des öffentlichen Dienstes der Länder (TV-L) automatisch übernehmen (Arbeitszeit, Entgelt, betriebliche Altersversorgung … ). Und danach? Bedeutet dies etwa, dass das gewerkschaftlich organisierte Uniklinikpersonal während der nächsten 3 – 4 TV-L-Runden außen vor bleibt, wo es doch neben angestellten Lehrer:innen und Erzieher:innen in den letzten Jahren deren Speerspitze darstellte? Die Befürwortung der Änderung des Hochschulgesetzes durch ver.di-NRW stellt also ggü. Berlin eine Verschlechterung dar.

Zum Vierten: Immer wieder suggerierte die ver.di-Führung ihren Mitgliedern, ein TVE finanziere sich wie von selbst. Doch zahlen die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) nur die von Spahns Pflegepersonalstärkungsgesetz eingeräumten mageren zusätzlichen Stellen direkt am Krankenbett. Des Weiteren wurde sie nicht müde, den Beschäftigten zu versichern, der Staat werde die übrig gebliebene Lücke zur notwendigen Personalaufstockung schließen und man hoffe auf einen starken Anreiz für Personalaufbau durch den abgeschlossenen Tarifvertrag. Doch der Landtagsbeschluss deckt nur die Bezahlung des Anerkennungstarifvertrags für 7 Jahre ab, denn die Unikliniken hatten sich bis zuletzt gegen die durch den TVE entstehenden Zusatzkosten mit Händen und Füßen gesträubt und angedroht, dies durch Abstriche am TV-L wettzumachen.

Die Erfahrung der siegreichen Beschäftigten an der Charité und bei Vivantes Berlin beweist: All das sind Phantastereien! Der Senat betonte dort ausdrücklich, er dürfe lt. Krankenhausfinanzierungsgesetz den laufenden Betrieb gar nicht subventionieren, und erhöhte lediglich das Budget für Investitionen in die Substanz, zu denen er demnach verpflichtet ist. Trotz dieser Erhöhung bleibt es lt. Berliner Krankenhausgesellschaft immer noch weit unter dem an Instandhaltung und Erneuerung von Gebäuden und Technik Nötigem. Das Krankenhausfinanzierungsgesetz gilt auch für NRW ebenso wie die langjährige Vernachlässigung der Pflichten durch die Landesregierung und das Subventionsverbot für den laufenden Betrieb.

Für ein Nein in der Urabstimmung!

Aus all diesen Gründen sollten die Gewerkschaftsmitglieder das Ergebnis ablehnen und den Streik wiederaufnehmen. Wichtig ist, die von Wesenick beschriebenen demokratischen Prozesse an der Basis – ja, diese ist umfänglicher als früher in die Auseinandersetzungen einbezogen und darf ihre Meinung äußern – auf die Kampfesführung auszuweiten: der Rat der 200 muss auf Mitgliederversammlungen als Streikkomitee und verhandlungsführende Tarifkommission gewählt werden, jederzeit neu wählbar und rechenschaftspflichtig sein. Ferner muss er als Kern von nach den gleichen direkt- oder rätedemokratischen Prinzipien fungierenden Veto-, Inspektions- und Kontrollorganen operieren, die die Umsetzung des TVE überwachen und energische Schritte einleiten, wirklich massenhaft zusätzliches Personal einzustellen. Dabei kommt man um die Frage der Finanzierung nicht herum. Eine einheitliche staatliche Zwangskrankenversicherung für alle mit progressiven Betragssätzen muss ebenso her wie eine Finanzierung der Investitionsmittel durch progressive Besteuerung von Gewinnen, Einkommen und Vermögen.

Nach der Urabstimmung gilt als unmittelbare Aufgabe der Opposition gegen die bisherigen TVEs: Einberufung einer Konferenz aller Beschäftigten in Gesundheitswesen, Alten- und Behindertenbetreuung einzuberufen, um die ver.di-Führung zur Aufnahme eines Kampfes um einen bundesweit geltenden TVE aufzunehmen bis hin zum politischen Streik aller Gewerkschaften des DGB und darüber hinaus (GDL, Marburger Bund, UFO, Gorillas … ) für eine gesetzlich verbindliche Personalregelung, entschädigungslose Verstaatlichung der Privatkliniken, Wegfall der Fallpauschalen und Ersatz durchs Selbstkostenprinzip. Diese Personengruppe gilt es ferner, für die Idee einer klassenkämpferischen, antibürokratisch-oppositionellen Gewerkschaftsbasisbewegung zu gewinnen. Schließt Euch der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) an! Damit könnte ein wichtiger Grundstein auf dem Weg zu einem integrierten, sozialistischen Gesundheitswesen gelegt werden.

Weitere Artikel zum Streik

https://arbeiterinnenmacht.de/2022/04/28/unikliniken-in-nordrhein-westfalen-vor-einem-streik/

https://arbeiterinnenmacht.de/2022/05/06/unikliniken-nrw-im-streik/

https://arbeiterinnenmacht.de/2022/05/27/uniklinken-in-nordrhein-westfalen-4-wochen-streik/

https://arbeiterinnenmacht.de/2022/06/18/nrw-unikliniken-in-der-8-streikwoche-licht-und-schatten/




Gesundheitsminister:innenkonferenz in Magdeburg: ver.di-Mitglieder fordern Entlastung

Ernst Ellert, Infomail 1191, 22. Juni 2022

Es ist schon zu einem Ritual geworden: Alljährlich treffen sich die Gesundheitsminister:innen der Länder und des Bundes zu einer Konferenz, diesmal in der Hauptstadt Sachsen-Anhalts.

Nur das Wetter war heiß

Ca. 250 Gewerkschafter:innen waren aus vielen Bundesländern angereist und marschierten vom Jerichower Platz zum Tagungsort Dorint-Hotel Herrenkrug ganz im Osten Magdeburgs. Ein Drittel bis die Hälfte stammte aus Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. Daneben waren sichtbar vertreten Kolleg:innen aus Baden-Württemberg (Crailsheim) und Rheinland-Pfalz (Uniklinik Mainz).

Ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler hielt eine kurze Rede, in der sie den in die 8. Woche gehenden Streik der 6 Unikliniken in Nordrhein-Westfalen als lobendes Beispiel zwar erwähnte, aber nichts darüber verriet, wie dieser Kampf nach Ansicht des Bundesvorstands gewonnen und auf die gesamte Republik ausgedehnt werden kann. Der dortige Arbeit„geber“:innenverband (AdL) und die 6 Klinikvorstände halten sich bisher mit Angeboten zurück, die über eine sich durch die Krankenkassen finanzierende Personalaufstockung für bettenführende Bereiche der Pflege hinausgehen. Ver.di NRW hatte diese zu Recht abgelehnt, weil sie nur einen Teil der Pflege und schon gar nicht Abteilungen außerhalb ihrer betreffen. Der Rat der 200 (Teamdelegierte aus allen Bereichen der 6 Krankenhäuser) hatte just am 21. Juni einen offenen Brief an Landesregierung und Unternehmenseite formuliert, der zu einem ernsthaften Angebot mahnt.

Reden

250 Leute machten ihrem Unmut zwar Luft, doch kann die Mobilisierung durch ver.di angesichts der geringen Teilnehmer:innenzahl und der Lage in NRW nur als lauwarm gelten. Lediglich das Wetter legte einen drauf.

In den Reden zweier Auszubildenden über ihre Situation und von Lilian Kilian zur Situation in der Psychiatrie gab es zwar auch Anklänge von Unzufriedenheit mit den Versprechen aus Politik und vonseiten der Krankenhausunternehmen. So habe sich die Situation seit Einführung der Fallpauschalen (DRGs) weiter verschlechtert. Folglich seien die Unterstützungsbekundungen nur leerer Trost. Das DRG-System müsse fallen und mit ihm die auf Gewinn ausgerichtete betriebswirtschaftliche Logik.

Fast in einem Atemzug wurde aber wieder auf die kostendeckende Möglichkeit der Refinanzierung von Entlastungsverträgen (s. o.) verwiesen, was nur für wenige Bereiche und auch dort nur bedingt gilt. Als zweite Mär, auf die auch schon die Streikenden in Berlin hereinfielen und gegen die auch die in NRW nicht immun sind, wurde verbreitet, „die Politik“, vorher noch als Vereinigung für billigen Seelentrost dargestellt, möge und könne doch den Rest bezahlen.

Die Länder sind jedoch im Zuge des dualen Krankenhausfinanzierungsgesetzes „nur“ verpflichtet, technische und bauliche Investitionsmittel zur Verfügung zu stellen und tun dies zusehends ungenügender. Den laufenden Betrieb dürfen sie demnach gar nicht abdecken. Das ist Aufgabe der Krankenkassen. Darauf hatte jüngst der Berliner Senat hingewiesen – natürlich nach der Tarifrunde, während der er die Streikenden hingegen diesbezüglich in Arglosigkeit wog.

Forderungen

Ver.di hatte unter folgenden Forderungen nach Magdeburg mobilisiert:

  • PPR 2.0 in der Krankenhauspflege kurzfristig in Kraft setzen
  • Bedarfsgerechte und verbindliche Personalbemessung in der Altenpflege schnell und vollumfänglich umsetzen
  • Psychiatrie-Personalverordnung zu 100 Prozent einhalten
  • Besonders in der Altenpflege: flächendeckende Entlohnung nach relevanten Tarifverträgen
  • Bedarfsgerechte und solidarische Finanzierung
  • Schluss mit Kommerzialisierung und Profitmaximierung im Gesundheitswesen 

Diese sind allesamt unterstützenswert. Doch mit o. a. sozialpartnerschaftlicher Orientierung der Gewerkschaftsführung werden sie nicht umsetzbar sein. Im 1. Schritt gilt es deshalb einzuklagen, dass ver.di von ihrer bisherigen Strategie der Entlastungskampagne als bestenfalls Kampf in einzelnen Häusern abrückt und sie auf alle Krankenhäuser, psychiatrische Einrichtungen und Altenpflegeheime ausdehnt. Die Teilnehmer:innen heute in Magdeburg hätten dafür volles Verständnis gehabt.




NRW-Unikliniken in der 8. Streikwoche: Licht und Schatten

Jürgen Roth, Infomail 1191, 18. Juni 2022

Seit 45 Tagen streiken Beschäftigte der 6 Universitätskliniken in Nordrhein-Westfalen für einen Tarifvertrag Entlastung (TVE), der personelle Mindestbesetzungen, bessere Ausbildungsbedingungen und einen Freizeitausgleich für Arbeit in belastenden Situationen festschreibt unter Verweis auf ähnliche Regelungen in Berlin, Mainz und Jena. (Wir berichteten: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/04/28/unikliniken-in-nordrhein-westfalen-vor-einem-streik/; https://arbeiterinnenmacht.de/2022/05/06/unikliniken-nrw-im-streik/; https://arbeiterinnenmacht.de/2022/05/27/uniklinken-in-nordrhein-westfalen-4-wochen-streik/)

Erneuter Angriff und Protest

Gegen den Streik an der Universitätsklinik Bonn (UKB) legte der Klinikvorstand beim Arbeitsgericht Klage ein. Doch diese wurde in 1. Instanz abgewiesen. Das Patient:innenwohl sei nicht gefährdet, es gebe eine Notdienstvereinbarung, so die Richterin. Das UKB wollte mittels einstweiliger Verfügung wegen Verstoßes gegen die Friedenspflicht und fehlender Erstreikbarkeit der Forderungen wegen Rechtswidrigkeit den Arbeitskampf gerichtlich unterbinden lassen und erwägt Berufung.

