Defender 2024: Nur wer übt, wird kriegstüchtig

Linda Loony, Infomail 1248, 15. März 2024

„Kriegstüchtig“ und zum „Rückgrat der Abschreckung“ müsse die Bundeswehr lt. Verteidigungsminister Pistorius wieder werden. Dafür legt sich die Truppe zur Zeit mächtig ins Zeug.

Das „Steadfast Defender“-Manöver der NATO (STDE24/SD24; deutsch: standhafte Verteidigung), aktuell im Gange, markiert die größte militärische Übung des Bündnisses seit dem Ende des Kalten Krieges vor 35 Jahren. Die Simulation eines Konfliktszenarios mit Russland als potenziellem Gegner an der Ostflanke ist keine bloße Übung, sondern eine ernsthafte Vorbereitung. Denn nach Einschätzungen der Bundeswehr könnte Russland in wenigen Jahren bereit sein, einen Krieg gegen die NATO zu führen – und darauf will sich das Bündnis vorbereiten, indem die eigene Angriffsfähigkeit demonstriert und geübt wird.

Doch der Aufschrei in Bevölkerung und Medien scheint im kollektiven Halse steckengeblieben zu sein. Auf der Straße gibt es keine Großdemonstrationen gegen Krieg und Aufrüstung, die Berichterstattung über das Manöver und seine Ziele ist begrenzt und im Betrieb oder Freund:innenkreis dürften die wenigsten bisher darüber in Diskussionen geraten sein. Laut einer Bevölkerungsumfrage mit rund 2.200 Personen sind 70 % überzeugt, dass Deutschland weiterhin der NATO angehören muss, 65 % befürworten die finanziellen Zusagen an sie. Die Bundeswehrmissionen an der NATO-Ostflanke werden ebenfalls überwiegend unterstützt.

Die Einstellung zur Bündnisverteidigung hängt jedoch stark von der Wahrnehmung Russlands als Bedrohung der „Freiheit“ ab, also wie sehr die NATO-Ideologie verfängt, dass es sich nicht um einen immer schärferen innerimperialistischen Gegensatz handeln würde, sondern um einen Konflikt zwischen „Demokratie“ und „Autokratie“. Zweifellos wirkt diese Darstellung besonders angesichts der imperialistischen Aggression und Besatzung Russlands gegenüber der Ukraine. Der Kenntnisstand über die Bundeswehrmissionen an der NATO-Ostflanke selbst ist jedoch eher gering (1). Dabei rasseln die Säbel in Europa so laut wie lange nicht mehr.

Dieser Artikel soll zunächst einen Überblick über das aktuell laufende Steadfast Defender- Manöver der NATO geben. Im Anschluss wird eine globale politische Einordnung vorgenommen. Abschließend beschäftigt sich der Artikel mit der Frage der Programmatik, für die die Arbeiter:innenklasse in diesen Zeiten gewonnen werden muss.

Alle machen mit

Die Teilnahme an diesem gigantischen Manöver erstreckt sich über alle 32 NATO-Mitgliedsstaaten. Ziel ist es, die Alarmierung nach dem Bündnisfall zu üben, sich auf den Einsatz vorzubereiten, Truppen in die Einsatzräume zu verlegen und letztlich „den Aggressor im Gefecht abzuwehren“ (2). Mit einer Stärke von 90.000 Soldat:innen soll die NATO ihre Schlagkraft demonstrieren und Russland zugleich vor Augen führen, welche Konsequenzen ein Angriff auf das Bündnisgebiet haben würde. Abschreckung ist das erklärte Ziel an der NATO-Ostflanke.

Das Manöver erstreckt sich über einen Zeitraum von drei Monaten und umfasst verschiedene Übungen: Grand North, Grand Center, Grand South und schließlich die Abschlussübung Grand Quadriga. Dabei operiert die Bundeswehr nicht nur in Deutschland, sondern auch in Norwegen, Polen, Ungarn, Rumänien und Litauen. Diese umfangreiche Präsenz verdeutlicht, dass es nicht nur um eine regionale Verteidigungsübung geht, sondern um eine Koordination auf internationaler Ebene.

Der Menschen- und Materialeinsatz ist beeindruckend: Rund 90.000 Soldat:innen, 50 Marineschiffe, 80 Flugzeuge und über 1.100 Kampffahrzeuge werden mobilisiert. Die Bundeswehr ist mit ihrem Manöver Quadriga 24 Teil der NATO-Operation. Generalinspekteur Breuer betont die Bedeutung Deutschlands als Dreh- und Angelpunkt für die Verteidigung Europas (3). Quadriga 24 beinhaltet die Verlegung von Militärkonvois in vier Teilmanövern zu unterschiedlichen Zeiten, und es handelt sich um die größte Übung deutscher Landstreitkräfte seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Mit 12.000 Soldat:innen, 3.000 Fahrzeugen und 30 Luftfahrzeugen ist dies ein beachtliches Aufgebot.

Der Gegner Russland

Seit zwei Jahren tobt nun ein heißer Krieg in der Ukraine. Dies hat die Konfrontation zwischen den westlichen Imperialismen und ihrem russischen Gegenspieler in einem Maß verschärft, das es seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr gegeben hat. Obwohl keine kämpfenden Einheiten der NATO direkt involviert sind, wurden und werden die ukrainischen Streitkräfte vor und während des Krieges massiv ausgerüstet. Die Unterstützung umfasst Waffen, Logistik, Informationsdienste und Ausbildung an modernen Waffensystemen. Die gelieferte Ausrüstung stammt aus westlichen Armeen, begleitet von einer Modernisierung der eigenen Rüstungsindustrie.

Der westliche Imperialismus hat sich dabei hierzulande die moralische Deutungshoheit über die Kriegssituation gesichert: Russland als undemokratischer, reaktionärer Staat greift die Ukraine an und bedroht damit den Frieden, die Freiheit und Demokratie in ganz Europa, während der Westen nur als selbstloser Helfer agiere. Auch wenn die Selbstverteidigung der Ukraine gegen die Invasion berechtigt ist und es zynisch wäre, den ukrainischen Massen vorzumachen, dass es egal wäre, ob ihr Land besetzt wird oder nicht, so geht es der NATO und der Bundesrepublik darum, selbst die Kontrolle über möglichst große Teile der Ukraine zu erlangen, diese als ihr Ausbeutungs- und Investitionsgebiet zu sichern und die NATO selbst nach Osten auszudehnen.

Dies soll demnach auch sämtliche Aufrüstungsprogramme der NATO legitimieren und dient den Herrschenden als Propagandamittel. Die Moral des westlichen Imperialismus bei der Verurteilung despotischer Regierungen wird aufmerksamen Beobachter:innen jedoch als recht dehnbar auffallen, denn sie hängt lediglich von der Nützlichkeit des betreffenden Staates für die Umsetzung eigener nationaler Interessen ab. So hat die EU weniger Probleme damit, den autoritären Staat Türkei im Krieg gegen die Kurd:innen gewähren zu lassen, denn schließlich hält dieser Massen geflüchteter Menschen zurück, die anderenfalls potenziell Zuflucht hinter der Mauer der Festung Europa suchen würden. Sie haben offenkundig auch kein Problem damit, die Bombardierung Gazas politisch und militärisch zu unterstützen – denn schließlich verteidigt das zionistische Regime westliche imperialistische Interessen.

Diese propagierte moralische Notwendigkeit der Verteidigung schmeckt jedenfalls deutlich besser, als würde offen propagiert werden, dass seit jeher der westliche wie auch der russische Imperialismus jeweils ihre eigenen geopolitischen und damit ökonomischen Interessen verfolgen, die nun in der Einflusssphäre Ukraine kollidieren. Das bedeutet, der Konflikt geht nicht nur darum, ob die Ukraine ein unabhängiger Staat ist, sondern er ist zugleich mit der Frage verwoben, ob sie eine Halbkolonie Russlands oder der NATO-Imperialist:innen sein soll. Kurzum, die Ukraine ist heute sowohl Schauplatz eines Kampfes gegen die russische Invasion wie zwischen den rivalisierenden imperialistischen Mächten um die Neuaufteilung der Welt.

Der Kampf um Einflusssphären

Die NATO verfolgt seit den 1990er Jahren das Projekt der Erweiterung ihrer Mitgliedsstaaten und Einflussgebiete nach Osten. Die Aufnahme Nordmazedoniens im Jahr 2020 bildet die vorläufig letzte Etappe der Integration ehemaliger „sozialistischer Länder“. Zu deren Integration in die NATO gehört auch die permanente Stationierung von NATO-Bataillonen in Osteuropa, die seit 2016 umgesetzt wird. Auf dem NATO-Gipfel 2022 wurde dann deren deutliche Aufstockung beschlossen. Deutschland sagte im Juni 2023 zu, für dieses Vorhaben 4.000 Soldat:innen samt Ausrüstung dauerhaft in Litauen zu stationieren. Zurzeit sind rund 40.000 NATO-Soldat:innen in Osteuropa stationiert.

Russland wiederum erlebt dadurch seit jeher eine Bedrohung seiner eigenen Einflusssphären und forderte darüber hinaus als Reaktionen auf bevorstehende oder mögliche Beitritte immer wieder die militärische Neutralität von Staaten in Ost- und Südosteuropa als „Pufferzonen“ zwischen sich und der NATO ein. Hier ist ersichtlich, dass Russland umgekehrt die NATO als Angreiferin auf seine Souveränität und Sicherheit propagiert und auf Nationalismus als ideologisches Bindeglied setzt. Russland reagiert außerdem auf diese Aktivitäten seinerseits mit provokanten Manövern.

Hieraus wird deutlich, dass die militärische Mobilmachung des westlichen Imperialismus keine unmittelbare Folge des Angriffskrieges von Russland auf die Ukraine darstellt, sondern vielmehr eine fortbestehende Notwendigkeit im Kampf um Einflusssphären ist. Es wird ebenso deutlich, dass selbst ein Ende des Krieges in der Ukraine nicht das der Aufrüstung bedeuten würde, denn ein kriegsfähiges Militär ist essenziell im Konkurrenzkampf imperialistischer Staaten um die Ausbeutungshoheit über ihre Halbkolonien (4).

Kriegsvorbereitung

Mit dem „Krieg für die Freiheit in Europa“ verfügt der westliche Imperialismus über einen ideologischen Vorteil, um alle Krisensymptome, die die Arbeiter:innenklasse zu spüren bekommt, Russland in die Schuhe zu schieben und damit auch wirtschaftliche Angriffe auf soziale Errungenschaften der Lohnabhängigen als „patriotische“ Notwendigkeiten zu tarnen. So stimmte beispielsweise die Führung der IG Metall als gewerkschaftliche Vertretung in der deutschen Rüstungsindustrie in ihrem Positionspapier zur Sicherheits- und Verteidigungsindustrie im Januar 2024 in den Tenor ein und unterstrich ihrerseits, dass sie die Aufrüstungsziele der Bundesregierung unterstütze. Die Gewerkschaft stellt die so gewonnenen bzw. erhaltenen Arbeitsplätze als Errungenschaft heraus und erklärt, Waffenexporte zu unterstützen. Die Gewerkschaftsbürokratie bewegt sich hier also vollständig auf Kurs der deutschen Bourgeoisie.

Auch die reformistische SPD stellt sich nicht gegen das Mantra der Aufrüstung, während DIE LINKE nicht so recht weiß, ob sie für oder gegen eine solche „Sicherheitspolitik“ sein soll. Während sie auf Parteitagen immer noch ein Bekenntnis zum „Frieden“ abgibt, verstoßen Parlamentarier:innen und Funktionär:innen vom rechten, „regierungssozialistischen“ Flügel immer wieder gegen diese Beschlüsse. In der Praxis fällt DIE LINKE vor allem dadurch auf, dass sie der Kriegsfrage möglichst aus dem Wege geht.

Jedoch ergaben sich auch kürzlich Konflikte innerhalb der Herrschenden darüber, welche der Zugeständnisse an die Lohnabhängigen für die Aufrüstungspläne gestrichen werden sollen. So hatte die SPD den Vorschlag des FDP-Vorsitzenden und Finanzministers Lindner kritisiert, bei denen das Sondervermögen für die Aufrüstung durch Einsparungen in den Sozialleistungen gedeckt werden sollte. Doch dieses kleinen Aufbegehren der Reformist:innen darf nicht als wahrer Einsatz für die Arbeiter:innenklasse verkannt werden, denn sowohl die SPD als auch die Grünen befürworten und gestalten die aktuelle Aufrüstungspolitik.

Welche Bewegung?

Laut der bereits zitierten Bevölkerungsumfrage sprach sich letztes Jahr über die Hälfte der Befragten weiterhin für eine Erhöhung des Verteidigungsetats, eine Aufstockung der Soldat:innen und eine Wiedereinführung der Wehrpflicht aus. Nur 8 % plädieren für eine Reduzierung der Verteidigungsausgaben und des Personals.

Die ideologische Mobilmachung scheint zu fruchten: Bürgerliche Arbeiter:innenparteien wie die SPD und Gewerkschaftsführungen (und in Teilen auch die Linkspartei) tragen die Staatsraison mit und versuchen, die Lohnabhängigen durch kurzfristige ökonomische Argumente sowie durch den Kampf für das vermeintlich moralisch „richtige“ Ziel zu binden, also die Verteidigung westlicher Freiheit und Demokratie.

