Krankenhausreform: Kliniksterben in zwei Stufen

Jürgen Roth, Neue Internationale 276, September 2023

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte eine „Revolution“ angekündigt, doch seine Krankenhausreform endete als laues Lüftchen nach der Einigung mit seinen Länderkolleg:innen. Doch über die bundesdeutsche Kliniklandschaft wird sie als Orkan fegen, der Schneisen der Verwüstung hinterlassen wird.

Drohendes Defizit

Nach einem für 2023 gestopften Milliardenloch droht für 2024 ein erneutes Defizit. 2022 erzielten die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) noch ein Plus von 451 Millionen Euro. Die Einnahmen hatten sich pro Mitglied durch reguläre und Zusatzbeiträge um 4,37 % erhöht, die Ausgaben nur um 4,09 %. Doch die strukturellen Finanzierungsprobleme sind längst nicht beseitigt. Ihr Spitzenverband moniert, dass der Bund sich mehr an der Finanzierung versicherungsfremder Leistungen wie Schwangerschafts- und Mütterversorgung beteiligen müsse. Das brächte allein 10 Milliarden zusätzlich ein.

Eigentlich wollte das Bundesgesundheitsministerium bis zum 31. Mai 2023 Empfehlungen für eine „stabile, verlässliche und solidarische Finanzierung“ vorgelegt haben. Daraus wurde nichts. Die Finanzierungslücke von 17 Milliarden Euro für 2023 wurde mit einmaligen Maßnahmen geschlossen. Unter anderem wurden Reserven der GKV und des Gesundheitsfonds, eines bürokratischen Monsters zwecks Risikoausgleichs zwischen den einzelnen Kassen, um 7,2 Milliarden abgebaut und der Zusatzbeitrag stieg von 1,36 auf 1,51 % (2,5 Milliarden).

Der GKV-Spitzenverband favorisiert eine Neuausrichtung der Krankenhausversorgung und fordert eine Verminderung der Klinikanzahl um 400 auf 1.250. Dabei wurden seit Einführung der Fallpauschalen (DRGs) 2004 ein Viertel aller Kinderkliniken geschlossen, 40 % Betten abgebaut, obwohl die Zahl der Kinder in Deutschland von 9,8 Millionen 2013 auf 10,9 Millionen 2022 zugenommen hat. Bis 2025 wird ein Viertel der Kinderärzt:innen in den Ruhestand gehen.

Ursachen

Bei Fortschreibung der Ertragsabschlüsse von 2021 bis 2023 droht bereits dieses Jahr 18 % der Krankenhäusern die Insolvenz, 2030 44 %. Ende diesen Jahres schrieben dann 47 % keine schwarzen Zahlen, 2030 58 %. Seit Beginn der Pandemie haben sie insgesamt 13 % weniger Patient:innen. Im Jahr 2021 waren die 437.000 Betten der Allgemeinkrankenhäuser nur zu 66 % ausgelastet. Der Krankenhaus-Rating-Report fordert denn auch einen Abbau auf 310.000 Betten, 1.165 Einrichtungen würden ausreichen. Diese Berechnung bleibt also noch unter der Zahl des GKV-Spitzenverbands.

Zudem wird es im Gegensatz zu akuten Pandemiezeiten keinen staatlichen Rettungsschirm mehr geben. 20 % der noch stationär erbrachten Leistungen könnten künftig ambulant erfolgen, so der Report. Doch die Hoheit über den stationären Sektor liegt bei den Ländern. Baden-Württemberg und Bayern verzeichnen mit 40 % den höchsten Anteil von Häusern mit Verlusten. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) verlangt ein Vorschaltgesetz zum Inflationsausgleich. Die Erlössteigerungen von insgesamt 6,5 % für 2022 und 2023 seien bei Preissteigerungen um 17 % unzureichend. Monat für Monat verschuldeten sich die Häuser um weitere 600 Millionen Euro.

Kernpunkte der Reform stoßen auf Widerstand

Dazu zählen 1. eine Änderung des Vergütungssystems, 2. Neuordnung mit Versorgungsstufen, 3. Einführung von Leistungsgruppen. Spezialisierung und Konzentration werden hierbei mit Qualitätsverbesserung gleichgesetzt. Bei ausbleibender Reform wird eine Rationierung von Leistungen befürchtet.

Am 29. Juni 2023 erzielte die Bund-Länder-Runde keine Einigung. Die Länder blockierten eine einheitliche Regelung der Level (Versorgungsstufen) und schrieben weitere Ausnahmen zu den vorgesehenen Leistungsgruppen fest. Die DKG schätzt die finanziellen Belastungen infolge Kapazitätsverlagerungen, Fusionen und Neubauten auf einen Betrag zwischen 24 und 50 Milliarden Euro. Lauterbach verweigerte sich dem Ansinnen des Vorschaltgesetzes. Auch die Bundesländer hätten keine Möglichkeit, hier finanzielle Unterstützung zu leisten. Einzig das Konzept der Vorhaltepauschalen, die die Abrechnung nach DRGs aufweichen sollen, traf auf Zustimmung.

Am 29. Juni blieb von der Verpflichtung zur Einteilung in verschiedene Level lediglich ihr Charakter als Empfehlung über. Der Bund will aber im Rahmen einer sog. Transparenzoffensive eine Qualitätsbewertung der Kliniken offenlegen mit Daten zu Komplikationsraten, Fallzahlen, Facharztdichte und Pflegepersonalausstattung.

Vorhaltekosten, die unabhängig, ob Patient:innen behandelt werden, entstehen, sollen je nach Leistungsgruppe ermittelt werden. In der Übergangszeit wird ihr Anteil je nach Leistungsgruppe auf zwischen 20 und 40 % festgesetzt und für die vereinbarte Fallzahl dem Krankenhaus ausbezahlt unabhängig davon, ob diese auch erreicht wurde. Jede Fallpauschalenabrechnung wird um diesen Anteil gekürzt.

Ökonomisierung geht weiter

Eine Revolution sucht man in diesem Regelwerk vergebens. Die Reform soll budgetneutral gestaltet sein, also nichts kosten. Der Warencharakter der Behandlung bleibt erhalten, weil die Abrechnung über DRGs weiter erfolgt, wenn auch mit Abschlägen. Die tatsächlichen Vorhaltekosten werden nicht refinanziert, sondern als auf Fallzahlen bezogene Pauschalen erstattet. Eine zweckgebundene Verwendung ist nicht vorgeschrieben, so dass sie als Gewinne ausgeschüttet werden können.

Die um ihr wirtschaftliches Überleben ringenden Einrichtungen werden die Reform gar nicht erleben oder sie wird ihnen nicht helfen, da sie budgetneutral umgesetzt werden soll. Während niemand auf die Idee käme, die Feuerwehr für ihre Löscheinsätze zu bezahlen oder Gewinne zu erwarten, ist das beim stationären Sektor grundsätzlich anders. Letztlich bleibt für viele Häuser nur die Wahl zwischen kaltem oder reguliertem Strukturwandel, Sterben vor der oder durch die Reform.

Einigung

Am Montag, den 10. Juli 2023, erfolgte dann doch noch rechtzeitig zur Parlamentssommerpause die Einigung zu den Eckpunkten einer zukünftigen Krankenhausreform zwischen Bund und Ländern mit einer Gegenstimme aus Bayern und einer Enthaltung aus Schleswig-Holstein. Somit kann Lauterbachs Hoffnung aufgehen, das Gesetz nach den Lesungen in beiden Kammern zum 1. Januar 2024 in Kraft treten zu lassen. Die Veröffentlichung der Qualitätsdaten je Haus soll die Länder zum Handeln zwingen. Diese können entscheiden, ob sie 2025 oder 2026 in die Umsetzung gehen. Die Länder können als Plus verbuchen, dass sie bei der Definition von Leistungsgruppen mitwirken können und ihnen ihre jahrelange Unterfinanzierung der Investitionskosten nicht vorgehalten wird, die dazu geführt hat, dass die Kliniken auf Kosten von Personal und Patient:innen zum Ausgleich gezwungen wurden, mit noch mehr Fällen mehr Geld zu verdienen. Der Bund kreidet sich als Plus an, dass es kein zusätzliches Geld geben wird.

Lauterbach wurde nicht müde zu betonen, dass die Reform eine „Existenzgarantie für kleine Kliniken auf dem Land“ bedeute. Die „Revolution“ der Vorhaltepauschalen – der Minister sprach sogar von 60 % – ermögliche das. Es ist genau umgekehrt: Sie erhalten nur Kliniken, die entsprechende Qualitätskriterien bzgl. Ausstattung, Personal und Behandlungserfahrungen – sprich hohen Fallpauschalen – erfüllten. Sie nutzen also v. a. den Versorgungsstufen II und höher, je höher desto mehr – und der Volksverdummung durch den Bundesgesundheitsschwätzer!

Über den Sommer soll nun eine Arbeitsgruppe mit Vertreter:innen des Bundes sowie aus dem SPD-geführten Hamburg, dem grünen Baden-Württemberg, dem CDU-regierten Nordrhein-Westfalen und dem rot-roten Mecklenburg-Vorpommern ein Gesetz entwerfen. Nach Beschluss durch Bundestag und Bundesrat bis zum Jahresende soll es 2024 und 2025 in entsprechende Landesgesetze gegossen und jeweils ein Jahr später mit der Umsetzung begonnen werden.

Aufkommende Skepsis

DKG-Vorstand Gerald Gaß bemängelte, kaum waren die Eckpunkte festgezurrt, die vielen Prüfaufträge und Auswertungsanalysen, die noch realisiert werden müssten. Er fürchtete, die Mehrfachdokumentationspflicht werde durch die Vorhaltepauschalen noch größer. Zu den regionalen Gesundheitszentren gebe es keine genauen Vorstellungen. Ein Gerangel über die Zuständigkeiten sei zwischen Bundesländern und Kassenärztlichen Vereinigungen zu erwarten. Unklar bleibe auch, wer in welchem Umfang den Transformationsfonds finanzieren solle, klar indes, dass Konsens herrsche, dass vor der Reform Standorte verlorengehen würden, denn die Erlöse hinkten hinter den Kostensteigerungen (Inflation!) her. Ein Vorschaltgesetz sei ja dezidiert abgelehnt worden. Ins gleiche Horn tutete der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags Helmut Dedy. Zwar wollten einige Bundesländer ihre vernachlässigten Investitionen aufstocken, doch schon jetzt seien Finanzierungsprobleme mit Händen zu greifen. Laut Minister Lucha (Baden-Württemberg) erkennt die dortige GKV die Tarifsteigerungen in der Psychiatrie nicht an.

Im Gegenzug kritisierten die gesetzlichen Krankenkassen Pläne von Bund und Ländern, mit Zuschlägen für einzelne Leistungsgruppen in ihre Taschen zu greifen. Die Vorsitzende der Ärzt:innengewerkschaft Marburger Bund, Susanne Johna, wies darauf hin, schon die Zusammenlegung von Abteilungen und Umbauten seien nicht zum Nulltarif zu haben. Dem Deutschen Pflegerat fehlt eine jetzt gebotene neue Kompetenzverteilung der Gesundheitsfachberufe, sprich ein Bedeutungszuwachs für die Pflege.

Kritik der Linkspartei

„Integrierte Versorgung statt Kahlschlag in der Krankenhauslandschaft“ lautet ein 14-seitiges Konzept, das u. a. von den Bundestagsabgeordneten Kathrin Vogler und Ates Gürpinar sowie gesundheitspolitischen Sprecher:innen aus 8 Bundesländern erarbeitet wurde. Hintergrund sei die „Zurückdrängung“ von Profit und Kostendruck. Auch der Linksreformismus verschreibt sich also fruchtloser Sisyphusarbeit als Transformationsstrategie, als sei die zentrale Akkumulationsdynamik unterm Kapitalismus eine lässliche Option. Parteivorsitzende Janine Wissler beschwichtigte gleich die bürgerliche Öffentlichkeit. Man habe es, versichert sie, nicht auf die Enteignung privater Kliniken abgesehen, sondern um einen rechtlich sicheren Weg zur Entprivatisierungs- und Rekommunalisierungsoffensive. Hauptsache legal und dem Kapital nichts gestohlen, so ist der Weg zum Sozialismus für die Genossin zwar verbaut, aber „rechtlich sicher“. Solche Worte erinnern an den Tenor sämtlicher „Sozialisierungs“- und DWE-&-Co.-Expert:innenkommissionen zur Verschleppung und Verhinderung der Enteignung.

Statt Fallpauschalen Erstattung der tatsächlichen Kosten und Ausgleich der Defizite durch die öffentliche Hand. Der Stein der Weisen ist das nicht! Vor der Einführung der DRGs erstatteten die Krankenkassen nicht die tatsächlichen Kosten, sondern zurrten in zähen Verhandlungen das Budget mit jeder einzelnen Klinik fest. Und warum soll die öffentliche Hand das finanzieren statt durch eine Reichensteuer?

