OnlyFans – Sexarbeit ohne Zwänge?

Meret Martowa, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 11, März 2023

Ein paar Bilder hochladen und schnell reich werden? So stellen sich viele die Arbeit von Sexarbeiter:innen auf OnlyFans vor. Doch ist es wirklich so einfach? Und bringt OnlyFans eine Demokratisierung der Pornobranche mit sich? Das wollen wir im Folgenden klären.

Was ist OnlyFans?

OnlyFans existiert seit 2016 und ist eine Internetseite, auf der vor allem erotische und pornografische Bilder und Videos von einzelnen Creator:innen hochgeladen werden. Theoretisch kann aber auch jeder Inhalt draufgestellt werden. Der starke Fokus auf sexualisierte Inhalte kam durch den Einstieg vom Haupteigentümer der Website MyFreeCams.com, Leonid Radvinsky, der 2018 rund 75 % von OnlyFans aufkaufte und damit die Ausrichtung der Seite nachhaltig veränderte. Die Inhalte werden zum Beispiel auf der Instagramseite der darstellenden Personen beworben und dann kostenpflichtig in Form eines Monatsabos, auf „Pay per view“-Basis oder in privaten Chats auf OnlyFans bereitgestellt. Dabei tummeln sich auf der Plattform neben Stars der Pornobranche auch Influencer:innen und viele, die es  werden wollen. Sie stellt quasi einen niedrigschwelligen Eintritt in die Sexarbeit dar. Während der Coronapandemie erlebte OnlyFans einen enormen Zuwachs, den sie trotz aufkommender und bestehender Konkurrenz wie BestFans, Patreon oder auch Pornhub noch ausbauen konnte.

Wachstumsspritze Pandemie

Waren es vor dem weltweiten Beginn der Coronapandemie mit ihren Ausgangsbeschränkungen und anderen sozialen Einschränkungen im März 2020 noch etwa 62 Millionen Besuche auf der Website, verdoppelte sich die Zahl im April 2020 bereits auf ca. 117 Millionen Besucher:innen. Die Konsument:innen sind dabei überwiegend Männer (Schätzung similarweb.com: 79,77 % männlich) aus den „westlichen“ imperialistischen Zentren im Alter von 18 bis 34 Jahren. Inzwischen halten sich die Besucher:innenzahlen recht konstant bei über 300 Millionen pro Monat (similarweb.com: Jan 2023, 346 Millionen Visits) und damit ist OnlyFans unter den Top 50 der meist besuchtesten Websites der Welt. So ist auch möglich, dass der Eigentümer von OnlyFans monatlich eine Dividende (= Gewinnbeteiligung der Aktionär:innen) von 45 Millionen US-Dollar auszahlen lassen soll. Doch wie kann ein Typ so viel Geld auszahlen?

Das geht hier durch die Ausbeutung von rund 1,5 Millionen Creator:innen der Plattform. Denn das Geld, welches die Konsument:innen bezahlen, geht dabei nicht allein an diese. 20 % der Einnahmen beansprucht OnlyFans für sich. Bisher gibt es keine einsehbaren Statistiken über die Demographie der Creator:innen. Sie können individuelle Sexarbeiter:innen sein, die quasi selbstständig sind und sich selbst um Vermarktung, Produktion, Auswahl der Konsument:innen und anderes  kümmern. Es kann sich aber auch um Agenturen und Pornohersteller:innen handeln, bei denen es u. a. auch durch Zwangsprostitution zur Erstellung der pornographischen Inhalte kommt.

Konkurrenz zum traditionellen Angebot?

