Femizide in Österreich: Keine einzige weniger – aber wie?

Aventina Holzer, Infomail 1154, 15. Juni 2021

Mit bereits mindestens 14 Femiziden (Stand: 28.5.2021), also Morden an sexistisch unterdrückten Personen aufgrund von deren Unterdrückung (meistens von Frauen), schreibt Österreich im Jahr 2021 negativ Geschichte. Es ist eines der wenigen EU-Länder, wo regelmäßig mehr Frauen als Männer umgebracht werden. 2017 war es sogar das einzige. Was will uns aber jetzt dieser spezielle Fokus auf Frauenmorde sagen? Woran liegt die spezielle Situation in Österreich? Und vor allem: Was können wir dagegen machen?

Das Wort Femizid (lat.: femina; dt. Frau und lat.: caedes; dt. Tötung, Ermordung) kommt ursprünglich aus England (femicide) wurde dort aber eigentlich nur als Begriff für „Mord an einer Frau“ verwendet. Erst später kam eine dezidiert feministische Bedeutung dazu, die Diana Russell, eine US-amerikanische Soziologin, prägte: die „Hass-“ (auch frauenfeindliche/misogyne) Tötung einer Frau durch einen Mann. Es handelt sich zwar um eine frauenspezifische Situation, betrifft aber durchaus auch Leute, die nicht weiblich sind, oder bestimmte Frauen wegen Überschneidungen von Unterdrückung heftiger. Zum Beispiel kann eine nicht-binäre Person (also eine Person mit einer Geschlechtsidentität jenseits von „männlich“ oder „weiblich“) auch Opfer eines Femizids werden, wenn das Gegenüber die Person als weiblich wahrnimmt. Ähnliches gilt auch für Trans-Männer, also Männern, die bei der Geburt, als weiblich definiert wurden. Heftiger sind zum Beispiel aber auch Morde an Frauen mit nichtweißer Hautfarbe und Transfrauen, wo zu ihrer Unterdrückung als Frau auch noch andere dazukommen (in dem Fall Rassismus und Transphobie), was sich dann meistens in höheren Mordraten äußert.

Bedeutungen

Der Begriff „Femizid“ hat in moderner Verwendung fünf verschiedene Bedeutungen, wovon aber einige auch mehrere Interpretationen zulassen. Es gibt den soziologischen Ansatz, der sich primär mit der „Warum“-Frage von Frauenmorden beschäftigt und keine Unterscheidung darin macht, wer den Mord tatsächlich begangen hat, und eigentlich alle Tötungen an sexistisch unterdrückten Menschen betrachtet. Hier ist dann die Besonderheit hervorzuheben, dass Morde an Frauen am häufigsten im primären Umfeld verübt werden, was bei Männern überwiegend nicht der Fall ist. Weitergedacht wird diese Definition auch mit dem sogenannten „dekolonialen Ansatz“, der einen speziellen Fokus auf Gewaltverbrechen an Frauen aufgrund von (post-)kolonialen Machtstrukturen erforscht. Der Menschenrechts- und der kriminologische Ansatz sind der Versuch, eine Anleitung für bürgerliche Rechtsstaaten zu schaffen, um Femizide zu kategorisieren und Sanktionen dagegen zu verhängen. Die Definitionen sind hier deswegen für die politische Einschätzung relativ unbedeutend. Der letzte und vermutlich bekannteste Ansatz ist der feministische Femizidbegriff, der vor allem dazu dienen soll, die patriarchalen, systematischen Gewaltmuster unserer Gesellschaft aufzuzeigen. Die bekannteste Definition dieses Ansatzes ist: „Morde an Frauen durch Männer, weil sie Frauen sind.“ Diese Definition soll möglichst alle männlichen, sexistischen Muster abdecken (der Femizid als Spitze der patriarchalen, männlichen Gewalt an Frauen) und wird auch bewusst von „female-on-female murder“ (dt. Frauen, die Frauen töten) abgegrenzt, was auf andere sexistische Muster zurückzuführen ist. Der Begriff wird auch oft für seine Breite kritisiert, die es schwierig macht, Probleme präzise zu thematisieren und zu kritisieren und auch gezielt zu lösen.

Im lateinamerikanischen Raum, aus der dort existierenden feministischen Bewegung heraus, die einen sehr starken Fokus auf Gewalt an Frauen und den Kampf gegen „machismo“ (männlich chauvinistische Sozialisierung und Gesellschaft) legt, wurde der Begriff ab den 1990er Jahren auch sehr stark verwendet. Hier gibt es sehr viele Frauenmorde. Jeden Tag werden durchschnittlich 12 Frauen in Lateinamerika getötet und unter den 25 Ländern mit den höchsten Femizidraten sind 14 lateinamerikanische. Marcela Lagarde prägte den Begriff des „Feminizids“, der zusätzlich betonen soll, wieso Morde an Frauen auch ein Versagen der (staatlichen) Institutionen sind, und noch weiter auf die Systematik der Problematik hinweist. In 16 lateinamerikanischen Ländern gibt es mittlerweile eigene Straftatbestände zu Femiziden oder zumindest zu geschlechtsspezifischer Tötung. Dieser „Fortschritt“ ist aber natürlich nicht primär dem Begriff zu verdanken, sondern der starken und kämpfenden antisexistischen Bewegung in Lateinamerika, speziell auch unter dem Banner von „ni una menos“ (keine einzige weniger“), einer Bewegung, die in Argentinien ihren Anfang nahm.

Was macht den Femizidbegriff aus?

Ist er nicht etwas zu unkonkret, um als politischer Begriff nützlich zu sein? Ja und nein. Auf der einen Seite macht der Begriff, das was er machen soll, ganz gut. Es wird dadurch provokant auf einen speziellen Missstand in der Gesellschaft aufmerksam gemacht, der normalerweise, so wie viele Erfahrungen von marginalisierten Gruppen, unsichtbar bleibt – nämlich unter welchen Umständen und warum Frauen umgebracht werden.

Der Einwand, dass damit ja quasi jedem Mord ein sexistisches Handlungsmotiv unterstellt wird, ist nur begrenzt berechtigt. Sexismus (genauso wie andere Formen der gesellschaftlichen Unterdrückung) ist ein fundamentaler und systematischer Teil unserer Gesellschaft, damit also auch ein fixer Bestandteil unserer Sozialisierung sowie der gesamten sozialen Verhältnisse. Wir werden ja allesamt auch durch unsere Umstände geprägt. Das heißt aber auch im Umkehrschluss, dass in vielen Gewaltverbrechen an gesellschaftlich unterdrückten Menschen genau diese Unterdrückung eine (wenn oft auch unbewusste) Rolle spielt. Was allerdings ein Problem ist und oft in radikalfeministischen Kreisen betont wird, ist der Fokus auf Männer und männliche Gewalt. Es stimmt, dass die allermeisten Frauenmorde (und Morde insgesamt) von Männern begangen werden, ähnlich wie bei anderen Gewaltverbrechen. Zeitgleich sollte der Umkehrschluss aber nicht zugelassen werden, dass es dabei um irgendetwas inhärent Männliches geht, also „den Mann“ als den Feind „der Frau“ darzustellen. Es geht hier um ein klar systematisches, soziales Problem. Männer und Frauen werden beide von unserer systematisch sexistischen Welt geprägt. Die Auswirkungen sind aber sehr unterschiedlich und führen bei Männern strukturell viel häufiger zu Gewaltausübung. Auch das Zuschreiben des Problems an ein abstraktes, überhistorisches Patriarchat ist zu ungenau.

Es gibt patriarchale Strukturen (übrigens auch schon sehr lange in unterschiedlichster Form) in unserem Gesellschaftssystem, aber das Gesellschaftssystem, das diese konkret ausformt und reproduziert, ist der Kapitalismus und nicht die abstrakte „männliche Vorherrschaft“. Der Kapitalismus (unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem) profitiert enorm davon, Muster älterer Gesellschaften zu übernehmen und Gruppen systematisch gegeneinander auszuspielen und somit auch mehr Profit aus ihnen erwirtschaften zu können. Das macht das Aufrechterhalten von solchen Strukturen überhaupt erst möglich und (was im Kapitalismus natürlich das Wichtigste ist) profitabel.

Prinzipiell ist der Begriff des Femizids also sinnvoll und man kann ihn durchaus in die Diskussion einbringen. Klar und genau ist er aber nicht, was auch bedeutet, dass er nicht unbedingt in jeder Situation nützlich ist. Deshalb braucht es eine klarere Diskussion innerhalb der antisexistischen Bewegung, um ihn mit Leben zu füllen und auch als Instrument der Analyse verwenden zu können. Jeden Mord an Frauen als Femizid zu bezeichnen, ist plakativ (leider zwar viel zu oft richtig), aber führt auch zu einer ungenauen Verwendung einer Begrifflichkeit, die ja auch dazu beitragen soll, die Problematik, die sie beschreibt, zu bekämpfen.

Lage in Österreich

Um wieder zurückzukommen auf Österreich: Fast alle der diesjährigen Morde an Frauen sind in einer intimen (Ex-)Partnerschaft begangen worden. Das reiht sich in einen internationalen Trend ein. Laut UNODC (United Nations Office on Drugs and Crime; Amt der Vereinten Nationen zu Drogen und Verbrechen – Stand 2017) liegt der weltweite Anteil an weiblichen Mordopfern bei 19 %, aber bei Morden durch Intimpartner und Familie bei 64 % und durch Intimpartner allein bei 82 %. Dazu kommt noch die Tatsache, dass die meisten Morde in intimen Partnerschaften durch Frauen in Notwehr und/bzw. nach langwieriger Gewalterfahrung in der Beziehung geschehen. Was nun in Österreich speziell ist, ist, dass es ein Land mit einer sehr geringen Mordrate und einer verschwindend niedrigen Bandenkriminalität ist (welche weltweit vermutlich die meisten Morde an Männern verursacht). Deshalb werden auch mehr Frauen als Männer getötet.

Böse (und vor allem uninformierte) Zungen würden bei diesen Zahlen behaupten, dass es sich ja nur um ein paar Morde im Jahr handle. Und wenn überhaupt, sollte man sich doch viel eher um die Morde an Männern kümmern, wenn die doch einen Großteil ausmachen. Vorneweg: Jeder Mord ist schrecklich und es ist eine zentrale Aufgabe im Kampf für eine gerechte Gesellschaft, alle Systematik (z. B. Armut) und Sozialisierung, die zu ihnen führt, abzuschaffen. Aber bei den Zahlen zu Morden an Frauen müssen wir auch ganz klar festhalten, dass Femizide „nur“ die oberste Spitze eines sehr, sehr tiefen Eisberges sind. Einen Mord zu begehen, ist logischerweise die drastischste Form der Gewalt, die Sexismus annehmen kann. Davor kommen häusliche und sexualisierte Gewalt, verbale und körperliche Belästigung und vieles mehr. Dinge, die diese Sachen „möglich“, damit auch tolerierbarer bzw. „normaler“ machen, sind Objektifizierung, Ungleichbehandlung in Ausbildung und Beruf, Doppel- und Mehrfachbelastung durch zusätzliche Hausarbeit und Kindererziehung, ökonomische Abhängigkeit, ideologische Überhöhung des Mannes, der Druck, die emotionale Last des Partners zu tragen, und vieles andere auch. Diese Zusammenhänge sind nicht zufällig, sondern haben System in der Art und Weise, wie Reproduktion im Kapitalismus stattfindet. Unter diesen Umständen ist es besonders wichtig, auf spezielle Aspekte sozialer Unterdrückung aufmerksam zu machen und dagegen anzukämpfen. Denn „nur“ weil nicht alle Beziehungen zum Mord einer Person führen, heißt es nicht, dass es nicht eine enorme Menge an Gewalt und sexistischer Unterdrückung gibt, gegen die wir kämpfen müssen. Das führt aber nun zu einer weiteren Frage: Was können wir eigentlich tun?

Kampagne

In Wien organisiert zumindest seit September das feministische, autonome Kollektiv „claim the space“ (unter anderem bestehend aus: AG Feministischer Streik, Kollektiv lauter*, Ni Una Menos Austria, Hispano feministas, Kollektiv antikoloniale Interventionen) nach jedem Femizid in Österreich eine Kundgebung. Ziel davon ist, der Opfer zu gedenken, der eigenen Wut und Trauer Luft zu machen, aber auch sich buchstäblich den Platz zu nehmen für dieses und zusammenhängende Themen und Aufmerksamkeit auf die systematische Problematik zu lenken. Das ist prinzipiell gut und wichtig und hat auch maßgeblich zu einer Veränderung der (medialen) Diskussion geführt (das Wort Femizid wird in Österreich zum Beispiel noch nicht besonders lange verwendet). Aus einem ihrer Aufrufe geht das auch nochmal klar hervor: „Wir wollen uns Raum nehmen für eine inhaltliche Auseinandersetzung über patriarchale Gewalt und darüber, wie eine weitere Politisierung von Feminiziden aussehen kann. Wir wollen unser Wissen über feministische Praktiken und Kämpfe miteinander teilen und uns gemeinsam überlegen, wie unsere gemeinsame Praxis in Wien gegen patriarchale Gewalt aussehen kann. Und wir wollen einen Raum schaffen, um über unsere Wut zu sprechen, aber auch über unsere Trauer, unsere Ohnmacht, unsere Zermürbtheit.“

Auch wenn die Arbeit des Kollektivs sehr wichtig ist, gibt es doch einige Punkte, die über diese Forderungen hinaus aufgeführt werden müssen. Ein Problem liegt in der Analyse, in der Organisierung dieses Kampfes, nur FLINTA (also Frauen, Lesben, Interpersonen, nichtbinäre Personen, Transpersonen und Agenderpersonen) Personen zuzulassen. Es ist vollkommen nachvollziehbar, dass sich Menschen mit einer spezifischen Unterdrückung oft nicht wohl in Kontexten fühlen, wo andere Menschen dabei sind, die (gesellschaftlich gesehen) von dieser Unterdrückung profitieren. Zeitgleich braucht es aber für den Kampf gegen Femizide einen gemeinsamen Kampf aller Menschen, die im Kapitalismus unterdrückt und/oder ausgebeutet werden. Das inkludiert auch Männer. Männer sind nicht die „Unterdrücker“ in diesem System, auch wenn viele sicher sexistisch unterdrückerisch sind oder davon profitieren, dass Frauen unterdrückt werden. Die UnterdrückerInnen sind die, die die Macht in diesem System ausüben, die versuchen, Menschen gegeneinander auszuspielen, um kollektive Handlungen und Kämpfe zu verhindern.

Innerhalb einer breiten Bewegung muss es natürlich den Raum geben für Menschen mit spezifischer Unterdrückung, sich gesondert treffen zu können und bestimmte Bereiche des Kampfes zu organisieren sowie eigene politische Positionen zu formulieren. Es ist auch wichtig, dafür zu sorgen, dass Menschen mit bestimmten gesellschaftlichen Privilegien nicht die gesamte Bewegung dominieren, was aus bestimmten Machtgefällen heraus häufiger passiert. Dafür braucht es demokratische Strukturen und bestimmte Mechanismen (zum Beispiel Quoten innerhalb von Bündnissen bzw. für bestimmte Gremien und Rollen) die gegensteuern und marginalisierten Menschen den Platz in der Bewegung einräumen, der ihnen zusteht. Es gibt auch ein gewisses Problem, was die Position von „claim the space“ zu Parteien und parteiförmigen Organisationen angeht. Es wird ihnen oft die Vereinnahmung von Protesten vorgeworfen, was natürlich nicht der Fall sein sollte. Zeitgleich ist die logische Ableitung daraus, nicht mit bestimmten Organisationen zusammenzuarbeiten, ein heftiger Fehlschluss. Es braucht ein starkes Bündnis, das eine Bewegung anleiten kann, die aus unterschiedlichen Gruppen zusammengesetzt ist, demokratisch legitimiert und klar positioniert. Autonome Taktiken (damit auch das Ausschließen von Parteien und parteiförmigen Organisationen), auch wenn sie nicht immer per se falsch sind, führen nicht zu dem, was der Kampf gegen Femizide braucht – einer Bewegung, die gestellte Forderungen nicht nur ansprechen kann, sondern erkämpft.

