Eine Welt in der Krise

Markus Lehner, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

Der ökonomische Zusammenbruch Sri Lankas im Jahr 2022 und die ähnlichen Zuspitzungen, die sich etwa in Pakistan im Jahr 2023 angedeutet haben, sind symptomatisch für die aktuelle Weltlage. Sie bringen die tiefe Krise vieler Länder des „globalen Südens“ an die Oberfläche, die seit einem Jahrzehnt die Realität außerhalb der imperialistischen Zentren der Welt prägt. Während „Globalisierung“ einst mit dem Narrativ verbunden war, dass das Ende des Kalten Krieges und die weltweite Ausbreitung von Kapital und Demokratie nun auch den ärmeren Ländern eine nachholende Entwicklung ermöglichen würde, wenden sich heute selbst hoffnungsvolle Schwellenländer wieder in großer Zahlan den IWF, um den Kollaps abzuwenden. Immer mehr stehen vor der Wahl, ihre Ökonomien dem Diktat der westlichen Finanzmärkte oder Chinas zu unterwerfen.

Die Globalisierung, die als Explosion des Welthandels, der internationalen Finanzströme, des weltweiten Informations- und Meinungsaustauschs über offene Netze, der Ausdehnung eng miteinander verflochtener internationaler Produktionsketten, der Beschleunigung globaler Verkehrssysteme usw. verstanden wurde, scheint derzeit ins Stocken geraten zu sein. Was manchmal als vorübergehendes Stottern des Globalisierungsmotors verkauft wurde (Unterbrechung von Lieferketten, Transportprobleme, Kapitalabfluss aus bestimmten Ländern, Zahlungsprobleme …), trägt heute in vielerlei Hinsicht einen systematischeren Charakter: Liefer- und Produktionsketten werden neu ausgerichtet, Investitionen aus bestimmten Ländern politisch angegriffen, Zollschranken und Investitionsbeschränkungen in großem Stil wiederbelebt, Finanzinstitute als politische Waffe eingesetzt usw.

Die Welt erscheint wieder klar geteilt in imperialistische Mächte und ihre Halbkolonien (die Rede von „Schwellenländern“ kann man getrost vergessen), während die Großmächte dabei sind, die „Globalisierung“ in ihre Einflusssphären und Machtblöcke aufzuteilen. Nur haben sich in der Zeit der Globalisierung China und Russland als neue Konkurrenten gegen den „westlichen Block“ etabliert und sind damit als Herausforderer des schwächelnden Welthegemons USA auf den Plan getreten. In vielen Regionen des krisengeschüttelten globalen Südens konkurrieren diese Mächte nun um ihre Position, sei es als Handelspartnerinnen, Kreditgeberinnen, Rüstungslieferantinnen oder Bündnis„partnerinnen“. Mehr und mehr wird diese Konkurrenz auch zur offenen Konfrontation. Der Ukrainekrieg ist nur der schärfste Ausdruck dieser wachsenden Konfrontation bei der Neuaufteilung der Welt 3.0.

Doch diese Krise der Globalisierung und die damit verbundene neue politisch-ökonomische Weltunordnung sind nur ein Ausdruck tiefer liegender Krisenprozesse. Der Kapitalismus ist ein Wirtschaftssystem, das zum Wachstum, zur Akkumulation von Kapital verurteilt ist, scheinbar ohne Grenzen. Jede Stagnation der Akkumulation, sei es als Rezession, anhaltende Produktionsausfälle, Absatzprobleme oder Kurseinbrüche bei den Finanzwerten, führt zu Zahlungsausfällen, ausbleibenden Kapitalzuflüssen, Betriebsschließungen und Firmenzusammenbrüchen, kurz zur Unterbrechung der Geld-Waren-Metamorphose und damit letztlich der Verwandlung von Mehrarbeit in Profit, der Grundlage der kapitalistischen Klassengesellschaft. Aber diese erzwungene Grenzenlosigkeit der Kapitalakkumulation führt direkt zu ihrem Gegenteil: zur Schaffung oder Verschärfung von Schranken für die erweiterte Reproduktion.  Der Zwang zur Steigerung der intensivsten Ausbeutung von Mensch und Natur, wie er der kapitalistischen Rationalisierung inhärent ist, führt zu solchen Erscheinungen, wie sie Marx im Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate zusammengefasst hat. Während der aus dem einzelnen Produktionsakt erwachsende Mehrwert also abnimmt, kann die Profitmasse durch die Steigerung der Gesamtproduktion ausgeweitet werden. Dies führt zu einem Punkt, an dem die gestiegenen Kapitalkosten, sei es für Energie, Maschinen, Rohstoffe, Produktionssteuerung und -planung usw. selbst die absolute Profitmasse aufzehren. Die Kapitalakkumulation gerät zur Überakkumulation, das Kapital in Form des investierten Bestands und seines Bedarfs an Material, Energie, Arbeit und neuem Kapital wird zu einem Hindernis für neues Wachstum.

Verbunden mit dieser wirtschaftlichen Wachstums- ist die soziale und ökologische Krise. Bereits durch die kapitalistische Rationalisierung bedroht, werden die arbeitenden Klassen durch die Mechanismen der kapitalistischen Krisenbewältigung, der Kapitalentwertung und -vernichtung, der Kapitalkonzentration, der Standortverlagerung usw. sowohl in der direkten Produktion als auch in abgeleiteten Bereichen (öffentliche Versorgung, staatliche Dienstleistungen, Kleinbürgertum usw.) existenziell bedroht. Andererseits stößt der Hunger der Kapitalakkumulation nach Energie und Rohstoffen zunehmend an die Grenzen der natürlichen Reproduktionssysteme.  Der Rockströmbericht nennt neun planetarische Grenzen, die bei Beibehaltung der gegenwärtigen Wirtschaftsweise in absehbarer Zeit überschritten werden und damit die Existenz des menschlichen Lebens in Frage stellen.

Die 1,5-Grad- und 2-Grad-Szenarien und die daraus resultierenden Ziele für die Reduktion klimaschädlicher Treibhausgase zumindest innerhalb der nächsten 2 Jahrzehnte bilden nicht einmal die größten Herausforderungen. Die zunehmende Verknappung von Süßwasser, die Versauerung der Meere, die Überlastung der Stickstoff- und Phosphorkreisläufe in Böden und Gewässern, das Artensterben etc. erfordern dringend globales Handeln. Viele der „Umwelterfolge“ im globalen Norden wurden einfach durch die Verlagerung in schlechterer Form in den globalen Süden erkauft. Global führt der Zwang zur Kapitalakkumulation zu einem ökologischen Bruch – der Entwicklung eines tiefen Widerspruchs zwischen expandierter wirtschaftlicher Reproduktion und der Anpassungsfähigkeit zentraler natürlicher Reproduktionssysteme. Es besteht kein Zweifel, dass sich dieser ökologische Bruch in der Zeit der Globalisierung zu einer Menschheitskrise verschärft hat. Die sich bereits abzeichnenden Umweltkatastrophen oder die verzweifelten Versuche der Gegensteuerung im Rahmen des Systems („Transformation“) wirken zwangsläufig auf das Wirtschaftswachstum zurück.

Das Kapital reagiert auf die oben beschriebenen immanenten Grenzen der Kapitalakkumulation mit dem, was Marx als „gegenläufige Tendenzen“ zum Fall der Profitrate bezeichnete. Dabei ist zu beachten, dass das Problem vor allem eins des Falles der „Durchschnittsprofitrate“ ist. Die Kapitalakkumulation findet in einem Raum statt, der zum einen in Sektoren mit unterschiedlicher Produktivität oder Kapitalintensität und zum anderen in Länder und Regionen mit sehr unterschiedlichem „Entwicklungsstand“ (in Bezug auf die Kapitalakkumulation) segmentiert ist. Ein grober und dynamischer Ausgleich der durchschnittlichen Profitraten findet nur zyklisch durch Kapital- und Arbeitsströme zwischen den Segmenten statt. Dieser kann vorübergehend gestoppt oder modifiziert werden, z. B. durch Monopolbildung, so dass z. B. Großkonzerne ihre Ausbeutungsprobleme für einen längeren Zeitraum auf andere Wirtschaftszweige abwälzen können (Monopolrentabilität). Andererseits ermöglichen es die unterschiedlich ausgeprägten Kapital- und Arbeitsströme auf dem Weltmarkt gegenüber nationalen/regionalen Märkten, dass Kapitalexporte und Welthandel genutzt werden, um höhere Ausbeutungsraten in weniger entwickelten Ländern („Entwicklung“ hier im Sinne der Akkumulationsbewegung) als Quelle für Extraprofite zu nutzen. Im Zeitalter des Finanz- und Monopolkapitals, d. h. des Imperialismus, können diese Momente ausgedehnt werden, so dass in den imperialistischen Zentren längere Perioden scheinbar stabiler Akkumulation und die Vermeidung ausgeprägter Krisenmomente erreicht werden. Die Krise der Überakkumulation bricht also zunehmend in der inneren und äußeren Peripherie aus, um über kurz oder lang auch die Monopolprofitrate in den Zentren selbst zu treffen.

Mit der Globalisierung seit Anfang der 1990er Jahre hat sich die Verteilung der direkten Industrieproduktion freilich noch stärker zu Ungunsten der klassischen imperialistischen Länder (wie sie in der G7 vertreten sind) verschoben: Noch im Nachkriegsaufschwung konzentrierten sich 80 % auf die „entwickelten“ OECD-Staaten mit nur 20 % der Weltbevölkerung, während für den Rest der kapitalistischen Welt die Rolle als Rohstofflieferant:in und die Herstellung weniger kapitalintensiver Produkte (z. B. Textilien) blieb. Dies hat sich heute radikal geändert: USA/CND/EU/J mit inzwischen nur noch 15 % der Weltbevölkerung produzieren nur noch 42 % des Welt-BIP (etwa so viel wie in Asien ohne Japan). Ein entscheidender Faktor hat sich jedoch kaum verändert: die Verteilung des Kapitals. 70 % des Vermögens- und Investitionskapitals sind nach wie vor in der genannten Ländergruppe konzentriert. Zählt man China und Russland zur imperialistischen Welt hinzu, bleiben für den Rest, d. h. für den „globalen Süden“, nur noch 10 % des investierbaren Kapitals übrig (wovon der größte Teil davon dann auch noch auf Rentierkapital entfällt, z. B. Fonds von Ölkartellstaaten).

Die Globalisierung hat zwar die industrielle Produktion weltweit stärker verteilt, nicht aber die Anfangs- und Endpunkte der Kapitalakkumulation, das Kapital, das nach profitablen Investitionsfeldern sucht. Bei krisenhaften Entwicklungen in den Zielländern der Kapitalströme kommt es sehr schnell zur Rückkehr in die „sicheren Häfen“ des globalen Nordens. Dies haben verschiedene als „Schwellenländer“ angepriesene Kandidat:innen wie die Türkei, Brasilien oder Pakistan im letzten Jahrzehnt schmerzlich erfahren. Letztlich waren nur China und Russland in der Lage, sich als neue imperialistische Mächte in der Globalisierungsperiode zu etablieren, während Indien als einziges der ehemaligen Schwellenländer dem Absturz bis jetzt noch widerstand.