Ferner bemängelt DIE LINKE die fehlende Finanzierung, auch der Investitionskosten durch die Länder und warnt vor der Existenzgefahr für viele Häuser – vor der Reform wie durch sie selbst. In der Hauptstadt könnte von 60 nur die Hälfte übrigbleiben. Schon jetzt erhielten manche keine Kredite mehr und Fachkräfte bewerben sich nicht bei kleinen Einrichtungen. Die Auswahl der Reformberater:innen durch den Bundesgesundheitsminister sei undemokratisch. Patient:innen- und Beschäftigtenvertretungen fehlten, Arbeitsbedingungen stünden nicht zur Debatte. Als künftiges Rückgrat einer wohnortnahen und integrierten Gesundheitsversorgung empfiehlt DIE LINKE Versorgungszentren in kommunaler Trägerschaft mit ambulanten, stationären und notfallmedizinischen Leistungen aus einer Hand und Anbindung an Krankenhäuser höherer Versorgungsstufen. Zu einer Rettungsstelle dürften höchstens 30 Fahrminuten liegen. Dass diesem richtigen Vorschlag zur Einebnung der Unterschiede zwischen ambulantem und stationärem Sektor seitens der niedergelassenen Ärzt:innenschaft erbitterter Widerstand entgegenschlagen wird, darauf sollte sich die Linkspartei allerdings einstellen. Sie will nach der Reform wegfallende Häuser entweder mit Zuschüssen erhalten (von wem?) oder in medizinische Versorgungszentren nach skandinavischem Vorbild (mit Gemeindepflegekräften) umgewandelt sehen.

Bei aller Kritik ist dieses Konzept doch der Kritik am Strohhalm im Auge der Reform überlegen und in etlichen Punkten unterstützenswert.

Gemeingut in Bürger:innenhand (GiB)

Wesentlich härter als DIE LINKE geht GiB mit der geplanten Reform ins Gericht. Eine Analyse des Bundesgesundheitsministeriums selbst (!) bestätigt, dass demnach 40 % keine stationäre Allgemein- und Notfallversorgung anbieten, weil sie entweder zu ambulanten Gesundheitszentren oder reinen Fachkliniken „abgestuft“ werden. Die lautstarke Opposition der Länder sei lediglich Symbolpolitik. Klaus Holetschek (Gesundheitsminister Bayerns, CSU) habe gegen die Eckpunkte gestimmt, weil Lauterbachs Versorgungsstufen (Level) das Angebot in der Fläche reduzierten. Das tun aber auch die von ihm favorisierten Leistungsgruppen. Die Landesregierungen, die seit Jahren gesetzlich vorgeschriebene Investitionsmittel zurückhielten, könnten diese nun im Zuge des Reformkahlschlags ganz legal einsparen. Durch geplante Umwandlungen und Schließungen seien weit über 100.000 Stellen betroffen, es drohten weitere Wege zum Arbeitsplatz, noch mehr Bürokratie und Arbeitsverdichtung und der Verlust von Ausbildungsplätzen. Über das Programm der LINKEN hinaus fordert die Bürger:innenbewegung Renditeverbot und in 30 Minuten erreichbare Allgemeinkrankenhäuser mit mindestens den Abteilungen Chirurgie, Innere Medizin, Gynäkologie, Geburtshilfe, Intensivmedizin und Basisnotfallversorgung.

Lauterbach sei es gelungen, sein Prinzip von der Verwaltung des Mangels durchzusetzen. Zuvor hatte er in den Haushaltsberatungen so viele Kürzungen geschluckt wie kein anderes Ressort. Zum ganzen Prozedere passe auch die neue Richtlinie zur Ersteinschätzung in der ambulanten Notfallversorgung, wonach künftig in Rettungsstellen Patient:innen ohne ärztliche Begutachtung abgewiesen werden dürften. Die Einschätzung, Klinikschließungen könnten dem Markt mehr Personal zur Verfügung stellen und Geld für die Behandlungen sparen, weist GiB als Legende zurück. Werden an anderer Stelle mehr Patient:innen behandelt, braucht man dort auch mehr Personal. Viele Beschäftigte wollten aber gar nicht wechseln und bei größeren Konzentrationsprozessen dem Beruf den Rücken kehren. Auch Maximalversorger würden pro Bett mindestens die gleichen Summen brauchen.

Dem Fazit der GiB ist Recht zu geben: „Bis 2026 werden wir ein regelloses Sterben unter den 60 Prozent der Kliniken erleben, die seit Jahren rote Zahlen schreiben. Mit Inkrafttreten der Reform kommt die Phase des geregelten Kliniksterbens – dann steuert der Bund die Schließungen über seine Qualitätsvorgaben, die festlegen, dass kleine Krankenhäuser zumachen und ihr Personal an Großkliniken abgeben müssen.“ (GiB-Infobriefe 1.6.2023 und 13.7.2023)

Kliniksterben in zwei Stufen eben!

Gegenwehr und Forderungen

Doch weder DIE LINKE noch GiB gehen über mehr oder weniger richtige Vorschläge, Lobbyismus und Parlamentarismus hinaus.

Forderungen wie Gemeineigentum unter demokratischer Verwaltung verklären dagegen sowohl den bürgerlichen Staat wie seine Demokratie. Sie umgehen nicht nur die Frage der entschädigungslosen Enteignung bei der Wiederverstaatlichung der privaten Klinikketten, sondern suggerieren, staatskapitalistisches Eigentum sei schon Vergesellschaftung (Gemeineigentum). Der staatliche und frei-gemeinnützige Krankenhaussektor hinderte die herrschende Klasse in der BRD in der Vergangenheit ja nicht an umfangreichen Kostendämpfungsprogrammen, die schließlich über zahlreiche Stufen zur immer mehr gesteigerten Umwandlung in die heutige weiße Fabrik geführt haben und weiter führen werden.

Dagegen können nur Klassenkampfmethoden bis hin zum Generalstreik den geplanten Kahlschlag wirksam verhindern!

Erste Ansprechpartnerin dafür sollte die Krankenhausbewegung sein, von der der Startschuss dafür auf einer Strategiekonferenz gegen Krankenhausumstrukturierungen fallen muss. Schließlich hat sie für Entlastung zumindest teilweise erfolgreich bekämpft und sollte eine solche „Lösung“ der Personalknappheit unbeugsam bekämpfen.

Doch reicht ein Tarifvertrag dafür nicht. Auf Regierungskommission, ja selbst auf skeptische Bundesländer und DKG dürfen wir uns nicht verlassen! Die Arbeiter:innenbewegung braucht ihre eigene politische Gegenmacht in Gestalt von Kontrollräten über das gesamte Gesundheitswesen einschließlich seiner Finanzierung durch Progressivsteuern und gesetzliche Sozialversicherungspflicht für alle unter Kontrolle von Gewerkschaften, Beschäftigten und Patient:innen, um den Weg zu seiner nachhaltigen, integrierten, letztendlichen sozialistischen Umgestaltung einschlagen zu können.




Krankenhäuser: großer Kahlschlag geplant

Jürgen Roth, Neue Internationale 273, Mai 2023

In diesem Sommer soll das neue Krankenhausreformgesetz verabschiedet werden. Wenn sich die Vorstellungen der Regierungskommission um Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach durchsetzen, wird es damit zum größten Kahlschlag in der Krankenhauslandschaft nach dem Zweiten Weltkrieg kommen.

Vom Beifall in der Coronapandemie zum Kliniksterben

Was wurde doch das Krankenhauspersonal für seinen unermüdlichen Einsatz während der Pandemie mit Beifall von den Balkonen bedacht! Manche glaubten bereits, das Rad würde sich zurückdrehen, bessere Ausstattung und Arbeitsbedingungen sowie mehr Personal in den Kliniken seien die unvermeidliche Lehre aus den Defiziten, die das Virus damals im BRD-Gesundheitswesen schonungslos aufgedeckt hatte. Die Vorschläge der Bertelsmann-Stiftung, die Zahl der Krankenhäuser um zwei Drittel zu reduzieren, schienen damit endgültig vom Tisch. Doch ausgerechnet die, die unter Höchstlast Coronapatient:innen versorgt haben, sind jetzt akut von der Insolvenz bedroht.

Zahlen und Fakten

Beispiel Niedersachsen: Existierten in diesem Bundesland vor wenigen Jahrzehnten noch über 200 Kliniken, gelten derzeit 40 von noch verbliebenen 168 in den kommenden 10 Jahren als vom Aus bedroht. Laut Bundesrechnungshof steht bundesweit ein Zehntel kurz vor der Insolvenz, 40 % schrieben rote Zahlen. Gab es 1980 noch 3.783 Krankenhäuser mit 879.605 Betten, sind es heute noch knapp 2.000 mit etwa 500.000. Der Anteil in öffentlich-rechtlicher Hand ist auf 29 % geschrumpft, der privater Träger hat sich zwischen 1991 und 2018 von 15 % auf 37 % mehr als verdoppelt. Die NRW-Landesregierung gab eine Studie in Auftrag, der zufolge 60 % der dortigen Krankenhäuser zu schließen seien. Über 40 mussten seit 2020 schließen, darunter allein 13 im Jahr 2022. Die Zahl der akut bedrohten Kliniken erreicht aktuell mit 74 Einrichtungen einen traurigen Rekord.

Die Logik der Umgestaltung der Krankenhauslandschaft, die schon seit Jahren läuft, trifft v. a. kleinere Einrichtungen auf dem Land und läuft auf weniger, aber größere hinaus. Der Krankenhausstrukturfonds trägt dazu bei, dass Schließungen, Konzentrations- und Umwandlungsvorhaben auch noch mit Geld belohnt werden. Neben 34 in den letzten Jahren darunter fallenden Häusern wurden allein zwischen 2016 und 2018 36 Abteilungen an weiteren 24 Standorten geschlossen.

Gründe und Folgen

Die BRD finanziert ihre Krankenhäuser seit 1972 nach einem dualen System. Für den Bau, Unterhalt und für Investitionen sind die Bundesländer zuständig. Die laufenden Betriebskosten (Personal, Material) tragen die Krankenkassen. Beide Finanzierungssäulen werden seit Jahren vernachlässigt und untergraben.

Während die Inflationsentwicklung zwischen 2000 und 2021 – von der aktuell wesentlich höheren gar nicht zu reden – eine Investitionssteigerung von mehr als einem Drittel verlangt hätte, hat sich die Investitionsfinanzierung durch die öffentliche Hand den letzten 20 Jahren halbiert (2017: 44,3 %)! Der Krankenhaus Rating Report 2020 errechnete für mehr als ein Drittel der Häuser (600) ein mittleres bis hohes Insolvenzrisiko. Die Kliniken müssen, um überleben zu können, die fehlenden Investitionen aus Eigenmitteln aufbringen oder Kredite aufnehmen. Ihre Bilanzbelastung durch Schuldendienste hat sich im gleichen Zeitraum vervierfacht!

Bis zur Jahrtausendwende wurde die 2. Finanzierungssäule durch Kostenerstattung geprägt. Für jeden Tag Liegezeit erhielt die Klinik eine Pauschale, den Tagessatz. Dieses Verfahren löste der Gesetzgeber zwischen 1999 und 2002 durch die diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRGs) ab, es wurde nach Zahl und Schwere der behandelten Fälle gezahlt. Liegezeitverkürzung und Fallzahlerhöhung waren die Folge. Trotz massiver Stellenstreichungen – allein in der Pflege 60.000 – erhöhte sich die Patient:innenzahl um ein Fünftel. Folglich stieg der Arbeitsdruck enorm.

Aus den DRGs ergibt sich der Case Mix Index als Durchschnitt aller Diagnosepauschalen, die ein Haus den Krankenkassen zur Abrechnung vorlegt. Das Fatale an diesem Bezahlsystem ist die Verknüpfung der medizinischen Tätigkeit und Diagnose mit der Höhe der Erlöse. Tausende Kodierfachkräfte und Medizincontroller:innen ringen mit wiederum Tausenden ihrer Pendants bei den Kassen um jeden Cent.

Das Versagen der dualen Finanzierung, die Tatsache, dass jetzt Bilanzen – nicht medizinische Notwendigkeit – den Ausschlag gaben, bildet den Hintergrund für Schließungen und Privatisierungen. Heute steht Deutschland mit der Zahl der privatisierten Krankenhausbetten an der Weltspitze, noch vor den USA, denn immer mehr Kommunen können die Defizite nicht mehr ausgleichen. Weil das DRG-System die kinderärztliche Tätigkeit völlig unterbewertet, schlossen viele Kinderkliniken. Einen ähnlichen Weg geht die Geburtshilfe mit der Schließung zahlreicher Kreißsäle.

Die Erlaubnis, Gewinne machen zu dürfen – ein weiterer Meilenstein im Umbau der Krankenhauslandschaft zu einer Industrie wie jede andere –, führte neben der Einführung der DRGs ab den 1990er Jahren zu einem Privatisierungsschub. Die Privaten spezialisieren sich v. a. auf aufwendige Behandlungen, während Erhaltung und Grundversorgung schlecht vergütet werden. Durch Personaleinsparungen und Auslagerungen von Tätigkeiten an externe Dienstleister:innen bzw. outgesorcte Tochterunternehmen mit schlechteren Tarifverträgen für die Beschäftigten lassen sich Gewinne erzielen bzw. Defizite reduzieren.

Konturen der drohenden Krankenhaus„reform“

Im 1. Pandemiejahr schlossen doppelt so viele Kliniken (20) wie im Durchschnitt der Vorjahre. Dazu kamen 22 Teilschließungen und 50 von Schließungen bedrohte Einrichtungen, von denen 31 bereits feststanden. Im Koalitionsvertrag der Ampelbundesregierung wurde das Problem der flächendeckenden Klinikschließungen und der klinischen Unterversorgung mit keinem Wort erwähnt. Das DRG-System wurde nicht grundlegend in Frage gestellt.