Welche Bewegung?

Wie soll aber eine solche dann eigentlich aussehen? Was für Forderungen braucht sie? Die erste Frage hängt für revolutionäre KommunistInnen klar mit dem Klassenkampf zusammen. Innerhalb des kapitalistischen Systems haben die ArbeiterInnen (also fast alle lohnabhängigen Menschen, die primär zur direkten Reproduktion des Staates und damit des kapitalistischen Systems beitragen) am meisten Macht, dadurch, dass sie mittels Arbeitsverweigerung, extremen Druck aufbauen können. Eine Bewegung unterdrückter Menschen muss auch immer einen Anschluss an die ArbeiterInnenbewegung suchen und einen Fokus auf die ArbeiterInnenklasse richten, wenn sie Aussicht auf Erfolg haben möchte. Natürlich sind Forderungen nicht nur durch Arbeitskämpfe durchzuringen, aber wenn es um den langfristigen Kampf gegen Sexismus geht, ist das unerlässlich. Momentan steht die Linke allerdings an einem Punkt, wo das schwierig umzusetzen ist. Was ein erster Schritt in diese Richtung wäre, wären Bündnispolitik bzw. eine Einheitsfront zwischen unterschiedlichen (linken) Gruppierungen mit dem Ziel, auch Gewerkschaften hineinzuziehen und starke Proteste zu organisieren.

So eine Bewegung muss natürlich fordern, dass Gewaltschutzmaßnahmen ausgebaut werden. Dafür gibt es viele unterschiedliche Ansätze, die man innerhalb so einer Bewegung auch immer weiter ausarbeiten muss. Frauenhäuser und Täterberatung sind dabei nur einige wenige wichtige Konzepte und Dinge, für die viel mehr Geld ausgegeben werden muss.

Auch wenn wir solche Sachen vom Staat fordern, vertrauen wir aber nicht auf ihn. Der bürgerliche Staat ist ein Unterdrückungsinstrument der herrschenden Klasse und hat eine nicht zufällige Rolle in der Untätigkeit, was Femizide angeht. Deshalb müssen wir andenken, der häufigen Gewalt gegenüber eigene Selbstverteidigungsstrukturen der Unterdrückten aufzubauen. Dabei geht es nicht um autonome Kleingruppen, die um die Häuser ziehen, um Männern Angst zu machen, sondern um einen kollektiven Zusammenschluss von sexistisch unterdrückten Leuten, die sich gemeinsam ausbilden, Schutz vor allem auch durch Masse erreichen und sich somit aktiv dort verteidigen, wo der Staat versagt und auch immer versagen wird. Dazu gibt es weltweit viele Beispiele, vor allem in Lateinamerika und Indien.

Schlussendlich muss diese Bewegung aber auch mit dem kapitalistischen System brechen. Das klingt etwas voreilig, wenn man bedenkt, wie weit wir noch von so einem Bündnis, geschweige denn einer Bewegung entfernt sind. Aber wie bereits erklärt. ist die Systematik von Gewalt an Frauen im Kapitalismus kein Zufall. Er wird diese Unterdrückungsverhältnisse immer wieder reproduzieren. Verbesserungen, die erkämpft wurden, werden ohne eine ständig kämpfende Bewegung, die sich dagegen stellt, an Tiefpunkten des Klassenkampfs wieder zurückgenommen. Es ist ein ständiges Schwimmen gegen den Strom. Wenn wir Sexismus, und damit auch Femizide, endgültig überwinden wollen, brauchen wir ein anderes Gesellschaftssystem, das auf einer anderen ökonomischen Basis wirtschaftet und damit auch eine andere Sozialisierung der Gesellschaft zulässt. Das können wir nur erreichen, wenn wir den Kapitalismus stürzen und für den Kommunismus kämpfen, wo es keine systemische Unterdrückung und Ausbeutung mehr gibt.




Ermittlungen gegen Österreichs Kanzler Kurz: Der Fisch fängt vom Kopf zu stinken an

Michael Märzen, Infomail 1150, 25. Mai 2021

Auf so etwas haben viele vernünftige Menschen nur gewartet – trotz Message-Control, penibel vorgefassten Ansprachen und Rhetoriktricks: Gegen den Bundeskanzler wird wegen des Verdachts auf Falschaussage vor dem Ibiza-Untersuchungsausschuss ermittelt. Seither beschäftigt die Republik die Frage, ob die weiteren Entwicklungen zu Neuwahlen führen könnten, und welche politischen Perspektiven das beinhaltet.

Worum es geht

Am Dienstag, den 11. Mai, benachrichtigte die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) den Bundeskanzler Sebastian Kurz über die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens gegen seine Person. Am nächsten Tag gab jener das der Öffentlichkeit bekannt. Bei den Vorwürfen der Falschaussage geht es um die Bestellung des ehemaligen Generalsekretärs und Kabinettschefs im Finanzministerium Thomas Schmid zum Alleinvorstand der Österreichischen Beteiligungs AG (ÖBAG) vor zwei Jahren. Die ÖBAG verwaltet die Beteiligungen des Staates an börsennotierten Unternehmen und ist das Produkt einer Umstrukturierung der Österreichischen Bundes- und Industriebeteiligungen GmbH (ÖBIB) durch Türkis-Blau. Im Rahmen der Ermittlungen in der „Causa Casinos“ wurde im Herbst 2019 das Smartphone von Thomas Schmid beschlagnahmt und es wurden Chatnachrichten rekonstruiert.

Diese zeigten, dass Schmid an den Vorbereitungen zur Umstrukturierung der ÖBIB beteiligt war, selbst ÖBAG-Chef werden wollte, sogar den Ausschreibungstext für den Alleinvorstand mitverfasste und bei der Auswahl der Aufsichtsratsmitglieder mitmischte. Für seine Bestellung wandte er sich mit Bitten an Finanzminister Gernot Blümel und Bundeskanzler Sebastian Kurz. Letzterer schrieb in einer Chatnachricht an Schmid: „Kriegst eh alles, was du willst“ – drei Bussi-Emojis inklusive. Die WKStA wirft Kurz nun vor, er habe im Untersuchungsausschuss tatsachenwidrig behauptet, in die Nominierung des Alleinvorstands nicht eingebunden gewesen zu sein, keine Wahrnehmungen zur Besetzung des Aufsichtsrats sowie keine Kenntnisse über gewisse Absprachen zu haben.

Auf die Ermittlungen gegen den Bundeskanzler könnte ein Strafantrag folgen, allerdings wird es dafür noch etliche Monate brauchen. Die Strafe auf eine Verurteilung wegen Falschaussage kann bis zu drei Jahre Haft betragen. Dazu ist jedoch die Frage entscheidend, ob eine Falschaussage vorsätzlich getätigt wurde. Sebastian Kurz behauptet natürlich, er habe „bewusst alles getan, um die Wahrheit auszusagen“, und dass er „nicht vorsätzlich eine Falschaussage“ gemacht habe. Die Opposition nutze dagegen „jede kleinste Feinheit“, um „Falschaussagen zu konstruieren“ mit dem Ziel: „Kurz muss weg“. Tatsächlich dürfte es für den Kanzler eng werden. Eine Anklage würde das Image von Kurz und der ÖVP beschädigen und ihn unter Druck setzen, auch wenn er schon bekannt gab, nicht zurücktreten zu wollen.

Politische Bedeutung

Die ganze Angelegenheit zeugt von einem weit verzweigten Netz aus Postenschacher, Freunderlwirtschaft, Korruption und Verdunkelung in der ÖVP, das vermutlich weit in den Ibiza-Skandal hinein reicht. Das ist aber spätestens seit der Schredder-Affäre offensichtlich, in der, kurz vor dem erfolgreichen Misstrauensantrag gegen die erste Kurz-Regierung, ein Mitarbeiter des Bundeskanzleramts unter falschem Namen Festplatten vernichten ließ. Es ist auch nicht überraschend, dass diese Machenschaften auch in der „neuen ÖVP“ existieren.

Korruption ist ein geläufiges Treiben von bürgerlichen Parteien und im bürgerlichen Staat, wo Politik ein großes Geschäft im Interesse einiger FunktionärInnen und KapitalistInnen darstellt. Das Neue und Wichtige an dieser Sache ist aber, dass direkt gegen den ÖVP-Jungstar Sebastian Kurz ermittelt wird. Das könnte nicht nur die aktuelle Regierung sprengen, sondern insbesondere den Höhenflug der ÖVP über die letzten Jahre beenden und das politische Kräfteverhältnis in Österreich bedeutend verschieben.

Neuwahlen?

Während Neuwahlen wie ein Fragezeichen über dem österreichischen Parlament schweben, scheint sie kaum eine der politischen Parteien wirklich anzustreben. Kurz selbst möchte Neuwahlen nicht, weil die ÖVP vermutlich geschwächt aus einer solchen hervorgehen würde und eine neue Koalition unter seiner Führung zumindest beim derzeitigen Kräfteverhältnis schwierig zu bilden wäre. Die Grünen wollen sie nicht, weil sie vermutlich geschwächt und nicht mehr als RegierungspartnerInnen daraus hervorgehen würden und sie für sich selbst wichtige Regierungsprojekte nicht gefährden wollen. Die SPÖ würde sich in einer Koalition mit Kurz schwertun. Immerhin war das Projekt Sebastian Kurz dazu da, die damalige Große Koalition zu sprengen und der SozialpartnerInnenschaft eine neuerliche Abfuhr zu erteilen. Auch die FPÖ, die sich mit Herbert Kickl sehr scharf auf Kurz einschießt, tut sich schwer, weil sie im Fall von Neuwahlen eine Eskalation des Führungsstreits in der Partei befürchten muss.

Für die ArbeiterInnenbewegung wäre es auf jeden Fall wichtig, sich im Falle von Neuwahlen nicht auf eine von Kurz geführte Große Koalition einzulassen. Das wäre ein Projekt die Krisenlast unter Einbeziehung der Gewerkschaften auf Arbeitende, Arbeitslose, Frauen und Jugendliche abzuwälzen. Statt dessen gilt es, eine Antikrisenbewegung aufzubauen, die den Klassenkampf von unten gegen das korrupte und ausbeuterische kapitalistische System organisiert.




Wiener AktivistInnenkonferenz: Wie weiter mit LINKS?

Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1140, 27. Februar 2021

Im Jänner 2020 haben ein paar Hundert AktivistInnen in Wien mit LINKS eine neue Partei gegründet. Ein bisschen mehr als ein Jahr später steht die zweite AktivistInnenkonferenz an, die auf den anständigen Erfolgen bei der Wienwahl aufbauen und eine Strategie für die nächsten Jahre finden muss.

Diese Konsolidierungskonferenz findet in der tiefsten Wirtschaftskrise nach dem Zweiten Weltkrieg, im Angesicht einer globalen Pandemie, drohender Massenentlassungen und einer grünlackierten BürgerInnenblockregierung statt. Das sind wahrscheinlich mehr Herausforderungen, als sich die meisten AktivistInnen erwartet haben, als sie sich für einen Wahlantritt zusammengetan haben. Aber als größte Kraft links von SPÖ und Grünen hat LINKS die politische Verantwortung, sich in den kommenden Kämpfen klar zu positionieren.

Das bedeutet, dass LINKS zu einer klassenkämpferischen Partei werden, also in den kommenden Kämpfen kompromisslos die Seite der Ausgebeuteten gegen die AusbeuterInnen ergreifen, und wo es möglich ist, mit ihnen kämpfen und gewinnen muss. Das bedeutet konkret, die politischen Widersprüche zu verstehen und selbst zuzuspitzen. Es reicht nicht zu warten, bis Kämpfe aufkommen, die man unterstützt. Es bedeutet auch konkret, sich die Verankerung unter ArbeiterInnen, unterdrückten und marginalisierten Communities zum Ziel zu setzen – diese Fragen mitzudenken, reicht nicht aus. Die Mehrheit der ArbeiterInnenklasse ist von sexistischer, rassistischer, LGBTIQ-feindlicher und anderer sozialer Unterdrückung betroffen. Die Kämpfe dagegen sind ein untrennbarer Teil des Klassenkampfes, den LINKS bewusst führen muss.

Außerdem muss die Organisation aufgebaut und gestärkt werden. Transparente demokratische Strukturen und systematische Wissensweitergabe sind wichtige Aufgaben, wenn wir den kommenden Herausforderungen gewachsen sein wollen. Die AktivistInnen, die LINKS gegründet haben, kommen aus verschiedensten kleineren politischen Strukturen, die Mehrheit aus Kampagnen und Bündnissen, die sich mit einem Thema (zum Beispiel Solidarität mit Geflüchteten oder Klimaschutz) beschäftigt hatten. Dass sie entschieden haben, eine Organisation aufzubauen, die diese Themen zusammenführt und um die Macht kämpft, statt bloß Forderungen aufzustellen, ist ein großer Schritt nach vorne. Deshalb besteht eine mindestens genauso große politische Verantwortung darin, diese Partei möglichst als revolutionäre aufzubauen.

Worauf bauen wir auf?

Die Gründungsversammlung von LINKS hatte sich auf eine praktische Aufgabe geeinigt: den Antritt zu Wienwahl. Gleichzeitig gab es natürlich auch einen politischen Grundkonsens, vor allem klar links von Grünen und SPÖ zu stehen („Wählen ohne Bauchweh“), den Kapitalismus entweder sehr kritisch zu sehen oder abzulehnen, marginalisierte Personen gezielt ansprechen und sichtbar machen, die Klimakrise ernsthaft angehen zu wollen.

Mit dem Antritt zur Wienwahl (und recht anständigen 20.000 Stimmen) wurde die gemeinsame praktische Zielsetzung erreicht. Auch deshalb waren Vorbereitung und Durchführung des Wahlkampfes die Zeit, die LINKS politisch geprägt und geschärft hat. Das gilt für das Programm, das in Aspekten klar antikapitalistisch (aber in anderen eher reformistisch) ist, für den Fokus auf Enteignungen, aber auch die Forderung, dass Wien alle Geflüchteten aus Moria die Aufnahme anbieten soll.

Gleichzeitig war das kein antikapitalistischer Wahlkampf. Es fand zwar eine öffentliche und inhaltliche Verschiebung von kapitalismuskritischem in Richtung antikapitalistischem „Grundkonsens“ statt. Aber schon der Kapitalismus selbst wurde nur selten direkt angesprochen. Die Frage, wodurch wir ihn ersetzen möchten, und auch, wer so eine Überwindung überhaupt durchführen kann, blieb weitgehend undiskutiert. Eine antikapitalistische Partei muss nicht wie eine kaputte Schallplatte alle zwei Minuten die Worte Kapitalismus und Klassenkampf abspulen. Aber sie muss nach innen und außen klarmachen, dass sie den Kapitalismus überwinden und den Sozialismus aufbauen will, und sich dafür auf die gesellschaftliche Mehrheit der ArbeiterInnenklasse (in allen ihren Facetten von Geschlecht, Rassismuserfahrungen und sozialem Ausschluss) stützen. Auch wenn das organisationsintern geklärt wäre und nur nach außen in anderen Worten kommuniziert würde (und eindeutig geklärt ist das in LINKS nicht) wird es sehr schwierig, Antikapitalismus und Klassenkampf umzusetzen, wenn man es den eigenen potentiellen MitstreiterInnen und WählerInnen nicht offen sagt.

Die Zeit nach dem Wahlkampf war für LINKS eine Phase der Konsolidierung. Das war zu erwarten. Trotzdem ist die Partei seit der Wahl deutlich gewachsen und hat inhaltlich wichtige Diskussionen geführt. Es ist weitgehend gelungen, den Wahlerfolg zu nutzen, um eine Organisation aufzubauen, die weiter vor allem außerparlamentarisch arbeiten soll – ein wirklich wichtiger Schritt.

Die politische Debatte und die aktive Teilnahme an klassenkämpferischen (beispielsweise MAN-Streik), antirassistischen (Proteste gegen Abschiebungen, Gedenken an Opfer rassistischer Gewalt) und antisexistischen Bewegungen haben eine Konferenz möglich gemacht, die die Partei nach vorne bringen wird.