Auf der Grundlage dieser Weltmarktbewegung des Kapitals können keine „vereinigten Staaten der Welt“, kann nicht einmal ein „Hyperimperialismus“, entstehen. Aufgeteilt in Zentrum und Peripherie bleiben auch die Finanzkapitale und Monopole im Wettbewerb und der letztendlichen Wirkung der Ausgleichsmechanismen unterworfen. Auf Perioden der relativen Stabilität folgen Krisen, Zusammenbrüche und Umverteilungsprozesse. Die Perioden der Stabilität werden auch immer von der Vorherrschaft eines Systems von Großmächten begleitet, welches die Weltordnung garantiert und so etwas wie eine globale politische Agenda bestimmt – allerdings letztlich immer im Rahmen der Vertretung der Weltmarktinteressen des „eigenen“ Kapitals, aber verkleidet als „Kampf um Fortschritt, Menschenrechte und Demokratie“. Das nationalstaatliche System, in dem der Kapitalismus ursprünglich entstanden ist, ist längst zu einem unpassenden Korsett für die imperialistische Entwicklungsstufe des Kapitalismus geworden – aber es gibt keine globale politische Struktur, die der Kapitalismus als Ersatz für das nationalstaatliche Konzept hervorbringen kann. Daher erweist er sich als unzureichend, um lebenswichtige globale Probleme wie Klimakatastrophe, Pandemien, Welternährung usw. durch eine global geplante Politik zu lösen. Auch „Demokratie“ und „nationale Selbstbestimmung“ erweisen sich im gegenwärtigen Zustand der globalen Kapitalentwicklung zunehmend als illusorische bürgerliche Ideen. In den stabileren Perioden der monopolistischen Zyklen kann das globale Kapital durch die hegemoniale Rolle einer der Großmächte eine gewisse politische Stabilität erreichen. Sie verfügt dann sowohl über die wirtschaftlichen und monetären Hebel als auch über die militärische Interventionsfähigkeit und die politischen und ideologischen Mittel, um politische und wirtschaftliche Krisen im Rahmen aller imperialistischen Mächte, aber vor allem im eigenen Weltmarktinteresse, mit seiner Bündnis- und Militärpolitik zu lösen.

War dies lange Zeit der britische Imperialismus, so ist er seit dem Zweiten Weltkrieg durch den US-Imperialismus abgelöst worden. Zu Beginn der Globalisierung wirtschaftlich angeschlagen, konnte er in dieser Periode vor allem aufgrund seines nach wie vor überlegenen Finanz- und Technologiekapitals wieder eine dominierende Rolle spielen – allerdings auf Kosten des Aufstiegs Chinas zu einem zentralen Akteur in der Welt des globalen Industriekapitals.

Der Rückgang der Produktivität und Rentabilität wichtiger Industriesektoren in den USA wurde durch immer größere Blasen in der Finanzwelt und durch fiktive Kapitalakkumulation kompensiert. Mit der Großen Rezession von 2008/2009 wurde der wirklich stagnierende Charakter der US-Wirtschaft immer deutlicher. Wir gehen daher davon aus, dass wir in eine Phase eintreten, in der mit der allgemeinen kapitalistischen Krise die Frage nach der Führungsrolle der USA zunehmend umstritten sein wird.

Die Periode der Globalisierung – Aufstieg und Weg in die Krise

Grafik 1 fasst den Zeitraum von 1990 bis 2019 anhand der Entwicklung der Profitraten einiger ausgewählter Länder zusammen. Die zugrundeliegende Berechnung der Profitraten ist den Extended Penn World Tables (Release 7.0) entnommen. Hier wird die Profitrate anhand der Kapitalquote (Anteil der Gewinne am Volkseinkommen), der Kapitalproduktivität und der Abschreibungsrate berechnet.

Grafik 1: Profitratenentwicklung ausgewählter Länder

Das Schaubild zeigt die Erholung der Profitrate der USA zu Beginn der 1990er Jahre als Impuls und Ausdruck einer veränderten Wirtschaftsdynamik sowie den großen Unterschied zur chinesischen Profitrate. Entgegen der oben genannten Tendenz zeigt die chinesische Profitrate, die den gesamten Zeitraum bestimmte, dass das Bewegungszentrum des Zeitraums die enorme Kapitalakkumulation in China bildete, die an seinem Ende in eine Phase der Überakkumulation des chinesischen Kapitals überging. Erst mit der Abschwächung der US-Profitrate und dem Aufblühen des China-Booms erholten sich die Profitraten in Deutschland und Japan und in ihrem Gefolge auch die Russlands, um dann mit der Großen Rezession in eine stagnierende bis fallende Richtung zu gehen. Nimmt man eine typische Halbkolonie wie Brasilien hinzu, so ist die Profitrate dort in der Regel viel höher (wie gesagt, das ist genau der Ausdruck einer abhängigen Entwicklung, die sich in geringerer Kapitalintensität und höherer Ausbeutungsrate manifestiert), aber mit viel stärkeren Ausschlägen nach oben und unten (in Brasilien zwischen 14 und 10 Prozent) – als Ausdruck der Abhängigkeit von Kapitalzuflüssen und den Verwertungsbedingungen auf dem Weltmarkt.

Anmerkung: Die Berechnung der Profitrate in China ist umstritten. Die statistischen Daten, insbesondere zu Beginn des Zeitraums, sind fragwürdig und können im Hinblick auf die Gewinn- und Abschreibungswerte ungenau sein. Daher gibt es mehrere Schätzungen der Rate. Im Allgemeinen sind die in den obigen Statistiken aufgezeigten Tendenzen jedoch ähnlich.

Was waren die Startbedingungen, die vor allem das US-Kapital bot? Die Überwindung der vorangegangenen Krisenperiode (gekennzeichnet durch zwei Jahrzehnte sinkender Profitraten, Überakkumulation, Verschuldung, Zunahme der Klassenkämpfe und eine Eskalation der Blockkonfrontation) wurde durch einige entscheidende Niederlagen der Arbeiter:innenbewegung, der Kämpfe in den Halbkolonien und den Zusammenbruch der degenerierten Arbeiter:innenstaaten ermöglicht. Die Verschiebung des globalen Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen zugunsten des Kapitals führte zu dem, was damals „Neoliberalismus“ genannt wurde: der Schwächung der gewerkschaftlichen Durchsetzungskraft, Deregulierung der Arbeitsbeziehungen, einer neuen Qualität der Privatisierung und des Abbaus sozialer und öffentlicher Dienstleistungen, dem Abbau von Handels- und vor allem von Investitions-„Schranken“, der Verringerung staatlicher Interventionsmöglichkeiten in der Wirtschaft und zu all dem der Deregulierung der globalen Finanzmärkte mit unbegrenzten Möglichkeiten für den Kapitalfluss zu den günstigsten Produktions- und Investitionsmöglichkeiten auf der ganzen Welt. Dadurch wurden nicht nur die bereits erwähnte globale Differenz der Profitraten optimal genutzt (Ausgleich des eigenen Profitratenverfalls), sondern auch die absolute und relative Mehrwertrate als weitere Stabilisierungsmaßnahme erhöht. Hinzu kommen technische Innovationen im Transportwesen (z. B. das globale System der Containerlogistik), in der Steuerungs- und Regelungstechnik (Elektronik und IT) usw., die zur Bildung sehr großer Produktions- und Versorgungsnetze auf Weltebene geführt haben. Diese Produktionsketten werden häufig als „Wertschöpfungsketten“ bezeichnet, weil die Produktion und die Aneignung von Werten entlang der Kette von der Investitionsentscheidung, der Planung, der Konstruktion, der Einbindung von Zulieferer:innen, der Teile- und Systemproduktion, dem Vertrieb und dem Marketing bis hin zur Verteilung der Erträge und der Kontrolle ihrer Verwendung sehr ungleich verteilt sind. Während sich die arbeitsintensiven Produktionsprozesse in Ländern mit hoher Ausbeutungsrate konzentrieren, werden die qualifizierteren Spezialaufgaben, die technische und finanzielle Gesamtplanung und letztlich die Gesamtkontrolle weiterhin in den „Zentren“ wahrgenommen. Diese Form der Wertschöpfungskette ist also eine neue Form des Werttransfers aus den Halbkolonien in die imperialistischen Zentren, die direkter mit dem Produktionsprozess verbunden ist als die klassischen Direktinvestitionen. Für die Arbeiter:innen in den imperialistischen Zentren resultierte das in vielen Abwehrkämpfen um die Verlagerung von Produktionsstätten oder auch nur von Arbeitsbereichen in „Billiglohnländer“.

Mit der Verfestigung dieser Formen der internationalen Arbeitsteilung wurde auch die Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen stabilisiert, so dass die oben als Imperative des Kapitals beschriebenen Elemente des Neoliberalismus zu „Sachzwängen“ wurden. Der „Neoliberalismus“ war nicht nur eine schlechte Ideologie, die plötzlich von Manager:innen und Politiker:innen in den Zentren und in der Peripherie übernommen wurde und der, wie viele Linke meinten, mit „Argumenten“ begegnet werden müsste. Vielmehr gibt es zu ihm keine Alternative, solange es der Arbeiter:innenklasse nicht gelingt, ein Netzwerk des Widerstands gegen die Kapitalströme und die damit verbundene Bildung von Produktionsketten auf ebenso globaler Ebene zu schaffen.

Insgesamt hat die neue Qualität der Globalisierung des Kapitals den Spielraum für soziale Reformen und damit auch für Demokratie und nationale Selbstbestimmung im Rahmen der bürgerlichen Politik weltweit weiter eingeschränkt, wenn auch in unterschiedlichem Maße in den Halbkolonien und in den imperialistischen Zentren. Die Gewöhnung an die Grenzen demokratischer oder sozialer Forderungen ist so groß geworden, dass solche, die den neoliberalen Rahmenbedingungen widersprechen, leicht als „Populismus“ diffamiert werden können. Am erfolgversprechendsten waren Klassenkampfzyklen, die supranationale Bedeutung erlangten (z. B. ausgehend von Frankreich oder Griechenland sich ausbreitend auf den Rest der EU), die Sozialforumsbewegung (die regionale und internationale Proteste lose zusammenführte), die „Pink Tide“ (die mehrere lateinamerikanische Linksregierungen hervorbrachte), die internationalen Protestbewegungen nach der Großen Rezession (Arabischer Frühling, die „Aufstände“ in Südeuropa, vor allem Griechenland, Occupy). Aber es gelang nicht, diese in eine international koordinierte Kraft des antikapitalistischen Widerstands zu verwandeln (fälschlicherweise als „Antiglobalisierungsbewegung“ bezeichnet). Nach der daher unvermeidlichen Niederlage dieser Bewegungen zogen sich ihre Anhänger:innen auf den nationalen linken Reformismus oder stark lokal konzentrierte „Arbeit vor Ort“ zurück. Einem Kapital, das noch immer seinen globalen Hebel ansetzen kann, steht also kein international koordinierter Widerstand gegenüber, schon gar nicht in Krisenzeiten der Globalisierungsperiode.