Ver.di-Landesbezirksleiterin Gabriele Schmidt hatte in einer lahmen Replik vom 13. Juni 2022 kundgetan, die einstweilige Verfügung sein unter allen 6 Kliniken abgestimmt und ziele auf Beeinträchtigung des Streikrechts. Damit berufe sie sich auf die Tarifzugehörigkeit in der Tarifgemeinschaft der Länder. Die „Arbeitgeberseite“ falle somit der neuen Landesregierung und den demokratischen Parteien im Landesparlament in den Rücken.

Lahm ist dieses Erklärung deshalb, weil Landesregierung und demokratischen Parteien hiermit ein Freibrief für deren gute Absichten ausgestellt wird, als seien die Klinikvorstände nicht Büttel der Landesregierung. Für Kollegin Schmidt scheint in NRW der Schwanz mit dem Hund zu wedeln.

Zudem sei angemerkt, dass sie mit dem Zaunpfahl bzgl. des „Landesarbeitgeberverbandes“ ADL winkt, hatte doch ver.di das Ansinnen der alten Landesregierung begrüßt, durch eine Änderung des Landeshochschulgesetzes den Weg für Verhandlungen freizuräumen.

Wir hatten kritisiert, dass in der Folge dieses Ansinnens der zukünftige TVE, sollte er denn zustande kommen, der ja einem Manteltarifvertrag gleichkommt, praktisch als 6 Hausabkommen Gestalt annähme. Der ADL wäre so nur noch für Lohn- und Gehaltsverhandlungen zuständig. Der Beschäftigtenseite diente eine solche Zersplitterung ganz und gar nicht – im Gegenteil! Doch was tun Bürokrat:innen nicht alles, um endlich ihr ureigenes Spielfeld betreten zu dürfen: den Verhandlungstisch?

Solidarität

Es waren die klassenbewussten Kolleg:innen der Essener Uniklinik, die als Erste dagegen protestierten. Am 13. Juni besetzten sie dortige Räumlichkeiten und forderten „ihren“ Vorstand auf, zur einstweiligen Verfügung Stellung zu beziehen. Dieser ließ sie daraufhin von der Polizei aus dem Gebäude entfernen und sagte eine Verhandlungsrunde um 16 Uhr am gleichen Nachmittag ab. Die Essener hatten gemeinsam mit ihren Düsseldorfer ver.di-Kolleg:innen 2018 einen für beide Häuser gültigen Tarifvertrag Entlastung (TVE) erkämpft, der im März diesen Jahres von der Gewerkschaft gekündigt wurde zugunsten eines neuen Anlaufs für alle landeseigenen Unikliniken.

Eine für den darauffolgenden Tag ursprünglich in Münster, dem einzigen westfälischen Standort, geplante zentrale Demonstration aller Streikenden wurde kurzerhand nach Bonn verlegt, wo die Kolleg:innen ihrem Unmut über das dreiste Vorgehen der UKB lautstark Luft machten. U. a. wiesen sie darauf hin, dass der Vorstand sich lange gegen eine Notdienstvereinbarung gesträubt hatte. Zwei Tage später fand dann auch in Münster eine große Kundgebung statt.

Solidarität zeigten auch 640 ärztliche Mitarbeiter:innen, die mittels einer Petition den Streik unterstützen. Auch die Studierendenvertretungen in NRW erklärten sich solidarisch mit diesem Arbeitskampf.

Angebot oder vergifteter Köder?

Nach 36 Streiktagen legten die Klinikleitungen ein Angebot vor, was die landesweite Demonstration und Kundgebung am 10. Juni und die an diesem Tag 1.500 Streikenden einhellig als Mogelpackung verurteilten. Ver.di wies es zurück, weil es nur für Pflegekräfte am Bett gelte (5 Entlastungstage pro Monat), nicht für Ambulanzen, OPs und Aufnahmen, schon gar nicht für Personal außerhalb der Pflege. Stattdessen schlägt die Gewerkschaft richtigerweise ein Verfahren vor, das schichtgenaue Mindestbesetzungen für alle Krankenhausbereiche vereinbart. Werden diese unterlaufen, entsteht in jedem Einzelfall auf freie Tage. Die angebotenen Entlastungstage werden überdies schrittweise reduziert, sobald das Pflegepersonal aufgestockt wird.

Betriebswirtschaftlich macht dieser Spaltpilz durch Verengung der für Entlastung infrage kommenden Zielgruppe durchaus Sinn, folgt sie doch der Refinanzierungslogik im bestehenden System. Gemäß Pflegestärkungsgesetz, noch unter Federführung von Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn verabschiedet, ist mehr Personal am Bett in engen Grenzen für die Kliniken kostenneutral umsetzbar.

Das letzte Wort über einen TVE

Die Tarifkommission ist 75-köpfig besetzt, neben den Apparatschiks mit Kolleg:innen aus allen Bereichen (Teamdelegierte). Man folgt hier also dem Berliner Modell, was sicher gegenüber früherer Art von Verhandlungsführung einen gehörigen Schuss Basisdemokratie verkörpert. Doch die eigentliche Verhandlungskommission ist kleiner. Hier werden die „Profis“ der Bürokratie den Ton angeben. Das letzte Wort über den TVE soll aber der „Rat der 200“ sein, sämtlich aus gewählten Delegierten aller 6 Unikliniken bestehend. Unserer Meinung nach sollten allerdings alle Mitglieder das wirklich letzte Wort haben (Urabstimmung).

Doch die 200 Delegierten sollen sich mit dem (vor)letzten Wort, das ihnen zusteht, nicht zufriedengeben! Um der eigentlichen basisdemokratischen Bedeutung des Begriffs Rat gerecht werden zu können, müssen seine Delegierten auch von Abteilungsversammlungen jederzeit neu und abwählbar sein. Zweitens muss er die Funktion des obersten Streikkomitees ausfüllen. Bürokrat:innen dürfen sich auch als Kandidat:innen bewerben, bitte schön! Ihre Bewährung während des Streiks wäre aber dann Voraussetzung für ihren Wahlerfolg, nicht ihr „Amt“. Dies ist umso dringender, als die ver.di-Spitze in NRW immer wieder zum Einknicken neigte, sei es in Angeboten, den Streik bei Verhandlungsbereitschaft der Arbeit„geber“:innenseite auszusetzen, oder ihren Köder mit dem Ausscheren des Manteltarifs aus dem ADL zu schlucken.

Drittens sollte der „Rat der 200“ den Belegschaften verdeutlichen, wie notwendig direkte Kontrollorgane auf jeder Station, in jeder Abteilung sein werden, die sich bei Unterschreitung der Mindestpersonalbemessung das Recht auf Gegenmaßnahmen wie Schließungen von Betten und Stationen, Nichtaufnahme geplanter Behandlungsfälle und dergleichen aneignen und nach gleichen basisdemokratischen Räteprinzipien funktionieren und zentralisiert werden müssen. Der Streik hat die Bedeutung dessen in den Augen vieler Beschäftigter bereits gezeigt: Die Arbeitsbelastung auf den betroffenen Stationen fiel oft viel geringer als im „Normalbetrieb“ aus! So sehr eine Entlastung in Form freier Tage auch begrüßenswert ist, so sehr steht und fällt diese letztlich mit einer großen Zahl von Neueinstellungen. Erfolgen die nicht, mutiert die gut gemeinte Tarifklausel zu einer besseren Variante von Lebensarbeitszeitkonto.

Die 200 Delegierten sind darum, obwohl selber Rat, doch gut beraten, auch in anderer Hinsicht nach Abschluss eines TVE Akzente zu setzen: als Keimzelle und Funktionsmodell für die bundesweite Ausdehnung der Krankenhausbewegung auf alle Allgemein- und Sonderkrankenhäuser inklusive der Altenpflegeeinrichtungen! Ferner müssen sie alle Illusionen, die die ver.di-Führung eifrigst schürt, der Staat werde sein Versprechen halten und die Personalregelungen finanzieren, im Gegenteil zerstreuen. Der bezahlt nämlich in Wirklichkeit zusehends weniger die Erhaltungs- und Erneuerungsinvestitionen der stationären Einrichtungen, zu denen er in Gestalt der Bundesländer eigentlich gesetzlich verpflichtet ist. Ein Protest vor kurzem in Berlin angesichts der Erfahrungen geringer Neueinstellungen vor dem Roten Rathaus erinnerte den Senat an dieses Versprechen. Ver.di-Spitze und selbst viele Streikende hatten es unermüdlich propagiert und für bare Münze gehalten, dass dies machbar sei und die Kosten des TVE sich wie von selbst rechne. Doch in die Finanzierung des laufenden Betriebs einzugreifen, dafür seien ihm die Hände durch das duale Krankenhausfinanzierungsgesetz gebunden. Diesen Politiker:innen – immer dabei: die Linkspartei! – und ihren Steigbügelhalter:innen in der Gewerkschaftsbürokratie gilt es, nicht länger auf den Leim zu gehen.

Wir brauchen diesbezüglich eine unabhängige und eigenständige Arbeiter:innenpolitik bis hin zum politischen Erzwingungsstreik für eine gesetzliche Personalbemessung, die Abschaffung des Marktprinzips in Form der Fallpauschalen (DRGs) und für Selbstkostenfinanzierung als Schritte hin  zu einem rationalen, geplanten, von Beschäftigten und Patient:innen und den Arbeiter:innenorganisationen kontrollierten Gesundheitswesens!




Uniklinken in Nordrhein-Westfalen: 4 Wochen Streik

Jürgen Roth, Neue Internationale 265, Juni 2022

Seit dem 4. Mai befinden sich die Beschäftigten der Universitätskliniken Nordrhein-Westfalen im Streik. Bei der Urabstimmung votierten 98 % für den Vollstreik. Dieser war zunächst bis zum 26. Mai befristet, wurde jedoch erstmal bis zum 2. Juni verlängert.

Die Kampfbereitschaft fiel nicht vom Himmel. Schon am 19. Januar verfassten über 700 Beschäftigte der landeseigenen Universitätskliniken Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster einen Beschluss, der verbindliche Regelungen zur Entlastung aller Arbeitsbereiche, Sicherstellung und Verbesserung der Ausbildungsqualität und ein wirksames Konsequenzenmanagement im Fall ihrer Nichteinhaltung von der Landesregierung forderte. Dieses Ultimatum lief nach 100 Tagen am 1. Mai ab. Der Arbeitskampf nimmt seither härtere Formen an.

Verlauf

Zeitgleich mit dem Warnstreik zum landesweiten Branchentag „Kitas/Ganztag“ für die Tarifauseinandersetzung der Sozial- und Erziehungsdienste in NRW am 4. Mai hatte ver.di auch die Unikliniken zum Streik aufgerufen. 1.900 Beschäftigte nahmen daraufhin mit Beginn der Frühschicht ihre Arbeit nicht auf. Am Samstag, den 7.5.2022, führten sie eine Kundgebung mit anschließender Demonstration zum Landtag durch. In Essen befinden sich seitdem täglich durchschnittlich 250 Kolleg:innen im Ausstand, so dass knapp zwei Drittel der OP-Säle geschlossen werden mussten. Des Weiteren gab es erhebliche Verzögerungen bei terminierten und ambulanten Behandlungen.