Dabei gibt es wenig Potential für große Umbrüche. Das ist gut für die Stabilität der Partei, bedeutet aber auch nicht, dass man die Probleme von LINKS „in einem Aufwasch“ erledigen kann. Das wäre eh eine Illusion, bedeutet aber, dass die Herausforderungen über das nächste Jahr geduldig und stetig bearbeitet werden müssen. Nur weil es keinen Anlass für einen großen Bruch gibt, heißt das nicht, dass LINKS bestehen bleibt, wenn alles so weitergeht wie jetzt.

Klassenkampf

Weil es eine neue linke Partei braucht, ist LINKS zu den Gemeinderatswahlen in Wien angetreten und hat immerhin fast 20.000 Stimmen eingesammelt. Das ist das beste Ergebnis einer Liste links von SPÖ und Grünen seit 1974. Aber die Existenzberechtigung einer Partei zeigt sich dann, wenn sie es schafft, in den politischen Auseinandersetzungen einen Unterschied zu machen. Eine Partei, die es „eigentlich bräuchte“, braucht niemand.

Wer braucht eine neue linke Partei? Alle, die im Kapitalismus den Kürzeren gezogen haben, auf deren Ausbeutung und Unterdrückung die Profite der Herrschenden aufbauen. Das ist die ArbeiterInnenklasse, von denen die Mehrheit gleichzeitig rassistisch, sexistisch, LGBTIQ-feindlich oder sonst wie sozial unterdrückt wird. Dazu gehören auch Erwerbslose und unbezahlte SorgearbeiterInnen, ohne die die Ausbeutung der LohnarbeiterInnen gar nicht möglich wäre.

Auf die alle kommen jetzt unfassbare Angriffe der KapitalistInnen und der Regierung zu. Die UnternehmerInnen werden durch Massenentlassungen und weitere Prekarisierung versuchen, ihre Profite durch die Krise zu retten. Die BürgerInnenblockregierung wird alles daransetzen, die Kosten der Krisenbekämpfung auf uns abzuwälzen: durch Sozialabbau, Privatisierungen und Steuererhöhungen. LINKS muss es schaffen, in diesen Auseinandersetzungen immer auf der Seite der Unterdrückten zu stehen, die politischen Widersprüche geschickt zuzuspitzen und in den gemeinsamen Kämpfen einen echten Unterschied zu machen. LINKS muss diese Kämpfe als Klassenkämpfe führen und gewinnen.

Dafür muss sich LINKS in der ArbeiterInnenklasse verankern, in den Grätzln wo sie lebt, an den Arbeitsplätzen, wo sie ausgebeutet wird, und in den Gewerkschaften, wo sie aktiv ist. Das ist im letzten Jahr nur in kleinen Ansätzen gelungen und auch nicht systematisch angegangen worden.

Wo sich ArbeiterInnen bewusst als ArbeiterInnen politisch organisieren, ist ihre Führung heute reformistisch. Die Sozialdemokratie verspricht maximal kleine Verbesserungen, in der Regel sogar nur langsamere Verschlechterungen angesichts bürgerlicher Angriffe. Trotzdem dominiert sie die ArbeiterInnenbewegung organisatorisch und ideologisch.

Wir müssen LINKS als antikapitalistische ArbeiterInnenpartei aufbauen und die Dominanz der ReformistInnen brechen. Dazu reicht es nicht aus, ihre Politik zu kritisieren, und erst recht nicht, sie zu ignorieren und zu versuchen, daneben stark zu werden. Wo es geht, müssen wir in gemeinsamen Kämpfen (wie zum Beispiel bei den Protesten gegen Abschiebungen Ende Jänner) beweisen, dass wir die besseren politischen Antworten haben, und auch offen Kritik üben (was LINKS-RednerInnen auf denselben Protesten gemacht haben). Das gilt auch für die Gewerkschaften, wo sich ArbeiterInnen dauerhaft organisieren, und Kampagnen mit Basisstrukturen.

Parteiaufbau

Auch der Aufbau von stabilen Strukturen und Verankerung, demokratischen Strukturen innerhalb der Organisation, Arbeitsabläufen und Bildungsarbeit ist eine politische Verantwortung. Die Gründung von LINKS war ein entscheidender Bruch mit der Arbeit vieler linker AktivistInnen in Wien, besonders von denen, die sich an der Versammlung beteiligten: Sie war ein gemeinsames Anerkennen, dass es für nachhaltige politische Arbeit eine Partei braucht.

Statt in klugen und oft radikalen Kampagnen die Mächtigen unter Druck zu setzen, einzelne Forderungen zu erfüllen, versucht eine linke Partei, diese Macht selbst zu erobern (oder durch Verankerung aufzubauen). Statt sich gezielt auf einzelne Themen zu konzentrieren (und die gegebenenfalls mit anderen Fragen „zusammenzudenken“) geht man sie gleichzeitig mit ihrer gemeinsamen Ursache an. Außerdem sind Parteien (zumindest theoretisch) nachhaltiger: Eine erfolgreiche Kampagne löst sich auf, eine erfolgreiche Partei bleibt bestehen. Dass die Wiener Linke viele nie aufgelöste Kampagnenbündnisse und viele aufgelöste Parteiprojekte kennt, spricht für sich.

Auf der Gründungsversammlung hieß es: „Weil es eine neue linke Partei braucht“. Das ist richtig: Die sich zuspitzenden Widersprüche des Kapitalismus im 21. Jahrhundert, Klimakrise, Kriegsgefahr und Ausbeutung lassen sich nur mit einer (internationalen) revolutionären Partei lösen. 2008 hat der Arbeiter*innenstandpunkt nicht ohne Pathos auf sein Aktionsprogramm geschrieben: „Kein Sozialismus ohne Partei“ (das Programm wurde als kleines rotes Büchlein gedruckt). Deshalb ist es dringend notwendig, dass diese Partei auch funktioniert, wächst und ihre Mitglieder stärkere AktivistInnen werden.

Dazu gehört auch ein Ausbau der innerparteilichen Demokratie. Das bedeutet ein transparentes Funktionieren der Leitungs- und Arbeitsstrukturen, dass für alle Mitglieder verständlich und zugänglich berichtet wird, und klare Ansprechpersonen. Aber es bedeutet auch eine Stärkung der AktivistInnen, die diese demokratischen Prozesse füllen. Die müssen das Selbstvertrauen und die Fähigkeiten bekommen, über die Strategie zu bestimmen, und dabei das doch recht große Ganze im Auge behalten können. Dafür braucht es eine systematische Bildungsarbeit, Austausch und Wissensweitergabe, aber auch Räume für eigene Entscheidungen und Kampagnen in den Bezirks- und Interessensgruppen die weiter ausgebaut werden sollten.

Wie weiter?

Die LINKS-AktivistInnenkonferenz 2021 wird die Weichen für die Arbeit der nächsten Jahre stellen. Die Partei ist stabil und wächst. Sie wird sich auf eine inhaltliche Kampagne einigen, um die sich die Organisationsarbeit ähnlich gruppieren kann wie um den Wahlkampf. Ein erster Gradmesser wird sein, ob die Kampagnenauswahl den politischen Herausforderungen der tiefsten Krise seit 1945 entspricht und auch, ob es der erfolgreich abgestimmten Kampagne gelingt, auf dem jeweiligen Gebiet die Widersprüche klassenkämpferisch zuzuspitzen.

Eine weitere entscheidende Frage wird sein, ob das neu gewählte Koordinationsteam an der weitgehend erfolgreichen Arbeit seiner VorgängerInnen anschließen, aber mehr politische Herangehensweisen aus der Mitgliedschaft abbilden kann. LINKS ist keine sehr zentralistische Organisation und hat keine herausgebildete Bürokratie. Eine Koordination, die in der Basis verankert und ihr auch rechenschaftspflichtig ist, kann das auch weiter verhindern.

LINKS ist auch eine sehr dynamische Partei, in der die Kampagnen und Aktionsvorschläge mit Initiativen der Mitgliedschaft gefüllt werden. Wenn wir es schaffen, die Bezirks- und Interessensgruppen so aufzubauen, dass sie radikale Positionen in verständliche Aktionen umsetzen können, ist LINKS gut gerüstet, im Katastrophenjahr 2021 die Partei in Wien zu werden, die es gebraucht hat.




Corona-Demonstrationen in Wien: Faschistische Aufmärsche oder harmlose Verwirrte?

Alex Zora, Infomail 1137, 4. Februar 2021

In den letzten Wochen hat Österreich einen Aufschwung in der Mobilisierung der Corona-SkeptikerInnen erlebt. Bei der bisher dahin größten Mobilisierung am 16. Jänner waren in Wien vermutlich mehr als 10.000 Menschen auf der Straße. Auch Ende Jänner protestierten trotz behördlicher Untersagung dort vermutlich mehr als 10.000 Menschen.

Wir betonen seit fast einem Jahr die Unfähigkeit bzw. den Unwillen der schwarz-grünen Bundesregierung, das Virus adäquat zu bekämpfen, und ihre Strategie, nur die wirtschaftlichen Interessen ausreichend gut zu bedienen. Auch der Anlass der Demonstrationen ist die Pandemie-Politik der Regierung: „Kurz muss weg!“ ist einer der Hauptslogans der Bewegung. Lässt sich deshalb irgendwie daran positiv an anknüpfen?

Rechte Führung

Seit Beginn der corona-skeptischen Mobilisierungen im Mai waren Rechte und FaschistInnen beteiligt. Die Identitären traten schon im Mai mit bekannten Gesichtern auf. Die FPÖ organisierte bald darauf eigene Kundgebungen, die aber nicht wirklich die gewünschte Dynamik auslösen konnten, so dass sich die FPÖ die Führung der Bewegung aneignen hätte können. Auch verschiedene Figuren aus der neonazistischen Szene waren schon früh auf den Demonstrationen im Frühling vertreten, z. B. aus dem Umfeld des verurteilten Neonazis Gottfried Küssel. Doch anfangs war die Bewegung vor allem von der „überparteilichen“ „Initiative für evidenzbasierte Corona-Information“ (ICI) geprägt, die von sich sagte: „Wir sind nicht rechts. Wir sind nicht links. Wir sind wütend!“ Richtig Fahrt nahm die Bewegung dann aber erst mit der zweiten Welle und den viel zu späten Anti-Pandemie-Maßnahmen auf. Was der FPÖ nicht gelungen war, wurde nun deutlich diffuser von unterschiedlichen Einzelpersonen und Netzwerken – vor allem über den Messenger-Dienst Telegram – organisiert. An Stelle von Organisationen wie der ICI oder auch der FPÖ sind mittlerweile weniger durchsichtige Zusammenhänge getreten.

Nichtsdestotrotz sind die führenden OrganisatorInnen weiterhin für ihre klar rechte Gesinnung bekannt. Jennifer Klauninger zum Beispiel, die zur komplett maskenverweigernden Hardliner-Fraktion gehört und durch das öffentliche Zerreißen einer Regenbogenfahne mediale Aufmerksamkeit bekam, organisierte schon 2015/16 rassistische Mobilisierungen an der österreichisch-slowenischen Grenze gegen die Aufnahme von Geflüchteten. Sie gründete im Zuge dessen die faschistische „Partei des Volkes“ mit. Kurzzeitig war sie auch Parteimitglied der FPÖ. Mittlerweile schwadroniert sie davon, dass die Elite – in ihrer antisemitischen Logik werden namentlich Rothschild und Soros genannt – das „überlegene weiße Volk“ am liebsten „ausrotten“ möchte.

Nach den Ereignissen am Wochenende 30./31. Jänner dürfte sich aber innerhalb der Bewegung Martin Rutter, mit dem Klauninger seit einiger Zeit im Zwist liegt, durchgesetzt haben. Als ehemaliger Landtagsabgeordneter für das Team Stronach wurde er wegen seines Auftritts beim sogenannten Ulrichbergtreffen – von SS-Traditionsvereinen und anderen rechts bis rechtsaußen stehenden Traditionsverbänden – aus der Partei ausgeschlossen. Daraufhin schloss er sich dem BZÖ (Bund Zukunft Österreich) in Kärnten an. Neben einem offenen Rassismus gegenüber MigrantInnen sind bei ihm auch antisemitische Verschwörungstheorien über George Soros und die „GlobalistInnen“ an der Tagesordnung. Außerdem repräsentiert er einen klar christlichen Flügel in der Bewegung.

Faschistische Bewegung?

Die Führung der Bewegung ist also zwischen rechter Esoterikszene, der FPÖ und verrückten VerschwörungstheoretikerInnen angesiedelt. Auch gibt es viele Ähnlichkeiten mit der Trump-Bewegung auf der Straße, in der sich QAnon-AnhängerInnen, Trump-Fans und faschistische Gruppierungen vermischen. Doch im Gegensatz zur Bewegung in den USA ist in Österreich die rechte ideologische Durchdringung noch weniger weit fortgeschritten. Von den zehntausenden Menschen, die auf der Straße waren, ist vermutlich nur eine Minderheit ideologisch klar rechts eingestellt. Für viele Menschen spielt anscheinend auch der soziale Charakter des Zusammentreffens mit FreundInnen und Bekannten aus der Bewegung eine wesentliche Rolle. Die Gründe der unterschiedlichen TeilnehmerInnen sind aber durchaus komplex, genauso wie ihre Zusammensetzung. So stellen auch MigrantInnen – wenn auch für Wiener Verhältnisse deutlich unterrepräsentiert – einen Teil der Bewegung dar. Insbesondere stark erkenntlich ist auch die breite Teilnahme aus den Bundesländern und sogar aus dem Ausland bei den Großmobilisierungen in Wien.

Was aber alle Teile der Protestierenden teilen, ist, dass sie offensichtlich kein Problem damit haben, mit mehr oder weniger offen auftretenden FaschistInnen auf die Straße zu gehen. Insbesondere bei der (behördlich untersagten) Massendemonstration am 31. Jänner stellte über weite Teile eine Mischung aus rechten Fußballhooligans, Identitären und Neonazis die Spitze der Demonstration und damit auch ihre Führung. Durch deren organisiertes Auftreten war die Durchsetzung der Demonstration gegen die Polizei in dieser Form überhaupt erst möglich. In der Bewegung stellen die rechten bis faschistischen Kräfte aktuell den einzig wirklich organisierten und organisierenden Teil dar. Deshalb ist es durchaus wahrscheinlich, dass die Dynamik der Bewegung sich in den kommenden Wochen und Monaten – falls nicht aufgrund einer Änderung der Pandemiebekämpfung von Seiten der Regierung oder weiterer interner Konflikte die Luft rausgeht – vermutlich klar nach rechts verschieben wird. Eine gewisse Schicht an aktuell noch eher unpolitischen Leuten läuft Gefahr, klar rechts politisiert zu werden oder sich sogar den faschistischen Strukturen anzuschließen.

Der 31. Jänner

Ein wichtiger Faktor in der Entwicklung der aktuellen coronaskeptischen Bewegung ist sicher das Wochenende vom 30. und 31. Jänner. Von Seiten der Polizei wurden da nahezu alle Versammlungen in Wien untersagt – und dabei nicht nur Versammlung von Corona-SkeptikerInnen, sondern auch klar linke Gegenveranstaltungen, die sich bisher immer aus eigener Überzeugung an das konsequente Tragen von Masken und Abständen gehalten hatten. Hier wird sichtbar, warum man im Kampf gegen rechts nicht auf den Staat vertrauen soll, weil der seine erweiterten Befugnisse auch genauso oder härter gegen die Linke und die ArbeiterInnenbewegung einsetzt.

Am 30. Jänner scheiterten die von Jennifer Klauninger ausgerufenen Proteste kläglich. Vermutlich nur einige dutzend Corona-LeugnerInnen folgten ihrem Aufruf. Doch am Sonntag war die Lage anders. Nahezu die gesamte österreichische rechte und faschistische Szene mobilisierte zu der von Martin Rutter und Co. angeführten Demonstration. Bis zum Verbot war auch Herbert Kickl als prominenter Redner vorgesehen gewesen. Die FPÖ versuchte dann auch nach dem Verbot, für die Corona-SkeptikerInnen eine eigene Kundgebung anzumelden, aber scheiterte hierbei auch an einer polizeilichen Untersagung.