Dennoch waren diese Klassenkämpfe, Bewegungen und politischen Widerstände wichtig, um die anfänglichen Steigerungsraten des absoluten Mehrwerts abzuschwächen. Wie in jeder Aufschwungsperiode folgte auf die Phase, in der die verstärkte unmittelbare Ausbeutung und Intensivierung der Arbeit im Vordergrund stand, die, in welcher die Rationalisierung und Modernisierung des Kapitaleinsatzes dominierte. Vor allem aber ging es um die Ausweitung internationaler Produktionsketten – zunächst mit der verstärkten Tendenz, China in ihren Mittelpunkt zu stellen. Grafik 1 zeigt die Abschwächung der Profitrate in den USA seit Mitte der 1990er Jahre. Wie wir an anderer Stelle ausführlich dargelegt haben, beruht diese auf einem viel ausgeprägteren Abwärtstrend der industriellen Gewinnraten (aufgrund der sinkenden Kapitalproduktivität). Dies wurde in den frühen 2000er Jahren durch das stark kreditfinanzierte Chinageschäft kompensiert (Fortsetzung der Kapitalakkumulation auf der Grundlage der fiktiven Wertsteigerung von unproduktivem Kapital, z. B. Immobilien, als finanzielle Grundlage für einen sehr starken Anstieg der Importe aus China). Daher die Eile, mit der China 2001 in die WTO aufgenommen wurde (Beseitigung wichtiger Handelshemmnisse), auch ohne dass die üblichen Öffnungen des Finanzmarktes oder Übernahmemöglichkeiten für chinesische Unternehmen durchgesetzt wurden. Auf der anderen Seite nutzten imperialistische Volkswirtschaften wie Deutschland und Japan diese Zeit, um ihre Produktionsketten in Richtung China auszudehnen und so ihre Exportindustrien nach Nordamerika und in die übrige EU wesentlich wettbewerbsfähiger zu machen. Die fiktive Erholung der Profitrate in den USA in den Jahren 2000 – 2005 ist somit eng mit dem großen Sprung der chinesischen Profitrate und der deutlichen Erholung der Profitraten in Deutschland und Japan bis zur Großen Rezession verbunden.

Abbildung 2: Globale Wertschöpfungsketten

Abbildung 2 zeigt einen Überblick über die Entwicklung der globalen Wertschöpfungsketten in einem gewichteten Diagramm, je nach Ausmaß der Aufteilung der Teilprozesse der Produktion zwischen einigen Zentren und ihrer „Peripherie“ (aus dem Global-Value-Chain-Bericht der WTO 2017). Es ist zu erkennen, dass zu Beginn der 2000er Jahre China noch als untergeordneter Zuliefererstandort für den NAFTA-Sektor auftrat (mit den USA als Zentrum und Mexiko als Hauptlieferanten), während sich das europäische Produktionskettennetz mit Deutschland im Zentrum noch relativ separat entwickelte. Im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre, dem Höhepunkt der Globalisierung, entwickelte sich China zu einem eigenen Zentrum der Wertschöpfungsketten in Asien, in engem Zusammenhang mit dem Ausbau solcher Industriemodelle in Japan und Südkorea. Bis 2011 scheinen diese drei Zentren auch zunehmend miteinander verbunden zu sein, wobei Deutschland sowie die anderen großen EU-Volkswirtschaften (Frankreich, Benelux, Vereinigtes Königreich, Italien, Spanien) ihre Produktionsprozesse zunehmend internationalisierten. Erwähnenswert sind auch Länder wie Brasilien, die bis in die 1990er Jahre überwiegend Nordamerika belieferten, dann mehr in den europäischen Block exportierten und heute in den chinesischen Wertschöpfungsketten auftauchen. Mitte des letzten Jahrzehnts, im Zuge der Großen Rezession und ihrer Auswirkungen, ist ein leichter Bedeutungsverlust der globalen Wertschöpfungsketten und ein erneutes Auseinanderdriften der Hauptblöcke zu beobachten. Es muss betont werden, dass es hier um Produktionsketten geht – bei den klassischen Direktinvestitionen, Handelsströmen und vor allem Finanzmarktbewegungen gibt es ganz andere Zentren und Netzwerke (z. B. in letzteren New York, London, Singapur, Hongkong), die für die Dynamik der Globalisierung mindestens genauso wichtig sind.

Die große globale Rezession von 2008/2009 wurde durch die anhaltende Finanzmarktkrise nach dem Platzen der US-Immobilienblase ausgelöst. Wie an anderer Stelle ausführlich dargelegt, offenbarte die Schwächung der Möglichkeiten, überakkumuliertes Kapital in fiktive Anlagen zu investieren, das Problem der Masse des anlagesuchenden Kapitals, das nur noch Anlagemöglichkeiten mit deutlich geringerer Rendite fand oder in solchen mit geringerer Rendite gebunden war. Der Einbruch bei der Finanzierung bestehender Unternehmen, die Refinanzierung von Schulden und das Ausbleiben großer Investitionen führten 2009 zu einem Wachstumseinbruch von rund 5 % synchron in den USA, den wichtigsten EU-Ländern, Japan und in der Folge zu einer Verlangsamung der Wirtschaft im Rest der Welt, auch in China. Der normale Verlauf der kapitalistischen Krise hätte darin bestanden, die unrentablen Kapitalien einfach zu vernichten (Konkurs von Schuldner:innen, Realisierung von Verlusten in der Gläubigerkette, Firmenzusammenbrüche, massenhafte Privatkonkurse, Massenarbeitslosigkeit, -entlassungen). Tatsächlich ist dies nicht im erwartbaren Umfang geschehen (bzw. hat vor allem auf die unteren Einkommensschichten Auswirkungen gehabt), aber das Szenario von 1929 wurde von den zentralen imperialistischen Finanzinstitutionen auf der Grundlage des Prinzips „too big to fail“ abgewendet: Der größte Teil des „überschüssigen“ Kapitals wurde durch die Politik des „quantitative easing“ (QE) vorm Untergang bewahrt. Einerseits retteten die Zentralbanken das gefährdete Kapital durch den Ankauf von Vermögenswerten in Billionenhöhe, andererseits sorgte die Nullzinspolitik der großen Zentralbanken (FED, EZB, BoJ) dafür, dass Refinanzierung und Neuinvestitionen nicht durch Zinsen belastet wurden. Hinzu kamen staatliche Beihilfen und Investitionsprogramme in Milliardenhöhe.

All dies hat jedoch nicht zu einem neuen Aufschwung geführt. Die 2010er Jahre waren in den alten imperialistischen Ländern durch noch niedrigere Wachstumsraten als in den Jahrzehnten zuvor, wiederkehrende Verschuldungsprobleme, niedrige Investitionsquoten, sinkende Arbeitsproduktivitätszuwächse und stagnierende Profitraten auf niedrigem Niveau gekennzeichnet. Die Halbkolonien (insbesondere die „Schwellenländer“) waren von massiven Kapitalabflüssen, einer Verdünnung der Lieferketten, einem Rückgang der Nachfrage nach Rohstoffen und Halbfertigwaren und damit der Rückkehr der Schreckgespenster Rezession, Verschuldung, Währungskrisen und Inflation betroffen. Insbesondere war das Jahrzenht aber auch durch eine deutliche Veränderung der Rolle Chinas in der Weltwirtschaft gekennzeichnet.

Die geringe krisenbedingte Kapitalvernichtung, d. h. die Aufrechterhaltung eines großen Teils des überakkumulierten Kapitals, führte zu einem stetigen Anstieg der Zahl der Unternehmen oder Investitionen, die eigentlich nur durch ständiges Subventionskapital (sei es durch Anleihekäufe oder direkte Unterstützung) am Leben erhalten werden können.

Abbildung 3: Anteil der Zombie-Unternehmen

Abbildung 3 zeigt den Anteil der „Zombie“-Unternehmen, d. h. der Firmen, die ihre Schulden langfristig nicht aus ihren Gewinnen finanzieren können. Nicht nur, dass der Anteil nach der Großen Rezession weiter auf rund 16 % gestiegen ist, auch die Wahrscheinlichkeit, dass diese Unternehmen aus diesem Status nicht mehr herauskommen, hat sich erhöht. Allein diese hohe Ziffer macht deutlich, dass ein erheblicher Teil des Kapitals in unrentablen Investitionen gebunden ist und nicht für neue Investitionen genutzt werden kann.

Darüber hinaus führte die Gefahr von Verlusten in den Jahren 2008/2009 dazu, dass die Anleger:inen eher Risiken vermieden und sich auf Anlagen konzentrierten, die weniger Rendite versprachen, aber sicher erschienen. Insbesondere die Erklärung der großen Zentralbanken, dass sie die Investitionen in ihrem Bereich schützen würden, „koste es, was es wolle“ (EZB-Chef Mario Draghi), führte dazu, dass die internationalen Investor:innen (deren Kapital sich ohnehin größtenteils aus den klassischen imperialistischen Ländern und den Ölrentiers speist) ihre Gewinne so schnell wie möglich repatriierten oder wieder auf sichere Anlagen wie Staatsanleiehn, Immobilien- und Energierenten setzten.

Grafik 4, die die Entwicklung der Auslandsinvestitionen aus den klassischen imperialistischen Ländern in die „unterentwickelten“ Halbkolonien nach Kategorien darstellt, zeigt, dass es nach 2013 zu einer Rückflut von Kapital in historischem Ausmaß kam (um kurze Zeit später unter „günstigeren Bedingungen“ wieder zurückzukehren). Insbesondere die Kategorie „Portfolioinvestitionen“, also kurz- und mittelfristiges, schnell abbaubares Investitionskapital, wurde rapide reduziert; aber auch das Volumen der Direktinvestitionen ging zurück.  In allen imperialistischen Ländern ist aus der Leistungsbilanz im Kapitel „Einkommen aus Auslandsvermögen“ ersichtlich, dass diese Erträge in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts jährlich etwa 2 – 4 % zum BIP beitrugen. Dies sind die Profiteinkommen, die aus Anlagen im Ausland ins Heimatland zurückfließen. Da es sich um reine Profiteinkommen aus Auslandsinvestitionen handelt, müssten sie eigentlich mit den Profiteinkommen im Inland und nicht mit dem gesamten Inlandsprodukt ins Verhältnis gesetzt werden: D. h., tatsächlich steigerten die Zuflüsse aus dem Ausland die Gewinne um bis zu 10 %.  Auch dies ist ein Indikator für die verstärkte Überschussextraktion aus den Halbkolonien durch Kapitalzu- und -abflüsse. Diesen positiven Bilanzen in den imperialistischen Ländern stehen in den Halbkolonien je nach Region negative Vermögenvon 2 % – 5 % im entsprechenden Kapitel gegenüber, die als US-Dollarverpflichtungen (d. h. reale Werttransfers aus dem dort erbrachten Mehrwert) mit großem Aufwand erfüllt werden müssen. Zusammen mit dem Abbau von Lieferketten führte dies zu massiven wirtschaftlichen Schocks in vielen Halbkolonien (in Lateinamerika, Nordafrika, Südafrika, der Türkei, Pakistan und einigen anderen asiatischen Ländern), die für ihre Kapitalakkumulation ohnehin stark von Kapitalzuflüssen abhängig waren.  Die daraus resultierenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Instabilitäten, Kriege und Bürgerkriege führten wiederum zu weiteren Investitionsverlusten oder zum Wiedererstarken der Rolle von IWF und Weltbank bzw. zu direkten militärischen Interventionen.