Für revolutionäre Kräfte gilt es, den Widerspruch zwischen den Zielen der Bourgeoisie und dem objektiven Interesse der Lohnabhängigen aufzuzeigen, und das nicht nur durch symbolische Aktionen auf der Straße. Es muss ein politischer und ideologischer Kampf in der Arbeiter:innenbewegung geführt werden. Es gilt, die ideologische Mobilmachung aufzubrechen.

Dies gilt für die Arbeiter:innenschaft in Russland wie auch in den westlichen imperialistischen Staaten. Dieser Kampf bedeutet auch, mit Antikriegsforderungen, die einer pazifistisch-kleinbürgerliche Grundlage entspringen, zu brechen. Es geht nicht darum, Phrasen wie „Nie wieder Krieg“ zu wiederholen oder gar die Hoffnung zu schüren, dass uns eine „europäische Verteidigungsarchitektur“ besser als die NATO beschütze oder die Bundesregierung unseren Forderungen nachkommen würde.

Eine Antikriegsbewegung, die über dies nicht hinauskommt oder sich auf die Seite einer imperialen Macht stellt, ignoriert den systemischen Charakter des Krieges und ist letztlich zum Scheitern verurteilt. Denn der Krieg ist im Rahmen der Klassengesellschaft und der imperialistischen Weltordnung ein politisches Mittel zur Durchsetzung der Interessen der Bourgeoisie. Der (Irr-)Glaube, man müsse sich beim Kräftemessen der Großmächte und deren Kriegsvorbereitung nur auf die „moralisch“ richtige Seite des Friedens stellen oder die Regierung um Einhalt bitten, greift vielleicht die Auswirkung des Krieges kurzfristig an, doch verfehlt es, seiner Voraussetzung den Kampf zu liefern: dem kapitalistischen System.

Proletarischer Antimilitarismus

Das Programm für die Arbeiter:innenklasse muss daher ein konsequenter proletarischer Antimilitarismus sein, d. h. ein Bekenntnis zum Defaitismus im neuen Kalten Krieg.

Der Hauptfeind ist nicht in einem imperialistischen Konkurrenten zu sehen, sondern im eigenen Land, in der eigenen nationalen Bourgeoisie. Und ein unmittelbares Ziel besteht darin, zu verhindern, dass der Kampf um die Ukraine zu einem offenen globalen Krieg zwischen den imperialistischen Mächten eskaliert.

In Russland muss die Arbeiter:innenklasse gegen den Einmarsch in die Ukraine kämpfen und die sofortige Beendigung des Krieges sowie den Abzug aller russischen Truppen fordern. Angesichts des autokratischen Charakters des Putin-Regimes ist der Kampf für demokratische Rechte, Meinungsfreiheit und die Freilassung politischer Gefangener entscheidend. Dieser muss mit dem Ziel verbunden werden zu verhindern, dass die Arbeiter:innen die Kosten des durch Sanktionen verursachten Elends und der Kriegstreiberei tragen müssen. Die Auseinandersetzung muss in den Betrieben verwurzelt sein und den Kampf gegen den Krieg mit Massenstreiks und der Enteignung der Oligarch:innen verbinden. In der Ukraine ist der Kampf gegen die Besatzung zwar ein gerechtfertigter, aber er muss mit einem politischen Kampf gegen die reaktionäre Regierung Selenskyj, die falschen Hoffnungen in den westlichen Imperialismus und für den Aufbau einer unabhängigen Arbeiter:innenbewegung und revolutionären Partei verbunden werden.

In den NATO-Ländern muss dazu aufgerufen werden, sich als Arbeiter:innenschaft gegen Kriegstreiberei, Aufrüstung und Sanktionen zu stellen, die kein reaktionäres Regime stürzen, sondern in ihrer Konsequenz der russischen Arbeiter:innenklasse schaden, vor allem aber die imperialistische Konfrontation weiter zuspitzen. Die Parteien der Arbeiter:innenklasse, Gewerkschaften und linke Kräfte müssen jede „nationale“ Einheit mit den westlichen Regierungen ablehnen und gegen reaktionäre Gesetze kämpfen. Eine echte Antikriegsbewegung muss die imperialistischen Interessen der westlichen Unterstützung für die Ukraine aufdecken. Dabei müssen Revolutionär:innen gegen Sozialpazifismus und Sozialchauvinismus vorgehen und den wahren Charakter des Krieges den Massen verständlich machen.

Perspektivisch bedeutet das auch, dass revolutionäre Kräfte Arbeit in der Armee leisten müssen, gerade bei einer potenziellen Wiedereinführung der Wehrpflicht, die das Heer aus der breiten Masse der Arbeiter:innenklasse zusammensetzen würde, statt wie aktuell nur aus Freiwilligen. Antimilitaristische Arbeit unter den und Organisierung der einfachen Soldat:innen und Wehrpflichtigen sind Schritte auf dem Weg zum Kampf gegen die Militarisierung und Aufrüstung der eigenen Nation.

Die Enteignung der Rüstungskonzerne und damit verbundene Kontrolle über die Produktion muss eine weitere Kernforderung der proletarischen Antikriegsbewegung sein. Ein proletarisches Antikriegsprogramm muss aber gleichzeitig auch Lösungen für die Arbeiter:innenschaft dieser Konzerne vorschlagen, d. h. für die dort Beschäftigten müssen Umschulungsangebote geschaffen werden, die ihnen einen Branchenwechsel zu gleichem Einkommen ermöglichen.

Es braucht einen Kursumschwung in der Arbeiter:innenbewegung und die beschriebene programmatische Methode gilt es sinngemäß auf sämtliche kriegerische Auseinandersetzungen anzuwenden, die vom westlichen Imperialismus unterstützt werden wie bspw. der Krieg im Gazastreifen. Die Schaffung einer internationalistischen Antikriegsbewegung ist das unabdingbare Mittel, den Kampf gegen die Kriegsgefahr in einen Klassenkampf gegen die Kapitalist:innenklasse zu transformieren.

Endnoten

(1) Quelle: ZMSBw-Bevölkerungsbefragung: https://zms.bundeswehr.de/de/bevoelkerunsgbefragung-zeitenwende-in-den-koepfen-5730686

(2) Quelle: Quadriga 2024: NATO-Landstreitkräfte üben den Bündnisfall [bundeswehr.de]

(3) Ebenda

(4) Mehr zu dem Thema auch hier: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/03/09/der-krieg-in-der-ukraine-und-der-kampf-um-die-neuaufteilung-der-welt/ bzw. hier https://arbeiterinnenmacht.de/2024/02/12/100-milliarden-sondervermoegen-fuer-die-bundeswehr-hochruestung-fuer-deutsche-kapitalinteressen/




Weder Putin noch NATO! Frieden für die Ukraine! Aber wie?

Flugblatt von Arbeiter:innenmacht und REVOLUTION zur Kundgebung „Aufstand für Frieden“, Infomail 1214, 25. Februar 2023

Der barbarische Angriff Russlands auf die Ukraine jährt sich. Weit über 100.000 Tote hat der Krieg in nur einem Jahr gefordert. Rund 15 Millionen Menschen – ein Drittel der Bevölkerung – wurden zu Flüchtlingen im eigenen Land oder in ganz Europa.

Ein Ende der Barbarei scheint nicht in Sicht – und die Gefahr, dass sich der Krieg zum Flächenbrand ausweitet, ist längst nicht gebannt. Kein Wunder, dass Millionen Menschen, die sich mit der Bevölkerung der Ukraine solidarisieren, ihr Recht auf Widerstand durchaus anerkennen, fragen, wie es weitergehen soll. Sie fragen sich: Wie kann die Konfrontation zwischen Russland und den westlichen Großmächten, insbesondere der USA, aber auch Deutschland und der EU gestoppt werden? Und wer soll das tun? Die Großmächte, die diesen Krieg selbst direkt verursacht oder maßgeblich befeuert haben? Wie soll ein „Frieden“, der von ihnen ausgehandelt wird, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung bringen?

Unserer Meinung nach geht es darum, eine internationale Antikriegsbewegung aufzubauen. Eine solche müsste die Arbeiter:innenklasse und die Linke im Westen, die Lohnabhängigen und fortschrittlichen Kräfte in der Ukraine und die Antikriegsbewegung in Russland umfassen. Es müsste eine Bewegung sein, die sich keiner imperialistischen Gruppierung unterordnet. Dazu ist es notwendig, den Charakter des Kriegs und seine verschiedenen Aspekte zu verstehen.

Nein zu Putins Krieg!

Die Invasion und Besatzung von rund 20 % der Ukraine durch den russischen Imperialismus haben einen Krieg entfacht, für den es keine Rechtfertigung gibt. Die russische Armee und die bezahlten Söldner:innen Putins haben in der Ukraine nichts verloren. Alle Rechtfertigungen für den lange als „Spezialoperation“ verharmlosten Einmarsch erwiesen sich von Beginn an als Lügen. Es geht nicht um den Kampf gegen den „Faschismus“, dem so manche Gefolgsleute des russischen Regimes selbst gefährlich nahekommen. Es geht schon gar nicht um die Befreiung eines „Brudervolkes“, dessen nationale Existenz von Putin persönlich als Erfindung abgetan wird.

Dem Regime Putin ging es nur um eines: die ökonomischen und geostrategischen Interessen des russischen Imperialismus. Dafür nahm er in Kauf, ein ganzes Land in Schutt und Asche zu legen. Dafür nimmt er auch in Kauf, dass die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung von Russland nichts mehr wissen will.

Das Ringen um die Ukraine

Zweifellos, Putin tritt das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine mit Füßen. Niemand kann der Bevölkerung ihr Recht abstreiten, sich gegen die Invasion, die Bombardierungen, den Artilleriebeschuss, willkürliche Morde und Vergewaltigungen zur Wehr zu setzen.

Doch der Krieg ist zugleich auch Teil eines globalen, imperialistischen Konflikts, der seit Jahrzehnten von den USA, der NATO, aber auch von Deutschland und der EU aktiv geschürt und vorangetrieben wurde. So waren z. B. am prowestlichen Regimewechsel 2014 auch deutsche Politiker:innen maßgeblich beteiligt.

Mit dem Einmarsch in die Ukraine versuchte Russland militärisch, eine Einflusssphäre zurückzuholen, die es aufgrund seiner ökonomischen Schwäche schon weitgehend an den Westen verloren hatte. Ironischerweise hat die Barbarei der Putintruppen jedoch genau das beschleunigt, was sie eigentlich verhindern sollten: die stärkere Westanbindung der Ukraine, Ausdehnung und Aufrüstung der NATO.

Der Krieg beinhaltet daher nicht nur Aspekte der berechtigten nationalen Selbstverteidigung, sondern auch eines Stellvertreter:innenkriegs.

Imperialistische Konfrontation

Die Regierung Selenskyj erweist sich auch im Krieg als verlässliche Verbündete des Westens. So berechtigt die Selbstverteidigung gegen die russischen Truppen auch ist, so wenig dürfen wir die Augen vor den nationalistischen und arbeiter:innenfeindlichen Zielen der Regierung in Kiew verschließen. Für sie geht es nicht nur um die Selbstverteidigung des Landes, sondern auch Rückeroberung der Volksrepubliken und der Krim, wie (un)realistisch das auch erscheinen mag. Sie öffnet sich die Ukraine weiter dem westlichen Kapital und den ukrainischen Oligarchen, während die demokratischen Rechte der Opposition beschnitten und die der Lohnabhängigen kassiert werden.

Auch wenn die Westmächte nicht direkt vor Ort kämpfen, so unterstützen sie die Ukraine mit Krediten und Waffen in einem gigantischen Ausmaß. Obendrein haben die G7-Staaten und die EU einen Wirtschaftskrieg mit Russland vom Zaun gebrochen, dessen Sanktionsregime die globale Ökonomie nach unten drückt.

Damit werden nicht nur massive Preissteigerungen und wirtschaftliche Einbrüche in Russland befördert, um die dortige Bevölkerung zu zermürben. Dafür werden nicht nur Inflation und Armut in den westlichen Ländern billigend in Kauf genommen, sondern auch Lebensmittelknappheit, Hyperinflation und Hunger im globalen Süden, in den Ländern der sog. Dritten Welt.

Nein zu NATO-„Friedensstifter:innen“! Nein zum Aufrüstungsprogramm der Bundesregierung!

Allein diese Tatsache verdeutlicht, dass es den USA, der EU und Deutschland nicht um „Gerechtigkeit“ geht. Es geht ebenfalls um ihre geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen. Auch wenn sich viele Ukrainer:innen über Waffenlieferungen aus dem Westen freuen, so handelt es sich hier nicht um selbstlose Unterstützung.

Im Rahmen eines größeren Kampfes um die Neuaufteilung der Welt wird die NATO erweitert, werden Schweden und Finnland aufgenommen, sollen die schnellen Einsatzkräfte auf 300.000 aufgestockt werden. Daher wird das Rüstungsbudget erhöht, werden 100 Milliarden zusätzlich für die Bundeswehr lockergemacht. Die ganze Politik der Waffenlieferungen via Ringtausch dient auch zur Aufrüstung der NATO-Staaten selbst.