Letztlich fanden sich trotz behördlicher Untersagung vermutlich mehr als 10.000 Menschen in der Wiener Innenstadt ein. Die Polizei stellte am Anfang zaghafte und letztlich erfolglose Versuche an, um die sich am Ring (auf der Höhe des Heldenplatzes) versammelte Menschenmenge einzukesseln bzw. am Formieren einer Demonstration zu hindern. Doch die von den organisierten FaschistInnen und Fußallhooligans angeführte Menschenmenge schaffte es, sich aus der Umklammerung der Polizei zu befreien, und startete eine stundenlange Demonstration einmal rund um die Wiener Innenstadt. Die Polizei verhielt sich nach anfänglichen Verhinderungsversuchen wie gegenüber einer normalen angemeldeten Demonstration. Die DemonstrantInnen wurden weitgehend begleitet, teilweise sogar sich selbst überlassen. Der Verkehr in den Seitenstraßen wurde so geregelt, dass die Demonstration ungehindert ihren Weg gehen konnte und kleinere antifaschistische Blockaden innerhalb von Sekunden von WEGA (Wiener Einsatzgruppe Alarmabteilung) und Co. aus dem Weg geräumt wurden. Erst nach 5 Stunden ungehinderter Demonstration durch Wien stellte die Polizei – vermutlich um zumindest etwas an Gesicht zu wahren – die Identitäten von den letzten verbliebenen DemonstrantInnen fest und das, nachdem der allergrößte Teil der DemonstrantInnen schon unbehelligt den Heimweg angetreten hatte. Gegen Ende bedankten sich noch TeilnehmerInnen bei der Polizei für ihr freundliches Vorgehen.

Was tun?

Der 31. Jänner war für die Bewegung ein klares Signal der Stärke. Seit Jahren gab es nicht so ein offenes und ungehindertes Auftreten der faschistischen und neonazistischen Szene in Österreich. Sie konnte über weite Teile die Demonstration anführen. Für die Linke und die ArbeiterInnenbewegung braucht es deshalb eine klare Antwort auf diese Gefahr von rechts.

Auf der einen Seite braucht es ein klares Entgegentreten gegen die rechten Teile der Bewegung und das auch auf der Straße. Das mehr oder weniger offene Auftreten von FaschistInnen und Neonazis darf nicht unbeantwortet bleiben, auch wenn sie nur Teil einer größeren Bewegung sind. Überall wo FaschistInnen offen auftreten, müssen wir uns ihnen in den Weg stellen und sie im Idealfall von der Straße vertreiben. Ein Teil der Taktik gegenüber der Bewegung ist ganz einfach klassischer Antifaschismus. Das darf aber nicht dazu führen, dass die gesamte Bewegung deswegen zu einer faschistischen umgetauft wird. Vielmehr ist sie eine kleinbürgerliche, populistische Massenbewegung mit einem faschistischen Flügel, der in der Tendenz stärker und wichtiger wird.

Darüber hinaus braucht es aber auch eine klare Alternative zur aktuellen fatalen Regierungspolitik. Wenn auf der einen Seite der Wintertourismus weiter aufrechterhalten wird und gleichzeitig dazu die Regierung den Kampf gegen die Pandemie fast ausschließlich in die eigenen vier Wände verlegt, ist klar, dass etwas falsch läuft. Einschränkungen bzw. verpflichtende Maßnahmen am Arbeitsplatz gibt es so gut wie nicht. Das wird großteils den Unternehmen selbst überlassen. Wir fordern ein Ende der verlogenen Pandemiebekämpfung der schwarz-grünen Bundesregierung. Stattdessen braucht es die Schließung aller nicht notwendigen Bereiche der Wirtschaft, bis die Fallzahlen ein Niveau erreicht haben, wo durch effektives „Test and Trace“ das Virus zur Gänze ausgemerzt werden kann. Es braucht eine Existenzsicherung und eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes. Gleichzeitig treten wird klar für die Verteidigung der demokratischen Rechte – inklusive auf Demonstrations- und Versammlungsfreiheit – ein. Denn wie das Wochenende 30./31. Jänner gezeigt hat, schränkt der Staat nicht einfach nur Demonstrationen von MaskenverweigererInnen ein, sondern genauso von Linken. Darüber hinaus dürfen die Kosten der Krise nicht auf die Allgemeinheit abgewälzt, sondern müssen von Reichen, die in der Krise ihr Vermögen nochmal deutlich steigern konnten, gezahlt werden. Nur wenn es die Linke schafft, eine klar Perspektive weisende, von der Regierung unabhängige Position zur Eindämmung der Pandemie zu entwickeln, ist es möglich die von Covid-19 und Wirtschaftskrise Betroffenen nicht den Rechten zu überlassen.




Politisch-ökonomische Perspektiven: Lage in Österreich

Arbeiter*innenstandpunkt, Österreichische Sektion der Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1135, 18. Januar 2021

Österreich befindet sich in der tiefsten Wirtschaftskrise der Zweiten Republik. Der Wirtschaftsabschwung begann Ende 2019 und wurde Anfang 2020 durch einen zeitweisen Zusammenbruch der weltweiten Energiemärkte, der sich schnell auf die Finanzmärkte ausweitete, vertieft. Die weltweite Corona-Pandemie führte schließlich zu einem kurzzeitigen Zusammenbruch der Produktion mit tiefen Einschnitten bei Profiten und Beschäftigungsniveau. Dazu kommt die weiter eskalierende Umweltkrise und in Österreich ein weiteres Zurückdrängen der ArbeiterInnenbewegung.

Es ist die Aufgabe von MarxistInnen, in dieser Situation als StrategInnen der Klasse aufzutreten, auch wenn sie diese Strategie nicht selbst umsetzen können. Die Grundlage dazu ist die politisch-ökonomische Analyse der Situation. Die Kräfteverhältnisse sind ungünstig: Die traditionelle ArbeiterInnenpartei SPÖ verliert weiter an Boden, die Gewerkschaftsbewegung entscheidet sich zwischen erniedrigenden Verhandlungsergebnissen und einer weiteren Verdrängung aus den politischen Institutionen, oppositionelle und revolutionäre Kräfte in der ArbeiterInnenbewegung sind weiter sehr schwach.

Die österreichische Regierung ist ein schwarz-grüner BürgerInnenblock, der aus einer der tieferen politischen Krisen seit 1945, der Absage an eine sozialpartnerInnenschaftliche Koalition und dem Rücktritt der schwarz-blauen Regierung nach der Ibiza-Affäre hervorgegangen ist. Österreich befindet sich also in einer kombinierten Wirtschafts-, Gesundheits- und Umweltkrise, die den Beginn einer politischen und sozialen bedeuten kann. Um die Auswirkungen auf die ArbeiterInnenklasse und ihre Aufgaben zu verstehen, ist es notwendig, die einzelnen Krisen und ihre Wechselwirkung zu analysieren.

In der öffentlichen Debatte um die Reaktion auf die Corona-Krise scheinen sich hauptsächlich drei Kapitalfraktionen gegenüberzustehen. Tourismus und Industrie mussten Rekordverluste hinnehmen; im Handel konnten zwar manche Bereiche ihre Position sogar ausbauen, die Mehrheit jedoch nicht. Die Industrie hat zwar unter der Zerrüttung des Welthandels gelitten und viele Unternehmen nutzen die Krise, um ihre Produktion zu verlagern, sie konnte sich aber weitgehend den behördlichen Unternehmensschließungen entziehen. Ihre unterschiedlichen Interessen prägen das Spannungsfeld, in dem die Regierung ihre Reaktion auf die Pandemie gestaltet, und führen zu widersprüchlichen Maßnahmen und einer Gefährdung der Bevölkerung.

Sowohl die beschlossenen Einschränkungen (Quarantäne und Ausgangssperre) als auch, wo sie vermieden wurden (Betriebe, Konsum), gehen in erster Linie zulasten der ArbeiterInnenklasse. Gleichzeitig bereitet sich die Regierung darauf vor, die hohen Kosten der Krisenbewältigung im Sozialsystem und bei den Löhnen einzusparen.

Die Weltwirtschaft befindet sich seit Ende 2019 in einer Rezession. Der Abschwung begann bereits 2016 mit einem Verfall der Profitraten in der Industrie. Gleichzeitig verschoben sich die globalen Kräfteverhältnisse weiter: Erstens macht China den USA immer klarer Konkurrenz um den Platz als führende imperialistische Macht; zweitens hat der Aufstieg der USA zur Energie-Nettoexporteurin die widersprüchlichen Interessen auf den Energiemärkten (die für Wirtschafts- und Kriegspolitik der letzten 30 Jahre sehr wichtig waren) weiter verschärft. Die Handelskriege, die die USA unter Trump gegen China und die EU begannen, fielen zeitlich mit dem Abschwung in der Industrie zusammen. Die generell gestiegene Konkurrenz zwischen den imperialistischen Blöcken war aber weiteres Öl in diesem Feuer. Wie alle Kriege sind auch Handelskriege kostspielig für alle Beteiligten und schnitten in die Profitmargen der Konzerne. Die Tiefe der Krise liegt auch am ungewöhnlich langen Aufschwung nach 2010 und daran, dass nach der letzten Krise kaum Kapital vernichtet, sondern hauptsächlich mit Staatshilfen und Geldpolitik saniert wurde.

Die fallenden Profitraten führten zu einem Geldfluss in die Finanz- und Hochtechnologieindustrie. Die Finanzindustrie ist ein klassisches Ziel für abwandernde Investitionen, weil die Erlöse hier nicht nur von der Profitabilität der Gesamtwirtschaft, sondern auch dem erwarteten Firmenverkaufspreis abhängen. Der Ertrag einer Aktie zum Beispiel setzt sich aus den Dividenden, aber auch aus der Kursentwicklung zwischen Kauf und Verkauf zusammen. Solange also neues Geld in die Finanzmärkte fließt (zum Beispiel weil die Unternehmensprofite weiter sinken), solange scheinen Wertpapier-Investitionen abgesichert.

Die globalen Finanzmärkte sind zuerst im Februar und dann Anfang März nach einer Krise auf den Ölmärkten zusammengebrochen, scheinen sich aber soweit erholt zu haben. Auch in Österreich sind die meisten Banken stabil. Der Skandal um die Commerzialbank Mattersburg (die ihre Bilanzen zu einem großen Teil gefälscht hatte) und der Zusammenbruch von Wirecard (die ebenfalls im großen Stil betrogen hat) hatten keine Kettenreaktion zur Folge. Das liegt auch an den verschärften internationalen Einlagebestimmungen (seit 2008 müssen Banken einen höheren Prozentsatz ihrer Kredite als Einlagen halten), vor allem aber daran, dass eine große Pleitewelle und damit Kreditausfälle durch kurzfristige staatliche Garantien bisher vermieden werden konnten. Am Ende des Tages sind finanzielle Erträge aber nur eine Umverteilung des gesellschaftlich erarbeiteten Mehrwerts. Bei einer weiteren Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage werden auch Börsen und Banken wieder krachen.

Die kapitalistische Akkumulation ist ein Kreislauf, in dem (1) Geld in Waren investiert, (2) diese Waren in einem Produktionsprozess verarbeitet und (3) die produzierten Waren wieder mit Gewinn verkauft werden. Fehlt es am Geld für Schritt 1, spricht man von einer Kreditklemme, wenn Schritt 2 nicht zustande kommt, von einer Produktionskrise und, wenn die Waren in Schritt 3 unverkauft bleiben, von einer Realisierungs- oder Nachfragekrise.

Die komplexen Verflechtungen der globalen Gesundheits- und Wirtschaftskrise lassen alle drei Glieder des Kreislaufs wackeln. Bisher am sichersten scheint die Verfügbarkeit von Investitionen. Die Produktion musste im Frühjahr schon einmal heruntergefahren werden, bei weiter steigenden Infektionszahlen wird eine erneute Produktionskrise unausweichlich sein. Dazu kommen die ungleichzeitigen Entwicklungen in verschiedenen Ländern: Wenn die globalen Lieferketten zusammenbrechen, kann selbst die rücksichtsloseste Öffnung die Produktion nicht garantieren. Diese globalen Lieferkettenrisse, aber auch der Einkommensverlust breiter Teile der ArbeiterInnenklasse produzieren zudem eine riesige Nachfragelücke; selbst wo die Produktion ungehindert stattfindet, können Warenwerte nicht immer realisiert werden.

In den nächsten Monaten wird es zu einer regelrechten Insolvenzwelle kommen, was die Arbeitslosigkeit sprunghaft erhöhen, die Nachfrage zusammenbrechen lassen und Lieferketten stören wird. Diese Insolvenzen werden auch die Banken unter Druck setzen, deren Kredite nicht zurückgezahlt werden; eine Geldklemme ist abzusehen. Die Krise wird sich also zunächst einmal verschärfen und eine Auflösung ist nicht möglich, bevor die Pandemie nicht überwunden ist.

Gleichzeitig bedeutet die Insolvenz auch eine massive Zerstörung von Kapital. Für die überlebenden KapitalistInnen wird das der Ausgangspunkt für wieder profitable Produktion sein. Dieser Prozess hat nach der globalen Krise 2008 nicht stattgefunden, sondern wurde durch Geldpolitik beziehungsweise mit dem Aufstieg Chinas überspielt. Auch das ist ein Grund für die Tiefe der Krise 2020.

Die quasi schon akzeptierten Zerstörungen in dieser Krise tragen die Möglichkeit einer tatsächlichen Erholung in sich. Sie werden aber gleichzeitig zu einer großen Verschlechterung der Lebenssituation in der ArbeiterInnenklasse führen. Die internationalen Widersprüche werden sich in der Krise zuspitzen. Die KapitalistInnen in den imperialistischen Ländern werden von ihren Regierungen verlangen, sich auf Kosten der internationalen Konkurrenz sanieren zu können. Einen Vorgeschmack darauf, wie staatliche Außenpolitik und nationale Kapitalinteressen zusammenspielen könnten, hat die Handelspolitik unter Trump geliefert. Aber auch dort, wo die Sanierung auf Kosten der gesteigerten Überausbeutung halbkolonialer Länder gehen soll, werden die imperialistischen Mächte sich bald gegenseitig auf die Zehen steigen. Die halbkoloniale Welt ist weitgehend aufgeteilt, und um die offiziell souveränen Nationen an sich zu binden, müssen die Imperialist*innen teilweise kostspielige Zugeständnisse machen (zum Beispiel in der Öffnung von Märkten oder Infrastrukturprojekten), die wiederum die Basis der eigenen Profite untergraben.

Für das österreichische Kapital wird das bedeuten, dass die eigenen internationalen Investitionen mehr unter Druck geraten, wenn die größeren ImperialistInnen mehr auf sich schauen als auf Partnerschaften mit kleineren Ländern. Das bedeutet auch, dass die ohnehin schon wackligen Investitionen österreichischer Banken in Osteuropa weiter unter Druck geraten können. Manche Branchen werden erfolgreich darin sein, die gegenwärtige Krise zur Verlagerung von Produktion und Umstrukturierung bei den Lohnkosten zu nutzen – eine Sanierung direkt auf Kosten der ArbeiterInnen.

Die globalen Zuspitzungen, die wir erwarten, werden also mit Angriffen auf die Beschäftigten einhergehen, die an sich gegebene Möglichkeit der kapitalistischen Krisenlösung wird andere Widersprüche befeuern und zu einer Zeit der Angriffe führen. Auf Österreich kommen zuerst Arbeitsplatzverluste und direkt im Anschluss Sparpakete zu.