Mit der Großen Rezession änderte sich Chinas Rolle in der Weltwirtschaft. Statt als Quelle für billig produzierte Waren für die USA zu fungieren, konzentrierte es sich auf eine selbsttragende Kapitalakkumulation und stieg in der Wertschöpfungskette (auch bei den Arbeitskosten) auf. Angestachelt durch ein Billionen-US-Dollar-Konjunkturprogramm begann China, seinen eigenen Markt zu entwickeln und selbst in die höheren technologischen Sphären der Wertschöpfungsketten zu klettern. Nichts macht die Entwicklung der 2010er Jahre so deutlich wie die Entwicklung der Profitraten Chinas und der USA in Grafik 1: Entgegen dem, was viele über die Entwicklung der Profitraten missverstehen, ist paradoxerweise eine sinkende Profitrate (wenn sie mit hohen Wachstumsraten verbunden ist) ein Indikator für eine besonders dynamische, von kapitalintensiven Investitionen getriebene Wirtschaftsentwicklung, während eine „gleichbleibende“ Profitrate bei schwachem Wachstum genau das Gegenteil, eine stagnierende Entwicklung mit wenig Verbesserung der Kapitalproduktivität und schwacher Modernisierung des Anlagekapitals (Neuinvestitionen), offenbart. Vor allem Anfang der 2010er Jahre war China in allen wichtigen Bereichen des Produktivkapitals zu einem ernsthaften globalen Konkurrenten für das US-Kapital mutiert.

Dass dieses Wachstum Mitte der 2010er Jahre ins Stocken geriet, lag nicht nur an Fehlern bei der Planung der Konjunkturprogramme (z. B. Bau ganzer Städte, die nie gebraucht wurden) oder an den immer offensichtlicher werdenden Schwächen des Finanzsektors (Rolle der Schattenbanken, Immobiliengesellschaften etc.). All das war vielmehr nur Ausdruck der Tatsache, dass mit der rasanten Kapitalakkumulation und Investitionstätigkeit immer mehr Kapital in Anlagen investiert wurde, seien es hochproduktive oder unsinnige, und damit ab einem bestimmten Punkt, als die Profitrate sank, das Kapital für neue Investitionen einfach knapp wurde. Deshalb kamen Schattenbanken und durch Bodenspekulation getriebene Immobilienblasen zum Tragen, da solche Kapitalien verstärkt zur Finanzierung eingesetzt werden mussten. Darüber hinaus war China auch vom Rückzug von Direkt- und Portfolioinvestitionen betroffen (sei es direkt oder über zwischengeschaltetes Kapital in Hongkong, Singapur oder Taiwan), und das Geschäft zwischen den USA und China ging sowohl in Bezug auf den Handel als auch auf die Lieferketten zurück.

Andererseits expandierte China, um seine Profitratenentwicklung durch den Aufbau von Produktionsketten (siehe oben, z. B. Indien, Indonesien, Malaysia, Vietnam, Thailand, Brasilien), durch verstärkte Direktinvestitionen (z. B. „Neue Seidenstraße“, als Kreditgeber in Afrika und Lateinamerika) und durch die Einrichtung internationaler Zahlungssysteme als Alternative zu den von den USA dominierten US-Dollar-Systemen zu kompensieren. Auch in China sind in den letzten Jahren die Einnahmen aus Auslandsvermögen (wenn auch oft über Hongkong vermittelt) gestiegen. Dies ist ein klarer Hinweis auf den imperialistischen Charakter der chinesischen Wirtschaft und die wirtschaftlichen Vorteile des Imperialismus in Zeiten der Überakkumulation (und Pech für diejenigen, die sich bei China Geld geliehen haben, z. B. in Afrika und Lateinamerika).

Die beschriebene Dynamik der verschiedenen regionalen Volkswirtschaften spiegelt sich letztlich in der Entwicklung der Akkumulation über den gesamten Zeitraum wider, wie sie in Abbildung 5 im Verhältnis von Kapitalstock zu Investitionen, d. h. dem Gewicht des aus Gewinnen neu investierten Kapitals im Vergleich zu dem in bestehenden Investitionen gebundenen Kapital, dargestellt ist.

Grafik 5: Akkumulationsraten im Vergleich

Das Beispiel USA zeigt, dass es in den 1990er Jahren einen leichten Anstieg der Akkumulationsrate gab, die dann mit der Großen Rezession in eine Abwärtsbewegung überging und dann auf niedrigem Niveau stagnierte (man muss bedenken, dass eine Abschreibungsrate von 4 % in den 2010er Jahren bedeutet, dass die tatsächlichen Neuinvestitionen marginal waren). Die gleiche Abwärtsbewegung ist auch in der deutschen Wirtschaft zu beobachten, allerdings von einem noch niedrigeren Niveau aus (wenn auch mit einer Abschreibungsrate von nur 3 %). Auf der anderen Seite ist in China in der Zeit nach dem WTO-Beitritt ein starker Kapitalaufbau durch Investitionen zu beobachten, der sich aber nach dem oben beschriebenen Übergang zum unabhängigen Akkumulationsmodell nach 2010 deutlich abschwächt – ein deutliches Zeichen für die Überakkumulation von investiertem Kapital, was auch gut zu der sinkenden Gewinnrate in diesem Zeitraum passt. In der ausgewählten Halbkolonie Brasilien hingegen ist deutlich zu erkennen, wie der seit Anfang der 2000er Jahre steigende Akkumulationszyklus (fast parallel zu dem Chinas) 2014 abrupt abbricht (Doppeleffekt aus Kapitalabzug und Nachfragerückgang auf dem Weltmarkt). In den Folgejahren entspricht dies einer leichten wirtschaftlichen Erholung in den USA/EU/J im Vergleich zur Rezession in vielen Halbkolonien (wie Brasilien) und der Abschwächung der Wachstumsraten in China.

Insgesamt ist zu erkennen, dass sich die imperialistischen Länder (einschließlich Chinas) nach großen Unterschieden in der Profitrate, der Kapitalzusammensetzung und den Akkumulationsraten gegen Ende des Zeitraums stärker angenähert haben – und das bei geringer Profitabilität und Investitionstätigkeit. Offensichtlich hat die „entgegenwirkende Ursache“ der Globalisierung viel von ihrer Kraft verloren, so dass nach 2019 ein klarer Trend zur globalen Rezession erkennbar war. Dass diese im Jahr 2020 eintrat, hatte aber natürlich einen ganz anderen Grund, auf den wir später noch eingehen werden.

Entwicklung des Weltmarkts, des Weltwährungssystems und der globalen Schuldenproblematik

Ein zentrales Moment der Globalisierungsperiode war nicht nur die neue Qualität der Internationalisierung der Produktion und der globalen Finanzströme, sondern auch die enorme Expansion des Welthandels. Während der Anteil des Welthandels am Welt-BIP nach dem Nachkriegsboom auf 40 % anstieg, erhöhte er sich in der Globalisierungsperiode nochmals auf über 60 %. Das bedeutet, dass heute weit mehr als die Hälfte der für Investitionen oder Konsum erworbenen Güter über den Weltmarkt beschafft und nicht im Inland produziert werden. Dies ist in den imperialistischen Ländern natürlich noch stärker ausgeprägt als in den Halbkolonien. In letzteren ist der Anteil des im Inland produzierten BIPs größer, insbesondere was die Güter des Massenkonsums oder den Umfang des informellen Sektors und der Subsistenzwirtschaft betrifft.

Dies bedeutet, dass die Kosten für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft viel niedriger sind, was sich in den „Kaufkraftparitäten“ widerspiegelt (d. h., mit einem viel niedrigeren Lohn kann immer noch der „Standardwarenkorb“ gekauft werden). Zusammen mit der niedrigeren Arbeitsproduktivität und Kapitalintensität bedeutet dies, dass der inländische Sektor einer anderen Wertbildung unterliegt als der, der für den Weltmarkt produziert – wo in US-Dollar und nicht in Kaufkraftparitäten bezahlt wird. Aus der Sicht der Halbkolonie muss also weit mehr Wert als Äquivalent für importierte Güter aus Ländern mit höherer Kapitalzusammensetzung produziert werden, als zurückgewonnen wird. Während aus Sicht des Weltmarktes ein gleichwertiger Austausch stattfindet, erscheint dies aus der Sicht der Halbkolonie als „ungleicher“ und Werttransfer in die imperialistischen Volkswirtschaften. Dies wird besonders deutlich, wenn man den Wert der Außenhandelsgüter in Kaufkraftparitäten und in US-Dollar vergleicht. Hier wird in fast allen Halbkolonien der Wert der Weltmarktgüter in Kaufkraftparitäten etwa doppelt so hoch bewertet wie zumWeltmarktpreis, während in den imperialistischen Ländern der Wert in Kaufkraftparitäten meist unter dem Weltmarktpreis liegt.

Dies drückt eben aus, dass die Halbkolonien einen viel größeren Teil ihrer Arbeitskraft und Produktionsmittel für den Erwerb von Weltmarktprodukten aufbringen müssen als die imperialistischen Länder. Das Problem ist nun, dass viele Studien (z. B. Ocampo/Parra) gezeigt haben, dass sich diese „Terms of Trade“ zwischen dem globalen Norden und Süden in der Globalisierungsperiode weiter zu Ungunsten des letzteren verschlechtert haben. In den imperialistischen Ländern führt dies z. B. zu einer Erhöhung der relativen Mehrwertrate durch billigere Importe von Konsumgütern. Wenn diese vom imperialistischen Kapital angeeignet werden, resultiert dies in einer Steigerung der Profitrate.

Ein wichtiger Faktor dabei ist der Wandel im weltweiten Agrar- und Rohstoffhandel in diesem Zeitraum. Beide Sektoren waren durch bisher nicht gekannte Monopolisierungstendenzen großer, internationaler Privatkonzerne gekennzeichnet. Angetrieben von Fortschritten in der Saatgut-, Düngemittel- und Mechanisierungstechnologie haben die Agrarkonzerne vor allem in den Halbkolonien riesige Flächen übernommen und bewirtschaften sie in großem Stil, um direkt für den Weltmarkt zu produzieren. Nach Angaben der FAO kontrollieren nur 2 % aller landwirtschaftlichen Betriebe mehr als zwei Drittel der weltweiten Agrarnutzfläche, in den Halbkolonien sogar mit Großbetrieben von rund 10.000 Hektar.

Die 2,6 Milliarden Kleinbauern/-bäuerinnen auf der Welt bewirtschaften jeweils weniger als 2 Hektar. Bis vor wenigen Jahren zeichneten diese Kleinstbetriebe für 80 % der Nahrungsmittelversorgung im globalen Süden verantwortlich. Die Expansion des Agrobusiness im Zuge der Globalisierung hat nicht nur immer mehr Kleinbauern/bäuerinnen von ihren Feldern vertrieben, sondern durch billige Industriegüter auch immer mehr solcher Selbstversorgungsnetze zerstört. Die Auseinandersetzungen um die Folgen dieses Verdrängungswettbewerbs haben in den letzten Jahren zu großen Agrarprotesten, z. B. in Indien, geführt. Zudem tendiert die Abhängigkeit der Grundversorgung solcher Länder vom Weltmarkt dazu, dass dessen Preisschwankungen, z. B. durch Währungsabwertungen oder Ereignisse wie den Ukraine-Krieg, sich unmittelbar in den betroffenen Ländern manifestieren – wo sie z. B. zum Arabischen Frühling führten.

Auch im Bergbau wurden fast alle ehemaligen Staatsbetriebe privatisiert und von einigen wenigen großen internationalen Konzernen übernommen. Auch diese sind nahtlos in die globalen Lieferketten integriert worden. Durch die Kontrolle seitens der multinationalen Agrar- und Rohstoffkonzerne verlieren die Volkswirtschaften des globalen Südens weitere Punkte bei den „Terms of Trade“, indem ihre internen Märkte weiter geschwächt werden und der Werttransfer in die imperialistischen Zentren ausgeweitet wird.