Es zeichnet sich aber nicht ab, dass OnlyFans anderen Pornoseiten wie Pornhub den Rang abläuft. XVideos und Pornhub liegen mit ihren kostenfreien pornographischen Inhalten weit vorne in der Kategorie der „Erwachsenen“-Websites und kommen von aller besuchten Seiten sogar unter die ersten 15 im Ranking. So hatte etwa XVideos weltweit ca. 3 Milliarden Besucher:innen allein im Januar 2023! Was man schon mal festhalten kann, OnlyFans ist dennoch enorm etabliert und erwirtschaftet viel Kohle auf Kosten von oft jungen Sexarbeiter:innen, egal ob durch eigene Entscheidung, ökonomischen Zwang oder sogar Zwangsprostitution.  Das führt uns zur Frage: Hilft OnlyFans, den Pornographiemarkt zu demokratisieren?

Bessere Bedingungen?

OnlyFans hat seine Beliebtheit bei eigenständigen Sexarbeiter:innen dadurch erlangt, dass es zum einen überhaupt möglich gewesen ist, pornografische Inhalte hochzuladen, und zum anderen die zu zahlende Provision relativ gering ist. Ebenso bietet die „eigene Vermarktung“ die Möglichkeit, klarer eigene Vorlieben und Interessen in den Vordergrund zu stellen. Das ist auch einer der Gründe, warum OF teilweise einen feministischen Anstrich hat. Dabei muss klar gesagt werden: Creator:innen, die bereits berühmt sind oder zumindest über eine andere Plattform wie Instagram eine gewisse Anzahl von Follower:innen besitzen, haben es wesentlich leichter. Denn das eine ist es, die Inhalte für OnlyFans zu generieren. Das andere ist es, Nutzer:innen zu finden, die beständig zahlen. Es ist also entgegen der Vorstellung vieler nicht einfach, schnell „ein paar Bilder hochladen“, sondern bedeutet auch, regelmäßig auf anderen Kanälen aktiv zu sein und sich eine Community aufzubauen. In dem Sinne es nicht groß anders als andere Influencertätigkeiten.

Gleichzeitig sind die Chancen für Erfolg – oder ein stetiges Nebeneinkommen –  davon abhängig, wie man sich vermarktet – und damit eben auch abhängig vom existierenden gesellschaftlichen Bewusstsein. Klar, kann sich jede/r so geben, wie er/sie will und Sexarbeiter:innen, die bestimmte Nischen abdecken, haben es leichter, sich zu vermarkten und Abnehmer:innen zu finden, vor allem, da man sich weltweit vermarkten kann. Leichter werden es dennoch jene haben, die in das vorherrschende, weiße Schönheitsideal passen und OnlyFans wird dies nicht ändern.

Die Darsteller:innen, die nicht anderweitig angestellt sind, werden letzten Endes zu Scheinselbstständigen – und abhängig von der Plattform selbst. Diese ist jedoch gar nicht so frei, wie sie sich gerne gibt. So gab es im August 2022 kurzzeitig die Meldung, dass die Plattform alle pornographischen Inhalte bannen wollen würde, da Mastercard & Co die weitere Zusammenarbeit aufkündigen wollten. Darüber hinaus gibt es eine Liste mit ca. 150 Wörtern, die weder in Beschreibungstexten noch privaten Nachrichten benutzt werden dürfen. Eingeführt wurde diese Maßnahme, um sicherzustellen, dass die Richtlinien der Seite eingehalten werden und bspw. Kinderpornographie verhindert wird. Deswegen sind Wörter wie Kind, minderjährig oder „meet“ (eng. „sich treffen) nicht verfügbar. Aber eben auch „AdmireMe“, eine alternative Bezahlseite für sexuelle Dienstleistungen, oder Worte wie „menstruieren“ oder „Cervix“. Sieht man sich die ganze Liste an, so erscheint es als plumper Versuch, mittels künstlicher Intelligenz Grenzüberschreitungen zu verhindern. Diese kann einfach umgangen werden durch Synonyme oder alternative Schreibweisen, während es gleichzeitig eine Einschränkung gibt, wie über Sexualität geredet wird.

