1917 – Auf dem Weg zum Roten Oktober

Vorwort, Die Redaktion, Berlin / Wien, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

Die Theorie und Strategie der revolutionären Arbeiterbewegung ist nicht vom Himmel gefallen, sondern hat sich aus den gesellschaftlichen Kämpfen selbst entwickelt. Eine der wichtigsten Bereicherungen dieser Ereignisse stellen die Erfahrungen des russischen Proletariats dar.

Unter dem Titel “Russland auf dem Weg zum Roten Oktober” veröffentlichen wir eine Artikelserie unserer britischen Schwestersektion Workers Power. Sie gibt einen analytischen Überblick über die Chronologie der Revolution und zeigt, wie das Proletariat unter bolschewistischer Führung die Macht ergreifen und behaupten konnte.

Leider was es uns in der Kürze der Zeit nicht möglich, die Zitate des Artikels in den deutschen Quellen nachzusuchen. Auch sie sind aus dem Englischen übersetzt. Wir wollen uns hier für dieses Versäumnis entschuldigen, denken jedoch, dass eine rechtzeitige Veröffentlichung dieses Textes für die aktuellen Debatten um den 90. Jahrestags der Oktoberrevolution dies rechtfertigt.

Ohne revolutionäre Partei, ohne Bolschewismus wäre der Sieg der Revolution unmöglich gewesen. Der Beitrag von Dave Stockton gibt einen Überblick über deren Entstehung und zeigt zugleich, dass der Leninismus alles andere als eine sektenhafte Gruppierung war, sondern vielmehr eine lebendige und zugleich schlagkräftige Partei schaffen konnte.

Wir veröffentlichen diese Ausgabe unter besonderen gesellschaftlichen Bedingungen. Mit der Ideologie „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ werden alle politischen Gegner kriminalisiert. Kein Wunder, dass alle Strömungen des bürgerlichen Lagers auch eine ideologische Offenise führen, wenn es um die Bewertung der russischen Revolution geht. „Putsch, Regime und Terror“ – dieses ideologische Gerüst bildet die Grundlage diverser Gegner. Deshalb veröffentlichen wir in dieser Ausgabe des RM auch einen älteren Artikel von Michael Pröbsting, der die Errungenschaften der Oktoberrevolution verteidigt und seine Aktualität bis heute bewahrt hat.

Auf der anderen Seite gibt es vermehrt Diskussionen unter den fortschrittlichsten Teilen der Arbeiterklasse und der Jugend, wie eine Alternative zum Kapitalismus aussehen und erkämpft werden könnte. Diese Entwicklungen machen es notwendig, sich nicht nur auf eine Analyse vergangener Ereignisse zu konzentrieren, sondern die Lehren für die Aufgaben des Klassenkampfes heute zu ziehen. Roman Birke fasst deshalb diese Lehren zusammen und erklärt was wir aus den Erfahrungen der russischen Revolution für die heutigen Kämpfe lernen können.

Die Analyse der russischen Revolution hat deshalb keinen eigenständigen theoretischen Charakter, sondern dient dazu, den Kampf für den Oktober des 21. Jahrhunderts zu führen.




Russland auf dem Weg zum Roten Oktober

Workers Power, Die Taktiken der Bolschewiki in der Revolution, Einleitung, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

Vor neunzig Jahren stürzten russische ArbeiterInnen zuerst den verhassten Zaren und dann die bürgerliche Regierung, die ihn ersetzt hatte. Damit veränderten sie die Geschichte der Menschheit grundlegend. Erstmals wurde die Staatsmacht direkt von den arbeitenden Massen ausgeübt.

Die russischen ArbeiterInnen zeigten der Welt die revolutionäre Macht der organisierten Arbeiterklasse. Nicht nur, dass sie die Industrie zum Stillstand bringen und die Regierung lähmen konnte. Ihr Widerstand führte zugleich auch zur Festigung der Bande der Solidarität und der kollektiven Organisation in ihren Reihen.

Das Subjekt des Sozialismus war und ist die Arbeiterklasse. Es waren die in eigenen Strukturen organisierten ArbeiterInnen, welche die Macht des Kapitals zerschlugen und eine Alternative dazu aufbauten. Die Revolution von 1917 legte die Nutzlosigkeit bürgerlicher Parlamente oder paternalistischer Lokalverwaltungen für diese Aufgabe offen. Sie legte zugleich den Verrat jener Führer innerhalb der Arbeiterbewegung offen, die sich weigerten, diese Lehre zu beachten.

Die russischen ArbeiterInnen erhoben sich unter Bedingungen extremen Elends, größter Ausbeutung und Unterdrückung. Die reformistische „sozialistische“ Intelligenz verachtete den dunklen Aufruhr dieser „dumpfen Masse“. Doch aus diesen Kämpfen wurde eine neue Welt geboren. Es gab eine neue, viel höhere Form von Demokratie, die Räteherrschaft, die nicht mehr einer Minderheit von Ausbeutern diente, sondern den Massen ermöglichte, direkt den Reichtum der Gesellschaft für ihre eigenen Interessen zu nutzen und die Schalthebel der Macht selbst in die Hand zu nehmen.

Eine revolutionäre Klasse

Mittels der Sowjets (Räte) wählten und kontrollierten die ArbeiterInnen direkt ihre Delegierten am Arbeitsplatz und stellten so sicher, dass jede Veränderung ihrer Stimmung registriert wurde. In diesen Sowjets – zusammen mit der bewaffneten Miliz, den Roten Garden – begann die Keimform eines völlig neuartigen Staates zu wachsen. Es sollte ein Staat sein, der auf den Organen der Ausgebeuteten und Unterdrückten gründete und ihnen direkt verantwortlich war. Die Funktion dieses Staates war die Ausmerzung jeglicher Ausbeutung und Unterdrückung.

Als sich die Krise im Herbst 1917 vertiefte, flüchteten die Privilegierten, und die Intellektuellen verbargen sich. Die Arbeiterklasse jedoch versammelte unter ihrer revolutionären Fahne die Millionen, die unter dem Joch der Unterdrückung im Russischen Reich litten. Den Frauen des Proletariats zeigte sie die Hoffnung auf Emanzipation. Den nationalen Minderheiten bot sie die Chance, den großrussischen Chauvinismus, der ihre Nationalkultur erstickte und erwürgte, zu zerstören.

Der großen Mehrheit der Bevölkerung, den armen Bauern, garantierte sie die Verteidigung ihres jüngst erst errungenen Landes gegen die Großgrundbesitzer. Den Soldaten – den Bauern in Uniform – sicherte sie zu, dass der blutige Weltkrieg und die erniedrigende Tyrannei der Offiziere beendet wurden. Nur unter der Führung des Proletariats konnten die am meisten Entwürdigten und Unterdrückten eine Aussicht auf Befreiung haben.

1917 offenbarte alle Eigenschaften, die das Proletariat zur einzig konsequent revolutionären und befreienden Klasse dieser Epoche machen. Aber es zeigt auch, dass für sich allein die spontane Stärke der Klasse nicht für den Sieg ausreicht. Was den Sieg des Oktober 1917 garantierte, war, dass die russischen ArbeiterInnen in den Bolschewiki eine organisierte Avantgardepartei besaßen, die tief in jeder Sektion der Massen verwurzelt war, die deren Kämpfe politisch und organisatorisch zentralisieren und führen konnte. Diese Lehre von 1917 darf nicht dabei vergessen werden, wenn wir uns mit der russischen sozialistischen Revolution beschäftigen.

Die verratene Revolution

Jene, die die Revolution machten, handelten in der Überzeugung, dass sie nur der erste Akt des Sturzes des Kapitalismus auf der ganzen Welt ist. Russland erlebte den ersten Schlag der Weltrevolution der ein Sechstel der Erde den Händen der Kapitalisten entriss.

Sie erwarteten, dass andere ihnen folgen würden – und zwar bald. Und die ArbeiterInnen Europas reagierten auf das Signal der russischen Revolution. In ganz Zentraleuropa fanden Aufstände statt. Aber sie wurden gebremst und zerschlagen – von den „Sozialisten“ der II. Internationale auf Geheiß der Kapitalisten und der imperialistischen Generalstäbe. Die Internationalisierung der Revolution wurde so blockiert.

Doch die Existenz der späteren UdSSR und des späteren Ostblocks – selbst unter der Degeneration durch den Stalinismus – war eine Herausforderung für den Weltkapitalismus. Sie war ein Hindernis bei seiner Suche nach Märkten und Rohstoffen. Sie barg zudem immer die Gefahr einer politischen Revolution gegen die herrschende Bürokratie und damit die neuerliche Anfachung des revolutionären Prozesses in der Welt.

Heute wissen wir, dass die Revolution jedoch – isoliert im rückständigen Russland – degenerierte. Eine Bürokratenkaste, geführt von Stalin, eroberte die politische Macht und erstickte jede Spur wirklich proletarischer Demokratie in der Sowjetunion.

Unter der Losung des „Sozialismus in einem Land“ kehrten sie der internationalen Revolution den Rücken und boykottierten sie aktiv mittels der stalinisierten Komintern. In der UdSSR und deren „Bruderländern“ standen die Bürokraten-Kasten dem Übergang zum Sozialismus als reales Hindernis im Weg. Michail Gorbatschow war der letzte Steuermann dieser Kaste bürokratischer Usurpatoren.

Heute befinden wir uns in einer vorrevolutionären Periode, einer Periode, die von heftigen Krisen, von Kriegen, Konflikten und Angriffen auf die Massen, aber auch von deren Widerstand gekennzeichnet ist. Vorrevolutionäre und offen revolutionäre Situationen, in denen die Machtfrage steht, häufen sich.

Daher ist die genaue Beschäftigung mit der russischen Revolution und der Politik der Bolschewiki um Lenin und Trotzki von eminenter Bedeutung, um politisch für die kommenden Klassenschlachten gewappnet zu sein.

Diese Broschüre zieht entscheidende Lehren aus den Ereignissen der Revolution von 1917. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, einige Schlüsselereignisse und Entwicklungen der Periode zwischen Februar und Oktober 1917 zu untersuchen, um die Art und Weise zu illustrieren, in der die Bolschewiki ihre Politik prüften und korrigierten und den Sieg erringen konnten. In diesem Sinn ist diese Broschüre nicht einfach eine Geschichte der russischen Revolution, sondern eine Analyse.

Dieses Herangehen ist entscheidend, da so viele, die den neunzigsten Jahrestag der Revolution feiern, schuld daran sind, dass die Lehren des Oktobers systematisch vergessen, ignoriert oder entstellt werden. Für jene, die diese Lehren als Anleitung für die Strategie von Revolutionären heutzutage benutzen wollen, wird diese Broschüre wichtig sein.




Russland auf dem Weg zum Roten Oktober – Als Frauen Russland in Flammen setzten

Workers Power, Die Taktiken der Bolschewiki in der Revolution, Kapitel 1, Revolutionärer Marxismus, Oktober 2007

Vor neunzig Jahren verließen Arbeiterinnen ihre Fabriken im Petrograder Stadtteil Wyborg mit einer Forderung: Brot! Fünf Tage danach hatten die ArbeiterInnen und Soldaten einen Aufstand angeführt, der den Zaren zur Abdankung zwang. Die Feiern rund um den Internationalen Frauentag durch die Petrograder Arbeiterinnen hatte die Februarrevolution eröffnet.

Der Internationale Frauentag wurde zuerst von den Führerinnen der sozialistischen Frauenbewegung der II. Internationale als Feiertag der proletarischen Frauen angenommen. Clara Zetkin schlug 1910 dem Internationalen Frauentreffen vor, dass ein Tag – ähnlich wie der I. Mai – für die Proletarierinnen zum Arbeiterfesttag erklärt werden sollte. Das Datum, auf das man sich schließlich einigte, war der 8. März – in Erinnerung an die Arbeiterinnen in New York, die gegen die entsetzlichen Bedingungen in der Nadelfabrikation demonstriert hatten.

Der Feiertag wurde in Russland ab 1913 durchgeführt. Aufgrund des alten gregorianischen Kalenders im vorrevolutionären Russland war das entsprechende Datum dann der 23. Februar. 1913 waren die geplanten Demonstrationen von der Polizei zerschlagen worden. Lediglich Flugblätter und Zeitungen konnten dazu erscheinen. Die Bolschwewiki veröffentlichten auf Betreiben von Konkordija Samoilowa und Inessa Armand einige Artikel in ihrer Zeitung, der „Prawda“, in den Wochen vor dem 23. Februar, mit einer Sondernummer zur Feier des Tages selbst als Höhepunkt. Die Artikel stellten die Realität des Lebens der Arbeiterinnen in Russland dar und traten für die Notwendigkeit ein, dass auch Frauen in den Kampforganisationen ihrer Klasse organisiert sein sollten.

Die Reaktion der Arbeiterinnen auf diese „Prawda“-Artikel war so umwerfend, dass in der Zeitung nicht genug Platz war, um alle Leserbriefe dazu abzudrucken. Das veranlasste Samoilowa, Lenin und Krupskaja, die im Exil weilten, zu drängen, eine besondere Zeitung, die sich an die Arbeiterinnen wendete, herauszugeben. Inessa Armand, die selbst verhaftet worden und ins Exil geflohen war, half mit, sie für diese Idee zu gewinnen. Krupskaja brachte sie dem exilierten Zentralkomitee der Bolschewiki vor, das der Herausgabe der „Robotniza“ (Arbeiterin) zum Internationalen Frauentag 1914 zustimmte.

Diese Entwicklung in der bolschewistischen Partei war die Antwort auf eine neue Welle militanter Klassenkämpfe in Russland zwischen 1912 und 1914.

Frauen wurden zu einer immer stärkeren Kraft in der russischen Arbeiterklasse. Nach der Revolution von 1905 stellten die Unternehmer in vielen Industriezweigen bevorzugt Frauen ein. Das Fabrikinspektorat der Unternehmer bemerkte dazu 1907:

„Die Gründe dafür sind wie folgt: Ihr größerer Fleiß, ihre Aufmerksamkeit und Abstinenz (sie trinken und rauchen nicht), ihre Willfährigkeit und eine größere Vernünftigkeit hinsichtlich der Bezahlung.“

1914 stellten Frauen 25,7% der Industriearbeiterschaft in Russland. Sie wurden zunehmend militanter, was die Aufmerksamkeit aller politischen Gruppen auf sie lenkte. Bürgerliche Feministinnen, Bolschewiki wie Menschewiki unternahmen besondere Anstrengungen, um die Arbeiterinnen in dieser Periode zu organisieren.

Die „Rabotniza“ wurde in weiten Kreisen gelesen und Gruppen von Frauen organisierten sich um sie, viele traten danach der Partei bei. Der Kriegsausbruch im August 1914 stoppte die Herausgabe von „Rabotniza“, aber die damit geschaffenen Grundlagen gestalteten die Arbeit der Bolschewiki unter den Arbeiterinnen viel leichter.

Die Mobilisierung von Soldaten und die Produktion für den Krieg führten zu gewaltigen Verschlechterungen in Russland. Schon im April 1915 gab es daher Unruhen von Frauen, die Brot forderten. Diese Unruhen hielten sporadisch bis 1917 an. Die besondere Rolle der Arbeiterinnen in der Februarrevolution ergab sich aus der besonderen Härte der Kriegsauswirkungen für sie. Zwischen 1914 und 1917 stieg die Zahl der in den Fabriken beschäftigten Frauen aufgrund des Einrückens der Männer an die Front weiter an. Insgesamt stieg der Prozentsatz an arbeitenden Frauen von 26,6 auf 43,2%. Diese Arbeiterinnen waren als Ganzes neu – in den Städten und in der Arbeiterklasse.

In Petrograd selbst verdoppelte sich die Zahl der Arbeiterinnen in Fabriken von 68.000 auf 129.000. Es gab bis zu 10.000 Frauen in einem Werk – mit oft weniger als drei Jahren Arbeitserfahrung. Viele ihrer Ehemänner, Söhne und Brüder waren an der Front. Winzige Essensrationen waren oft nur nach stundenlangem Anstehen erhältlich. Manchmal gab es trotzdem nichts. Frauen verdienten die Hälfte der Löhne der Männer und waren v.a. in der Textil- und chemischen Industrie konzentriert, wo der Arbeitstag lang und die Bedingungen erbärmlich waren. Sie litten oft unter körperlicher und sexueller Belästigung seitens der Unternehmer und deren Vorarbeiter-Lakaien.

Die Intensität der Unterdrückung dieser Frauen führte zu Ausbrüchen der Rebellion. Allgemein hatten die Streiks, an denen vorwiegend Arbeiterinnen teilnahmen, wirtschaftliche Ziele, während Ende 1916 die Mehrzahl der Streiks in der männlich dominierten Maschinenbau- und metallurgischen Industrie politische Ziele verfolgte. Dies widerspiegelte die längere Organisationstradition der männlichen Arbeiter, manchmal mit bolschewistischen oder menschewistischen Organisatoren.

Ab Februar 1917 verstärkte sich der Klassenkampf. Aber obwohl es im Januar und Februar in Petrograd viele Streiks gab, ergriff keiner davon die ganze Stadt auf jene Weise, wie es den Frauen gelingen sollte. Zur Vorbereitung der Feier des Frauentages planten Bolschewiki, Menschewiki und die von Trotzki geführte Meschrajonzi-Gruppe Propaganda-Veranstaltungen.

Im Wyborg-Bezirk riefen am 20.Februar einige ArbeiterInnen zum Streik auf, aber alle sozialistischen Organisationen argumentierten, dass die Klasse aufgrund der unzureichenden Vorbereitung oder mangels Kontakt mit den Soldaten nicht zu einem Massenstreik bereit sei. Kajurow, ein örtlicher bolschewistischer Führer traf Vertreterinnen der Arbeiterinnen am Vorabend des Frauentages und forderte sie auf, „ausschließlich gemäß der Anweisung des Parteikomitees zu handeln.“

Es war beabsichtigt, die Fabrikversammlungen nur für Propaganda zu nutzen. Alle sozialistischen Gruppen hatten die Stimmung der Arbeiterinnen in den Fabriken unterschätzt. Der Mangel an Einfluss dieser politischen Führer auf  die Frauen bedeutete jedoch nicht, dass die Aktion gänzlich unvorbereitet gewesen wäre, wie auch manche Bolschewiki dachten. „Die hauptsächlich weibliche Belegschaft des Busparks der Wassiljewski-Insel, die von einer allgemeinen Unruhe einige Tage vor dem 23.Februar erfasst worden war, schickte eine Frau zu den benachbarten Quartieren des 180. Infanterieregiments, um die Soldaten zu fragen, ob sie auf sie schießen würden oder nicht. Die Antwort war: Nein! Am 23. nahmen die Busarbeiterinnen an der Demonstration teil.”

Am Morgen des 23.Februar wurden einige illegale Treffen in den Textilfabriken im Wyborger Bezirk zum Thema „Krieg, hohe Preise und die Situation der Arbeiterin“ abgehalten. Auf diesen Versammlungen kochte der Zorn über. Eine nach der anderen stimmte für den Streik, aber sie beließen es nicht dabei. Sie gingen zu Tausenden auf die Straße, marschierten zu nahe gelegenen Fabriken und riefen Männer und Frauen auf, mit ihnen mitzukommen. Diese „fliegende“ Streikpostenkette war äußerst effektiv – ab 10 Uhr waren 27.000 ArbeiterInnen im Streik. Ab Mittag waren es schon 21 Fabriken mit 50.000 Streikenden! Viele Berichte beschreiben, dass es die Frauen waren, die zu den Fabriken gegangen waren, an die Tore geschlagen und Schneebälle auf die Fenster geworfen hätten, um die Arbeiter herauszubekommen. Es scheint, dass dort, wo die Fabriken nicht sofort die Aufforderung nach Teilnahme an der Aktion beantworteten, direktere Methoden gebraucht wurden: Steine und Metallteile wurden bei einigen Betrieben zur „Überredung“ benutzt. Am Ende des Tages standen in Wyborg 59.000 Männer und Frauen – 61% aller Fabrikarbeiter – im Streik.

Bolschewiki der Basis spielten dabei eine führende Rolle. Viele ihrer Führer aber zeigten sich wesentlich zögernder.

Entrüstung

Kajurow, ein bolschewistischer Führer aus Wyborg, schrieb später: „zu meiner Überraschung und Entrüstung (…) erfuhren wir (…) vom Streik in einigen Textilfabriken und von der Ankunft einer Anzahl von Delegierten der Arbeiterinnen, die ankündigten, dass sie in den Streik einträten. Ich war über das Verhalten der Streikenden äußerst entrüstet, sowohl weil sie offensichtlich den Beschluss des Distriktkomitees der Partei ignoriert hatten und ebenso, weil sie in Streik getreten waren, nachdem ich nur eine Nacht zuvor an sie appelliert hatte, ruhig und diszipliniert zu bleiben.“ Trotz dieser Entrüstung waren die Bolschewiki imstande, diese Gefühle zu überwinden und die Gelegenheit, die sich ihnen bot, zu nutzen. Als sie dem Streik zustimmten, gaben sie ihm eine politische Führung, indem sie die Forderungen „Nieder mit der Autokratie! Nieder mit dem Krieg! Gebt uns Brot!“ aufstellten.

In anderen Stadtbezirken waren die Streiks an diesem Tag zwar weniger intensiv, dafür aber nicht weniger kämpferisch. In der ganzen Stadt streikten 20-30% der ArbeiterInnen – in über 80 Fabriken. Die DemonstrantInnen des Wyborger Bezirks waren entschlossen, das Regierungszentrum von Petrograd zu erreichen, aber die Polizei blockierte ihre Route an einer der Brücken.

Schließlich begannen die DemonstrantInnen, die zugefrorene Newa zu überqueren. Der Polizei gelang es jedoch noch, wenn auch mit Mühe, sie aufzuhalten. Ein Polizeibericht dieses Tages erklärte:

„Um 4.30 Uhr nachmittags erreichten annähernd 1.000 Leute, vorwiegend Frauen und Jugendliche, die Kasan-Brücke am Newski-Prospekt aus der Richtung der Michailowska-Straße, wobei sie ‚Gebt uns Brot!‘ riefen und sangen.“

Die Demonstrationen beschränkten sich nicht nur auf jene, die streikten. Frauen, die um Brot anstanden, nahmen rasch an der Aktion teil. Ein Verwalter berichtete folgendes, nachdem er aus seinem Bäckerladen trat, um anzukündigen, dass es kein Brot mehr gäbe:

„Kaum hatte ich das angekündigt, schlug die Menge die Fenster ein, brach in den Laden ein zertrümmerte alles, was ihr unter die Augen kam.“

Solche Verzweiflungsakte waren weit verbreitet. Die Bolschewiki traten gegen diesen „Vandalismus“ auf und versuchten, die Proteste zu führen, indem sie Versammlungen organisierten und zu einem dreitägigen Generalstreik mit verstärkter Propaganda gegenüber den Soldaten aufriefen.