Diese Bedeutung des Weltmarktes für die globale Umverteilung sowie für Direktinvestitionen und Finanzmarkttransaktionen unterstreicht die Notwendigkeit für den Imperialismus, ein „Weltgeld“, heute den US-Dollar, durchzusetzen. Es gibt einen Angleichungsprozess zwischen den imperialistischen Ländern und eine starke gegenseitige Abhängigkeit durch gegenseitige Direktinvestitionen, die auch zu geringen Schwankungen zwischen ihren Währungen in der Zeit der Globalisierung geführt haben. Andererseits müssen die Länder mit abhängiger Entwicklung große Anstrengungen unternehmen, damit ihre Währungen gegenüber dem US-Dollar nicht abwerten – sonst werden die Kosten für die benötigten Weltmarktprodukte noch höher und es droht eine Inflation.

Daher müssen sie eine möglichst ausgeglichene Leistungsbilanz und die Bildung großer US-Dollarreserven anstreben. Beides erzwingt zwangsläufig eine so genannte neoliberale Politik, d. h. Öffnung für ausländische Investor:innen – vor allem als Profiteur:innen von Privatisierungen, Haushaltskürzungen –, niedrige Sozialbudgets, minimaler Spielraum für eigene wirtschaftliche Interventionen usw. Und wenn, wie geschehen, dennoch in größerem Umfang Kapital abgezogen wird, müssen die Devisenreserven vergeudet werden, um die eigene Währung zu stabilisieren. In den letzten Jahren haben wir dieses Drama in Ländern wie Brasilien, der Türkei und vor allem Argentinien erlebt.

Nach dem Zusammenbruch von Bretton Woods (Aufhebung der Goldbindung des US-Dollars) ist er selbst zu einem Objekt der Finanzspekulation geraten. Heute wird er vor allem durch Kreditvergabe und Anleihekäufe der US-Notenbank geschaffen, was bedeutet, dass seine Deckung von regelmäßigen, weltweiten Zinserträgen und der Entwicklung der Wertpapiermärkte abhängt. Das geht so lange gut, wie die großen Kapitalvermögen letztlich die Finanzinstitute im US/Euro-Raum/J als sichere Häfen für Investitionen bevorzugen.

Die Finanzmarktkrise 2007/2008 hat diese kurzzeitig erschüttert, aber letztlich nur zu deren Stärkung angesichts fehlender Alternativen (durch Rückkehr zu den klassischen Anlagemärkten) geführt. Die Kehrseite dieser weiteren Rettung der US-Dollarwirtschaft war die mit QE verbundene Ausweitung von Schulden und Geldmenge. Angesichts der stagnierenden Akkumulation und der niedrigen Profitraten ist jedoch weder ein rascher Abbau von Schuldverpflichtungen noch eine Ausweitung des Warenangebots im Vergleich zur Geldmenge zu erwarten. Die inflationäre Tendenz war also bereits in der Endphase der Globalisierung angelegt. Andererseits würde eine rasche Abschreibung von Billionen wertloser Geldeinlagen und Zombie-Unternehmen, z. B. nach einem erneuten Platzen der Immobilienblasen, sowie eine damit verbundene Abwertung von US-Dollar/Euro/Yen das derzeitige Finanzsystem wohl erneut in Frage stellen – und die Frage nach konkurrierenden Währungen aufwerfen.

Durch die Russlandsanktionen im Zuge des Ukrainekrieges dürfte diese Frage für viele Länder immer dringlicher werden: Die Beschlagnahme seiner US-Dollar-/Euro-/Yen-Devisenreserven und der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System zur Abwicklung des internationalen Zahlungsverkehrs in US-Dollar haben hier die imperialistische Macht des US-Dollar-Systems überdeutlich gemacht. Daher führten die von China entwickelten Alternativen wie CIPS (internationale Zahlungsabwicklung für Banken, angesiedelt bei der Bank of China), China Union Pay (für globale Kreditkartensysteme), Universal Digital Payments Networks (basierend auf Blockchain) zu einer größeren Rolle Chinas bei globalen Finanzoperationen.

Zusammen mit seiner zunehmenden Bedeutung als Direktinvestor und internationaler Kreditgeber könnte dies den RMB zu einem Konkurrenten des bisher vom US-Dollar geprägten Systems machen. Gegenwärtig hat der US-Dollar seinen Anteil an den weltweiten Devisenreserven zwischen 2000 und heute von 70 % auf 59 % verringert, was jedoch durch einen Anstieg der Anteile von Euro, Pfund und Yen auf zusammen etwa 30 % kompensiert wurde. Der RMB gehört nur zu den 10 % „Nicht-Standard“-Währungen in den Devisendepots. Sein Anteil nimmt jedoch seit einigen Jahren stark zu. Bei einer erneuten Finanzkrise, einer Stabilisierung des chinesischen Finanzsektors und einer weiteren Expansion Chinas auf dem Weltmarkt könnten wir daher in eine Phase einer multilateralen Währungswelt ähnlich der 1970er Jahre (damals mit US-Dollar, Pfund, Yen und D-Mark) abgleiten, in der auch Euro und Yen wieder eine eigenständigere Rolle spielen könnten. Dies würde die globale Steuerungsfähigkeit der Krisenprozesse nicht gerade stärken und ähnlich wie in den 1970er und frühen 1980er Jahren zu einer Phase von Währungsturbulenzen, Inflations- und Rezessionsrisiken führen.

Die EU und Russland als die schwächsten Glieder des Imperialismus

Rein quantitativ gesehen ist die EU mit einem Anteil von 17,2 % am Welt-BIP der größte Wirtschaftsraum der Welt. China und die USA liegen nur etwa 1 % dahinter (die EU ist auch die mit Abstand größte Exporteurin weltweit). Sie ist jedoch durch innere Widersprüche gekennzeichnet. Im Zentrum der EU steht ein industriell starkes Deutschland, das die EU-Peripherie von Ost- bis Südeuropa als Zuliefererin für seine Produktionsketten nutzt. Gleichzeitig verfügt es weder über global bedeutendes Finanzkapital noch über politisch-militärisches Gewicht in der Sicherheits- und Außenpolitik. Im Vergleich zu Großbritannien (solange es noch Teil der EU war) und Frankreich ist dies umgekehrt. Ergänzt wird dieser Kern durch Italien und Spanien, die zu einer Zwischenkategorie gehören. Diese 4 – 5 führenden Nationen werden durch kleinere imperialistische Mächte ergänzt, von denen die meisten mit Deutschland einen Schwerpunkt in der Exportindustrie haben, sowie durch die Benelux-, die skandinavischen EU-Länder und Österreich. Gleichzeitig ist die EU ein Wirtschaftsblock, der eine Reihe von sehr unterschiedlichen Halbkolonien integriert: südeuropäische Länder wie Portugal, Griechenland, Zypern und Malta, Balkanländer, die sehr unterschiedlichen osteuropäischen Länder (mit Polen als einem der größten EU-Länder) und die baltischen Staaten.

Die Länder des Baltikums, Osteuropas und des Balkans, die aus den ehemaligen degenerierten Arbeiter:innenstaaten hervorgegangen sind, wurden während der Globalisierung stark in die Produktionsketten des deutschen, niederländischen und skandinavischen Imperialismus integriert. Dies führte zu einer Stabilisierung der Industriesektoren nach ihrem Zusammenbruch während der Restaurationsphase. Dies zeitigte jedoch auch große Einkommensunterschiede bei den Beschäftigten in den Exportindustrien und Dienstleistungsunternehmen, in den ruinierten öffentlichen Sektoren, in den von EU-Agrarsubventionen profitierenden landwirtschaftlichen Betrieben und in verlassenen, prekären Gebieten. Nachdem ein großer Teil der ehemaligen Bürokratie ins Lager der Bourgeoisie und des Managements gewechselt ist, gibt es seit den 2000er Jahren kaum noch nennenswerte linke Kräfte mit Massenunterstützung auf der politischen Bühne dieser Staaten. Die Gewerkschaften vertreten vor allem sektorale Schichten (z. B. recht erfolgreich in der Automobilindustrie mit hohen Lohnerhöhungen; dagegen eher verzweifelte Abwehrkämpfe im Gesundheitssektor).

Infolgedessen konnten in fast allen diesen Staaten politische Kräfte die Führung übernehmen, die populistisch vorgeben, die Interessen der Zurückgebliebenen zu vertreten, während sie gleichzeitig die Opposition mit einer stark nationalistischen und autoritären Politik klein halten. Während sie sich scheinbar im „Widerstand“ gegen die imperialistischen Herr:innen in Berlin, Brüssel und Co. befinden, sind sie, wenn es um „konservative Werte“ geht, die der Nation angeblich wichtig sind, umso radikaler in der Umsetzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Besonders deutlich wurde dies während der Eurokrise, als die baltischen und osteuropäischen Regierungen die radikalsten Kritikerinnen „linker“ Projekte waren, die im Gegensatz zum Brüsseler Spardiktat standen.

Die Eurokrise brachte den Widerspruch deutlich zum Ausdruck, dass zwar eine gemeinsame Währung mit bestimmten Haushaltsregeln geschaffen wurde, die Akkumulationsmodelle dieser Länder aber keineswegs angeglichen waren. Die hohen Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands, der Niederlande und der skandinavischen Länder standen in der Krise in starkem Kontrast zum Gegenteil in Südeuropa. Dies führte zwangsläufig zu niedrigen Zinssätzen für die einen und enorm steigenden für die anderen. Die Weigerung des Europäischen Rates und der EZB, auf den Kapitalmärkten gegenzusteuern, führte unweigerlich zu einem Problem bei der Refinanzierung des enormen Schuldenanstiegs in der Zeit der Überakkumulation und im Gefolge der Großen Rezession. Um den Zusammenbruch Griechenlands oder den Austritt aus dem Euro zu vermeiden, wurden schließlich umfangreiche EU-Programme aufgelegt, um die Zahlungsfähigkeit gegenüber den privaten (meist europäischen) Gläubiger:innen zu sichern, was letztlich zu einer Verstaatlichung dieser Schuldenrisiken führte und den Südeuropäer:innen enorme Opfer für die jahrelange Bearbeitung dieser Schulden auferlegte. Der Bankrott des linken Widerstands dagegen, z. B. der Syriza-Regierung in Griechenland, führte daher zur Zementierung von Varianten neoliberaler Politik auch in Südeuropa – mit der nahezu zwangsläufigenFolge des Aufstiegs des Rechtspopulismus (z. B. in Italien und Spanien).

Der Aufstieg der europäischen Exportindustrien und ihrer internationalen Produktionsketten ist eng mit der zunehmenden Zusammenarbeit mit einem wieder erstarkenden russischen Imperialismus verbunden. Bereits in der Lissabon-Agenda wurde das Ziel eines mit dem US-Imperialismus konkurrenzfähigen EU-Blocks mit der Idee neuer Partnerschaften verknüpft. Im Hinblick auf China soll dies insbesondere für die deutsche Industrie durch eine engere Einbindung in die Produktions- und Handelsbeziehungen erreicht werden, die mittlerweile die mit den USA bei den Importen übertreffen. Der VW-Konzern generiert inzwischen 40 % seines Umsatzes in China.