Zusammengefasst heißt das: Ja, insbesondere für bessergestellte Schichten von Sexarbeiter:innen stellt OnlyFans eine Verbesserung dar und hat es geschafft, während der Pandemie ein Angebot zu schaffen, der Arbeit trotzdem nachzugehen. Man sollte die Plattform jedoch nicht zur Selbstbefreiungsmöglichkeit erklären. Denn letzten Endes ist sie eine sehr stark individualisierte Lösung, die die prekären Arbeitsbedingungen von Sexarbeiter:innen weiter manifestiert. Denn was passiert im Krankheitsfall oder bei Übergriffen? Wer kontrolliert das, was gezeigt und gesagt wird?

Was braucht es also?

Statt dass Eigentümer und Aktionär:innen von OnlyFans massiv Kohle  auf dem Rücken der Creator:innen scheffeln, braucht es die Enteignung von OnlyFans unter Kontrolle der Beschäftigten. Um dies umzusetzen – nicht nur für OnlyFans, sondern auch für die gesamte Erotikbranche – braucht es eine Gewerkschaft, die deren Interessen in der Branche vertritt sowie eine politische Vertretung darüber hinaus. So können die Probleme in der Branche effektiv angegangen werden:

1. Die effektivsten Maßnahmen gegen Zwangsprostitution und Menschenhandel sind nicht etwa das Verbot von Sexarbeit, Prostitution oder Pornographie. Es sind offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle, sowie ein Mindesteinkommen gekoppelt an die Inflation.

2. Gegen Übergriffe seitens sexistischer Freier (die auch im digitalen Raum stattfinden können) oder den Druck von Zuhältern braucht es Meldestellen unabhängig von der Polizei sowie demokratisch organisierte Selbstverteidigungsstrukturen von Sexarbeiter:innen und der Arbeiter:innenbewegung.

3. Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und Berufsfreiheit statt Opferrolle! Statt Stigmatisierung, Ausgrenzung und Kriminalisierung seitens des Staates werden flächendeckende, kostenlose und anonyme gesundheitliche Vorsorgeuntersuchungen sowie kostenlose psychologische Angebote benötigt!

4. Statt Flatratebordellen und Preisdumping bedarf es der Kontrolle der Beschäftigten selber:  Mindestlohn ist das Minimum. Darüber hinaus sollte es Preiskontrollkomitees durch die Beschäftigten geben. Ebenso bedarf es Komitees, bei denen Unterdrückte durch Rassismus, Sexismus oder LGBTIA+-Diskriminierung miteinbezogen werden, um einen Umgang mit diskriminierenden Darstellungen zu finden!

Doch wie gehen wir als MarxistInnen mit Sexarbeit generell um?

Einige Teile des liberalen Feminismus werfen die These in den Raum, dass Sexarbeit grundsätzlich „empowernd“, selbstermächtigend sei, während Teile des Radikalfeminismus die Ansicht vertreten, dass jede Sexarbeit Zwangsprostitution wäre, das Patriarchat direkt unterstützen würde und somit zu unterbinden sei. Beide Annahmen ignorieren die Realität von Sexarbeitenden. Denn natürlich ist sie nicht grundsätzlich empowernd, nur weil sich die Person freiwillig dazu entscheidet und der ökonomische Zwang ignoriert wird. Grundsätzlich sind im Kapitalismus überhaupt keine Lohnarbeit und Form der Ausbeutung selbstermächtigend. Auf der anderen Seite ist auch nicht jede Form der Sexarbeit Zwangsprostitution, nur weil ökonomischer Druck herrscht, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen. Denn das trifft im Kapitalismus auf alle zu, die der Arbeiter:innenklasse angehören, und ist etwas, das sie auszeichnet. Das nennt man auch den „doppelt freien Charakter der Ware Arbeitskraft“. Man ist frei, seine Arbeitskraft zu verkaufen – oder eben auch frei zu verhungern.

Als Marxist:innen muss uns bewusst sein, dass es unterschiedliche Formen der Tätigkeiten innerhalb der Branche gibt, die – wie sonst in der Gesellschaft auch – von Klassen geprägt sind. Dabei muss klar gesagt werden, dass nur kleiner Teil der in dem Bereich Arbeitenden sich die Beschäftigung ausgesucht hat. Meist haben sie auch andere Berufsabschlüsse, theoretisch die Möglichkeit, Freier abzulehnen, und einen kleinbürgerlichen Hintergrund.