Während hunderte Milliarden für Aufrüstung und Krieg ausgegeben werden, müssen wir schon jetzt für seine Kosten zahlen – durch gestiegene Preise, Rationalisierungen und Sparmaßnahmen. Hunderttausende Beschäftigte fehlen im Gesundheitswesen und an Schulen. In der Tarifrunde im öffentlichen Dienst müssen wir uns das Gejammer von den leeren Kassen anhören.

All das ist nicht einfach eine „falsche Politik“. In Wirklichkeit vertritt die Bundesregierung unter Olaf Scholz nur die Interessen des deutschen Imperialismus. An diesem Punkt zeigt sich die zentrale politische Schwäche des „Manifest für Frieden“. Es wird so getan, als würden Deutschland und die EU in die Konkurrenz zwischen Russland und den USA nur „hineinschlittern“, Bundesregierung und EU keine Großmachtinteressen vertreten. Eine solche Kritik verkennt nicht nur den „eigenen“ Imperialismus, sie öffnet leider auch Tür und Tor für konservative und rechte „Friedensfreund:innen“, ehemalige Bundeswehrgeneräle, abtrünnige Konservative oder gar AfDler:innen, die nur für eine andere geostrategische und nationalistische Ausrichtung des eigenen Imperialismus stehen.

Eine von Deutschland initiierte „Friedensallianz“ brächte ebenso wenig „Frieden“ und Gerechtigkeit für die Ukraine wie Chinas „Verhandlungsplan“. Ein solcher imperialistischer Frieden wäre nur das Abbild des momentanen Kräfteverhältnisses zwischen den Großmächten. Er würde den verschiedenen kapitalistischen Konzernen einen noch größeren Anteil an den Ressourcen und Investitionsmöglichkeiten in der Ukraine aushändigen und das Land in noch größere Abhängigkeit bringen. Ein solcher „Frieden“ würde keines ihrer sozialen und demokratischen Probleme lösen.

Welcher Frieden? Welche Bewegung?

Ein dauerhafter Frieden, der diesen Namen verdient, kann nicht durch diplomatische Manöver von Großmächten erzielt werden. Dazu müssten diese selbst ihre eigenen ökonomischen, politischen und militärischen Interessen zurückstellen, was angesichts des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt und der schärfer werdenden globalen Konkurrenz einfach unmöglich ist. Der Imperialismus kann nicht friedlich gestaltet werden – weder in Russland, noch in den USA, aber auch nicht in Deutschland oder der EU.

Wir können uns daher nur auf uns selbst verlassen. Ein echter Frieden, eine gerechte Lösung für die Ukraine müsste die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts des Landes bei gleichzeitiger Wahrung der Selbstbestimmung der Volksrepubliken im Donbass und auf der Krim beinhalten.

Um aber überhaupt dorthin zu kommen, müssen wir eine internationale Bewegung gegen den Krieg und gegen dessen Auswirkungen aufbauen; eine Bewegung der gemeinsamen Aktion der deutschen, der europäischen, der US-amerikanischen, der ukrainischen und russischen Arbeiter:innenklasse, der Gewerkschaften, der Linken und Arbeiter:innenparteien. Eine solche Bewegung muss sich um bestimmte, gemeinsame Forderungen formieren. Dazu schlagen wir vor:

  • Nein zu Putins Angriffskrieg! Sofortiger Abzug der russischen Armee! Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung, Anerkennung ihres Rechts auf Selbstverteidigung gegen die Invasion!

  • Solidarität mit der Antikriegsbewegung und der Arbeiter:innenklasse in Russland; Verbreitung der Aktionen gegen den Krieg; Freilassung aller Festgenommenen!

  • Aufnahme aller Geflüchteten, Bleibe- und Staatsbürger:innenrechte für alle – finanziert durch den Staat; Integration der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt, Aufnahme in die Gewerkschaften!
  • Nein zu jeder NATO-Intervention! Gegen jede Aufrüstung, NATO-Truppenverlagerungen und Waffenlieferungen! Gegen NATO-Ausweitung, sofortiger Austritt aus der NATO!

  • Keinen Cent für die Bundeswehr! Nein zum 100-Milliarden-Programm der Ampelkoalition! Verstaatlichung der Rüstungsindustrie und Konversion unter Arbeiter:innenkontrolle!

  • Nein zu allen Sanktionen! Streichung der Schulden der Länder der sog. Dritten Welt, die durch die Sanktionen in wirtschaftliche Not geraten sind!

  • Die Kosten für die Preissteigerung müssen die Herrschenden zahlen! Enteignung des Energiesektors und anderer Preistreiber:innen unter Arbeiter:innenkontrolle!

  • Unterstützung der Tarifkämpfe der Gewerkschaften! Für eine automatische Anpassung der Löhne und Einkommen an die Preissteigerung für alle Beschäftigten, Rentner:innen, von Erwerbslosen und Studierenden!



Schweden: Nein zum Imperialismus – Nein zur NATO

S. Persson, Arbetarmakt, Infomail 1198, 13. September 2022

Bei dem folgenden Artikel handelt es sich um eine leicht überarbeitete und später erweiterte Fassung eines Diskussionsbeitrags, der auf dem offenen Treffen von Arbetarmakt unter dem Titel „Nein zum Imperialismus, nein zur NATO“ gehalten wurde.

Ein Genosse fragte mich kürzlich, wie Arbetarmakt  „die NATO-Mitgliedschaft verhindern“ wolle. Angesichts des Kräfteverhältnisses kann man natürlich über die Formulierung streiten, aber es ist dennoch eine gute Frage. Mit welchen Methoden wollen wir gegen die schwedische Mitgliedschaft in der NATO und damit für die Auflösung des NATO-Bündnisses kämpfen? Und wie sollte eine breitere Bewegung kämpfen, um erfolgreich zu sein?

Die Antwort muss von der politischen Linie kommen, die wir in Fragen des Antiimperialismus, Militarismus und Internationalismus vertreten. Um zu erklären, wo wir stehen, möchte ich etwas zu den Argumenten sagen, die wir revolutionären Kommunist:innen im Kampf gegen die NATO-Mitgliedschaft nicht verwenden, und warum.

Weil die Kriegsdrohung nicht real ist

Ein gängiges Argument gegen die NATO-Mitgliedschaft ist der Hinweis darauf, dass eine solche militärische Aufrüstung „unnötig“ oder nicht wirklich notwendig sei, da Russland kaum zu einer Invasion bereit sei. Das ist natürlich inhaltlich richtig und ein Argument, das gegen die gegenteilige Angstmacherei der Kriegstreiber:innen und Profiteur:innen ins Feld geführt werden sollte. Als Argument gegen die NATO-Mitgliedschaft an sich ist es jedoch nicht stichhaltig, denn die logische Konsequenz wäre, dass die NATO-Mitgliedschaft von Bedeutung wäre, wenn die Kriegsgefahr zunimmt.

Wir sind gegen die Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands in der NATO nicht in erster Linie, weil sie eine überflüssige Absicherung gegen einen militärischen Angriff auf Schweden wäre, sondern weil sie „unseren“ imperialistischen Block stärken würde. Selbst im Falle eines militärischen Angriffs muss die schwedische Arbeiter:innenklasse ihre eigene Klassenverteidigung auf die Beine stellen, im Gegensatz zur Verteidigung der Nation und ihres kapitalistischen Systems durch die Oberschicht und oft auch im Gegensatz zu dieser.

Weil Sozialist:innen stattdessen für eine starke schwedische Verteidigung eintreten sollten

Dies ist zu einer beliebten Aussage der Linken geworden. Die Idee ist, dass Schwedens „militärische Blockfreiheit“ (auf die wir weiter unten zurückkommen werden) nur durch eine starke Innenverteidigung verteidigt und gestärkt werden kann. So argumentieren z. B. die Linkspartei und die ihr nahestehenden Kräfte.

Als Beispiel kann ein Beitrag in der V-Zeitung Flamman von einem Autor des „All for All“-Podcasts Fire and Motion dienen (Anpassung an NATO macht Schwedens Verteidigung schwächer, 16. Mai). In dem Artikel wird die „geringe Glaubwürdigkeit der Linkspartei in Verteidigungsfragen“ angesichts ihrer früheren lückenhaften Opposition gegen den Militarismus beklagt, und weiter, dass Schwedens operative Verteidigung und Küstenartillerie geschwächt oder geschlossen wurden und dass „wir“ (die schwedische Bourgeoisie/das zivilstaatliche Gewaltmonopol) nicht „auf eine billige und allgemeine“ staatliche Streitkraft gesetzt haben.

Hier wird argumentiert, dass die bereits erfolgte Anpassung an die NATO die Widerstandsfähigkeit der Verteidigung geschwächt hat und die schwedische NATO-Mitgliedschaft eine zu große Nähe zu den Vereinigten Staaten aufweist und eine solche Entwicklung offensichtlich fortgesetzt werden soll. „Die NATO ist also nicht nur eine moralische Frage“, heißt es abschließend, „sondern birgt auch die Gefahr, dass wir (der bürgerliche Staat, Anm.) unsere (seine, Anm.) Verteidigung praktisch nicht stärken können.“

Der Autor ist auf jeden Fall ein Kenner von Verteidigungsfragen, und seine Einschätzung der schwedischen Verteidigungsfähigkeiten ist sicherlich richtig. Was jedoch fehlt, ist die Frage: Sollte die Stärkung der militärischen Macht des bürgerlichen Staates, wozu ein Nein zur NATO laut Argumentation führen würde, von Sozialist:innen angestrebt werden?

Als revolutionäre Marxist:innen ist unsere Antwort auf diese Frage ein eindeutiges Nein. „Keine Person, keinen ,Pfennig’ für den Militarismus“ ist auch heute noch unsere Losung – die schwedischen Arbeiter:innen sollten keinen Öre  für eine imperialistische „Verteidigung“ bezahlen müssen, die, anders als im Artikel behauptet, nicht wirklich „unsere“ ist, sondern deren Hauptaufgabe es ist, mit der Waffe in der Hand die Herrschaft der Oberschicht in diesem Land, wie in allen kapitalistischen Staaten, zu schützen und zu sichern.

Wenn das Argument lautet, dass die NATO-Mitgliedschaft die Armee der Bourgeoisie „schwächt“ und zum Beispiel Operationen wie die gegen streikende Arbeiter:innen im Ådal-Tal 1931 unmöglich machen könnte, dann wäre das für Sozialist:innen eher ein Argument für die NATO – aber jetzt wird es verdreht.

Dass eine starke schwedische Verteidigung und damit Milliarden, die an „unsere eigenen“, schwedischen Kriegsgewinnler:innen statt an Washington fließen, notwendigerweise im Widerspruch zur NATO-Ausrichtung stehen würden, ist ebenfalls zweifelhaft. Schaut Euch zum Beispiel das Verhalten der Linkspartei in diesem Frühjahr an, als sie für eine historische Erhöhung der Verteidigungsausgaben stimmte! Wenn es nach der Führung der schwedischen Linkspartei geht, werden drei Milliarden an Steuergeldern der Arbeiter:innenklasse für die Verteidigung ausgegeben, und langfristig werden die Verteidigungsausgaben zwei Prozent des BIP pro Jahr betragen.

Die Aufrüstung wird von der Rechten und den Kriegsprofiteur:innen seit Jahrzehnten gefordert, aber mit dem Ukrainekrieg haben sie auch die Linkspartei (und die Grünen) ins Boot geholt. Der verteidigungspolitische Sprecher der Linkspartei begründet dies damit, dass eine starke Verteidigung „es uns ermöglicht, bündnisfrei zu bleiben“ – ohne zu verheimlichen, dass die Forderung nach 2 % des BIP auch die formale Beitrittsforderung der NATO ist. Forderungen nach einer Aufrüstung der schwedischen Verteidigung können durchaus Hand in Hand mit dem internationalen Militarismus gehen, und in diesem Licht werden die Argumente über eine „gestärkte schwedische Verteidigung“ eher zu einer hinterhältigen Methode, um die Linke dazu zu verleiten, ihre letzten Ansprüche auf Antimilitarismus aufzugeben.

Aber treten Sozialist:innen nicht für die Verteidigung ein?

Nun, ein Angriffskrieg auf Schweden – auch wenn er im Moment unwahrscheinlich ist – würde, wie jeder Krieg, natürlich vor allem die Arbeiter:innenklasse treffen. Aber in einer solchen Konfrontation, z. B. einem innerimperialistischen Krieg zwischen Schweden bzw. der schwedischen Seite und dem russischen Imperialismus, handelt es sich mit größter Wahrscheinlichkeit um einen reaktionären Krieg von beiden Seiten. Die Frage, wer einen innerimperialistischen Krieg begonnen hat, ist nachrangig. Der eigentliche Charakter des Krieges wäre ein Kampf um die Neuaufteilung von ökonomischen und geostrategischen Einflusssphären zwischen imperialistischen Mächten und Blöcken.

Es wäre die Aufgabe von Sozialist:innen, Soldat:innen und Arbeiter:innen, auch innerhalb der Armee zu agitieren und dort demokratische Rechte einzufordern, die aber langfristig auch „unsere Verteidigung“ in Frage stellen, die letztlich nur eine ideologische Maskerade der Interessen der schwedischen Bourgeoisie darstellt.