In den folgenden Tagen nahm die Zahl der Streikenden stetig zu. Die Regierung schickte Truppen und Polizei, um die Demonstranten mit allen Mitteln zu zerstreuen, aber die revolutionäre Welle ebbte nicht ab – auch, weil sie die Soldaten für sich gewann. Zuletzt schlossen sich ganze Regimenter den Aufständischen an. Am 27. Februar waren die meisten Soldaten zu den Aufständischen übergegangen. Die ArbeiterInnen bewaffneten sich und formierten eigene Milizen. Es waren die Arbeiterinnen, die eine entscheidende Rolle dabei spielten, die Truppen vom Regime loszubrechen. Trotzki berichtet: „Eine große Rolle wird von den Arbeiterinnen in der Beziehung zwischen Arbeitern und Soldaten gespielt. Sie gehen an die Truppenkordone tapferer als die Männer heran, packen die Flinten, beschwören, ja befehlen fast: ‚Senkt eure Bajonette – kommt mit uns!‘ Die Soldaten sind verwirrt, beschämt, wechseln unruhige Blicke, schwanken; irgendeiner entschließt sich zuerst und die Bajonette erheben sich schuldbewusst über den Schultern der vorwärts drängenden Menge. Die Barriere ist geöffnet, ein fröhliches ‚Hurra´ erschüttert die Luft. Die Soldaten sind umringt. Überall Debatten, Antworten, Appelle – die Revolution macht einen neuen Schritt vorwärts.“

Abdankung

Die Entwicklung dieser Revolution und die Abdankung des Zaren eröffnete eine neue Periode für die russische Arbeiterklasse. Die Provisorische Regierung, die aus der Februarrevolution entstand, wurde von bürgerlichen Politikern besetzt und balancierte in der instabilen Position, in der sie sich befand, neben den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten. Auch in den Fabriken fassten die ArbeiterInnen Mut: die Fabrikkomitees entstanden, die Kontrolle über Lohn und Arbeitsbedingungen wurde gefordert. Die Arbeitermiliz geriet mit der weit schwächeren Bürgermiliz der Regierung in Konflikt.

Die Arbeiterinnen spielten weiterhin eine bedeutende Rolle. Sie waren am entschlossensten bei der Erreichung des Achtstunden-Tages, sie strebten nach angemessener Entlohnung und unterstützten die Forderung nach gleichen politischen Rechten, einschließlich des Wahlrechts. Tatsächlich fand der erste größere Streik gegen die Provisorische Regierung bei 3.000 Wäscherei-Arbeiterinnen statt, die für den Acht-Stundentag, einen Existenzlohn und die Vergemeindung der Wäschereien streikten. Der Streik dauerte sechs Wochen. Von den Bolschewiki wurde Alexandra Kollontai geschickt, um mit den Frauen zu arbeiten.

Die Bolschewiki hatten rasch auf die Kampfbereitschaft der Frauen 1917 reagiert und ein Frauenbüro, geführt von Vera Slutskaja, eingerichtet. Es machte sich an die neuerliche Herausgabe von „Robotniza“ und organisierte die Unterstützung in den Fabriken, unter den Frauen der Soldaten und führte große Demonstrationen gegen den Krieg durch.

Die Rolle der Arbeiterinnen in der russischen Revolution war großartig und lehrte die revolutionäre Führung viel. Aber ihre Spontaneität bewirkte auch, dass sie 1917 nicht immer in der revolutionären Avantgarde vertreten waren. Sie streikten, demonstrierten und organisierten Unruhen aufgrund der Stärke ihrer Unterdrückung – nichtsdestotrotz wurde ihre Unerfahrenheit in gewerkschaftlichen Aktivitäten offensichtlich. Darin zeigt sich aber auch, dass die besonders unterdrückte Stellung der Frau in der Gesellschaft und in der Familie es ihr erschwert, sich auf gleiche Weise in den Organisationen der Arbeiterbewegung einzubringen. Insofern waren die Monate der Revolution auch ein Beispiel dafür, wie Frauen in diese Rolle hineinwachsen und zunehmend selbstbewusster auftreten können.

Dieser Mangel an traditioneller Organisationserfahrung hat widersprüchliche Ergebnisse. Einerseits können Frauen, wie die Februar-Revolution zeigt, die militantesten Kämpferinnen sein, da sie nicht so vom Konservativismus gebremst werden, wie es so oft in Gewerkschaftsorganisationen der Fall ist.

Aber andererseits lässt sie das auch mitunter empfänglicher für arbeiterfeindliche Propaganda werden. So wurden in den Wochen nach der Februarrevolution sogar Tausende von Arbeiterinnen von bürgerlichen Feministinnen mobilisiert, um für das Frauenwahlrecht und die Fortsetzung des Krieges zu demonstrieren! Die Bolschewiki waren aber in der Lage, ab Mitte 1917 eine Massenbasis unter den Frauen zu gewinnen, die sie dazu brachte, gegen den Krieg zu demonstrieren. Aber dazu bedurfte es besonderer organisatorischer und propagandistischer Anstrengungen.

Die Revolution insgesamt hätte niemals ohne die Mobilisierung der Frauen Erfolg gehabt, wie Lenin Jahre später hervorhob. RevolutionärInnen dürfen niemals die zentrale Aufgabe, sich auf die Arbeiterinnen zu beziehen, unterschätzen. Dazu sind besondere Propaganda- und Organisationsformen nötig, um sie für die Sache der revolutionären Partei zu gewinnen, jedoch – einmal gewonnen – werden sie die tapfersten und militantesten Kämpferinnen sein, da sie so vieles zu gewinnen haben!




Russland auf dem Weg zum Roten Oktober – Die Wiederbewaffnung der Partei

Workers Power, Die Taktiken der Bolschewiki in der Revolution, Kapitel 2, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

Vor neunzig Jahren führte die Explosion des proletarischen Zornes, die das Regime des Zaren Nikolaus hinwegfegte, auf der Ebene der Staatsmacht zu einer zutiefst widersprüchlichen Situation. Obwohl sie am Aufstand nicht teilgenommen hatten, ganz zu schweigen davon, ihn anzuführen, konstituierten Konservative und Liberale eine provisorische Regierung. Sie waren dabei von der Angst geleitet, dass sich die Massenmobilisierungen, dass die Arbeiter- und Soldatenräte (Sowjets), die sich seit Februar 1917 vervielfacht hatten, weiterentwickeln würden.

Andererseits strebten aber auch jene, die das Exekutivorgan des Sowjets von Petrograd bildeten, verzweifelt nach einer Rückkehr zur „Ordnung.“ Die menschewistische (d.h. reformistische) Führung des Exekutivrates, Tscheichidse und Skobelew, waren zusammen mit Kerenski, der Spitze der Provisorischen Regierung, davon überzeugt, dass die russische Revolution, als zunächst bürgerliche Revolution, ihren logischen Ausdruck in einer bürgerlichen Regierung finden würde. Der Exekutivrat forderte tatsächlich die bürgerlichen Parteien zur Machtübernahme auf und gewährte der Provisorischen Regierung Unterstützung.

Obwohl die Masse der Delegierten der Sowjets der Unterstützung der Provisorischen Regierung zustimmte, beschloss sie zugleich, unabhängig von der Exekutive ein „Beobachtungskomitee“ zur Überwachung der Provisorischen Regierung seitens des Sowjets einzurichten. Dies drückte zugleich ein tiefes proletarisches Misstrauen gegenüber der Provisorischen Regierung und den Glauben aus, dass es die Aufgabe des Sowjets wäre, Druck auszuüben und darauf zu achten, dass es garantiert sei, dass die Regierung ihre Versprechen auch hält. Auf einer Massenkundgebung erklärten die TelegraphenarbeiterInnen von Petrograd am 8. März:

„Wir erachten es im gegenwärtigen Moment für die wesentlichste Angelegenheit, eine strikte Kontrolle über die von der Staatsduma ernannten Minister, die im Volk kein Vertrauen genießen, einzurichten. Diese Kontrolle muss aus Vertretern des Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten bestehen.“

Resolutionen der ArbeiterInnen wurden automatisch an den Sowjet und nicht an die Provisorische Regierung gesandt. In Russland bestand eine Situation der Doppelmacht. Die Macht war zwischen den Vertretern zweier unversöhnlicher Kräfte geteilt.

Souveränität

Die ArbeiterInnen sahen den Sowjet als ihre Kampforgane an. Die Bourgeoisie hingegen erblickte in der Provisorischen Regierung ihre Bastion gegen diese Kämpfe. Das „Arrangement“, dass der Sowjet die Provisorische Regierung unterstützte, aber auch überwachte, zeigt nur allzu deutlich, dass die Souveränität im Staat in Wirklichkeit gespalten war. Die Bereitwilligkeit der Mehrheit der Sowjetdelegierten jedoch, ein solches Arrangement bewusst zu unterstützen, reflektiert die tiefen Illusionen seitens der Mehrheit der ArbeiterInnen in die Machbarkeit einer „Partnerschaft“ mit der Bourgeoisie.

Die Führer des Sowjets sahen die Doppelmacht nicht als eine zeitweilige, instabile Situation im Kampf, deren Ausgang zugunsten der einen oder der anderen der konkurrierenden Klassen entschieden werden würde. Sie sahen sie als eine dauerhafte Übereinkunft zwischen Verhandlungspartnern. Trotzki stellte es später so dar: „In der Revolution 1917 sehen wir, daß die offizielle Demokratie bewußt und absichtlich ein Doppelmachtsystem schafft, wobei sie es mit aller Macht vermeidet, daß die Macht in ihre eigenen Hände übergeht.“

In Wirklichkeit konnte die Doppelmacht nur ein Vorspiel dazu sein, dass entweder die Bourgeoisie oder das Proletariat den toten Punkt überwinden würde. Trotzki erklärte dazu: „Entweder wird die Bourgeoisie tatsächlich den alten Staatsapparat beherrschen, wobei sie ihn ein wenig zu ihren Zwecken verändert – in diesem Fall werden die Sowjets zunichte gemacht werden -, oder die Sowjets werden die Grundlage eines neuen Staates bilden, wobei sie nicht nur den alten Regierungsapparat liquidieren werden, sondern auch die Herrschaft jener Klassen, denen er gedient hat.“

Die Ereignisse der russischen Revolution trafen die Bolschewiki sowohl organisatorisch wie programmatisch unvorbereitet. Vor Lenins Rückkehr nach Russland und dem darauf folgenden Parteikongress im April war die Partei verwirrt und gespalten. In Petrograd nahm die Partei vier deutlich unterschiedene Positionen bezüglich der Situation der Doppelmacht ein. Das Distriktskomitee von Wyborg stand zu einem Programm von Forderungen, das ein tiefes Misstrauen gegenüber der Provisorischen Regierung mit dem Glauben, dass die Revolution strikt demokratische wäre, kombinierte. Am 1. März rief es die Sowjets auf, eine Revolutionäre Provisorische Regierung gemäß der Linie der bolschewistischen Losungen von 1905 zu bilden. Das Ziel dieser Regierung sollte sein, den Weg für das Zusammentreten einer demokratischen Konstituante vorzubereiten.

Das Petrograder Komitee wurde hauptsächlich von früheren politischen Verbannten, die von der Februarrevolution befreit worden waren, gebildet. Sie nahmen einen konservativeren Standpunkt ein. Am 3. März entschlossen sie sich, „der Macht der Provisorischen Regierung nicht entgegenzutreten, sofern deren Aktivitäten den Interessen des Proletariats und der breiten demokratischen Volksmassen entsprächen.“

Diese Position implizierte keine unmittelbare Herausforderung gegenüber der vorherrschenden Linie iim Exekutivrat des Sowjets. Sie blieb darüber im Unklaren, inwieweit die Provisorische Regierung tatsächlich den Interessen der Massen diente.

Das russische Büro des exilierten Zentralkomitees (Schljapnikow, Molotow und Zalutsky), schwankte. Zuerst forderten sie, dass eine revolutionäre Provisorische Regierung von oben herab von den im Exekutivrat des Sowjets vertretenen Parteien gebildet werden sollte. Ihre programmatische Agenda beschränkte sich darauf, die drei Schwerpunkte des sozialdemokratischen Minimalprogramms – den Achtstundentag, die demokratische Republik, die Konfiskation der Landgüter und ihre Übergabe an die Bauernschaft – sowie die Vorbereitung einer konstituierenden Versammlung durchzusetzen.

Auch hier war die Perspektive die einer rein demokratischen Etappe, über die die Revolution nicht hinausgehen könne. Diese Perspektive führte sie anfänglich dazu, Flugblätter des „linkeren“ Wyborg-Distrikts, die zur Bildung einer auf den Sowjets basierenden Regierung von unten her aufriefen, mit Acht und Bann zu belegen.

Perspektive

Die Perspektive eines Paktes mit den anderen Sowjet-Parteien stieß jedoch auf das Problem, dass die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre die Regierung nicht mit den Bolschewiki teilen wollten. Doch die Erkenntnis dessen trieb das russische Büro bald nach links. Vom 22. März an bezeichnete es die Sowjets als Embryos einer neuen Staatsmacht.

Es war die Redaktion der „Prawda“, die den rechtesten Standpunkt innerhalb des Bolschewismus einnahm. Herausgegeben wurde sie damals von Stalin, Muranow und Kamenew. Die „Prawda“ erklärte so am 7. März: „Was uns betrifft, so ist, was jetzt zählt, nicht der Sturz des Kapitalismus, sondern der Sturz der Autokratie und des Feudalismus.“

Diese Position verfolgte Stalin konsequent weiter, indem er argumentierte, dass, „die Provisorische Regierung in der Tat die Rolle des Verteidigers der Errungenschaften des revolutionären Volkes angenommen hat. Gegenwärtig ist es nicht in unserem Interesse, Ereignisse herbei zu zwingen, die den Ausschluss von bürgerlichen Schichten, die unvermeidlich eines Tages sich von uns trennen werden, zu beschleunigen.“

Am 15. März benutzte Kamenew die „Prawda“, um eine bedingte Unterstützung für Russlands Kriegsanstrengunggn zu rechtfertigen, da nun die Autokratie gestürzt worden war. So wundert es wenig, dass Mitte März die Arbeiterbasis im Wyborger Distrikt für Anträge stimmten, die „Prawda“-Führung aus der Partei auszuschließen.

Diese Verwirrung spiegelte die Schwäche und die Widersprüche des vorigen, vom Bolschewismus aufgestellten Programms einer durchgehenden demokratischen Revolution wider. Sie sollte von den ArbeiterInnen im Bündnis mit der Bauernschaft durchgeführt werden, sollte aber eine von der sozialistischen Revolution unterschiedene, ja getrennte Etappe darstellen.

Der Februar 1917 aber zeigte, dass die innere Logik der Forderungen der mobilisierten Massen über das Minimalprogramm der demokratischen Revolution hinaus führte. Ihre Sowjets, Milizen und Fabrikkomitees waren Keimzellen eines gänzlich neuartigen Staates, dessen proletarische Räte-Demokratie die Formen und Grenzen der bürgerlichen Demokratie weit überschritt.

Auf ihre besondere Weise versuchten die streitenden Fraktionen entweder, den Kampf auf das Terrain der demokratischen Forderungen zu beschränken, oder sie bemühten sich – ohne jedoch dafür programmatisch vorbereitet zu sein –  konsequent darüber hinauszugehen.

Es war Lenin, der fähig war, die Beschränkungen des alten bolschewistischen Programms und dessen Perspektive zu überwinden. Diese Fähigkeit ist zugleich ein Zeugnis für die Lebenskraft und Stärke des historisch gewachsenen bolschewistischen Kaders und zeigt, dass eine offene Debatte in der Partei zu ihrer programmatischen Wiederbewaffnung in dieser entscheidenden Stunde führte.

Lenins Schriften während des Krieges, besonders „Der Imperialismus, das höchste Stadium des Kapitalismus“, ließen bei ihm die Einsicht reifen, dass Russland ein, wenn auch schwaches, Glied in der Kette des Weltimperialismus war. Notwendigerweise konnte daher das Programm der kommenden russischen Revolution nicht länger in der Formel einer nationalen und demokratischen Revolution gefasst werden; stattdessen war sie Bestandteil der internationalen Revolution gegen den Kapitalismus selbst.

Diese Erkenntnis, verbunden mit einer geschärften Sicht auf das Wesen und das Potential der Sowjets im Februar/März 1917, ermöglichte es Lenin, das bolschewistische Programm angesichts der gesellschaftlichen Explosion Russlands zu überarbeiten und neu auszurichten. Dies unterschied ihn von den streitenden Gruppierungen der Bolschewiki in Petrograd und befähigte ihn, eine höhere Synthese aus den gesündesten ihrer Ansichten – besonders jener Gruppierungen, die eng mit den aufständischen Massen verbunden waren – herzustellen.

Lenins erste Antworten auf die russische Revolution wurden in einer Artikelreihe für die „Prawda“, seinen „Briefen aus der Ferne“, ausgedrückt. Sie bedeuteten einen derartigen Bruch mit dem von Stalin geschätzten „alten Bolschewismus“, dass nur eine gekürzte Version davon von den Herausgebern veröffentlicht wurde.

Lenin argumentierte, dass der Sowjet eine Organisation der Arbeiter, der Embryo einer Arbeiterregierung sei und dass die einzige Garantie für die Zerstörung des Zarismus in der Bewaffnung des Proletariats, in der Stärkung, der Ausweitung und Entfaltung der Rolle, Bedeutung und der Macht des Sowjets der Arbeiterdeputierten läge.

In diesen Schriften stellt Lenin nun den Sowjet konkret als Keim einer Arbeiterregierung dar und nicht als eine Revolutionäre Provisorische Regierung, wie er es noch 1905/06 getan hatte. Während der Revolutionären Provisorischen Regierung die Aufgabe der Einberufung einer Konstituante zugeschrieben worden war, erscheint eine solche Forderung weder in den „Briefen“, noch in den „Aprilthesen“ auf. Lenin erkannte, dass das, was jetzt auf der Tagesordnung stand, die Zerstörung der Staatsmaschine der Ausbeuterklassen und ihre Ersetzung durch einen neuartigen Staat, basierend auf den Arbeiterräten, war.

Lenin stellte sich der Unterstützung der Provisorischen Regierung durch den Petrograder Sowjet entgegen, erkannte aber das reale Potential bei der Bildung des „Beobachtungskomitees“. In seinen Worten: „Nun, das ist etwas Reales! Es ist der Arbeiter würdig, die ihr Blut für Freiheit, Frieden und Brot für das Volk vergossen haben.“

Es war jedoch nur „ein Schritt auf dem richtigen Weg“, der zur Schaffung einer Arbeitermiliz führen muss, die es ermöglichen würde, den Weg zur „Sozialistischen Republik aller Länder“ zu beschreiten.

Mit der Bildung der Miliz und der Sowjets hatten die russischen ArbeiterInnen einen Kurs eingeschlagen, mit dem „sie selbst diese Organe der Staatsmacht konstituieren sollten“. In seinem dritten Brief kündigt Lenin an:

„Ich sagte, daß die Arbeiter die alte Staatsmaschine zerschlagen hätten. Ich hätte richtiger daran getan, zu sagen: Sie haben begonnen, sie zu zerschlagen.“

Die Doppelmacht, die aus der Februarrevolution hervorgegangen war, stand vor einer Alternative: entweder Übergang zu einem Staat der Arbeiterräte oder Triumph der bürgerlichen Reaktion. Es konnte keine rein demokratische Etappe der russischen Revolution geben.

Die Rückkehr aus dem Exil erlaubte es Lenin, direkt in der bolschewistischen Partei zu intervenieren und sein programmatisches Rüstzeug weiter zu schärfen. An der Spitze der offiziellen Begrüßungsdelegation des Sowjets forderte ein führender Menschewist Lenin auf, seine Rolle bei der „Schließung der demokratischen Reihen“ zu spielen. Lenin weigerte sich prompt und erklärte stattdessen: „Das Morgenrot der weltweiten sozialistischen Revolution ist gerade angebrochen. (…) Jetzt kann der europäische Kapitalismus mit jedem Tag zusammenbrechen. Die von euch ausgeführte russische Revolution hat den Weg dazu bereitet und eine neue Epoche eröffnet. Lang lebe die weltweite sozialistische Revolution!“

Um die bolschewistische Partei programmatisch für diesen Kampf wiederzubewaffnen, legte Lenin seine „Aprilthesen – Die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“ vor.

Das Ziel, das sich die Thesen setzten, war, von einem Stadium der Revolution, in dem die ArbeiterInnen mit unzureichendem Klassenbewusstsein unnötigerweise die Macht an die Bourgeoisie abgetreten hatten (das heißt, dass es kein notwendiges, sich selbst auf die bürgerliche Demokratie beschränkendes Stadium war), zu einem zweiten Stadium, „das die Macht in die Hände des Proletariats und der ärmsten Schichten der Bauern legt“, voranzuschreiten.

Das war nicht nur deshalb möglich, weil die Massen zu politischem Leben erwacht waren, sondern auch, weil die Herrschaft der Doppelmacht wenigstens vorübergehend eine repressive Gewalt gegenüber den Massen ausschloss.

Das bedeutete notwendigerweise, dass die Bolschewiki einen Standpunkt einnehmen mussten, die Provisorische Regierung nicht zu unterstützen und jede Verteidigung der bürgerlichen Regierung abzulehnen. Aber noch wichtiger: Es bedeutete, dass der Kampf über das demokratische Programm hinausgegangen war, nicht weil eine demokratische Etappe erreicht worden wäre und sich in ihrer Brauchbarkeit erschöpft hätte (wie stalinistische Historiker immer behauptet haben), sondern weil der Kampf für eine demokratische Republik einen Schritt zurück darstellen würde, verglichen mit dem Kampf, die Möglichkeit eines Staates der Arbeiterräte, der in den Sowjets in embryonaler Form existierte, zu verwirklichen.

Lenin schrieb: „Vom Sowjet der Arbeiterdeputierten zur parlamentarischen Republik zurückzukehren, wäre ein Rückschritt.

Stattdessen müsste die Partei für die „Abschaffung der Polizei, der Armee und der Bürokratie“ kämpfen und dafür, dass alle diese Funktionen dem bewaffneten Volk insgesamt übertragen würden.

Genauso, wie Lenin seine frühere Idee einer relativ getrennten demokratischen Etappe in der Revolution zurückgewiesen hatte, war er sich auch klar darüber, dass sein Programm die unmittelbare „Einführung“ des Sozialismus nicht ins Auge fasste. In Wirklichkeit sollte die Revolution den Übergang zum Sozialismus eröffnen, als Teil der internationalen Revolution, durch die Etablierung der Sowjetkontrolle über eine einzige Nationalbank und durch die Übergabe der „gesellschaftlichen Produktion und Distribution der Produkte schließlich unter die Kontrolle der Sowjets der Arbeiterdeputierten.“

Im Kern enthalten die „Aprilthesen“ ein Übergangsprogramm von der Doppelmacht zur Diktatur des Proletariats, dem Ziel des marxistischen Programms.

Lenins Kampf zur Wiederbewaffnung der Bolschewiki traf auf bitteren Widerstand vieler seiner GenossInnen, die sich noch in den ausgefahrenen Gleisen einer schematischen Erwartung eines demokratischen Stadiums der russischen Revolution bewegten und davon überzeugt waren, dass diese Aufgabe erfüllt werden müsse. Als die „Prawda“ die „Aprilthesen“ veröffentlichte, leitete Kamenew sie mit der Bemerkung ein: „Bezüglich der allgemeinen Vorstellung des Genossen scheint es uns unannehmbar, daß sie von der Annahme ausgeht, daß die bürgerlich-demokratische Revolution beendet wäre und mit einer unmittelbaren Transformation dieser Revolution in eine sozialistische Revolution rechnet.“

In einem dreiwöchigen Diskussionsprozess gewann Lenin die Partei für seine offensive programmatische Linie. Nach Schwanken und Zögern machte sich die Partei daran, die Massen für die Erkenntnis der potentiellen Macht der Sowjets und der schnell anwachsenden Arbeitermilizen, der Roten Garden, zu gewinnen. Nach einer Periode der Verwirrung über den demokratischen Charakter der Aufgaben des Proletariats nahm die Partei nun ein Programm des Übergangs zur Arbeitermacht an. Indem sie die Sichtweise der russischen Revolution als eines nur nationalen, isolierten Ereignisses aufgab, kämpfte die Partei jetzt darum, dass die russischen ArbeiterInnen in der Avantgarde der internationalen Revolution stünden. Dazu Lenin vor der Parteikonferenz, die seine Linie unterstützte:

„Die große Ehre, den ersten Schlag zu führen, ist dem russischen Proletariat zugefallen, aber es sollte niemals vergessen, daß sein Fortschritt und seine Revolution nichts als ein Teil einer weltweiten und wachsenden revolutionären Bewegung sind, die täglich stärker wird. (…) Wir können unsere Aufgabe in keinem anderen Licht betrachten.“




Russland auf dem Weg zum Roten Oktober Alle Macht den Sowjets!