Am 9. Mai fuhren Azubis aus 5 Uniklinken nach Aachen, um ihre dortigen Kolleg:innen zu unterstützen. Die Klinikleitung hatte als einzige keine Notdienstvereinbarung mit der Gewerkschaft abgeschlossen, welche regeln soll, wie viele Beschäftigte mindestens auf den Stationen und in den Funktionsabteilungen bleiben, welche Betten und Einheiten geschlossen werden sowie, dass Auszubildende keine Fehltage für den Streik eingetragen bekommen. Dem Aachener Berufsnachwuchs wurde dagegen genau damit gedroht, was zur Folge haben kann, dass Streikteilnehmer:innen nicht zur Abschlussprüfung zugelassen werden!

Am 19. Mai rief ver.di die Azubis zu einem Auszubildendenstreiktag nach Essen auf, um hier nochmal ein deutliches Zeichen des Protests zu setzen. Ein Aufruf an alle Streikenden wäre sicher angemessener gewesen, handelt es sich doch bei den Maßnahmen der Aachener Klinikleitung de facto um einen Angriff aufs Streikrecht für eine bestimmte Personengruppe. Getreu dem Motto, dass eine Attacke auf eine/n Gewerkschafter:in eine auf alle bedeutet, wäre eine geschlossene Manifestation der Ablehnung durch alle nur konsequent!

Zeichen der Solidarität

In einem Aufruf für ärztliche Unterstützung für eine verbindliche Personalbesetzung an den Universitätskliniken in NRW, der auch vom „Verein demokratischer Ärzt*innen (vdää*)“ unterzeichnet ist, drückten über 530 Ärzt:innen und Medizinstudierende am 5. Mai ihre Solidarität mit den Arbeitskampfmaßnahmen aus. Ins selbe Horn tutet auch die „Solidaritäts-Erklärung des Stuttgarter Metallertreff / Zukunftsforum Stuttgarter Gewerkschaften für die streikenden Kolleg*innen in den Unikliniken in NRW“, veröffentlicht am 23. Mai und unterstützt von der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG).

Am 12. Mai beschloss eine Versammlung am Hamburger Uniklinikum Eppendorf (UKE) eine Reihe von Auftaktaktionen, an deren Ende ein Tarifvertrag Entlastung (TVE) stehen soll. So machte eine Gruppe Pflegender vor dem Krankenhaus auf ihre Lage aufmerksam. Sie zeigte sich wenig beeindruckt vom Optimismus der Hamburger Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD), die stolz auf 3.760 Auszubildende im Pflegebereich der Hansestadt verwies. Die Verlautbarung eines ver.di-Sprechers, die Chancen stünden gut für einen niedrigeren Betreuungsschlüssel in der Intensivpflege, hat die Aktivist:innen ebenso wenig von ihrem Protest abgehalten, wie sie einen konsequenten Beitrag im Kampf gegen den Pflegenotstand darstellt. Auch in Bremen regte sich der zuständige Gewerkschaftssekretär mit einem Vorstoß, man müsse auch hier bald für einen TVE mobilisieren. Die Gewerkschaftsbasis vor Ort sollte ihn rasch beim Wort nehmen. Als Zeichen der Solidarität mit dem Kampf in NRW sind auch diese Ereignisse in Hamburg und Bremen allemal zu werten.

Gegenwind

Die aktuelle Streikbewegung war von Beginn an vom Berliner Kampf um Entlastung an den Krankenhäusern inspiriert. Gegenüber dem Berliner Vorbild zeichnet sie sogar zwei Vorzüge aus: Erstens werden Mindestbesetzungsregeln auch für nichtpflegerische Bereiche gefordert. Zweitens ging der Kampf rasch zum Vollstreik über.

In mehreren Artikeln haben wir Vorschläge für Kampfführung und wirksame Kontrolle über ein evtl. erzieltes Ergebnis im Sinne der Stärkung der Selbstorganisierung der Basis hin zur wirksamen Arbeiter:innenkontrolle und zum politischen Streik für eine gesetzliche Pflegepersonalbemessung unterbreitet.

Aktuell bläst den nordrhein-westfälischen Kolleg:innen jedoch anders als in Berlin ein starker Wind entgegen. Auch dort hatte anfänglich der Senat mit Verweis auf die Haltung der kommunalen (VKA) und Landesarbeit„geber“:innenverbände die Unmöglichkeit ihres Unterfangens zu verdeutlichen versucht. Doch die Berliner Streikenden ließen sich von der Drohung, Berlin flöge aus den Verbänden, wenn es sich auf Verhandlungen über einen TVE einlasse, nicht einschüchtern.

In NRW jedoch läuft die Sache anders. Gesundheitsminister Laumann und Ministerpräsident Wüst ließen verlautbaren, ein Tarifvertrag komme auf jeden Fall zustande. Vorher hatten sie den gleichen Taschenspielertrick wie die Berliner Regierenden vorgeführt. Doch jetzt signalisieren sie, ernsthafte Verhandlungen aufnehmen zu wollen. Passiert ist seit dem Ultimatum bisher aber nichts bzgl. eines realen Angebots.

Ver.di kritisiert daran lediglich den langsamen Verhandlungstakt. Die Gewerkschaft entblödet sich aber nicht, den vermeintlichen Sinneswandel der Unternehmer:innenseite festzustellen und zu loben. Mag sein, dass die von den bürgerliche Medien organisierte „öffentliche Meinung“ dafür verantwortlich ist. Nach anfänglichen Sympathien für den Arbeitskampf mehren sich von Tag zu Tag – der Streik geht in die 5. Woche – kritische Stimmen. So schreibt die „Rheinische Post“ von Geiselhaft, in die Patient:innen von den Gewerkschafter:innen genommen würden. Andere Blätter raunen von Zorn und Fassungslosigkeit auf Seiten der Behandlungsbedürftigen.

Es ist notwendig, dagegen eine eigene Öffentlichkeit von unten zu mobilisieren, den Schulterschluss mit Patient:innenvereinigungen zu suchen und klarzumachen, dass die Forderungen der Beschäftigten in jedem Fall auch einen Beitrag zur Verbesserung der Behandlungen leisten würden. Verursacht wird der gesamte Pflegenotstand schließlich eindeutig von den profitorientierten Gesundheitskapitalen und ihren politischen Helfershelfer:innen, die sich jetzt aufführen, als hätten sie Kreide gefressen.

Doch viel wichtiger ist, deren Bauernfängerei zu entlarven und verurteilen. Diese liegt darin, dass die Klinikleitungen als Vorbedingung, um über einen TVE verhandeln zu können, aus dem Arbeit„geber“:innenverband austreten wollen. Dafür muss das NRW-Hochschulgesetz geändert werden. Nach dem Austritt wären die Unikliniken nicht mehr an die Tarifgemeinschaft gebunden. Die anderen, v. a. Entgelt betreffenden Tarifverträge sollen trotz des Austritts weiter gelten. Ver.di-Landesbezirksleiterin Gabriele Schmidt sprach daraufhin in einer Pressemitteilung von ver.di NRW vom 11.5.2022 davon, „dass der politische Wille da ist, den Weg für Tarifverhandlungen freizumachen“. Landesfachbereichsleiterin Katharina Wesenick redete von einem möglichen Einstieg in einen geordneten Ausstieg aus dem Konflikt (WDR, 10.5.2022). Ähnliche Töne finden sich im Artikel „Eine starke Bewegung“ in ver.di publik 3/2022.

Natürlich können Gewerkschaften der Kapitalseite nicht aufzwingen, wie sie sich organisiert. In diesem Sinne hat die Berliner Krankenhausbewegung völlig richtig reagiert, entsprechende Einlassungen des Senats glatt zu ignorieren. Selbst in NRW hat die ver.di-Führung trotz ihrer Schönrednerei den Streik bisher nicht ausgesetzt, sondern verlängert. Doch bleibt zu kritisieren, dass sie einen Ausstieg aus dem Unternehmer:innenverband gutheißt, nur um an den Verhandlungstisch zu kommen. Das ist denn doch des Schlechten, der Sozialpartner:innenschaft, zu viel.

Immerhin verweist sie ihre Mitgliedschaft damit auf den Weg eines immer weiter zersplitterten Häuserkampfes, also schlechterer Bedingungen für ein branchenweites Ergebnis. Notwendig wäre aber folgende Ansage: Diese Taktik stellt nur einen weiteren Spaltungsversuch der organisierten Beschäftigten dar. Folglich werden wir mit verstärkter Kraft den branchen- und bundesweiten Kampf ausweiten bis hin zum politischen Massenstreik für eine gesetzliche Personalbemessung!

Eine solche politische Stoßrichtung müssen wir von der Gewerkschaft einfordern – auf deren Führung verlassen dürfen wir uns nicht. Vielmehr muss diese Ausrichtung auf den Streikversammlungen offen diskutiert und beschlossen sowie Streikleitungen gewählt werden, die diesem Kurs verpflichtet sind.

Welche Perspektive fürs Gesundheitswesen?

Der Kampf gegen die Überlastung des Personals, gegen miese Löhne und Personalnotstand muss, wie die Erfahrung bisheriger Kämpfe zeigt, über die rein betriebliche Ebene hinausgehen. Das Problem ist letztlich ein gesellschaftliches und politisches. Es braucht eine gemeinsame Bewegung aller Krankenhäuser für ein bedarfsgerechtes und menschenwürdiges Gesundheitssystem unter Kontrolle der Beschäftigten.

Die Auseinandersetzung in NRW muss sich bewusster als ihr Berliner Vorbild für die bundesweite Ausdehnung ihres Kampfes einsetzen. Gerade angesichts fehlender Finanzierung des TVE, angesichts anhaltender Profitorientierung des Gesundheitswesens muss auch das Mittel politischer Streiks der gesamten Gewerkschaftsbewegung gegen das DRG-System, Krankenhausschließungen und -privatisierungen und für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen ins Kalkül gezogen werden.

  • Entschädigungslose Enteignung privater und privatisierter Krankenhäuser unter Kontrolle der Beschäftigten und der Gewerkschaften! Entschädigungslose Enteignung der Pharma- und Medizintechnikkonzerne!
  • Für eine gesetzliche Personalbemessung, die den tatsächlichen Bedarf widerspiegelt und die in allen Sektoren, auch der Altenpflege, gilt!
  • Für ein ausreichendes Pflegepersonalgesetz in allen Sektoren, auch der Altenpflege! Personalbedarf für die PatientInnenversorgung, errechnet durch die Beschäftigten sowie PatientInnen und ihre Organisationen selber! Laufende Personalbesetzungs- und Betriebsregelungen unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Weg mit Beitragsbemessungsgrenzen, Befreiungs- und Ausstiegsmöglichkeiten aus der gesetzlichen Krankenversicherung! Für weitere Finanzierung des Plans durch progressive Steuern auf Kapital, Gewinne und Vermögen!
  • Erstellung eines Plans für ein integriertes Gesundheits-, Rettungs-, Kur- und Rehabilitationswesen von unten durch Beschäftigte und Patient:innen unter Hinzuziehung von Expert:innen ihres Vertrauens!
  • Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung, die für diese Forderungen eintritt!