Eine solche Politik muss Seite an Seite mit dem Klassenkampf geführt werden, der auch im Krieg nicht aufhört, selbst wenn er zur Niederlage „unseres“ Landes führt. In einem imperialistischen Konflikt wissen klassenbewusste Arbeiter:innen, dass die Niederlage des eigenen Landes das geringere Übel ist.

„Die NATO bedroht die schwedische ‚Bündnisfreiheit‘“

Von der Kommunistischen Partei heißt es, dass die schwedische Sicherheitspolitik „seit über 200 Jahren auf Bündnisfreiheit im Frieden ausgerichtet ist“ (Proletären, 10. Mai), und von Allt åt Alla (Alle für Alle) Göteborg, dass eine NATO-Mitgliedschaft „das Ende der schwedischen Bündnisfreiheit“ bedeuten würde (Mittskifte.org, Petition).

Der Mythos der schwedischen Blockfreiheit und Neutralität ist stark. Dies zeigt sich nicht zuletzt an der Überraschung und Enttäuschung, die nach der Kehrtwende der sozialdemokratischen Partei in der NATO-Frage in weiten Kreisen zum Ausdruck kam. Aber wenn wir uns gegen die NATO aussprechen, dürfen wir nicht solche Mythen schüren, auch wenn die Versuchung groß ist. Wir müssen der Arbeiter:innenklasse sagen, wie es ist, und es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass Schweden mindestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts im imperialistischen Weltsystem eindeutig auf der Seite der USA steht.

„Blockfreiheit“ und „Neutralität“ waren eine Schimäre. Dies konnten Politiker:innen während des Kalten Krieges manchmal benutzen, um dem schwedischen Imperialismus etwas Spielraum zwischen den USA und der Sowjetunion zu verschaffen, aber hinter den Kulissen war es klar, auf welcher Seite Schweden steht. Der Mythos der Neutralität erfüllte seinen Zweck, aber in den letzten Jahren (z. B. nach der Mitgliedschaft im NATO-Projekt „Partnerschaft für den Frieden“ seit dessen Beginn im Jahr 1994 und der Unterzeichnung des Gastlandabkommens 20 Jahre später) hat er mehr oder weniger auch für die herrschende Klasse seine Rolle ausgespielt. Dann sollten die Sozialist:innen sie auch nicht am Leben erhalten. Im besten Fall führt es die Arbeiter:innen, die uns zuhören, nur weiter in die Irre.

Man könnte hinzufügen, dass selbst ein wirklich neutrales, imperialistisches Schweden, das als imperialistische Supermacht ohne jegliche Blockzugehörigkeit agiert – wenn auch bestenfalls eine hypothetische Vorstellung –, für Sozialist:innen nicht erstrebenswert wäre.

„Sozialist:innen sind gegen den Krieg und für den Frieden“

Dies ist das nächste Argument, das „gut klingt“, hinter dem sich aber, wenn man ein wenig an der Oberfläche kratzt, im besten Fall eine falsche Darstellung der Realität und im schlimmsten Fall eine Abkehr vom Marxismus verbergen.

Als Beispiel können wir die Sozialistische Politik (SP) und ihre Wochenzeitschrift Internationale anführen, in der man im Frühjahr ein Argument nach dem anderen für Frieden, Pazifismus und gegen Krieg lesen konnte. Vieles davon können wir natürlich gut nachvollziehen, wie z. B. die Forderungen nach Abrüstung und weniger Geld für die Verteidigung (dass die SP-Genoss:innen einer Partei beigetreten sind, die gerade für eine historische Aufrüstung gestimmt hat, ist in diesem Zusammenhang noch etwas seltsamer). Aber unser Nein zu Waffen und Krieg und das pazifistische Nein kommen aus zwei verschiedenen Richtungen.

Der Marxismus hat seit seinen Anfängen den Pazifismus und allgemeine Appelle an den „Frieden“ klar abgelehnt, da sie nicht zum Frieden, sondern zur Niederlage führen. Wir leben in einer imperialistischen Welt des Krieges, in der die gegnerische Seite gut bewaffnet ist. Der Verzicht auf unsere eigene demokratische Verteidigung oder auf unser Recht, gegen die Verfechter:innen der Unterdrückung zu kämpfen, bedeutet, die Herrschaft des Kapitals für immer zu garantieren.

Wir sind also nicht in erster Linie gegen die NATO, weil sie generell mehr Krieg bedeutet und wir allgemein für mehr Frieden sind – obwohl das natürlich ein Argument für uns ist, wir Sozialist:innen sind Freund:innen des Friedens –, sondern weil die NATO die Aufrüstung des Klassengegners – des Imperialismus – bedeutet und wir im Klassenkampf im gegnerischen Lager stehen.

„Schweden sollte stattdessen andere Militärbündnisse eingehen“

Eines der seltsamsten Argumente gegen einen NATO-Beitritt ist das des Chefredakteurs von Flamman (17. Februar), die „einzige glaubwürdige Alternative“ sei das, „was Frankreich und andere Länder in den 1990er Jahren vorgeschlagen haben, nämlich ein europäisches Militärbündnis, an dem sich Russland beteiligen kann. Eines, das mit den USA und anderen Ländern zusammenarbeiten kann, bei dem aber die europäischen Staaten die Führung übernehmen. Die Antwort liegt weder in Moskau noch in Washington, aber auch nicht in der Isolation“.

Also nicht Moskau oder Washington, sondern Paris. Sicherlich gibt es in einigen Kreisen in den EU-Ländern Unterstützung für eine solche Strategie eines neuen, von den USA unabhängigen imperialistischen Bündnisses, aber es fragt sich, warum Sozialist:innen ein solches anstreben sollten. Was würden z. B. die Arbeiter:innen und Armen, die gegen den französischen Neokolonialismus in Afrika kämpfen, davon halten?

„Die Entscheidung (für den NATO-Beitritt) ist nicht demokratisch getroffen worden“

Ein weiteres Argument, das an sich nicht falsch ist, das aber nicht zur Grundlage der gesamten Argumentation der Sozialist:innen werden darf. Es ist natürlich völlig richtig, auf die Heuchelei hinzuweisen, die darin besteht, dass eine so große Veränderung über die Köpfe der Bürger:innen hinweg durchgeführt wird, ohne dass eine Parlamentswahl dazwischen liegt. Alle Parteien, die sich für die NATO-Mitgliedschaft entschieden haben, sollten dies niemals vergessen dürfen.

Aber unser Widerstand gegen die schwedische NATO-Mitgliedschaft steht und fällt nicht mit einem Referendum. In diesem Fall würde ein Referendum leicht zu einem Mittel werden, um etwas schnell abzusegnen, für das eine vereinte Gruppe von Politiker:innen und Medien bereits hart propagiert und die Menschen dazu gebracht hat zu glauben, dass es der einzige Weg ist. Dies zeigt sich beispielsweise in Nooshi Dadgostars (Parteivorsitzende der Linkspartei) Äußerungen zum Erfordernis eines Referendums, in denen sie klarstellte, dass ein solches nur abgehalten würde, um der Entscheidung demokratische Legitimität zu verleihen. Führt ein Referendum durch, und die schwedische Linkspartei kann die NATO-Mitgliedschaft mit Freuden annehmen!

Für die Kommunist:innen hängt die Legitimität der NATO-Mitgliedschaft nicht ausschließlich von solchen vorübergehenden Stimmungen ab, schon gar nicht in einer extrem aufgeheizten Kriegsatmosphäre, wie sie derzeit herrscht. Deshalb ist es schlichtweg unpraktisch, wie „Alle für Alle“ zu einem Referendum aufzurufen. Und im Gegensatz zur Linkspartei, die inzwischen die Mitgliedschaft akzeptiert und von früheren Formulierungen, die NATO solle aufgelöst werden, Abstand genommen hat, würde sich unsere grundsätzliche Ablehnung der NATO auch dann nicht ändern, wenn eine Mehrheit in einem Referendum dafür stimmen würde.

Wie können wir die NATO-Mitgliedschaft verhindern?

Es gab viele Beispiele für die Argumente, die wir nicht gegen die NATO verwenden. Und es gibt einige – von der Forderung nach einer Stärkung der Verteidigung des bürgerlichen Staates oder dem Mythos der schwedischen Blockfreiheit, der massiven Aufrüstung der Linkspartei und der schwindenden NATO-Opposition bis hin zum Pazifismus der SP, dem Vertrauen der Kommunistischen Partei auf die Staatssicherheitsdoktrin und Flammans skurrilem Gerede von der Unterordnung Schwedens unter den französischen Imperialismus.

Diese Vermischung von Proimperialismus und Pazifismus ist auch eine Antwort darauf, warum der Widerstand gegen die NATO so schwach ist. Die kommunistische Tradition des Antiimperialismus, des Antimilitarismus und des Einsatzes für die Selbstverteidigung der Arbeiter:innenklasse ist verlorengegangen, zum Teil mit direkter Hilfe der Totengräber:innen des Marxismus in den stalinistischen Vorgänger:innen der Linkspartei.

Vorhin ist schon betont worden, dass wir sagen müssen, wie es ist. Meine Antwort an den Genossen, der mich fragte, wie wir die schwedische Mitgliedschaft in der NATO stoppen wollen, lautete daher auch, dass wir dies – angesichts der Kräfteverhältnisse und der Probleme mit der Arbeiter:innenbewegung und der Linken, die ich hier skizziert habe –, höchstwahrscheinlich nur schwer erreichen werden.

Was wir jedoch tun können und bei den Protesten in diesem Frühjahr und Sommer auch getan haben, ist, den Widerstand der NATO aus einer anderen Perspektive zu betrachten und zu versuchen, Unterstützer:innen dafür zu gewinnen. Genug davon, was man nicht sagen sollte, sondern vielmehr: Was sollten wir sagen?

Wir sollten die Geschichte der NATO als ein Projekt zur Stärkung des US-Imperialismus hervorheben. Wir sollten die Lügen über die schwedische Blockfreiheit oder die Hoffnung auf andere imperialistische Bündnisse zurückweisen. Wir sollten darauf beharren, dass es bei der Ablehnung der NATO darum gehen muss, die Mitgliedschaft in ihren Kontext zu stellen – eine zwischen imperialistischen Blöcken aufgeteilte Welt, in der Schweden ein kleiner, aber aktiver Akteur ist. Unsere Slogans sollten lauten: Nein zur NATO! Auflösung der NATO! Kampf gegen jede Art von Kriegstreiberei und Imperialismus! Keine Krone, keine Öre für die Armee des bürgerlichen Staates!

Ob NATO-Mitgliedschaft oder nicht, wir wissen, dass die Erde von Krieg und Konflikten geprägt ist, die auf ein weltweites imperialistisches System zurückzuführen sind, in dem verschiedene Blöcke um „ihre“ Gebiete kämpfen, um sie auszubeuten. Solange dieses System besteht, werden wir mit fortgesetztem Militarismus, neuen Kriegen und Arbeiter:innen konfrontiert sein, die sich an der Front gegenseitig umbringen. Unsere Aufgabe ist es, diejenigen zu versammeln, die dies erkennen und dagegen kämpfen wollen, auch wenn wir diese Schlacht verlieren.




Ukrainekrieg: Pazifismus zusehends hilflos

Jürgen Roth, Neue Internationale 263, April 2023

Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine dauerte erst wenige Tage an, da löste sich die Schockstarre. Der größte Friedensprotest seit dem Irakkrieg 2003 führte europaweit mehrere Millionen Teilnehmende auf die Straßen, darunter mehr als eine halbe Million allein am 27. Februar in Berlin. Fast zeitgleich kündigte Kanzler Scholz nur wenige hundert Meter entfernt das größte Aufrüstungsprogramm der Nachkriegsgeschichte an. Wahrlich eine Zeitenwende, die auch an Friedensbewegung und DIE LINKE nicht spurlos vorübergehen wird!

Alle Redner:innen befürworteten Sanktionen seitens der Bundesregierung. Eine Sprecherin aus der Ukraine forderte, ganz im Einklang mit der Linie ihrer Regierung, Waffen. Viel interessanter war, was in allen Reden nicht einmal benannt wurde. Es fiel kein Wort über die just zuvor beschlossene massive Aufrüstung der Bundeswehr, die Osterweiterung der NATO und ihre Manöver an der belarussischen und ukrainischen Grenze. Auch die jüngere ukrainische Geschichte seit den Euromaidanprotesten war keine Erwähnung wert. Den Ruf nach Sanktionen schluckte die Mehrzahl der Friedensbewegten also bereits. Damit meinte sie, sich weiterhin offensichtlich genug vom Militarismus abgrenzen zu können, schließlich stand das der Forderung nach Waffen (und deutscher Kriegsbeteiligung) und somit ihrem pazifistischen Image förderlich entgegen – einstweilen!

Dilemma des Pazifismus

Wir sehen also, dass der Pazifismus in letzter Konsequenz gegen sein eigenes Mantra verstoßen muss, sobald der erste Schuss fällt. Pazifist:innen teilen alles Bürgerliche – außer Kriegsgewalt. Diese erscheint ihnen nicht als Fortführung der Politik mit anderen Mitteln, als aus den Widersprüchen der Klassengesellschaft erwachsen, sondern als unerklärlicher Betriebsunfall der Geschichte, Sieg des Bösen über das Gute im Menschen.