Ein Teil der Kliniken kam kurzfristig im 1. Pandemiejahr mit einer Entlastung durch die Krise. Unmittelbar danach häuften sich die Hiobsbotschaften. Unter anderem Energie- und Beschaffungskosten stiegen schneller als die Erlöse. 60 % erwarten für 2022 tiefrote Zahlen. Folglich hatte die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) im Vorfeld des Treffens der Gesundheitsminster:innen des Bundes und der Länder Anfang Januar 2023 Forderungen nach mehr Geld angemeldet. Sie kritisierte die von der Expert:innenkommission der Bundesregierung für die geplante Krankenhausreform unterbreiteten Pläne für die Minister:innenkonferenz. Diese schlug 3 neue Vergütungskriterien vor: Vorhalteleistungen, Versorgungsstufen und Leistungsgruppen. Vorhaltung bedeutet, dass feste Beträge für Personal und Medizintechnik einer Notaufnahme fließen sollen, unabhängig davon, ob diese ständig gebraucht werden. Strittig blieb die Einteilung in 3 Level mit entsprechender Förderung: Kliniken der Grundversorgung für Notfälle und einfache chirurgische Eingriffe, Regel- und Schwerpunktversorgung und die dritte Gruppe der Maximalversorger. Neben dem Dilemma, sich nicht mit Fragen der Planung und Investitionsuntererfüllung durch die Länder beschäftigt zu haben, betrachtet der Kommissionsentwurf Gesamtkosten und Finanzierungsquellen nicht für den gesamten Gesundheitsbereich als Paket. Zu Recht forderte im Kontrast dazu der Sozialverband VdK eine vollständige Abkehr von jeder Gewinnorientierung und die Aufgabe der Fallpauschalen. Ein Bündnis aus 9 Initiativen, darunter Krankenhaus statt Fabrik, setzt sich für eine Gemeinwohlorientierung und Gewinnverbot im Sektor neben verbindlichen Personalschlüsseln und demokratischer Planung und Steuerung ein.

Der Vorschlag der Kommission wundert angesichts ihrer Zusammensetzung nicht: 14 Professor:innen, Führungskräfte des Sanakonzerns, Chefärzt:innen, Sozialrechtler:innen, aber niemand aus Gewerkschaft, Pflege oder Berufsverbänden. Umso dringender war es geboten, dass die Minister:innenkonferenz den Eindruck erwecken wollte, mit einem milden Zurückfahren der DRGs (Vorhaltung) die Probleme der stationären Versorgung lösen zu können. Dieses Zuckerbrot unterm Schlagwort Entökonomisierung soll aber die weit gewichtigeren Peitschen Versorgungsstufen und Leistungsgruppen übersehen helfen.

Pferdefüße

Auch wenn einige Bundesländer und die DKG betonten, eine „Eins-zu-eins-Umsetzung“ werde es nicht geben, deutet eine solche „Kritik“ mehr Kompromissbereitschaft als Kampfeswillen an.

1.) Das Zwei-Säulen-Modell aus Vorhaltung und Fallpauschalen (Hybridfinanzierung) führt ja nicht dazu, dass mehr Geld bei den Krankenhäusern ankommt. Es soll kostenneutral gestaltet und mit einem Budgetdeckel versehen werden. Die beiden weiteren Vorschläge – Einführung der Krankenhauslevel und Leistungsgruppen – zielen direkt auf eine radikale Veränderung der stationären Versorgung.

2.) Level 1i (Grundversorgung ohne ärztliche Anwesenheitspflicht 24 Stunden am Tag und 7 Tage in der Woche; Gesundheitszentren) soll nicht ärztlich, sondern von ausgebildeten Pflegekräften geleitet werden und nur über stationäre Pflegebetten verfügen. Ärztliche Verfügbarkeit rund um die Uhr ist nicht vorgesehen. Soll’s etwa der auf dem Land schon heute ausgedünnte niedergelassene Bereich mit der ärztlichen stationären Versorgung richten? Absurd! Den Vogel schießt der Kommissionsvorschlag aber mit der Einbeziehung der Angehörigen in die Pflege ab. Es ist davon auszugehen, dass die bundesweit 657 Krankenhäuser, die laut Gemeinsamem Bundesausschuss die Anforderungen an Notfallstufen nicht erfüllen, als Krankenhäuser zu existieren aufhören und Level-1i-Einrichtungen degradiert werden.

Solche des Levels 1n (Grundversorgung für Notfälle und einfache chirurgische Eingriffe) bleiben als solche erhalten, allerdings nur auf Basisniveau (Innere Medizin, Chirurgie, Notfallaufnahmen) – ohne Geburtshilfe!

3.) 128 (!) Leistungsgruppen werden z. B. die Innere Medizin rigoros aufsplitten. Rigide Mengenvorgaben, die automatisch Qualitätszuwachs und -sicherung suggerieren sollen verbieten Häusern mit vorhandener Kompetenz und Erfahrung zukünftig bestimmte Behandlungen. Fällt z. B. während einer Bauchspeicheldrüsen-OP der Herzschrittmacher aus, muss das Krankenhaus für die Leistungsgruppe Herzkrankheiten zugelassen sein, sonst darf es die erforderlichen Gegenmaßnahmen nicht durchführen. Behandelt es dennoch, dem Überleben des/r Patient:in zuliebe, wird es von den Krankenkassen abgestraft. Medizinisch unnötige Operationen werden zunehmen, wenn der Druck gegen Jahresende steigt, die erforderlichen Mengenvorgaben erfüllen zu müssen, um die Leistungsstufen„kompetenz“ beizubehalten.

4.) Alle 3 Reformvorschläge erfordern zusätzlichen Dokumentations- und Verwaltungsaufwand über das bisher durch die Abrechnung nach Fallpauschalen bereits bedingte eklatant hohe Maß von einem Drittel der Arbeitszeit hinaus. Fälle wie o. a. Pankreas-OP führen zu gesteigerten Auseinandersetzungen mit dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen.

Auch bei einer abgemilderten Umsetzung der Reform wird die durchschnittliche Lebenserwartung sinken. Wenn von 810 Geburtsstationen noch 428 übrig bleiben, werden mehr Mütter und Kinder sterben. In allen Bereichen werden sich die Wartezeiten verlängern. Das Beispiel Britannien winkt. Angesichts sinkender Klinikzahlen werden sich die der ausgebildeten Pflegekräfte parallel verringern, wird die ärztliche Ausbildung unter weiterer Spezialisierung leiden, werden ganzheitliche Behandlungsansätze aus dem Blickfeld verschwinden, weil sich die verbleibenden Einrichtungen auf Leistungsgruppen spezialisieren müssen.

Hinzu kommen: mangelnde ärztliche Versorgung in den Einrichtungen des Levels 1; noch längere Anfahrtswege bis zu den Kliniken der Level 2 ( Regel- und Schwerpunktversorgung) und 3 (Maximalversorger wie Unikliniken); Unklarheit, welche Klinik bei welchen Notfällen und Krankheitsbildern aufgesucht werden sollen inkl. damit über das schon jetzt überlastungsbedingte hohe Maß hinausgehender verbundener Abweisung von Patient:innen, unerträglich lange Wartezeiten auf Diagnosen und Behandlungen in den verbleibenden Kliniken und Rettungsstellen.

Gegenwehr und Forderungen

Das rührige Bündnis für Klinikrettung hat seit Jahren erheblich dazu beigetragen, auf das Kliniksterben aufmerksam zu machen und sich gründlich recherchierend energisch gegen die geplante „Reform“ ins Zeug gelegt. Mehr als 15.000 unterzeichneten eine Petition dagegen. Zu den ersten Unterzeichner:innen gehörte der heutige Bundesgesundheitsminister! Den Forderungen nach Selbstkostendeckung ist ebenso zuzustimmen wie denen des VdK und der 9 Initiativen. Die SoL fügt ihnen in ihrer 1. Ausgabe von Antiserum – Publikation der SoL für ein öffentliches Gesundheitswesen nach Bedarf, nicht für Profit die nach Überführung u. a. des Krankenhaussektors in Gemeineigentum unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung hinzu. Doch in doppelter Hinsicht wird von ihnen die Klassenfrage nur ungenügend aufgeworfen. Bürger:innenbewegungen und Lobbyismus, stellen zwar kein Hindernis dar, sie und ihre Forderungen zu unterstützen. Ja, auch wir haben die Petition unterschrieben und fordern alle Leser:innen auf, es uns gleichzutun. Doch nur Klassenkampfmethoden bis hin zum Generalstreik können den geplanten Kahlschlag wirksam verhindern!

Erste Ansprechpartnerin dafür sollte die Krankenhausbewegung sein, von der der Startschuss dafür auf einer Strategiekonferenz gegen Krankenhausumstrukturierungen fallen muss. Schließlich hat sie für Entlastung zumindest teilweise erfolgreich bekämpft und sollte eine solche „Lösung“ der Personalknappheit unbeugsam bekämpfen.

Doch reicht ein Tarifvertrag dafür nicht. Auf Regierungskommission, ja selbst auf skeptische Bundesländer und DKG dürfen wir uns nicht verlassen! Die Arbeiter:innenbewegung braucht ihre eigene politische Gegenmacht in Gestalt von Kontrollräten über das gesamte Gesundheitswesen einschließlich seiner Finanzierung durch Progressivsteuern und gesetzliche Sozialversicherungspflicht für alle unter Kontrolle von Gewerkschaften, Beschäftigten und Patient:innen, um den Weg zu seiner nachhaltigen, integrierten, letztendlichen sozialistischen Umgestaltung einschlagen zu können. Forderungen wie Gemeineigentum unter demokratischer Verwaltung verklären dagegen sowohl den bürgerlichen Staat wie seine Demokratie. Sie umgehen nicht nur die Frage der entschädigungslosen Enteignung bei der Wiederverstaatlichung der privaten Klinikketten, sondern suggerieren, staatskapitalistisches Eigentum sei schon Vergesellschaftung (Gemeineigentum). Der staatliche und frei-gemeinnützige Krankenaussektor hinderte die herrschende Klasse in der BRD in der Vergangenheit ja nicht an umfangreichen Kostendämpfungsprogrammen, die schließlich über zahlreiche Stufen zur immer mehr gesteigerten Umwandlung in die heutige weiße Fabrik geführt haben und weiter führen werden.




Wir fordern: Abmahnung von Leonie Lieb muss zurückgenommen werden

Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (vernetzung.org), Infomail 1218, 29. März 2023

Der Münchner Stadtrat plante die Schließung der Geburtshilfestation im Klinikum Neuperlach im Jahr 2024. Das hätte einen Rückschritt für eine wohnortnahe, sichere und qualitativ hochwertige Geburtshilfe im Münchner Osten bedeutet. Die betroffenen Beschäftigen haben deshalb im November 2022 eine Petition für den Erhalt der Abteilung gestartet. Mehr als 22.000 Menschen stimmten ihren Argumenten zu und unterschrieben die Petition. Außerdem organisierten sie eine Kundgebung in Neuperlach, besuchten die Stadtratsparteien, um sie an ihr Anliegen zu erinnern und traten in der Presse auf. Durch diesen öffentlichen Druck konnten sie die Stadtratsfraktionen der SPD und der Grünen dazu bewegen, die Entscheidung über den Erhalt der Station bis 2028 zu verschieben.

In einem Interview mit der Tageszeitung junge Welt sprach Leonie über das Engagement für den Erhalt des Kreißsaals und den Zusammenhang zwischen der drohenden Zusammenlegung des Kreißsaals mit dem Klinikum Harlaching und einem profitorientierten Gesundheitssystem. Die Klinik reagierte darauf mit einer Abmahnung, die sie formal mit einem angeblichen Verstoß gegen eine Dienstanweisung begründete. Wir verstehen die Abmahnung von Leonie als Einschüchterungsversuch gegen das Engagement für den Erhalt der Geburtshilfeabteilung. Wir fordern die Klinikleitung deshalb dazu auf, die Abmahnung zurückzunehmen. Wir rufen insbesondere Betriebsgruppen, Gewerkschaften, Parteien und Verbände dazu auf, sich mit Leonie und dem gesamten Team zu solidarisieren.

Mit der folgenden Unterschrift erkläre ich mich mit einer Veröffentlichung einverstanden.

* Bis zum 23. März haben über 300 Personen die Petition unterzeichnet. Die Unterschriften werden in den kommenden Tagen gesammelt und veröffentlicht.

Auswahl an Unterzeichenenden:

Yasmin Fahimi, DGB-Vorsitzende, IGBCE

Ates Gürpinar, MdB, die LINKE, ver.di / GEW

Stefan Jagl, Fraktionsvorsitzender der Fraktion DIE LINKE/Die PARTEI im Münchner Stadtrat, ver.di

René Arnsburg, Landesbezirksvorstand Berlin-Brandenburg, ver.di

Seija Knorr-Köning, Barmherzige Brüder, ver.di

Inés Heider, Kepler-Schule Berlin-Neukölln, GEW

Rojhat Altuntas, FAKS Giesing, GEW

Yunus Aktas, Vivantes Neukölln Azubi, ver.di

Anika Rzepka, Vivantes Service Gesellschaft, ver.di und KGK

Unterzeichnen:

https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLSf4Xt-ZR0cRuqg7hxtdthyfET1Foymxw-1YF_PvyaVrTLyBHw/viewform




Spanien: Massenproteste gegen Verfall des Gesundheitswesens

Ernst Ellert, Infomail 1217, 22. März 2023

Vor den Kommunal- und Regionalwahlen im kommenden Mai erhebt sich in Spanien eine riesige Protestwelle gegen die Verschlechterung der medizinischen Grundversorgung.

Madrid

Deren Speerspitze bildet die Hauptstadtregion. Hier regiert seit 2019 Isabel Diaz Ayuso (PP; Volkspartei). Die Konservativen stützen sich auf die neoliberalen Ciudadanos (Bürger:innen) und die ultrarechte Vox (Die Stimme). Am Sternmarsch im vergangenen November hatten sich 700.000 beteiligt. Am 12. Februar 2023 wurde ein neuer Rekord mit 1 Million erreicht. Am 1. und 2. März wurden die Notfallstationen bestreikt. Ayuso reagierte darauf, indem sie 100 % der Beschäftigten zur Minimalversorgung verdonnerte. Für den 26. März ist wieder eine Großdemonstration angesetzt.