Unikliniken NRW im Streik

Jürgen Roth, Infomail 1187, 6. Mai 2022

2021 hatten das Institut Arbeit und Technik (IAT) der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen und die Arbeit„nehmer“:innenkammern Bremen und Saarland – die einzigen derartigen Institute im Bundesgebiet –, gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung, insgesamt 12.700 Aussteiger:innen und Teilzeitkräfte der Pflegeberufe online befragt unter dem Motto „Ich pflege wieder, wenn … “. Nach vorsichtiger Kalkulation entstünden lt. dieser Umfrage durch verbesserte Arbeitsbedingungen 300.000 zusätzliche Vollzeitkräfte.

Als stärkste Motivation für Berufsrückkehr bzw. Arbeitszeitaufstockung wurde genannt: eine Personaldecke, die sich tatsächlich am Bedarf der pflegebedürftigen Menschen ausrichtet. Daneben werden genannt: Stärkung der Tarifbindung (nicht nur das Zurückgehen auf regionale Durchschnittswerte in der stationären Langzeitpflege als Kriterium für die Neuzulassung von Einrichtungen) sowie die Sicherung der Finanzierung. Auffällig war, dass ehemalige Beschäftigte aus der ambulanten Pflege diesen Bereich seltener als Ziel eines Wiedereinstiegs benannten. Dies wirft ein Licht auf die dortigen noch schlechteren Arbeitsverhältnisse, wo es kaum Ansätze zur Personalbemessung gibt.

Der Pflege- und sonstige Personalnotstand im Krankenhaus ließe sich also beheben, wenn v. a. die Zahl der Stellen und Arbeitsstunden aufgestockt würden. Jahrelange Auseinandersetzungen mit deutlichen Erfolgen in jüngster Zeit haben aber gezeigt: Das geht nur mit Arbeitskampf gegen Krankenhausträger, Kommunal- und Landesregierungen! Und hier liefern die Beschäftigten der 6 Unikliniken in Nordrhein-Westfalen (NRW) in Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster gerade ein nachahmenswertes Beispiel ab. Ihrem Kampf gebührt volle Solidarität!

Von der Urabstimmung zum Vollstreik

Nachdem NRW-Landesregierung und Arbeit„geber“verband des Landes (AdL) das 100-Tage-Ultimatum am Sonntag, dem 1. Mai 2022, verstreichen lassen hatten, gab ver.di auf einer Pressekonferenz am darauffolgenden Montag bekannt, dass sich die organisierten Beschäftigten in einer Urabstimmung mit 98,31 % – einem überwältigenden Ergebnis – für Ausweitung des Streiks ausgesprochen hatten. Bisher gab es einen zweitägigen Warnstreik, der der Sammlung von 500 Aktivist:innen diente, die sich in Oberhausen trafen, darunter auch im Niederrheinstadion des Ex-Erstligisten RWO. Näheres dazu in NI 264: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/04/28/unikliniken-in-nordrhein-westfalen-vor-einem-streik/.

An der Urabstimmung hatten sich nicht nur Mitglieder, sondern auch weitere Beschäftigte beteiligt, was wir mit einem weinenden wie lachenden Auge betrachten sollten. Die positive Seite dieser Methode aus dem Arsenal des Social Organizing: So gewinnt das Ergebnis noch mehr Schlagkraft; die negative: Nichtmitglieder entscheiden darüber mit, ob – noch nicht wie – ver.di streiken soll. Es geht jetzt auch darum, aus diesen stimmberechtigten Unorganisierten rasch Gewerkschaftsmitglieder zu machen, denn die Gefahr von Streikbruch lastet natürlich auf dieser Gruppe objektiv schwerer.

Streik aussitzen ohne Angebot?

Ver.di Landesleiterin Gabriele Schmidt bestätigte, dass es zwar kurz vor Ablauf des Ultimatums „positive Signale aus der Politik“ gegeben habe, doch weder ein konkretes Angebot noch einen Vorschlag für einen Verhandlungstermin. Auf keinen der 7 (!) von ver.di unterbreiteten Terminvorschläge hätten die Arbeit„geber“:innen reagiert. Schmidt bekräftigte, dass ihre Gewerkschaft jetzt nicht mehr in der Situation stecke, zu Warnstreiks aufzurufen, sondern zu richtigen. Das ist die richtige und erstaunlich rasche Antwort auf deren Verweigerungshaltung, die letztlich auch von der Landesregierung gedeckt wird.

Fortschritt

Im Vergleich zur Berliner Krankenhausbewegung sehen wir einen weiteren positiven Unterschied im raschen Übergang zu regulären Streiks direkt nach dem Ultimatum. Am Mittwoch, dem 5. Mai 2022, haben sich daraufhin 1.700 Beschäftigte an den 6 Standorten in den Ausstand begeben, wie ver.di-Landesfachbereichsleiterin Katharina Wesenick am gleichen Tag mitteilte. Für Mittwochabend war ein Treffen der gewerkschaftlichen Verhandlungsführung mit NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) angesetzt.

Wie streiken und das Ergebnis kontrollieren?

Von den Tarifbotschafter:innen mit informellem Status muss der Impuls für eine vollständige und formale Kontrolle über den zukünftigen Arbeitskampf und die Umsetzung des Ergebnisses ausgehen (Rechenschaftspflicht, Wahl und jederzeitige Abwahl von Streikkomitees vor und durch Mitgliedervollversammlungen, Kontrollorgane mit Vetobefugnissen bis hin zu Bettensperrungen, Aufnahmestopps und Stationsschließungen).

Die Streikenden dürfen sich nicht ins Bockshorn jagen lassen wie in Berlin. Dort wurde ihnen von Krankenhausträgern, Senat, aber leider auch der ver.di-Verhandlungsspitze vorgegaukelt, eine auskömmliche Finanzierung durch den Staat sei gegeben. Gar nicht weiter problematisiert wurde somit also die auf dem Fallpauschalen- oder DRG-Abrechnungssystem basierende Finanzierung der laufenden Betriebskosten. Der Senat bleibt trotz Mittelaufstockung weit unter dem nötigen Aufwand für Gebäude, Technik und sonstige Investitionen. Tarifverträge zu finanzieren, das verbietet ihm das Krankenhausfinanzierungsgesetz dagegen vollständig. Wird die Krankenhausfinanzierung nicht grundsätzlich geändert – Abschaffung der DRGs – und können wir die gewaltigen erforderlichen Mittel für deutlich mehr Personal, das für eine humane Pflege benötigt wird und unter diesen geänderten Bedingungen auch verfügbar wäre, nicht von den Reichen und ihrem Staat erzwingen, kann bei gleichem oder steigendem Behandlungsaufwand das Personal nur entlastet werden, wenn es wie oben beschrieben in den Betriebsablauf eingreift.

Welche Perspektive fürs Gesundheitswesen?

All das zeigt, dass der Kampf gegen die Überlastung des Personals, gegen miese Löhne und Personalnotstand über die rein betriebliche Ebene hinausgehen muss. Das Problem ist letztlich ein gesellschaftliches und politisches. Es braucht eine gemeinsame Bewegung aller Krankenhäuser für ein bedarfsgerechtes und menschenwürdiges Gesundheitssystem unter Kontrolle der Beschäftigten.

Die kommende Auseinandersetzung in NRW muss sich bewusster als ihr Berliner Vorbild für die bundesweite Ausdehnung ihres Kampfes einsetzen. Doch gerade angesichts fehlender Finanzierung des TVE, angesichts anhaltender Profitorientierung des Gesundheitswesens muss auch das Mittel politischer Streiks der gesamten Gewerkschaftsbewegung gegen das DRG-System, Krankenhausschließungen und -privatisierungen und für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen ins Kalkül gezogen werden.

  • Entschädigungslose Enteignung privater und privatisierter Krankenhäuser unter Kontrolle der Beschäftigten und der Gewerkschaften! Entschädigungslose Enteignung der Pharma- und Medizintechnikkonzerne!
  • Für eine gesetzliche Personalbemessung, die den tatsächlichen Bedarf widerspiegelt und die in allen Sektoren, auch der Altenpflege, gilt!
  • Für ein ausreichendes Pflegepersonalgesetz in allen Sektoren, auch der Altenpflege! Personalbedarf für die PatientInnenversorgung, errechnet durch die Beschäftigten sowie PatientInnen und ihre Organisationen selber! Laufende Personalbesetzungs- und Betriebsregelungen unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Weg mit Beitragsbemessungsgrenzen, Befreiungs- und Ausstiegsmöglichkeiten aus der gesetzlichen Krankenversicherung! Für weitere Finanzierung des Plans durch progressive Steuern auf Kapital, Gewinne und Vermögen!
  • Erstellung eines Plans für ein integriertes Gesundheits-, Rettungs-, Kur- und Rehabilitationswesen von unten durch Beschäftigte und Patient:innen unter Hinzuziehung von Expert:innen ihres Vertrauens!
  • Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung, die für diese Forderungen eintritt.



Unikliniken in Nordrhein-Westfalen: Vor einem Streik?

Jürgen Roth, Neue Internationale 264, Mai 2022

In Nordrhein-Westfalen haben sich Beschäftigte der 6 Universitätskliniken (Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln, Münster) zusammengeschlossen. Sie fordern einen Tarifvertrag Entlastung (TVE) nach Berliner Vorbild.

Ultimatum

Die Warnstreiks in der Länderentgelttarifrunde des öffentlichen Dienstes im November 2021 hatten den gewerkschaftlichen Organisationsgrad dort in die Höhe getrieben. 4.000 Beschäftigte beteiligten sich an Arbeitsniederlegungen, über 1.000 schlossen sich der Gewerkschaft an. Viele wurden Tarifbotschafter:innen, vergleichbar mit Tarifberater:innen bzw. Teamdelegierten an der Charité und bei Vivantes. Im Januar 2022 stellten 700 Aktive ein 100-Tage-Ultimatum an Landesregierung und -arbeit„geber“:innenverband, das am 1. Mai abläuft. 12.000 Unterschriften kamen bei einer Petition zusammen, die zusätzlich am 23. März überreicht wurde. Das entspricht einem Anteil von 63 % der von der Tarifforderung betroffenen Kolleg:innen. Am 12. und 13. April rief ver.di zu einem Warnstreik auf, der ohne Beeinträchtigung des Klinikbetriebs zunächst einmal der Sammlung der Aktivist:innen dienen sollte. Dem Aufruf folgten 500 Pflegekräfte nach Oberhausen in Stadthalle und Niederrheinstadion zu einem „Krankenhausratschlag“. Mit ernsthafteren Warnstreiks vor der Landtagswahl am 15. Mai ist zu rechnen, denn bisher gab es keine Reaktion von der Seite, an die sich das Ultimatum richtet.

Notruf nach Berliner Vorbild

Die Beschäftigten tauften ihr Bündnis „Notruf NRW – Gemeinsam stark für Entlastung“. 5.000 Überlastungsanzeigen an den 6 Uniklinken im Jahr 2021 verdeutlichen den Ernst der Lage: Es geht den Kolleg:innen um Mindestpersonalausstattungen für alle Bereiche, angemessene Belastungsausgleiche und Verbesserung der Ausbildungsqualität. Wichtig ist den Kolleg:innen der Einbezug aller Servicebereiche.