Die Stabilisierung des russischen Kapitalismus nach dem Zusammenbruch Ende der 1990er Jahre (der „Russlandkrise“) führte dazu, dass mit dem Putin-Regime nach der „wilden“ Privatisierungsphase eine Wiederherstellung der Staatsmacht gelang. Insbesondere die großen Energiekonzerne und die Banken wurden einer strengen staatlichen Kontrolle unterworfen, die auch ein starkes direktes Eingreifen beinhaltete (eine besondere Rolle spielte dabei die Kontrolle über die Justiz). Mit den Gewinnen der Energiekonzerne konnte auch das Leid der vielen Verlierer:innen der Restauration etwas gemildert werden (z. B. Rentner:innen). Putins Populismus gewann gerade durch die Unterstützung der ärmeren und ländlichen Bevölkerung an Stabilität und konnte so die Unzufriedenheit der verschwindend kleinen „Mittelschichten“ in Russland verkraften. Die Stabilisierung des russischen Imperialismus ist auch in Grafik 1 zu sehen, wo die Perioden starker Erholung (oder sogar Wiederherstellung) der Profitrate offensichtlich mit der gestiegenen Nachfrage nach Energie und Rohstoffen in den aufstrebenden Industriezyklen der EU und Chinas zu tun haben.

Insbesondere die starke Ausrichtung des deutschen Kapitals auf Russland („Energiepartnerschaft“, die Nord-Stream-Projekte usw.) sorgte in der EU, vor allem in den baltischen Staaten und in Osteuropa, lange Zeit für Kritik und Polemik. Dies deckte sich mit den Interessen der USA, die sich durch die EU in ihren Russland-China-Partnerschaften herausgefordert sahen. Länder wie Polen und die baltischen Staaten witterten die Chance, unabhängig von Berlin/Brüssel zu agieren und sich der Unterstützung des US-Imperialismus sicher zu sein, der auf dem europäischen Kontinent ohnehin durch die NATO engagiert ist, die in der Sicherheitspolitik eine weitaus größere Rolle spielt als die EU. Die USA wiederum nutzten vor allem ihre baltischen und osteuropäischen Verbündeten, um die Osterweiterung der NATO voranzutreiben und deren Aufrüstung zu fördern. Die sich daraus zwangsläufig ergebende Konfrontation mit Putin-Russland musste auch die „Partnerschaft“ des EU-Projekts mit ihm als Konkurrenz zur US-Hegemonie erschüttern. In den bekannten „Pufferstaaten“ Ukraine, Belarus (Weißrussland), Georgien, wo es sowohl westliche als auch russische Machteinflüsse gab, musste diese Konfrontation schließlich in heiße Konflikte umschlagen.

Die genaueren Hintergründe und Verläufe dieser Konflikte werden an anderer Stelle behandelt. Wichtig ist hier, dass mit dem Ukrainekrieg das Projekt des EU-Blocks gegenüber Russland völlig gescheitert ist. Selbst die engen Beziehungen zu China geraten angesichts der engeren Beziehungen zwischen diesem und Russland ins Wanken. Das ist eine Katastrophe vor allem für den deutsch-französischen Kern der EU. Einerseits ist die Exportwirtschaft Deutschlands (aber auch der Niederlande und Österreichs) durch den Wegfall der russischen Energieimporte enorm betroffen. Der Anstieg der Energiepreise trifft Industrien, die bereits stark unter Versorgungsproblemen und Preisschocks leiden. Kurzfristig wird dies sicherlich zu Rezessionstendenzen führen. Insgesamt aber muss sich ein geschwächtes europäisches Kapital wiederum dem US-Kapital unterwerfen und sein Geschäftsmodell radikal auf eine atlantische Anbindung umstellen. Dies wird in der EU auch von den Regierungen in Polen und den baltischen Staaten vorangetrieben, die sich nun auf der Siegerstraße mit den USA sehen. Nach dem Brexit kann der britische Imperialismus auch eine neue Rolle als Vermittler in der Unterordnung unter die USA spielen und mit der Nordirlandfrage weiter an der Integrität der EU rütteln. Ein wirtschaftlich und politisch stark geschwächtes Kerneuropa um Deutschland, Frankreich und Italien ohne hegemoniales Projekt wird die Tendenzen, die EU zu einer immer loseren Interessengruppe zu transformieren, kaum aufhalten können – während die Integrationstendenzen immer schwächer werden.

Russland wird, wie immer der Krieg ausgeht, wirtschaftlich und politisch enorm geschwächt sein. Es hat seine wichtigsten Handelsbeziehungen verloren ebenso wie die Aussicht, über die EU und insbesondere Deutschland eine Alternative zum Bündnis mit China aufzubauen. Dies wird es dazu zwingen, seine zentralen Verbündeten, wahrscheinlich aus einer schwachen Position heraus, in China und Indien zu suchen. Dieses Bündnis trüge sicherlich das wirtschaftliche Potenzial, dem von den USA geführten Block zu widerstehen. Es ist jedoch noch nicht klar, ob China weiterhin versuchen könnte, in diesem Block zu operieren und seine wirtschaftlichen Beziehungen (die weitaus stärker sind als die zu Russland) auszubauen. Insbesondere in Lateinamerika, Afrika und vielen Regionen Asiens kann China den US-Imperialismus bereits herausfordern. Ob Russland für China als Lieferant von Öl, Waffen und Söldner:innen wichtig ist, bleibt abzuwarten. Andererseits gibt es in einigen zentralasiatischen (sehr rohstoffreichen) Ländern und an den Tausenden von Kilometern gemeinsamer Grenze genügend Konfliktpunkte zwischen China und Russland.

Energie, Wachstum und ökologische Krise

Wie in vielen Studien bestätigt, ist eine Entkopplung von Wirtschaftswachstum und entsprechendem Anstieg des Energieverbrauchs aus globaler Sicht bis heute nicht gelungen. Das bedeutet, dass die „Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch“ entgegen den Ankündigungen unter dem Schlagwort „Green Economy“ auf der „Nachhaltigkeitskonferenz“ von Rio 2012 nicht gelungen ist. Die versprochenen „neuen Technologien“ und „effizienteren Wirtschaftsweisen“ ändern nichts an der Tatsache, dass der Zwang zu ständig steigender Kapitalakkumulation mit einem ebenso zunehmenden Energie- und Rohstoffhunger verbunden ist.

Grafik 6: Verhältnis BIP-Wachstum und Energieverbrauch

Abbildung 6 zeigt die enge Korrelation zwischen dem Wachstum des BIP (nach Angaben der Weltbank) und dem des Energieverbrauchs (gemessen in Litern Öläquivalenten, nach EPWT). Die Schwankungen des Energieverbrauchs sind stärker, da sie enger mit den physischen Zyklen in der Industrie verbunden sind (dennoch beträgt die Korrelation 0,75). Auch wenn der Anstieg des Energieverbrauchs in den USA im letzten Jahrzehnt geringer war (da auch die Wachstumsraten zurückgingen), wird dies weltweit durch seinen enormen Anstieg in China kompensiert (Wachstumsraten von bis zu 14 % im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre; danach immer noch Raten von bis zu 10 %) und, nachdem sich der Anstieg in China Mitte der 2010er Jahre verlangsamt hat, durch einen Anstieg des Energieverbrauchs insbesondere in den asiatischen Lieferländern für China wie Indonesien um 5 % von einem viel niedrigeren Niveau aus.

Während der weltweite Energieverbrauch im Globalisierungszeitraum (1990 – 2019) um rund 60 % gestiegen ist, hat sich der Anteil der erneuerbaren Energien nur von 22 % auf 29 % erhöht. Weltweit, insbesondere in den Halbkolonien, stand und steht die Wasserkraft im Vordergrund (16 %). Allerdings besitzen die großen Staudammprojekte auch enorme ökologische Nachteile (siehe die Auseinandersetzungen um den Grand Ethiopian Renaissance Dam oder den Staudamm am Rio San Francisco in Brasilien). Auch Photovoltaik und Windkraft erzeugen bei der Rohstoffgewinnung, der Produktion, dem Flächenverbrauch, der Lieferung und dem Betrieb Treibhausgase, sind also nicht 100 %ig „CO2-frei“. Daher ist es nicht verwunderlich, dass im Zuge der Globalisierung die Treibhausgasemissionen insgesamt gestiegen sind, ebenso wie der Ressourcen- und Flächenverbrauch für die Energieerzeugung. Jede neue Wachstumswelle wäre daher im Kapitalismus mit neuen ökologischen Katastrophen verbunden. Entweder beschleunigt sich die Klimakatastrophe durch die Beibehaltung fossiler Energieträger oder der rasante Ausbau der erneuerbaren Energien verbraucht massiv Land, Rohstoffe, Ökosysteme (z. B. Wasserkraft) oder Nahrungsmittel (z. B. für Biokraftstoffe). In jedem Fall wird die Frage nach einer nachhaltigen Wirtschaft, die die massenhafte Energieverschwendung durch eine effiziente Planung im globalen Maßstab ersetzt, zunehmend zu einer des Überlebens für die Menschheit. Die in der ökologischen Bewegung verbreitete Illusion einer „Gesellschaft ohne Wachstum“ („Degrowth“) oder der „Entkopplung von Wachstum und Energieverbrauch“ („Green Economy“) wird sich im Kapitalismus nicht realisieren lassen. Die unmittelbare Folge der Grenzen des bestehenden Energiesystems und der Umstellung auf erneuerbare Energien wird ein langfristiger Anstieg der Energiepreise sein. Die „billige Energie“, auf der die Zeit der Globalisierung basierte (z. B. durch die Autarkie der USA durch steigenden Verbrauch fossiler Ressourcen, billiges russisches Öl und Gas), wird kaum wiederkommen.

Corona und Ukrainekrieg als Krisenauslöser

Bereits 2019 deuteten viele Indikatoren auf ein erneutes Abgleiten der Weltwirtschaft in eine globale Rezession und eine tiefere Krise zu Beginn der 2020er Jahre hin. Auch wir haben diese Erwartung in unsere Perspektiven aufgenommen. Im Jahr 2018 schrieben wir: „Die Überwindung des stagnierenden Aufschwungs 2010 – 2016 und die gravierenden Widersprüche des aktuellen Aufschwungs bedeuten, dass wir auf eine nächste Rezession vorbereitet sein müssen, die um das Jahr 2020 eintreten könnte. Die Probleme der Schwellenländer und die Handelskonflikte machen es sehr wahrscheinlich, dass es sich um eine Rezession handeln wird, die nicht auf einige Länder oder Regionen beschränkt sein wird. Wie tief die Krise sein wird, hängt von der Verlangsamung in China, den Turbulenzen in den Schwellenländern, der EU-Krise und sicherlich von den Schockwellen der Schulden- und Finanzkrise ab.“ Wir hatten die kurze Erholungsphase nach 2016 bereits als Ergebnis der Rückkehr des Kapitals gesehen, die nicht auf einer nachhaltigen Verbesserung der Rentabilität und Modernisierungsinvestitionen beruhte, sondern durch Probleme wie Schwellenländerkrisen, verstärkte Deglobalisierungstendenzen, das Abwürgen des chinesischen Aufschwungs und die anhaltende EU-Krise ins Gegenteil verkehrt werden würde. Die Prognose war insgesamt nicht falsch – nur der Auslöser der Krise im Jahr 2020 war ein ganz anderer, der von kaum jemandem vorhergesehen werden konnte.