Die Initiative „Grundversorgung für alle“ setzt auf zivilen Ungehorsam. Ihre Mitglieder ketten sich an Gesundheitsstationen. Die Pflegerin Cristina Sanz findet es nur richtig, dass sich die Bewegung explosiv ausbreitet. Verhandlungen hätten zu nichts geführt. Stattdessen sei eine Ausnahmesituation eingetreten, da Ayuso sogar das Sammeln von Unterschriften verbiete. Rosa López, Sprecherin der Gewerkschaft Summat, prüft eine Strafanzeige wegen Aushebelung des Streikrechts durch die Dienstverpflichtungen.

Drittklassige Grundversorgung

Im von Korruptionsskandalen geschüttelten Madrid zeigt sich das Missverhältnis im Gesundheitswesen besonders scharf. Der Hauptstadtfaktor führt dazu, dass es sich um die Region mit dem höchsten Durchschnittseinkommen handelt. Doch mit nur zehn Prozent des Budgets an Ausgaben für die Grundversorgung liegt sie abgeschlagen auf dem letzten Platz. Internationale Standards, die Ärzt:innen und Pfleger:innen durchsetzen wollen, sehen dagegen 25 % vor.

Einst verfügte Spanien gerade in einer funktionierenden Grundversorgung über ein relativ gut ausgestattetes und günstiges Gesundheitssystem. Nach Ansicht vieler Ärzt:innen soll dies geschleift werden mit dem Ziel, die Menschen in Privatversicherungen zu drängen. Zwar seien die Policen noch relativ günstig, aber nur, weil die Unternehmen bei Komplikationen oder in teuren Fällen die Behandlung doch wieder ans öffentliche Gesundheitswesen abgeben. So fahren die Versicherungsgesellschaften trotz vergleichsweise niedriger Tarife noch Gewinne ein, solange es noch funktioniert. Was eine Versicherung kosten würde, die auch teure Krebsbehandlungen und Operationen abdeckt, zeigt sich in den USA: monatlich mehrere hundert Euro.

Baskenland

Im Baskenland regte sich ebenfalls Widerstand gegen den seit 2010 eingeschlagenen Liberalisierungskurs. Am 24. Februar 2023 erlebten die Metropolen Bilbao, San Sebastián und Vitoria große Kundgebungen mit mehreren zehntausend Menschen. Den Hintergrund dafür bildet, dass die Verantwortung für die Gesundheitsversorgung bei den Regionen liegt, so dass es überall Proteste gibt.

Manuel Ferran Mercadé, Berater der „Spanischen Vereinigung für Familien und Gemeinschaftsmedizin“ (semFYC) und Sprecher für den Bereich der Grundversorgung der Basisorganisation „SOS Bidasoa“ in Irun, merkte an, dass sich verhältnismäßig wenige junge Menschen an den Kundgebungen beteiligt hatten. Doch er hob auch hervor, dass alle Gewerkschaften mobilisierten. Allein im Gesundheitswesen gibt es eigene Gewerkschaften. Dazu kommen die allgemeinen. Normalerweise liegen die der Ärzt:innen und Pfleger:innen, die baskischen mit den spanischen miteinander im Clinch. Die baskischen ELA und LAB setzen eher auf Konfrontation, die spanischen CCOO und UGT auf Sozialpakte. Mit dem Vorgehen der Regionalregierung, die den Dialog scheut und nur Verlautbarungen und Ankündigungen abgibt, ist diese seltene Einmütigkeit zu erklären. UGT und CCOO haben in den baskischen Provinzen gegen die Politik der Bundesregierung mit demonstriert, in der die Baskisch-Nationalistische Partei und Sozialdemokratie den Ton angeben.

Gesundheitsökonomie auf Spanisch

Das Baskenland rühmt sich, über das beste Gesundheitswesen im spanischen Staat zu verfügen. Trotzdem gehen auch hier Beschäftigte und Patient:innen auf die Barrikaden. Grund dafür ist die seit der Jahrtausendwende einsetzende brutale Unterfinanzierung, die mit der Zentralisierung im Gesundheitssystem zu tun hat. Zuvor gab es zwei Haushalte: einen für die Grundversorgung und einen für die Kliniken. Deren Integration setzte im Baskenland erst vor 10 Jahren ein. Es gibt auch hier jetzt nur noch einen Haushalt und eine:n Chef:in. Zulasten der Grundversorgung floss das meiste Geld in den stationären Bereich. Je stärker man die Grundversorgung ausbluten ließ, umso mehr Menschen landeten zur teuren Behandlung in den Krankenhäusern.

Bei den Gesundheitsausgaben liegt das Baskenland über, im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung unter dem Landesdurchschnitt. Es gibt zwar weniger Privatkliniken, wie Mercadé bemerkt, doch wird viel Geld für externe Beratung rausgeschmissen und Material gekauft, das kein/e Arzt/Ärztin bestellt hat.

Die langen Wartelisten werden mit dem Fehlen ärztlichen Personals begründet. In Bezug zur Bevölkerungszahl scheint es jedoch ausreichend. Spanien ist weltweit das Land mit der zweithöchsten Zahl medizinischer Fakultäten. Doch ein Gutteil der Ausgebildeten wandert in den privaten Sektor, nicht in den öffentlichen. Noch weniger finden sich in der Grundversorgung mit schlechten Arbeitsbedingungen und mieser Bezahlung. Angesichts der Ausbildungszeitdauer von durchschnittlich 11 Jahren bräuchte es eine vernünftige Planung in einem integrierten Gesundheitssystem, damit Mediziner:innen und Pfleger:innen abwechselnd auf allen Positionen und in allen Sektoren bei einheitlicher Ausbildung zum Einsatz kommen können. Die zweite Voraussetzung dafür: Abschaffung des privaten Gesundheitswesens!

Personalmangel – wie in Deutschland

In wenigen Jahren werden 30 % der Ärzt:innen in Rente gehen und Spanien wird vor einem großen Personalproblem stehen, das nicht durch kurzfristige Erhöhung der Studierendenzahl zu bewältigen sein wird. Auch „unsere“ Unternehmen klagen über Fachkräftemangel, ohne sich dabei an die eigene Nase zu fassen. Bei allen Unterschieden bilden in Deutschland wie Spanien die Kliniken das Einfallstor für den Einzug des Kapitals in den Gesundheitsbetrieb. In Spanien geht das zulasten eines rationalen Systems der Grundversorgung durch Integration, Zentralisierung und Privatisierung von Gesundheitsanbieter:innen wie Krankenversicherungen.

In Deutschland wurde der Krankenhausbereich schon in den frühen 1970er Jahren aus der öffentlichen Finanzierung durch die Gemeinden (Kameralistik) entlassen und auf ein duales Regime (Betriebskosten erstatten die Krankenkassen, Investitionen die Bundesländer) eingeführt. Schließlich wurde auf einen vollständigen inneren Markt (Fallpauschalen) umgestellt mit der Folge gesteigerten Personalmangels, zunehmender Arbeitshetze, Schließungen und Privatisierungen sowie übermäßig zunehmenden  planbaren Operationen einer- und blutigen Entlassungen bei „unprofitablen“ Fällen andererseits.

Der Siegeszug des Neoliberalismus geht aber zunehmend dem einstigen Standbein des BRD-Gesundheitswesens an den Kragen – der niedergelassenen Ärzt:innenschaft und ihren Praxen, die wie Kleinbetriebe fungieren. In Gestalt der Medizinischen Versorgungszentren (MVZ), oft an Kliniken vor Ort angebunden, entsteht eine Konkurrenz, die an die Polikliniken der DRR erinnert. Allerdings werden die heutigen nur zum Zwecke größtmöglicher Rentabilität betrieben wie der ganze kranke Laden, der sich Gesundheitswesen nennt. Seine Rettung kann indes nicht im Zurück zur „Idylle“ der kleinen Praxen liegen.

Internationale Verbindung

Ein Vergleich der Krise des Gesundheitswesens in Spanien mit Deutschland wie mit praktisch allen anderen Ländern Europas verdeutlicht, dass wir es mit einem länderübergreifenden Phänomen zu tun haben. Das betrifft auch die Mobilisierung des Personals. Doch auch, wenn sie allesamt Resultat der kapitalistischen Krise und neoliberaler Angriffe, von Einsparungen und Privatisierungen sind, so werden die Kämpfe bislang nebeneinander, national oder gar lokal beschränkt geführt. Dabei schreien Forderungen wie die Verstaatlichung des gesamten Gesundheitswesens unter Kontrolle der Beschäftigten und Patent:innen, nach einem freien und garantierten Zugang für alle und nach ausreichender Finanzierung und Ausbau des Gesundheitswesens durch die Besteuerung des Kapitals geradezu nach einer gemeinsamen, international koordinierten Bewegung.




Wie weiter im Kampf für mehr Personal im Krankenhaus- und Gesundheitsbereich?

Helga Müller, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

Nachdem innerhalb eines Jahres – 2021 in Berlin bei Charité und Vivantes und 2022 bei den 6 Unikliniken in NRW – Tarifverträge für Entlastung durch wochenlange Durchsetzungsstreiks erreicht werden konnten, ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen und sich Gedanken zu machen, wie der Kampf für mehr Personal bundesweit erfolgreich weitergeführt werden kann. Auch wenn beide Kämpfe zu einem erfolgreichen Abschluss kamen mit der Durchsetzung von Tarifverträgen für Entlastung – in NRW ein gemeinsamer Tarifvertrag für alle 6 Unikliniken –, sind weder an diesen Krankenhäusern bereits die Stellen besetzt noch die fehlenden bundesweit im Pflegebereich und den übrigen Abteilungen durchgesetzt.

Die Errungenschaften der beiden Krankenhausbewegungen

1. Erfolgreiche Mobilisierungen der Belegschaften und Einbeziehung dieser in die Entscheidungen über ihre Forderungen:

Die Kolleg:innen der verschiedenen Abteilungen wurden aktiv in die Aufstellung der Forderungen pro Abteilung und Schicht einbezogen, sie haben selbst darüber diskutiert und entschieden, mit Hilfe von Teamdelegierten.

Damit verbunden war eine aktive und erfolgreiche Mitgliederwerbung, was zu einen höheren Organisationsgrad führte. Dadurch wurden wochenlange Durchsetzungsstreik möglich.

2. Einbeziehung aller Kolleg:innen aller Abteilungen in den Kampf und die Aufstellung der Forderungen:

Vor allem in NRW wurden auch die Bereiche außerhalb der Pflege – wie Krankentransport, IT, Rettungssanitäter:innen etc. – in die Aufstellung der Forderungen und den Kampf dafür einbezogen.

3. Ansätze einer demokratischen Streikführung:

Vor allem in der Krankenhausbewegung Berlin haben die Aktivist:innen dafür gesorgt, dass aktive Kolleg:innen aus den Abteilungen in die Tarifkommission entsandt wurden und jeder Schritt mit den Teamdelegierten besprochen wurde.

In NRW wurde das Ergebnis auf Streikversammlungen in den 6 Unikliniken zur Diskussion gestellt und abgestimmt. Es wurde, außer in Düsseldorf, mehrheitlich angenommen. Zum anderen hatte sich die Tarifkommission – freiwillig – dazu bereit erklärt, erst zuzustimmen, wenn bei der Urabstimmung über das Ergebnis auch die Mehrheit einwilligt. Die magere Zustimmung von 73,58 % in NRW im Vergleich zu über 96 % in Berlin zeigt, dass die Kolleg:innen sich selbst Gedanken über das Ergebnis gemacht haben und sich nicht allein auf die Zustimmung der Tarifkommission verließen.

Dies alles wurde von den Kolleg:innen selbst durchgesetzt. Weder von den Organizer:innen noch von den ver.di-Verantwortlichen war vorgesehen, die Teamdelegierten oder den Delegiertenrat der 200 der 6 Unikliniken in NRW als Kontroll- und Entscheidungsorgane über den Streikverlauf und die Tarifkommission einzusetzen. Letzten Endes lag die Entscheidung über die Fortführung des Kampfes und über die Annahme des Abschlusses  – zumindest in Berlin – bei der Tarifkommission und den ver.di-Verantwortlichen.

4. Solidaritätsaktionen durch die arbeitende Bevölkerung und öffentliche Kundgebungen der Streikenden:

In beiden Krankenhausbewegungen wurden Treffen mit Initiativen und Kolleg:innen aus Betrieben or-ganisiert. Am weitestgehenden waren die gemeinsamen Solidaritätsaktionen in Berlin: Dort wurden vor allem gemeinsame Aktionen mit der Kampagne „Deutsche Wohnen enteignen“ organisiert, aber auch mit den im Streik befindlichen Kurier:innen von Gorillas. Teilweise kam es auch zu gemeinsamen Soliaktionen mit Kolleg:innen aus einzelnen Betrieben. Aber weder vom DGB noch von anderen DGB-Gewerkschaften gab es den Willen, gemeinsame Soliaktionen zu organisieren.

In Berlin und NRW organisierten die Kolleg:innen große und machtvolle Kundgebungen und Demos.