Bricht der Krieg entgegen allen pazifistischen Formeln doch aus, so bleibt entweder das letztlich abstrakte Beschwören des Friedens – oder man schließt sich notgedrungen jener Seite an, die das „Gute“ zu verkörpern scheint, in unserem Fall der Bundesregierung und der NATO. Damit begibt sich der Pazifismus auf die Rutschbahn nach rechts – zum Chauvinismus und entwaffnet sich trotz aller Friedensbekundungen vor dem Kriegstreiben der „eigenen“ Regierung.

Die reformistischen Parteien (SPD, Linkspartei) und viele zentristische Organisationen der Arbeiter:innenbewegung teilen entweder Chauvinismus oder Pazifismus bzw. schwanken zwischen diesen, weshalb wir auch von Sozialchauvinismus bzw. -pazifismus sprechen. Geht ersterer spätestens mit Kriegsausbruch offen ins Regierungslager über, appelliert letzterer an den Willen zum Friedensschluss – mitten im Krieg! Der Status quo ante soll also wieder hergestellt werden, das Pulverfass der imperialistischen Widersprüche unversehrt voll bleiben – nur ohne Lunte! Eine unabhängige Klassenpolitik, die auf die Niederlage der „eigenen“ Regierung keine Rücksicht nimmt, lehnt der Sozialpazifismus ab. Der Logik „töten oder getötet werden“ kann er sich nicht entziehen. Er gerät damit zu einer „alternativen“ Form der Vaterlandsverteidigung, die große Teile bald auf die Abgleitfläche zur echten rutschen lässt.

Allerdings müssen wir zwischen dem ehrlichen, berechtigten Pazifismus Lohnabhängiger aus Angst vor Krieg und in Solidarität mit den ukrainischen Massen und dem heuchlerischen der Kirchenfürst:innen, Politiker:innen und Journalist:innen unterscheiden. Diese Unterscheidung ist deshalb wichtig, weil wir unter ihnen unsere Verbündeten im Kampf gegen die Kriegsgräuel suchen müssen, nicht in Parlamenten, Amtsstuben und Militär. Dazu ist jedoch ein politischer, geduldiger Kampf gegen die grundlegenden Fehler und Schwächen dieser Ideologie unerlässlich.

Anders als die (Sozial-)Pazifist:innen unterscheiden wir zwischen fortschrittlichen und reaktionären Kriegen. So ist der Bürger:innenkrieg zur Erringung der Herrschaft der Arbeiter:innenklasse ebenso zu unterstützen wie der Kampf einer unterdrückten Nation um Selbstbestimmung einschließlich des Rechts auf Abtrennung von Gebieten, wenn deren Bevölkerungsmehrheit das will. Im imperialistischen Krieg treten wir dagegen für den revolutionären Defaitismus ein, den Klassenkampf ohne Rücksicht auf die Niederlage der „eigenen“ Regierungen.

Aber sollten die Arbeiter:innen nicht einen reaktionären Krieg verhindern? Ja, unbedingt! Aber mit eigenen Mitteln des Klassenkampfes, nicht mit zahnlosen Appellen an die Regierungen!

Katalysator Kriegsfrage

In Zeiten verschärften Konflikts um die Neuaufteilung der Welt geraten auch die halbkolonialen Länder wie die Ukraine zusehends ins Gravitationsfeld der einen oder anderen imperialistischen Machtkonstellation. Das gilt leider auch für den (Sozial-)Pazifismus. Kann der Ausbruch eines Kriegs nicht verhindert werden, ist das Friedenslatein schnell am Ende. Jetzt ist der Klassenkampf noch unmöglicher als zuvor geworden, scheint es. Sind nicht die jungen Arbeiter:innen an der Front? Gebietet nicht der Krieg die Einstellung aller unabhängigen Klassenaktivität? Denn diese könnte doch die Niederlage der „eigenen“ Regierung heraufbeschwören? Und wäre das nicht gleichbedeutend, einseitig das Werk der Kriegsgegner:innen zu verrichten?

Da Imperialismus die Konzentration des Kapitals und herrschende Politik konzentriertester Ausdruck gesamtkapitalistischer nationaler Interessen bedeuten, spitzt der Krieg alle Widersprüche zu. Das ist der Hintergrund, warum Pazifist:innen ins (sozial-)chauvinistische Lager überlaufen müssen, wenn sie nicht die Niederlage der „eigenen“ Regierung in Kauf nehmen wollen.

DIE LINKE: haltloser Pazifismus

Das Milieu, aus dem sich Friedens- wie manch andere humanitäre Bewegung (Seebrücke, NGOs) vorrangig rekrutieren einschließlich der Linkspartei, wird ein politisches Erdbeben erleben.

So diskutierte die Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus am ersten Märzwochenende und deren Co-Vorsitzender Carsten Schatz forderte: „Sofortiger Rückzug der russischen Truppen!“ Die richtige Forderung wird freilich zur Anpassung an die Bundesregierung, wenn jede Kritik an der NATO-Politik ausbleibt. Kultursenator Lederer bezichtigt Putin des „offensiven Bruchs mit der europäischen Friedensordnung“, für die Deutschland und die EU Verantwortung zu übernehmen hätten.

Ohne Namen zu nennen, geht er ans vermeintliche Eingemachte der Partei: antimilitaristische Haltung, Position zur NATO, zu Russland: „Lasst es einfach weg!“ Pankows Bezirksbürgermeister Benn sieht ein „Selbsterschrecken“ in den eigenen Reihen, ein tiefes „Selbstbefragen einer ganzen Reihe von Positionen“ am Horizont aufziehen. Sozialsenatorin Kipping legt nach: „Keine Verharmlosung von Putin mehr. Putin ist nun mal Feind der Linken.“

Für die Ex-Parteivorsitzende steht der Hauptfeind exklusiv im anderen Land. Mögen ihr beim alljährlichen Gedenkritual an die Ermordung Liebknechts und Luxemburgs die Nelken in der Hand verdorren! Tobias Schulze bemerkt scheinheilig: „Was für die Rüstung geht, geht offenbar für die städtische und soziale Infrastruktur nicht, nämlich die Schuldenbremse auszusetzen.“ Gäbe es also die Schuldenbremse nicht, so drängt sich auf, wäre die Aufrüstung für DIE LINKE zustimmungsfähig. Welch‘ prinzipienfester Antimilitarismus!

Die Abgrenzung von wirklichen oder vermeintlichen „Putinversteher:innen“ erfüllt beim rechten Flügel der Linkspartei längst nicht mehr allein die Funktion einer Kritik an der Verharmlosung des russischen Imperialismus – vielmehr sollen so alle Stimmen zum Schweigen gebracht werden, die an einer angeblichen starren NATO-Ablehnung festhalten wollen. Es ist damit zu rechnen, dass der starke „Reformer“-Flügel um die sog. Regierungssozialist:innen, welcher sich offen prowestlich und hinter vorgehaltener Hand pro-NATO aufstellt, zum Angriff auf die in die Jahre gekommenen traditionslinken, sozialpazifistischen Grundsätze blasen wird, denen er sich bislang unterordnen musste. Die Ukrainekrise bringt nun neue Bewegung in den Transformationsprozess der Linkspartei nach rechts, während der linke Flügel noch weiter in die Defensive gerät. Es rächt sich heute, dass über Jahre Pazifismus, humanitäre Friedensphrasen und das Beschwören von Völkerrecht und UNO als Ultima Ratio der internationalen Ordnung als „Antimilitarismus“ verklärt wurden. In Wirklichkeit wurde nur das Fehlen einer antiimperialistischen und internationalistischen Politik schöngeredet, was heute dem rechten Flügel der Partei in die Hände spielt.

Interventionistische Linke (IL)

Doch nicht nur die reformistische Linke gerät in schweres Fahrwasser. Auch die größte Organisation der „radikalen Linken“, die IL, gerät ins Studeln.

In ihrem Aufruf vom März 2022 verurteilt sie den russischen Angriff. Gleichzeitig lehnt sie eine Parteinahme im Konflikt ab: „Wir lehnen die falschen Alternativen ab, weil die behauptete Alternativlosigkeit jeden Raum für Widersprüche und Kritik verschließt. [ … ] Wir entziehen uns der Identifikation mit staatlicher Macht. Stattdessen sind wir mit jenen parteilich, die unter dem Krieg leiden und sich ihm widersetzen [ … ], wenn sie fliehen, desertieren, zivilen Ungehorsam leisten oder kämpfen.“

Leider „entzieht“ sich die IL auch einer klaren revolutionären Antwort, wie der Krieg gestoppt werden kann. Sie spricht sich für die Unterstützung der „Menschen vor Ort“ aus? Doch worin soll diese bestehen? Welche Politik sollen die Arbeiter:innenklasse und Linke in Russland oder in der Ukraine vertreten? Über diese Fragen schweigt sich die IL aus und verbleibt letztlich bei einer sicherlich löblichen, politisch aber unzureichenden humanitären Unterstützung von Opfern des Krieges.

Darüber hinaus wendet sie sich gegen kapitalistische Geopolitik und westliche Doppelmoral, bezeichnet den Krieg „als vorläufige[n] negative[n] Höhepunkt von weltweit immer schärfer werdenden wirtschaftlichen, politischen und militärischen Konflikten.“ Sie tritt zu Recht gegen die Aufrüstung der Bundeswehr ein, für Solidarität mit Geflüchteten aller Hautfarben und Herkunft aus der Ukraine, Kriegsdienstverweiger:innen, Friedensaktivist:innen, Frauen und LGBTIQ, Genoss:innen der sozialen, linken, sozialistischen und anarchistischen Bewegungen aus beiden kriegführenden Ländern.

Richtig ist auch ihre Aufforderung, aktiv zu werden, eine Bewegung gegen Militarismus und Krieg aufzubauen, die lebendig, links und internationalistisch agieren soll. Doch für die Grundlage eines solchen Antikriegsbündnisses macht sie keinen Vorschlag. Stattdessen prophezeit sie (fälschlich): „Die Aufrüstungspläne der Bundesregierung finden in der Klimagerechtigkeitsbewegung einen neuen, starken Gegner. [ … ] Bringen wir zusammen, was zusammengehört: die Kämpfe gegen alle Grenzen, gegen Imperien und Kriege, gegen Klimakrise, Patriarchat und Kapitalismus.“ Mit dämlichen Parolen wie „Heizung runter für den Frieden!“, „Pullover statt Erdgas!“, am 24. März zu sichten, dürfte das Zusammenbringen arg schwierig ausfallen.

So wenig selbst blau-gelbe Pullover eine Antwort auf drohende Energiearmut liefern, so großzügig sieht die IL über die Untauglichkeit einer Bewegung im Sog des Vaterlandsverteidigungstaumels für ein Antikriegsbündnis hinweg. Die IL spielt ein Chamäleon, das hinter „Bewegungen“ unkritisch hinterher trabt, statt ihnen eine antikapitalistische Perspektive anzubieten. Die Farbe Rot verblasst gerade, wenn’s drauf ankommt!

Dahinter steckt nicht nur ein mehr oder weniger hoffnungsfroher „Optimismus“ – es wird auch das Fehlen jeder Klassenpolitik deutlich. Die Frage, wie die Lohnabhängigen, wie Gewerkschafter:innen, die reformistisch dominierte Arbeiter:innenbewegung für eine Antikriegsbewegung gewonnen werden können, stellt sich die IL erst gar nicht. Den Spitzenbürokrat:innen im DGB, bei der Linkspartei und erst recht in der SPD wird’s recht sein. Uns nicht.




Ukrainekrieg: Härtetest für die deutsche Linke und Friedensbewegung

Jürgen Roth, Infomail 1181, 9. März 2022

Unsere Eindrücke und Einschätzungen beziehen sich im Folgenden auf die zahlreichen Aktionen Ende Februar und Anfang März in Berlin. Dort war am Sonntag, den 27. Februar, laut Veranstalter:innen eine halbe Millionen Menschen auf der Straße. Ein Bündnis aus Gewerkschaften, Kirchen, Initiativen, Umweltschutzorganisationen und Friedensgruppen hatte aufgerufen unter dem Motto „Stoppt den Krieg. Frieden für die Ukraine und ganz Europa“. Der Härtetest ergab hier eindeutig Blau-Gelb, die Farben der ukrainischen Nationalflagge. Das war nur zu verständlich angesichts des barbarischen Überfalls Russlands und der unverschämten Lügen über seine Kriegsziele. Es hat uns nicht gehindert, mit vielen Leuten ins Gespräch zu kommen, auch wenn wir mit dem Titel unserer Zeitung „Keine Person, keinen Cent für den NATO-Aufmarsch“ bei den meisten aneckten. Sie legte nämlich den Schwerpunkt auf die Aufrüstung der NATO und blieb damit Karl Liebknechts Motto aus dem 1. Weltkrieg treu: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“. Schließlich hätte Letzterer sich gerade in der vorangegangenen Sondersitzung des Bundestages vehementer gegen die Seite „seines“ Militärbündnisses gestellt.

Alle Reden beklagten das entsetzliche Leid, welches dieser Krieg v. a. über die Zivilbevölkerung mit sich bringt. In diesen Tenor möchten wir auch ausdrücklich einstimmen. Doch erheben sich bei uns auch die Fragen, warum angesichts des bislang viel grausameren Krieges des US-Verbündeten Saudi-Arabien gegen die Republik Jemen kein Klageton seitens der Mainstreampolitik zu hören war und ist.