Weltweit gesehen kommt der Großteil hingegen durch Zwangsverhältnisse in die Branche. Doch wie bereits oben aufgeführt, wird sich ihre Stellung nicht dadurch ändern, indem man Verbote ausspricht.  Es ist notwendig, den Personen, welche unter dem ökonomischen Zwang und den teilweise sehr schlechten Arbeitsbedingungen leiden, eine Möglichkeit zu bieten, ohne größere Probleme auszusteigen. Dahingehend müssen wir uns für kostenfreie und seriöse Beratungsstellen und bezahlte Umschulungen, für Aus- und Weiterbildungen sowie für berufliche Alternativen einsetzen. Nur wenn der ökonomische Zwang und die Illegalisierung entfallen, können Ausstieg und Umschulung eine attraktive reale Option werden. Ansonsten bleiben sie eine schöne, aber letztlich leere Versprechung.

Langfristig muss das Ziel von Marxist:innen darin bestehen, die materielle gesellschaftliche Basis umzugestalten und somit die ökonomischen Zwänge zu zerstören, die Menschen dazu nötigen, sexuellen Dienstleistungen aufgrund von Gewalt oder Not nachzugehen. Da Prostitution und Sexarbeit Ergebnis der patriarchalen, kapitalistischen Gesellschaft sind, lassen sie sich auch nicht so ohne weiteres abschaffen. Der Kampf gegen Zwangsprostitution muss deswegen über die Verbesserungen der Arbeitsbedingungen gehen.  Dementsprechend ist es natürlich auch nötig, eine Massenbewegung aufzubauen, in welcher Sexarbeiter:innen Seite an Seite mit allen Unterdrückten gemeinsam für das Ende von Kapitalismus und Patriarchat kämpfen können, ohne stigmatisiert zu werden.




Ende der Pandemie?

Katharina Wagner, Neue Internationale 271, Februar 2023

„Wir erleben in diesem Winter die erste endemische Welle mit Sars-CoV-2, nach meiner Einschätzung ist damit die Pandemie vorbei“. Diese lang ersehnten Worte stammen aus einem Ende Dezember dem „Tagesspiegel“ gegebenen Interview von Christian Drosten, dem Leiter der Virologie an der Berliner Charité. Aus dem Coronavirus sei mittlerweile ein endemisches geworden, wie Ende Oktober 2022 auch vom Vorsitzenden der Ständigen Impfkommission (Stiko), Thomas Mertens, mitgeteilt.

Unter Endemie versteht man einen Zustand, in dem Krankheitsfälle mit einem Erreger in einer bestimmten Population oder Region, wie etwa Deutschland, fortwährend gehäuft auftreten. Das Virus Sars-CoV-2 verschwindet demnach nicht mehr vollständig, sondern wird zukünftig mit relativ konstanten Erkrankungszahlen dauerhaft auftreten. Innerhalb deren herrscht eine breit vorhandene Immunität innerhalb der Bevölkerung. Möglich wird dies einerseits durch bereits überstandene Infektionen und andererseits durch verabreichte Impfungen. Das Immunsystem wird mit einem bereits bekannten Erreger konfrontiert und kann daher spezifischer und vor allem deutlich schneller reagieren. Dies sorgt generell für weniger Ansteckungen und mildere Krankheitsverläufe.

Reaktionen seitens der Politik

Die politischen Entscheidungsträger:innen reagierten prompt. Bereits kurz nach Veröffentlichung des Interviews forderte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) via Twitter zum wiederholten Male eine Abschaffung aller Coronaschutzmaßnahmen. Da aus Sicht mehrerer Wissenschaftler:innen das Risiko einer Infektion durch höhere Immunisierungsraten innerhalb der Bevölkerung gesunken sei und das Virus mittlerweile endemisch vorkomme, seien die noch geltenden Maßnahmen nicht verhältnismäßig und daher nicht mehr mit dem Grundgesetz vereinbar. Auch dass Christian Drosten sich Mitte Januar noch einmal zu seinem Interview äußerte und von einem Missverständnis sprach, ein Ende der Pandemie könne gesichert nur rückblickend nach dem Winter definiert werden, führte bei den Politiker:innen zu keinem Umdenken.