Wie so oft in der Geschichte des Kapitalismus war es ein äußerer Schock, der die Krise auslöste, aber letztlich nur zum Beschleuniger der tieferen Krisenmomente wurde: das plötzliche Auftreten einer sich schnell ausbreitenden Pandemie Anfang 2020, die durch das hochansteckende Coronavirus (Sars-CoV-2) verursacht wurde und zu einer lebensbedrohlichen Krankheit, Covid-19, führte. Das Auftreten von Pandemien ist für die kapitalistische Epoche nichts Neues (Spanische Grippe), wurde aber durch die Fortschritte in der Medizin und insbesondere Mikrobiologie als reale Gefahr stark aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt. Die industriellen Formen der Massentierhaltung und der weltweite Handel mit exotischen Tieren sind ideale Brutstätten für Erreger, die vom Tier auf den Menschen überspringen (Zoonose). Die genauen Ursprünge des Erregers Sars-CoV-2, der erstmals in der chinesischen Stadt Wuhan registriert wurde, werden noch erforscht. Klar ist jedoch, dass die starke zwischenmenschliche Interaktion auf internationaler Ebene aufgrund der Globalisierung dazu geführt hat, dass dieses Virus, das sich durch die Luft verbreitet, überall auf dem Globus auftaucht.

Tatsächlich erwiesen sich die üblichen epidemiologischen Schutzmaßnahmen im internationalen Reiseverkehr als völlig unzureichend. In nur einem Monat war im Frühjahr 2020 praktisch jedes Land der Welt mit einem Ausbruch konfrontiert. Es wurde auch schnell klar, dass ein ausreichend großer sofort zu einem exponentiellen Wachstum der Viruserkrankungen führen würde, was in kurzer Zeit die Kapazitäten der intensivmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten fast aller bestehenden Gesundheitssysteme übersteigen würde. Die drei bekannten Reaktionsmodelle bestanden in (1) der Entwicklung einer Herdenimmunität, indem die Infektion durch die Bevölkerung weitergegeben wird; (2) strengen Quarantänemaßnahmen zur Isolierung der Ausbrüche und damit zum Austrocknen der Infektion (Null-Covid); (3) der Begrenzung des Anstiegs der Infektion auf ein Niveau, das die Gesundheitssysteme kontrollieren können, in der Hoffnung auf frühzeitige Einführung eines wirksamen Impfstoffs.

Alle diese Strategien trugen auf ihre Weise ernste wirtschaftliche Folgen: Der Ansatz der Herdenimmunität führt zu vielen Krankheiten und Todesfällen und natürlich zu Produktionsausfällen. Die Null-Covid-Strategie in China schien zunächst äußerst erfolgreich zu sein, da sie die Sperrungen auf einige wenige, „kleinere“ Zentren beschränkte, während der Großteil der chinesischen Wirtschaft weiterlaufen konnte. Doch schließlich waren im Jahr 2022 auch sehr große Wirtschaftszentren betroffen, in denen die strengen Isolierungsmaßnahmen selbst mit den autoritären Methoden des chinesischen Seuchenschutzes nur schwer durchsetzbar waren, was zu einer Kettenreaktion von Einbrüchen der Wirtschaftstätigkeit in ganz China führte.

In den westlichen imperialistischen Ländern wurde zumeist die „Eindämmungs“strategie verfolgt, eine Mischung aus Kontakt- und Reisebeschränkungen und kleineren Abriegelungen, die nur eine sehr kurzfristige Unterbrechung der Produktion zum Ziel hatten. Die geringeren Restriktionen führten zwar zu weniger direkten wirtschaftlichen Folgen, machten das Virus aber auch langfristig „heimischer“ und förderten zusammen mit der Strategie der Herdenimmunität weltweit eine rasche Abfolge neuerer Mutationen des Virus, die mit Kontaktbeschränkungsmaßnahmen immer schwerer zu bekämpfen sind. Eine Entspannung ergab sich erst durch die überraschend schnelle Entwicklung wirksamer Impfstoffe, die bereits Ende 2020 klinisch erfolgreich getestet wurden. Hier wiederum begann die irrationale, global ungeplante Herangehensweise des Kapitalismus an ein weltweites Problem zu wirken: Anstatt Impfstoffe systematisch und je nach Ansteckungsdichte weltweit zu verteilen, wurde ein Großteil von den westlichen imperialistischen Zentren aufgekauft.

In diesen Ländern konnte zwar eine gewisse Beruhigung der Coronapandemie erreicht werden, aber vor allem im globalen Süden (der mit Testkits bereits schlecht versorgt war) war die Versorgung, vor allem für die ärmeren Bevölkerungsschichten, zu gering, um einen angemessenen Schutz zu bieten. Infolgedessen kam es 2021 zu weiteren Todesfällen und die Möglichkeit neuer Mutationen und Infektionswellen auf der ganzen Welt wurde ebenfalls vorbereitet. Während viele imperialistische Länder Mitte 2021 bereits das Ende der Pandemie feierten, wurde die Welt in der zweiten Hälfte des Jahres erneut von einer heftigen Infektionswelle getroffen. Mit den Omikronvarianten und den erreichten Impfquoten hat sich die Lage seit dem Frühjahr 2022 zwar beruhigt, von einer Entwarnung kann aber keine Rede sein. Nach Ansicht der meisten Expert:innen ist das Virus nicht endemisch geworden (d. h. auf das Niveau einer normalen Grippewelle gesunken). Es kann immer noch eine gefährlichere, ansteckende Variante von Sars-CoV-2 auftreten, die eine weitere Welle auslösen könnte, die die Intensivstationen wieder füllt. Es kann also nur eine vorläufige wirtschaftliche Bilanz gezogen werden.

Abbildung 7: Einbruch der geleisteten Arbeitsstunden nach 2019

Im Gegensatz zur Großen Rezession von 2008/2009 wurde die Krise von 2020/2021 nicht direkt durch die inneren Widersprüche der Kapitalakkumulation ausgelöst. Aber die Unfähigkeit des Kapitalismus, diese Krise tatsächlich auf globaler Ebene zu bekämpfen, bedeutete, dass der externe Schock der Pandemie zum Verstärker der bereits bestehenden Krisentendenz geriet. Die unmittelbare Auswirkung der Pandemie im Frühjahr 2020 bestand darin, dass innerhalb von ein bis zwei Monaten die Produktions- und Handelsströme fast überall auf der Welt zum Erliegen kamen (aufgrund von verschiedenen Schließungen, Einschränkungen am Arbeitsplatz, Grenzschließungen usw.). Auch wenn in der Folgezeit mit Ausnahme Chinas keine drastischen Maßnahmen ergriffen wurden, so wurden doch einige Wirtschaftszweige langfristig eingeschränkt. Vor allem kam es zu einem starken Einbruch der geleisteten Arbeitsstunden aufgrund von Krankheiten, der viele Monate anhielt. Abbildung 7 zeigt den von der ILO gemessenen Einbruch der globalen Arbeitsstunden nach Ende 2019. Er geriet im zweiten Quartal 2020 zum stärksten, der jemals gemessen wurde, sogar schlimmer als in den Jahren 2008/2009: Während die durchschnittliche Wochenarbeitszeit im Jahr 2020 um 2,6 Stunden sank, waren es in der „Großen Rezession“ nur 0,6 Stunden (ILO Monitor Covid-19, 2021). Der Einbruch war regional deutlich gestaffelt: Lateinamerika, Südostasien, Nordafrika und Südeuropa waren die Länder mit den größten Arbeitszeitverlusten.

Vor allem in Anbetracht des letztgenannten Punktes ist es nicht verwunderlich, dass es zu enormen Einbrüchen in den globalen Lieferketten und im Welthandel kam. Der Welthandel mit Gütern ging bis 2020 um 8,2 % zurück, der mit Dienstleistungen sogar um 16,7 %. Die Störungen der „globalen Wertschöpfungsketten“ (GVC) sind schwieriger zu quantifizieren. Studien der WTO zeigen jedoch, dass die GVC in Korrelation mit dem Welthandel Versorgungsprobleme aufwiesen, die Störung aber viel langfristiger anhielt (asynchrone Wellen in den verschiedenen Regionen, häufige Unterbrechungen der Transportketten, Dominoeffekte bei Versorgungskettenproblemen, Nachfrageschwankungen usw.). Darüber hinaus rückte ein weiteres wichtiges Moment in den Vordergrund: Bereits in der kurzfristigen Erholungsphase der Industrien des klassischen Imperialismus nach 2016 begann das Phänomen des „Reshoring“ (im Gegensatz zum „Offshoring“ Anfang der 2000er Jahre): Durch verstärkte Automatisierung und KI können westliche Industrien im Rahmen der „Industrie 4.0“ angesichts gestiegener Transportkosten billigere Arbeitskräfte in Halbkolonien einsetzen. Im Zuge der Versorgungsrisiken in der Coronakrise hat sich diese Tendenz zum Reshoring nun offensichtlich verstärkt – um mit dem Ukraine-Krieg nochmals beschleunigt zu werden.

Ursprünglich verkündeten die meisten Wirtschaftsforscher:innen zu Beginn der Coronakrise, dass nach einem kurzen Produktionsstillstand, der durch staatliche Hilfen abgefedert werden konnte, das Wachstum der Vorkrisenzeit nach einer ebenso schnellen Erholungsphase nach dem scharfen Abschwung nahtlos in einer Art V-Form fortgesetzt werden könne. Zu Beginn des Jahres 2021 schien sich diese optimistische Prognose zusammen mit dem Beginn der Impfkampagnen zumindest in den imperialistischen Ländern zu erfüllen. Doch in der zweiten Hälfte des Jahres schlug nicht nur eine neue Coronawelle zu, sondern auch die langfristigen Probleme im Welthandel und in den globalen Wertschöpfungsketten machten sich bemerkbar. So klagten drei Viertel der deutschen Industriebetriebe über wesentliche Lieferprobleme (VW musste wegen fehlender Teile auf Kurzarbeit zurückgreifen), weltweite Produktionsausfälle, gestiegene Rohstoff- und Energiepreise usw. Der versprochene Aufschwung brach also sofort zusammen. Dies hatte aber noch eine weitere unangenehme Folge: Die zu Beginn der Coronakrise ergriffenen Maßnahmen zur Stabilisierung der Wirtschaft bewahrten viele Unternehmen vor dem Zusammenbruch und hielten die Nachfrage nach Konsumgütern auf hohem Niveau – allerdings in der Annahme, dass Produktion und Welthandel bald wieder in Gang kommen und diese Nachfrage dann befriedigen könnten. Das fehlende Wachstum des Angebots führte im Jahr 2021 zu einem Nachfrageüberhang, der zu einem Preisanstieg führen musste.

Es sind also nicht die „lockere Geldpolitik“, die „mangelnde Haushaltsdisziplin“ oder gar „zu hohe Löhne“, die die Inflation auf den Stand der 1970er Jahre zurückbrachten, sondern ist eindeutig das Problem der Stagnation des globalen Produktionsprozesses, das zu einem Angebotsschock führte.  In diesem Punkt können wir Michael Roberts zustimmen: „Die kapitalistische Produktion und die Investitionen verlangsamten sich, weil die Rentabilität des Kapitals in den großen Volkswirtschaften vor der Pandemie nahezu historische Tiefstände erreicht hatte. Die Erholung der Investitionen und der Produktion nach COVID war nur ein ,Zuckerrausch’, als sich die Volkswirtschaften wieder öffneten und aufgestaute Ausgaben freigesetzt wurden. Jetzt wird deutlich, dass das Produktions- und Investitionswachstum in den großen Volkswirtschaften einfach zu schwach ist, um auf die wiederbelebte Nachfrage zu reagieren.  Daher ist die Inflation in die Höhe geschossen“ (M. Roberts,  https://thenextrecession.wordpress.com/2022/06/18/a-tightening-world/).