Doch nicht nur Forderungen und Umfang der von ihnen betroffenen Beschäftigtengruppen, 100-Tage-Ultimatum, Auftakt im Fußballstadion, Steigerung des gewerkschaftlichen Organisationsgrades, Existenz von Tarifbotschafter:innen gleichen den Verhältnissen vor den großen letztjährigen Berliner Krankenhausstreiks aufs Haar. Wöchentliche Aktiventreffen an jeder Uniklinik, ständige Gespräche mit den Kolleg:innen in allen betroffenen Abteilungen zwecks Erklärung der Tarifforderungen, Mitgliederwerbung und Aufforderung zur Unterzeichnung der Mehrheitspetition treten in die gleichen Fußstapfen. Des Weiteren ist positiv zu werten, dass auch in NRW, dem Vorbild aus der Hauptstadt folgend, offensichtlich Kontakte in die sog. Zivilgesellschaft geknüpft werden konnten: In digitalen Stadtversammlungen bekundeten Bürger:innen, Parteien und Verbände ihren Zuspruch, ihre Solidarität mit dem Kampf um den TVE.

Möglicherweise heben sich 2 Unterschiede fortschrittlich von den in Berlin ausgetretenen Pfaden ab: Zum einen scheint der Ruf nach Mindestpersonalbesetzung auch die Bereiche außerhalb der Pflege (ohne ärztliches Personal) zu umfassen, während es bei Vivantes „nur“ um eine Angleichung der Tochtergesellschaften an den Lohn- und Gehaltstarif des TVöD ging. Inwieweit in NRW diese Bereiche in einen Niedrigtarif ausgelagert worden waren bzw. noch sind, ist uns nicht bekannt. In Düsseldorf und Essen wurde aber seinerzeit auch für ihre Rückkehr unter Dach und TV der Klinikmütter gestreikt und dortige (Teil-)Erfolge könnten weitergehende Forderungen ermutigt haben. In jedem Fall muss aber ein Streikziel – anders als in der Hauptstadt – ihre vollständige Rückführung in Klinikhände sein! Zweitens zeigt sich, wie richtig wir lagen, als wir die Verknüpfung der Tarifrunde TVöD-L mit dem Kampf für einen TVE forderten. Das haben zwar GEW- und ver.di-Tarifkommissionen und -vorstände peinlichst herauszuhalten vermocht, doch die Beschäftigten der Uniklinken haben es an der Basis umgesetzt. Für sie war die Gehaltstarifrunde nicht Ende, sondern nächster Schritt in ihrer weitergehenden Auseinandersetzung!

Aus Fehlern lernen!

So weit, so gut! Es wurde mehr als gelernt aus den positiven Seiten der Berliner Krankenhausbewegung. Nun gilt es, deren Fehler und Schwächen zu überwinden. Erstens: Von den Tarifbotschafter:innen mit informellem Status muss der Impuls für eine vollständige und formale Kontrolle über den zukünftigen Arbeitskampf und die Umsetzung des Ergebnisses ausgehen (Wahl und jederzeitige Abwahl von Streikkomitees, Kontrollorgane mit Vetobefugnissen bis hin zu Bettensperrungen, Aufnahmestopps und Stationsschließungen). Am 25. April demonstrierten Beschäftigte der Charité und von Vivantes gegen die schleppende Umsetzung der Tarifbeschlüsse. So hat der Senat zwar die Landesinvestitionsmittel erhöht (2019: 80 Mio. Euro, 1922: 148 Mio., 1923: 154 Mio.).

Damit meint er, die Gewichtung im Budget der Kliniken zu ändern in Richtung auf mehr Mittel für die Finanzierung zusätzlichen Personals. Die Berliner Krankenhausgesellschaft rechnet aber allein mit einem jährlichen Investitionsmittelbedarf von 350 Mio. Euro. Stärkung der Eigenkapitalzuführungen allein für Vivantes (1922: 128,3 Mio.; 1923: 131,7 Mio.) sollen die Möglichkeit des Unternehmens verbessern, Kredite aufzunehmen. Tarifverträge zu finanzieren, das verbiete aber das Krankenhausfinanzierungsgesetz. Die Krankenhausträger müssen ihre laufenden Kosten selbst erwirtschaften – zuvorderst aus Fallpauschalen (DRGs)! Ver.di und Senatsparteien haben die Streikenden damals also getäuscht mit der Beschwichtigung, eine staatliche Finanzierung des TVE sei gewährleistet. Wird die Krankenhausfinanzierung nicht grundsätzlich geändert – Abschaffung der DRGs -, kann bei gleichem oder steigendem Behandlungsaufwand das Personal nur entlastet werden, wenn es wie oben beschrieben in den Betriebsablauf eingreift.

Vorbereiten muss sich die Krankenhausbewegung auch auf eine andere, kapitalistische „Lösung“ des Dilemmas Personalknappheit, die sich in der steigenden Zahl von Krankenhausschließungen bereits abzeichnet: den Rückzug aus der stationären Grundversorgung in der Fläche! Die kommende Auseinandersetzung in NRW muss sich bewusster als ihr Berliner Vorbild für die bundesweite Ausdehnung ihres Kampfes einsetzen. Doch gerade angesichts fehlender Finanzierung des TVE, angesichts anhaltender Profitorientierung des Gesundheitswesens muss auch das Mittel politischer Streiks der gesamten Gewerkschaftsbewegung gegen das DRG-System, Krankenhausschließungen und -privatisierungen und für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen ins Kalkül gezogen werden.

Welche Perspektive?

All das zeigt, dass der Kampf gegen die Überlastung des Personals, gegen miese Löhne und Personalnotstand über die rein betriebliche Ebene hinausgehen muss. Das Problem ist letztlich ein gesellschaftliches und politisches. Es braucht eine gemeinsame Bewegung aller Krankenhäuser für ein bedarfsgerechtes und menschenwürdiges Gesundheitssystem unter Kontrolle der Beschäftigten.

  • Entschädigungslose Enteignung privater und privatisierter Krankenhäuser unter Kontrolle der Beschäftigten und der Gewerkschaften! Entschädigungslose Enteignung der Pharma- und Medizintechnikkonzerne!
  • Für eine gesetzliche Personalbemessung, die den tatsächlichen Bedarf widerspiegelt und die  in allen Sektoren, auch der Altenpflege gilt!
  • Für ein ausreichendes Pflegepersonalgesetz in allen Sektoren, auch der Altenpflege! Personalbedarf für die PatientInnenversorgung, errechnet durch die Beschäftigten sowie PatientInnen und ihre Organisationen selber! Laufende Personalbesetzungs- und Betriebsregelungen unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Weg mit Beitragsbemessungsgrenzen, Befreiungs- und Ausstiegsmöglichkeiten aus der gesetzlichen Krankenversicherung! Für weitere Finanzierung des Plans durch progressive Steuern auf Kapital, Gewinne und Vermögen!
  • Erstellung eines Plans für ein integriertes Gesundheits-, Rettungs-, Kur- und Rehabilitationswesen von unten durch Beschäftigte und Patient:innen unter Hinzuziehung von Expert:innen ihres Vertrauens!
  • Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung, die für diese Forderungen eintritt.



Zwei Jahre Corona und das Fiasko der Regierungspolitik

Katharina Wagner, Neue Internationale 263, April 2022

Endlich ist er da, der lang ersehnte „Freedom-Day“. Bundesweit sollte bereits am 20.03., spätestens aber nach Ablauf einer Übergangszeit am 02.04.2022 ein Großteil der Corona-Schutzmaßnahmen wegfallen, auch mit einer nach wie vor sehr hohen Inzidenz von 1758,4 (Stand 26.03.2022).

Dazu gehören beispielsweise 3G-Regelungen, die Homeoffice- sowie die Maskenpflicht in Innenräumen. Den Bundesländern stehen damit nur noch recht wenige Schutzmaßnahmen wie etwa die Masken- oder Testpflicht für besonders gefährdete Einrichtungen wie etwa Pflegeheime oder Kliniken zur Verfügung. Auch sind weitergehende Beschränkungen für sogenannte „Hotspots“ möglich, sobald die jeweiligen Länderparlamente eine besonders kritische Corona-Situation ausrufen.

Scharfe Kritik seitens der Bundesländer kam prompt. Diese werfen dem Bund verantwortungslose Politik vor. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sprach dagegen von einem großen Schritt in die Normalität und einem Rückgang zur Eigenverantwortung der einzelnen Bürger:innen. Eine Studie der Uni Erfurt zeigt, dass das Vertrauen der Bürger:innen in die Politik vor allem in den letzten zwei Jahren kontinuierlich gesunken ist, wohingegen das Vertrauen in die Wissenschaft relativ stabil auf hohem Niveau liegt (Quelle: https://projekte.uni-erfurt.de/cosmo2020/web/topic/vertrauen-ablehnung-demos/10-vertrauen/). Um dies besser zu ver-stehen, sollten wir uns an dieser Stelle die bisherige Corona-Politik in Deutschland genauer ansehen und bilanzieren.

Corona-Politik in Deutschland: Note ungenügend

Zu Beginn der Corona-Pandemie in Deutschland vor etwas mehr als zwei Jahren gab es in vielen Teilen der Bevölkerung noch großes Vertrauen in die staatlichen Institutionen, sie mögen diese Pandemie schnell und erfolgreich in den Griff bekommen. Die Realität sah leider völlig anders aus.  Setzte die Politik noch zu Beginn auf eine „Flatten the curve“-Strategie in Verbindung mit kurz-zeitigen Lockdowns, wird bei Omikron nun eine „Durchseuchungsstrategie“ unter Vermeidung einer zu starken Belastung im Gesundheitswesen verfolgt. Weiterhin baut man zusätzlich auf eine möglichst hohe Impfquote, auch in Hinblick auf den kommenden „Corona-Herbst“.

Wir erinnern uns alle noch an die lang anhaltende Diskussion über Maskenpflicht und ob Mund- und Nasenschutz im Allgemeinen überhaupt sinnvoll zur Eindämmung einer Pandemie wäre. Als sich das Robert-Koch-Institut (RKI) dann endlich für Masken und eine daraus resultierende Tragep-flicht aussprach, bestand das Problem vor allem in der Bereitstellung und Beschaffung von aus-reichenden Mengen an Schutzausrüstung seitens der Bundesregierung. Hier zeigten sich wieder einmal die starke wirtschaftliche Abhängigkeit von Lieferketten aus Ländern wie beispielsweise China und fehlende Produktionsmöglichkeiten innerhalb Europas.

Das schlechte Krisenmanage-ment des Bundes offenbarte sich auch in Bezug auf das Impfen. Zentren wurden deutlich zu lang-sam aufgebaut. Eine wirkliche Impfkampagne mit ausführlicher Aufklärung gab es nicht und in sogenannten „Problembezirken“ beispielsweise in Köln oder Berlin fehlte es häufig komplett an Angeboten für die größtenteils migrantische Bevölkerung. Zusätzlich wurde das Impftempo dann auch noch durch fehlende Mengen an Impfstoffen stark gedrosselt, was dazu führte, dass die Bundesregierung das angestrebte Impfziel von 80 % immer wieder nach hinten verschieben musste und tatsächlich bis heute nicht erreicht hat.