Workers Power, Die Taktiken der Bolschewiki in der Revolution, Kapitel 3, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

Die Oktoberrevolution wurde in Russland von der Bolschewistischen Partei unter der Losung „Alle Macht den Sowjets!“ geführt. Im Verlauf der Revolution von 1905 und – noch deutlicher – von 1917 hatten Lenin, Trotzki und die Bolschewiki die historische Bedeutung der Sowjets als Organisationsform zu verstehen gelernt.

Der Sowjet, ein Rat, der alle ausgebeuteten und unterdrückten Gruppen vertrat und sie auf dem Prinzip direkter Wahl, jederzeitiger Abwählbarkeit und der Abschaffung bürokratischer Privilegien gründete, wurde von den Bolschewiki zurecht als der beste und direkteste organisatorische Ausdruck der Macht des Proletariats und seiner Verbündeten angesehen. Er war die bestmögliche Grundlage für die Diktatur des Proletariats – für den Rätestaat.

1938 schrieb Trotzki im Übergangsprogramm: „Die Losung der Sowjets krönt daher das Programm der Übergangsforderungen.“ Er erklärte, dass im Kampf um die Macht die Sowjets das Mittel sind, um alle gegen den Kapitalismus kämpfenden Kräfte zu vereinigen. Nach Lenins und Trotzkis Ansicht gab es keinen Ersatz für die Sowjets als Organe der Arbeitermacht. Was sie zu dieser Ansicht gebracht hatte, waren die Sowjets selbst.

Repräsentation

Die Organisationsform der Sowjets entsteht, wenn die täglichen Kämpfe der Massen im Moment einer revolutionären Krise stattfinden. Sowjets sind eine außergewöhnliche Organisationsform, um mit außergewöhnlichen Problemen, die eine revolutionäre Krise aufwirft, fertig zu werden. Gerade deswegen reagieren sie viel unmittelbarer auf die Bedürfnisse und Wünsche der Massen, als die etablierten und oft bürokratisierten Organisationsformen. Sie sind Vertretungen der ArbeiterInnen und ihrer Verbündeten im Kampf. Ein Mitglied des örtlichen Sowjets von Wyborg 1917 vermittelt einen Eindruck vom wahrhaft repräsentativen Charakter der Räteform:

Die „Massen des Wyborger Rayons brachten alle ihre Bedürfnisse und Erwartungen vor den Sowjet; für sie war er das bedeutsame und greifbare Organ der Macht. Vom Morgen bis zum Abend kamen Arbeiter, Jugendliche, Soldaten mit verschiedenen Problemen. Keiner ging ohne Antwort wieder weg.“

Man vergleiche diese Nähe des Sowjets zur Basis mit der Distanz, welche die Gewerkschaftsbürokraten zwischen sich und ihren Millionen Mitgliedern errichtet haben!

Dank dessen, dass er die Massen im Kampf repräsentiert, ist er einzigartig gut  dazu geeignet, ein Instrument für den revolutionären Kampf zu sein. Da er eine wirkliche Repräsentation der Massen ist, kann er sie am einfachsten und effektivsten auch zu  den Waffen rufen. 1905 und 1917 war der Petrograder Sowjet imstande, Zehntausende in allen Industriezweigen zu Streikaktionen zu mobilisieren, um den Achtstundentag zu sichern. Seine Aufgabe war es, den Kampf jener, denen er verantwortlich war, zu koordinieren und zu führen. Über den Petrograder Sowjet von 1905 bemerkte Trotzki, dass er mehr einem Kriegsrat, als einem Parlament ähnelte.

Gerade dieser Wesenszug ließ Trotzki 1917 optimistisch sein, dass die Sowjets für den bolschewistischen Einfluss empfänglich wären. Die Probe in der Aktion selbst konnte nicht einfach durch eine schwerfällige bürokratische Maschine verzögert werden. Jede Stunde warf für die Sowjets ein neues Problem auf, das in der Praxis zu lösen war. Das Programm revolutionärer Aktion kann rasch – und oft dramatisch – den Massen seine Überlegenheit enthüllen. Trotzki bemerkte dazu: „Von allen Formen revolutionärer Vertretung ist der Sowjet die flexibelste, unmittelbarste und durchlässigste. Aber er ist noch bloß eine Form. Er kann nicht mehr geben, als die Massen imstande sind, zu einem bestimmten Moment hineinzubringen. Jenseits davon kann er den Massen nur dabei helfen, die Fehler, die sie begangen haben, zu verstehen und zu korrigieren. In dieser Funktion der Sowjets liegt eine der wichtigsten Garantien der Entwicklung der Revolution.“

Das dritte zentrale Element der Sowjetform, das Lenin und Trotzki dazu brachte, sie derart hoch für die Zwecke der Revolution zu bewerten, war, dass sie ein embryonales Organ der Macht – der Arbeitermacht – darstellten. Dies zeigte sich 1905 wie 1917. Die Sowjets entwickelten sich aus Streiks heraus, aber sie übernahmen die Funktionen der Verwaltung, der Organisation von Versorgung und die Organisation einer proletarischen Miliz.

In den Streiks von 1905 entstand der erste Sowjet in Russland – im Mai in Iwanowo-Wosnessensk. Während eines Streiks der 40.000 ArbeiterInnen in dieser Textilstadt, trafen sich 110 von ihnen gewählte Delegierte. Die Bedeutung dieser Versammlung bestand darin, dass sie alle ArbeiterInnen des Distrikts auf einer stadtweiten Grundlage, ohne Unterschied ihres Berufes oder ihrer Qualifikation, vereinte.

Das Petrograder Proletariat – die Vorhut im Jahre 1905 wie auch 1917 – ahmte seine Brüder und Schwestern in Iwanowo-Wosnessensk rasch nach. Während des Generalstreiks im Oktober trafen sich 40 Delegierte im Technischen Institut und errichteten einen Sowjet zur Organisierung des Streiks – aber nicht nur dazu. Sie erklärten: „Die Versammlung der Delegierten aus allen Fabriken wird ein Allgemeines Arbeiterkomitee in St. Petersburg bilden. Das Komitee wird unsere Bewegung stärken und vereinheitlichen, es wird die Arbeiter von St. Petersburg in der Öffentlichkeit repräsentieren und über Aktionen während des Streiks ebenso entscheiden, wie über seine Beendigung.“

Eine „zweite Regierung“

Dies war nicht nur ein Streikkomitee. Im November 1905 hatte es 562 Delegierte. Es gab die „Iswestija“ als Tageszeitung heraus, indem es die Druckereien der bürgerlichen Zeitungen besetzte, um zu garantieren, dass sie regelmäßig und professionell produziert würde. Unter Trotzkis Führung legte es ein gegen die Macht der zaristischen Autokratie gerichtetes Programm politischer Forderungen vor. Es untersagte die Verbreitung von Zeitungen, die vom Staat zensiert waren. Nur jene, die den Stempel des Sowjets „Unzensiert“ trugen, wurden ausgeliefert.

Noch bezeichnender ist, dass seine Existenz und seine Kämpfe auch nach dem Streik anhielten. Der Petersburger Polizeichef war über den Sowjet so in Sorge, dass er prophetisch warnte, er drohe, eine „zweite Regierung“ zu werden. Sein Potential als ein Organ der Arbeitermacht enthüllte sich im Herbst 1905. Sein wahres Potential sollte sich im Oktober 1917 entfalten.

Anfänglich standen die Bolschewiki 1905 den Sowjets argwöhnisch gegenüber. Sie sahen sie als eine menschewistische List an, um eine konkurrierende, parteilose Körperschaft aufzubauen, mittels derer sie dann die Bolschewiki ausmanövrieren konnten. Dieser Argwohn rührte von der Weigerung des Sowjets her, sich allein auf Gewerkschaftsfragen zu beschränken. Der wichtige bolschewistische Agitator. P. Mendelew erklärte: „Der Sowjet der Arbeiterdeputierten hat kein Recht, als eine politische Organisation zu existieren und die Sozialdemokraten müssen von ihm zurücktreten, da seine Existenz der Entwicklung der sozialdemokratischen Bewegung schädigt. Der Sowjet mag als eine Gewerkschaftsorganisation existieren – oder er sollte überhaupt nicht existieren!“

Die Absichten der Menschewiki

Der Argwohn, den die Bolschewiki gegenüber dem Sowjet verspürten – genauer, gegenüber den Menschewiki, von denen sie annahmen, dass diese hinter dem Sowjet stünden – war jedoch alles andere als unbegründet.

Die Menschewiki begeisterten sich daran, Sowjets als „Arbeiterkongresse“ zu schaffen. Diese Kongresse könnten, in den Worten Martynows, als Mittel dienen, „revolutionären Druck auf den Willen der liberalen und radikalen Bourgeoisie auszuüben“. Die Menschewiki glaubten, dass die Rolle des Proletariats nur darin bestünde, die Bourgeoisie während der demokratischen Revolution zu ermutigen. Der Sowjet, als eine Form lokaler Regierung und eines Arbeiterkongresses, wurde nicht als Machtorgan, sondern nur als Druckmittel gegenüber der Bourgeoisie gesehen. Mehr noch, die Menschewiki glaubten, dass innerhalb eines solchen Forums eine Massenpartei der Arbeiterklasse – eine, die verschiedenste politische Tendenzen ausdrücken würde – aufgebaut werden könnte. Daher war der Sowjet für Martynow „abnormal“, aber er konnte dazu gebraucht werden, um die Norm der internationalen Sozialdemokratie, eine Massenpartei, zu erreichen, „die breit genug ist, um Organisationen nach dem Muster des Sowjets der Arbeiterdeputierten einzuschließen oder überflüssig zu machen.“

Lenin verstand das wirkliche Wesen der Sowjets – ihren repräsentativen Charakter, ihre Befähigung zum revolutionären Kampf und ihr Potential als Machtorgane – trotz des Einflusses des Menschewismus in ihnen. Indem er die Sowjets nicht als eine Alternative zu den Bolschewiki, sondern als ein Mittel zur Erfüllung der bolschewistischen Regierungslosung, der Provisorischen Revolutionären Regierung, darstellte, gewann er die Partei für die Notwendigkeit des Kampfes um die Führung innerhalb der Sowjets. Für ihn waren Sowjets zugleich auch „Instrumente des Aufstandes“ und „Zellen der neuen revolutionären Macht“. 1906 schrieb er über den Petrograder Sowjet: „Das war das Gesicht der neuen Macht – oder besser, ihre Keimform, da der Sieg der alten Macht die jungen Sprossen sehr bald zerstörte.“

Im Februar 1917, nach dem Sturz der Autokratie, begannen die jungen Keime erneut zu sprießen. Diesmal führten die Bolschewiki, nach Lenins Rückkehr und nach dem Triumph seiner „Aprilthesen“, die die sozialistische Revolution und die Schaffung einer Sowjetregierung als eine Arbeiter- und Bauernregierung unmittelbar auf die Tagesordnung setzten, einen Kampf, um die Sowjets zu den einzigen Machtorganen in ganz Russland zu machen.

Die Menschewiki, eng an die Bourgeoisie gekettet, versuchten, die Sowjets auf eine überwachende und beratende Rolle gegenüber der kapitalistischen Provisorischen Regierung zu beschränken. De facto war nach dem Februar die Macht zwischen der Bourgeoisie und den Sowjets aufgeteilt: eine Situation der Doppelmacht herrschte.

Arbeiter- und Soldatendelegationen

Am Nachmittag des 27. Februar 1917 gründete eine Gruppe von Petrograder Arbeiterführern im Taurischen Palais das „Provisorische Exekutivkomitee des Sowjets der Arbeiterdeputierten.“ Sie beschlossen, Abgeordnete auf der Basis von einem Deputierten pro 1.000 ArbeiterInnen zu wählen. Als sie sich am Abend versammelten, waren zwischen 40 und 50 Deputierte anwesend. Bei der Versammlung waren Soldaten ebenso wie ArbeiterInnen vertreten. Die von den Armeekompanien, die an der Revolution teilgenommen hatten, gewählten Deputierten waren entscheidend daran beteiligt, den Petrograder Sowjet in eine Organisation der ArbeiterInnen und Soldaten umzuwandeln.

Die Bedeutung dessen war ungeheuer. Nicht nur, dass dies militärische Unterstützung und Waffen für den Sowjet bedeutete; es brachte die Bauernschaft – denn die Soldaten waren hauptsächlich „Bauern in Uniform“ – in Kontakt mit dem Proletariat. Es half, das Bündnis zu schmieden, das schließlich in der revolutionären Arbeiter- und Bauernregierung nach dem Oktober vollendet werden sollte.

Nach der Abendsitzung am 27. Februar wurde der Sowjet stärker und stärker. In Petrograd wurden Ende März elf größere lokale Sowjets aufgebaut. Der zentrale Petrograder Sowjet wuchs im März zu einer Körperschaft von 3.000 Delegierten an. Im gesamten Zarenreich entstanden Sowjets. Im Mai gab es 400, Im Oktober schon 900.

Auf dem ersten Allrussischen Sowjetkongress im Juni 1917 versammelten sich in der Hauptstadt 1.090 Delegierte, welche 20 Millionen ArbeiterInnen, Soldaten und Bauern vertraten.

Doch die Sowjets entwickelten sich nicht nur zahlenmäßig. Zur Verblüffung ihrer anfänglichen menschewistischen Führer mischten sie sich andauernd in Regierungsgeschäfte ein. Im Flottenstützpunkt Kronstadt, wo die Bolschewiki und die linken Sozialrevolutionäre von Beginn an die Mehrheit hatten, erklärte der Sowjet im Mai: „Die einzige Macht in der Stadt Kronstadt ist der Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten, der mit dem Petrograder Sowjet in Regierungsangelegenheiten zusammen handelt.“

Der Sowjet entließ den Vertreter der Provisorischen Regierung und erklärte Kronstadt sogar zur Republik. Dies erschreckte die Kompromißler im Petrograder Exekutivkomitee bis ins Herz. Zeretelli und Skobelew wurden ausgesandt, um die Kronstädter zu überreden, von solchen Aktionen Abstand zu nehmen. Aber beide waren angesichts der steigenden Flut hilflos. Überall war es die Dynamik der Sowjets selbst, die sie in eine ähnliche Richtung wie Kronstadt trieb.

In Wyborg, der bolschewistischen Bastion in Petrograd, der Heimat der großen Fabriken, überwachte der Sowjet die Arbeiterkontrolle in den Fabriken und übernahm die Gefängnisbäckerei des Kresty, um die Brotversorgung der ArbeiterInnen zu sichern.

Die Fabriken von Wyborg standen im Kampf um die Sowjetmacht von Anfang an in vorderster Front. Im April war der bürgerliche Minister Miljukow gezwungen, die Provisorische Regierung nach der Bekanntmachung seiner Note an die Alliierten, welche die Treue Russlands zu den Kriegszielen des Zaren erklärte, zu verlassen.

Als Antwort darauf gab Wyborg die lautstärksten Aufrufe zur Beendigung der Doppelmacht heraus. Die Resolution der Konstruktionsfabrik für optische Geräte ist typisch für die Stimmung in Wyborg: „Daher meinen wir, daß die Miljukow, Gutschkow und Co. nicht ihrer Ernennung entsprechen und wir erkennen, daß die einzige Macht im Land die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten sein müssen, die wir mit unserem Leben verteidigen werden.“

Widersprüche der Doppelmacht

Bis zum Juni waren Wyborg und Kronstadt bei ihren Aufrufen zur Lösung der Doppelmacht relativ isoliert. Die Bourgeoisie war sich des Problems, dem sie sich gegenübersah, wohl bewusst, wenn sie mit der Macht der Sowjets koexistieren musste. Gutschkow drückte sein Verständnis des Problems schon so früh, wie am 9. März, aus:

„Die Provisorische Regierung besitzt keine reale Macht. Ihre Befehle werden nur von den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten unterstützt (…) offen gesagt, die Provisorische Regierung existiert nur auf Erlaubnis der Sowjets.“

Der springende Punkt der Doppelmacht war, dass das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets – welches in ganz Russland als Führung angesehen wurde – bis zum September diese Erlaubnis erteilte. Das Exekutivkomitee schloss einen Handel mit den bourgeoisen Überbleibseln des Staatsduma-Komitees und sagte dann den ArbeiterInnen und Soldaten: „Solange das Übereinkommen zwischen dem Petrograder Arbeiter- und Soldatensowjet und der Provisorischen Regierung nicht gebrochen wird, muß die Provisorische Regierung als die einzige gesetzmäßige Regierung für ganz Rußland angesehen werden.“

Nach dem Rücktritt von Gutschkow und Miljukow und dem Eintritt von Sowjetvertretern in die Provisorische Regierung zog Zeretelli die logische Schlussfolgerung – vom Standpunkt der Menschewiki und rechten Sozialrevolutionäre aus gesehen – und argumentierte: „Jetzt wird alle Macht der Provisorischen Regierung überantwortet werden. (Der Sowjet darf) sich nicht in Verwaltungsgeschäfte einmischen. Wir sollten eine nationale Regierung nicht hindern, sondern im Fall von Fehlern Alarm schlagen.“

Warum waren die Kompromissler während so vieler Monate lang imstande, der Masse der ArbeiterInnen und Bauern Achtung vor der Provisorischen Regierung einzuflößen? Zuerst einmal, weil die Menschewiki und die rechten Sozialrevolutionäre bei Ausbruch der Februarrevolution in Russland stärker als die Bolschewiki waren. Sie waren besser in der Lage als die Bolschewiki, Führungspositionen in den Sowjets zu besetzen. So waren sie fähig, die realen Ängste der ArbeiterInnen vor der Konterrevolution auszuspielen, die Rolle der Sowjets auf eine Überwachung der Regierung zu beschränken. In Erinnerung an die Verfolgungen, die dem Jahr 1905 folgten, waren viele ArbeiterInnen nicht darauf vorbereitet, die alleinige Verantwortung für das Schicksal der Revolution zu übernehmen. Die menschewistische Ansicht, die Regierung der Bourgeoisie zu überlassen, passte zu solchen Befürchtungen.

Ein Delegierter zur Stadtkonferenz der Bolschewiki im April stellte fest: „Als das Proletariat noch immer fürchtete, die Macht in seine Hände zu nehmen, machte sich die Bourgeoisie in die Duma auf und begann, Proklamationen herauszugeben und Deputierte zu wählen. Unsere besten Arbeiter erleichterten aus Angst vor der Konterrevolution die zufällige Zusammensetzung des Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten.“

Kritische Unterstützung für die Regierung

Bis zur Rückkehr Lenins befürwortete keine Partei der Revolution den Aufbau der Sowjetmacht als unmittelbares Ziel der Revolution. Die bolschewistische Formel lautete: „Für eine revolutionäre Provisorische Regierung!“ Sogar führende Personen in der Partei, z.B. Kamenew, vertraten die kritische Unterstützung für die im Februar geschaffene Provisorische Regierung. Es ist daher nicht überraschend, dass auch die Masse der Arbeiterklasse und der Armee ihre Aufgabe darin erblickte, die Regierung auf demokratischem Kurs zu halten. Typisch für diese Auffassung war die Resolution der Baltischen Schiffswerft, die erklärte: „Volles Vertrauen in den Sowjet – und wir sind sicher, daß der Sowjet, indem er selbst auf unser Vertrauen und auf die Unterstützung der organisierten revolutionären Demokratie gründet, fähig sein wird, die Provisorische Regierung zu zwingen, die Wünsche der revolutionären Armee und des Volkes in Betracht zu ziehen.“

Von Ende April bis zum Juli betonten die Bolschewiki – anfänglich eine schwache Fraktion in den meisten Sowjets (40 Deputierte von insgesamt 3.000 in Petrograd Ende März) – die Losung „Alle Macht den Sowjets!“ Ihr Ziel war, der probürgerlichen Politik der Kompromissler zu entkommen und in einer Sowjetrepublik die Führung, wenn möglich mit friedlichen Mitteln, zu gewinnen. Ab Juni machten sie dabei beträchtliche Fortschritte.

Die Arbeiter beschuldigen die Kapitalisten

Die Provisorische Regierung war unfähig, die großen Probleme der wirtschaftlichen Produktion, der Landfrage oder des Krieges zu lösen. Mehr und mehr gelangten die ArbeiterInnen dahin, den Kapitalisten die Schuld zu geben, dass sie die Lösung dieser brennenden Probleme verhinderten. Mehr und mehr blickten sie auf ihre eigenen Organisationen, um diese Aufgabe für sie zu erledigen.

Als die Sowjetführung im Juni eine bolschewistische Demonstration aus Angst verbot, war sie genötigt, einen offiziellen Protestmarsch, um Dampf abzulassen, einzuberufen. Der Marsch vereinte über 400.000 und bestand aus ArbeiterInnen und Soldaten. Die „Demokratie“ versteckte sich in den Cafes und Salons. Trotz des „offiziellen“ Charakters des Marsches spiegelten seine Stimmung und Losungen den rasch wachsenden Einfluss des Bolschewismus wider. Suchanow, ein Augenzeuge, bemerkte: „Und wieder und wieder, wie der unablässige Ruf aus dem tiefsten Inneren der revolutionären Hauptstadt, wie das Schicksal selbst, wie der verhängnisvolle Burnhamwald, kamen sie zu uns: ‚Alle Macht den Sowjets!‘, ‚Nieder mit den zehn kapitalistischen Ministern!'“

Der konterrevolutionäre Trend nach den Juli-Tagen brachte die Bolschewiki dazu, einen Wechsel der Losungen bezüglich der Sowjets zu debattieren. Die Illegalisierung der bolschewistischen Partei, die Verhaftung vieler ihrer Führer und die Repression gegen die fortschrittlichsten ArbeiterInnen und Soldaten – alles von der damaligen Sowjetführung, also den Sozialrevolutionären und den Menschewiki, unterstützte Maßnahmen – brachte die Bolschewiki dazu, die Losung „Alle Macht den Sowjets!“ fallen zu lassen. Die Hoffnung der Bolschewiki auf eine friedliche Entwicklung der Revolution verpuffte.

Trotz der Repression, die auch die bolschewistische Zeitung „Prawda“ verboten hatte und zeitweilig das Gros der Führung in den Untergrund getrieben hatte, überlebte die bolschewistische Partei die Wochen der Spionagehysterie, die nach den Juli-Tagen durchs Land ging und besagte, dass Lenin ein deutscher Agent sei.

Lenin und Sinowjew schickten aus ihrem Versteck in Rasliw, unmittelbar jenseits der finnischen Grenze, Briefe und Dokumente. Schon am 13. Juli war die Partei fähig, eine zwei Tage dauernde strategische Konferenz der Militär-Organisation, des Zentralkomitees und der Komitees des Petrograder und Moskauer Distrikts abzuhalten.

Die Menschewiki und die Konterrevolution

Lenin bereitete dafür ein Dokument vor: „Die politische Situation“. Es bestand aus vier Thesen. These I erklärte, dass „die Konterrevolution tatsächlich die Staatsmacht in ihre Hände genommen hat“ und dass „Rußland tatsächlich eine Militärdiktatur ist“, deren Politik „die Vorbereitung der Auflösung der Sowjets ist“.