Das Interview gab auch den Anstoß zu einer breit geführten Diskussion über eine generelle Abschaffung bekann-ter Schutzmaßnahmen wie beispielsweise der Maskenpflicht im Nah- und Fernverkehr bereits vor Ablauf des Infektionsschutzgesetzes am 7. April 2023. Während sich Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und sein Parteigenosse und Bundeskanzler Olaf Scholz zunächst zurückhaltend äußerten, kamen Zweifel von Seiten der Wirtschaft. Die Chefin der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, befürchtet bei einem früheren Wegfall der Schutzmaßnahmen eine Schwächung der heimischen Industrie aufgrund eines möglichen Anstiegs an Atemwegserkrankungen und Coronainfektionen. Befürworter:innen für die frühzeitige Abschaffung der Maskenpflicht finden sich aber auch außerhalb der Politik. So ist nach Ansicht des Vorstandsvorsitzenden der Deut-schen Krankenhausgesellschaft (DKG), Gerald Gaß, der Bevölkerung ein unverändertes Fortbestehen der Maßnahmen bis zum 7. April nicht mehr vermittelbar. Schlussendlich wurde dann Mitte Januar das vorzeitige Ende der Maskenpflicht im Nah- und Fernverkehr beschlossen. Ab dem 3. Februar 2023 entfällt sie auch im letzten Bundesland Thüringen. Darüber hinaus soll sie dann nur noch in  Pflegeheimen, Krankenhäusern sowie Arztpraxen und anderen Gesundheitseinrichtungen gelten.

Weitere Möglichkeiten zur Aufhebung von Schutzmaßnahmen zwecks Eindämmung von Coronainfektionen wurden bereits vor dem Erscheinen des Interviews beschlossen. So wurde unter anderem die Isolations- und Quarantänepflicht in Bayern und Baden-Württemberg bereits Mitte November aufgehoben. Zahlreiche andere Bundesländer haben diese seither ebenfalls ausgesetzt. Nur in 7 Bundesländern besteht derzeit weiterhin eine Isolationspflicht.

Auch der Zugang zu kostenlosen Tests wurde bereits Ende November deutlich eingeschränkt. Das sogenannte „Freitesten“ nach einer Infektion wird seit dem 16.1.2023 zudem an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Zugang haben demnach nur noch medizinisches Personal vor Wiederaufnahme der Tätigkeit sowie bis Ende Februar weiterhin Besucher:innen von Pflegeeinrichtungen bzw. Kliniken. Alle anderen müssen die durchgeführten Tests aus eigener Tasche bezahlen. Begründet wird dies mit Lockerungen in Bezug auf die Isolationspflicht und der daraus resultierenden fehlenden Notwendigkeit, Tests zur Beendigung der Isolation aus Bundesmitteln zu finanzieren.