Dies liegt auch an mangelnder Impfbereitschaft von Teilen der Bevölkerung. Im Unterschied zu anderen europäischen Ländern wie beispielsweise Frankreich oder Österreich hat sich die deutsche Bundesregierung relativ schnell und vehement gegen eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen. Vor allem im Sommer 2021 wollte man im Vorfeld der anstehenden Bundestagswahl dieses Thema am liebsten komplett von der Tagesordnung streichen, um die Anhänger:innen der Querdenkenbewegung, welche nach wie vor tausende Menschen auf die Straßen mobilisiert, nicht noch stärker gegen das eigene politische Programm aufzubringen und sie in die Arme der AfD zu treiben. Vor allem aufgrund einer politischen Schwäche aller Parteien, allen voran der Linken, in Bezug auf Fragen rund um die Pandemiebekämpfung wird diese Bewegung nach wie vor von vielen als politische Alternative angesehen. Daher sah man sich gezwungen, immer stärkere Zugeständnisse in ihre Richtung zu machen. Aus dem anfänglichen klaren „Nein“ wurde mittlerweile aber ein „Vielleicht“. Nach wie vor wird im Bundestag über eine allgemeine Impfpflicht diskutiert.

Wer kontrolliert?

Allerdings ist die Frage, wie und durch wen man diese kontrollieren könnte, bis jetzt nicht geklärt. Zudem gelang es bisher nicht, die tatsächlichen Impfzahlen richtig zu erfassen oder die Gesund-heitsämter untereinander digital zu vernetzen. Auch die einrichtungsbezogene Impfpflicht, welche zum 16. März eingeführt wurde, scheint kein wirksames Instrument im Kampf gegen die herrschende Impflücke zu sein. Derzeit läuft noch die Meldezeit für ungeimpfte Beschäftigte durch betroffene Einrichtungen. Allein in Baden-Württemberg sollen es mehr als 17.000 sein. Eine Freistellung aller Ungeimpfter nach Einzelfallprüfung durch die Gesundheitsämter ist personell kaum durchzuführen. Um die Impflücke doch noch zu schließen, wurde Ende Dezember 2021 der proteinbasierte Impfstoff Novavax in Europa zugelassen. Allerdings liegt dieser wie Blei in den Regalen, sodass ein Großteil der eingekauften Dosen höchstwahrscheinlich nach Ablauf des Haltbarkeitsdatums vernichtet werden muss.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die sich weiter zuspitzende Situation im Gesundheitsbereich. Viele Pflegekräfte haben während der Pandemie aufgrund sich stetig verschlechternder Arbeitsbedingun-gen ihren Beruf aufgegeben. Eine Änderung dieser Rahmenbedingungen wird derzeit von der Bundesregierung nicht wirklich ernsthaft erwogen. Auch wurde seitens der Politik wenig unternommen, um Kindern und Jugendlichen eine sichere Bildung zu ermöglichen. Ob Homeschooling, Distanz- und Wechselunterricht, Testmöglichkeiten oder die Anschaffung geeigneter Lüftungsanlagen – nichts wurde zufriedenstellend umgesetzt und man redete sich die teilweise gravierend hohen Infektionszahlen unter dieser Bevölkerungsgruppe einfach schön.

Aufgrund von Fehlentscheidungen und mangelhaftem Krisenmanagement der bestehenden und früheren Bundesregierung sind dadurch allein in Deutschland bisher über 20 Mio. Infektionen dokumentiert, wobei die Dunkelziffer wohl das Zwei- bis Dreifache deren beträgt  und bereits mehr als 128.000 Menschen in Verbindung mit einer Corona-Infektion verstarben. Auch verzeichnet Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern eine deutlich höhere Übersterblichkeit. Einiges davon hätte wohl durch ein besseres Krisenmanagement im Interesse aller Lohnabhängigen, Kinder und Jugendlichen verhindert werden können.

Hauptursache: kurzfristige Kapitalinteressen!

Doch warum wurden diese Entscheidungen seitens der Politik so getroffen? Dies muss mit der vorherrschenden kapitalistischen Produktionsweise und einer globalen Wettbewerbsfähigkeit erklärt werden. Bieten Lockdowns in Verbindung mit starken Einschränkungen zwar die Möglichkeit einer raschen Senkung der Infektionszahlen, werden sie jedoch nicht nur von Teilen der Bevölkerung, sondern auch seitens der Wirtschaft abgelehnt. Schlussendlich geht es hierbei vor allem um den Wettbewerbsvorteil der eigenen Nationalökonomie gegenüber einer sich verschärfenden internationalen Konkurrenz und somit um Kapitalinteressen.

Gesellschaftliche Bereiche wie Bildung oder Gesundheitswesen stehen dagegen zu nicht geringem Teil außerhalb der kapitalistischen Profitinteressen, da hier eben nicht überall ein Mehrwert generi-ert werden kann. Daher wurden diese Kosten schon früh quasi vergesellschaftet und auf alle Bürger:innen bzw. Versicherten umgelegt. Aus diesem Grund fehlt es in diesen Bereichen an ausreichenden Investitionen, um den bestehenden Personal- und Geldmangel im Gesundheitssystem zu lindern oder fehlende Schutzeinrichtungen für Schulen und Kitas zu beschaffen.

Alternative

Für eine erfolgreiche Pandemiebekämpfung und ein Krisenmanagement im Interesse aller Lohnabhängigen, Kinder und Jugendlichen benötigen wir eine bundesweite Bewegung, welche sich auf die Arbeiter:innenklasse und ihre Organisationen stützt. Diese sollte den Aufbau von Aktionskomitees in Betrieben, Schulen, Universitäten und Stadtteilen organisieren.

Nur so kann es gelingen, die Mobilisierung breit zu streuen und direkt an der Basis eine politische Alternative zu der bestehenden Querdenkenbewegung aufzubauen. Zudem sollte sich diese Bewegung kritisch zur bisherigen und ungenügenden Politik der Bundesregierung äußern und sich für eine klare Perspektive im Sinne einer internationalen Pandemiebekämpfung (Abschaffung der Patente, ausreichende Versorgung mit Vakzinen zu erschwinglichen Preisen) unter Kontrolle der Arbeiter:innenklasse einsetzen.




Minijobs: Der Weg in die Altersarmut wird ausgebaut

Paul Neumann, Infomail 1179, 5. März 2022

SPD und Grüne versprachen in ihren Wahlprogrammen, Minijobs abschaffen. Die Koalitionsvereinbarung verkündet nun das Gegenteil: Minijobs sollen ausgebaut werden. Die Geringfügigkeitsgrenze soll von 450 auf 520 EUR sozialversicherungsfrei angehoben werden. Das freut alleine die Unternehmer:innen und Wohlhabende, werden doch für sie prekäre Arbeitsverhältnisse wie Minijobber:innen und Haushaltshilfen noch lohnender. Für die in Minijobs Beschäftigten sind Entqualifizierung und Altersarmut vorprogrammiert.

Geringfügige Beschäftigung

Mit der Agenda 2010 in den Jahren 2002 – 2004 wurde neben der Schaffung eines Niedriglohnsektors auch die „geringfügige Beschäftigung“ neu geregelt. Seitdem steigt die Zahl der Minijobs kontinuierlich an. 2019 waren ca. 7 Millionen Menschen in einem 450-Euro-Job beschäftigt, d. h. jedes 5. Beschäftigungsverhältnis in Deutschland ist ein prekäres. Nur für ein Drittel stellt der Minijob einen Nebenverdienst dar, aber für zwei Drittel der in diesem Bereich Beschäftigten das alleinige Einkommen. Das ist mit massiven negativen Folgen verbunden: Eine Einzahlung in die Renten- und Sozialkassen findet praktisch nicht statt. Der/Die „Arbeitgeber:in“ kann einen Pauschalbetrag zur Rentenversicherung über die Minijobzentrale einzahlen, was aber lediglich bei 450 EUR Einkommen zu einem Rentenzuwachs in Höhe von 3,64 EUR/mtl. führt, so dass ca. 80 % der Minijobber:innen sich von der Rentenversicherungspflicht befreien lassen.

Ebenso sind sie nicht gegen Arbeitslosigkeit versichert, was in der Corona-Krise für ca. 2 Millionen entlassene Minijobber:innen fatale Folgen hatte. Weder besteht ein Anspruch auf Arbeitslosen- noch Kurzarbeiter:innengeld, so dass sie Leistungen beim Jobcenter beantragen mussten. Darüber hinaus werden ihnen grundlegende Rechte systematisch vorenthalten. Grundsätzlich stehen geringfügig Beschäftigten die gleichen Rechte zu wie Vollzeitbeschäftigten. So haben sie einen Anspruch auf bezahlten Urlaub, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Mutterschutz oder Elternzeit. Die Realität sieht anders aus. Laut einer Studie des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) erhält rund ein Drittel keinen bezahlten Urlaub und fast der Hälfte wird die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall verweigert. Ebenso werden gesetzliche Pausen und Ruhezeiten eher selten eingehalten. Zudem verfügen mehr als die Hälfte über eine Ausbildung in dem Bereich, in dem sie beschäftig sind, werden aber i. d. R. mit Mindest- oder Aushilfslohn abgefertigt.

So ist es kein Wunder, dass eine eigenständige Existenzsicherung mit einem Minijob nicht möglich ist. Die materielle Abhängigkeit, besonders von Frauen, von einem Partner mit Einkommen wird so gefördert. Wer nicht in dieser „glücklichen“ Lage ist, wie viele alleinerziehende Frauen, dem/r bleibt nur der Gang zum Jobcenter. 2020 bezogen mehr als 1 Millionen berufstätige Menschen, als sog. Aufstocker:innen, Leistungen nach SGB II (Hartz IV). Ein Drittel davon ist als Minijobber:in beschäftigt. Durch die rot-grüne Koalition wurde mit der Agenda 2010 faktisch ein Kombilohn zugunsten der Unternehmen geschaffen, der auf Kosten der Lohnabhängigen jährlich mit 10 Milliarden EUR subventioniert wird und zusätzlich den Sozialversicherungen Einnahmeausfälle von über 3 Milliarden EUR beschert.

Wurden jahrelang Minijobs, gerade für Langzeitarbeitslose, also Hartz-IV-Bezieher:innen, als Brücke zurück in den 1. Arbeitsmarkt angepriesen, zeigt die o. g. Studie des IAB, dass das Gegenteil der Fall ist: Minijobs verdrängen im großen Stil reguläre Arbeitsverhältnisse und stellen nur in sehr geringen Umfang eine Brücke in den 1. Arbeitsmarkt dar. Einmal Minijobber:in, immer Minijobber:in ist die Realität. Betroffene verbleiben vielmehr „oft im Niedriglohnsegment und arbeiten in vielen Fällen unterhalb ihres Qualifikationsniveaus“, so die Bilanz des IAB. Allein in Kleinbetrieben sollen lt. IAB 500.000 reguläre Arbeitsplätze durch Minijobs abgebaut worden sein.

Was tun die Gewerkschaften?

Haben die Gewerkschaftsspitzen von 2002 – 2004 unter Rot-Grün aktiv an der Regierungs-/Unternehmer:innenkommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ unter der Leitung des VW-Personalvorstandes Hartz mitgewirkt und die Legalisierung von Minijobs als Nebenerwerb und die Entgrenzung der Tätigkeit von 15 Wochenstunden unterstützt, so ist ihr Verhalten heute ambivalenter. Schließlich haben „hunderttausende Beschäftigte im Gastgewerbe ihren Minijob in der Corona-Krise verloren – ohne jede Absicherung durch Kurzarbeiter- oder Arbeitslosengeld. Minijobs sind eine Falle und dienen oft dazu, Schwarzarbeit zu legitimieren“ (Guido Zeitler, Gewerkschaft NGG). Der DGB fordert, geringfügige Beschäftigung sollte vollständig sozialversicherungspflichtig werden.