These II brandmarkte die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre dafür, dass sie „die Sache der Revolution, indem sie sie in die Hände der Konterrevolution legten, (vollständig) verraten haben“, für die sie nun als „bloßes Feigenblatt“ tätig wären.

These III proklamierte, dass alle Hoffnung auf einen friedlichen Übergang verschwunden sei und nun ein bewaffneter Arbeiteraufstand notwendig sei. Konsequent argumentierte Lenin, dass die Losung „Alle Macht den Sowjets!“ zurückgenommen werden müsste. Der Grund, den Lenin dafür angab, war, dass „es eine Losung für die friedliche Entwicklung der Revolution war“ und dass „die Macht in andere Hände übergegangen ist“ und die Menschewiki und Sozialrevolutionäre die Revolution „vollständig verraten“ hätten.

Die vierte These besagte, dass die Partei legale und illegale Arbeit mit dem Ziel eines Aufstandes kombinieren müsse – dessen Ziel sein würde, „die Macht dem von den armen Bauern unterstützten Proletariat zu übergeben; mit der Perspektive, unser Parteiprogramm in die Tat umzusetzen.“

Unzutreffende Taktiken und Losungen

Lenins Thesen wurden heftig diskutiert. Unter anderem wurden sie von Wolodarsky, Nogin und Rykow angegriffen. Sogar Sinowjew, der Lenins Exil teilte, sandte eine Note, dass er nicht damit übereinstimme. Neben anderen unterstützten Swerdlow und Stalin Lenins Ansicht.

Die Diskussionen kreisten darum, ob die Konterrevolution triumphiert hätte oder nicht – das heißt, ob die Doppelmacht zugunsten der Bourgeoisie gelöst wäre, ob die Menschewiki und Sozialrevolutionäre sich nun definitiv als Konterrevolutionäre erwiesen hätten, ob eine friedliche Evolution innerhalb der Sowjets noch stattfinden könne, die es einer Sowjetregierung erlauben würde, an die Macht zu gelangen und ob ein Aufstand tatsächlich notwendig sei und ob der Sowjet nicht länger mehr der Mittelpunkt der Aktivität der Bolschewiki sei.

Ordshonikidse erinnerte sich später, dass Lenin in dieser Periode argumentiert hätte, dass die Fabrikkomitees – und nicht die Sowjets – die Organe des Aufstands werden würden.

In ihrem Wesen war Lenins Position strategisch, das heißt programmatisch, korrekt. Aber hinsichtlich einer Einschätzung der Situation und hinsichtlich der Taktik und der Losungen war sie unzutreffend. Die Parteidiskussion korrigierte diese Unzulänglichkeiten und die Taktik der Bolschewiki im August und September, überwand die Probleme, denen die Partei sich gegenübersah. Lenin überschätzte die Totalität der Konterrevolution.

Insoweit es eine Konterrevolution nach dem Juli gab, so blieb sie eine demokratische Konterrevolution und nicht die Durchsetzung einer Militärdiktatur. Das Armeekommando, die bürgerlichen „Konstitutionellen Demokraten“ und die rivalisierenden Möchtegern-Bonapartes – Kerenski und Kornilow – hatten die Doppelmacht nicht gelöst. Eher führten die reformistischen Führer die Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte dazu, „Notstandsmaßnahmen“ gegen die proletarische Avantgarde zu erlauben. Aber die Etablierung einer Militärdiktatur hätte die Zerschlagung der Sowjets, der Soldatenkomitees und die vollständige Entwaffnung der Arbeiter erfordert. Um dies zu erreichen würde ein zweiter Coup notwendig sein.

Der taktische Irrtum Lenins bestand in der völligen Aufgabe der Losung „Alle Macht den Sowjets!“, die notwendigerweise mit der „friedlichen Entwicklung“ verbunden war. Lenin sah sie zu dieser Zeit allein als eine Losung an, die synonym wäre mit „Menschewiki und Sozialrevolutionäre, nehmt die Macht!“

Beide Irrtümer waren miteinander verknüpft. Lenin meinte, dass es keine weitere Periode legaler Sowjets, in der die Bolschewiki fortfahren könnten, immer mehr Delegierte in den Sowjets und schließlich sogar die Mehrheit darin zu gewinnen, geben werde. Dies war jedoch nicht der Fall und nach ein paar Wochen setzten die Bolschewiki ihren Aufstieg in den Sowjets fort.

Es war sicher korrekt, die Agitation für „Alle Macht den Sowjets!“ in der bislang gebräuchlichen Weise zurückzuziehen, sobald die Parteien der Mehrheit darin ihre totale Komplizenschaft mit den Konterrevolutionären bloßgelegt hatten. Aber sie besaß noch immer Bedeutung als ein Ausdruck der Notwendigkeit eines Arbeiterstaates, statt einer bürgerlichen Demokratie – und als die Bolschewiki dabei waren, eine Mehrheit zu erlangen, sollte sie eine neue konkrete agitatorische Bedeutung erlangen: „Alle Macht den (bolschewistischen) Sowjets!“

Der Kampf um eine bolschewistische Führung

Lenin war sich der Gefahr bewusst, die organisatorische Form von ihrer politischen Führung zu trennen. Unter einer reformistischen Führung können Sowjets eine reaktionäre Rolle spielen – wie tatsächlich im Juli 1917 oder in der deutschen Novemberrevolution unter Führung der SPD. Mit einer revolutionären Führung würden die Sowjets jedoch eine revolutionäre Rolle spielen. Der Kampf um neue Sowjets wurde de facto im August 1917 ein Kampf um eine bolschewistische Führung darin.

Die existierenden Sowjets wurden erneuert und ihre reaktionären Führungen verdrängt. In der Debatte auf dem bolschewistischen Kongress im Juli hatte Bucharin vorausschauend gewarnt: das „Kind wird mit dem Badewasser ausgeschüttet, wir dürfen nicht der Form der Sowjets die Schuld geben, weil ihre Zusammensetzung sich als unpassend erwiesen hat.“

Bucharins Ratschlag wurde, besonders in den lokalen Sowjets, stark beachtet. Ab September begannen die Bolschewiki, quer durch ganz Russland in den Sowjets Mehrheit um Mehrheit zu erlangen.

Aus diesem Grund wurde die Losung „Alle Macht den Sowjets!“ nicht ein zweites Mal von der Tagesordnung abgesetzt, sondern ihr wurde eine neue Bedeutung verliehen: „Alle Macht den bolschewistischen Sowjets!“ In dieser Formulierung hörte die Losung schließlich auf, ein Aufruf zu einer friedlichen Entwicklung zu sein. Die Partei nähert sich der bewaffneten Erhebung durch die Sowjets und im Namen der Sowjets.

Auf dem VI. Parteikongress, der am 26. Juli begann und acht Tage dauerte, wurde Lenins Position entwickelt und erweitert. Die programmatisch korrekten Elemente in Lenins Thesen wurden beibehalten – insbesondere, dass die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre sich als Werkzeuge der Konterrevolution erwiesen hatten. Im Wesentlichen und in später entwickelten Begriffen, waren diese Parteien nicht zentristisch, sondern konterrevolutionär. Keine Fusion oder Verhandlung war mit ihnen zu erlauben. Der Juli hatte das entscheidend bewiesen! Nur die Anhänger von Martow, die Menschewiki-Internationalisten und die linken Sozialrevolutionäre waren noch zögernde Elemente (Zentristen) geblieben.

Auf diesem Kongress fusionierten die Meschrajonzi und Trotzki endgültig mit den Bolschewiki, so dass nun alle konsequent revolutionäre Elemente in einer Partei vereint waren. Zusätzlich erkannte der Kongress an, dass die Provisorische Regierung um Kerensky und die Generäle nicht mit friedlichen Mitteln entfernt werden konnten, wenn auch die Gewinnung einer Mehrheit in den Sowjets und deren Verteidigung gegen die Konterrevolution weiterhin zentral bleiben würde. Die Richtigkeit dieser Marschrichtung bewies sich am Tag nach dem Putschversuch Kornilows.

Am 9. September fand eine Debatte über die Zusammensetzung des Präsidiums des Petrograder Sowjets statt. Trotzki, jetzt Bolschewik, führte den Angriff gegen die Kompromissler an. Er sprach für die Mehrheit des Petrograder Proletariats. Die Kompromissler wurden mit 519 zu 414 Stimmen geschlagen. Bolschewistische Mehrheiten in anderen Sowjets im ganzen Land gab es zur gleichen Zeit überall. Am 25. September wurde Trotzki wiederum Vorsitzender des Petrograder Sowjets. 1905 war er gezwungen gewesen, die Niederlegung der Waffen und die Unterwerfung unter die zaristische Polizei anzuordnen. 1917 gab es keine derartige Notwendigkeit zur Aufgabe.

Am 25. 0ktober wurde auf dem II. Allrussischen Sowjetkongress nach dem in der Nacht zuvor erfolgten Aufstand die erste Sowjetrepublik der Welt errichtet.




Russland auf dem Weg zum Roten Oktober – Doppelmacht in den Fabriken

Workers Power, Die Taktiken der Bolschewiki in der Revolution, Kapitel 4, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

Im Februar 1917 stürzten die russischen ArbeiterInnen auf der Ebene der Staatsmacht das zaristische Regime – um daraufhin eine bürgerliche Regierung zu akzeptieren. Die ArbeiterInnen traten die Staatsmacht an die Bourgeoisie ab, während sie ihre Sowjets zur Beaufsichtigung und zum Druck auf die Regierung aufrechterhielten. Ein ähnlicher Prozess fand in den Fabriken und Bergwerken statt. Die Doppelmacht, die auf staatlicher Ebene existierte, spiegelte sich auch an den Arbeitsplätzen wider.

Die ArbeiterInnen von Petrograd kehrten nach der Februarrevolution an die Arbeit zurück, entschlossen, das alte tyrannische Regime in den Fabriken zu zerstören. Sie bestanden auf die Einführung des Achtstundentages, indem sie die Arbeitsplätze nach acht Stunden einfach verließen. Sie forderten und erreichten es auch oft, dass sie für die Arbeitszeit, während derer sie das alte Regime gestürzt hatten, bezahlt wurden. Aber wichtiger noch, sie hatten noch einige Rechnungen mit jenen, die sie in den alten Zeiten schikaniert, ausgebeutet und erniedrigt hatten, zu begleichen.

Große Bereiche der russischen Industrie wurden durch von der Regierung Bevollmächtigte geleitet. Sobald die Macht ihrer Oberherrn gebrochen worden war, flüchteten viele der Direktoren und Manager. Manche ArbeiterInnen, z.B. jene der „Ochta“-Sprengstoffwerke, kamen in die Fabrik zurück – ohne eine Fabrikleitung vorzufinden. Überall warfen die Arbeiter alle, die besonders brutale Ausbeuter waren, hinaus, wenn diese es wagten, zurückzukehren.

Ein wahrhaftes Fest des Hinauswerfens der verhassten Chefs in Schubkarren begleitete die Rückkehr zur Arbeit. Der Direktor der Putilow-Werke und sein Sekretär wurden in einen Kanal geworfen. Im „Cartridge“-Werk warfen die Arbeiter 80% des technischen Stabes hinaus. In der „Thornton“-Textilfabrik verjagten die Arbeiterinnen 30 Betriebspolizisten. Massenversammlungen der Beschäftigten diskutierten und entschieden über Listen von Unerwünschten. Im Ersten Kraftwerk stimmten die Arbeiter zum Beispiel dafür, allen Direktoren den Zutritt zum Werksgelände zu sperren, da „sie Stützen des alten Regimes (seien) und in Anbetracht ihrer Schädlichkeit vom wirtschaftlichen Blickwinkel und ihrer Nutzlosigkeit vom technischen.“

In allen größeren Industriezentren wählten die ArbeiterInnen Fabrikkomitees, um sie gemäß der neuen Ordnung zu vertreten. Diese Fabrikkomitees darf man nicht etwa mit den britischen „shop-steward“-Komitees oder deutschen Betriebsräten verwechseln. Sie wurden von allen Beschäftigten auf Vollversammlungen gewählt. Wo „shop-stewards“ (Vertrauensleute auf Abteilungsbasis) existierten, vertraten sie eben nur Teile der Beschäftigten in den Abteilungen. In bestimmten Betrieben existierten die Fabrikkomitees neben den Vertrauensleutekomitees mit scharf unterschiedenen Aufgaben.

In vielen vom Staat geführten Betrieben mussten die Fabrikkomitees anfänglich die Verantwortung für den Weiterbetrieb der Fabriken übernehmen.

Ebenso wie auf staatlicher Ebene fanden sich die ArbeiterInnen auch im Betrieb mit der Frage der Macht konfrontiert. Und genau wie auf staatlicher Ebene, händigten sie die Macht wieder den bürgerlichen Managern und Direktoren aus. Die Parallele endet damit nicht. Obwohl die Komitees allgemein die technische und wirtschaftliche Verantwortlichkeit der Unternehmer und des Managements reorganisierten, beharrten sie auf dem Recht, diese Funktionen zu kontrollieren. Dies widerspiegelt den Willen der Sowjets, die Arbeit der Provisorischen Regierung zu kontrollieren.

Die Fabrikkomitees verlangten „die Kontrolle über die innere Ordnung“ – und führten sie auch aus. In ganz Russland erhoben die Komitees die gleichen Forderungen bezüglich der Länge des Arbeitstages, der Höhe des Mindestlohnes, der Pausen, der Einstellungen und Entlassungen usw.

Auf eine sehr grundlegende Weise forderten sie das Recht der Unternehmer und ihrer Vertreter, die Fabriken und Bergwerke zu verwalten, heraus. Arbeiterkontrolle auf dieser Stufe bedeutete die Bestätigung der Autorität der  Fabrikkomitees über die Angelegenheiten der „internen Ordnung“. Sie bedeutete die Wachsamkeit der Arbeiterklasse über die Tätigkeit des Managements. Es war eine höchst instabile und widersprüchliche Situation, zu der die Unternehmer keine Alternative hatten, als diese, wenn auch widerstrebend, nach dem Februar-Aufstand zu akzeptieren.

Zurückhaltung

Generell hielten sich die ArbeiterInnen dabei zurück, wirkliche Verantwortung für die Verwaltung ihrer Betriebe zu übernehmen. In den „Patronnjy“-Werken z.B. konstituierten sie sich nicht selbst als alternatives Management. Das Fabrikkomitee säuberte die gesamte Verwaltung und zog sich dann auf eine „beobachtende“ Rolle zurück. Diese Methode wurde auf einer Konferenz der ArbeitervertreterInnen der Staatsbetriebe am 15. April festgelegt. Sie legte fest, dass „indem wir nicht danach verlangen, auf uns die Verantwortlichkeit für die technische und administrative Organisation der Produktion unter den gegebenen Bedingungen bis zur vollen Vergesellschaftung der Wirtschaft zu nehmen, treten die Vertreter des zentralen Fabrikkomitees in die Administration mit einer beratenden Stimme ein.“

Eine Situation, in der die ArbeitervertreterInnen täglich die traditionellen, „heiligen“ Rechte des Managements überschritten, konnte niemals dauerhaft sein. Wie auf staatlicher Ebene, musste auch in der Fabrik schließlich die eine oder die andere Klasse vorherrschen. Für die fortgeschrittensten Sektionen des Proletariats stellte die Arbeiterkontrolle nur eine Übergangsphase auf dem Weg zum Sozialismus dar, wie es die ArbeiterInenn der Putilow-Werke ausdrückten: „Die Arbeiter bereiten sich für die Zeit vor, wenn der Privatbesitz der Fabriken (…) abgeschafft sein wird und die Produktionsmittel, zusammen mit den Gebäuden, errichtet von den Händen der Arbeiter, der Arbeiterklasse übergeben werden. Indem wir daher diese geringe Sache erledigen, muss man dauernd sich des großen und grundsätzlichen Ziels, das das Volk erstrebt, bewusst sein.“

Von den Unternehmern wurde diese Situation nur als Übergangsphase betrachtet, als ein notwendiges, aber zeitweiliges Zugeständnis, bis sie ihre traditionellen Vorrechte und ihre ungehinderte Herrschaft wieder ausüben könnten.

Verschlechterung

Im April und Mai wurde zunehmend offenkundig, dass sich der Zustand des russischen Kapitalismus dramatisch verschlechtert hatte. Zudem wurde immer offenkundiger, dass die Kapitalistenklasse auf das wachsende Wirtschaftschaos hoffte, um die Arbeiterklasse zu brechen. Oft wurden die ArbeiterInnen, anfänglich aus patriotischen Motiven, zunehmend argwöhnischer, dass die Unternehmer und die staatlichen Manager willentlich die Kriegsproduktion behinderten. Mit sich erschöpfenden Vorräten nahmen die Fabrikkomitees häufig die Aufgabe der Besorgung auf sich – durch Arbeiterdelegationen in Regionen, wo Kohle, Eisen und Holz produziert wurden. In dieser Hinsicht gerieten die Fabrikkomitees in Gefahr, zum Komplizen für ein effektiveres kapitalistisches Management zu werden. Aber zugleich bewiesen sie auch, dass nur die Organisationen der Arbeiterklasse wirkungsvoll eine Wirtschaftskatastrophe verhindern konnten.

Dabei wurde erneut die Instabilität der Doppelmacht klar. Entweder würden die Fabrikkomitees zu Organen der Klassenkollaboration werden, oder sie mussten über ihre „beobachtende“ Rolle hinaus in Richtung sozialistische Revolution gehen.

Als die Verknappungen zunahmen und das Management Schließungen androhte, ging das Konzept der Arbeiterkontrolle darüber hinaus, die Unternehmer nur zu „kontrollieren“. Nachdem man gesehen hatte, was die Unternehmer taten, bedeutete dies, gegen ihre Schließungspläne zu kämpfen. In Petrograd nahm dies eine besonders scharfe Form an, als die Kapitalisten sich darauf vorbereiteten, die Produktion zu „verladen“, indem sie ihre Fabriken aus der Stadt verlagerten und so die Avantgarde der russischen Arbeiterklasse zerstreuten. Die Doppelmacht musste auf die eine oder andere Weise beendet werden.

Knappheit

Ein gutes Beispiel dieser Realität ist die „Langezipen“-Maschinenfabrik in Petrograd. Ende April gab es ernsthafte Verknappungen und Gerüchte, dass die Schließung bevorstünde. Das Fabrikkomitee postierte Wachen an den Fabriktoren, um die Verwaltung am Verlassen zu hindern. Wie erwartet, kündigte das Management an, das Werk zu schließen. Auf Initiative des „Langezipen“-Fabrikkomitees hin untersuchte der Zentralrat der Petrograder Fabrikkomitees die Finanzfonds der Gesellschaft. Aus Angst, ihre schmutzigen Geschäfte könnten aufgedeckt werden, zauberten die Eigentümer nun neue Fonds hervor und kündigten an, die Fabrik weiter in Betrieb zu halten!

Ein ähnliches Muster eines Eingriffs in die traditionellen Rechte des Managements wurde durchgehend im Mai in den größeren Betrieben etabliert. Sobald das alte Management wieder an Selbstvertrauen gewonnen hatte, nutzte es zunehmend seine Autorität, die ihm die ArbeiterInnen gelassen hatten, dazu, die Fabriken zu schließen oder zu ruinieren. Die Unternehmer und Manager waren darauf vorbreitet, in Verfolgung ihrer Klassenziele die Produktion zu desorganisieren. Der Kampf um die Kontrolle der Produktion nahm eine schärfere Form an.

Unter den Arbeiterparteien waren nur die Bolschewiki darauf vorbereitet, den Kampf um die Arbeiterkontrolle konsequent zu führen. Sie konnten es, da die Partei diesen Kampf als Teil des Kampfes für die proletarische Revolution ansah. Die Menschewiki stellten sich jedem derartigen Kampf gegen den Kapitalismus entgegen. Ihre Zeitung „Rabotschaja Gazeta“ schrieb: „Unsere Revolution ist eine politische. Wir zerstören die Bastionen der politischen Autorität, aber die Grundlagen des Kapitalismus bleiben auf ihrem Platz. Eine Schlacht an zwei Fronten – gegen den Zar und gegen das Kapital – liegt über den Kräften des Proletariats.“

Angesichts von Wirtschaftschaos und Sabotage seitens der Manager spielte der Kampf für Arbeiterkontrolle eine zentrale Rolle im Programm der Bolschewiki für den Übergang zur sozialistischen Revolution. In seiner „Resolution zur wirtschaftlichen Desorganisation“ argumentierte Lenin Ende Mai:

„Der einzige Weg, um ein Desaster zu verhüten, besteht in der Einrichtung einer effektiven Arbeiterkontrolle über die Produktion und Distribution der Güter. Zum Zwecke einer solchen Kontrolle ist es zuallererst notwendig, dass die Arbeiter in allen entscheidenden Institutionen eine Mehrheit von nicht weniger als Dreiviertel aller Stimmen haben sollten und dass die Eigentümer, die sich nicht aus ihren Betrieben zurückgezogen haben, und der Ingenieursstab ohne Ausnahme aufgenommen werden müssen.“

Diese Kontrolle sollte von den Fabrikkomitees, den Gewerkschaften und den Sowjets ausgeübt werden. Sie sollte durch die Offenlegung der Geschäftsbücher für Arbeiterinspektionen ermöglicht werden. Das sollte such auf Bank- und Finanzoperationen ausgedehnt werden. Es war jedoch für die ArbeiterInnen nicht möglich, eine wirksame Kontrolle nur auf der Ebene einzelner Unternehmen auszuüben. Für das System der Kontrolle, um „zur vollen Regulierung der Produktion und Distribution der Güter durch die Arbeiter entwickelt zu werden“, wäre es notwendig gewesen, über einen direkt den Arbeiterorganisationen verantwortlichen Staat die Kontrolle über die Gesamtwirtschaft auszuüben.

Lenin kehrte zu diesem Thema in seinem Programm „Die bevorstehende Katastrophe und wie sie zu bekämpfen ist“, geschrieben im September, zurück. Wieder argumentiert er: „Es gibt keinen Weg eines wirksamen Kampfes gegen den finanziellen Zusammenbruch als den revolutionären Bruch mit den Interessen des Kapitals und der Organisation einer wirklich demokratischen Kontrolle, d.h. der Kontrolle von ‚unten‘, Kontrolle durch die Arbeiter und armen Bauern über die Kapitalisten.“

Angesichts der Klarheit der Forderung der Bolschewiki nach Arbeiterkontrolle auf Fabrik- und Staatsebene war es nicht überraschend, dass ihre wachsende Stärke in der Arbeiterbewegung zuerst in den Fabrikkomitees offenbar wurde. Die erste Konferenz der Petrograder Fabrikkomitees, die Ende Mai zusammentrat, unterstützte das bolschewistische Programm. Das taten auch alle darauf folgenden Konferenzen der Fabrikkomitees.

Die Fabrikkomitees behielten ihren eigenen Zentralrat der Fabrikkomitee-Delegierten bei. Dabei brachten sie die am besten organisierten Betriebe in einer stadtweiten Organisation zusammen. Sie waren gegenüber den täglichen Angelegenheiten der ArbeiterInnen direkter verantwortlich und zuständig als die Sowjets es sein konnten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die anwachsende bolschewistische Flut unter den ArbeiterInnen sich erst in den Betriebskomitees und erst danach in den Sowjets widerspiegelte. Trotz der Stärke der Komitees als proletarische Organisationen bedeutete dies jedoch, dass sie nicht imstande waren, eine entscheidende Rolle zur Mobilisierung aller Ausgebeuteten und Unterdrückten zu spielen. Ihrem Wesen nach schloss ihre Koordination, im Gegensatz zu den Sowjets, die Soldaten und darüber hinaus die Masse der Bauern aus.