5. Nachhaltigkeit: von den Teamdelegierten zum Aufbau fester Strukturen und Organe:

Zumindest in Berlin gab es die Aussage, von Aktivist:innen aus den Teamdelegiertenstrukturen auch systematische und kontinuierliche Gremien wie ver.di-Betriebsgruppen und Vertrauensleutekörper aufzubauen. Das wäre ein Fortschritt, da damit nicht immer wieder zu Beginn eines Arbeitskampfes neue Strukturen zur Mobilisierungen geschaffen werden müssten.

Was hat gefehlt?

1. Fehlende Kontrolle über den Kampfverlauf und über die Abstimmung des Ergebnisses:

Es gab zwar Fortschritte bzgl. der Transparenz über die Verhandlungen (s. Punkt 3 oben), aber letzten Endes hatten immer noch die ver.di-Verantwortlichen die Kontrolle über Streikverlauf und das Ergebnis.

Deswegen braucht es klare Strukturen/Organe, die den Kolleg:innen gegenüber rechenschaftspflichtig und jederzeit abwählbar sein müssen.

Dafür würde sich ein Streikkomitee, wie es an der Uniklinik Essen im Kampf um den TVE aufgebaut wurde, anbieten. Dieses wurde aus von den Kolleg:innen gewählten Delegierten aus den verschiedenen Abteilungen gebildet. Die Delegierten waren direkt den Kolleg:innen gegenüber rechenschaftspflichtig und konnten jederzeit neu gewählt werden. Dieses Komitee hatte sich zur Aufgabe gestellt, den Diskussionsprozess unter den Kolleg:innen über die Zwischenverhandlungsergebnisse und den Fortgang des Kampfes zu organisieren. Dafür wurden Streikversammlungen einberufen, auf denen die Kolleg:innen über den Zwischenstand der Verhandlungen der Tarifkommission (TK) informiert wurden und sie auch darüber entschieden, ob diese zu akzeptieren sind oder der Streik weitergeführt werden muss. In dieser Phase hatten sie tatsächlich die Entscheidung über ihren Kampf um mehr Personal unter ihrer Kontrolle. Und im Voraus wurde mit der TK vereinbart – wohlgemerkt, eine freiwillige Vereinbarung der TK mit dem Streikkomitee (!) –, keine Entscheidung ohne Diskussion unter den Kolleg:innen zu fällen. Auch die gewählten Teamdelegierten würden sich dafür anbieten, ein solches Streikkomitee zu bilden, aber die oben aufgeführten Bedingungen müssten auch hier konsequent angewendet werden. Aber von Seiten des ver.di-Apparates waren die Teamdelegierten nie als Organ oder Struktur vorgesehen gewesen, damit die Kolleg:innen wirklich über ihren Kampf selber entscheiden können, sondern eher als Element, sie überhaupt mobilisieren zu können, durchaus, indem sie über ihre Forderungen selber diskutieren und entscheiden konnten. Auch die Organizer:innen haben dem politisch nichts entgegengesetzt. Diese Teamdelegierten sind sicherlich ein demokratisches Element, was auch gezeigt hat, dass die Kolleg:innen selbst am besten wissen, welcher Personalschlüssel und welche anderen Bedingungen nötig sind, um eine gute Gesundheitsversorgung zu realisieren. Das war durchaus ein demokratisches Element, mit dessen Hilfe sie auch tatsächlich für mehrwöchige Durchsetzungsstreiks mobilisiert werden konnten. Diese Errungenschaften wären auch Vorbild für permanente Vertrauensleutestrukturen, die auch nach dem Streik weiter existieren und sich die Aufgabe stellen, mit den Kolleg:innen in Diskussion zu bleiben und im Falle eines Streiks wieder dafür zu sorgen, dass sie nicht nur über die Forderungen, sondern auch über den Kampf diskutieren und entscheiden können.

2. Kontrolle über die Sanktionen bei Nichteinhaltung der Regelungen aus dem TVE:

Beide TVE enthalten die Regelung, Punkte zu sammeln, wenn Schichten unterbesetzt arbeiten. Ab einer bestimmten Punktezahl (gestaffelt) soll ein Freizeitausgleich erfolgen. Die Hoffnung dabei: dadurch würde ökonomischer Druck auf die Klinikleitungen ausgeübt, um neue Kolleg:innen einzustellen.

Doch zum einen zögern diese – wie bei Vivantes in Berlin, in NRW erhalten sie 1 ½ Jahre Zeit, um eine entsprechende Software einzuführen – die Umsetzung dieses Punktesystems hinaus. Zum anderen kann diese Verfahrensweise auch dazu führen, dass es zum Aufbau von Langzeitarbeitszeitkonten missbraucht wird, ohne dass es zu einem sofortigen Freizeitausgleich kommt. Damit verpufft die Wirkung.

Die Kolleg:innen selbst – dafür würden sich die Teamdelegierten bzw. der Delegiertenrat anbieten – müssen über die Sanktionen entscheiden können, wenn die Regelungen nicht eingehalten werden: wie Bettensperrungen, Nichteinbestellung von Patient:innen, Verschiebung von nicht sofort notwendigen OPs etc. Diese hatten schon während der Streikphase – sofern keine Notdienstvereinbarungen zustande kamen – selbst entschieden, wann wie viele Betten gesperrt oder Patient:innen einbestellt werden.

Vor Einführung der Punkteregelung in den TVE waren u. a. solche Maßregeln vorgesehen. Die Entscheidung darüber lag aber bei den Pflegedienstleitungen, die letzten Endes der Klinikleitung gegenüber rechenschaftspflichtig sind und nicht den Kolleg:innen. Aber es sind Letztere selbst, die ein ernsthaftes Interesse daran haben, dass sich die Arbeitsbedingungen ändern müssen. Deswegen müssen sie die Entscheidungen über Sanktionen in den Händen halten.

3. Bundesweiter Kampf aller Kliniken für mehr Personal statt Häuserkampf:

Der TVE in NRW wurde in einem 79-tägigen Durchsetzungsstreik aller 6 Unikliniken durchgesetzt. Das ist der richtige Weg, um mehr Schlagkraft gegenüber den Klinikleitungen zu entwickeln. Alle Kliniken – egal ob privatwirtschaftlich organisiert oder noch unter kommunaler oder Landesverwaltung stehend – müssen von ver.di gemeinsam in den Kampf für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen geführt werden.

Dafür würde sich die Tarifrunde im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen anbieten: Alle Kolleg:innen aus den kommunalen Krankenhäusern sind zu Streiks aufgerufen zusammen mit denen aus dem Erziehungsbereich, die auch seit Jahren unter Personalmangel leiden.

Die Aktivist:innen aus den beiden Krankenhausbewegungen, die Veranstaltungen organisieren und ein persönliches Netzwerk aufbauen, könnten zu einer bundesweiten Konferenz aller Kolleg:innen aus dem Gesundheitsbereich aufrufen und dort über weitere Schritte für einen erfolgreichen Kampf für mehr Personal bundesweit diskutieren und entscheiden.

4. Notwendigkeit eines gesamtgesellschaftlichen Kampfes gegen Privatisierung und DRGs – bis hin zum politischen Streik:

Alle Erfahrungen aus den bisherigen Kämpfen für Entlastung zeigen: Das Hauptproblem liegt in der Finanzierung des Gesundheitssystems. Solange die DRGs, die nicht die Gesamtkosten einer Behandlung refinanzieren, existieren, solange im Gesundheitssektor – durch die Privatisierungen – das oberste Gebot die Profitlogik ist, wird sich an der Pflegemisere und Stellensituation in den Krankenhäusern nichts ändern! Deswegen:

  • Abschaffung der Fallpauschalen!

  • Für eine Refinanzierung, die die gesamten Behandlungskosten umfasst.

  • Rekommunalisierung und Verstaatlichung aller privatisierten Kliniken unter Kontrolle der Beschäftigten und Patient:innen, die ein Interesse an guten Arbeitsbedingungen und guten Gesundheitsversorgung haben.

Dafür braucht es eine gesellschaftliche Kraft: das Personal aus den Krankenhäusern zusammen mit dem in den Betrieben, die ein Interesses an einer guten, flächendeckenden Gesundheitsversorgung haben, gemeinsam für die Abschaffung der DRGs, Wiederverstaatlichung privatisierter Kliniken unter Kontrolle der Beschäftigten und der Patient:innen kämpfen. Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die sich die DGB-Gewerkschaften gemeinsam auf die Fahne schreiben und dafür mobilisieren müssen bis hin zum politischen Streik!

  • Tarifrunde öffentlicher Dienst – Bund/Kommunen nutzen, um Strukturen aufzubauen, mit denen für ausreichend Personal und gute Arbeitsbedingungen gekämpft werden kann!

Leider hat ver.di davor zurückgeschreckt, diese Tarifrunde auch für den Kampf für mehr Personal zu nutzen. Dabei hätte man eine Verbindung über den Gesundheitsbereich hinaus organisieren können, denn die GEW-Kolleg:innen aus Berlin streiken bereits seit mehreren Wochen für einen Gesundheits-Tarifvertrag mit der Hauptforderung nach kleineren Klassen, weil auch hier der Personalnotstand eklatant ist. Die Bedingungen dafür wären gut: zum einen hatten die Beschäftigten aus den Unikliniken in NRW es allen praktisch vor Augen geführt, dass ein konsequenter gemeinsamer Kampf für mehr Personal erfolgreich in einem Tarifvertrag enden kann. Zum anderen sind gerade in dieser Tarifrunde alle Kolleg:innen aus den kommunalen Krankenhäusern zu Arbeitskampfmaßnahmen aufgerufen. Diese könnten zusammen mit Erzieher:innen und Lehrer:innen für insgesamt mehr Personal streiken verbunden mit einer Bezahlung, die auch tatsächlich die Preissteigerungen auffängt! Das erweitert die Durchsetzungskraft und wäre sicherlich für viele Kolleg:innen noch ein zusätzlicher Motivationsfaktor gewesen, sich in dieser Tarifrunde an Arbeitskampfmaßnahmen zu beteiligen. Es ist jetzt nötig, dass die Kolleg:innen in den verschiedenen gewerkschaftlichen Strukturen, seien es Vertrauensleute, Betriebsgruppen oder neu aufzubauende gewerkschaftliche Organe oder auch in lokalen Gremien, von den ver.di-Verantwortlichen verlangen, auch die Frage des Personalnotstandes bundesweit anzugehen! Dafür sind bundesweite Streiks für einen Flächentarifvertrag Entlastung und eine Kampagne gegen Privatisierung, Abschaffung der Profitlogik in der öffentlichen Daseinsvorsorge, wozu ja der ganze Gesundheitsbereich gehört, und für ein Ende des gesamten Fallpauschalensystems und für die Refinanzierung der realen Behandlungskosten nötig. Dies brauchen wir mehr denn je, da  durch die Pandemie und der dadurch angefallenen Versorgung vieler Schwerkranker auf Intensivstationen viele kommunale Krankenhäuser in eine finanzielle Schieflache gebracht wurden. Doch ändert auch die Lauterbach’sche „Revolution“ nichts am Fallpauschalensystem. Im Gegenteil! Die angestrebte verstärkte Ambulantisierung der Gesundheitsversorgung wird unwillkürlich zu einem weiteren Krankenhaussterben beitragen. Das Mindeste, was in dieser Tarifrunde passieren muss, und das ist nicht allein die Verantwortung der gewerkschaftlich Aktiven im Betrieb oder auf lokaler Ebene, sondern eben auch aller Gewerkschaftssekretär:innen, ist, dafür zu sorgen, dass funktionierende gewerkschaftliche Basisorgane in den Betrieben entstehen, die die Kolleg:innen nicht als Manövriermasse verstehen, sondern als aktive Kämpfer:innen für bessere Arbeitsbedingungen und die tatsächlich Änderungen durchsetzen können.

Damit dies wirklich umgesetzt wird, ist es nötig, eine politische Kraft in ver.di, aber auch allen anderen Gewerkschaften zu organisieren. Diese muss sich bewusst gegen den Anpassungskurs der Gewerkschaftsführungen an die Interessen des Kapitals und der Regierenden stellen und sich zum Ziel setzen, die Gewerkschaften wieder zu handelnden Verteidigungsinstrumenten der gesamten Klasse umzukrempeln. Unserer Meinung nach sind die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) und ihre lokalen Strukturen im Moment das beste Mittel dazu, um darüber zu diskutieren und Konsequenzen fürs Handeln daraus zu ziehen (siehe auch unter: www.vernetzung.org).




Britannien: Klassenkampf gegen die Krise des Gesundheitswesens

Andy Yorke, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung, März 2023

Der Winter ist da und mit ihm die bisher schwerste Krise des Gesundheitssystems. Trotz der Atempause nach der Covidpandemie im Jahr 2022 erreichten die Wartelisten im Dezember einen neuen Rekord von 7,2 Millionen, mit bis zu 500 zusätzlichen Todesfällen pro Woche als Folge von Verzögerungen.

Eine Rekordzahl von Patient:innen wartete über 12 Stunden auf eine Behandlung in der Notaufnahme. Daher herrschte weithin Ungläubigkeit, als der Sprecher der konservativen Sunak-Regierung bestritt, dass es sich bei dieser „beispiellosen Herausforderung“ um eine Krise handele, und behauptete: „Wir sind zuversichtlich, dass wir den Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) mit den erforderlichen Mitteln ausstatten“. So versuchte er, die Krise auf die Pandemie zu schieben.

Doch diese begann lange davor. Das jährliche Wachstum der Ausgaben von 6 % im Gesundheitswesen unter der letzten Labour-Regierung wurde durch die Sparmaßnahmen auf weniger als 1,8 % gesenkt. Das Vereinigte Königreich liegt bei der Bettenzahl pro Kopf weit unter dem internationalen Durchschnitt, selbst im Vergleich zu ärmeren Ländern, und weist seit 2010 eine dauerhaft zu niedrige Zahl freier Betten auf. Das Ziel, die durchschnittliche Belegung auf 18 Patient:innen pro Woche und Bett zu erhöhen, wurde seit 2016 nicht mehr erreicht.