Rekordkrankenstand im Dezember

Die bereits angesprochene Diskussion kam allerdings zur Unzeit. Sie fand innerhalb einer europaweiten und recht frühen Welle von Influenza (Grippe) und Atemwegserkrankungen, hervorgerufen meist vom besonders für Säuglinge und Kleinkinder gefährlichen RSV (Respiratorisches Synzytial-Virus), statt. Hinzu kamen weiterhin Coronainfektionen. Um die Gefährdung für die nationalen Gesundheitssysteme und die Bevölkerung zu reduzieren, wurde europaweit für Impfungen gegen Influenza und COVID-19, vor allem für anfällige und gefährdete Gruppen, geworben. All dies zusammen führte zu einem Rekordkrankenstand von rund 10 % der Beschäftigten in nahezu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Medizinische Labore waren überlastet und konnten Proben nicht rechtzeitig auswerten. Viele Krankenhäuser mussten in den Notbetrieb gehen und sogar Operationen verschieben. Besonders hart betroffen waren demnach vor allem die Kinderstationen, hauptsächlich da hier der Fachkräftemangel wegen erforderlicher Zusatzausbildung noch deutlicher zu spüren ist. Daher konnte man auch nicht einfach Personal von Erwachsenenstationen abziehen, wie von Karl Lauterbach als Lösung des akuten Personalmangels vorgeschlagen. Seitens der DKG wurde auch der Ruf nach Aussetzung der Personaluntergrenzen sowie ein Abbau von Bürokratie und Dokumentationspflichten geäußert. Auch könnten coronapositive, aber symptomfreie Pflegekräfte dennoch auf den Stationen eingesetzt werden, um den fehlenden Personalmangel zu minimieren.

Bilanz der Pandemie

Betrachten wir rückblickend die Arbeit der Bundesregierung zur Bewältigung der Pandemie, fällt das Fazit eindeutig negativ aus.

Zu Beginn im Frühjahr 2020 wurde noch auf eine „Flatten-the-curve-Strategie“ gesetzt. Dabei wird versucht, die Infektionszahlen soweit zu reduzieren, dass ein Kollaps des Gesundheitswesens verhindert wird. Das Ziel ist eine Bewältigung der Krankheitsfälle mit den bestehenden Kapazitäten an Infrastruktur und Personal. Wir erinnern uns alle noch an den ersten Lockdown inklusive flächendeckender Schließungen von Kindertagesstätten und Schulen. Auch die Maskenpflicht und Abstandsregeln im öffentlichen Raum wurden damals eingeführt ebenso wie die Schließung von nicht zwingend notwendigen Einrichtungen wie Fitness- oder Nagelstudios. Besonders hart traf es dabei auch die Kultur- und Gastronomiebranche. Zahlreiche Arbeitsplätze wurden in dieser Zeit abgebaut, auch wenn die Bundesregierung durch Milliardenbeträge und Kurzarbeit mit Geld der Steuerzahler:innen gegenzusteuern versuchte. Zu diesem Zeitpunkt wurde dies noch von weiten Teilen der Industrie mitgetragen. Man erhoffte sich dadurch doch eine deutliche Reduzierung der Krankenstände, welche die heimische Wirtschaft extrem belastet und die globale Wettbewerbsfähigkeit enorm geschwächt hätten. Andere Länder wie etwa Schweden setzten dagegen zu Beginn auf eine sogenannte „Durchseuchungsstrategie“ – ohne Verbote oder gesetzliche Maßnahmen wie Maskenpflicht oder Abstandsregeln. Allerdings zeitigte diese für das Land verheerende Folgen. Schweden gehört innerhalb Europas zu den Ländern mit den höchsten Todeszahlen im Bezug auf COVID-19 und sah sich in weiterer Folge ebenfalls dazu gezwungen, auf die deutsche Strategie zur Eindämmung von Infektionen überzugehen.

Tatsächlich gelang es der Politik, die Infektionszahlen zu reduzieren und einen völligen Kollaps des Gesundheitswesen zu verhindern. Allerdings muss hierzu gesagt werden, dass die Pandemie die bestehenden Probleme im Gesundheitswesen, allen voran Personalmangel, aber auch fehlende Behandlungskapazitäten aufgrund unzureichender Investitionen, einer breiteren Öffentlichkeit deutlich vor Augen geführt hat.

Kapitalinteressen vs. Gesundheitsschutz

Die Hauptmotivation aller genannten Entscheidungen seitens der Politik im Zuge der Pandemiebekämpfung muss in der vorherrschenden kapitalistischen Produktionsweise und der globalen Wettbewerbsfähigkeit gesucht werden. Lockdowns mit flächendeckenden Schließungen ganzer Branchen und schwerwiegende Eingriffe in die Grundrechte werden daher nicht nur von Teilen der Bevölkerung, sondern auch von Seiten der Wirtschaft abgelehnt. Diese sorgt sich schließlich um ihre globale Wettbewerbsfähigkeit und Produktivitätsvorteile gegenüber der internationalen Konkurrenz. Es geht wieder einmal um die Interessen des gesamten Kapitals, welche vor dem Gesundheitsschutz der Bevölkerung rangieren.