Loyale Truppen

Am 3. und 4. Juli rührte die Sowjetführung keinen Finger, als Truppen der Provisorischen Regierung auf die ArbeiterInnen und Matrosen, die gegen diese Regierung waren, in Petrograd schossen. Als Nachwirkung davon verwarf Lenin zeitweilig die Losung „Alle Macht den Sowjets!“ und forderte: „Wir müssen den Schwerpunkt auf die Fabrik- und Abteilungskomitees verlagern. (Sie) müssen die Organe des Aufstandes werden.“

Lenin argumentierte, dass die Sowjets, die damals unter Führung der Rechten standen, zu Organen der Klassenkollaboration und Komplizen des Regimes bei dessen Repression geworden waren. Sie organisierten nicht länger mehr die Massen zum Kampf. In diesem Zusammenhang war der Ruf „Alle Macht den Sowjets!“ falsch, weil die militärische Repression eine friedliche Machtübergabe an die Sowjets unmöglich machte. Sie war auch deshalb falsch, weil – mit Lenins Worten – „die Revolution de facto von den Sozialrevolutionären und den Menschewiki vollständig verraten wurde.“ Lenin folgerte: „Die Losung, die zu einer Übergabe der Staatsmacht an die Sowjets aufruft, würde jetzt wie eine Don-Quichoterie oder wie Hohn klingen.“

Die Bolschewiki sollten die Forderung „Alle Macht den Sowjets!“ jedoch im September erneut erheben. Damals aber wurde sie, mit der innerhalb der Sowjets wachsenden Stärke der Bolschewiki, zu einem Ruf nach dem Aufstand. Obwohl Lenin seine Aufmerksamkeit nach dem Juli besonders den Fabrikkomitees zuwandte, hatte er Mühe, zu erklären, dass dies nicht bedeutete, dass der Aufbau von wirklichen Räten aufgehört hätte, für das bolschewistische Programm zentral zu sein. Lenin argumentierte in seinem Artikel, der für die Aufgabe der Losung „Alle Macht den Sowjets!“ eintrat: „Sowjets werden in dieser neuen Revolution auftauchen – und sind in Wirklichkeit untrennbar damit verbunden – aber nicht die gegenwärtigen Sowjets, nicht Organe, die mit der Bourgeoisie kollaborieren, sondern Organe des revolutionären Kampfes mit der Bourgeoisie. Es stimmt, dass wir auch dann für den Aufbau des ganzen Staates nach den Modell der Sowjets sind. Es ist nicht eine Frage der Sowjets allgemein, sondern um die gegenwärtige Konterrevolution und den Verrat der gegenwärtigen Sowjets zu bekämpfen.“

Obwohl die Fabrikkomitees die proletarische Demokratie lebendig erhielten und Moral und Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse bewahrten, konnten sie nicht die historische Rolle der Sowjets als Organisationen der Masse der Ausgebeuteten und Unterdrückten und als Keimzellen des proletarischen Staates selbst spielen.

Die Unternehmer steigerten ihre Offensive inmitten des Wirtschaftschaos im Herbst. Ihre Hoffnungen auf einen Militärputsch waren zerschlagen worden, als der Kornilow-Aufstand von den ArbeiterInnen niedergeworfen wurde. Jetzt machten sie sich daran, den Treffen der Fabrikkomitees während der Arbeitszeit ein Ende zu setzen, ihre Kontrolle über Einstellung und Entlassung und auch über Betriebsverlagerungen aus Petrograd zu stoppen.

Unter bolschewistischer Führung antworteten die Komitees darauf mit entschlossenem Widerstand. Die meisten Komitees verfügten über ihre eigene bewaffnete Miliz, um den Betrieb und die Arbeiterinnen gegen die Konterrevolution zu verteidigen. Der Moskauer Arbeiter Postawschtschik beschrieb, was passierte, als die Bolschewiki im Betrieb die Führung übernahmen: „Am I. Juni, sobald das neue Fabrikkomitee mit einer bolschewistischen Mehrheit gewählt worden war, (…) wurde ein Trupp von achtzig Männern gebildet, der – angesichts des Fehlens von Waffen – unter der Anleitung eines alten Soldaten, des Genossen Levakov, mit Stöcken trainierte.“

Während des Kornilow-Putsches war es der Zentralrat der Fabrikkomitees, der eine Schlüsselrolle bei der Verteilung von Waffen an die verschiedenen Werksmilizen spielte. Als die Unternehmer ihre Herbstoffensive aufnahmen, standen sie gegen Komitees, die sowohl mit Gewehren, als auch mit einer entschlossenen, bolschewistischen Führung bewaffnet waren.

Klassenpolarisierung

Diese sich verschärfende Klassenpolarisierung konnte nur auf staatlicher Ebene gelöst werden. Je mehr Fabrikkomitees den Management-Plänen Widerstand leisteten, umso mehr Unternehmer zogen sich zurück. Die Produktion wurde zunehmend von Desorganisation befallen, während die Komitees de facto zur Macht im Betrieb wurden. Diese Macht erstreckte sich über den Kampf zur Aufrechterhaltung der Produktion hinaus. Bestimmte Fabrikkomitees hatten ihre eigenen Bauernhöfe, Kantinen, Läden und unterhielten Versorgungsstoßtrupps. Ebenso, wie sie junge Arbeiter militärisch ausbildeten, unterhielten die Komitees oft ihre Kulturkommissionen. Das Putilow-Komitee z.B. nahm diese Aufgabe sehr ernst und forderte die ArbeiterInnen auf: „Genossen, versäumt nicht die Gelegenheit, wissenschaftliche Kenntnisse zu erwerben, vergeudet nicht eine einzige Stunde fruchtlos. Für uns ist jede Stunde wertvoll. Wir müssen nicht nur die Klassen, die wir bekämpfen, schlagen – wir müssen sie überwinden.“

Die Machtergreifung im Oktober löste die Krise der Doppelmacht zugunsten der Arbeiterklasse. Mit der Übergabe der ungeteilten Staatsmacht in die Hände der Sowjets konnte nun der Staat auch seinen Teil als Exekutivorgan der Arbeiterkontrolle über Produktion und Distribution beitragen. Die Fabrikkomitees konnten ihren Platz als Kontrolleure der Produktion mit voller Unterstützung der Staatsmacht ausfüllen. Seinerseits wiederum legalisierte diese Staatsmacht die Kontrolle der von allen Beschäftigten auf Vollversammlungen gewählten Arbeiterkomitees. Sie gab ihnen das Recht, alle Bücher, Dokumente und Warenlager zu inspizieren. Ihre Entscheidungen waren nun für alle Eigentümer, die noch geblieben waren, verpflichtend.

Der Kampf um die Arbeiterkontrolle war ein unverzichtbarer Bestandteil des Ansturms der russischen ArbeiterInnen gegen den Kapitalismus, gegen das „Recht des Managements, zu verwalten“. Sie lernten, die Industrie zu kontrollieren und Bilanzen für sich selbst zu inspizieren – aus dieser Kontrolle entstanden der Wille und die Fähigkeit, eine neue Gesellschaft mit einer ganz anderen Wirtschaft aufzubauen.




Russland auf dem Weg zum Roten Oktober – Die Juli-Tage

Workers Power, Die Taktiken der Bolschewiki in der Revolution, Kapitel 5, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

Vier Monate nach dem Sturz des Zaren hatten die ArbeiterInnen wenig vorzuweisen. Die Inflation stieg steil an, während die Handelsbilanz und der Wert des Rubels abstürzten. Aus Angst vor dem neuen Selbstvertrauen und der Schlagkraft der Fabrikarbeiter begannen die Unternehmer, die Fabriken zu schließen. Die Metall-Erzeugung fiel um 40%, die Produktion in der Textilindustrie um 20% – obwohl die Unternehmer von ihren ArbeiterInnen noch größere Anstrengungen für den Krieg forderten.

Die Nahrungsmittel wurden knapp – Ende Juni blieben für Petrograd noch Mehlrationen für nur 15 Tage. Am 15. Juli wurden die Butter- und Fleischrationen gekürzt. In ganz Russland fragten sich die Massen: Haben wir dafür den Zaren vertrieben?

Worin bestand die Antwort der Regierung Kerenski? Trotzki beschrieb sie als „organisierte Unentschlossenheit“. Inzwischen sammelte sich auch der Adel, so dass er am I. Juli imstande war, in Moskau einen „Allrussischen Kongress der Landbesitzer“ zu organisieren.

Auch die Kriegsanstrengungen versagten – die Mehrzahl der Soldaten hatte den Krieg satt. Russland verlor gegenüber Deutschland an Boden.

In striktem Gegensatz zur zaudernden Provisorischen Regierung stand die Macht des Wyborg-Bezirks von Petrograd. In diesem großen Industrieviertel gab es kaum Menschewiki oder Sozialrevolutionäre, die ArbeiterInnen waren entweder Bolschewiki oder unentschieden. In diesem Bezirk lag die Kaserne des 1. Maschinengewehrregiments – mit 10.000 Soldaten und etwa 1.000 MGs. Hier gab es die größte Ungeduld, was die Situation betraf.

Am 18. Juni marschierten 500.000 ArbeiterInnen durch die Straßen Petrograds. Sie waren aufgerufen worden, um zum ersten Allrussischen Sowjetkongress zu kommen. Die Sowjetführer sahen jedoch verblüfft, dass die Menge mehrheitlich bolschewistische Losungen rief: „Alle Macht den Sowjets! Nieder mit den zehn kapitalistischen Ministern!“

Für Lenin und die Bolschewiki bedeute die Losung „Alle Macht den Sowjets!“ nach dem April 1917 nicht einen Aufruf zum Aufstand. Es war eine Losung, die darauf abzielte, die Massen, die damals noch eine Zusammenarbeit von Sowjet und Provisorischer Regierung unterstützte, für die Perspektive der Rätemacht zu gewinnen. Es war eine Aufforderung an die „sozialistischen“ Minister, ihre Koalition mit den kapitalistischen Politikern zu brechen und eine Arbeiter- und Bauernregierung zu bilden.

Der Brennpunkt dieser Taktik lag im Sowjet selbst. So wie die Dinge standen, tat seine Führung alles, um die Doppelmacht und die Kriegsbemühungen aufrecht zu erhalten. Er wurde von der Mehrheit der Soldaten und Arbeiter als ihre Führung angesehen. Trotz des Verrats seiner Führer repräsentierte er die einzige wirkliche Macht im Land. Deswegen warnten die Bolschewiki, als sie bei den ArbeiterInnen das Verlangen nach dem Aufstand am 18. Juni spürten, vor der Gefahr, isoliert zu werden, Sie forderten die ArbeiterInnen der Putilow-Werke, die für den 21.Juni einen Streik planten, dringend auf, „ihren berechtigten Unmut zu zügeln“.

Der Streik wurde vertagt, aber die nächsten zwei Wochen brachten keine Atempause. Die ArbeiterInnen verlangten stürmisch nach einer Antwort. Die Petrograder Garnison war in andauernder Gärung – aber eine Gefahr tauchte auf: Ein Aufstand in Petrograd würde Schritt für Schritt zerschlagen werden, wenn er nicht in der Lage wäre, Unterstützung aus den Provinzen und von der Front heranzuziehen.

In dieser Situation schrieb Lenin: „Wir verstehen eure Bitterkeit, wir verstehen die Aufgebrachtheit der Petrograder Arbeiter, aber wir sagen zu ihnen: Genossen, ein unmittelbarer Angriff wäre unklug.“

Die gesamte Baltische Flotte, die in Helsingfors stationiert war, befand sich in Aufruhr. Dort, mehr als sonst irgendwo, erkannten die Bolschewiki die Notwendigkeit, die Flut noch zurückzuhalten. Sie sahen sich jedoch durch die Ereignisse gezwungen, sich auf eine Explosion, für die sich täglich mehr Pulver anhäufte, vorzubereiten.

Der Auslöser für die Eskalation in den Juli-Tagen war der Rücktritt von vier Ministern der Konstitutionellen Demokraten. Sie fühlten, dass die Regierung nicht genug unternommen hatte, um die wachsende Macht der Massen zu zügeln, und hofften, mit ihrem Rücktritt die „Kompromißler“ innerhalb der Provisorischen Regierung zu einem Zusammenstoß mit den Arbeitern provozieren zu können, um so ihre eigene Lage zu erleichtern.

Diesen hitzigen Moment beschrieb Trotzki so: „Die Arbeiter und Soldaten waren der Ansicht, dass alle anderen Fragen – die der Löhne, des Brotpreises und ob es notwendig sei, an der Front für wer weiß was zu sterben – von der Frage abhingen, wer das Land in Zukunft regieren sollte, die Bourgeoisie oder ihr eigener Sowjet.“

Sie konnten sich daran erinnern, dass in der Vergangenheit Aktionen von unten ihnen den Erfolg gesichert hatten.

Am 3. Juli entschied sich das 1. Maschinengewehrregiment für eine bewaffnete Demonstration. Die Anarchisten schürten noch das Feuer. Es war an der Zeit, den „unentschlossenen“ Bolschewiki von unten her einen Anstoß zu versetzen. Die russische Polizei und deutsche Agenten versuchten ebenso, eine Aktion zu provozieren.

Aber weder Provokateure noch die Anarchisten hätten die Juli-Tage verursachen können, wären die fortgeschrittensten ArbeiterInnen nicht vor Ungeduld fast geplatzt. Sie hatten aus den vier Monaten an Entbehrungen gelernt, dass eine Rätemacht notwendig war; sie mussten sich aber die Taktik, die sie – zusammen mit dem Rest der Arbeiterklasse und der Soldaten an der Front – ermögliche konnte, erst noch aneignen. Die Haltung der MG-Schützen und der radikalisierten Arbeiter wurde von Soldaten des 108. Reserveregiments zum Ausdruck gebracht, als sie einem bolschewistischen Arbeiter entgegen schrieen:

„Schlaft ihr denn im Kschesinkaja-Palast (dem Hauptquartier der Bolschewiki)? Vorwärts, schmeißen wir Kerenski hinaus!“

Die unglaublichsten Szenen folgten. Barrikaden wurden errichtet. Lastwagen wurden von den Fabriken verlangt, mit Maschinengewehren bestückt und zur Demonstration geschickt. Gewehre und Handgranaten wurden an die verteilt, die keine besaßen. Die Demonstration sollte in einer voll militärischen Weise stattfinden. Ein Arbeiter der Renaud-Fabrik drückte damals seine Gefühle so aus: „Nach dem Abendessen kam eine Anzahl von Maschinengewehrschützen angerannt mit der Forderung, wir sollten ihnen einige Lastwagen geben. Trotz unserer Gruppe (der Bolschewiki) mußten wir ihnen die Wagen überlassen (…) Sie beluden die Lastwagen sofort mit Maxim-MGs und fuhren mit ihnen zum Newski-Boulevard hinunter. Zu diesem Zeitpunkt konnten wir die Arbeiter nicht mehr zurückhalten (…) Sie stürmten alle, so wie sie in ihren Overalls waren, direkt von den Werkbänken hinaus.“

Am 4. Juli bekamen die MG-Schützen die Nachricht, dass sie an die Front als Teil der neuen Offensive, die die Entente verlangte, mobilisiert würden. Das war für die MG-Abteilung, die sich dafür entschied, nicht an die Front gegen das deutsche Proletariat, sondern stattdessen gegen ihre eigenen kapitalistischen Minister auszurücken, untragbar. Um 7 Uhr war die Stadt lahm gelegt. Mit jeder Fabrik, die in den Streik trat, stieß auch eine Abteilung bewaffneter Roter Garden zur Demonstration.

Alle DemonstrantInnen waren Arbeiter und Soldaten. Auf ihren Transparenten war zu lesen: “Alle Macht den Sowjets!“ Alle waren bewaffnet. Überall hielten die Arbeiter Versammlungen ab.

Die Forderungen des Zuges spiegelten das gewachsene Bewusstsein der ArbeiterInnen wider: „Weg mit den zehn kapitalistischen Ministern!“, „Alle Macht den Sowjets!“, „Einstellung der Kriegsoffensive!“, „Konfiszierung der Druckereien der bürgerlichren Presse!“, „Alles Land in Staatseigentum!“ und „Staatliche Kontrolle der Produktion!“.

Bis dahin hatten die Bolschewiki ihr Äußerstes getan, um die spontane Erhebung zurückzuhalten.

Noch um 3 Uhr Nachts am 4. Juli schickte eine Konferenz der Petrograder Sektionen der Bolschewiki Delegierte aus, um zur „Zurückhaltung“ aufzurufen. Erst, als die Bewegung nicht mehr zu stoppen war, musste das Zentralkomitee seine Linie revidieren, indem es bolschewistische Agitatoren ausschickte, um zu versuchen, den ziellosen Zorn der Soldaten und Streikenden gegen das Exekutivkomitee des Sowjets im Taurischen Palais zu leiten. Die bewaffneten DemonstrantInnen strömten die Hauptverkehrsader der Hauptstadt, den Newski-Prospekt, hinunter.

Dann jedoch gingen regierungstreue Truppen zum Gegenangriff über. Eine Panik brach aus. Allerorten begann die Regierung nach Waffen zu suchen und zu ihrer Verteidigung und der des Exekutivkomitees des Sowjets wurden Kavallerie, Infanterie und Panzerwagen von der Front zurückbeordert, um  die Arbeiter niederzuwerfen.

Bei Anbruch der Nacht begannen die ArbeiterInnen, langsam in ihre Bezirke zurückzukehren, obwohl einige Gruppen von pro-bolschewistischen Soldaten noch standzuhalten versuchten. Die Bolschewiki riefen zu einer Beendigung der Aktion auf. Schließlich nahmen Regierungstruppen das bolschewistische Hauptquartier im Kschesinskaja-Palast und die Peter-Paul-Festung, die von den Aufständischen überrannt worden war, ein. Die Juli-Tage endeten in einer Niederlage.

Am nächsten Tag kehrten die ArbeiterInnen wieder an die Arbeit zurück. Sie berichteten, dass ihre Hände vor Aufregung zitterten und ihnen an der Drehbank nicht gehorchten.

Das Ergebnis war ein gewaltiger Umschwung von links nach rechts unter den Arbeitern. Innerhalb weniger Tage füllten sich die Gefängnisse mit politischen Gefangenen. In der Nacht vom 4. zum 5. Juli stürmten Regierungstruppen die Gebäude des bolschewistischen Zentralkomitees und Politbüros, die Druckpresse, für die die ArbeiterInnen drei Monate lang gespart hatten, wurde zerstört und die „Prawda“ geschlossen.

Schließlich wurde fast die gesamte Führungsschicht der Partei während des Monats Juli und des Großteils des August aktionsunfähig gemacht. Jedoch auch die mittleren und unteren Kader litten an einer ernsthaften Erschöpfung. Der Bericht des Politischen Komitees stellte für den Juli fest, dass die Partei kaum dazu imstande sei, Agitation unter den Massen zu betreiben.

Die Regierung begann, jene ArbeiterInnen und militärischen Einheiten, die an der Aktion teilgenommen hatten, zu entwaffnen und führte die Todesstrafe für jeglichen Akt von Befehlsverweigerung an der Front wieder ein – ein Akt von immenser symbolischer Bedeutung für die Arbeiter. Schlimmer als all dies war jedoch die Tatsache, dass das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets jedem dieser Schritte zustimmte!

Warum nahmen die Bolschewiki dann an der Demonstration teil, obwohl sie doch erwartet hatten, dass sie in einer Miederlage endet? Sie argumentierten, dass es korrekt gewesen sei, mitzudemonstrieren – denn, wenn sie behaupteten, die Partei der Massen zu sein, dann hatten sie auch mit ihr zu sein. Die Partei musste den Massen helfen, aus ihren eigenen Aktionen zu lernen und die Opfer dieses Lernprozesses so gering wie möglich zu halten. Wären die Bolschewiki nicht mit dabei gewesen, dann wäre die Führung in die Hände der Anarchisten übergegangen und die Verluste wären noch größer und noch blutiger gewesen.

Warum aber argumentierte die Partei dann gegen die Machtergreifung von dieser Position aus? Trotzki erklärte mit Bezug auf den Oktober: „Als die Bolschewiki im Oktober sich entschieden hatten, daß ihre Stunde nun gekommen sei, kamen die schwierigsten Tage erst nach der Machtergreifung. Es erfordert die höchste Kräfteanspannung der Arbeiterklasse, um die zahllosen Angriffe des Feindes auszuhalten. Im Juli besaßen nicht einmal die Petrograder Arbeiter diese Vorbereitung auf einen endlosen Kampf. Obwohl fähig, die Macht zu ergreifen, boten sie diese dem Exekutivkomitee nichtsdestoweniger an.

Das Proletariat der Hauptstadt, obwohl es in seiner überwältigenden Mehrheit den Bolschewiki zuneigte, hatte noch immer nicht die Nabelschnur des Februars, die es mit den Kompromißlern verband, zerschnitten. Viele hegten noch die Illusion, man könne alles mit Worten und Demonstrationen erreichen, d.h. indem man die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre erschreckte, konnte man sie dazu bringen, mit den Bolschewiki zusammen eine gemeinsame Politik auszuführen. Auch die fortgeschrittenen Sektionen der Klasse besaßen noch keine klare Idee davon, auf welchen Wegen es möglich wäre, zur Macht zu gelangen.“

Wenn schon die Arbeiter unvorbereitet waren, so waren es die Bauern erst recht. Die Soldaten waren ebenfalls weniger radikalisiert als die Arbeiter – nicht verwunderlich, denn die meisten von ihnen stammten aus der Bauernschaft. Dazu kommt noch, dass Moskau diesbezüglich unvergleichlich schwächer war als Petrograd.

Es muss gesagt werden, dass die Regierung versuchte, den Bolschewiki die Schuld an den Juli-Tagen zu geben, indem sie behauptete, dass die Bewegung ein geplanter Aufstandsversuch gewesen sei. Man weiß natürlich, dass dies nicht stimmte; aber diese Lüge wäre viel schwieriger zu widerlegen gewesen, wenn die Militäroffensive gerade zum Zeitpunkt der Ereignisse zusammengebrochen wäre und nicht erst einige Tage später.

Die Bolschewiki hatten recht, zu warten – und sie waren dabei nicht müßig, bis die Führung des Sowjets und die Regierung ihre Führungsschwäche offen vor den Massen bloßgelegt hatten.

Was lernten dann die Bolschewiki daraus? Ein Führer der Konstitutionellen Demokraten bemerkte später: „Als technischer Versuch war die Erfahrung (des Juli) für sie zweifelsohne von außergewöhnlichem Wert. Es zeigte ihnen, mit welchen Elementen sie es zu tun hatten, wie sie diese Elemente organisieren sollten und schließlich, welcher Widerstand von der Regierung, dem Sowjet und den Militäreinheiten geleistet werden konnte (…) Es war offensichtlich, daß sie, als die Zeit kam, um das Experiment zu wiederholen, sie es systematischer und bewußter durchführen würden.“

Und die ArbeiterInnen? Ein Brief aus den Geschützwerkstätten der Putilow-Werke drückt ihre Gefühle glänzend aus: „Schaut zuversichtlich auf die schwarzen Schornsteine, die aus dem Boden wachsen. Ihnen zu Füßen leidet und stirbt der Menschenschlag, den ihr braucht, in der Sklaverei perfektionierter und erbarmungsloser Ausbeutung. Dort reift langsam das Bewußtsein. In unseren Herzen hat sich der Haß angehäuft, und die freundlichen Bedingungen eines anderen Lebens, für die ganze Menschheit, sind mit Liebe auf die blutige Fahne geschrieben.“




Russland auf dem Weg zum Roten Oktober – Die Bolschewiki: Massenpartei der Arbeiterklasse

Workers Power, Die Taktiken der Bolschewiki in der Revolution, Kapitel 6, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

Die russischen ArbeiterInnen hatten – v.a. in Petrograd – im Juli eine herbe Niederlage erlitten. Die bolschewistische Führung war in Haft oder im Exil. Die Auflage der Parteipresse war nach dem Juli halbiert; das Zentralorgan erschien im August nur in einer Auflage von 5o.ooo. Die Stimmung in den Fabriken war schlecht.