Hunderttausende für „den Frieden“ – Pazifismus und (Sozial-)Chauvinismus

Alle Redner:innen befürworteten Sanktionen seitens der Bundesregierung. Eine Sprecherin aus der Ukraine forderte, ganz im Einklang mit der Linie ihrer Regierung, Waffen. Diesem Wunsch kommt die Bundesregierung momentan gerade gerne nach, durch Waffenlieferungen in Krisengebiete! Die beiden Sprecher von Campact und Greenpeace entblödeten sich nicht, dem Boykott Russlands noch einen Anschub für die erneuerbaren Energien abzugewinnen. Als ob die sog. Energiewende in ihrer planlosen Stümperei (mangelhafter Netzausbau, fehlende Speicherkapazität, Subvention durch Kleinverbraucher:innen) nicht Anfang 2021 in der 2. Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes etwas Sinnvolles zustande gebracht hätte, außer noch mehr Industriefirmen von der EEG-Umlage zu befreien. Bei Bezug von 40 % Primärenergie aus Russland in Gestalt der drei fossilen Energieträger freut’s denn auch die USA, dass sie jetzt ihr Frackinggas (LNG) teurer verkaufen dürfen ohne lästige russische Konkurrenz, aber dafür mit mehr CO2-Emissionen! Das ist genauso ökologisch, wie die jüngste EU-Taxonomie, die den Investitionen in fossiles Erdgas und Kernspaltung grünes Licht gibt. Die Bezeichnung NGOs (Nichtregierungsorganisationen) entpuppte sich am Beispiel von Campact und Greenpeace gleich in doppelter Hinsicht als Blödsinn. Wie viele andere ihresgleichen leben sie zum Großteil von Staatsknete. In der jetzigen Lage heulen erstere allerdings „Wessen Brot ich ess’, dessen Lied ich sing’“ als proimperialistische Kettenhunde.

Viel interessanter war, was in allen Reden nicht einmal benannt wurde. Es fiel kein Wort über die just zuvor beschlossene massive Aufrüstung der Bundeswehr, die Osterweiterung der NATO und ihre Manöver an der belarussischen und ukrainischen Grenze. Auch die jüngere ukrainische Geschichte seit den Euromaidanprotesten war keine Erwähnung wert.

Sanktionen für den Frieden?

Alle Redner:innen forderten einhellig Sanktionen gegen Russland. Dafür bekamen sie deutlich mehr Applaus als die ukrainische Sprecherin in ihrer Forderung nach (mehr) Waffen. Den Ruf nach Sanktionen schluckte die Mehrzahl der Friedensbewegten also bereits. Damit meinte sie, sich offensichtlich genug vom Militarismus weiterhin abgrenzen zu können, schließlich stand sie dem Ruf nach Waffen (und deutscher Kriegsbeteiligung) und somit ihrem pazifistischen Image förderlich entgegen – einstweilen!

Doch wer vom Staat Sanktionen fordert, muss auch für die Mittel zu deren Durchsetzung eintreten, sie schlagen notwendig in Kanonenbootpolitik um, falls Russland seine Waren exportieren bzw. die anderer Länder importieren möchte. Etwas völlig anderes dagegen ist der Aufruf an die Gewerkschaften zum Boykott im Kriegsfall wie z. B. der US-amerikanischen, trotzkistischen Sektion SWP im Fall des Überfalls Japans auf das restliche China außerhalb der bereits von Japan besetzten Mandschurei 1937: Boykott japanischer Importe, aber kein Embargo Chinas, sondern vollständige Belieferung, darunter auch mit Waffen. Wir sehen daran, dass der Pazifismus in letzter Konsequenz gegen sein eigenes Mantra verstoßen muss, sobald der erste Schuss fällt.

Weitere Proteste

Am Donnerstagabend, dem 24.2.2022, hatten sich Hunderte Menschen vor dem in ukrainischen Nationalfarben erleuchteten Brandenburger Tor zusammengefunden, darunter hier lebende Ukrainer:innen, aber auch Kriegsgegner:innen aus Russland und anderen osteuropäischen Staaten. Sie forderten einen sofortigen Rückzug Russlands, Sanktionen und mehr Unterstützung für die Ukraine. Eine Gruppe von Anarchist:innen verteilte Flugblätter, in denen sie ihre Solidarität mit ukrainischen Gesinnungsgenoss:innen ausdrückten und einen umfassenden, sofortigen Waffenstillstand forderten. Sie wandten sich gegen ein Wiederaufleben des Friedenswinters, ein kurzzeitiges, rechts offenes und intern umstrittenes Intermezzo der deutschen Friedensbewegung 2014 angeführt von Lars Mährholz, Ken Jebsen und Jürgen Elsässer. Diese Gefahr besteht in der jetzigen Situation nicht. Sie heraufzubeschwören und gleichzeitig kein Wort zum Charakter des aktuellen Konflikts zu verlieren, spricht Bände und erweist sich als bestenfalls hilflos, allenfalls perspektivlos.

Am Tag darauf versammelten sich etwa 400 Menschen vor der Volksbühne. Der Vorstand der Linkspartei, Linksjugend [‘solid] und Studierendenverband DIE LINKE.SDS hatten unter dem Motto „Die Waffen nieder“ aufgerufen. Kurze Reden hielten u. a. die Parteivorsitzende Janine Wissler und Bundestagsfraktionschefin Amira Mohamed Ali. Ihre Statements drückten Trauer und Besorgnis über den Krieg aus, ließen schon erahnen, dass die Partei sich bzgl. Putins Kriegsgelüsten „geirrt“ hatte und bezogen keine Stellung gegen Sanktionen. Staatsfromm wie ihr großer reformistischer Zwilling, die SPD, gingen die Führungsfiguren dieser bürgerlichen Arbeiter:innenpartei erst gar nicht auf die Aufgaben der Arbeiter:innenklasse ein – weder in Deutschland oder Russland noch in der Ukraine.

Einen Tag später hörten etwa 230 Personen einer dreistündigen digitalen Aktionskonferenz zu, zu der langjährige Aktivist:innen der Friedensbewegung eingeladen hatten. An verschiedenen Punkten brachen Differenzen auf. Viele wandten sich gegen Sanktionen gegen Russland. Die Mehrheit stimmte zu, sich an der oben geschilderten, von Campact organisierten Friedensdemo zu beteiligen. Eine Minderheit ging mit dem Leipziger Aktivisten Mike Nagler konform, der eine Beteiligung ablehnte mit dem Verweis, der Aufruf blende die Aufrüstungspolitik der NATO in den osteuropäischen Staaten aus.

Die Friedensbewegung wie auch DIE LINKE werden durch die Ereignisse gründlich durchgemischt werden. Schon jetzt bewegt sich der Großteil nach rechts in Richtung offenen Chauvinismus’ zu Unterstützer:innen des Vaterlandes und ihrer Verbündeten. Daraus kann sich auch eine Chance für revolutionäre und internationalistische Linke ergeben. Doch kann konsequenter Pazifismus wirksam gegensteuern?

Dilemma des Pazifismus

Pazifist:innen teilen alles Bürgerliche – außer Kriegsgewalt. Diese erscheint ihnen nicht als Fortführung der Politik mit anderen Mitteln, als aus den Widersprüchen der Klassengesellschaft erwachsen, sondern als unerklärlicher Betriebsunfall der Geschichte, Sieg des Bösen über das Gute im Menschen. Darum sind solche Bewegungen auch Tummelplatz aller Sorten sich als Gutmenschen gebender, die in Krisenzeiten schnell zu Kriegsbefürworter:innen werden.

Doch darf uns das nicht hindern, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, teilen wir doch mit der überwältigenden Mehrheit die Sorge um das dadurch verursachte Elend. Allerdings müssen wir zwischen dem ehrlichen, berechtigten Pazifismus, ja sogar Patriotismus eines/r Arbeiter:in und anderer Werktätiger aus Angst vor Verlust von Heimat und Leben und dem heuchlerischen der Kirchenfürst:innen, Politiker:innen und Journalist:innen unterscheiden. Diese Unterscheidung ist deshalb wichtig, weil wir unter ihnen unsere Verbündeten im Kampf gegen die Kriegsgräuel suchen müssen, nicht in Parlamenten, Amtsstuben und Militär.

Zweitens müssen wir zwischen fortschrittlichen und reaktionären Kriegen unterscheiden. So ist der Bürger:innenkrieg zur Erringung der Herrschaft der Lohnabhängigen, also der Diktatur des Proletariats wie ihrer Verteidigung ebenso zu unterstützen, wie der Kampf einer unterdrückten Nation um Selbstbestimmung einschließlich des Rechts auf Abtrennung von Gebieten, wenn deren Bevölkerungsmehrheit das will. Im imperialistischen Krieg treten wir dagegen für den revolutionären Defätismus ein, den Klassenkampf ohne Rücksicht auf die Niederlage der „eigenen“ Regierungen.

Aber sollten die Arbeiter:innen nicht einen reaktionären Krieg verhindern? Ja, unbedingt! Aber mit eigenen Mitteln, nicht Appellen an die Regierungen wie die pazifistische Friedensbewegung! So beschloss der Baseler Kongress der zweiten Internationale 1913, im Fall eines europäischen imperialistischen Krieges zum Generalstreik zu dessen Verhinderung aufzurufen. Davon sind Gewerkschaften, Sozialdemokratie, DIE LINKE und Friedensbewegung heute leider Lichtjahre entfernt. Aber auch die zweite Internationale überließ damals dem Sozialchauvinismus das Ruder, als sie am 4. August angesichts der Stimmung der Massen für die Kriegskredite und den sozialen Burgfrieden im Inneren stimmte.

Für die Haltung zum Krieg ist also nicht entscheidend, wer den ersten Schuss abfeuert, welches Land eine demokratischere Verfassung hat oder größer ist, sondern einzig und allein der Klassencharakter des Konflikts, der sich aus der Analyse seiner Stellung innerhalb des Weltsystems ergibt, was nicht notwendigerweise mit dem der beteiligten einzelnen Länder zusammenfällt.

Viele Argumente gegen unsere internationalistisch-revolutionäre Haltung lauteten in der vergangenen Woche zusammengefasst so: Ist der Kampf der Halbkolonie Ukraine gegen das imperialistische Russland nicht etwa auch nach euren Kriterien ein Gerechter? Nein, man muss auf vielmehr den Gesamtkontext des Kampfes betrachten. Die ukrainische Bourgeoisie hat ähnlich wie die herrschenden Nationalist:innen der serbischen Halbkolonie am Vorabend des Ersten Weltkriegs ihr Schicksal an das einer imperialistischen Großmacht – hier USA/EU, dort Russland – gekettet hat, damit nichts weiter als ein Bauer auf dem reaktionären Kriegsschachbrett darstellt.

Der nach wie vor legitime Kampf um nationale Selbstbestimmung gegen die russische Okkupation heute muss politisch unabhängig von der Regierung und unabhängig von der herrschenden ukrainischen Klasse geführt werden. Gäbe es revolutionäre Abgeordnete in der russischen Staatsduma, müssten sie gegen alle Kriegskredite stimmen. Auch im Fall der halbkolonialen Ukraine sollten sie dem Beispiel der beiden Sozialisten im serbischen Parlament von 1914 folgen und mit Nein stimmen, um so zum Ausdruck zu bringen, dass sie der Regierung keine politische Unterstützung geben (1). Außerdem muss das Recht auf nationale Selbstbestimmung dort auch für die Ostrepubliken gelten.

Ist Russland nicht eine undemokratische Oligarch:innenrepublik? Zweifellos! Doch abgesehen davon, dass das für die Haltung zum Krieg nicht ausschlaggebend ist, ist die Ukraine keinen Deut demokratischer (Ostrepubliken, Krim) oder weniger oligarchisch. Ihr Gini-Koeffizient (ein statistisches Maß zur Messung ungleicher Vermögensverteilung) ist der niedrigste in ganz Europa. Den Vorläuferinnen der jetzigen Regierung verhalf zudem ein Putsch mit faschistischer Beteiligung (Euromaidan) in den Sattel und löste einen Bürgerkrieg aus, in dem wir anfangs Seite für die Ostrepubliken bezogen haben, die sich gegen die von EU und IWF verhängten Sparmaßnahmen wandten. Diese Kräfte sind in den letzten Jahren jedoch marginalisiert worden, heute lässt sich im Osten des Landes nur noch von Stellvertreter:innen sprechen.

Macht es nicht einen entscheidenden Unterschied aus, ob Putin mit dem Einsatz von Atomwaffen droht? In der Tat doch wie kann man sich ins Lager der NATO unter ihrer Führungsmacht USA begeben, die damit nicht nur gedroht haben, sondern sie auch einsetzten (Hiroshima, Nagasaki)? Welche deeskalative Bedeutung hat in dem Sinne die Forderung einiger Ideolog:innen des deutschen Kapitals, Deutschland zu einer Atommacht hochzurüsten?

Sind die NATO-Länder nicht demokratischer als Russland? Formal mag das bei etlichen stimmen, doch heißt das keineswegs, dass sie ihre Verbündeten allein unter bürgerlichen Demokratien suchen (Saudi-Arabien) oder für Demokratie und Menschenrechte kämpfen. Auch die Türkei ist NATO-Mitglied und hat sich in den letzten Jahren immer stärker zum Bonapartismus und Autokratie entwickelt.