Gesellschaftliche Bereiche wie Bildung oder Gesundheitswesen stehen zu einem nicht unbeträchtlichen Teil außerhalb der kapitalistischen Profitinteressen. Hier kann nicht flächendeckend ein sogenannter Mehrwert generiert werden. Aus diesem Grund findet in den genannten Bereichen häufig eine Umlage der Kosten auf alle Bürger:innen und Versicherten statt. Deutlich wurde dies beispielsweise an den staatlichen Hilfen für die Beschaffung zusätzlicher Intensivbetten zu Beginn der Pandemie. Eine weitere Folge dieses Umstandes sind auch fehlende Investitionen, welche dringend benötigt würden, um den bereits lange vor der Pandemie herrschenden Personal- und Fachkräftemangel zu beheben oder eine flächendeckende und gute Versorgung mit medizinischen und bildungstechnischen Einrichtungen sicherzustellen. Auch wenn Karl Lauterbach u. a. wegen der erst überstandenen Rekordwelle Ende 2022 zu einer dringenden Klinikreform aufgerufen und diese auf die Tagesordnung gesetzt hat, wird auch dies wohl keine Wende bringen. Eine gute Gesundheitsversorgung und ein ausreichender Schutz vor neuartigen Infektionskrankheiten kann nur unter Kontrolle der Patient:innen, der Beschäftigten im Gesundheitswesen und allgemein aller Lohnabhängigen sichergestellt werden.

Um Millionen Tote und Geschädigte (Long-Covid) zu vermeiden, hätten sich diese zu Beginn der Pandemie dafür einsetzen müssen, die Weltbevölkerung mit wirksamen Vakzinen zu schützen. Dazu mussten deren Patente und Herstellungsverfahren entschädigungslos enteignet werden. Eine weitere wichtige Maßnahme wäre eine bezahlte Quarantäne für alle Beschäftigten von genügend langer Dauer außer in lebensnotwendigen Bereichen wie z. B. dem Gesundheitswesen gewesen (Zero-Covid-Strategie). Auch die Finanzierung und Umsetzung dieser Maßnahmen erfordert jedoch eine Politik, die sich gegen die herrschenden Kapitalinteressen richtet.




China: Ende der Null-Covid-Politik

Peter Main, Infomail 1210, 14. Januar 2023

Die rasche Lockerung von Chinas Null-Covid-Sperren ist eine direkte Folge der Massenproteste, die das Land erschüttert haben. Die Proteste selbst korrigieren auch das weit verbreitete Bild, dass die Bevölkerung nur die ewig gehorsame, gedankenlose Sklavin der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) ist.

Die erste Reaktion des Einparteienstaates bestand jedoch im Versuch, die Demonstrationen zu unterdrücken. Das Aufgebot an gut ausgebildeter und ausgerüsteter Bereitschaftspolizei macht deutlich, dass sich das Regime seit langem auf solche Konfrontationen vorbereitet hat. Es weiß, dass seine weitere Herrschaft von der Repression abhängt.

Die Auswirkungen der Proteste bedeuten jedoch nicht, dass sie den einzigen Faktor für das Einlenken von Ministerpräsident Xi Jinping ausmachten. Die Entscheidungen einiger Provinzbehörden und lokaler Regierungen, die Lock-down-Regeln „neu zu interpretieren“, bevor es eine neue Entscheidung aus dem Machtzentrum Peking gab, weisen auf Spaltungen innerhalb der KPCh selbst hin.