Doch im September und Oktober hatte sich das Blatt entschieden zugunsten der Bolschewiki gewendet. Nach Jahren des Exils oder Untergrunds, nach Monaten eines Daseins als unbeugsame linke Minderheit in den Sowjets und nach den Verfolgungen im Juli hatten sich die Bolschewiki schließlich als Partei der russischen Arbeiterklasse bewiesen. Ihre unbestrittene Führerschaft befähigte sie, das spontane Bewusstsein der Arbeiterklasse in eine bewusste politische Kraft umzuformen. Ihre Methoden, die Führung zu erringen und die reformistische n Hindernisse aus dem Weg zu räumen, sind ein kostbares Vermächtnis für heutige RevolutionärInnen.

Unter Kerenskis Regentschaft mobilisierten weiter die Kräfte der bürgerlichen Konterrevolution. Der Druck von Seiten der Armeeführung verstärkte sich. Der Oberbefehlshaber Brusilow forderte von Kerenski: „Es kann keine Doppelautorität in der Armee geben. Die Armee muß einen Kopf und eine Autorität haben.“ Er forderte die vollständige Wiederherstellung der militärischen Disziplin. Kerenski, dessen eigene Rolle als Möchtegern-Bonaparte auf dem Drahtseilakt zwischen Sowjets und Konterrevolution fußte, wollte Zeit gewinnen, indem er Brusilow entließ und ihn durch Kornilow ersetzte. Kerenski gab diesem Balanceakt Gestalt durch die Einberufung einer „Staatskonferenz“ in Moskau vom 12. bis 15.August. Im Bolschoi-Theater versuchte Kerenski zwischen den gegensätzlichen Kräften – Unternehmern, Offizieren auf der rechten sowie den Sowjetabordnungen von Menschewiki und Sozialrevolutionären auf der linken Seite – den Starken Mann zu geben. Doch der offene Hass und die Angst zwischen den verschiednen Kräften machte das unmöglich. Letztlich untergrub Kerenski so seine schwache Autorität.

Eine Offensive der Konterrevolution sollte ihm dann den Rest geben. Indem sie sich an Kerenski, Zereteli und Tschernow orientierte, beging die Konterrevolution einen Riesenfehler. Sie glaubte, in diesen ausgelaugten Bankrotteuren den Kräfteschwund und Bankrott der Arbeiterklasse und Revolution zu erblicken. Dieser Fehler sollte sie aber bald teuer zu stehen kommen.

Vor dem Juli hatten sich die Bolschewiki als Führung in mehreren Kampfeinheiten der Arbeiterklasse mit Schlüsselfunktion etabliert. In den Petrograder Stadtratswahlen vom August verzeichneten sie Mehrheiten in den Arbeitervierteln von Peterhof und Wyborg. Ihr Einfluss in den Fabrikkomitees war angewachsen; 82% der Delegierten auf der allrussischen Fabrikkomitee-Konferenz im August unterstützten ihre Forderung nach Sowjetmacht. Die Bolschewiki führten einen Generalstreik in Moskau gegen die Staatskonferenz. Die versöhnlerische Führung des Moskauer Sowjets war gegen diesen Streik. Eine Resolution von jungen Putilower ArbeiterInnen belegt, dass sie nicht bereit waren, ihren Frieden mit der Bourgeoisie oder der provisorischen Regierung zu schließen: „Wir, die Jugend, haben aus der Erfahrung unserer Väter gelernt, wie gefährlich es ist, sich mit der Bourgeoisie zu verbrüdern; wir erklären, daß eine furchtbare Stunde kommen wird, wenn wir, die Jugend, uns zur Rettung der Revolution auf die Straße begeben werden, um mit unseren jungen Händen jene Schmarotzer zu zermalmen, die vom Blut und Schweiß der Fronenden leben. (Wir geben) unserer tiefen Verachtung für die Sozialrevolutionäre und Menschewiki (Ausdruck), die weiterhin mit der Bourgeoisie unter einer Decke stecken und sich von Kerenski und Zereteli an der Nase herumführen lassen.“

Den klassenbewußtesten ArbeiterInnen war offenbar klar, dass weitere Schlachten bevorstanden. Aber nach dem Juli hatten sie gelernt, wie notwendig Disziplin und Organisation sind, dass verfrühte und sporadische Kämpfe zu vermeiden sind. In dieser Situation begann die Bourgeoisie ihre Offensive sowohl gegen die provisorische Regierung wie gegen die Errungenschaften des Proletariats. Die Julitage hatten ihr das Zutrauen eingeflößt, ihren Angriff durchstehen zu können.

Am 22. Juli wurde der rechte General Kornilow zum Oberbefehlshaber ernannt. Er erklärte, dass er nur „seinem Gewissen und dem ganzen Volk“ verantwortlich sei. Auf der Moskauer Staatskonferenz wurde er von Kerenski und den bürgerlichen Ministern als „erster Soldat der Revolution“ umschmeichelt. Kornilows Aufstieg fiel zeitlich zusammen mit dem lauter werdenden Geschrei der Unternehmer nach vollständiger Wiederherstellung ihres Rechts auf Einstellung und Entlassung von Personal, worüber die Fabrikkomitees nun verfügten. Es gab ausgeklügelte Pläne zur Errichtung einer Militärdiktatur, um die Ordnung herzustellen, welche die provisorische Regierung offenkundig nicht herbeizuführen vermochte.

Die Schwäche von Kerenskis Regierung trat klar zutage. Er versuchte, der organisierten Arbeiterschaft einen Schlag zu versetzen. Am 24.August verbot er erneut die bolschewistische Presse. Doch zur selben Zeit bereitete sich die Bourgeoisie darauf vor, ihn und seine Regierung des Amtes zu entheben. Nach dem Juli schien es den Unternehmern, dass sie ganz einfach keine Verwendung mehr für die provisorische Regierung hätten. Wie auf Verabredung traten die bürgerlichen Kadetten aus der Regierung zurück, und General Kornilow kündigte einen Marsch zur Wiederherstellung der Ordnung in der Hauptstadt am 27. August an. Die lange tief stehende Aktienbörse stieg steil an, da die Kapitalisten Zuversicht über den Sieg der Konterrevolution ausstrahlten.

Die Voraussagen der Bolschewiki treffen ein

Alles, was die Bolschewiki über die menschewistischen Versöhnler und Kerenski vorausgesagt hatten, sollte sich durch den Lauf der Ereignisse bewahrheiten. Diese Arbeiterverräter gaben den Kräften der Konterrevolution Gelegenheit, neue Energien zu schöpfen und zurückzuschlagen. Die Partei wurde nun einer Prüfung im Kampf gegen die Konterrevolution unterzogen. Kornilows Marsch auf Petrograd erschütterte die Ordnung, die sich nach den Julitagen in den Fabriken etabliert hatte. Auf Zusammenkünften schworen die ArbeiterInnen, die Stadt zu verteidigen und forderten dafür von der Sowjet-Exekutive Waffen. Die Arbeiter der alten Baranowski-Maschinenbau-Fabrik beschlossen:

„Wir fordern, daß der zentrale Exekutivausschuß (TsIK) den Arbeitern Waffen aushändigt. Die Arbeiter werden ihr Leben nicht schonen und wie ein Mann die gerechte Sache der revolutionären Demokratie verteidigen und werden zusammen mit unseren soldatischen Brüdern eine unpassierbare Schranke gegen die Konterrevolution aufrichten und der Schlange, die es gewagt hat, die große russische Revolution mit ihrem tödlichen Biß zu vergiften, die Giftzähne herausbrechen.“

Tausende Petrograder ArbeiterInnen warfen sich in den Kampf, um Kornilow Einhalt zu gebieten. Mindestens 25.ooo meldeten sich bei den Roten Garden, die vom revolutionären Militärausschuss der Sowjets aufgestellt wurden. Von Putilow wurden 8.000 entsandt, um Verteidigungs- und Agitationsaufgaben zu übernehmen. Die im Werk Verbliebenen erzielten in drei Tagen einen Produktionsausstoß an Kanonen, zu dem sie sonst drei Wochen benötigten, um die Revolution zu verteidigen!

Kerenski hockte ängstlich hinter der proletarischen Mauer, die das rote Petrograd verteidigte – er hatte keine Alternative. Bolschewistische Führer wurden aus dem Gefängnis entlassen, die bolschewistische Presse wurde wieder zugelassen. Bolschewistische Militante befanden sich in vorderster Linie bei allen Mobilisierungen, um Kornilow aufzuhalten. Das Problem der Bolschewiki war, wie man diese Mobilisierungen zu einer Abkehr der Arbeitermassen von ihrem Vertrauen in die Menschewiki und Kerenski nutzen konnte und wie man die Widersprüche zwischen den Menschewiki und den Sozialrevolutionären an der Basis und ihren kompromittierten Führern verschärfen konnte.

Für Lenin lag der Schlüssel dazu in einer „indirekten“ Kampagne gegen Kerenski mit der Forderung nach einem immer aktiveren wahrhaft revolutionären Krieg gegen Kornilow. Die aufgebrachten ArbeiterInnen mussten mobilisiert  werden, um Kerenski mit Teilforderungen unter Druck zu setzen, die die Stimmung und das Selbstbewusstsein an der Basis heben sowie die Schwäche und die Schwankungen ihrer Führungen bloßstellen. Ihre Forderungen mussten die Gefangennahme des Kadettenführers Miljukow und des Duma-Vorsitzenden Rodsjanko, die beide Kornilow unterstützten, enthalten. Enthalten waren auch Forderungen nach Landübergabe an die Bauern sowie die Arbeiterkontrolle über die Fabriken und über die Verteilung von Brot.

Die Bolschewiki forderten auch die Bewaffnung der Petrograder Arbeiter und die Verlegung der militanten Kronstädter, Wyborger und Helsinkier Garnisonen nach Petrograd. Die Arbeiter im Kampf für ihre Forderungen in der revolutionären Verteidigung von Petrograd – das war für Lenin das Mittel, sie politisch voranzubringen. Darum beharrte er darauf, die Forderungen nicht nur Kerenski, sondern v.a. auch den ArbeiterInnen, Soldaten und Bauern, die durch den Verlauf des Kampfes gegen Kornilow mitgerissen worden waren, vorzulegen. Indem er Kornilow das Recht zum Sturz Kerenskis bestritt, schaufelte Lenin Kerenski und seinen Kompromißlern das politische Grab.

Dazu Lenin: „Wir ändern die Form unseres Kampfes gegen Kerenski. Ohne im mindesten in unserer Feindschaft nachzulassen, ohne ein einziges Wort zurückzunehmen, ohne auf die Aufgabe seines Sturzes zu verzichten, sagen wir, daß die gegenwärtige Lage berücksichtigt werden muß. Wir werden Kerenski nicht auf der Stelle stürzen. Wir werden die Aufgabe des Kampfes gegen ihn auf andere Art anpacken.“

Die Brücke zu den Massen

Diese Kampfmittel gegen Kornilow und Kerenski erwiesen sich als voller Erfolg. Kornilows Vormarsch wurde gestoppt, da seine Armee sich um ihn herum unter dem Druck der bolschewistischen Agitatoren und durch die Sabotage durch die militanten Eisenbahnarbeiter auflöste. Die Lage der Bolschewiki und ihr Einfluss in den Massen verbesserten sich nach der Niederlage Kornilows rasant. Ihre Anwendung der Einheitsfronttaktik, die sich auch an Kerenski und die Menschewiki und nicht nur an die Basis wandte, sicherte den Bolschewiki den Erfolg. Das Ziel war auf die Niederlage Kornilows beschränkt und wurde gerade darum von Tausenden ArbeiterInnen und Soldaten begeistert umgesetzt. Aber durch die Kombination aus Einheit in der Aktion und schonungsloser Kritik an Kerenski und der versöhnlerischen Sowjetführung bewiesen die Bolschewiki den Massen, dass sie die einzige konsequent revolutionäre Kraft waren.

Die Einheitsfront war eine Brücke zu den Massen und eine Waffe gegen die reformistischen Führer. General Kornilows Niederlage durch die Petrograder Arbeiter läutete die letzte Phase der russischen Revolution ein. Die ArbeiterInnen hatten wieder Waffen. Die Roten Garden hatten sich drastisch vergrößert. Ein neuer zuversichtlicher Ton prägte die Fabrikversammlungen überall in der Hauptstadt. Fabrik um Fabrik ersetzte ihre menschewistischen und sozialrevolutionären Sowjetdeputierten durch Bolschewiki. Resolution um Resolution auf den Massenversammlungen Anfang September machte sich die bolschewistische Forderung nach Machtergreifung der Sowjets und die Angriffe auf die Kollaboration der Sowjetführung mit der Kerenski-Regierung zu eigen. Die ArbeiterInnen von Langesiepen brachten dies sehr klar zum Ausdruck: „Wir vermuten, daß die Kornilow-Revolte euch eure schläfrigen Augen geöffnet hat und nun die Lage überblicken läßt, wie sie wirklich ist. Wir erklären, daß ihr lange für uns gesprochen habt, aber nicht unsere Meinung wiedergegeben habt; wir fordern: fangt an, die Sprache des Proletariats zu sprechen, sonst behalten wir uns die Freiheit der Aktion vor.“

Aber Kornilows Putschversuch hatte den Führern der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre nicht die Augen geöffnet, sondern sie sogar noch mehr verkleistert. Kerenski versuchte, seine Macht durch die Einrichtung eines fünfköpfigen Direktoriums zu stärken, aber die Sowjetführung unterstützte ihn weiter für ein Versprechen, ein Vorparlament einzuberufen.

Die Spannung zwischen den Ansprüchen der proletarischen Massen und den Absichten derjenigen, die sie einst als ihre Vertreter delegiert hatten, wuchs dramatisch. Im September nahm der Petrograder Sowjet zum ersten Mal eine eindeutig bolschewistische Entschließung für eine Regierung der „revolutionären Arbeiter- und Bauernschaft“ an. Der menschewistische Gegenantrag zugunsten der provisorischen Regierung konnte nur 15 von 1.ooo Delegiertenstimmen auf sich vereinen! Der Moskauer Sowjet verabschiedete vier Tage später eine bolschewistische Entschließung.

Menschewistische Spaltungen und Instabilität

Die anderen Konkurrenten um die proletarische Führung schrumpften oder waren, wie die Menschewiki, im Niedergang. Die Partei der Sozialrevolutionäre (SR) spaltete sich; ihr linker Flügel unterstützte die Forderung nach Sowjetmacht gegen ihre ehemaligen Führer. Die Mehrheit der Petrograder SR-Organisation stand hinter den Linken, die die Stimmung des roten Petrograd widerspiegelten. Dieser bedeutsame Stimmungsumschwung im Proletariat war geprägt durch die wachsende Identifizierung der aktivsten ArbeiterInnen mit der bolschewistischen Partei.

Die nimmermüde Agitation und Propaganda zur Aufdeckung des Verrats der Sowjetführung begann nun zu fruchten. In Petrograd zählten die Bolschewiki 43.000 Mitglieder, darunter 28.250 ArbeiterInnen und 5.8oo Soldaten. Die überwiegende Mehrheit der Partei war proletarisch. Das Gros der Intellektuellen jedoch ließ das Banner der Arbeiterklasse im Stich, je näher die Stunde der Entscheidung heranrückte. Jene Intellektuellen, die zur Arbeiterklasse hielten, gehörten zur Parteiintelligenz. Ihre Talente stellten sie in den Dienst der proletarischen Partei.

Der rasante Aufstieg der Bolschewiki

Der proletarische Kern der Partei wurde von der Mehrheit der ArbeiterInnen als ihre Vertretung in den Sowjets und Fabrikkomitees gewählt. Die Roten Garden bestanden im Oktober zu 44 % aus Mitgliedern der bolschewistischen Partei. Lenins Vorhutpartei umfasste nun die Massenavantgarde des russischen Proletariats. Der kometengleiche Aufstieg der Partei festigte sich im September und Oktober. Bei den Moskauer Duma-Wahlen holten die Bolschewiki 52 %, während die Menschewiki praktisch ins Nichts abstürzten. Im Oktober hatten die Bolschewiki im Moskauer Sowjet eine Mehrheit von 68 %, Menschewiki und SR kamen nur auf 16 bzw. 4 %. Die Bolschewiki waren zu einer nationalen Partei der gesamten russischen Arbeiterklasse geworden. Im September erlangten sie in Saratow die Mehrheit, in den folgenden Wochen auch in anderen Industriezentren.

Diese Tatsachen, die von bürgerlichen Historikern niemals widerlegt werden konnten, entlarven den Vorwurf, die Bolschewiki hätten als Minderheit über einen Putsch die Macht errungen, als Lüge und Verleumdung. Im Gegenteil: als Mehrheit leiteten sie eine Massenrevolution.

Die Bolschewiki hatten jene Schicht von ArbeiterInnen gewonnen, von der der Großteil des russischen Proletariats die Führung in ihren Kämpfen erwartete. Im Anschluss daran war es Aufgabe der Partei, diese Führungsposition zu nutzen, um zum Schlussangriff überzugehen gegen die Provisorische Regierung und die versöhnlerischen Arbeiterführer, die es sich in den Sesseln der Sowjet-Exekutiven bequem gemacht hatten.

Für jene ArbeiterInnen, die sich in die Partei eingereiht hatten, war es keine Frage, dass die sich verschärfende Krise nur durch die Machtergreifung der Sowjets gelöst werden konnte. Doch selbst nach dem Kornilow-Putsch lehnten die reformistischen Spitzen der Sowjets Lenins Angebot zur loyalen Opposition in den Sowjets im Falle ihrer Machtübernahem ab. So konnte die Machtübernahme durch die Sowjets nur noch in der Form einer von den Bolschewiki organisierten und geführten Machteroberung stattfinden. Eingedenk der Inbesitznahme von Land durch die armen Bauern, der Handlungsunfähigkeit der Kerenski-Regierung und angesichts der veränderten Stimmungslage in den  Sowjets beschloß die 3. Petrograder Stadtkonferenz der Bolschewiki Anfang Oktober, dass der entscheidende Augenblick zum Handeln gekommen war. Die versammelten Abgeordneten der Arbeiterführung des roten Petrograd erklärten: „All diese Umstände machen klar, dass der Augenblick für die letzte Entscheidungsschlacht, die über das Schicksal nicht nur der russischen, sondern sogar der Weltrevolution bestimmen muß, da ist.“

Erinnerungen an den Juli

Zwischen der bolschewistischen Vorhut und der Masse der ArbeiterInnen bestand eine letzte Differenz. Die Mehrheit war für Sowjetmacht. In Petrograd stimmte lediglich eine einzige Fabrik-Massenversammlung gegen die Forderung, daß der bevorstehende 2. Allrussische Sowjjetdeputierten-Kongress die Macht übernehmen solle. Dieser Streit war entschieden.

Aber noch war nur eine Minderheit der ArbeiterInnen, vornehmlich jüngere, bereit zu einem „offenen Vorgehen,“ um das Ziel zu erreichen. Die Erinnerung an den Juli war noch lebendig. Ein Rotgardist aus der Petrograder Rohrfabrik beschrieb seine böse Vorahnung, als sein Kommando die letzte Nacht vor der Revolution in der Fabrik zubrachte: „Aber mir war nicht nach Schlafen zumute. Viele Gedanken schwirrten mir im Kopf herum; vieles, was jetzt so klar ist, verstand ich noch nicht. Die Julitage standen mir noch zu lebhaft vor Augen. Das Gezisch der kleinbürgerlichen Menge erschütterte meine Gewißheit.“

Seit Juli hatte aber eine einschneidende Verschiebung im Kräfteverhältnis der Klassen stattgefunden. In den anderen Industriezentren herrschte inzwischen auch die Stimmung von Petrograd vor. Auch die Bauernschaft regte sich. Die Bolschewiki erkannten dies und waren bereit, jetzt den entscheidenden den Kampf um die Macht zu führen. Alle Bedingungen für die Machtergreifung durch die Arbeiterklasse waren vorhanden.

In dieser Situation konnte nur ein entschiedener Vorstoß der Vorhut den Massen die von der Mehrheit ersehnte entscheidende Auseinandersetzung herbeiführen, auch wenn viele davor zurückschreckten. Lazis, der Organisator des Wyborg-ßezirks, drückte dies treffend aus: „Der organisierte Apparat muß beim Vorstoß die vorderste Linie bilden; die Massen werden folgen. Es ist ganz anders als früher.“

Die Bolschewiki hatten im Juli gelernt, dass der Aufstand nicht nach dem Muster der bürgerlichen Revolution von 1789 in Frankreich ablaufen konnte, wo sich die große Masse des Volkes wie ein Mann gegen das alte Regime erhob. In der modernen kapitalistischen Gesellschaft bedarf die Kunst des Aufstands einer überaus sorgfältigen Planung. Die technische Vorbereitung muss sich an die politische Vorbereitung anschließen. Mit der Eroberung der Massen waren die Bolschewiki verpflichtet, die zum Sieg im Aufstand nötige geheime Vorbereitungsarbeit aufzunehmen. Die Partei musste die Waffen für den Aufstand schmieden. Trotzki bemerkte dazu: „Genau wie ein Schmied nicht das glühende Eisen mit der bloßen Hand ergreifen kann, so kann das Proletariat nicht direkt die Macht ergreifen; es muß über eine Organisation verfügen, die dieser Aufgabe angemessen ist. Die Koordination des Massenaufstands mit der Verschwörung zum Aufstand sowie die Organisation der Aufstände durch die Verschwörung bilden jenen vielschichtigen und verantwortungsvollen Teil revolutionärer Politik, den Marx und Engels ‚die Kunst des Aufstands‘ nannten. Sie setzt eine korrekte allgemeine Führung der Massen, eine wendige Orientierung unter sich wandelnden Bedingungen, einen durchdachten Angriffsplan, Vorsicht bei der technischen Vorbereitung und einen wagemutigen Schlag voraus.“

Die Führung des Proletariats hatten die Bolschewiki errungen – nun bereiteten sie sich darauf vor, diesen „wagemutigen Schlag“ zu führen und die Staatsmacht für die Sowjets zu erobern. Am 22. Oktober kamen die Petrograder ArbeiterInnen auf einer Reihe von Veranstaltungen zusammen, um den „Tag des Petrograder Sowjets“zu feiern. Arbeiter aus der Partei sprachen auf Versammlungen in Fabrikhallen, um Provokation und Konfrontation zu vermeiden. 30.000 wohnten einer Veranstaltung im zentralen Volkshaus bei, auf der Trotzki die Zuhörerschaft mit der Forderung, die Revolution bis zum Ende zu führen, elektrisierte. Ein Sozialrevolutionär beschrieb, dass auf Fabrikversammlungen jener Zeit „unsere Reden zum Scheitern verurteilt schienen.“ Der Menschewist Suchanow verließ das Volkshaus ganz benommen: „Außergewöhnlich schweren Herzens beobachtete ich diese wahrhaft majestätische Szenerie. In ganz Petrograd spielte sich dasselbe ab. Überall letzte Rückblicke und Schwüre. Streng genommen war das schon der Aufstand. Er hatte bereits begonnen.“

Diejenigen, die  die Brücken, Postämter und Bahnhöfe einnehmen und die die Provisorische Regierung gefangen nehmen sollten, wussten: die Masse der ArbeiterInnen stand hinter ihnen. Dies flößte den Bolschewiki das Vertrauen und den Mut zum Handeln und die Siegesgewissheit ein.