In der Winterkrise 2017 war der NHS gezwungen, Zehntausende von Operationen abzusagen. Im Jahr 2022 lag die Zahl bei 350.000, also fast tausend pro Tag! Schon vor der Pandemie warteten 8.270 Patient:innen in der Notaufnahme im Jahr 2019 mehr als 12 Stunden auf eine Behandlung (ein Sechsfaches gegenüber 2015). Die Krise des Gesundheitssystems wird durch die des unterfinanzierten, überwiegend privaten Sozialfürsorgesektors noch verschärft.

Das Scheitern des NHS

Der Schlüssel zum Verständnis der Krise sind unzureichende Finanzierung und Personalmangel. Die Zahl der unbesetzten Stellen für medizinisches Personal und die Wartelisten sind parallel angestiegen. Jede Regierung der britischen Konservativen (Tories) führt eine weitere schmerzhafte Umstrukturierung durch, doch trotz der Forderungen der Gewerkschaften und der Britischen Medizinischen Vereinigung nach transparenten Personalbewertungen hat keine Regierung seit 2003 eine nationale Personalstrategie für den Gesundheitssektor vorgelegt. Stattdessen verlassen sich die Tories auf „Lückenbüßer:innen“, d. h. den privaten Sektor, Leiharbeitsagenturen mit Aushilfskräften für die Krankenhäuser.

46.000 unbesetzte Stellen für Krankenschwestern und -pfleger (11,7 % der Belegschaft) zeigen den Zusammenhang zwischen der Unterfinanzierung von Seiten der Tories und Privatisierung. In einem Teufelskreis verlassen nun tausende Pflegekräfte den NHS aufgrund von Überlastung, Stress und sinkender Bezahlung. Ihr Streik setzt einen ersten Schritt, um diese von den Konservativen verursachte Katastrophe rückgängig zu machen.

Die Regierung Sunak nutzt die Krise wie alle ihre Tory-Vorgänger:innen, um die Privatisierung weiter voranzutreiben. Sie umgeht Gespräche mit den Gewerkschaften und setzt die Covidpolitik fort, private Krankenhäuser und Pflegeheime für Betten zu bezahlen, was den öffentlichen Gesundheitsdienst bis zu eine Milliarde Pfund kostet.

Für die Tories blockieren Krankenhäuser weitere Privatisierungen. Deshalb sind die Pläne, 150 psychiatrische Behandlungszentren zu bauen und Patient:innen von den Notaufnahmen fernzuhalten, Teil des Vorhabens, die Gesundheitsversorgung in die Wohnviertel zu verlegen und den NHS zu zerschlagen.

Die Tories wollen nicht mehr Krankenpfleger:innen finanzieren, sind aber sehr darum besorgt, den NHS immer wieder umzustrukturieren, um mehr Profit herauszuholen. Bei der jüngsten Umstrukturierung wurden 42 integrierte Pflegegremien für den NHS England eingerichtet. Diese sind Teil des Ansatzes der Tories, den NHS zu fragmentieren und den Zugang für private Unternehmen auf jeder Ebene, einschließlich der Auftragsvergabe und Planung, zu verbessern.

In der Zwischenzeit schloss eine halbe Million Menschen im Jahr 2022 eine private Krankenversicherung ab, und viele weitere bezahlten für eine private Behandlung, mit der sie die Warteschlange des staatlichen Gesundheitsdienstes praktisch überspringen konnten und eine Untersuchung oder Operation beim selben Arzt/bei derselben Ärztin im gleichen Krankenhaus erhielten, von der ihnen gesagt worden war, dass sie erst in einigen Monaten verfügbar wäre!

Wird Labour das Gesundheitswesen retten?

Viele setzten ihre Hoffnungen auf Labour. Doch die New-Labour-Regierung verband die Aufstockung der Mittel mit Kürzungen bei Betten und Personal und einer weiteren Öffnung des staatlichen Gesundheitsdienstes für die Privatisierung. Labour-Vorsitzender Keir Starmer verspricht, dass seine Regierung die Mittel aufstocken wird, aber „Investitionen allein nicht ausreichen“. Das bedeutet noch mehr Umstrukturierungen und eine größere Rolle für den privaten Sektor.

In Wirklichkeit wird die Wiedereinführung des Spitzensteuersatzes von 45 Prozent nicht annähernd ausreichen, um das schwarze Loch in der Finanzierung des staatlichen Gesundheitsdiensts zu stopfen, und es gibt keinen Plan, um die Schäden von vier Jahrzehnten Marktwirtschaft und Privatisierung rückgängig zu machen. Schlimmer noch, die Lösung des Schattengesundheitsministers besteht darin, den privaten Sektor zu nutzen, um die Wartelisten zu verkürzen.

Ein siegreicher Streik der Krankenschwestern und -pfleger erfordert nicht nur das Festhalten an einer voll finanzierten realen Gehaltserhöhung, sondern hängt von der Gründung einer Massenbewegung zur Verteidigung des staatlichen Gesundheitswesens und dem Kampf für den Ausbau des öffentlichen Dienstes ab, der durch die Besteuerung der Reichen finanziert wird. Dies ist der erfolgversprechendste Weg, um sicherzustellen, dass die Beschäftigten und Nutzer:innen des NHS in der Lage sind, Labour dazu zu bringen, ihn wirklich zu verteidigen.

Streikwelle geht weiter

In einer historischen Premiere haben sich die Krankenschwestern und -pfleger der Gewerkschaft RCN (Royal College of Nursing; Britanniens größte Gewerkschaft und Berufskörperschaft für Pflegende), die bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit getrieben wurden, der Streikwelle gegen die Lebenshaltungskostenkrise angeschlossen. Und trotz der Versuche der Medien, die öffentliche Missbilligung auszutesten, erhalten sie massive Unterstützung. Eine Million Mal werden Patient:innen alle 36 Stunden im öffentlichen Gesundheitsdienst behandelt, und sie sind dem hart arbeitenden Personal in überwältigender Weise dankbar und unterstützen es.

Jahrelang sinkende Reallöhne (um mehr als 20 % seit 2010), unterbesetzte und chaotische Stationen, die nur mit Überstunden arbeiten, und der unerbittliche Druck der Covid- und Grippewinterepidemien haben viele Krankenpflegekräfte veranlasst, trotz der Ängste um ihre Patient:innen zu streiken. Weit davon entfernt, den Patient:innen zu schaden, wie in den Medien behauptet wird, scheint ein Arbeitskampf für viele die einzige Möglichkeit zu sein, nicht nur die Löhne zu erhöhen, sondern auch mehr Personal anzuwerben und das staatliche Gesundheitssystem zu retten. Es gibt über 132.000 unbesetzte Stellen.

Erstmals schließen sich auch die Krankenwagenfahrer:innen der Gewerkschaften GMB (National Union of General and Municipal Workers) sowie Unison und Unite (zwei weitere Gewerkschaften im öffentlichen und privaten Dienstleistungssektor) und außerdem Physiotherapeut:innen, Hebammen und Röntgenassistent:innen dem Kampf gegen die sinkenden Löhne an. Bei der Urabstimmung der gewerkschaftlichen medizinischen Vereinigung BMA von 45.000 Ärzt:innen in der Ausbildung über eine beleidigende Gehaltserhöhung von 2 % in diesem Jahr wird wahrscheinlich mit „Ja“ für eine Aktion gestimmt werden. Mit einer für März geplanten 72-stündigen Arbeitsniederlegung werden sich noch mehr Ärzt:innen dem Kampf für Gehalt und Finanzierung anschließen. Am 6. Februar fand der bisher größte Streik im Gesundheitswesen statt, bei dem Krankenschwestern und -pfleger, Sanitäter:innen und andere Beschäftigte die Arbeit niederlegten.

Organisiert die Basis!

Die Beschäftigten müssen Einigkeit, Koordinierung und eskalierende Maßnahmen fordern. GMB- und Unison-Ambulanzbeschäftigte streiken bisher zumeist getrennt. Das RCN lässt verschiedene Sektionen von Krankenpersonal an unterschiedlichen Tagen streiken. In Schottland und Wales haben die Gewerkschaften ihre Streiks für Gespräche mit den (dezentralen) Regionalregierungen ausgesetzt.

Belegschaftsversammlungen zur Bildung von Delegiertenausschüssen in und zwischen Krankenhäusern und weiteren Einrichtungen (z. B. ausgelagerten, privatisierten Abteilungen) sind der Schlüssel zum Erfolg der Streiks. Diese können die Entschlossenheit stärken, diejenigen unterstützen, die noch an der Urabstimmung teilnehmen, und auf weitere Maßnahmen drängen, um den Konflikt zu kontrollieren.




Frauengesundheit: Who cares?

Resa Ludivien, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 11, März 2023

Im Carebereich arbeiten mehrheitlich Frauen. Wir sind die Ersten in der Familie, die angerufen werden, wenn mal wieder jemand kränkelt oder emotionale Arbeit geleistet werden muss. Aber wer denkt eigentlich an uns?

Vielfältige Aspekte der Frauengesundheit

Frauengesundheit umfasst vieles. Neben dem Zugang zu Medikamenten, der körperlichen Unversehrtheit und Schutz vor Gewalt betrifft sie auch die sexuelle Gesundheit. Gemeint ist damit neben dem Zugang zu Verhütungsmitteln, der Aufklärung über sexuell übertragbare Krankheiten auch die Sicherstellung medizinischer Versorgung bei Geburten.

In Zeiten der Krise werden diese Angebote geringer und konservative Ideologien sind auf dem Vormarsch. Hinzu kommen teilweise enorme Staatsschulden, vor allem in Halbkolonien. Schauen wir beispielsweise nach Afghanistan, so ist die Ausgangslage der Frauen auch beim Thema Gesundheit verheerend. Nicht nur, dass sie nach der Machtübernahme der Taliban aus weiten Teilen der Gesellschaft ausgeschlossen wurden. Durch die unsichere Lage haben sich auch westliche Hilfsorganisationen (NGOs) weitestgehend zurückgezogen. Vor Ort ist nicht mal mehr die alltägliche Nahrungsmittelversorgung gewährleistet. Wie soll Mädchen und Frauen dann noch Schutz vor sexualisierter Gewalt oder eine sichere Geburt ermöglicht werden?

Auch die weltweite Coronapandemie hat uns relativ schnell gezeigt, dass besonders Frauen und ihre Gesundheit wenig im Fokus stehen. Neben der Mehrfachbelastung durch Lohn- und Reproduktionsarbeit barg die Zeit in Isolation und Lockdown für uns Frauen noch eine besondere Gefahr: häusliche Gewalt. Frauen, die in solch einer Situation leben, konnten diesem Umfeld kaum bzw. überhaupt nicht entfliehen oder sich entsprechende Hilfe suchen. Zusätzlich führte der gesamtgesellschaftliche Stress in der Pandemie dazu, dass häusliche Gewalt generell angestiegen ist. Doch auch ohne Pandemie bestehen viele weitere Faktoren, welche die Gesundheit von Frauen bedrohen. Denken wir allein an die vielen Betroffenen sexualisierter Gewalt und deren  Auswirkungen auf Körper und Psyche.

Auch der Zugang zu Medikamenten und allgemeiner Gesundheitsversorgung ist für Frauen generell schlechter als für Männer und nimmt in Krisenzeiten weiter ab. So konnte man beispielsweise inmitten der Coronapandemie einen deutlichen Anstieg der Müttersterblichkeit um bis zu 30 % verzeichnen. Gründe hierfür waren überlastete Krankenhäuser, Mangel an Hebammen oder schlicht ein unzureichendes und nicht flächendeckendes Gesundheitssystem. Auch Rassismus im Kreissaal ist häufig anzutreffen. So ist die Sterblichkeit schwarzer Frauen während der Geburt in den USA doppelt so hoch wie bei weißen, unabhängig von weiteren Faktoren wie etwa dem Einkommen. Hinzu kommt, dass Hilfsangebote zu Schwangerschaftsvorsorge und Familienplanung ebenso wie  Anlaufstellen zur Beratung bei Schwangerschaftsabbrüchen oder Fällen von körperlicher/sexualisierter Gewalt deutlich reduziert wurden. In vielen Ländern gibt es nach wie vor für Mädchen und Frauen keinen gesicherten Zugang zu Verhütungsmitteln oder der „Pille danach“. Zusätzlich kommt hinzu, dass geschlechtsspezifische Symptomatiken bei verschiedenen Krankheiten noch kaum beachtet werden. Beispielsweise werden bei Frauen weitaus häufiger Herzinfarkte übersehen, weil hier meist der charakteristisch ausstrahlende Schmerz fehlt.

Neben dem Geschlecht und der Klassenzugehörigkeit spielt leider auch die Hautfarbe häufig eine Rolle. Viele Mediziner:innen sind noch bis vor kurzem davon ausgegangen, dass schwarze Menschen ein geringeres Schmerzempfinden hätten. Dies führte meist zu einem ungenügenden Zugang zu ausreichend starken Schmerzmitteln während Behandlungen im Krankenhaus.