Das ist nicht überraschend. Die unteren Ränge der Partei stehen in ständigem Kontakt mit der Öffentlichkeit, und zu ihnen gehören auch Zehntausende von „Geschäftsleuten“, d. h. Kapitalist:innen, die den Zusammenbruch ihrer Unternehmen erlebt haben. Parteimitglieder sind auch Schlüsselfiguren in den Kommunalverwaltungen auf allen Ebenen.

Ein Beamter der Stadt Dongguan sagte laut Financial Times, dass die lokalen Regierungen Schwierigkeiten hätten, die Subventionen aufrechtzuerhalten, um die Fabriken offen zu lassen, da sie auch für die Covid-Tests aufkommen müssten. Bei Millionen von Menschen, die sich täglich testen lassen müssen, nur um zur Arbeit zu gehen, wird es immer schwieriger, die Bilanzen auszugleichen.

Am anderen Ende der sozialen Skala, laut Forbes-Liste der 100 reichsten Menschen Chinas, ist das Vermögen der reichsten Tycoons des Landes im letzten Jahr um 39 Prozent gesunken. Das liegt nicht nur an den Covid-Maßnahmen, sondern auch an der Rezession in der übrigen Welt, von der China betroffen ist. Die Exporte, für die ein Wachstum von 4,5 % für das dritte Quartal bis September erwartet wurde, schrumpften tatsächlich um 0,3 %.

Nicht nur bei den Covid-Beschränkungen macht Xi einen Rückzieher. Auch die finanziellen Anforderungen, die sich auf die so wichtige Bau- und Immobilienbranche auswirken, wurden erheblich gelockert. Die Beschränkungen des Verhältnisses von Schulden zu Kapital, die so genannten „drei roten Linien“, bedrohten die Zahlungsfähigkeit vieler großer Unternehmen, von denen Evergrande nur das bekannteste ist.

Die chinesische Zentralbank hat eine ursprünglich für Ende des Jahres angesetzte Frist verlängert, innerhalb derer die Kreditinstitute ihren Anteil an Krediten im Immobiliensektor begrenzen müssen. Dies bedeutet, dass Banken und andere Kreditgeber:innen mehr Zeit haben, um den Anteil der immobilienbezogenen an ihren Gesamtschulden anzupassen. Die Zeit soll genutzt werden, um Projekte abzuschließen und so die ausstehenden Schulden zu verringern.

Insgesamt sehen die Aussichten für das kommende Jahr in China düster aus. Die zentrale Rolle der Exporte in der Wirtschaft, bisher eine der größten Stärken des Landes, wird zu einer Gefahr, wenn die Nachfrage im Rest der Welt zurückgeht, teils wegen der steigenden Zinsen, teils wegen der Lager, die immer noch mit unverkauften Waren gefüllt sind. Sportausrüsterkonzern Nike zum Beispiel meldete im September, dass seine nordamerikanischen Lagerbestände am Ende des dritten Quartals um 65 % höher waren als im Vorjahr.

Mit der Verlangsamung der Wirtschaft werden Arbeitsplätze, -bedingungen und Löhne unweigerlich unter Druck geraten, und es wird für Aktivist:innen immer wichtiger werden, die Lehren aus den Anti-Lockdown-Protesten zu ziehen. Die Geschwindigkeit, mit der Taktiken in einer Stadt oder Region in weit entfernten Orten aufgegriffen wurden, zeigt, dass Pekings Überwachungsprogramme, so mächtig sie auch sein mögen, die Kommunikation nicht gänzlich unterbinden.

In der Tat wird berichtet, dass die Zensur von „We Chat“ und anderen „sozialen Medien“ in den letzten zwei Wochen deutlich nachgelassen hat, wobei Beiträge, die früher innerhalb von Stunden entfernt worden wären, nun tagelang im Umlauf sind. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, müssen die Aktivist:innen an allen Fronten ihre völlige Unabhängigkeit von den sich entwickelnden Fraktionen in der KP bewahren, so wie sie auch unabhängig von den Kapitalist:innen sein müssen, die beginnen, sich mit der Partei zu zerstreiten.