Russland auf dem Weg zum Roten Oktober – Lenins Kampf für den Aufstand

Workers Power, Die Taktiken der Bolschewiki in der Revolution, Kapitel 7, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

Der Oktoberaufstand, der den ArbeiterInnen und den armen Bauern die Macht in die Hand gab, war kein historischer Zufall. Er ergab sich aus zwei für den Sieg jeder proletarischen Revolution ausschlaggebenden Faktoren.

Er entstand unvermeidbar aus der sich verschärfenden Krise im Herbst 1917. Die Februarrevolution, die den Zaren gestürzt hatte, führte zu einer instabile Periode der Doppelherrschaft. Die Bourgeoisie hatte mittels der provisorischen Regierung die formale Kontrolle über den Staatsapparat, aber nur, weil die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernsowjets es ihr erlaubten. Die Bourgeoisie lebte, atmete und versuchte zu regieren dank der reformistischen Sowjetführer, den Menschewiki und dem rechten Flügel der sich auf die Bauern stützenden Sozialrevolutionäre.

Im Lauf der Monate wurde die Situation der Doppelherrschaft immer unannehmbarer sowohl für die Kapitalisten wie für die arbeitenden Massen. Dies verursachte Krise auf Krise. So oder so musste die Frage gelöst werden. Entweder würde die Bourgeoisie einen zweiten Kornilow in Marsch setzen, um die Revolution zu zermalmen, oder das Proletariat würde die Gesellschaft aus der Sackgasse führen – durch die Errichtung seiner Herrschaft.

Im Herbst 1917 waren dies die Alternativen für die Klassen in Russland. Es war die objektive Voraussetzung für den Aufstand. Trotzki bemerkte dazu später: „Eine Massenerhebung ist kein isoliertes Unterfangen, das dann heraufbeschworen werden kann, wenn es einem passt. Sie verkörpert ein objektiv bedingtes Element in der Entwicklung einer Revolution, wie die Revolution einen objektiv bedingten Prozeß in der Entwicklung der Gesellschaft darstellt.“

Die Geschichte hat jedoch allzu oft gezeigt, dass günstige objektive Voraussetzungen wie eine zugespitzte revolutionäre Krise nicht allein eine Sieggarantie für das Proletariat sind. Dies hat sich mit tragischem Ausgang in Chile, Portugal oder im Iran erwiesen. Zur Mobilisierung der Arbeiterklasse für den direkten Kampf um die Macht und zum Zusammenschweißen in ein Kampforgan, das den bürgerlichen Staat zerstören kann, bedarf es einer bewussten Führung, eines subjektiven Faktors.

Der Oktoberaufstand bewies, dass die revolutionäre Partei, bewaffnet mit korrektem Programm, Taktik und Strategie und bereit, auch sich und die Klasse mit Gewehren auszurüsten, eine unverzichtbare Vorbedingung für den Sieg ist.

Unmittelbar nach der Kornilow-Episode glaubte Lenin, dass ein friedlicher Verlauf der Revolution wieder möglich sei. In seinem Artikel „Über Kompromisse“ erklärte er, falls „Alle Macht den Sowjets!“ unverzüglich verwirklicht werden könnte, d.h. falls die menschewistischen und SR-Führer in den Sowjets durch den Druck der Massen zum Bruch mit der Bourgeoisie gezwungen werden könnten, dann: „könnte [das] mit größter Wahrscheinlichkeit eine friedliche Vorwärtsentwicklung der ganzen russischen Revolution gewährleisten und außerordentlich viel dazu beitragen, daß die internationale Bewegung für den Frieden und den Sieg des Sozialismus große Fortschritte macht.“

Die geringe Chance zu diesem Kompromiss lag darin, dass die ArbeiterInnen der Bourgeoisie nach dem Kornilow-Putsch aufs Äußerste misstrauten. Ihr Druck war ein handfester Faktor. Er konnte vielleicht bis zu einem Punkt ausgedehnt werden, wo Menschewiki und Sozialrevolutionäre zu einem zumindest formalen Bruch mit der Hauptpartei der Kapitalisten, den Kadetten, gezwungen sein würden.

Loyale Opposition wird abgelehnt

Doch noch ehe die Tinte seines Artikels getrocknet war, erfuhr Lenin, dass Kerenski vorhatte, sein fünfköpfiges Direktorium zu bilden und so seinem Drang nach Errichtung einer bonapartistischen Diktatur für die Bourgeoisie zu verstärken. Sogar jetzt weigerten sich Menschewiki und SR, den Vorschlag für eine rein „sozialistische“ Regierung, die sich auf die Sowjets stützt, zu erwägen. Darin würden die Bolschewiki die Rolle einer loyalen Opposition akzeptieren. Nach Erhalt dieser Nachricht schlug Lenin die Umbenennung des Artikels in „Nachträgliche Gedanken“ vor. Er schrieb: „Die wenigen Tage, in deren Verlauf eine friedliche Entwicklung noch möglich war, sind wohl auch schon vorbei. Ja, als allem ist ersichtlich, daß sie schon vorbei sind.“

Von da an konzentrierte Lenin seine Gedanken darauf, wie die Revolution unter bolschewistischer Führung voranzutreiben sei. Binnen 14 Tagen schloss er, dass der Aufstand eine unmittelbare Notwendigkeit war. Während der folgenden Wochen focht Lenin einen schonungslosen Kampf, um die Bolschewiki für diese Perspektive zu gewinnen. Er erfasste rasch, dass sich die objektive Lage binnen Wochenfrist dramatisch verändert hatte. Er kämpfte deshalb darum, die Partei entsprechend zu verändern und den subjektiven Faktor den objektiven Aufgaben anzupassen.

Die Krise der Doppelherrschaft vertiefte sich im September und Oktober immer mehr. Auf dem Land nahmen die Bauernmassen ihren grimmigen Krieg gegen die Landbesitzer wieder auf. Die Landfrage, von Trotzki „Untergrund der Revolution“ genannt, erhielt ausschlaggebende Bedeutung. Traditionell sahen die Bauern in den Sozialrevolutionären ihre Vertreter. Doch diese arbeiteten offen mit den Landbesitzern zusammen. Die provisorische Regierung, deren fester Bestandteil die SR waren, erklärte im September, als die Fälle von Gewalt gegen Grundbesitzer von 440 im August auf 958 anstiegen, dass: „jedermann alarmiert sein muss wegen der überall in den wildesten Formen herrschenden Unordnung.“

Um die Mistgabeln in den vollgefressenen Bäuchen der Grundeigentümer sorgten sich die SR weit mehr als um den riesigen Landhunger unter den Bauernmassen. Den Bauern konnten die Sozialrevolutionäre nur zu einem unbestimmten Zeitpunkt eine von der Bourgeoisie erfolgreich verhinderte konstituierende Versammlung anbieten, die dann die Landfrage lösen würde.

Unbeeindruckt davon setzten die Bauern ihren Landkrieg fort. Im Oktober fanden 42,1 % der Landbesetzungen seit dem Sturz des Zaren statt.

Natürliche BundesgenossInnen

Der von den Sozialrevolutionären verschmähte und von der Bourgeoisie bekämpfte bäuerliche Landkrieg hatte einen natürlichen Bundesgenossen im revolutionären Kampf der Arbeiterklasse gefunden. Das wiederum bestärkte das Proletariat als Führer aller Geknechteten in Russland ungeheuer. Trotzki sagte: „Damit der Bauer sein Land bebauen und einfrieden kann, muss der Arbeiter an der Spitze des Staates stehen: das ist die einfachste Formel für die Oktoberrevolution.“

Der Landkrieg und der Kampf des Proletariats wurden zunehmend verwoben mit einer Welle von Kämpfen um Autonomie der im Zarenreich gefangenen Nationalitäten. Im Osten kämpften BaschkirInnen und KasachInnen um Autonomie als ein Mittel, Land zu erhalten. Überall im Reich brachen nationale Kämpfe aus und richteten sich gegen Kerenskis entschlusslose Provisorische Regierung. Außerdem zeigte die unglaubliche Verbreitung von Sowjets in den Nationalitäten zusehends, dass Autonomie mit Sowjetmacht identifiziert wurde.

Die Fortsetzung des Krieges und die Gefahr einer Hungersnot steigerten unter den Soldaten, Seeleuten und ArbeiterInnen die Feindseligkeit gegen Kerenski. Die Ostseeflotte war von den Bolschewiki dominiert. Garnison um Garnison folgte ihnen. Die Sowjets wiesen allmählich immer klarere Mehrheiten für die Bolschewiki auf, als sich die Krise verschärfte. Der Prozess der Radikalisierung begann Anfang September. Als einige Bolschewiki Lenins „Über Kompromisse“ zu Gesicht bekamen, zeigten sie sich empört darüber, dass ein rechter Kurs eingeschlagen werden sollte. Slutzki vom Petrograder Komitee meinte am 7. September: „In den Fabriken und auch unter den armen Bauern beobachten wir eine Bewegung nach links (…) Wenn wir jetzt Kompromisse in Erwägung ziehen, ist das lächerlich. Keine Kompromisse! (…) Unsere Aufgabe ist die Klärung unserer Position und die bedingungslose Vorbereitung auf den militärischen Zusammenstoß.“

Doch Lenin selbst kam bald zu derselben Schlussfolgerung. Die Krise war ausgereift. Eine Verzögerung würde sich als unheilvoll erweisen. Die Bolschewiki mussten den Aufstand vorbereiten.

Lenins Ansichten wurden dem Zentralkomitee(ZK) in einer Reihe von Briefen übermittelt und am 15. September erörtert. Lenin legte dar, dass die kommende demokratische Konferenz, zu der die Bolschewiki eine starke Delegation entsenden wollten, nicht das anstehende Problem lösen würde: die Regierungsfrage. Er meinte, dass Menschewiki und SR die Konferenz schwerpunktmäßig auf das Kleinbürgertum ausrichten würden. Sie würde die Bauern und ArbeiterInnen täuschen.

Zur selben Zeit wuchs die Autorität des Bolschewismus stetig. Lenin schrieb:

„Wir haben die Chance eines sicheren Sieges, denn das Volk ist schon fast erschöpft, und nachdem wir ihm die Bedeutsamkeit unserer Führung in den Kornilow-Tagen gezeigt haben und den Block-Mitgliedern einen Kompromiss angeboten haben, den diese dann abgelehnt haben in einer Situation von seither andauernden Hin und Her, dann eröffnen wir dem ganzen Volk einen sicheren Ausweg.“

Dieser Ausweg war eine bolschewistische Regierung, die nur amtieren konnte, wenn die reformistische Führung und der gesamte bürgerliche Staatsapparat hinweggefegt sein würden. Alle Anstrengungen der Bolschewiki sollten auf die Fabriken und Kasernen, nicht auf die demokratische Konferenz angelegt sein. Lenin argumentierte, dass die demokratische Konferenz vor die Wahl gestellt werden sollte, entweder das bolschewistische Programm voll zu akzeptieren, anderenfalls würde es einen Aufstand geben.

In Erwartung von Opposition aus den eigenen Reihen eröffnete er die Auseinandersetzung mit den wankelmütigen Elementen durch die Erklärung, dass diese im „Lager der Zauderer“ gelassen werden sollten. Lenins neuer Kurs traf das ZK wie eine Bombe. Kopien der Briefe wurden vernichtet, aus Angst, sie könnten nach außen gelangen. In dieser Phase war niemand für eine sofortige Erhebung. Die Planungen der Bolschewiki für die demokratische Konferenz waren entlang der politischen Linie, wie sie in „Über Kompromisse“ dargelegt worden war, gelaufen.

Die Erklärung für die Konferenz rief die Versöhnler zum Bruch mit der Bourgeoisie und zur Übergabe der Macht an die Sowjets auf. Sie wandte sich mit einer Reihe von Forderungen an die Versöhnler, aber nicht, wie Lenin es wollte, in Form eines Ultimatums.

Stimmen für die Koalition

Die am 14. September eröffnete demokratische Konferenz war auch dazu bestimmt, mehr eigene Parteigenossen für Lenins Position zu gewinnen. Lenin sollte mit seinen Bedenken über die Zusammensetzung der Konferenz richtig liegen. Der Delegiertenschlüssel war sorgsam ausgeklügelt; die Bolschewiki, die schon die Mehrheit in den Sowjets errungen hatten, befanden sich am Eröffnungstag in einer verschwindenden Minderheit: 532 Sozialrevolutionäre (unter ihnen 71 Linke), 530  Menschewiki (davon nur 56 Internationalisten) und nur 134 Bolschewiki. Die Arbeiterklasse war damit klar unterrepräsentiert.

In dieser Zusammensetzung stimmte die Konferenz erwartungsgemäß für eine weitere Koalition der Sowjetparteien mit den Kadetten, die noch wenige Wochen zuvor Hand in Hand mit Kornilow gearbeitet hatten. Die Konferenz setzte sich fort mit der Einrichtung eines Rates, einem Vorparlament, das nur ein  Beratungsorgan für die Provisorische Regierung sein sollte.

Diese Erfahrung überzeugte Trotzki und Swerdlow, dass die Losung „Alle Macht den Sowjets“ nun nur noch gegen die Versöhnler zu verwirklichen war. Für sie wurde sie zur Aufstandslosung. In der Mitte der Konferenz näherten sie sich sichtlich Lenins Position.

Der Streit über den Aufstand wurde jetzt in Form der Frage ausgetragen, ob die Bolschewiki das Vorparlament boykottieren sollten. Trotzki war für einen solchen Boykott und trat dafür im ZK ein. Er erhielt 9 gegen 8 Stimmen, doch die Knappheit des Resultats legte es dem ZK nahe, die bolschewistische Konferenzdelegation zu befragen. Die Delegation repräsentierte stärker die Regional- und Stadtkomitees als die Parteibasis. Sie tendierten nach rechts. Zu Trotzkis und Lenins Verärgerung stimmten sie mit 77 bei 5o Gegenstimmen für eine Teilnahme am Vorparlament. Lenin schrieb: „Trotzki war für den Boykott. Bravo, Genosse Trotzki! Diese Position wurde in der bolschewistischen Gruppe auf der demokratischen Konferenz niedergestimmt. Lang lebe der Boykott. Wir können und dürfen uns unter keinen Umständen mit der Teilnahme abfinden (…) Es besteht nicht der leiseste Zweifel, dass es bemerkenswerten Wankelmut mit möglicherweise verheerenden Folgen an unserer Parteispitze gibt.”

Trotzdem wendete sich das Blatt in der bolschewistischen Partei zu Lenins Gunsten. Seine Briefe waren auch weiteren Parteikreisen bekannt geworden. Frische Kräfte von der proletarischen Parteibasis schalteten sich in die Diskussion ein und gaben Lenins Linie Rückendeckung. Seine Ungeduld, auch seine Drohung, aus dem ZK zurückzutreten, trug Früchte. Den ersten Sieg errang er, als das ZK am 5. Oktober doch noch beschloss, das zahnlose Vorparlament zu boykottieren. Das kündigte die bolschewistische Überzeugung an, dass die Zukunft der Revolution nun ausschließlich im Kampf um die Sowjetmacht lag.

Trotzki schrieb: „Wir verließen die Konferenz, um zu sagen, dass nur die Sowjetmacht die Losung des Friedens aufstellen und über die Köpfe der internationalen Bourgeoisie hinweg dem Proletariat der ganzen Welt zurufen kann. Lang lebe der direkte und offene Kampf für die revolutionäre Macht im Land.“

Dieser Auszug aus dem Vorparlament erhielt nahezu einhellige Zustimmung durch Resolutionen aus Fabriken aus ganz Russland. Es war das Zeichen, dass das Proletariat genug hatte vom Gemauschel ihrer Führer mit Kerenski und der Bourgeoisie. Jetzt war es Zeit für einen völligen Umschwung gekommen.

Eine neue Dimension

Am 10. Oktober trat das ZK erneut zusammen, um Lenins Positionen zu beraten. Diesmal kam er in seiner Verkleidung (laut Kollontai sah er aus wie ein evangelischer Geistlicher) und nahm teil, obwohl er Gefahr lief, von Kerenskis Polizei verhaftet zu werden. Lenins Resolution fügte seiner Einschätzung der Situation eine neue Dimension hinzu: eine Erhebung in Russland könnte einen europaweiten Aufruhr entfachen.

Lenin hielt die Nachricht von Unzufriedenheit unter den Matrosen der deutschen Flotte für so wichtig, dass er seine Resolution wie folgt begann: „Die internationale Lage, wie sie die russische Revolution betrifft“. Dieser Aspekt an Lenins Strategie ist später von den Stalinisten, deren Lehre vom „Sozialismus in einem Land“ einem wesentlichen Element von Lenins Marxismus widerspricht, systematisch heruntergespielt worden.

Lenins Resolution gelangte zur Abstimmung und es war klar, dass die Scheidelinie die beiden Positionen teilen würde, die das Schicksal der Revolution durch einen Aufstand in naher Zukunft lösen wollte oder die einen Aufschub des Aufstandes und die Anerkennung der „Oppositionsrolle“ in einem demokratischen (d.h. kapitalistischen) Russland wollte. Die Resolution war klar: „In der Erkenntnis, dass ein bewaffneter Aufstand unvermeidbar und die Zeit dafür absolut reif ist, weist das Zentralkomitee alle Parteigliederungen an, sich entsprechend zu verhalten und alle praktischen Fragen von diesem Standpunkt aus zu entscheiden.“

Die Resolution wurde mit 10 zu 2 Stimmen angenommen. Die Gegenstimmen kamen von zwei engen Vertrauten Lenins: von Sinowjew und Kamenew. Beide waren vom ersten Tag an, an dem Lenin den Aufstand befürwortete, bis zum schicksalhaften Tag selbst dagegen. Besonders Kamenew stand ständig auf dem rechten Parteiflügel und hatte sich nie wirklich mit Lenins Aprilthesen abgefunden. Bis in den August hinein versuchte er, die Brücke zur 2. Internationale zu schlagen, indem er sich offen für die Teilnahme an einer beantragten reformistischen Friedenskonferenz in Stockholm aussprach. Das war ein offener Bruch mit der abgestimmten bolschewistischen Politik gegen eine Teilnahme.

Nach Kornilows Putschversuch stürzte sich Kamenew auf Lenins „Über Kompromisse“ und schickte sich an, ihn äußerst rechts und konstitutionalistisch zu interpretieren. Als Lenin den Kurs änderte und für einen Aufstand eintrat, bezeugen die ZK-Protokolle folgenden Antrag Kamenews:

„Nach der Befassung mit Lenins Briefen weist das ZK deren praktische Vorschläge zurück, ruft alle Organisationen auf, sich allein an die Weisungen des ZK zu halten und bekräftigt abermals, dass das ZK jede Art von Demonstration in den Straßen für unstatthaft ansieht.“

Dieser Antrag wurde vom ZK abgelehnt, das Lenins Vorschläge noch nicht rundheraus verwerfen wollte.

Ängste

Kamenew nutzte die Angst aus, die „Zuckung des Zweifels“, wie Trotzki sie nannte, die sich in der Partei seit der Juli-Niederlage ausgebreitet hatte. Dadurch hatte Kamenew mehr Rückhalt als vor dem Juli. Vor allem nahm er Sinowjew für sich ein.

Sinowjew hing an der Idee, dass mit der Niederlage Kornilows Lenins Perspektive einer friedlichen Entwicklung zu „Alle Macht den Sowjets“ zeitlose Gültigkeit erhalten hatte. Im Fall, dass der bevorstehende 2. Nationalkongress der Sowjets stattfand, was beileibe nicht sicher war, würde der Einfluss des Bolschewismus immer mehr wachsen. Sinowjews Gradualismus, der sich mehr auf das politische Leben in den Sowjets orientierte als bei Kamenew, drückte sich in einem Artikel vom 27. September aus: „Nach unserer Meinung ist der am 20. Oktober beginnende Sowjetkongress die allmächtige Autorität über das russische Land. Wenn der Kongress zusammentritt, und falls es dazu kommt, wird die Erfahrung mit der neuen Koalition (unter Kerenski) gescheitert sein und zaudernde Elemente werden sich schließlich unserer Losung „Alle Macht den Sowjets“ anschließen. Von Tag zu Tag werden wir stärker werden.“ In dieser Perspektive werden tragende Entscheidungen dem Zufall oder Schicksal überlassen.

Einwände gegen den Aufstand

Sinowjew und Kamenew meinten, unterstützt von anderen prominenten Bolschewiki wie Nogin, Rykow und Rjasanow, dass Lenins Forderung nach einem Aufstand zu früh käme. Die Zeit wäre nicht reif dafür. Die Massen wären vermutlich noch nicht bereit. Besonders Kamenew glaubte, dass eine Koalition aus Sowjetparteien einschließlich Bolschewiki (was Lenin heftig befehdete) aus der demokratischen Konferenz entstehen könnte. Während Trotzki in jeder Wortmeldung bei der Konferenz auf die Notwendigkeit der Sowjetmacht pochte, meinte Kamenew: „Der einzig gangbare Weg besteht darin, dass die Staatsmacht in Demokratie übergeht, nicht in die Hände der Arbeiter- und Soldatendeputierten, sondern in jene Demokratie, die hier bestens vertreten ist. Wir müssen eine neue Regierung und eine Institution schaffen, der jene Regierung verantwortlich sein muss.“

Auf einer Konferenzpräsidiumssitzung fuhr er fort, die Menschewiki und SR des bolschewistischen Beistands für eine Regierung zu versichern, die ein „homogenes demokratisches Kabinett“ wäre. Er sagte: „Wir werden eine solche Regierung nicht stürzen. Wir werden sie insoweit unterstützen, wie sie eine rein demokratische Politik verfolgt und das Land zu einer konstituierenden Versammlung hinführt.“

„Unterstützung insoweit“ lautete die alte verrottete Formel, die er und Stalin im März verwendet hatten und gegen die Lenins Aprilthesen zielten. Auf der demokratischen Konferenz tauchte sie wieder auf. Selbst die Schlappe dieser Konferenz und des Vorparlaments konnte Kamenew nicht davon abbringen. Er sperrte sich bis zuletzt gegen einen Boykott.

Die entscheidende Auseinandersetzung mit Lenin und Trotzki kam eine Woche nach dem historischen Treffen vom 1o. Oktober. Eine stark erweiterte ZK-Sitzung fand am 16. Oktober unter Teilnahme auch von Vertretern verschiedener Komitees statt. Dort zeigte sich, dass die schwankenden Elemente eine starke Strömung in der Partei verkörperten. Obwohl Lenins Resolution für einen Aufstand erneut angenommen wurde (19 gegen 2 Stimmen), wurde ein Antrag von Sinowjew, bis zum 2. Sowjetkongreß zu warten, nur mit 15 gegen 6 abgelehnt. Bedenkt man, dass die Einberufung des Kongresses gar nicht sicher war, zeigte diese – Lenin schroff entgegenstehende – Resolution das Ausmaß des Rückhalts für Sinowjew. Diese Kräfte waren nur für einen Aufstand im abstrakten Sinne. Angesehene Persönlichkeiten wie Kalinin sprachen vom Aufstand wie von einem fernen Ereignis. Aber die Würfel waren dennoch gefallen.