Die Konsequenz aus diesen Einsichten, die Organisierung von prekär Beschäftigten voranzutreiben, um für die Abschaffung solcher Arbeitsverhältnisse zu kämpfen, bleibt jedoch aus. Stattdessen setzen die Gewerkschaften auf folgenlose Appelle an die Regierung und fordern staatliche Regulierung. Nach dem Willen des DGB sollen Beschäftigte vom Staat besser über ihre Rechte aufgeklärt und Verstöße gegen den Gleichheitsgrundsatz härter bestraft werden.

Haushaltshilfen

Deutlich wird dieser staatskorporatistische Umgang des DGB mit der wachsenden prekären Beschäftigung am Beispiel von Minijobs in Privathaushalten. Von den ca. 3,6 Millionen Haushaltshilfen, die in deutschen Haushalten arbeiten, sind ca. 80 % nicht über die Minijobzentrale angemeldet, also illegal beschäftigt. Ein Großteil arbeitet als Pflegekräfte in den Familien.

Besonderer Beliebtheit erfreut sich hier das Modell der „24-Stunden-Pflege“. Das System der 24-Stunden-Pflege alter Menschen in den eigenen vier Wänden funktioniert vor allem, weil Zehntausende schlecht bezahlter ausländischer Pflegekräfte, vorwiegend Frauen aus EU-Osteuropa und der Ukraine, sie betreuen, pflegen und versorgen. Für das deutsche Pflegemodell sind die osteuropäischen Betreuungskräfte mittlerweile systemrelevant. Ohne sie würde das System zusammenbrechen, sie ersparen den Pflegekassen Milliardenbeträge. Dafür schaut der Staat seit Jahren weg und toleriert die durch die Bank prekären Arbeitsbedingen der osteuropäischen Pflegekräfte. Die arbeiten in der Regel unter sehr fragwürdigen Bedingungen: rund um die Uhr, kein Urlaub, wenig Geld (1.300 – 1600 EUR). „Das Bundesarbeitsgericht in Erfurt hat dem Laissez-Faire durch ein Grundsatzurteil nun Grenzen gesetzt. Das höchste deutsche Arbeitsgericht entschied, dass einer Bulgarin, die von einer bulgarischen Agentur vermittelt wurde und die nach eigenen Angaben rund um die Uhr eine über 90 Jahre alte Seniorin in Berlin versorgte, der deutsche Mindestlohn zusteht – auch für Bereitschaftszeiten. Das System der 24-Stunden-Pflege gerät damit ins Wanken.“ (ARD,Tagesschau, 25.06.2021)

Das Grundsatzurteil setzt dieser Praxis nun Grenzen? Oder? Davon ist noch nichts zu sehen und nichts zu erwarten. Danach stehen einer 24- Stunden-Pflegekraft über 9.000 EUR/mtl. zu. Das können sich nur wenige leisten. Zudem ist der Entscheid erstmal ein Einzelurteil für die bulgarische Pflegekraft. Dass nun massenhaft Klagen bei den Arbeitsgerichten eingehen, ist bisher nicht der Fall und auch nicht zu erwarten. Denn auch die meisten migrantischen Pflegekräfte sind auf die Scheißjobs angewiesen, da Besseres nicht zu haben ist – nicht in Deutschland und in ihren Heimatländern schon gar nicht. So schränkt man sich ein, wohnt im Haushalt der Pflegebedürftigen, pflegt, kocht, putzt und kümmert sich 12 Std. am Tag und schläft auf dem Sofa neben dem Pflegefall in Dauerbereitschaft. Für Unterkunft und Verpflegung werden i. d. R. noch einige Hundert EUR angerechnet, sodass oftmals weniger als 1.000 EUR netto an die Familie ins Heimatland geschickt werden können, die dort ihren Lebensunterhalt notdürftig sichern. „Unzulässige Arbeitszeiten, mangelnde Integration und soziale Absicherung, aber auch unklare Qualifikation und Haftung sind nur einige der kritischen Punkte“, so der Forderungskatalog von Andreas Westerfellhaus, des Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung. Die 24-Stunden-Betreuung müsse daher zu einem „Megathema der Politik“ werden. Das Ziel sei weder, funktionierende Pflegesettings zu zerstören noch prekäre Arbeitsbedingungen und fragwürdige rechtliche Konstellationen zu tolerieren.

Das Gesundheitsministerium sieht das offenbar anders. Es gebe keine Pläne, die in Deutschland geltenden Ausnahmen von internationalen Arbeitsschutzvorschriften für 24-Stunden-Pflegekräfte zu ändern, schreibt es. „Bedarf für Änderungen mit Blick auf das von Deutschland ratifizierte Übereinkommen Nr. 189 über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte der internationalen Arbeitsorganisation sieht die Bundesregierung nicht“, heißt es in der Antwort des Ministeriums auf eine Anfrage der Linkspartei. Die Konvention der internationalen Arbeitsorganisation ILO regelt unter anderem die Arbeitszeiten. Davon sind in Deutschland aber Personen ausgenommen, die im Haushalt von Pflegebedürftigen leben. Dazu zählen damit auch Beschäftigte im Rahmen einer 24-Stunden-Pflege.

So bleibt erst einmal alles beim Alten.

Im Konzept des DGB, mit dem schönen Namen „Arbeitsplatz Privathaushalt – Gute Arbeit ist möglich“, steht nicht etwa die Interessenvertretung der meist migrantischen Beschäftigten im Zentrum, sondern die Bezuschussung professioneller Dienstleister:innen zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung im Haushalt. Auch sollen nicht mehr die Vermittlungsagenturen, bei denen die ausländischen Haushaltshilfen rechtlich angestellt sind und die fette Vermittlungsprovisionen kassieren, nach den Plänen des DGB für die Sozialversicherungsbeiträge aufkommen, sondern der Staat. Zudem soll der Zoll bisher unzulässige Kontrollen in Privathaushalten durchführen, um die Schwarzarbeit zu bekämpfen.

Während in Europa und weltweit immer mehr Gewerkschaften prekär Beschäftigte organisieren und diese Schichten der Arbeiter:innenklasse vielerorts schon das Rückgrat der Gewerkschaftsbewegung bilden, um mit konsequenten Arbeitskämpfen für eine Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen zu kämpfen, setzen die deutschen Gewerkschaften auf staatliche Regulierung und Kontrollen statt auf gewerkschaftlichen Kampf mit den Betroffenen.

  • Abschaffung aller nicht sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsmodelle!
  • Keine Beschäftigungsmodelle unterhalb des Mindestlohn im Beschäftigungsland, wie z. B. für Haushaltshilfen, Saisonarbeitskräfte/Erntehelfer:innen, Werk- und ausländische Arbeitsverträge!
  • Aufnahme von allen in Deutschland beschäftigten Ausländer:innen in die Gewerkschaften.



Corona und die mörderische Politik des Kapitals

Katharina Wagner, Infomail 1172, 7. Dezember 2021

„Hello again“! Gemeinsam mit FreundInnen Geburtstag feiern, volle Fußballstadien und Konzerthäuser, Rockkonzerte inkl. Stagediving und Enkelkinder, die lachend in die Arme ihrer Omas laufen. Wer sehnt sich nicht danach? Dies alles zeigt ein Video des Bundesgesundheitsministeriums, produziert im Juli 2021, und möchte damit für eine Impfung gegen Corona werben, „Holen wir uns das Leben zurück. Jede Impfung zählt“. Geklappt hat dies nicht wirklich. Mit einer aktuellen Impfquote von 68 % (Quelle: https://ourworldindata.org/covid-vaccinations?country=OWID_WRL) liegt die BRD immer noch weit weg von einer notwendigen Quote von 80 – 90 %. Und die Infektionszahlen in Deutschland steigen seit Wochen kontinuierlich an, und das bereits vor dem Auftreten neuartiger Virusmutanten. Daher nimmt auch die Diskussion über eine allgemeine Impfpflicht immer mehr an Fahrt auf und wird mittlerweile auch von Teilen der Politik aufgegriffen, die bisher strikt dagegen waren. Aber ist dies wirklich das wirksamste Mittel zur Bekämpfung der Pandemie und wie sieht der aktuell anwendbare Maßnahmenplan für Bund und Länder denn überhaupt aus?

Aktueller Maßnahmenkatalog – wirksam oder unzureichend?

Seit Wochen steigende Infektionszahlen, mittlerweile mehr als 100.000 Tote allein in Deutschland, überlastete Krankenhäuser, Patientenverlegungen mithilfe der Luftwaffe und „milde“ Triage in Thüringen und Sachsen – so lässt sich die aktuelle Infektionslage wohl am besten beschreiben. Trotz alledem wurde am 19.11.2021 das neue Infektionsschutzgesetz im Bundesrat einstimmig verabschiedet und gleichzeitig die epidemische Notlage nicht über den 25.11. hinaus verlängert, trotz zahlreicher Warnungen aus Opposition und Wissenschaft (Quelle: https://www.fr.de/politik/corona-regeln-lockdown-infektionsschutzgesetz-bundestag-bundesrat-entscheidung-news-zr-91122826.html). Denn damit wird der bundesweite Maßnahmenkatalog zugunsten unterschiedlicher Regeln der einzelnen Bundesländer flexibilisiert. Das wird als stärkere Handlungsfähigkeit verkauft.

Doch welche Maßnahmen beinhaltet das Gesetz denn jetzt genau? Zum einen neue Regelungen, darunter eine Wiedereinführung der Homeofficepflicht sowie die 3G-Regel am Arbeitsplatz und im öffentlichen Nah- und Fernverkehr. Dies bedeutet, wer nicht geimpft oder genesen ist, muss nun täglich ein negatives Ergebnis eines zertifizierten Antikörpertests vorzeigen können. Um gefälschte Impfpässe zu umgehen, gilt zudem zukünftig nur noch das digitale Impfzertifikat als Nachweis. Während bei ersterem die Kontrolle bei den Arbeit„geber“Innen liegt und diese sie täglichen nachweisbar dokumentieren müssen, soll es im Nah- und Fernverkehr lediglich Stichproben geben. Bei Verstößen drohen je nach Bundesland Strafen bis zu mehreren Tausend Euro (Quelle: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/buerokratieabbau/3g-regel-in-bus-und-bahn-1983736). Die Deutsche Bahn zieht bisher ein positives Fazit. In den ersten Tagen wurden im Fernverkehr rund 400 Verbindungen kontrolliert (Quelle: https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2021/11/berlin-brandenburg-bvg-sbahn-vbb-3g-kontrollen-bilanz.html). Beim ÖPNV sind aufgrund von häufigem Fahrgastwechsel und Haltestellen in kurzen Abständen generell keine vollständigen Kontrollen möglich. Das bisherige Fazit der jeweiligen AnbieterInnen fällt daher gemischt aus. Vor allem fehle es bei kleineren Verkehrsbetrieben häufig an Personal (Quellen: https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2021/11/berlin-brandenburg-bvg-sbahn-vbb-3g-kontrollen-bilanz.html). Des Weiteren wurde die Testpflicht für Beschäftigte und BesucherInnen in Krankenhäusern sowie Pflegeeinrichtungen ausgeweitet. Auch eine berufsbezogene Impfpflicht soll Anfang 2022 eingeführt werden. Maßnahmen wie Abstandsregeln und Maskenpflicht bleiben weiterhin bestehen und je nach Infektionslage können seitens der Länder Maßnahmen wie 3G, 2G oder 2G plus Test beschlossen werden.