Die Industrie hat im Frühjahr ungefähr doppelt so hohe Verluste wie in der globalen Krise 2008 hinnehmen müssen (-7,6 % Bruttowertschöpfung), weil gleichzeitig die Produktion zurückgefahren wurde und Aufträge eingebrochen sind. Die Tourismusbranche war mit einem weitgehenden Wegfallen der internationalen KundInnen und einbrechender Nachfrage im Inland konfrontiert (-70 % im Frühjahr, -20 % im Sommer). Der Handel schließlich konnte den Betrieb weitgehend aufrechterhalten, in einzelnen Bereichen seine Ergebnisse verbessern (Online-Handel, Sportgeräte, Lebensmittel), während andere massive Verluste (Baumärkte, Möbel, Bekleidung) einfuhren. Die Industrie ist für 17 % der unselbstständig Beschäftigten, aber 25 % der Lohnsumme und 28 % der Erlöse und Erträge verantwortlich. Auf den Tourismus entfallen 11 % der Beschäftigten, 6 % der Personalkosten und nur 3,5 % der Erlöse; auf den Handel 22 % der Beschäftigten, 19 % der Lohnsumme und 33 % der Erlöse.

Neben den erwähnten wichtigen Industrien sind noch die Informationstechnologie (3,5 % der nichtfinanziellen Erlöse und Erträge) und die Finanz- und Versicherungsbranche (6,5 %) erwähnenswert. Eine weitere wichtige Großindustrie ist die Energieversorgung, die 2019 6,5 % der Erlöse erzielte und vor allem wegen der engen Verflechtung zwischen staatseigenen, privaten und gemischten Körperschaften, aber auch der Konzentration auf wenige Konzerne großen politischen Einfluss nehmen kann.

2019 waren in Österreich (im Jahresdurchschnitt) 2.960.514 Menschen in 341.102 Unternehmen unselbstständig beschäftigt. Dazu kommen 355.216 im öffentlichen Dienst, davon 39.977 BundeslehrerInnen, 67.560 LandeslehrerInnen, 91.879 in den Landeskrankenanstalten (wovon wiederum die Hälfte ausgegliedert ist).

Die österreichischen Kapitalfraktionen sind durch ihre Verbände und die Regierungsorganisationen stark vertreten. Seit den 1990er Jahren wurden sozialpartnerInnenschaftliche Strukturen, also solche, die zu gleichen Teilen von ArbeiterInnen- und Unternehmensvertretungen beschickt und in die politischen Institutionen mit einbezogen wurden, schrittweise zurückgedrängt. Der Grund dafür liegt darin, dass die wirtschaftliche Grundlage der SozialpartnerInnenschaft, die vergleichsweise Schwäche des österreichischen Kapitals nach dem Zweiten Weltkrieg, über 40 Jahre später vollkommen überwunden war. Die soziale Basis der SozialpartnerInnenschaft war die enge Bindung der ArbeiterInnenbewegung an das „neutrale“ Österreich und den westlichen Kapitalismus. Sie wurde für das Kapital nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Planwirtschaften deutlich weniger wichtig. Seit 2000 gab es ebenso lange Regierungen ohne (2000–2006, 2017–2020) wie mit Beteiligung der traditionellen ArbeiterInnenpartei SPÖ – zwischen 1945 und 2000 lediglich 4 Jahre ohne. Das österreichische Kapital konnte seine Macht im Vergleich zur Arbeiter*innenbewegung in den letzten 20 Jahren schrittweise ausbauen, die schwarz-blaue Koalition Kurz 1 und ihre schwarz-grüne Nachfolgerin Kurz 2 beruhen auf diesem „neuen Konsens“.

Das Verhältnis der Kapitalfraktionen zueinander hat sich deutlich turbulenter entwickelt. Die österreichische Finanzindustrie hat die entscheidende Rolle in der Entwicklung zu einem eigenständigeren Imperialismus gespielt, vor allem durch die schnelle Expansion nach Osteuropa und auf den Balkan seit den 1990er Jahren. Ein völliges Abschütteln der Abhängigkeit vom deutschen Imperialismus ist in weiten Teilen nicht gelungen. Bis auf einzelne Ausnahmen (z. B. Bosnien) ist für Österreich weiterhin die Ausübung einer imperialistischen Rolle nur durch Rückendeckung der EU und des deutschen Kapitals möglich. Wie in den meisten Ländern hat die Finanzindustrie aber seit der globalen Krise ab 2007 relativ an Bedeutung verloren. 2005 war sie noch für 10,5 % der österreichischen Umsatzerlöse verantwortlich, 2013 nur noch für 8,1 %, und 2018 waren es 6,5 %.

Der Aufstieg zum eigenständigeren imperialistischen Land hat den verschiedenen großen Kapitalfraktionen auf unterschiedliche Art Vorteile gebracht. Die Industrie profitiert von der Einbindung in internationale Produktionsketten und davon, zunehmend am Ende dieser Ketten zu stehen und so einen größeren Teil des Profits realisieren zu können. Der Handel profitiert von den fallenden Zöllen, auch durch die Konsolidierung der EU und eine steigende Binnennachfrage. Dem Tourismus bringen Reiseerleichterungen mehr internationale und teilweise zahlungskräftigere Gäste. Das imperialistische Projekt hat dadurch die Interessenunterschiede zwischen den nationalen Kapitalfraktionen verkleinert und ihre Position gegenüber der globalen und österreichischen ArbeiterInnenklasse verbessert.

In Bezug auf die Pandemiesituation werden aber auch Interessenunterschiede sichtbar. Im Handel, zum Beispiel besonders in den Baumärkten, haben die Betriebsbeschränkungen im Frühjahr zu großen Verlusten geführt. Auch die Nachfrage ist wegen der zusammenbrechenden Auftragslage im Kleingewerbe und den Einkommensverlusten in breiten Teilen der Bevölkerung deutlich zurückgegangen. Einzelne Sparten konnten ihre Ergebnisse verbessern (Onlinehandel, Lebensmittel, Sportgeräte), das gleicht die Verluste aber nicht aus. Der Handel ist an möglichst geringen Einschränkungen interessiert, die Regierung hat lange versucht, dem entgegenzukommen. Dem Zusammenbruch der Inlandsnachfrage hat sie weniger entgegenzusetzen.

Die Industrie musste ebenfalls weitgehende Verluste hinnehmen. Die reihen sich aber ein in einen allgemeinen Konjunkturrückgang seit 2019 und einen zu großen Kapitalstock. Insofern nutzen vor allem große Industrieunternehmen die gegenwärtige Situation für Umstrukturierungen auf Kosten der ArbeiterInnen, verschieben Produktion ins Ausland und nehmen die großzügigen Staatshilfen in Anspruch. Das ändert aber nichts an der rückläufigen internationalen Auftragslage und der Überakkumulation. Diese kann nur durch die umfassende Zerstörung von Kapital, also Firmenpleiten, gelöst werden. Der Industrie kommt zugute, dass die Corona-Einschränkungen im Herbst nicht auf Betriebsstätten zutreffen. Die Regierung hat das Aufrechterhalten der Produktion auch zum Ziel erklärt, was das Infektionsgeschehen weiter verschlimmern wird.

Tourismus und Gastgewerbe, klassische Niedriglohnsektoren, mussten mit den größten Verlusten kämpfen. In Wien und Niederösterreich brach die Nachfrage im Frühjahr um 90 % ein. Der Anstieg der Inlandsreisen im Sommer dämpfte die Verluste, konnte aber das Wegfallen der internationalen Reisen nicht einmal ansatzweise ausgleichen. Während die Gastronomie sich gegen jegliche Einschränkungen ausgesprochen hat, hoffen die Unternehmen im Wintertourismus, dass sie nach einem kurzen Lockdown umfangreich aufsperren können. Die Regierung kommt beiden Bereichen durch die Lockdown-Umsatzerstattung (geschlossenen Betrieben werden 80 % des 2019er Umsatzes direkt ausgezahlt, andere Staatshilfen wie Kurzarbeit werden nicht abgezogen) entgegen.

Die Symptombekämpfung in der Pandemie ist nicht nur sehr unternehmensfreundlich, sondern auch recht weitgehend. Das sorgt für relative Einigkeit zwischen den Kapitalfraktionen, obwohl sie in Detailfragen ganz unterschiedliche Interessen haben. Die zugrundeliegenden Probleme können die Regierungszahlungen aber nicht lösen, was auch die innerkapitalistischen Konflikte weiter anheizen wird, wenn die Krise anhält. Nach einer längeren Öffnung muss sich die österreichische ArbeiterInnenklasse auf massive Angriffe und Massenkündigungen vorbereiten.

Österreich wird schon vom zweiten BürgerInnenblock seit der Wahl 2017 regiert, als die ÖVP sich unter Kurz neu aufstellte, scharf nach rechts orientierte und mit der FPÖ statt traditionell der Sozialdemokratie koalierte. Auch nach dem Zusammenbruch der Regierung im Laufe der Ibiza-Affäre ging die Volkspartei aus den Neuwahlen gestärkt durch enttäuschte FPÖ-WählerInnen hervor und holte sich die Grünen als willige KoalitionspartnerInnen ins Regierungsboot.

Das ist nach den schwarz-blauen Koalitionen 2000–2006 der zweite Versuch der Konservativen, die SozialpartnerInnenschaft in Österreich entscheidend zurückzudrängen. Nur die politische Krise nach der FPÖ-Parteispaltung, Koalitionschaos 2006 und die Wirtschaftskrise 2008 brachten die ÖVP wieder an den „grünen Tisch“. Ihr strategisches Ziel ist eine politische Ablösung des österreichischen Kapitals von den Institutionen der ArbeiterInnenbewegung. Wirtschaftlich ist diese mit der schrittweisen privatisierten Verstaatlichung weitgehend abgeschlossen; die Gewerkschaftsbewegung spielt keine relevante Rolle mehr in der Kapitalakkumulation. Die verbürgerlichte SPÖ setzt dem kaum etwas entgegen, auch wenn sie ihre Existenzberechtigung (zu Recht) in Gefahr sieht.

Die Regierung fordert jetzt den nationalen Schulterschluss ein und ist bereit, ihre unternehmensfreundliche Krisenpolitik mit sozialpolitischen zivileren Minimaßnahmen zu flankieren. Außerdem verstehen auch die grauslichsten Neoliberalen, dass ein Komplettverfall der Einkommen in der Krise auch den KapitalistInnen schadet. Sie planen aber bereits massiven Sozialabbau (z. B. degressives Arbeitslosengeld), wie bei der Abschaffung der „Hacklerreglung“ sichtbar wurde, und weitere Angriffe, was auch die Grünen verstehen. Sie können sich im Zweifelsfall aussuchen, ob sie die Austerität mittragen oder durch FPÖ, NEOS oder eine besonders rückgratlose Spielart der SPÖ ersetzt werden.

Die SPÖ hatte trotz des Zusammenbruchs der schwarz-blauen Regierung von 2017 auf 2019 5,7 Prozentpunkte verloren. Bis auf eine beeindruckende, aber einmalige Massendemonstration gegen den 12-Stunden-Tag hatte die traditionell sozialdemokratisch geführte Gewerkschaftsbewegung auch keine echte Oppositionspolitik vorzuweisen. Die gesamte „rote Hälfte“ der Republik befindet sich auf dem Rückzug, aufgerieben zwischen dem eigenen Anspruch, den Kapitalismus mitzuverwaltenn und dem Unwillen des Kapitals, sie das weiter tun zu lassen.




Terroranschlag in Wien

Alex Zora, Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1125, 10. November 2020

Am 2. November, dem letzten Tag vor der Einführung nächtlicher Ausgangsbeschränkungen, hat sich in Wien der erste größere Terroranschlag seit Jahrzehnten ereignet. Ein Anhänger des sogenannten Islamischen Staats (IS) hat am Abend im ersten Bezirk, in der Gegend des Schwedenplatzes, vier Menschen ermordet, viele weitere verletzt und die Stadt in Angst und Schrecken versetzt. Darüber hinaus hat er wieder einmal den reaktionären Charakter des Dschihadismus offenbart, der eine kulturelle und religiöse Spaltung provoziert und in dieser Nacht unschuldige ArbeiterInnen getroffen hat.

Hintergründe

Wie mittlerweile bekannt, handelt es sich bei dem 20-jährigen Angreifer, der von der Polizei erschossen wurde, um einen in Österreich aufgewachsenen Jugendlichen. Kein „importierter Terrorist“, wie es spätestens seit der sogenannten Flüchtlingskrise von den Medien und den rechten Parteien immer geheißen hatte. Er hatte sowohl die österreichische als auch die mazedonische StaatsbürgerInnenschaft. Die Tatsache, dass der Täter in Österreich aufgewachsen ist und die österreichische StaatsbürgerInnenschaft besitzt, scheint den meisten etablierten Parteien sauer aufzustoßen. Jetzt sollen Menschen, die sich terroristischen Vereinigungen anschließen, zu „AusländerInnen“ gemacht werden, indem ihnen die österreichische StaatsbürgerInnenschaft entzogen wird. Diese Forderung stellt in der jetzigen Situation die SPÖ auf – eine Forderung, die letztes Jahr noch von der FPÖ kam, und von der Sozialdemokratie damals abgelehnt wurde.

Die genauen Hintergründe der Tat sind noch nicht gänzlich aufgeklärt. Es wirkt so, als ob sich der Anschlag in Wien in eine Reihe von anderen Attacken international einreihen würde. Was alle diese gemein hatten, war, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zentral vom Islamischen Staat geplant und durchgeführt wurden wie noch die Terroranschläge vor einigen Jahren (Charlie Hebdo, Bataclan, LKW-Amokfahrt in Nizza etc.), was in erster Linie daran liegen dürfte, dass der Islamische Staat seine Machtbasis in Syrien und dem Irak verloren hat.

Rassismus und Antirassismus

Die Reaktionen auf das Attentat in Wien waren sehr gemischt. Auf der einen Seite gab es den zu erwartenden antimuslimischen Rassismus von Seiten der FPÖ. Auch die Identitäre Bewegung bzw. ihre Tarnorganisation versuchte, die Tat für sich zu nutzen, und veranstaltete am 5. November einen Miniaufmarsch, der aber von aktiven AntifaschistInnen teilweise blockiert und verzögert werden konnte.

Die Regierung versuchte hingegen, eine Stimmung der nationalen Einheit und des nationalen Zusammenhalts zu beschwören. Während wir gegen jegliche Spaltung der Gesellschaft nach Religion oder Herkunft auftreten, kann es für uns keine Einheit mit dem Kapital und seiner Regierung geben, die die kapitalistische Ausbeutung und die imperialistische Abhängigkeit aufrechterhält und täglich für den Tod von Menschen im Mittelmeer verantwortlich ist. Insbesondere im Zuge des verheerenden (Nicht-)Managements der Coronavirus-Pandemie und der kürzlich verschärften Beschränkungen kam ihr der Anschlag vermutlich durchaus gelegen, um von ihrem Versagen abzulenken. Gleichzeitig ist wahrscheinlich, dass von Seiten der Regierung, insbesondere von Innenminister Nehammer, die Situation genutzt wird, um weitere Eingriffe in demokratische Freiheiten umzusetzen. Von Seiten der EU wurde kürzlich schon angekündigt, dass in Zukunft verschlüsselte Kommunikation verunmöglicht werden soll, indem Plattformanbieter wie WhatsApp, Signal oder Telegram dazu gezwungen werden sollen, sogenannte Generalschlüssel zur Verfügung zu stellen, die den Zugang zu verschlüsselter Kommunikation für die Geheimdienste sicherstellen sollen. In Österreich wird auch wieder über Sicherungshaft gesprochen, die ursprünglich geplant war, um „gefährliche Asylsuchende“ ohne besonderen Grund wegzusperren – also Freiheitsentzug ohne Tatverdacht. Dies scheiterte bis jetzt, da sich ein Widerspruch zur Verfassung ergab, wo das Recht auf persönliche Freiheit einen relativ hohen Rang genießt.

Als linke Kräfte müssen wir uns entschieden gegen beide dieser Vorschläge stellen. Abgesehen davon, dass zweifelhaft ist, ob diese Maßnahmen wirklich zum stärkeren Verhindern von Anschlägen führen, fallen sie negativ auf alle zurück, die Opposition gegen dieses System zeigen wollen – also auch auf uns.