Frieden, Frieden über alles: Eisberg im Klimawandel!

In Zeiten verschärften Konflikts um die Neuaufteilung der Welt geraten halbkoloniale Länder zusehends ins Gravitationsfeld der einen oder anderen imperialistischen Machtkonstellation. Das gilt leider auch für den (Sozial-)Pazifismus. Kann ein Generalstreik den Ausbruch eines reaktionären Kriegs nicht verhindern oder kommt – noch schlimmer, wie 1914 in Europa, heute in Russland und der Ukraine – gar nicht erst zustande, ist das Friedenslatein schnell am Ende. Jetzt ist der Klassenkampf noch unmöglicher als zuvor geworden, scheint es ihm. Sind nicht die jungen Arbeiter:innen an der Front? Gebietet nicht der Krieg die Einstellung aller unabhängigen Klassenaktivität? Denn diese könnte doch die Niederlage der „eigenen“ Regierung heraufbeschwören? Und wäre das nicht gleichbedeutend, einseitig das Werk der Kriegsgegner:innen zu verrichten?

Da Imperialismus die Konzentration des Kapitals und herrschende Politik konzentriertester Ausdruck gesamtkapitalistischer nationaler Interessen bedeuten, spitzt der Krieg alle Widersprüche zu. Das ist der Hintergrund, warum Pazifist:innen ins (sozial-)chauvinistische Lager überlaufen müssen, wenn sie nicht die Niederlage der „eigenen“ Regierung in Kauf nehmen wollen! Wer nicht für mich ist, ist gegen mich! Wer im Frieden nichts als ein:e gute Bürger:in sein will, muss so auf diese reale Erpressung reagieren: hic Rhodos, hic salta! (Sinnhaft: Zeig hier, beweise, was du kannst.) Du musst dich für oder gegen uns entscheiden!

Das Milieu, aus dem sich Friedens- wie manch andere humanitäre Bewegung (Seebrücke, NGOs) vorrangig rekrutieren, einschließlich der Linkspartei wird ein Erdbeben erleben. Die von der außerordentlichen Bundestagssitzung verkündete „Zeitenwende“ bricht auch für sie an. Die Auseinandersetzung mit Übertritten ins Lager des imperialistischen Burgfriedens wird zu einer zentralen Aufgabe des ideologischen Klassenkampfes in den kommenden Wochen!

  • Nieder mit dem imperialistischen Krieg! Nieder mit dem imperialistischen Frieden!

Endnote

(1) In der ursprünglichen Fassung hieß es irrtümlich, dass sich die serbischen Sozialisten enthalten hätten. Wir entschuldigen uns für diesen Fehler.




Organisierte Selbstverteidigung und antifaschistischer Kampf, Teil 1

Martin Suchanek, Infomail 1018, 6. September 2018

Der rassistische und faschistische Mob von Chemnitz und dessen Hetzjagden gegen Flüchtlinge, MigrantInnen und Linke verdeutlichen, dass wir – und damit meinen wir die gesamte ArbeiterInnenbewegung, die sozial Unterdrückten und die Linke – die Frage der organisierten Gegenwehr diskutieren und praktisch in Angriff nehmen müssen. Ansonsten drohen uns die Rechten, seien es offene Nazis und militante RassistInnen, das rechtspopulistische AfD-Milieu, das sich zu „besorgten BürgerInnen“ stilisiert, und der repressiver werdende Staatsapparat immer weiter in die Defensive zu drängen.

Die Schaffung eines organisierten Selbstschutzes bildet dabei zwar nur einen, in letzter Instanz untergeordneten, Aspekt einer Gesamtstrategie. Aber sie ist zugleich ein unverzichtbares Element ebendieser Konzeption.

Wir werden uns in diesem Beitrag zuerst mit Einwänden beschäftigen, die in den letzten Tagen von Menschen erhoben wurden, die Faschismus und Rassismus entgegentreten wollen, und danach unsere Vorstellung organisierter Selbstverteidigung darlegen.

Erzeugt Gewalt nicht nur (noch mehr) Gewalt?

Viele Menschen, die von der brutalen Aggression der Rechten und deren offen zur Schau getragenen Gewalttätigkeit abgestoßen sind, befürchten, dass eine organisierte Gegenwehr von Seiten der Linken letztlich zur Reproduktion dieser Gewalttätigkeit führen würde. Wenn mit gleicher Münze zurückgezahlt würde, werde das berechtigte Anliegen von antifaschistischen und antirassistischen Kräften aufgrund ihrer gleichfalls gewalttätigen Praxis mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt, so dass auch bei diesen Vernunft, Argument, Verständigung durch das vermeintliche „Recht des Stärkeren“ ersetzt würden.

Wir wollen keineswegs bestreiten, dass eine solche Gefahr besteht. Jede Aktionsform, jede Kampfmethode kann sich unter bestimmten Bedingungen verselbständigen und sogar in ihr Gegenteil verkehren. Natürlich gab es auch in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung oder von Befreiungsbewegungen immer wieder solche Fälle. Bestimmte Strategien (wie z. B. der Guerillaismus, aber auch die verselbstständige Aktion „militanter“ Kleingruppen, die niemandem rechenschaftspflichtig sind) tragen einen inhärent elitären und anti-proletarischen Charakter, weil diese unwillkürlich jeder realen Kontrolle durch die ArbeiterInnenklasse entzogen sind.

Das Problem der prinzipiellen Ablehnung der Gewalt der Unterdrückten – aktuell der von Rassismus und Faschismus bedrohten – besteht aber darin, dass aus einer möglichen Entwicklung eine Gesetzmäßigkeit konstruiert wird. Die Frage, wer wo unter welchen Bedingungen Gewalt anwendet, wie Selbstverteidigungseinheiten, Milizen, bewaffnete Verbände einer unterdrückten Klasse oder Bevölkerungsgruppe mit deren politischen, gewerkschaftlichen, sozialen Strukturen verbunden sind – all das wird unerheblich, wenn Gewalt per se als die Ursache allen Übels betrachtet wird.

Die These, dass „Gewalt nur Gewalt erzeuge“, ist allenfalls im ersten Moment plausibel.

Klassengesellschaft

In Wirklichkeit verstellt sie jedoch den Blick auf deren gesellschaftliche Ursachen. Sie unterstellt, dass Gewalt von einzelnen Individuen erzeugt und daher auch durch die Einnahme einer bestimmten Haltung durch eine möglichst große Zahl einzelner, z. B. durch „bessere Erziehung“ und Aufklärung beendet, werden könne. Strukturelle, in den gesellschaftlichen Verhältnissen eingeschriebene Gewalt, die unabhängig von der individuellen Einstellung existiert und die Gesellschaft prägt, gerät so aus dem Blick. Dabei beruht unsere gesamte, kapitalistische Gesellschaftsordnung auf der Ausbeutung der Klasse der LohnarbeiterInnen. Zur Verteidigung und Absicherung dieses Verhältnisses braucht es wie zur Durchsetzung jeder damit verwobenen Form gesellschaftlicher Unterdrückung (z. B. der von Frauen, LGBTIA*-Menschen, der Jugend, von nationaler wie rassistischer Unterdrückung) immer auch Gewalt. Diese nimmt auch „private“ Formen der Diskriminierung oder gar physischer Angriffe an. Vor allem tritt sie uns als verselbstständigte Institutionen, als Staats- und Repressionsapparat, gegenüber.

Nicht die Gewalt hat Ausbeutung und Unterdrückung geschaffen, es sind vielmehr die Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse, die zu ihrer Reproduktion und Verteidigung auch Gewalt erfordern. Historisch geht daher Entstehung der Klassengesellschaft wie auch der Frauenunterdrückung mit der Bildung des Staates einher. Die Wandlung der Staatsform (z. B. von der feudalen zur bürgerlichen) spiegelt dabei grundlegende Veränderungen der Klassenverhältnisse wider.

Da in der menschlichen Geschichte die Herrschenden nie freiwillig ihrer ökonomisch, gesellschaftlich und politisch privilegierten Stellung entsagt haben, müssen die Ausgebeuteten und Unterdrückten im Kampf gegen sie notwendigerweise auch deren Gewaltmonopol in Frage stellen. Sie müssen selbst Formen der Selbstverteidigung und vom Staat unabhängige Organisationen schaffen, die in gesellschaftlichen Krisensituationen zu Instrumenten für den revolutionären Sturz und die Errichtung der Macht der vormals Ausgebeuteten werden können. Ansonsten sind diese bis ans Ende der Geschichte zu einer Existenz als Unterdrückte, als LohnsklavInnen, verdammt.

Zweifellos trägt die Gewalt der Unterdrückten bei jeder großen gesellschaftlichen und politischen Umwälzung auch exzessive Züge einer Abrechnung mit besonders brutalen UnterdrückerInnen. Dies ist jedoch ein unvermeidlicher Aspekt aller Revolutionen, aller fortschrittlichen Umbrüche der Geschichte. Wer diese gänzlich ausschließen will, muss sich letztlich gegen die Umwälzung der Verhältnisse selbst wenden.

Der Pazifismus, die Doktrin des allseitigen „Gewaltverzichts“, erweist sich angesichts der Gewalt der Verhältnisse und des Aufstandes der Unterdrückten als leere Floskel. Sie muss entweder verworfen werden – oder aber sie endet bei der Verteidigung des Bestehenden, indem die Gewalt der Unterdrückten mit jener der UnterdrückerInnen gleichgesetzt wird.

Staat und Gewaltmonopol

Da die Gewaltmittel der Gesellschaft im Kapitalismus ohnedies im bürgerlichen Staat (Polizei, Militär, Geheimdienste, Justiz, Gefängnisse …) konzentriert und monopolisiert sind, erscheint die Selbstverteidigung der Unterdrückten oder deren gewaltsames Aufbegehren (Aufstand, Revolte, Revolution) in der bürgerlichen Ideologie als zusätzliche Gewalt, nicht als Mittel zur Beschränkung oder Überwindung der Gewalt der UnterdrückerInnen.

Das staatliche Gewaltmonopol wird als „natürlich“, „zivilisierend“ verklärt und als scheinbar über den gesellschaftlichen Konflikten stehende, „neutrale“ Kraft ideologisch gerechtfertigt. Daher tendieren PazifistInnen und „GewaltgegnerInnen“ im Zweifelsfall dazu, diese für das geringere Übel zu halten. In ihrer Vorstellung (aber auch in der von Liberalen und ReformistInnen) erscheint die Konzentration der Gewaltmittel im bürgerlichen Staat nicht als Mittel zur Herrschaftssicherung einer Minderheit über die Mehrheit, sondern als Mittel zur „Befriedung“ der Gesellschaft, zur Beschränkung legaler, gesellschaftlich sanktionierter Gewaltanwendung auf eine Gruppe eigens dazu legitimierter und spezialisierter Menschen.

Dieser Schein wird durch das für den Kapitalismus grundlegende Auseinanderfallen von Politik und Ökonomie, von Staat und bürgerlicher Gesellschaft zusätzlich befestigt. Das Ausbeutungsverhältnis erscheint notwendigerweise als Vertragsverhältnis freier WarenbesitzerInnen, von KäuferIn und VerkäuferInnen von Arbeitskraft. Die Menschen treten einander nicht nur auf dem Arbeitsmarkt als formal gleiche gegenüber, sondern auch als gleiche Rechtspersonen, als BürgerInnen im öffentlichen Leben. Vor dem Gesetz erscheinen ArbeiterInnen und KapitalistInnen als gleich. Der Staat, der auch die allgemeine Reproduktion dieses Rechtsverhältnisses sichern muss, scheint also über den Klassen zu stehen.

Wenn in der bürgerlichen Ideologie – und somit auch in ihren pazifistischen und reformistischen Spielarten – der Klassencharakter des Staats verschwindet, so beruht dies nicht auf einer bewussten Täuschung, sondern dieser Schein wird durch die kapitalistischen Verhältnisse selbst hervorgebracht.

Auf diesem falschen Verständnis des Staates beruht aber auch die Position von vielen PazifistInnen und ReformistInnen, dass der Aufbau von Selbstverteidigungsorganen der ArbeiterInnenklasse, der MigrantInnen und Geflüchteten selbst im Kampf gegen die Nazis abzulehnen wäre. Durch den Aufbau von Selbstschutzeinheiten würden ihrer Logik zufolge noch mehr Menschen als die legal Befugten (Polizei, …) „militarisiert“. Damit würde die Gewalt nur zunehmen. Sofern sie sich nicht auf rein moralische Phrasen wie die Aufforderung zum „Gewaltverzicht“ aller zurückziehen, müssen sie nach dem Staat im Kampf gegen die Nazis rufen. Dessen staatliches Gewaltmonopol müsse wieder gefestigt und die Sicherheitskräfte müssten auf die „Demokratie“ verpflichtet werden, um so sicherzustellen, dass nicht noch mehr Menschen anfangen, die „Ordnung“ oder ihre eigenen Interessen auch mit Mitteln der Selbstverteidigung, also „gewaltsam“, durchzusetzen. Wenn schon die Gesellschaft nicht als Ganze friedlich sein kann, so die Logik, soll die legalisierte Gewalttätigkeit auf einzelne spezialisierte Personen, eben den Staatsapparat, beschränkt bleiben.