Inflation und steigende Preise

Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sind wir weltweit mit Inflation und steigenden Preisen konfrontiert. So beträgt sie im Iran derzeit rund 51 %, in der Türkei erreichte sie im November 2022 sogar mehr als 84 %. Auch hier sind wir Frauen mal wieder besonders hart betroffen. Sich bei hohen Lebensmittelpreisen im Krankheitsfall Medikamente leisten zu können, wird für Arbeiter:innen immer schwieriger. Vor allem auch deshalb, weil Frauen im Zuge der Pandemie deutlich häufiger von Entlassungen betroffen waren als Männer. Zusätzlich begegnen uns derzeit an jeder Ecke Lieferengpässe. Besonders präsent waren sie vor Weihnachten in den Medien, als Fiebermittel für Kinder, aber auch weitere Schmerzmittel knapp wurden. Etwas, das man in Deutschland bisher so nicht kannte. Ursache hierfür sind globale Logistik und die herrschende Wertschöpfungskette. Die Produktion günstiger Inhaltsstoffe, wie Ibuprofen oder verschiedener Antibiotika, wird meist nach Asien ausgelagert. Die wertschöpfenden Schritte am Ende, z. B. Abfüllung und Verpackung, finden dagegen weiterhin in den westlichen Industriestaaten statt. In manchen Ländern wie dem Iran erschweren zusätzlich Sanktionen den Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten.

Gesundheit im Kapitalismus

Zunächst einmal arbeiten Pharmakonzerne im Kapitalismus natürlich profitorientiert. Das heißt, dass sich die Erprobung und Testreihen an der gesellschaftlich herrschenden Gruppe orientieren: weiße cis-Männer. Die Verträglichkeit von Medikamenten wird an ihnen erprobt, Frauen oder gar Kinder werden bei der Entwicklung von neuen Medikamenten kaum berücksichtigt. Hier benötigen wir eine geschlechtsspezifische Medikamentenentwicklung. Die Betonung von „Cis“ ist in diesem Kontext wichtig, weil queere Menschen nicht nur beim regulären Besuch von Arztpraxen und Krankenhäusern ständiger Diskriminierung ausgesetzt sind, vom Blutspenden über das Infragestellen der geschlechtlichen Identität. Ebenso sind die Behandlungskosten häufig sehr hoch und muss deren Bezahlung in langen Prozessen erstritten werden. In halbkolonialen Ländern kommen noch ihre Verfolgung und Unterdrückung dazu, die sie häufig komplett von der Gesundheitsversorgung ausschließen.

Eine Ursache für die angesprochenen Probleme für Frauen und queere Menschen ist zum einen deren besondere Stellung innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise. Im Kapitalismus existiert eine Trennung zwischen gesellschaftlicher Produktion und der im Privaten meist von Frauen geleisteten Reproduktionsarbeit. Dies führt zu einem deutlich schlechteren Zugang zum Arbeitsmarkt, geringeren Löhnen und häufig zu einer finanziellen Abhängigkeit vom Partner. Hinzu kommt, dass durch die geschlechtsspezifische Rollenverteilung vorherrschende Stereotype weiter reproduziert werden. Kapitalismus ist daher, auch aufgrund globaler Konkurrenz, eng mit Sexismus und Rassismus verwoben. Hinzu kommt, dass im Gesundheitswesen deutlich weniger Profit generiert werden kann und daher die Kosten hierfür gerne auf die Gesamtgesellschaft abgewälzt werden. Um die angesprochenen Ursachen zu beseitigen, muss der Kampf gegen die Unterdrückung von Frauen und queeren Menschen mit dem gegen den Kapitalismus verbunden werden. Wir brauchen ein Gesundheitssystem unter Arbeiter:innenkontrolle, welches sich nicht an Profiten, sondern an den tatsächlichen Bedürfnissen orientiert. Die Pharmaindustrie muss enteignet und ebenfalls unter Arbeiter:innenkontrolle gestellt werden. Die bestehenden Patente müssen enteignet und nationale Produktionsstätten in Halbkolonien aufgebaut werden. Ebenso sind Ausbau und Förderung von Gendermedizin mit Berücksichtigung aller unterdrückten Gruppen der Gesellschaft unter Arbeiter:innenkontrolle von zentraler Bedeutung.




„Die Pflege muss enteignet werden!“

Interview mit einem Pflegeazubi aus Leipzig, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 11, März 2023

Das Wort Pflegenotstand ist in aller Munde: Überall fehlt es an Pflegekräften und Fachpersonal, Löh-ne sind viel zu niedrig. Die Politik hat nichts weiter übrig als vermeintlich wertschätzende Worte, aber es brennt an allen Enden und Ecken. Aber nicht nur die festangestellten Pflegekräfte bekommen et-was von den Problemen mit, auch die Azubis spüren es am eigenen Leib. Daher habe ich mich mit D., 19 Jahre, aus Leipzig getroffen, welcher eine Ausbildung zur Pflegefachkraft in einem privaten Alten-pflegedienst in Leipzig absolviert. Das Interview führte Leonie Schmidt

Hallo D., warum hast du dich für die Ausbildung zur Pflegefachkraft entschieden und was sind deren Inhalte?

Ich habe mich dafür entschieden, weil ich Menschen helfen will und ich auch so sozialisiert wurde. Meine Eltern waren auch schon Pfleger:innen.

Die Ausbildung zur Pflegefachkraft dauert 3 Jahre. Da ist alles drin von der Grundpflege, wie man einen Menschen richtig pflegt, wie man mit ihm kommuniziert, wie man psychischen Support leistet. Dann geht es weiter zu den Medikamenten, zum Aufbau des menschlichen Körpers. Durch die Zu-sammenführung der Ausbildung ist es so, dass man echt viel Medizin, darunter Anatomie lernen muss. Und das ist natürlich auch ein riesiger Stress, der auf die Azubis zukommt. Von dir als Azubi wird verlangt, dass du 8 Stunden in der Schule sitzt und dann 8 Stunden zu Hause nochmal lernst bzw. dich auf der Arbeitsstelle nochmal hinsetzt und am besten noch Hausaufgaben machst, was einfach nicht möglich ist in den meisten Fällen. Und am Ende der Ausbildung bist du dann eine Pfle-gefachkraft, die Allrounderin ist und überall eingesetzt werden kann– und auch wird. Also man hat diesbezüglich keine Probleme später, wenn man nach einer Arbeitsstelle sucht.

Das klingt auf jeden Fall ziemlich interessant, aber auch anspruchsvoll. Es gibt ja sowieso schon aktuelle Probleme in der Pflege. Wie schlägt sich denn der Pflegenotstand auf deine Ausbildung nie-der?

Es ist definitiv der Personalmangel, der sich hier zeigt, also dass die Fach- und Führungskräfte total überlastet sind, Dienstpläne nicht geschlossen werden können. Wenn sich jemand krankmeldet, dann wird Druck gemacht. Jemand muss aus dem Urlaub oder freien Tag geholt werden. Und das sind dann meistens wir Azubis, zumindest war es bei mir so. Du wirst für die „Drecksarbeit“ einge-setzt, der Klassiker. Du lernst in den meisten Fällen nicht mal wirklich was bei den Aufgaben. Entwe-der hast du im betreuten Wohnen gar nichts zu tun oder im Krankenhaus richtig viel Stress, wo du den ganzen Tag rumläufst, Betten beziehst, Medikamente verteilst und so weiter. Auch Sachen, die du eigentlich noch gar nicht machen darfst wie Spritzen oder Infusionen vorbereiten und anhängen sind dann alles Aufgaben, die auf dich abgewälzt werden, weil die Fachkräfte das zeitlich nicht schaf-fen. Natürlich ist es auch ein großes Problem, dass du dauerhaft am Arbeiten bist. Du hast keine Frei-zeit. Du bist am Wochenende arbeiten, wenn deine Freunde feiern gehen. Du bist abends arbeiten, wenn deine Freunde zuhause sitzen und Serien schauen. Du hast nie Zeit, was einen natürlich auch psychisch total fertigmacht – vor allem in so einem jungen Alter. Dann hat man einfach keine Jugend, weil man die ganze Zeit nur auf der Arbeit ist oder lernt.

Die Azubis werden also wie überall als volle Arbeitskraft eingesetzt, aber weder ordentlich entlohnt noch ordentlich ausgebildet, was gerade in Kombination mit dem Pflegenotstand besonders heftig ist. Das ist natürlich ein Sache, die man ganz klar angehen muss. Und was gibt es für Probleme spezi-ell an deinem Arbeitsplatz?

Ein ganz großes Problem bei dem privaten Pflegedienst, wo ich meine Ausbildung mache, ist, dass es keine Kommunikation im Team gibt. Man bekommt erst Sachen mit, wenn es wirklich zu spät ist, bspw. bei einer Abmahnung. Es gibt keinen mentalen Support. Niemand fragt zum Beispiel, warum du zu spät gekommen bist, es dir schlecht geht oder du keine Motivation zeigst. Und das zweite sehr große Problem ist, dass es ein privater Pflegedienst ist, und das führt dazu, dass der Mensch dort eine Ressource ist, egal ob Arbeit„nehmer“:in oder Patient:in.  Beide Gruppen werden extrem ausge-beutet und nur der Profit steht im Vordergrund.

Gibt es bei deiner Ausbildungsstelle auch Fälle von Rassismus oder Sexismus?

Bei meiner Stelle, am Randgebiet von Leipzig, gibt es auch sehr viel alltäglichen Rassismus. Wir haben zum Beispiel einen Pflegeazubi, der ist super lieb, 27 Jahre alt und wohnt seit 7 Jahren in Deutsch-land. Er spricht perfekt Deutsch, hat vorher auch eine Sozialassistentenausbildung gemacht und da-nach eine zum Krankenpflegehelfer. Jetzt macht er gerade eine Ausbildung zur Pflegefachkraft und studiert nebenbei. Er hat so viele Jahre fürs Gesundheitssystem in Deutschland gearbeitet und immer noch keinen deutschen Pass. Von Patient:innen und auch von den Mitarbeiter:innen kommen oft dumme rassistische Kommentare, wenn er nicht da ist.

Und der alltägliche Sexismus von der älteren Generation, was man nun mal leider kennt, kommt auf jeden Fall auch vor. Es gibt hier viele kleinbürgerliche Rechte mit Freiwildtattoo und „Böhse Onkelz“-Sticker am Auto. Mehr habe ich so konkret nicht mitbekommen, aber man merkt diese Stimmung immer, wenn es um solche Themen geht.

Das klingt nach einer Situation und Arbeitsbedingungen, die so nicht hinnehmbar sind. Was denkst du, wo müssten wir im Arbeitskampf im Pflegebereich ansetzen?

Definitiv Pflege enteignen! Pflege darf nicht, egal in welchem System, privat sein. Es kann nicht sein, dass Menschen so ausgebeutet werden, dass ihre Gesundheit als Ressource angesehen wird. Ich denke, das wird es wahrscheinlich in jedem Bereich des Kapitalismus geben. Aber in der Pflege ist es natürlich nochmal was ganz anderes, wenn wirklich spezifisch damit Geld gemacht wird, dass Men-schen auf dich angewiesen sind. Und das sollte es nicht geben. Es sollte also alles unter Kontrolle der Arbeiter:innenklasse verstaatlicht werden, höhere Einheitslöhne und bessere Arbeitsbedingungen geben. Gerade die Ausbildung sollte attraktiver gemacht werden, besonders für junge Menschen. Und es sollte einfach viel mehr Support von der breiten Masse für diese Ausbildung geben, zum Bei-spiel Boni. Das Schulsystem sollte angepasst werden, dass man auch einfach mal Jugendliche/r sein kann während der Ausbildung. Wenn man zum Beispiel neben der Berufsschule arbeitet, sollte es angepasst werden, dass man nicht 12 – 13 Tage durcharbeiten darf. Gewerkschaftliche Arbeit, auch im Azubibereich, ist ein wichtiger Ansatz, um das zu erreichen.

Das klingt nach einer sehr sinnvollen Perspektive. Viel Kraft für den gemeinsamen Kampf und vielen Dank für das Gespräch!




Arbeitskämpfe in Österreich im Reproduktionsbereich

Aventina Holzer, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung, März 2023

Österreich ist ein Land, das nicht unbedingt für seine Arbeitskämpfe berühmt ist. Aber die drohende Krise und speziell die Covidpandemie mit ihren Auswirkungen für den Reproduktionssektor haben vermehrt dazu geführt.

Speziell in der Pandemie wurde viel Aufmerksamkeit auf die Pflege und andere Krankenhausmitarbeiter:innen gelegt, die unter sehr schwierigen Arbeitsbedingungen essenzielle Tätigkeiten verrichten. Neben diesen wurde auf den Pflegenotstand aufmerksam gemacht. So werden bis 2030 76.000 zusätzliche Arbeitskräfte gebraucht sowie bessere Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie gefordert. Es gibt momentan auch Kampagnen, die verlangen, dass Pflege als Schwerstarbeit kategorisiert wird, um die tatsächlichen Auswirkungen der Arbeit aufzuzeigen.

Die Wiener Partei LINKS, in der die Genoss:innen des Arbeiter*innenstandpunkts aktiv sind, hat zur Unterstützung dieser Arbeitskämpfe eine Kampagne gestartet, in der versucht wird, die Situation in der Pflege im Spital mit der der häuslichen zu verbinden und aufzuzeigen, was hier alles falsch läuft.

Das sind aber nicht die einzigen Aktivitäten im Reproduktionsbereich in Österreich. Im letzten Jahr streikten Elementar- und Freizeitpädagog:innen mehrmals, um gegen Personalmangel, fehlende Ressourcen und Gelder für Erziehung und die schlechte Bezahlung anzukämpfen. Die Forderungen richten sich auch konkret an die türkis-grüne Regierung. Die korrupte, türkise und rechtskonservative Volkspartei steht schon seit Jahren auf Kriegsfuß mit der öffentlich-staatlichen Förderung von Bildung. Die Grünen opfern ihre Versprechen dem Erhalt ihre Regierungssitze. Bemerkenswert ist, dass die Streiks ausstrahlten und immer mehr Sektoren und zusammenhängende Bereiche gemeinsam in den Ausstand treten.