Neben diesen reaktionären Gesetzesvorschlägen gab es aber in Wien auch eine Welle der Solidarität, des Antirassismus und der positiven Hervorhebung von migrantischen bzw. muslimischen HelferInnen von Verwundeten. Diese klare Positionierung weiter Teile der Bevölkerung, die genau nicht die Mehrheit der MuslimInnen in Wien und in Österreich mit der Tat identifizieren, ist wichtig und richtig. Denn nicht nur ist es einfach falsch, MuslimInnen mit Terror zu identifizieren, es ist eben auch genau der Wunsch des IS, durch seine Terroranschläge den Rassismus gegenüber MuslimInnen zu verstärken, um leichter AnhängerInnen zu rekrutieren.

Behördliches Versagen

Schon kurze Zeit nach dem Anschlag musste die Story der Regierung und insbesondere von Innenminister Nehammer, dass die Behörden so brillant agiert hätten und der Angreifer das Deradikalisierungsprogramm perfide getäuscht hätte, in Zweifel gezogen werden. Doch dazu noch kurz die Vorgeschichte. Der IS-Sympathisant hatte 2018 versucht, über die Türkei nach Syrien einzureisen, wurde aber von ersterer verhaftet und nach Österreich zurückgestellt. In Österreich wurde er wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen und terroristischen Organisation zu 22 Monaten Haft verurteilt. Er wurde Ende 2019 aus der Haft entlassen. Die Rufe, die jetzt laut werden und meinen, dass die frühzeitige Haftentlassung der zentrale Fehler gewesen wäre, verkennen dabei, dass er auch ohne diese im Juli diesen Jahres regulär entlassen worden wäre.

Sehr bald nach dem Anschlag wurde dann bekannt, dass die Slowakei Österreich im Oktober gewarnt hatte, dass der Täter dort Munition kaufen wollte. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) hatte aber mit diesen Informationen offensichtlich nichts veranlasst und auch die zuständigen Personen aus dem Deradikalisierungsprogramm sowie die Justiz nicht informiert. Zusätzlich dazu gab es auch schon im Juli eine Warnung an das Wiener Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT) von deutschen Behörden, die meldeten, dass der Wiener IS-Anhänger von amtsbekannten deutschen KollegInnen besucht worden wäre. Von Innenminister Nehammer wird das ganze auf Kommunikationsprobleme zurückgeführt. Die genauen Hintergründe dafür sind noch nicht bekannt.

Die Antwort auf den Terror in Wien kann aber nicht ein allmächtiger Repressionsapparat des kapitalistischen Staates sein, der sich letztlich auch gegen die revolutionäre ArbeiterInnenbewegung richten wird. Die Antworten müssen lauten: antirassistischer Klassenkampf, internationale Solidarität und Antiimperialismus!




Wien-Wahlen 2020: SPÖ-Sieg, rechtes Debakel und Erfolg für LINKS

Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1121, 14. Oktober 2020

Die Wien-Wahlen sind geschlagen. Die SPÖ hat trotz eines absoluten Verlusts an Stimmen, dank der gesunkenen Wahlbeteiligung, einen deutlichen Sieg davontragen können, während die FPÖ von 30 % auf unter 8 % abgestürzt ist. Am stärksten profitiert hat davon die ÖVP.

Wahlen während der Krise

Thematisch waren die Wahlen recht stark vom Thema Corona-Pandemie geprägt. Vor allem der Schlagabtausch zwischen ÖVP-geführter Bundesregierung und SPÖ-geführter Stadtregierung hat erkennen lassen, wie sehr die Parteien das Thema politisch auszuschlachten versuchten. Insbesondere von FPÖ und NEOS kam hier die Kritik, dass die Kleinunternehmen entweder durch überzogene Maßnahmen schikaniert (FPÖ) oder zu wenig Förderung erhalten würden (NEOS). Daneben aber war das Thema der Wirtschaftskrise im Wahlkampf recht wenig präsent, besonders aus Perspektive der lohnabhängigen Bevölkerung. Die Welle der Massenentlassungen von Großunternehmen überrollt schon jetzt das Land. Wirkliche Lösungen hatte von den etablierten Parteien aber keine anzubieten. Dabei wird diese Problematik in den kommenden Wochen und Monaten vermutlich nur an Intensität zunehmen.

Wichtige Themen wie das Wahlrecht für alle Menschen, die in Wien leben, kamen dieses Jahr vor allem durch die starke Kampagnenführung von LINKS vermehrt zur politischen Diskussion. Die SPÖ unter Michael Ludwig positionierte sich hier klar: Wenn es nach ihm geht, soll das Wahlrecht an die StaatsbürgerInnenschaft gekoppelt und somit auch weiterhin ein großer Teil der ArbeiterInnenklasse davon ausgeschlossen sein. Die Grünen zeigten hingegen vor allem durch ihr Verhalten in der Bundesregierung, wo sie zusammen mit der ÖVP die Aufnahme auch nur einer einzigen geflüchteten Person aus dem abgebrannten Lager Moria auf Lesbos verweigerten, wie bereitwillig sie sich der ÖVP in der Koalition unterordnen, um ja nicht ihre Utopie eines grüneren, geschweige denn grünen Kapitalismus zu gefährden.

Ergebnisse

Die Ergebnisse nach Parteien: SPÖ 41,6 % (+ 2,0 %), ÖVP 20,4 % (+11,2 %), Grüne 14,8 % (+ 3,0 %), NEOS 7,5 % (+ 1,3 %), FPÖ 7,1 % (-23,7 %), Team HC 3,6 %, LINKS 2,1 %. Insgesamt gab es vor allem einen dominierenden Faktor bei diesen Wahlen, nämlich die deutlich gesunkene Wahlbeteiligung, in erster Linie vermutlich wegen Corona, aber auch wegen der enttäuschten FPÖ-WählerInnen. Die SPÖ hat zum Beispiel trotz der prozentuellen Zugewinne an absoluten Stimmen von 330.000 auf 302.000 abgebaut und insgesamt 73.000 Menschen, die sie beim letzten Mal gewählt haben, haben diesmal gar nicht abgestimmt. Trotz der günstigen Umstände, die ihr den Wahlsieg beschert haben, setzt sich der Niedergang der Sozialdemokratie fort. Am meisten verloren hat aber die FPÖ: Von den 257.000 WählerInnen von 2015 sind hunderttausend zuhause geblieben und weitere hunderttausend haben sich in erster Linie auf ÖVP, aber auch auf SPÖ und Team HC Strache verteilt. Aber der fulminante Wahlerfolg der SPÖ – der erste prozentuale Zugewinn in Wien seit 2005 – lag in erster Linie an der Schwäche der Rechten und nicht an der eigenen Stärke. Insgesamt fielen die dezidiert rechten Parteien (FPÖ, ÖVP und HC) von insgesamt 40 % bei den letzten Wahlen auf etwas mehr als 30 % dieses Jahr. Grund dafür ist in erster Linie natürlich die Ibiza-Affäre und die Spaltung der FPÖ samt Spesenaffäre um HC Strache. An dieser Stelle bemerkenswert ist auch, dass die SPÖ, mit ihrer Ablehnung des Wahlrechts für alle und ihrer Zurückhaltung gegenüber rechten Forderungen nach weiterer Einschränkung des Gemeindebauzugangs, im rechten WählerInnenpool gefischt hat, dort aber kaum etwas gewinnen konnte.

Die WählerInnenströme zeigen also deutlich, dass es bei diesem Urnengang keinen stark ausgeprägten Linksruck gab. Die SPÖ wurde von deutlich weniger Menschen gewählt als das letzte Mal und die verlorenen FPÖ-WählerInnen blieben in erster Linie zuhause oder gingen zur ÖVP. Nur eine Minderheit ging zur SPÖ zurück. Diese rechte WählerInnengruppe wird sich, wenn sie nicht durch klassenkämpferische (d. h. auch antirassistische) Politik gewonnen wird, auch in den nächsten Jahren nicht in Luft auflösen und für rechte Parteien wie die FPÖ, die ÖVP oder gar Schlimmeres mobilisierbar sein.

Besonders hervorzuheben ist bei diesen Wahlen auch das speziell starke Abschneiden von einigen „Kleinparteien“. Mit LINKS (2,1 %) , Bierpartei (1,8 %) und SÖZ (1,2 %) sind mehr als 5 % der meist als „Sonstige“ angeführten Stimmen an Parteien gegangen, die von Anfang an recht schlechte Aussichten auf einen Einzug in den Gemeinderat hegten. Speziell bei JungwählerInnen (unter 30) haben sie in Summe 12 % der Stimmen bekommen (mit recht großer statistischer Schwankungsbreite: LINKS 5 %, Bierpartei 4 %, SÖZ 3 %). 12 % gab es für die „Sonstigen“ auch bei Menschen, die mit ihrem Einkommen schlecht auskommen.

Künftige Koalition

Nach dem erfolgreichen Wahlabend für die SPÖ hielten sich ihre VertreterInnen demonstrativ vage, was eine künftige Koalition für eine Stadtregierung anbelangt. Rein rechnerisch wäre eine mit jeder beliebigen Partei im Gemeinderat für die SPÖ möglich. Mit der FPÖ hat Bürgermeister Ludwig eine Koalition ausgeschlossen, doch alle 3 anderen Optionen – ÖVP, Grüne, NEOS – werden von der SPÖ wohl realistisch in Betracht gezogen.

Eine recht unwahrscheinliche Koalition wäre eine gemeinsam mit den NEOS, auch wenn diese sich bisher recht offen dafür gezeigt haben. Die einzige Sache, die hier für die Sozialdemokratie dafür sprechen würde ist, dass sie die NEOS in einer Regierung ziemlich absolut dominieren könnte und mit ihnen gleichzeitig eine reine „Oppositionsregierung“ in Wien gegen die Bundesregierung aufgebaut werden könnte. Gleichzeitig ist diese Koalition sowohl bei der SPÖ-WählerInnenschaft (10 % Zustimmung) wie auch bei der Wiener Bevölkerung (9 % Zustimmung) als ganzes recht unbeliebt. Dazu kommt natürlich auch, dass die Schwerpunkte der NEOS – sozialer Liberalismus mit beinharter Marktgläubigkeit und Neoliberalismus – nicht unbedingt so stark mit den Schwerpunkten der SPÖ zusammenpassen würden. Eine Koalition mit den NEOS würde für die ArbeiterInnenklasse wohl eine noch stärkere Anpassung der Stadtregierung an den Neoliberalismus und eine vermutlich härtere Sparpolitik bedeuten.

Eine Koalition mit der ÖVP wäre vermutlich die größte Anbiederung der SPÖ an die Bourgeoisie und ihre Hauptpartei. Für die Sozialdemokratie wäre das wohl nur aus der Perspektive gedacht, sich auch im Bund an die ÖVP anzunähern und wieder auf eine baldige Verwendung als Juniorpartnerin zu hoffen. Aber da die nächsten Wahlen im Bund noch deutlich entfernt liegen und die ÖVP bisher auch kaum Signale auf einen SPÖ-freundlicheren Kurs gestellt hat, ist das wohl auch eine unwahrscheinliche Variante. Nichtsdestotrotz zeigt die Erfahrung, dass die SPÖ immer gut darin ist, sich der Bourgeoisie und ihrer wichtigsten Partei anzupassen.

Am wahrscheinlichsten ist wohl eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den Grünen. Die rot-grüne Koalition bleibt trotz Schwarz-Grün im Bund die beliebteste Koalitionsvariante in der Wiener Bevölkerung (36 % Zustimmung) sowie in der SPÖ-WählerInnenschaft (54 % Zustimmung). Generell haben sowohl die Grünen als auch die SPÖ bei denen gepunktet, für die die Lebensumstände (in Wien) gut sind. Daher ist ein bequemes Fortsetzen des Status quo mit einer rot-grünen Koalition in Wien wohl das wahrscheinlichste Ergebnis. Das bedeutet natürlich auch eine Bindung der ArbeiterInnen an das bürgerlich-soziale Wien und kosmetische Politik anstelle radikaler Bewältigung der Klimakrise.

LINKS

Das neue Wahlprojekt LINKS, an dem wir auch als Arbeiter*innenstandpunkt beteiligt sind, konnte bei den Wahlen durchaus einen Achtungserfolg erzielen. Das große Ziel, in den Gemeinderat einzuziehen, wurde zwar verfehlt, mit den begrenzten personellen und finanziellen Ressourcen sowie der eingeschränkten Berichterstattung durch die bürgerlichen Medien war das aber von Anfang an realistisch. Nichtsdestotrotz war es das stärkste Ergebnis einer Kraft links der Sozialdemokratie und der Grünen seit 1973 in Wien. Unterm Strich wird LINKS in 15 Bezirken mit insgesamt 23 BezirksrätInnen vertreten sein.

Die stärksten Ergebnisse wurden dabei in den Innen- sowie in stark migrantisch geprägten, proletarischeren Bezirken (Rudolfsheim-Fünfhaus, Ottakring, Leopoldstadt, Brigittenau) erzielt. Die schwächsten Ergebnisse gab es neben den reichsten Bezirken (Innere Stadt, Hietzing, Döbling) vor allem in den ebenfalls proletarischeren „Flächenbezirken“ (Favoriten, Simmering, Donaustadt, Floridsdorf, Liesing). Gründe dafür gibt es wohl einige: Auf der einen Seite ist in diesen Bezirken die AktivistInnenbasis nicht besonders stark (vor allem in Relation zur EinwohnerInnenzahl), auf der anderen Seite sind die Bezirke aufgrund ihrer Größe um einiges schwieriger mit Inhalten abzudecken. Die Flächenbezirke waren aber auch in den letzten Jahren Hochburgen der FPÖ und dort hat sie auch bei diesen Wahlen noch ihre stärksten Ergebnisse einfahren können. Ein Kampf zwischen Rot und Blau war hier noch eher im Gange als in anderen Bezirken. Gleichzeitig hätte sich hier wohl auch ein expliziter und deutlicherer Bezug von LINKS auf die ArbeiterInnenklasse ausgezahlt.

Das leicht stärkere Abschneiden von LINKS auf Bezirksebene (wienweit 2,5 %) gegenüber der Gemeindeebene (2,1 %) führt auf manchen Seiten (KPÖ Steiermark, Junge Linke) dazu, noch stärker ihre Strategie der Bezirks- und Grätzlarbeit zu betonen. Dabei geht ein guter Teil der Stimmendifferenz wohl auf das starke Abschneiden bei den nur auf Bezirksebene wahlberechtigten EU-WählerInnen zurück und der Rest wohl auf die Tatsache, dass eine Stimme auf Bezirksebene vielen Leuten entweder weniger „verloren“ vorkam oder der Einzug in die Bezirksvertretung einfacher möglich ist als in den Gemeinderat. Gerade bei LINKS gab es im Vergleich zu „Wien anders“ vor 5 Jahren einen deutlich stärkeren Fokus auf allgemeinpolitische Themen (Mindestlöhne, Wahlrecht für alle, Enteignung von Großkonzernen etc.) und politische Mobilisierungen auf der Straße und genau darin hat sich auch der Erfolg gezeigt. Die lokale Vertretung in der Mehrheit der Bezirksvertretungen kann allerdings jetzt gut für einen weiteren Aufbau der Organisation genutzt werden.

Ausblicke

Egal welche Koalition kommen wird, sie wird von der SPÖ dominiert werden. Dabei ist kaum zu erwarten, dass sich ihr Kurs in absehbarer Zeit relevant nach links verschieben wird, vor allem nicht wenn man mit dem Kurs von Ludwig auch Wahlerfolge erzielen kann. In den sozialen Kämpfen und Klassenkämpfen, die die weitere Entwicklung der Krise unweigerlich mit sich bringen wird, ist es deshalb möglich, auf Basis der gesteigerten Bekanntheit und der gewonnenen Ressourcen von LINKS weitere Schritte in Richtung Aufbau einer neuen antikapitalistischen, revolutionären ArbeiterInnenpartei zu setzen. Gelingen wird das vor allem, wenn es geschafft wird, sich unter den kämpferischsten und fortschrittlichsten Schichten zu verankern. Große Bedeutung haben in diesem Prozess die politische Konsolidierung der AktvistInnen, die Ausarbeitung einer Perspektive über die Wahlen hinaus in Form gemeinsamer Kampagnentätigkeiten und die Schaffung von Formaten, mit denen sich neu Interessierte trotz Corona in LINKS einbringen können. Das Ergebnis einer Konsolidierung muss sich in einem kürzeren und konsistenteren Programm für den österreichischen Klassenkampf (nicht nur für eine Wahl) mit einer klaren sozialistischen Strategie ausdrücken.