Sinowjew und Kamenew verrieten angesichts dieses Beschlusses die Partei. Sie verbreiteten unverzüglich unter den Parteimitgliedern ein Schreiben gegen den Beschluss. Das enthüllte mehr denn je den opportunistischen Kern ihrer Perspektive. Sie fragten, ob Russland reif sei für den Aufstand und erwiderten: „Nein, tausendmal nein!“

Sie setzten all ihre Hoffnungen auf die „ausgezeichneten“ Chancen der Bolschewiki, die größte oppositionelle Kraft in der Konstituante zu werden. Sie argumentierten wie der Reformist Hilferding einige Jahre später, dass Sowjetmacht und bürgerliche Demokratie miteinander verbunden werden sollten: „Auch die konstituierende Versammlung kann sich nur auf die Sowjets in der revolutionären Arbeit verlassen. Die konstituierende Versammlung plus Sowjets, das ist der Mischtypus staatlicher Institution, auf die wir zusteuern.“

In der Konsequenz taten sie die Krise, die Russland überflutet hatte, als etwas ab, das eine noch einzuberufende konstituierende Versammlung lösen könnte. Trotzki schrieb später, dass diese Perspektive auf „schicksalsergebenem Optimismus“ beruhte, der „der Arbeitervorhut Hände und Füße bindet und sie mit Hilfe der ‚demokratischen‘ Staatsmaschinerie zu einem oppositionellen Schatten der Bourgeoisie namens Sozialdemokratie macht.“

Ihre Gegnerschaft zum Aufstand konnte noch als Fehler erklärt werden, und ihre Kampagne zur Rücknahme des Beschlusses vom 16. Oktober war ein Verstoß gegen den demokratischen Zentralismus; ihr nächster Schritt allerdings war, wie Lenin sagte, Streikbruch.

In einem Artikel für Gorkis unabhängige Zeitung „Nowaja Shisn“ erklärte Kamenew öffentlich seine Opposition gegen den ZK-Beschluss zum Aufstand – obwohl dieser Beschluss aus offenkundigen Sicherheitsgründen nicht veröffentlicht worden war. Kamenew gab also Kerenski praktisch eine Vorankündigung des Plans der Bolschewiki.

Streikbrecher

Lenin war entschlossen, den Kampf gegen die unsicheren Elemente, die nun zu Streikbrechern geworden waren, auszufechten. Sinowjew hatte Kamenews Verrat beigepflichtet und wurde daher von Lenin als mitverantwortlich gebrandmarkt. Lenin beantragte ihren Parteiausschluss und schrieb: „Es ist nicht leicht für mich, dies über Leute zu schreiben, die einst vertraute Genossen waren, aber ein Zögern würde mir hier wie ein Verbrechen vorkommen, denn eine Partei von Revolutionären, die nicht prominente Streikbrecher bestraft, würde untergehen.“

Das ist eine Lehre für alle RevolutionärInnen heute. Die Partei hatte Kurs auf den Aufstand genommen. Die Entscheidung darüber war demokratisch gefallen. Sinowjew und Kamenew hatten ihre Argumente vorgetragen und verloren. Daraufhin haben sie die Partei verraten. Für Lenin konnte an diesem Punkt der Kampf gegen den Wankelmut nicht auf halbem Weg stehen bleiben, nur weil diese Männer Freunde und Genossen waren. Das Gut der Revolution, der Wille zum Sieg forderte ihren Ausschluss.

Am Ende wurden sie aber doch nicht ausgeschlossen. Stalin veröffentlichte sogar zu dieser Angelegenheit eine redaktionelle Notiz, worin er Lenins Ton kritisierte und sich mit Sinowjew solidarisierte. Aber mit ihrer Aktion zerstörten Sinowjew und Kamenew die Aussicht, den Parteibeschluss umzustoßen.

Danach drängte Lenin, der immer ungeduldiger wurde, darauf, den Angriff zu unternehmen. Am Vorabend der Revolution, an dem er jeden Aufschub als mögliche neue Unschlüssigkeit interpretierte, sagte er über das ZK: „Ich versteh sie nicht. Wovor haben sie Angst (…) Man frage sie, ob sie hundert treue Soldaten oder Rotgardisten mit Gewehren haben. Mehr brauche ich nicht.“

Tatsächlich hatte er gewonnen. Die Verzögerungen Ende Oktober waren eher technisch als durch politische Schwierigkeiten bedingt. Als er dann – ohne ZK-Erlaubnis – am Spätabend des 24. Oktober im Hauptquartier Smolny ankam, standen die Dinge gut. Lenin hatte den entscheidenden subjektiven Faktor, die revolutionäre bolschewistische Partei auf die Höhe der Aufgaben und des Potentials der objektiven Situation gebracht.




Russland auf dem Weg zum Roten Oktober – Der Oktoberaufstand

Workers Power, Die Taktiken der Bolschewiki in der Revolution, Kapitel 8, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

Trotzki und Swerdlow vervollkommneten die Taktik zur proletarischen Machtergreifung, zu der Lenin die Partei drängte. Dieses Mittel sollte ein bewaffneter Aufstand sein, der durch den Revolutionären Militärausschuss (RMA) organisiert werden sollte. Zeitlich sollte er mit dem 2. Sowjetkongress zusammenfallen und diesem die Macht übertragen. Der harte Kampf Lenins und der Parteibasis sollten nun Früchte tragen.

Lenin bevorzugte eine Erhebung, die durch den Sowjetkongress in der Nordregion Mitte Oktober geführt werden sollte. Seine Ungeduld verleitete ihn jedoch zur Unterschätzung der Aufgabe der Vorbereitung des Aufstands. Seine Hauptverbündeten gegen die Unschlüssigen, Trotzki, Swerdlow, Antonow-Owsejenko, Bubnow und Sokolnikow, waren in der Frage, wann und wo der Aufstand durchzuführen sei, anderer Meinung.

Während Lenin die Stimmung der ArbeiterInnen für einen Aufstand gespürt hatte und danach handelte, begriffen diese GenossInnen, die in engerem Kontakt zu allen Teilen der Massen standen, die Umstände, unter denen die Massen einen Aufstand wirklich unterstützen würden.

Von Anfang an war es ihr Plan, die Macht dem 2. Allrussischen Sowjetkongress zu übertragen. Dies sollte durch einen Aufstand zur Verteidigung dieses Kongresses geschehen – gegen den Versuch der provisorischen Regierung, den Kongress  und somit die Revolution zu zerschlagen.

Der 16. Oktober zeigte die Richtigkeit ihres Vorgehens. Durch die Unterminierung von Kerenskis Autorität und militärischer Macht bis zum Wochenende des 21.//22. Oktober schufen sie die Voraussetzungen für einen sicheren Sieg am 24./25. Oktober.

Es war klar, dass die Massen die Sowjetmacht wollten. Swerdlow und Trotzki waren mit ihrer Kampagne, die Sowjets für den Kampf um die Macht zu vereinigen, so erfolgreich, dass Lenin die Korrektheit ihrer Linie anerkennen musste. Die ersten Schüsse in der Aufstandskampagne wurden während der Garnisonskrise, die am 9. Oktober begann, abgefeuert. Kerenski versuchte, den Hauptteil der Garnison aus Petrograd abzuziehen, weil dieser fast vollständig zu den Bolschewiki übergelaufen war.

Dieser Schachzug, der richtigerweise als Mittel zur Vorbereitung einer Konterrevolution beargwöhnt wurde, stieß auf Empörung. Auf einem Treffen des Egerski-Wachregiments wurde folgendes beschlossen: „Der Abzug der revolutionären Garnison aus Petrograd wird nur vom privilegierten Bürgertum als Mittel zur Erstickung der Revolution gebraucht.“ Das Treffen gipfelte in der Forderung nach Sowjetmacht.

Während der nächsten Woche nutzten die Bolschewiki diese Krise aus, um den Revolutionären Militärausschuss der Sowjets zu bilden. Seine Aufgabe war es, die Revolution zu verteidigen. Der RMA war mit Bolschewiki, linken SR und Anarchisten besetzt. Als sich die Krise aber zuspitzte, wurde ihre Leitung durch die Bolschewiki, v.a. von Trotzki, offenbar. Die Beziehung zwischen der bolschewistischen Militärorganisation und dem RMA war ein wesentlicher Faktor für den  Erfolg des Aufstandes. Erfolgreich brachte Trotzki auf dem ZK am 20. Oktober seine Meinung durch, dass der RMA das geeignete Aufstandsorgan wäre. Zur militärischen Organisation entschied das ZK: „alle bolschewistischen Organisationen können Teil des revolutionären Zentrums, das durch den Sowjet organisiert ist, werden.“

Lenin fürchtete die Rechtslastigkeit der militärischen Organisation der Partei. Sie wollte den Aufstand um zwei Wochen verschieben. Lenin unterstützte den Standpunkt, dass der RMA den Aufstand organisieren sollte und machte sich daran, die bolschewistischen Militärführer Newski, Podwojski und Antonow davon zu überzeugen. Die Partei löste sich nicht im RMA auf. Eine Vorbedingung für den Sieg war die bolschewistische Eroberung der Führerschaft in den Massenorganisationen der revolutionären Arbeiterklasse. In der Gestalt von Trotzki führte die Partei den RMA, und durch Swerdlow wurden die Organisationen von RMA und Bolschewiki miteinander verflochten.

Der Tag der Sowjets

Als der RMA gebildet war und er seine Verbindungen mit den 25.000 Rotgardisten und der Garnison gefestigt hatte, wurden die Bolschewiki aktiver. Am 22. Oktober wurde ein „Tag der Sowjets“ mit den Massen in Petrograd durchgeführt.

Auf Großkundgebungen in allen proletarischen Zentren der Stadt wurde der Ruf nach Sowjets laut. Im Volkshaus drängten die Massen zum letzten Gefecht, nachdem sie sich für Sowjetmacht ausgesprochen hatten. „Lasst eure Entscheidung euer Gelübde sein, mit all eurer Kraft und unter allen Opfern dem Sowjet Rückhalt zu geben, der sich die Ruhmeslast aufgeladen hat, den Sieg der Revolution zum Abschluss zu bringen und Land, Brot und Frieden zu geben!“

Ein verschreckter Journalist der reaktionären Zeitung „Rech“ berichtete: „Eine unübersehbare Menge streckte ihre Hände empor. Sie stimmte zu. Sie gelobte (…)“

Am 21. Oktober erklärte der RMA, dass alle Befehle an die Armee nur dann gültig seien, wenn sie vom RMA gegengezeichnet wären. Dies war ein Akt der Unbotmäßigkeit, den Kerenski nicht dulden konnte, wenn er überleben wollte. Tatsächlich drohte er, dessen Kommissare zu verhaften, als der RMA dem militärischen Befehlshaber in Petrograd diese Weisung übermittelte. Doch das war eine leere Drohung. Alle Garnisonseinheiten vertrauten dem RMA. Kerenski hatte nur Offiziere, Kadetten und das Frauenbataillon unter seinem Kommando.

Als der RMA diese Rebellion begann, bereiteten sich die baltischen Matrosen unter der Führung von Bolschewiki wie Dybenko und Raskolnikow auf den Schutz des Aufstandes vor. Auf das vereinbarte Signal „Sendet Befehle!“ sollten Kriegsschiffe mit revolutionären Matrosen in Petrograd einlaufen. Ein Teilnehmer schildert die Szene, als am 24. Oktober der Befehl kam: „Wie sah der Finnische Meerbusen um Kronstadt und Petrograd damals aus? Dies wird in einem damals beliebten Lied gut vermittelt: Von der Insel Kronstadt bis zur Newa fort, segeln Schiffe vieler Art mit Bolschewiki an Bord“

Kerenski war sich dessen bewusst, dass eine Erhebung bevorstand. Wissend, dass der Sowjetkongress seinem Regime die Totenglocke läuten würde, versuchte er, nochmals die Initiative zu ergreifen. Am 24. Oktober ordnete er die Festnahme des RMA und frisch freigelassener Bolschewiki sowie das Verbot der bolschewistischen Presse an. Seinen wenigen loyalen Truppen wurde befohlen, die Brücken, welche die Regierungsgebäude von den Arbeitervierteln trennten, hochzuziehen.

Mit gelassener Entschlossenheit setzte Trotzki den RMA in Bewegung. Die bolschewistischen Druckerei wurde durch Truppen und Rotgardisten wieder geöffnet. Der Smolny, das Hauptquartier des Sowjets und des RMA wurde in ein bewaffnetes Lager verwandelt.

Zwei Personen versinnbildlichen das Schicksal der Revolution zu diesem kritischen Zeitpunkt. Kerenski, ein Mann der theatralischen Gebärde, erflehte den Beistand der gestrigen Institutionen der Bourgeoisie, des Vorparlaments und der „befehlshabenden“ Offiziere von Petrograd. Lenin befand sich noch auf der Flucht und war auf dem Weg zum Smolny, als er die Freilassung mit einer Schaffnerin in der Straßenbahn diskutierte. Wenige Stunden später sprach Lenin vor dem Sowjetkongress, der neuen Macht im Land – und Kerenski war auf der Flucht.

Der Aufstand beginnt

Ungeduldig kam Lenin im Smolny an und sah, dass der Aufstand endlich begonnen hatte. Am Morgen des 25. schien der Sieg sicher. Die Stützpunkte waren schnell besetzt. Der Scheinwerferstrahl des Kreuzers „Aurora“ auf  die Nikolajewski-Brücke reichte aus, um die Kadetten zur Flucht zu bewegen. 2oo ArbeiterInnen und Seeleute sicherten sie sofort. Die Telefonzentrale, die Staatsbank und alle Schlüsselstellen waren von den Kräften des RMA eingenommen.

Am 25. Oktober, 10 Uhr erklärte das RMA: „Die provisorische Regierung ist gestürzt worden. Die Staatsmacht ist in die Hände des Organs der Deputierten der Petrograder Arbeiter- und Soldatensowjets, des revolutionären Militärausschusses an der Spitze des Petrograder Proletariats und der Garnison übergegangen.“

Die Regierung harrte der Dinge im Winterpalast.  Immer  mehr  Aufständische  sammelten sich vor dem Palast. Der Sowjetkongress bereitete unterdessen seine Eröffnung vor. Der Winterpalias sollte gestürmt werden. Kerenski ging heimlich und verkleidet, um außerhalb Petrograds nach Unterstützung zu suchen. Nach einer Reihe von Verzögerungen (darunter auch komische, denn man hatte versäumt, eine rote Laterne mitzubringen, die als Angriffssignal verabredet, worden war) wurde der Palast praktisch ohne Blutvergießen eingenommen.

Eine Einheit von Rotgardisten und Matrosen stürmte den Palast, nachdem die „Aurora“ ein Signal mit Übungsmunition abgeschossen hatte. Die Kadetten und Junker gaben kampflos auf. Revolutionäre Disziplin verhinderte Plünderungen. Ein bürgerlicher Berichterstatter gab gezwungenermaßen zu, dass kein Mitglied des Frauenbataillons körperliche oder sexuelle Misshandlungen durch die Aufständischen erleiden musste.

Mit der Eroberung des Winterpalastes war der Aufstand in Petrograd abgeschlossen. Es folgten Siege in ganz Russland. Das war durch die Standhaftigkeit der Bolschewiki und der Bereitschaft des 2. Sowjetkongresses möglich, die Macht im Bewusstsein zu übernehmen, dass der RMA zur Rettung der Revolution handelte. Sein Beschluss rechtfertigte Trotzkis und Swerdlows Taktik und Lenins Strategie.

Die Betrüger gehen

Der letzte Kompromißler, der Menschewist Martow erklärte, der Aufstand sei ein bolschewistischer Staatsstreich gegen die Sowjets. Die ArbeiterInnen, Soldaten und Bauern antworteten ihm mit Buh- und Spottrufen, als er den Sowjet verließ. Ein junger Soldat entkräftete die Behauptungen, die Bolschewiki hätten widerrechtlich die Macht an sich gerissen, indem er auf das Podium sprang und sagte:

„Die lettischen Soldaten haben oft gesagt: Keine weiteren Resolutionen, keine Reden mehr! Wir wollen Taten sehen, wir wollen die Macht! Diese verräterischen Delegierten sollen den Kongress verlassen. Die Armee steht nicht hinter ihnen!“

Hunderte von Delegierten spürten nun, welche Macht sie hatten  und wie richtig die bolschewistischen Vorschläge waren.

Die Machtübernahme durch den RMA war kein Staatsstreich. Auch ein Chaos, Schäden an öffentlichen Gebäuden usw. blieben aus – aber nicht, weil dem Aufstand der Massencharakter fehlte, wie ignorante bürgerliche Journalisten meinten. Es rührte eher daher, dass der Aufstand gut geplant war und hochdisziplinierte Aktionen von einem Apparat mit Massenrückhalt in Szene gesetzt wurden. Dass es anfangs nicht zu Blutvergießen und „Unordnung“ in Petrograd kam, war ein Reflex auf die Schwäche der Bourgeoisie. Es wäre jedoch gänzlich falsch, aus den Ereignissen des 24. und 25. Oktober zu schließen, der Aufstand sei friedlich verlaufen.

Sofort nach dem Aufstand machte die Konterrevolution mobil. Mit einer Einheit gefechtserprobter Kosaken unter Führung der Generäle Krasnow und Duchonin befahl Kerenski am 27. Oktober den „Marsch auf Petrograd“. Er folgte den Truppen auf einem Schimmel, als sie das 45 Kilometer vom Zentrum Petrograds entfernte Gatschina stürmten. Währenddessen wurden alle im Winterpalast gefangen genommenen Kadetten von den Bolschewiki freigelassen. Die Revolution war großzügig und vertrauensselig bis zum fehlerhaften Leichtsinn. Sie lernte aber bald von der blutdürstigen Heimtücke der Bourgeoisie im Kampf.

Die Kadetten bemächtigten sich sofort der Petrograder Telefonzentrale und nahmen Antonow-Owsejenko fest. In der Stadt begannen erbitterte Kämpfe. Etwa 200 Menschen wurden verwundet oder getötet.

Ein „Komitee für das Heil des Landes und der Revolution“ entstand. Auf einer öffentlichen Veranstaltung in Petrograd verlangte einer ihrer Sprecher die „gnadenlose Zerschlagung der Bolschewiki und Sowjetregierung“. Dieselben Leute, die immer von „Demokratie“ geschwätzt hatten, schwärmten nun von der Gewalt, die sie der Arbeiterklasse, deren Partei und Regierung antun konnten. Bezeichnenderweise schlossen sich nicht nur die offenen Parteien des Bürgertums dieser konterrevolutionären Verschwörung an. Auch die Menschewiki und SR bestätigten Lenins Einschätzung als konterrevolutionäre Parteien und wirkten bei den Versuchen mit, die Sowjets, in denen sie die Führung eingebüßt hatten, physisch zu vernichten.

Alle Zweifel am Rückhalt der Massen für das neue Regime zerstreuten sich aber, als Krasnow und Duchonin sich der Stadt näherten. Am 28. Oktober wurde über Petrograd der Ausnahmezustand verhängt. Abertausende ArbeiterInnen, Soldaten und Matrosen sammelten sich zur Verteidigung der Stadt. Sie hielten die Kosaken auf, bevor die roten Streitkräfte die Kräfte der Konterrevolution am 30. Oktober auf den Höhen von Pulkowo vernichtend schlugen. Zwei Tage danach wurde ein Waffenstillstand unterzeichnet.

Kerenski war verschwunden. Die Revolution war gesichert. Doch wieder ging sie fahrlässig mit ihren Gegnern um. General Krasnow wurde freigelassen. Er ging sofort in den Süden, um Streitkräfte zu sammeln, denn die Bourgeoisie musste nun den Bürgerkrieg beginnen.

Der Moskauer Aufstand

In Moskau verlief der Aufstand blutig. Der Sowjet stimmte mit überwältigender Mehrheit für die Unterstützung des Petrograder RMA. Sofort bildeten die bürgerlichen Parteien mit den Menschewiki und den SR ein „Komitee zur öffentlichen Sicherheit“, dem 10.000 Soldaten zur Verfügung standen. Sie waren schlagkräftiger als die reaktionären Junker-Einheiten in Petrograd. Sie stellten den roten Streitkräften im Kreml eine Falle. Nachdem ihnen zugesichert worden war, dass es keine Vergeltungsmaßnahmen geben würde, ergaben sich, die pro-sowjetischen Verbände widerwillig. Sie mussten eine bittere Lektion einstecken. Obwohl sie das „Ehrenwort“ hatten,  dass ihnen nichts geschehen würde, mobilisierten die bürgerlichen Offiziere sogleich ihre Banden. Die gerade aus dem Kreml kommenden Rotarmisten wurden angegriffen und erschlagen. Überall in der Stadt wurden Bolschewiki getötet. So sah die Demokratie der bürgerlichen Demokraten aus!

Doch bald kam Verstärkung aus Petrograd, so dass das Blatt gewendet werden konnte. Die „Weißen“ wurden aus jedem Viertel der Stadt vertrieben und im Kreml eingekesselt. Rote Schützen nahmen sie schonungslos unter Beschuss. Schließlich ergaben sie sich. Die Bolschewiki versicherten ihnen, dass sie keine Vergeltung üben würden. Anders als die Reaktionäre einige Tage zuvor hielten sie ihr Versprechen.

Die Kapitalisten und ihre erbärmlichen reformistischen Verteidiger verbreiten oft genug Lügen über die grauenvolle Gewaltorgien der RevolutionärInnen und stellen ihre eigenen „friedliebenden“ Methoden entgegen. Die Moskauer Vorgänge sind ein – und nicht der einzige – Gegenbeweis. Militärische Gewalt spielt in jeder Revolution eine Rolle. MarxistInnen erkennen deren Bedeutung. Doch blutrünstige Akte von Brutalität blieben den Junkern und Kapitalisten sowie deren politischen und militärischen Lakaien vorbehalten.

Die wiederholten Ausbrüche solcher Gewalt bei den Kontingenten der Konterrevolution 1918 lehrten die Bolschewiki, dass ein „roter Terror“ zur Unterdrückung derer, die um jeden Preis den Arbeiterstaat zerstören wollten, notwendig war. Aber der „rote Terror“ war ein notwendiges Mittel, um zu gewährleisten, dass die Bauern ihr Land, die ArbeiterInnen die Produktionskontrolle und die Soldaten ihre demokratischen Rechte behalten konnten. Der weiße Terror hatte nur ein Ziel: die Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit im Namen des Profits und der Habgier zu erhalten.

Revolution und keine Reform

Vor allem bewiesen die Ereignisse des Oktober die reale Möglichkeit der proletarischen Macht. Sie zeigten die Wahrheit der Maxime, dass keine herrschende Klasse kampflos aufgibt. Entgegen den heutigen Kerenskis, Lafontaines und Co. dieser Welt behaupten wir, dass alle Ausgebeuteten auf der ganzen Welt das unbedingte Recht und die Notwendigkeit haben, dem Beispiel der russischen ArbeiterInnen zu folgen. Versucht nicht das Unternehmer-System zu flicken – beseitigt es! Nur so eröffnen wir der Menschheit neue Horizonte.

John Reed, der Revolutionschronist schrieb im Anschluss an eine Moskauer Arbeitermassenkundgebung nach dem Sieg: „Allmählich verebbte die proletarische Welle auf dem Roten Platz. Ich erkannte plötzlich, dass das fromme russische Volk keine Priester mehr brauchte, die es in den Himmel beteten. Auf Erden baute es ein Königreich, strahlender als jeder Himmel, und für das es rühmlich war zu sterben.“

Heute sind 90 Jahre vergangen. Jenes Reich harrt immer noch seiner Erschaffung. Der Oktober 1917 hat es aber, mehr als jedes andere Geschichtsereignis in greifbare Nähe gerückt. Wir müssen seine Lehren verstehen lernen und danach handeln!