So fand am 8. November 2022 ein Streiktag der Sozialwirtschaft Österreich statt, wo von der Pflege bis hin zur Nachmittagsbetreuung viele Arbeiter:innen des sozialen (und reproduktiven) Bereichs auf die Straße gegangen sind und bessere Kollektivvertragsabschlüsse gefordert haben. Von den geforderten 15 % wurden 8 % zugestanden. Angesichts einer Inflationsrate von 8,6 % im Jahr 2022 bleibt dieser Abschluss jedoch unter der aktuellen Preissteigerung. Es kommt daher nicht nur darauf an, weiter die Kämpfe auf die Straße zu bringen und sie miteinander zu verbinden. Notwendig ist ein politischer, unbefristeter Massenstreik für die automatische Anpassung der Löhne und Gehälter, der Renten und anderen Transferleistungen an die Preissteigerung – kontrolliert von demokratisch gewählten Ausschüssen der Beschäftigten.




Britannien: Tod durch tausendfache Kürzungen im Gesundheitswesen

Rebecca Anderson, Infomail 1208, 27. Dezember 2022

Die Winterkrise im britischen Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) ist so akut wie nie zuvor. Die Zahl der Betten, die von Patient:innen belegt sind, die seit mehr als drei Wochen im Krankenhaus liegen, ist die höchste in den letzten fünf Wintern. Neunzehn von zwanzig Betten auf den Stationen in England sind voll ausgelastet. Dies geht einher mit einer Krise des Notfallversorgungssystems. Fast drei von zehn Patient:innen, die mit dem Rettungswagen eingeliefert werden, müssen vor den Krankenhäusern Schlange stehen, die zu voll sind, um sie aufzunehmen – etwa doppelt so viele wie vor der Pandemie.

Plan zur Zerschlagung des NHS

7,2 Millionen Menschen stehen in England auf Wartelisten für Krankenhausbehandlungen – 60 % mehr als vor der Pandemie. In Schottland steht jede/r Siebte auf einer Warteliste, und die Zahl in Wales hat einen neuen Höchststand erreicht. Die Versicherungsfirma Confused.com wirbt derweil damit, eine private Krankenversicherung abzuschließen, um diese Wartelisten zu umgehen. All dies ist Teil eines langfristigen Plans zur Zerschlagung des NHS, zu dem auch gehört, ihm die Mittel zu entziehen, die in Behandlungsgeräte und Gehälter fließen, die eine ausreichende Zahl von Beschäftigten im Gesundheitswesen anziehen können.

Der NHS, um den die Patient:innen in den USA und vielen Teilen Europas einst beneidet wurden, gerät immer mehr ins Hintertreffen und droht zu einer Zweiklassenmedizin mit Privilegien für die Ober- und Mittelschicht und einer marginalen Versorgung für die Arbeiter:innenklasse und die Armen umgewandelt zu werden, ähnlich dem Medicaid-System in den USA.

Der britische Gesundheitsminister Stephen Paul („Steve“) Barclay beharrt darauf, dass lange Wartelisten und überfüllte Krankenhäuser nicht das Ergebnis von Unterfinanzierung seien. Allerdings betrugen die durchschnittlichen jährlichen Investitionsausgaben im Vereinigten Königreich zwischen 2010 und 2019 5,8 Mrd. Pfund, verglichen mit einem EU-Durchschnitt von 38,8 Mrd. Pfund, was bedeutet, dass Großbritannien über weitaus ältere und weniger gut gewartete Einrichtungen verfügt, und zwar in geringerer Zahl.

Im Rahmen des Sparprogramms der Regierung nach der Rezession von 2007 wurde die Finanzierung des NHS zwischen 2008 und 2018 gekürzt. Jede der aufeinanderfolgenden Regierungen hat behauptet, die Mittel für den Gesundheitssektor zu erhöhen, aber damit das NHS-Budget wirklich gestiegen wäre, müsste es sowohl mit der Inflation als auch mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten. Real sind die Mittel für den NHS heruntergefahren worden. Zwischen 1949/50 und 2016/17 stiegen die Gesundheitsausgaben im Durchschnitt um 3,3 % pro Jahr. Betrachtet man jedoch nur den Zeitraum zwischen 2009/10 und 2016/17, so sinkt dieser Durchschnitt deutlich auf 0,6 % und liegt damit weit unter der Inflationsrate.

Obwohl die Mittel für den NHS während der Pandemie aufgestockt wurden, konnten die Probleme, die bereits durch die chronische Unterfinanzierung entstanden waren, nicht gelöst werden. Der NHS war zu Beginn des Jahres 2020 bereits am Rande der Belastungsgrenze. Er verfügte über 6,6 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner:innen, verglichen mit 29,2 in Deutschland, 12,5 in Italien und 10,6 in Südkorea.

Personalmangel

Derzeit sind 133.400 Stellen unbesetzt, darunter 47.500 Stellen in der Krankenpflege. Der derzeitige Trend bewegt sich dahin, dass immer mehr Stellen frei werden – mehr Pflegepersonal verlässt den Beruf, als neu hinzukommt. Das Royal College of Nursing (Königliche Pflegepersonalausbildungsstätte, RCN) fordert eine über der Inflationsrate liegende Lohnerhöhung nicht nur für die bestehenden Arbeitskräfte, deren Löhne seit Jahren niedrig gehalten werden, sondern auch, um die Personalbeschaffung zu unterstützen.

Ein wichtiger Teil des Plans der Regierung zum Abbau des Covid-Rückstands ist eine verstärkte Werbekampagne im Ausland mit dem Ziel, bis 2021/22 10.000 internationale Arbeitskräfte einzustellen.

Die Behandlung internationalen Pflegepersonals durch den NHS wurde jedoch vom RCN kritisiert. Der Verband setzt sich für eine „ethische internationale Rekrutierung“ ein und verweist auf weit verbreitete Probleme mit hohen Gebühren für die vorzeitige Ausreise in Höhe von bis zu 14.000 Pfund, mit denen Arbeiter:innen unter Druck gesetzt werden, ihre Verträge einzuhalten oder die Gebühren unter Androhung der Abschiebung zurückzuzahlen. Das RCN ist auch besorgt darüber, dass die angeworbenen Arbeitskräfte darüber getäuscht werden, wie einfach es sei, Familienangehörige ins Vereinigte Königreich zu holen, und dass sie, wenn sie entdecken, wie schwierig es ist, sich im britischen Einwanderungssystem zurechtzufinden, bereits in einen Vertrag gebunden sind.

Der NHS hat auch Probleme, das vorhandene Personal zu halten: 16 % der Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen wollen die Branche ganz verlassen, wobei sie Personalmangel, Bezahlung und Arbeitsbelastung als Gründe anführen. Es ist ein Teufelskreis, denn je weniger NHS-Mitarbeiter:innen vorhanden sind, desto größer wird der Druck auf diejenigen, die bleiben. Allein im August 2021 gab es zwei Millionen Fehltage wegen Krankheit, ein Viertel davon wegen psychischer Probleme.

Tod durch tausend Einschnitte

In den 1980er Jahren wollte Margaret Thatcher den NHS vollständig privatisieren, da sie ihn als einen weiteren Teil des „Sozialismus“ betrachtete, den sie unbedingt zerstören wollte. Eine Revolte im Kabinett hielt sie jedoch davon ab, so dass sie den Chef des Supermarktkonzerns Sainsbury, Roy Griffiths, mit der „Reform“ beauftragte. Den Ärzt:innen wurde die Führung in den Krankenhäusern entzogen und sie wurde einer Kaste von hochbezahlten Leuten aus der Privatwirtschaft übergeben, die den Dienst wie ein Unternehmen führen sollten. Ein neoliberaler US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler, Alain Enthoven, riet dazu, die Disziplin des Marktwettbewerbs einzuführen.

Die Verwaltungskosten verdoppelten sich über Nacht. Als die Labour-Partei unter Tony Blair 1997 einen erdrutschartigen Wahlsieg errang, wurde der Marktöffnungsprozess trotz der im Wahlprogramm gemachten Zusagen nicht rückgängig gemacht. Der Schatzkanzler Gordon Brown weitete die Private Finance Initiative (Privatfinanzinitiative, PFI) der Tories sogar noch aus und nutzte sie für den Bau von Krankenhäusern, die damit faktisch in den Besitz des privaten Sektors übergingen.

Als die Tories 2010 an die Regierung zurückkehrten, brachte der Hardliner-Gesundheitsminister Andrew Lansley 2011 das Gesundheits- und Sozialfürsorgegesetz ein, das den NHS in eine völlig neue Phase der Privatisierung führte. Das Gesetz von 2012 öffnete alle NHS-Dienste für Ausschreibungen, offen für konkurrierende private Unternehmen.

Trotz der Empörung unter der Ärzt:innenschaft und dem Pflegepersonal haben private Unternehmen wie Virgin und Circle ihre Warnungen einfach übertönt. Schlimmer noch: Unison, die größte Gewerkschaft des Gesundheitswesens, rief während der gesamten fünf Jahre der Regierung von David Cameron zu keinem einzigen Streik und keiner einzigen Demonstration auf, und die Gesundheitsminister Lansley und Jeremy Hunt setzten die Aufteilung des Dienstes in kleinere regionale Systeme mit der Befugnis zu entscheiden, welche Dienste verfügbar sein werden und wer sie erbringen würde, mühelos fort. Bis 2017 gingen 43 % des Gesamtwerts dieser Verträge an den privaten Sektor. Allein Virgin erhielt den Zuschlag für NHS-Aufträge im Wert von über einer Milliarde Pfund.

Die Kampagnengruppe Keep Our NHS Public (Unser Gesundheitsdienst muss öffentlich bleiben) zeigte auf, dass die aktuelle „Marktreform“, der Long Term Plan (Langfristiger Plan), die Kosten senkt, indem sie den Zugang zur Gesundheitsversorgung einschränkt, die Qualität mindert und profitorientierte Unternehmen wie die US-Giganten McKinsey, UnitedHealth und Kaiser Permanente einbezieht.

Darüber hinaus wird das „Nationale“ aus dem NHS herausgenommen, indem er in lokale Integrierte Versorgungssysteme mit ihren eigenen, streng kontrollierten Budgets aufgeteilt wird, was bedeutet, dass Gebiete mit einem höheren Grad an schlechter Gesundheitsversorgung – Merseyside, Newcastle, Hackney – mit ihren eigenen Problemen fertigwerden müssen. Der NHS England hat bereits 83 Organisationen mit dieser Aufgabe betraut, von denen 76 private Unternehmen sind, 23 mit Sitz in den USA, darunter Centene, Cerner, Deloitte, GE Healthcare, IBM, McKinsey und Optum, der britische Zweig von UnitedHealth.

Der Plan wird dazu führen, dass die Gesundheitsversorgung zu einer weiteren Ware wird, die internationalen Handelsabkommen unterliegt: Der NHS wird zu einem Logo, das auf private Unternehmen aufgeklebt wird. Die Zukunft kann man in den USA besichtigen, wo die Gesundheit eine Ware ist und Menschen, die sich keine Versicherung leisten können, oft ohne Notfallbehandlung sterben und Arztrechnungen Menschen in den Bankrott treiben.

Wer zahlt?

Der NHS benötigt zweifelsohne eine massive Finanzspritze, sowohl um den Bedarf an höheren Gehältern und mehr Personal als auch den Investitionsbedarf für neue Krankenhäuser und Ausrüstung zu decken. Die Gebühren für Medizinstudent:innen- und Pflegeschüler:innen müssen abgeschafft und ein Stipendium in Höhe eines existenzsichernden Lohns wieder eingeführt werden, ebenso wie kostenlose, hochwertige Kinderbetreuung vor Ort, um den Bedürfnissen der Eltern gerecht zu werden. Die Gebühren für die vorzeitige Ausreise internationaler Krankenschwestern und -pfleger sollten abgeschafft werden, ebenso wie die Einwanderungsbestimmungen, die ihnen mit Abschiebung drohen und sie von ihren Familien trennen.

Unsere Antwort muss lauten, dass die Reichen und die Großkonzerne gezwungen werden müssen, für die Krise des NHS zu zahlen, genauso wie sie gezwungen werden müssen, für die Krise der Lebenshaltungskosten und die kommende Rezession zu zahlen.

Grundsätzlich muss das Gesundheitswesen wieder vollständig in öffentliches Eigentum überführt, ohne Entschädigungszahlungen an die Profiteur:innen, und unter der demokratischen Kontrolle von Beschäftigten und Patient:innen betrieben werden. Alle privaten Finanzierungsinitiativen (PFIs) gehören abgeschafft.

Wir müssen auch die Pharmakonzerne und all jene enteignen, die durch die Ausbeutung von Kranken riesige Profite erpressen, und zwar unter der Kontrolle der Arbeiter:innenklasse und ohne einen Pfennig Entschädigung für die Bosse.

Für die Krise des NHS sind Regierungen der Bosse, einschließlich derjenigen von New Labour, maßgeblich verantwortlich. Die Gewerkschaften sollten als Preis für die Finanzierung der nächsten Wahlkampagne von Labour darauf bestehen, dass das Parteiprogramm oben skizzierte Maßnahmen enthält. Deshalb geht es beim aktuellen Streik um mehr als nur Löhne. Es geht um das Überleben des NHS – und der öffentlichen Dienste und der sozialen Sicherung im Allgemeinen.