Interview zum Wahlkampf in Wien: LINKS und der Kampf für eine ArbeiterInnenpartei

Interview mit Heidi Rieder, Arbeiter*innenstandpunkt, Neue Internationale 250, Oktober 2020

Der Arbeiter*innenstandpunkt ruft bei den Wiener Gemeinderatswahlen zur Wahl von LINKS auf. Einzelne GenossInnen kandidieren auf deren Liste. Heidi Rieder ist Kandidatin für die Bezirksvertretung in Wien Ottakring (16. Bezirk) und aktiv im Arbeiter*innenstandpunkt.

Neue Internationale (NI) : Welche Bedeutung haben die Wahlen in Wien bundespolitisch?

Antwort: Wien ist das größte und wirtschaftlich wichtigste Bundesland in Österreich. Es ist als letzte relevante Hochburg der Sozialdemokratie der konservativen ÖVP seit jeher ein Dorn im Auge. Unter Sebastian Kurz hat sich dieser Konflikt nur noch mehr verschärft. Doch hier geht es nicht in erster Linie darum, dass die SPÖ hier viel zu radikale Politik für die ArbeiterInnen machen würde. Vielmehr geht es darum, dass eines der wichtigsten Machtzentren der Republik sich außerhalb des Zugriffs der ÖVP befindet.

Deshalb gibt es immer wieder Auseinandersetzungen zwischen der Wiener Landesregierung und der Bundesregierung, sei es um die Frage der Mindestsicherung, der Aufnahme von Kindern aus Moria oder der Corona-Pandemie. Bei den letzten Gemeinderatswahlen 2015 war die Angst bei vielen groß, dass die FPÖ eine ernsthafte Gefährdung für die SPÖ darstellen könnte. Damals lag sie tatsächlich auch mit über 30 % nicht einmal zehn Prozentpunkte hinter der SPÖ. Dieses Mal hingegen ist die ÖVP in den Umfragen deutlich hinter der SPÖ angesiedelt und es gibt kaum eine Gefährdung für diese.

Wesentlich für unser Engagement bei LINKS ist, dass sich LINKS deutlich positiv von der Politik der SPÖ abhebt. Hier geht es nämlich nicht darum, wie der Kapitalismus besser oder humaner verwaltet werden kann, sondern der Anspruch besteht, den Kapitalismus als solches abzuschaffen. Dabei machen auch radikale Forderungen wie ein Wahlrecht für alle, die Enteignung von Leerstand und der umweltschädlichsten Konzerne (wie der OMV) unter Kontrolle der Beschäftigten deutlich, in welchen Bereichen die SPÖ keine adäquaten Antworten bietet.

NI: Welches sind die zentralen Themen im Wahlkampf? Welche Bedeutung haben Corona-Gefahr, Krise und Rassismus? Welche Rolle spielen drohende Massenentlassungen und Arbeitslosigkeit?

Antwort: Die Corona-Situation ist wie derzeit eigentlich überall auch beim Wiener Wahlkampf ein zentrales Thema. Gerade die in den letzten Wochen massiv ansteigenden Fallzahlen in Wien versucht die ÖVP zu nutzen, um die SPÖ zu diskreditieren. Die Themen Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und Massenentlassungen spielen hingegen tendenziell eine untergeordnete Rolle. Das hat sich in den letzten Wochen etwas geändert, da eine Reihe von Großbetrieben Massentlassungen vorgenommen hat (z. B. bei MAN 2.300).  Für die Grünen ist die aktuelle Lage in Moria ein kritischer Punkt. Während sie auf Gemeindeebene versuchen, sich gut darzustellen, ziehen sie auf Bundesebene den Schwanz vor der ÖVP ein und wollen nicht riskieren, die Koalition zu zerstören. Das wird die Grünen in Wien sicher einige Stimmen kosten. Das Thema Rassismus stellt vor allem die FPÖ, aber auch Heinz-Christian (HC) Strache (der diesmal mit einer eigenen Partei kandidiert, dem Team HC Strache, vormals DAÖ) in den Vordergrund. Eine antirassistische Politik ist hingegen im Wahlkampf kaum präsent. Insbesondere die SPÖ versucht, zu diesem Thema doch immer wieder eher zu schweigen. In ihrem Wahlprogramm nimmt es quasi keinen Platz ein.

NI: Welche Antworten vertreten die offen bürgerlichen Parteien und die SPÖ? Wie verhalten sich die Gewerkschaften?

Die FPÖ ist, da sie wieder aus der Regierung geflogen ist – genauso wie das Team HC Strache – wieder bei ihrer alten Leier von der „Sozialen Heimatpartei“ angekommen. Deutlich stärker als der „soziale“ Teil ist aber der Rassismus ausgeprägt. Das zeigt sich auch auf zutiefst rassistischen Wahlplakaten, die in Deutschland wohl auch von der NPD stammen könnten. Die ÖVP setzt in erster Linie auf einen Imagewahlkampf und moderne Floskeln, Inhalte stehen stark im Hintergrund. Z. B. ist ihr Wahlprogramm mehrere Wochen nach allen anderen Parteien veröffentlicht worden. Dort wo es Inhalte gibt, sind sie entweder rassistisch (die Weigerung, auch nur eine einzige Person aus Moria aufzunehmen) oder unternehmensfreundlich. Die Grünen sind in einer Zwickmühle gefangen und versuchen, sich in Wien zumindest rhetorisch von der ÖVP abzugrenzen. Wirkliche Lösungen für die Probleme unserer Zeit haben sie aber keine. Ähnlich ist es auch bei der SPÖ. Hier wird zwar mehr oder weniger offensiv auch für eine Arbeitszeitverkürzung geworben, aber für die Beschäftigten der Stadt Wien, für die das sehr einfach umsetzbar wäre, gab es das bisher nicht.

NI: Warum unterstützt ihr LINKS im Wahlkampf? Wie charakterisiert ihr LINKS? Welche politische und programmatische Ausrichtung vertretet ihr?

Antwort: Was wir brauchen, ist eine ArbeiterInnenpartei. Also eine Partei, die die Notwendigkeit erkennt, dieses System zu stürzen, und die davon ausgeht, dass die zentrale Kraft hierfür die ArbeiterInnenklasse ist. Eine solche Kraft gibt es in Österreich derzeit nicht. Die SPÖ hat zwar über die Gewerkschaften noch eine relativ enge Verbindung zur ArbeiterInnenklasse – deren objektives Interesse, dieses System zu überwinden, vertritt sie als bürgerliche ArbeiterInnenpartei aber schon lange nicht mehr. Regelmäßig werden die ArbeiterInnen von ihr verraten. LINKS ist keine ArbeiterInnenpartei. Aber es ist ein Projekt, das eine relevante Anzahl an Menschen in der Wiener Linken in einem Organisierungsprozess zusammenbringt. Es ist ein Projekt, das im Gegensatz zu den etablierten Parteien noch entwicklungsfähig ist und auch seiner Mitgliedschaft Raum für Diskussion und Mitbestimmung bietet.

Wir als Arbeiter*innenstandpunkt können hier offen für unsere Politik eintreten und uns dafür einsetzen, dass die Politik von LINKS in eine richtige Richtung geht. Daher birgt LINKS das Potential, sich auch tatsächlich noch zu einer ArbeiterInnenpartei zu entwickeln, wenn in den kommenden Monaten die richtige Politik betrieben wird. Ein weiterer wichtiger Faktor ist auch, dass LINKS als Organisation den Anspruch hat, auch nach der Wahl weiter aktiv und aktivistisch zu bleiben, und sich nicht auf die Arbeit in diversen Gremien beschränken möchte. Mit LINKS tritt ein Projekt mit antikapitalistischem Anspruch zur Wahl an, das es auch tatsächlich schafft, Menschen zu erreichen und Einfluss zu gewinnen. Daher halten wir es für notwendig, dabei mitzuarbeiten und diese Partei auch bei den Wahlen zu unterstützen. Innerhalb von LINKS versuchen wir, Diskussionen anzustoßen und eine klare klassenbewusste Linie zu fördern.

NI: Welche Bedeutung hat der Wahlkampf für den Aufbau einer Bewegung gegen Krise und Rassismus? Welche Schritte schlagt ihr für deren Aufbau vor?

Antwort: Ich denke, dass LINKS, wenn es nach der Wahl nicht an Dynamik verliert, zentral für eine solche Bewegung sein kann. Neben einer relativ großen Reichweite verfügt LINKS auch über die Stärke Menschen, aus unterschiedlichsten Organisationen und Bewegungen unter einem Dach zu vereinen. Für den Aufbau einer Antikrisenbewegung ist das extrem hilfreich, weil es den Aufbau eines großen Antikrisenbündnisses massiv erleichtert. Zentral für diese Bewegung wäre es, die Gewerkschaften ins Boot zu holen – und obwohl LINKS durchaus gute Kontakte zu verschiedenen Menschen in Gewerkschaften pflegt, ist die Dominanz der SPÖ in diesem Bereich ungebrochen. Doch wie bereits anfangs festgestellt, ist die SPÖ auf Bundesebene derzeit in der Opposition und daher auch ihr Interesse, die Gewerkschaften an der kurzen Leine zu halten, deutlich geringer ausgeprägt, als wenn sie selbst in der Regierung wäre.

Für den Aufbau einer Antikrisenbewegung brauchen wir also ein Bündnis aus Arbeiter*innenorganisationen und Organisationen von Menschen, die zum Beispiel aufgrund ihrer Herkunft, Religion, Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Alters unterdrückt werden. Der Kampf muss auf der Straße, aber auch in den Betrieben, Schulen und Unis geführt werden. Streik ist ein zentrales Mittel dabei. Schließlich müssen wir auch erkennen, dass diese Krise eine globale ist und die Antwort darauf daher eine internationale sein muss. Die Vernetzung mit Antikrisenbündnissen in anderen Ländern besitzt für uns daher einen hohen Stellenwert.

NI: Vielen Dank für das Interview. Viel Erfolg im Kampf für eine Antikrisenbewegung und eine ArbeiterInnenpartei.




Österreich: Zu den faschistischen Übergriffen in Favoriten und dem Angriff auf das EKH

Mo Sedlak, Infomail 1109, 30. Juni 2020

In den vergangenen Wochen wurden immer wieder feministische Kundgebungen, die von kurdischen Frauenorganisationen mitorganisiert wurden, von FaschistInnen angegriffen. Mittwoch den 24. Juli eskalierte die Situation in Wien Favoriten dann – um die hundert junge Männer attackierten eine Kundgebung gegen Morde an Frauen in Österreich und der Türkei und verfolgten die TeilnehmerInnen zum besetzten Ernst-Kirchweger-Haus (EKH). In den Tagen danach kam es immer wieder zu bewaffneten Angriffen auf solidarische DemonstrantInnen. Die lange schwelende Gefahr türkischer FaschistInnen und ihrer breiten UnterstützerInnenbasis ist damit plötzlich zu einem entscheidenden Kampf für InternationalistInnen und AntifaschistInnen geworden.

Die AngreiferInnen

Die AngreiferInnen sind vor allem junge Männer, die die Symbole der faschistischen MHP, ihrer islamistischen Abspaltung BBP und sogar des IS zeigen. Ein Beitrag auf dem „Mosaikblog“ weist darauf hin, dass diese immer näher an den türkischen Diktator Erdogan heranrücken und vor allem seine KritikerInnen angreifen. Vor allem im zehnten Bezirk werden aber auch generell Linke und politisch aktive Frauen attackiert, die FaschistInnen beanspruchen die Gegend um den Reumannplatz im 10. Bezirk als ihr Territorium. Das wurde schon am 1. Mai klar, als eine Kundgebung von türkischen, kurdischen und österreichischen Linken umzingelt wurde.

Der STANDARD schreibt, dass die faschistischen und islamistischen Gruppen in etwa 25 Vereinen organisiert sind, die der MHP und ihren Abspaltungen zuzuordnen sind. Sie sind in der Lage, sehr schnell recht viele Jugendliche zu mobilisieren, mit einer Mischung aus rechtsradikaler Ideologie und einem Versprechen auf Action. Daraus ergeben sich die vielen kleinen und größeren Angriffe aus dem Hinterhalt und auf Seitenstraßen, ebenso wie die schnellen Rückzüge in Wohngegenden und Parks.

EU finanziert, Türkei bombardiert

Die Angriffe erfolgen nicht zufällig nur wenige Tage, nachdem die Türkei am 15. Juni eine neue Offensive gegen die KurdInnen in Südkurdistan (Nordirak) begonnen hat. Nach den Angriffen auf Rojava und dem Einmarsch in Afrin (kurdisch: Êfrin) im letzten Jahr begannen Regimetruppen das autonome Flüchtlingslager in Mexmûr und die jesidischen Dörfer im Sengal zu bombardieren. Seitdem kurdische Truppen aus Rojava (YPG/YPJ) und dem türkisch besetzten Teil Kurdistans (HPG) den geplanten Genozid durch den IS an der jesidischen Minderheit verhindert hatten, gelten diese in den Augen des türkischen Regimes als PKK-Verbündete. Diese Angriffe erfolgen offensichtlich in Absprache mit der NATO, in der die Türkei Mitglied ist, und mit den Geldmitteln des schmutzigen EU-„Flüchtlingsdeals“. Sie reihen sich ein in eine Vernichtungsstrategie des türkischen Regimes gegen die nationale Befreiung der KurdInnen genauso wie gegen die türkische Linke.

Fast gleichzeitig begann übrigens auch das iranische Regime, gegen KämpferInnen und ZivilistInnen in Ostkurdistan vorzugehen). Der Großteil der kurdischen Gebiete wurde zum militärischen Sperrgebiet erklärt und mit Flugzeugen und Artillerie bombardiert. Auch die erste türkische Offensive in Südkurdistan wurde wohl von iranischem Artilleriefeuer begleitet.

Um den anti-kurdischen Rassismus und die Bestrebungen in Richtung „Großtürkei“ können sich auch die FaschistInnen der MHP und deren islamistische Abspaltungen sammeln. Bei den FaschistInnen gilt ja, dass wer sich durchsetzt oft Recht hat, und so wird Erdogan zur Führerfigur und seit Neuerem sogar offiziell zum Koalitionspartner.

Der internationale Charakter der anti-kurdischen Offensive, die Rolle europäischer Rüstungskonzerne und der EU-Gelder an die Türkei wurde bereits auf einer Demonstration gegen das Bombardement am vorigen Samstag auf der Mariahilfer Straße betont. „Türkische Armee raus aus Kurdistan“ und „Deutsche Panzer raus aus Kurdistan“ wurden dort gerufen.

Kämpfe und Polizeigewalt

Von Mittwoch bis Samstag kam es zu täglichen Solidaritätsaktionen im Bezirk. Das angegriffene EKH und sein Nebengebäude sind seit bald 30 Jahren das Zentrum autonomer, türkischer und kurdischer Linker im Bezirk. Nach einer nervenaufreibenden Demonstration am Donnerstag, die in jeder Seitenstraße teilweise mit Messern und Schlagstöcken angegriffen wurde, versuchten die FaschistInnen spätnachts sogar das Haus anzuzünden. Und schon da richtete sich die Reaktion der Polizei gegen die linken DemonstrantInnen. Faschistische Angriffe wurden durchgelassen, aber AntifaschistInnen die sich mit Händen und Füßen zur Wehr setzten attackiert.