In Wirklichkeit ist das staatliche Gewaltmonopol (und zwar nicht nur die Polizei, die unmittelbaren Repressionsorgane, sondern auch Gerichte etc.) eine Fessel nicht nur für Linke, sondern auch für die ArbeiterInnenbewegung. So stellt jeder Streik, der über eine ritualisierte Form hinausgeht, auch die Frage nach der Verteidigung gegen Streikbruch. Gegen StreikbrecherInnen, die sich durch Worte allein nicht überzeugen lassen, bedarf es des Zwangs. Sie müssen an der Aufnahme der Arbeit gehindert werden. Die Verteidigung eines Arbeitskampfes gegen Streikbruch, Werkschutz, Polizei erfordert die Bildung von Streikposten, von „Selbstschutz“. Ab einer bestimmten Stufe der Eskalation – z. B. wenn FaschistInnen drohen, einen Streik oder eine Besetzung anzugreifen – stellt sich auch die Frage der Bewaffnung solcher Streikposten, die sich im Zuge der Auseinandersetzung zu einer ArbeiterInnenmiliz entwickeln können.

Wenn die Lohnabhängigen nicht in der Lage sind, auf drohende Gewalt von Rechten oder des Staates adäquat zu antworten, so sind sie zum Rückzug gezwungen. Das hatten wir z. B. bei den großen Streiks und Besetzungen der Raffinerien unter Sarkozy in Frankreich gesehen. Diese wurden besiegt, indem der damalige Präsident mit dem Ausnahmezustand und dem Einsatz des Militärs drohte. Die GewerkschaftsführerInnen und die Klasse insgesamt waren darauf nicht vorbereitet. Sie brachen ihre Aktionen ab. Um in dieser Situation dem Angriff der Regierung zu begegnen, hätten sie selbst den Konflikt weiter zuspitzen, also zum Generalstreik und zur Bildung von Selbstverteidigungsmilizen aufrufen müssen. Sie hätten das mit einer Agitation unter den SoldatInnen verbinden müssen, eigene Rätestrukturen zu bilden und den Einsatz gegen die Streikenden zu verweigern. Ein solcher Kurs wäre jedoch auf eine revolutionäre Zuspitzung hinausgelaufen, die die GewerkschaftsführerInnen vermeiden wollten. Stattdessen zogen sie die Niederlage vor. Die Klasse selbst hatte keine alternative politische Kraft hervorgebracht, die in dieser kritischen Lage die bestehende Führung hätte ersetzen können, da sie selbst auf die Konfrontation nicht vorbereitet wurde – und zwar auch nicht von den linken KritikerInnen der Bürokratie.

In der bürgerlichen Gesellschaft entscheidet, wie Marx im Kapital bei der Analyse des Kampfes um den Arbeitslohn herausarbeitet, zwischen widerstreitenden Rechtsansprüchen letztlich – die Gewalt. So war es auch in Frankreich. Wer daher „prinzipiellen“ Gewaltverzicht predigt, der schlägt der ausgebeuteten Klasse letztlich den Verzicht auf die Verteidigung ihrer Interessen bei allen wichtigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen vor. Im Kampf gegen den Faschismus ist dies jedoch besonders fatal.

Faschismus, Staat und Gewalt

Der Faschismus und die gewalttätigen RassistInnen, die MigrantInnen, Unterkünfte, SupporterInnen, linke Strukturen angreifen, verfolgen mit dieser Gewalttätigkeit einen politischen Zweck. Sie wollen die Organisationen ihrer FeindInnen vernichten, zum Teil diese selbst (MigrantInnen, MuslimInnen, Linke) – und sie werden sich davon sicher nicht durch deren „Gewaltverzicht“ abhalten lassen. Der Faschismus organisiert für seine Ziele nicht nur besonders brutale, barbarisierte Menschen. Er präsentiert sich als besonders „radikal“, um dem KleinbürgerInnentum, dem Lumpenproletariat und politisch rückständigen Teilen der ArbeiterInnenklasse das Gefühl der Stärke zu vermitteln. So treiben Nazis Menschen durch die Straße und terrorisieren sie auch, um so ihre AnhängerInnen zu binden. Die Verletzung, ja Tötung des Feindes wird zum Beleg der Überlegenheit in den Augen ihres Umfeldes, des Milieus, das der Faschismus ultra-reaktionär organisiert.

Daher müssen wir den Nazis und dem von ihnen organisierten Umfeld auch anders begegnen als „normalen“ reaktionären Kräften. Das grundlegende Ziel des Faschismus ist die Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung, die Ausschaltung aller Elemente der proletarischen Demokratie und die Reorganisation der Gesellschaft nach dem Modell der „Volksgemeinschaft“. Die faschistische Diktatur, ist sie einmal verwirklicht, entpuppt sich zwar von Beginn an nicht als Herrschaft des zum Volk stilisierten Kleinbürgertums, sondern als jene des Finanzkapitals – aber sie ist zugleich eine Herrschaft, die durch den erfolgreichen Terror gegen die ArbeiterInnenklasse, MigrantInnen, JüdInnen, ja selbst bürgerlich-demokratische Kräfte errichtet wurde.

Bis zu einem gewissen Grad durchbricht auch die reaktionäre Gewalt des Faschismus und militanter RassistInnen das staatliche Gewaltmonopol. Daher brechen Konflikte über den Umgang mit dem Faschismus oder auch mit rechts-populistischen Gruppierungen wie der AfD sowohl unter den bürgerlichen Parteien wie in der herrschenden Klasse selbst auf. Ein Teil möchte auch unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen – also einer kapitalistischen Krise und verschärfter Konkurrenz – an den etablierten Formen der Herrschaftsausübung (parlamentarische Demokratie, Sozialpartnerschaft) festhalten, da diese über Jahre oder Jahrzehnte die ArbeiterInnenklasse gut integrierten, den sozialen Frieden wahrten, die Profite und die imperialistischen Gesamtinteressen sicherten.

Doch die Krisenhaftigkeit des Systems stellt in vielfacher Hinsicht auch diese „traditionelle“ Form der Herrschaft in Frage. Schon der Neo-Liberalismus hat sie über Jahre unterminiert. Ab einem bestimmten Punkt sehen sich auch größere Teile der herrschenden Klasse vor die Notwendigkeit gestellt, die gesellschaftliche und politische Ordnung neu zu organisieren. Dies nimmt aktuell die Form einer scheinbar außerhalb der bürgerlichen „Elite“ stehenden, kleinbürgerlich-populistischen Bewegung und auch faschistischer Kräfte an. Diese sind keineswegs bloß gedungene LakaiInnen des Großkapitals. Bis zu einem gewissen Grad braucht der Populismus wie auch der Faschismus einen Bewegungscharakter, der sich nationalistisch, rassistisch oder gar völkisch gegen MigrantInnen, die „Gutmenschen“ aus reformistischer ArbeiterInnenschaft, Liberalen und Grünen richtet wie auch gegen die „Elite“. Während es dem Rechts-Populismus letztlich um eine Verschiebung und einen Umbau der bestehenden staatlichen Institutionen und Herrschaft Richtung Autoritarismus und Bonapartismus geht, will der Faschismus noch gründlicher „aufräumen“, gleich die gesamte ArbeiterInnenbewegung zerschlagen.

Es ist kein Zufall, dass Rassismus, Anti-Liberalismus und auch Anti-Semitismus immer wiederkehrende Ideologien dieser Bewegungen sind. Im Unterschied zu den Rechts-PopulistInnen geht es dem Faschismus jedoch nicht nur um eine Protestbewegung von „Empörten“, sondern um die Schaffung einer militanten Bewegung zur Zerschlagung der Organisationen der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten. Gerade der gewalttätige „Bewegungscharakter“ kann sich in zugespitzten Krisen auch für die herrschende Klasse als nützlich erweisen. Der faschistische Mob, die zur einer reaktionären Kraft, zu einem Rammbock gegen die ArbeiterInnenbewegung zusammengeschweißten Nazis kommen aus denselben Wohngebieten, wo auch ArbeiterInnen, die Linken, MigrantInnen leben. Sie sind – anders als Polizei und Justiz – „normale BürgerInnen“. Sie arbeiten in Betrieben, betreiben Geschäfte – und errichten ihre Vorherrschaft über ein Wohngebiet durch Terror und Organisation „von unten“ (auch wenn sie natürlich, einmal zur Macht gekommen, diese Macht dem Monopolkapital überlassen müssen). Daher erweist sich der Faschismus an der Macht auch als eine weitaus tiefer gehende Diktatur als andere Formen.

Eine solche totalitäre Form bürgerlicher Herrschaft lässt sich ohne Gewalt und Terror nicht errichten. Der Faschismus (oder die Bedrohung, die er bedeutet) zeigt aber schlagkräftiger als alles andere, wie wenig hilfreich der Satz ist, dass Gewalt nur Gegengewalt erzeuge.

Nehmen wir einmal an, wir würden auf jede Gewalt gegen den Faschismus verzichten. Was würde dann passieren? Weniger Gewalt? Wohl nicht. Die Gewalt der FaschistInnen würde uns nur ungebremst die Knochen brechen. Es bleiben also zwei Möglichkeiten. Entweder wir nehmen mehr und mehr Gewalt einfach hin – oder wir appellieren an eine andere Institution, die den Faschismus scheinbar aufhalten kann: den bürgerlichen Staat. Dumm nur, dass dieser selbst in Zeiten der Krise mehr und mehr zu autoritären Formen greift, dass die bürgerliche Politik selbst dem Faschismus, Rassismus und Rechts-Populismus einen Nährboden liefert.

Verzichten die Linken und die ArbeiterInnenbewegung im Kampf gegen die Nazis auf organisierte Selbstverteidigung, dann bedeutet das, dass sie selbst entweder alle zu hoffnungsfrohen ChristInnen der ersten Stunde mutieren müssen, die dem Feind, nachdem er sie auf die linke Wange geschlagen hat, auch die rechte hinhalten – oder sie setzen auf die Polizei, die Geheimdienste, die bürgerlichen Parlamente und Regierungen im Kampf gegen rechts. Das heißt aber, sie müssten dann für eine Stärkung des repressiven Apparates eintreten, der gerade dabei ist, für die Interessen des deutschen Imperialismus aufzurüsten, das Mittelmeer zum Massengrab zu machen und Geflüchtete in Länder wie Afghanistan abzuschieben. Sie müssten also selbst der Bourgeoisie jene Waffen schmieden helfen, die sie morgen (oder schon heute) gegen Streiks, antirassistische Aktionen, gegen die BesetzerInnen im Hambacher Forst, gegen linke Demonstrationen einsetzt.

Der Appell an den bürgerlichen Staat und seine Stärkung im Kampf gegen den Faschismus erweist sich als doppelt falsch. Erstens unterstellt er dem bürgerlichen Staat wider eigene Erfahrung zu, ein verlässlicher Verbündeter im Kampf gegen rechts zu sein oder sein zu können. Dabei wird die historische Erfahrung ausgeblendet, dass die herrschende Klasse selbst in Krisensituationen auf den Faschismus zurückgreift, dass sie genötigt sein kann, ihn als letztes Mittel zu ihrer Herrschaftssicherung zu nutzen – und ihn daher in Reserve hält.

Zweitens bedeutet das falsche Vertrauen in den bürgerlichen Staat auch, dass sich die Linke und die ArbeiterInnenbewegung in einen Zustand gesellschaftlicher Ohnmacht begeben und in diesem verharren. Während die Rechten trotz manchmal härterer, zumeist ohnedies verhaltener staatlicher Repression weiter ihre Bewegung aufbauen, ihre AnhängerInnen im Kampf auf der Straße, in der reaktionären Mobilisierung schulen und so deren Moral und Zuversicht heben, überlässt die Linke dem bürgerlichen Staat das Handeln. Sie verzichtet auf den Aufbau eigener Strukturen. Indem sie die Kampfmoral und das Selbstbewusstsein der eigenen UnterstützerInnen nicht heben kann, verstärkt sie auch die Passivität, Niedergeschlagenheit und den Fatalismus der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten. Diese werden zu reinen Objekten, die sich entweder von den Faschos und Rechten drangsalieren lassen oder auf rassistische, mit den Rechten oft sogar noch sympathisierende Bullen hoffen müssen. Wer auf den bürgerlichen Staat bei der Verteidigung gegen faschistische Gewalt vertraut, überlässt diesem unwillkürlich nicht nur das Heft des Handelns, er macht sich selbst letztlich von der „Initiative“ der herrschenden Klasse, deren „Schutz“ abhängig.

Der Verzicht auf Strukturen, die der faschistischen und rassistischen Gewalt entgegentreten können, ermutigt nur diese Gewalt. Sie bringt eine Konzentration der Gewalt auf einer Seite (nämlich der der Barbarei und Unterdrückung) hervor, während die Gegenkräfte immer ohnmächtiger werden und sich selbst so fühlen.

 

Im zweiten Teil des Artikels werden wir uns mit der Frage beschäftigen, welchen Selbstschutz wir brauchen und wie dessen Aufbau in ein Strategie zur Bekämpfung des Faschismus eingebettet ist.