Gleichzeitig werden aber weitreichende Maßnahmen wie Schulschließungen, Ausgangsbeschränkungen, Beherbergungsverbote oder flächendeckende Stilllegung von Gastronomie und Einzelhandel nach Ablauf einer Übergangsfrist ab dem 15.12. quasi verboten (Quelle: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/infektionsschutzgesetz-1982318). Schon vor den Abstimmungen im Bundestag bzw. Bundesrat gab es deshalb lautstarke Kritik, die dort enthaltenen Maßnahmen würden nicht ausreichen, um die aktuelle Welle zu brechen. Um eine Zustimmung des Gesetzes dennoch zu erreichen, wurde bereits im Vorfeld eine Evaluierung und ggf. Anpassung nach einem Zeitraum von 3 Wochen beschlossen. Dieser wurde aber letztlich sogar verkürzt. Aufgrund weiterhin stark steigender Infektionszahlen, dem drohenden Kollaps deutscher Kliniken und von Intensivstationen und einer neu auftretenden und höchstwahrscheinlich ansteckenderen Virusmutation namens Omikron sah sich die neue Ampelkoalition bereits am 02.12. nach mehreren BundesministerInnenkonferenzen dazu gezwungen, das Gesetz zu modifizieren.

Diese modifizierte Form enthält nun zusätzlich unabhängig von den jeweiligen Inzidenzzahlen eine bundesweite 2G-Zugangsregelung für den gesamten Einzelhandel, Geschäfte des täglichen Bedarfs ausgeschlossen, sowie Freizeit- und Kultureinrichtungen. Auch gibt es wieder Begrenzungen der Zuschauerzahlen bei Kultur-, Freizeit- oder Sportveranstaltungen. Bei hohen Inzidenzen sollen diese nach Möglichkeit seitens der Länder untersagt sowie spätestens bei Überschreiten einer Inzidenz von 350 Clubs und Diskotheken geschlossen werden. Ein weiterer Baustein im modifizierten Gesetz sind Kontaktbeschränkungen. Auch weitere Maßnahmen wie Alkoholverbote, Beschränkungen von Versammlungen oder Hotelübernachtungen sollen Ländern mit hohen Inzidenzen auch weiterhin zur Verfügung stehen. Und zu guter Letzt wurde die oben bereits angesprochene Übergangsfrist für bisherige Schutzmaßnahmen über den 15.12.2021 hinaus verlängert (Quelle: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/corona-diese-regeln-und-einschraenkung-gelten-1734724).

Halbherzigkeit

Diese Maßnahmen sind nicht neu. Bereits im letzten Winter wurden sie angewendet, um steigende Infektionen und eine Überlastung der Krankenhäuser zu verhindern. Wirklich funktioniert hat das schon damals nicht, obwohl 2020 die Infektionslage deutlich besser war als im Moment. Schulen mussten dennoch geschlossen werden, um die Infektionslage überhaupt irgendwie in den Griff zu bekommen. Nicht wenige rechnen auch in diesem Winter wieder mit flächendeckenden Schulschließungen, auch wenn dies im Moment von den politischen EntscheidungsträgerInnen noch vehement verneint und dafür auf die oben genannten Maßnahmen verwiesen wird. Diese werden es schon richten und als Retterinnen für das christliche Weihnachtsfest verkauft. Dabei wird hier besonders deutlich, dass die Gesundheitsinteressen wieder einmal oder besser gesagt immer noch zugunsten von Profitinteressen zurückgestellt werden. Aus der Wirtschaft kommt bereits starke Kritik an der eingeführten 2G-Regel im Einzelhandel mitten im Weihnachtsgeschäft. Dies würde zu Umsatzverlusten von bis zu 50 % führen. Aus diesem Grund seien daher sofortige Nachbesserungen der Wirtschaftshilfen notwendig  (Quelle: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/einzelhandler-bangen-wegen-der-zweigregel-101.html). Und auch die Diskussion um eine allgemeine Impfpflicht wurde durch erste Forderungen seitens der Wirtschaft erst so richtig angefacht, bisher aber von allen politischen EntscheidungsträgerInnen stets deutlich abgelehnt (Quelle: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/impflicht-3g-2g-arbeitsplatz-lockdown-101.html). Die ganzen Maßnahmen sollen zeigen, dass die Politik die Lage ernst nimmt und unter Kontrolle bringen kann. Sie sollen vom eigentlichen Versagen des politischen Establishment in Zuge der Pandemie ablenken, aber eine wirkliche Lösung zur Beendigung der Pandemie sind sie nicht. Nicht nur zahlreiche VirologInnen, auch die nationale Akademie der Wissenschaft Leopoldina forderte daher am 27.11. sofortige Kontaktbeschränkungen, um die Infektionszahlen schnell und drastisch senken zu können. Zwar könnten auch die eingeführten Regelungen zu 2G/3G diesen Effekt bewirken, allerdings würde dies einen längeren Zeitrahmen erfordern und höhere Sterbezahlen verursachen. Zusätzlich wird ein rascher Anstieg der Impfquote durch Ausweitung der bisherigen Impfkapazitäten gefordert

(Quelle: https://www.leopoldina.org/fileadmin/redaktion/Publikationen/Nationale_Empfehlungen/2021_Coronaviurs-Pandemie_Klare_und_konsequente_Maßnahmen.pdf). Aber schon jetzt stoßen die bestehenden Impfkapazitäten, auch aufgrund der zahlreichen Schließungen von Impfzentren im Sommer und Herbst, an ihre Grenzen. Es werden Zweifel laut, ob es überhaupt gelingen kann, bis Weihnachten die versprochenen 30. Mio. BürgerInnen zu impfen bzw. zu boostern. Auch wird es aus Sicht zahlreicher WissenschaftlerInnen zum jetzigen Zeitpunkt allein durch Auffrischungsimpfungen nicht zu einem Brechen der 4. Welle kommen können (Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/nebenwirkungen-und-impf-reaktionen-was-bei-der-booster-impfung-mit-biontech-und-moderna-zu-beachten-ist/27803742.html). Aber nicht nur das, auch die aktuellen Testkapazitäten für Schnell- und PCR-Tests sind am Limit und gefährden damit eine effiziente Pandemiebekämpfung, stellt doch das Testen einen wichtigen Baustein derer dar.

Zwar sind einzelne Maßnahmen durchaus sinnvoll, doch bleibt das Handeln der Regierungen Stückwerk. Ein Lockdown für Kitas, Schulen und Betriebe gilt als ausgeschlossen. Man laviert sich weiter mit halbherzigen Regeln durch, die zudem immer wieder geändert werden und sich zudem von einem zum anderen Bundesland ändern. Die heilige Kuh Profitwirtschaft steht notwendigen und energischen Gesundheitsmaßnahmen entgegen. Die Kinder dürfen nicht zu Hause bleiben, nicht weil sie etwas lernen sollen, sondern ihre Eltern arbeiten gehen können. Nur beim Freizeitspaß ist man strenger. Es fehlt ein Krisenstab, der entschlossen die notwendigen Maßnahmen umsetzt. Stattdessen lassen sich wirkliche und selbsternannte ExpertInnen in Talkshows aus.

MarxistInnen befürworten eine umfassende Impfpflicht ab möglichst niedrigem Alter. Für Kinder ab 6 Jahre liegen positive Studien vor. Die Impfpflicht macht aber nur dann Sinn, wenn die unnötig komplizierte und langwierige Vakzinbeschaffung durch schleunige Belieferung wie bei allen übrigen Medikamenten ersetzt wird und flächendeckende Impfzentren eingerichtet werden. Statt sich auf die üblichen globalen Lieferketten für Testkits zu verlassen, müssen Produktionskapazitäten im Inland her! Es ist ein Skandal, dass nach 2 Jahren Pandemie sich hier so gut wie nichts getan hat. Auf die Kontrolle seitens der Unternehmen darf sich die ArbeiterInnenklasse nicht verlassen. Alle KollegInnen müssen bis zum Ende der Pandemie vor Aufnahme ihrer Tätigkeit negativ getestet sein, auch Genesene und Geimpfte. Die Kosten müssen die UnternehmerInnen tragen. Die meisten Testzentren machen aber erst nach Arbeitsbeginn vieler Beschäftigter auf. Wie sollten diese ein aktuelles Ergebnis ohne obige Maßnahmen bekommen?

Und welche Maßnahmen brauchen wir wirklich?

Um die Inzidenzen wirklich drastisch und schnell senken und damit vor allem die Krankenhäuser und Intensivstationen entlasten zu können, fordern wir als MarxistInnen einen sofortigen, flächendeckenden und solidarischen Lockdown. Dabei müssen nicht nur Freizeit und Kultur, sondern alle gesellschaftlich nicht notwendigen Produktionen und Tätigkeiten für mehrere Wochen ausgesetzt werden. Dies sollte einhergehen mit einer Schließung aller nicht lebensnotwendigen Betriebe und einer 100 % Lohnfortzahlung für alle betroffenen Beschäftigten. Nur so kann es gelingen, die Intensivstationen zu entlasten und weitergehende Triage und viele Todesopfer zu verhindern.

Einhergehen sollte dies mit einem weiteren Ausbau der bestehenden Impf- und Testkapazitäten und einem kostenlosen und unkomplizierten Zugang für alle BürgerInnen. Allerdings sollte uns bewusst sein, dass es uns mit Impfungen allein kurzfristig nicht gelingen wird, die Infektionszahlen soweit zu senken, um einen Zusammenbruch des Gesundheitswesens zu verhindern. Auch eine evtl. eingeführte Impfpflicht wird erst lang- und mittelfristig zu einer Verbesserung der Infektionslage beitragen. Für alle Beschäftigten im Pflegebereich fordern wir zudem eine sofortige Anhebung der Einkommen um mind. 500 Euro/Monat und einen weiteren Ausbau des gesamten Gesundheitswesens. Bezahlt werden muss dies durch eine massive Besteuerung der großen Kapitale und Vermögen.

Wenn uns die Pandemie eines gezeigt hat, dann dass sie nur im globalen Kontext bekämpft  werden kann. Daher muss auch die Forderung nach Aufhebung aller Patente für Impfstoffe und Medikamente in Bezug auf die derzeitige Pandemie gestellt und ein massiver Ausbau der globalen Impfstoffproduktion auf die Tagesordnung gesetzt werden. Wichtig ist in diesem Kontext auch die Kombination mit einem umfassenden Wissens- und Technologietransfer. Um dies zu erreichen, ist die Enteignung großer Pharma- und Biotechnologieunternehmen unter ArbeiterInnenkontrolle zwingend notwendig. Denn nur so wird es möglich sein, das immer wiederkehrende Auftreten neuartiger Virusmutationen dauerhaft zu reduzieren und die Pandemie zu kontrollieren. Dabei dürfen wir uns nicht auf die bürgerliche Politik und die herrschende Klasse verlassen. Die Kontrolle der Umsetzung und weiteren Überwachung dieser Maßnahmen muss durch die internationale ArbeiterInnenklasse erfolgen. Dabei nehmen vor allem die Gewerkschaften und andere Organisationen der ArbeiterInnenklasse eine Schlüsselposition ein. Nur unter deren Kontrolle wird es uns gelingen zu verhindern, dass weiterhin Profitinteressen über Gesundheitsinteressen gestellt werden und dies vielen Menschen weltweit das Leben kostet.