Am Freitag setzte die Polizei die AntifaschistInnen schließlich nach einem massiven Angriff drei Stunden in einem Kessel fest, der derweil mit Flaschen beworfen wurde. Nach Abschluss der Demonstration am Hauptbahnhof wurden nur Zehnergruppen hinausgelassen, von denen einige in Überzahl überfallen wurden, es kam zu schweren Verletzungen. Am Samstag schließlich ließ es sich die Polizei nicht nehmen nach Abschluss der Demonstration zur türkischen Botschaft im vierten Bezirk noch 30 AntifaschistInnen zu kesseln, durch solidarischen Druck anderer AktivistInnen wurden diese aber wieder freigelassen. Auch österreichische Rechte konnten ungestört die Demonstration provozieren. Selbst wenn es nicht die Identitären oder klassische Stiernackennazis sind, stellt sich die Wiener Polizei verlässlich auf Seite der FaschistInnen.

Tatsächlich sind die Angriffe aber nichts Neues. Auf der Demonstration am Samstag berichtete eine Sprecherin des internationalistischen Frauenbündnis, das am 24. Juni am Keplerplatz angegriffen worden war, dass davor schon Kundgebungen im 17. und 20. Bezirk zum ziel faschistischer Mobilisierungen geworden waren.

Rassistische Antworten

Wie nicht anders zu erwarten warfen sich die rechtspopulistische FPÖ und die Strache-Abspaltung sofort auf das Thema. Sie schrieben einen „Ausländerkonflikt“ herbei und forderten schnelle Abschiebungen sowie den Rücktritt der Grünen Vizebürgermeisterin Hebein, die sich auf einer Solidaritätsaktion blicken hatte lassen. Aber auch aus der SPÖ kamen die Forderungen nach Abschiebungen vor den Solidaritätsbekundungen mit AntifaschistInnen, zum Beispiel vom Landtagsabgeordneten Peko Baxant). Die regierende ÖVP hat sich voll auf FPÖ-Linie eingeschossen, spricht von „Integrationsversagen“ und „ausländischen Konflikten“.

AntifaschistInnen müssen allen Aspekten dieser Argumentation entschieden entgegentreten. Erstens handelt es sich hier um einen politischen Konflikt, keine „ethnischen Auseinandersetzungen“. An den Angriffen beteiligen sich auch Jugendliche und FaschistInnen ohne Bezug auf die Türkei, angegriffen werden KurdInnen, TürkInnen und ÖsterreicherInnen gleichermaßen. Zweitens versuchen ÖVP, FPÖ und auch SPÖ-nahe „Intellektuelle“ wie Robert Misik beide Seiten gleichzusetzen, während für uns klar ist, wo wir stehen.

Aber vielleicht am wichtigsten, ist das Erstarken türkischer FaschistInnen in Favoriten ein österreichisches Phänomen. Es ist die österreichische Regierung, die sich für Milliarden an Erdogan eingesetzt hat, damit dieser Geflüchtete an der Reise nach Europa hindert. Die Zusammenarbeit mit den Vereinen von AKP, MHP und BBP findet durch österreichische Stellen statt, ebenso wie die Kriminalisierung kurdischer und türkischer Oppositioneller. Aber auch die ständige Ausgrenzung von migrantischen und armen Jugendlichen in Favoriten, die es den FaschistInnen erlaubt sich als scheinbarer Gegenpol aufzustellen ist österreichische Politik. Wenn wir gegen die FaschistInnen kämpfen, müssen wir auch die Regierungen angreifen, die sie hervorgebracht haben.

Widerstand

Mehrere Diskussionsbeiträge der letzten Tage haben darauf hingewiesen, dass die Zusammensetzung der AngreiferInnen nicht so eindeutig ist. Anscheinend stellen organisierte FaschistInnen die Minderheit, aber unorganisierte und an den Rand gedrängte Jugendliche die Mehrheit der AngreiferInnen. Damit müssen sich Linke in Wien ernsthaft auseinandersetzen.

Aber die Antwort auf faschistische Gewalt kann nicht sozialarbeiterisch sein. Das haben die blutigen Erfahrungen aus dem Deutschland der 1990er-Jahre, wo sich eine mörderische Neonaziszene um Jugendzentren und „akzeptierende Jugendarbeit“ aufgestellt hat, leider gezeigt. Die konkrete Aufgabe von AntifaschistInnen ist es, uns selbst und unsere GenossInnen zu schützen. Das gelingt am besten wenn Demonstrationen durchgesetzt, unsere Zentren verteidigt und Angriffe zurückgeschlagen werden. Nur der physische Beweis, dass sie die Macht eben nicht haben, bringt FaschistInnen von weiteren Angriffen ab.

Dafür braucht es in erster Linie ernst gemeinte internationalistische Solidarität. Der radikalen wie der reformistischen Linken ist es, bis auf Ausnahmen, in den ersten Tagen nicht gelungen stark zu den Protesten zu mobilisieren. Das muss sich ändern.

Aus einem solidarischen Bündnis müssen organisierte Selbstverteidigungsstrukturen aufgebaut werden. Nur so können wir unsere Demonstrationen gegen FaschistInnen und Polizei schützen, aber auch im Grätzl gegen Angriffe und faschistische Zusammenrottungen vorgehen. Die versuchte Stürmung des EKH, die massiven Angriffe um den Reumannplatz und Übergriffe wie am Hauptbahnhof dürfen sich nicht wiederholen, und auf die Polizei ist bewiesenermaßen kein Verlass.

Außerdem müssen wir es schaffen, die Ursachen des Problems frontal anzugreifen. Das bedeutet einen internationalistischen Widerstand gegen die Angriffe der NATO und ihre ProfiteurInnen in Europa und Österreich. Aber auch dem rassistischen Ausschluss und der wirtschaftlichen Misere in den Wiener Außenbezirken müssen wir ein klar antikapitalistisches Programm entgegenstellen. Das würde den FaschistInnen ihre SympathisantInnenbasis dauerhaft entziehen.

Schließlich ist es selbstverständlich, dass wir uns mit dem politischen Kampf der KurdInnen um nationale Befreiung und Autonomie solidarisieren. Relativierungen oder ein vages „Ablehnen von jedem Nationalismus“ bedeutet hier auf der Seite der UnterdrückerInnen zu stehen. Bijî Berxwedana Kurdistan – es lebe der Widerstand in Kurdistan!




Wirtschaftskrise in Österreich: Zusammenbruch an allen Fronten

Mo Sedlak, Infomail 1004, 15. Mai 2020

Die Corona-Pandemie hat mit Rekordarbeitslosigkeit, Kursstürzen auf den internationalen Märkten und dem Zusammenbruch der internationalen Produktionsketten begonnen. Auf die Welt und auf Österreich kommt eine historische Wirtschaftskrise zu, und weder Kapital noch Regierung können allein zurück zur alten Normalität. Die ArbeiterInnenklasse, die Arbeitslosen und die auf den Sozialstaat angewiesenen spüren die Krise schon jetzt am schlimmsten. Aber auf uns kommen die härtesten Angriffe seit Jahrzehnten noch zu, wenn die Krisenkosten verteilt werden sollen.

Österreich war eines der ersten Länder, in dem die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Arbeitslosenzahlen berichtet wurden. In den ersten zwei Wochen der Ausgangsbeschränkungen hatten 200.000 Menschen ihren Arbeitsplatz verloren (1), das ergibt mit 12,2 % die höchste Quote seit 1946. Weitere 870.000 Menschen sind in Kurzarbeit (2). Ein Drittel der ArbeiterInnen und Angestellten in Österreich gehen im Moment also nicht zur Arbeit, die österreichischen Konzerne fallen um die Profite aus ihrer Ausbeutung um.

Österreich hat zwar eine vergleichsweise hohe Lohn-Ersatzquote in der Kurzarbeit (niedrige Einkommen bekommen bis zu 90 % ausgezahlt), aber natürlich ist die Kaufkraft der ArbeiterInnen und kleinen Selbstständigen eingebrochen. Viele Geschäfte dürfen auch gar nicht aufsperren, und wo die Produktion noch läuft (zum Beispiel beim Kunststoffproduzenten Greiner in Linz, wo erst ein Streik Schutzmaßnahmen erzwingen konnte (3) brechen die Aufträge weg, wenn die Verarbeitung der Zwischenprodukte stillsteht.

Dazu kommt, dass in Österreich besonders viel für internationale Produktionsketten hergestellt wird. 41 % des Bruttoinlandprodukts wird importiert oder exportiert. Das bedeutet, die besonders schlimme Pandemie in Italien und das Herunterfahren der Autoproduktion in Deutschland haben noch eine zusätzliche Auswirkung auf Österreich.

Weitgehender Zusammenbruch

Kurzfristig ist in Österreich also gleichzeitig die Produktion, Beschäftigung, und die Nachfrage im Konsum- und Industriebereich zusammengebrochen. Das allein kann die Basis für eine tiefe Krise sein, weil zwar die verlorene Kaufkraft (kurzfristig) durch Staatshilfen ersetzt werden kann, die Profitabilität der Firmen aber nicht.

Anders gesagt: Außer Preistreiberei mit Medizinprodukten und Erschleichen der intransparent vergebenen Notfallsfonds hat das österreichische Kapital weder eine Möglichkeit, durch die Krise zu kommen, und noch weniger danach wieder zur alten Normalität zurückzukehren.

Pleiten, große Verkäufe und Kreditausfälle, die jetzt schon begonnen haben, verbreiten die Krise dann in alle Bereiche der Wirtschaft. Der OECD-Generalsekretär Gurria, erklärte dass allein die Ausgangsbeschränkungen bis zu 2 % weniger Wirtschaftswachstum pro Monat bedeuten würden, mit der Mehrbelastung des Gesundheitssystems kommt das wohl auf bis zu 5 % pro Monat, mehr als im ganzen Krisenjahr 2008 (4).

Globale Krise

Die Coronapandemie ist aber nur der Auslöser dieser Rezession (das bedeutet ein länger anhaltendes Schrumpfen der Wirtschaftsleistung), nicht der eigentliche Grund. Noch zwei andere krisenhafte Entwicklungen brechen jetzt gleichzeitig aus, und machen die Lage kompliziert.

Erstens ist die Profitabilität in Europa schon seit 2016 zurückgegangen, im nicht-finanziellen Bereich sogar schon seit 2014 (5). Das hatte zu einer Verlagerung der Investitionen auf Finanzmärkte und einer Blase konkret für Unternehmensanleihen geführt (die sind im Gegensatz zu Aktien festverzinst und gelten als sichere Anlage). Ein Platzen der Blase und die Pleiten der am wenigsten profitablen Unternehmen, wie es im Kapitalismus regelmäßig vorkommt, war schon zu erwarten gewesen.

Zweitens waren von der letzten Krise 2008 noch einige geopolitische Rechnungen offen. Diese Krise war hauptsächlich über eine international koordinierte Geldpolitik und das starke Wirtschaftswachstum in China gelöst worden. Der internationale Kapitalismus ist aber auf recht ernsthaftem Wettbewerb aufgebaut, besonders jetzt wo sich die USA, China und in geringerem Maße EU und Russland als Führungsmacht beweisen wollen. Die Spannungen waren schon seit Jahren schlimmer geworden, am deutlichsten war das an den Handelskriegen zwischen USA und China, den Embargos zwischen EU und Russland und dem Zerbrechen der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA zu erkennen.

Diese Manöver waren sehr kostspielig, und sind mit einem Preiskrieg auf dem Ölmarkt zwischen Russland und Saudi-Arabien Ende Februar voll ausgebrochen. Diese Auseinandersetzung hat so hart eingeschlagen, dass die Preise für Rohöl Ende April bei -30 Dollar pro Barrel (also unter 0) und Anfang Mai noch immer fast 80 % unter dem Vorjahrespreis lagen (6).

Mit Startnachteil in die Krise

Die kommende Rezession wird tiefer und auch komplizierter als die historische Krise 2008. Die Startbedingungen in Österreich sind aber noch schlechter, weil viele Auswirkungen von damals sich nicht wieder „eingependelt“ haben. Ende 2019 war die Arbeitslosigkeit um 100.000 Menschen höher als am letzten Tiefpunkt 2008 (7).

Um durch die gegenwärtige Krise zu kommen haben die größten Unternehmen schon heftige Ansprüche angemeldet. Die AUA möchte fast 800 Millionen Euro, die Benko-Gruppe hat in Deutschland um einen ähnlichen Betrag angesucht (und wird sich in Österreich auch nicht zurückhalten). Insgesamt hat Finanzminister Blümel schon 14 Milliarden Euro an Hilfen versprochen.

Drohende Angriffe

Zum Vergleich: Die Konjunkturpakete 2008-2010 hatten insgesamt ungefähr 5,65 Milliarden Euro gekostet (8). Um diese Kosten wieder hineinzubekommen hatte die rot-schwarze Regierung die ArbeiterInnen, Arbeitslosen und Jugendlichen mit Sparpaketen 2010 und 2012 umfassend angegriffen. Die Summen, die jetzt bereitgestellt werden, versprechen noch viel krassere Einsparungen und Verschlechterungen.

Der österreichische Versuch, sich innerhalb von Europa einen Startvorteil zu verschaffen wird daran scheitern, dass der wichtigste Teil der Industrieproduktion und des Bankensektors fest in europäische Produktionsketten eingebunden ist. Die kommende Krise droht auch, die Europäische Union zu zerreißen. 2008 ist es den nord- und westeuropäischen Ländern gelungen, die härtesten Klassenkämpfe in den Süden zu verlagern. Das wird diesmal nicht möglich sein, harte Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse und den Sozialstaat werden die Lage bis zur politischen Krise verschärfen.

Der österreichischen ArbeiterInnenklasse drohen nach der gestiegenen Arbeitslosigkeit und dem Verdienstverlust gleich eine tiefe Krise und anschließend harte Sparpakete. Auch die begonnenen Verschlechterungen im Arbeitsrecht – 12-Stunden-Tag und 60-Stunden-Woche – geben einen Vorgeschmack darauf, wie die Regierung versuchen wird die österreichische Profitabilität auf unsere Kosten wiederherzustellen. Auch alle, die auf den Sozialstaat, das staatliche Bildungssystem und die öffentliche Krankenversorgung angewiesen sind, werden darunter massiv leiden.

Der Kapitalismus in Österreich steuert auf die tiefste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg zu. Die türkis-grüne BürgerInnenblockregierung ist entschlossen, das auf dem Rücken der ArbeiterInnen, Arbeitslosen und Unterdrückten auszutragen.

Gleichzeitig zeigt sich jeden Tag die Unfähigkeit des Kapitalismus, die ArbeiterInnen vor den Gefahren der Gesundheitskrise zu schützen. Die kommenden Auseinandersetzungen werden die Fronten zwischen Arbeit und Kapital noch klarer zeigen und auch die sozialdemokratisch dominierte Gewerkschaftsbürokratie zur Positionierung zwingen.

Die ArbeiterInnenbewegung muss mit mutigen Kämpfen in die kommenden Auseinandersetzungen gehen und muss jedes kapitalistische Prinzip in Frage stellen, wenn sie aus dieser Krise wieder herauskommen will. In Österreich und der EU hat mit der Corona-Pandemie eine entscheidende Auseinandersetzung begonnen, vor der sich niemand verstecken kann.

Endnoten

(1) https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/cornavirus-arbeitslosenzahl-in-oesterreich-steigt-mehr-als-50-prozent-a-3dd384fb-cdb9-4a2a-b385-ede4865774fa

(2) https://kurier.at/chronik/oesterreich/coronavirus-plus-270000-870000-in-kurzarbeit-50-prozent-immunitaet-in-suedtiroler-dorf/400817348

(3) https://afainfoblatt.com/2020/04/30/erfolg-beim-greiner-streik-forderungen-durchgesetzt/

(4) http://arbeiterinnenmacht.de/2020/04/01/pandemie-zur-weltwirtschaftskrise-drohende-katastrophe/

(5) EUROSTAT, Tabellen namq_10_a10 und nama_tfa_st

(6) https://markets.businessinsider.com/commodities/oil-price?type=wti

(7) https://awblog.at/wirtschaftspolitische-herausforderungen-2020/

(8) http://wug.akwien.at/WUG_Archiv/2009_35_4/2009_35_4_0527.pdf