Grafik 8: Verschuldung der Industrieländer, in Prozent des BIP (1970 – 1918)

Darüber hinaus gibt es einen weiteren wichtigen Aspekt der Krisenverschärfung: die Rolle der Schulden. Die Krisenpolitik nach der Großen Rezession hat die globale Schuldenlast enorm erhöht. Zu Beginn der Coronakrise betrug das globale private und öffentliche Schuldenvolumen das 2,6-fache des Welt-BIP (siehe Grafik 8: Verhältnis zwischen Schulden und BIP, nach „Die Volkswirtschaft“, einer Publikation des Schweizer Wirtschaftsministeriums). Mit den Rettungspaketen, Anleihekäufen, Wirtschaftshilfen usw. der Coronawirtschaftspolitik beträgt die Schuldenlast heute mehr als das Dreifache des Welt-BIP. Für imperialistische Länder, deren privates Kapitalvermögen das 4- bis 6-Fache des jeweiligen nationalen BIP ausmacht, mag das noch finanzierbar sein – in Halbkolonien muss es jedoch zu den bekannten Mustern von Schuldenkrisen führen. Auch in den imperialistischen Ländern zieht dies einen wachsenden Anteil an Kapital nach sich, das in Anlagen mit geringer Rendite gebunden ist. Laut Bloomberg stieg der Index der in Grafik 3 erwähnten Zombie-Unternehmen im Jahr 2022 auf über 20 % (31/05/22 „Zombie Firms Face Slow Death in US as Era of Easy Credit Ends“). Das bedeutet, dass das Kapital, das jetzt für Reshoring, „Industrie 4.0“ oder die Energiewende benötigt würde, fehlt. Zudem treibt die schuldenfinanzierte Nachfrage die Inflation weiter auf hohem Niveau an. Eine weitere Ausweitung des Schuldenregimes stößt daher derzeit auf den erbitterten Widerstand mächtiger Kapitalfraktionen, insbesondere der nach profitablen Investitionen suchenden Finanz- sowie der profitablen Industriekapitale. Diese drängten die Zentralbanken zu einem Ende des „Quantitative Easing“.

Die Einstellung der Anleihekäufe für angeschlagene Unternehmen und die Anhebung der Zinssätze, auf die sich die großen Zentralbanken nun konzentrieren (QT; Quantitative Tightening), wird unweigerlich zu einem mehr oder weniger schnellen Ausfall der Zombie-Unternehmen führen. Da es sich dabei um große Unternehmen, z. B. in der Luftfahrt- oder Energiebranche, handelt, werden sich sicherlich wieder einige die Frage stellen, ob der Zusammenbruch eines Unternehmens eine Kettenreaktion wie beim Zusammenbruch von Lehman im Jahr 2008 auslösen könnte. Die Zentralbanken und Regierungen werden die nächsten 2 – 3 Jahre damit verbringen, die verschuldeten Unternehmen abzuwickeln, ohne dass es zu einer Pleitewelle oder dem Platzen von Finanzblasen kommt. Die Bankenkrise vom März 2023 markierte bereits ein deutliches Anzeichen der Anpassungsprobleme der Geschäftsbanken an die restriktivere Geldpolitik der Zentralbanken (Zusammenbruch der zweitgrößten Schweizer Bank). Andererseits könnte ein zu langsames Tempo den Trend zur Stagflation weiter verstärken. Denn eine steigende Inflation könnte zusammen mit den bereits bestehenden Wachstumshemmnissen schnell zu einer Abwärtsspirale aus ungünstigen Inputkosten und mangelnden Investitionen führen, die auch durch steigende Kreditzinsen behindert werden. Die Zusammenbruchsszenarien hingegen können zu rasch steigender Arbeitslosigkeit, Ausfall von Produktions- und Lieferketten und schließlich zusätzlich über eine Angebots- zu einer Nachfragekrise führen – also zu Deflation und Stagnation, d. h. zu einer Depression. In jedem Fall kommt das Kapital unter diesen Bedingungen nicht mehr umhin, seine Überakkumulationskrise durch Kapitalvernichtung zu lösen. Ob dies nun durch Stagflation, Depression oder ein gefährliches Manöver dazwischen geschieht und wie die Ausmaße regional unterschiedlich ausfallen werden, sicher ist, dass jede dieser Lösungen mit massiven Verschlechterungen für die Arbeiter:innenklasse und heftigen Angriffen auf ihre Errungenschaften verbunden sein wird.

Wie auch immer sich die Inflation entwickelt, die Höhe der Löhne und Sozialleistungen bildet sicher nicht ihre Ursache. Die Arbeit„nehmer“:innen haben im letzten Jahr damit begonnen, ihre in einigen Bereichen durch Reshoring und „angespannte Arbeitsmärkte“ gestärkte Verhandlungsposition für Kämpfe zum Schutz des Lohnniveaus zu nutzen. Insbesondere darf man sich durch das Gerede von der „Lohn-Preis-Spirale“ nicht dazu drängen lassen, auf einen nachhaltigen Inflationsausgleich zu verzichten: Jede kurzfristige Entlastung, die jetzt angeboten wird, führt nur dazu, dass bei einer weiteren Verschärfung die Kampfkraft zur Abwehr weiterer Lohneinbußen noch schlechter ausfällt. Der Verzicht auf einen Inflationsausgleich ist keine „Inflationsbekämpfung“, sondern ein Mittel zur Gewinnsteigerung (so wie bestimmte staatliche Subventionen für die Mineralölindustrie in Deutschland nicht zur Senkung der Benzinpreise, sondern zur „Förderung“ der Gewinne der Unternehmen eingesetzt wurden).

In Zeiten der Inflation müssen die Preissteigerungen durch Klassenkampf gegen die Profite aufgefangen werden, sei es durch gleitende Lohntarife, Preiskontrollen oder Gewinnsteuern – jeweils verbunden mit entsprechenden Kontrollgremien der Arbeiter:innenklasse. Da sich die Preissteigerungen vor allem um die Bereiche Energie, Wohnen und Verkehr drehen, müssen auch hier weitere Kämpfe geführt werden, für die Verstaatlichung der Energieunternehmen, der Wohnungsbaugesellschaften und für den Ausbau des kostenlosen öffentlichen Verkehrs. Wir müssen uns auf die kommende Welle von Betriebsschließungen und Entlassungen vorbereiten, damit nicht jeder einzelne Betrieb auf verlorenem Posten für sich kämpft. Die Krise muss mit einer Welle von Besetzungen, Streiks, letztlich dem Generalstreik, um die Verteilung der immer noch steigenden Arbeit auf alle, verbunden mit einer entsprechenden Anpassung der Wochenarbeitszeit, einhergehen.

Krieg und Kriegswirtschaft

Natürlich wird die derzeitige Krisenphase dadurch verschärft, dass die neue Blockbildung der imperialistischen Mächte zunehmend auf eine militärische Konfrontation drängt. Nachdem das Ende der Coronakrise Anfang 2022 die schlimmsten wirtschaftlichen Einbrüche abzumildern schien, begann Russland im Februar 2022 seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dies hat zu einer Konfrontation zwischen dem „westlichen“ und russischen Imperialismus geführt, die es seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr gegeben hat. Die EU hat gemeinsam mit der NATO und den USA weitreichende Wirtschaftssanktionen ergriffen, die auch Auswirkungen auf die gesamte Weltwirtschaft nach sich ziehen. Länder wie China, Indien oder Brasilien, die sich nicht an den Sanktionen beteiligen, sind von den Sekundärsanktionen nicht betroffen, müssen aber eine langfristige Schwächung ihrer Handelsbeziehungen mit „dem Westen“ befürchten, insbesondere was China betrifft. Kurzfristig werden China und Indien jedoch vom billigeren Zugang zu russischem Gas, Öl, Rohstoffen und landwirtschaftlichen Erzeugnissen profitieren.

Die Sanktionen beinhalten zum einen den Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungsverkehrssystem SWIFT und die Sperrung von russischen Devisenkonten in „westlichen“ Währungen. Damit sind Direktinvestitionen in Russland unmöglich bzw. weitgehend eingestellt worden. Ebenso ist der Handel praktisch zum Erliegen gekommen – mit der wichtigen Ausnahme von Gas und Öl, da ein sofortiger Stopp in den meisten EU-Ländern akut zu einer tiefen Rezession geführt hätte. Die Wirtschaftssanktionen betreffen also hauptsächlich die EU-Imperialist:innen selbst. Während Russland große Probleme mit der Einfuhr westlicher Hochtechnologie bekommt, kann es sein Öl weiterhin zu guten Preisen an die nicht sanktionierenden Länder liefern. Hinzu gesellt sich das Problem des Weltagrarmarktes: Vor dem Krieg belegten Russland und die Ukraine einen Anteil von 15,8 % bzw. 9,8 % am weltweiten Getreideexport – beide sind durch die Blockade der Schwarzmeerhäfen und des Bosporus gefährdet bzw. extrem eingeschränkt. Angesichts des oben beschriebenen Wandels in den Subsistenzwirtschaften der Halbkolonien drohen in vielen Ländern des globalen Südens Hungerkrisen. Während der Weltmarktindikator „Food Price Index“ während der Coronakrise von 100 % in den Jahren 2014 – 2016 auf über 150 anstieg, nahm er während des Ukrainekrieges auf 250 zu. Auch die Energiepreisindizes sind durch den Krieg von ihrem bereits hohen Coronaniveau aus so stark angestiegen, dass die EU-Industrie allein in diesem Jahr voraussichtlich 30 % höhere Energiekosten zahlen muss (sofern es nicht noch schlimmer kommt). Damit hat der Krieg die bereits bestehende inflationäre Tendenz weiter beschleunigt. Insbesondere für das EU-Kapital stellen der Energiepreisschock und der Abbruch der Handelsbeziehungen mit Russland einen weiteren Krisen- und Inflationsbeschleuniger dar. Mit dem „Krieg für die Freiheit in Europa“ verfügt man aber auch über einen ideologischen Vorteil, um alle Krisensymptome Russland in die Schuhe zu schieben und die wirtschaftlichen Angriffe auf soziale Errungenschaften als „patriotische“ Notwendigkeiten zu tarnen.

Natürlich bringt der Krieg auch direkte wirtschaftliche Auswirkungen mit sich: Die Ukraine selbst ist natürlich das Hauptopfer der massiven Zerstörung und der extremen menschlichen Verluste. Wer die Kosten für den Wiederaufbau des ohnehin bitterarmen und hoch verschuldeten Landes (die Ukraine hat das halbe Pro-Kopf-Einkommen Bulgariens, des bisher ärmsten EU-Lands, und war bereits Opfer mehrerer IWF-Umschuldungsprogramme) tragen wird, ist mehr als unklar und wird in einem EU-Beitrittsprozess Milliarden verschlingen, mit entsprechenden Auflagen für einen mehr oder weniger offenen Kolonialstatus des Landes in der EU. Für Russland bedeutet der Krieg jeden Tag Kosten in Milliardenhöhe (von den menschlichen Opfern ganz zu schweigen). Es ist durchaus möglich, dass es nach dem Krieg angesichts der Kosten und der Folgen von Sanktionen in den Staatsbankrott schlittert, je nachdem wie lange er dauert. Ein möglicher Wechsel an der Spitze des Staates macht aber eine weniger nationalistische Ausrichtung Russlands keineswegs wahrscheinlicher. Sicherlich muss es sich finanziell, handelspolitisch und auch bei der militärischen Ausrüstung sehr stark an China anlehnen, um überhaupt als (untergeordnete) imperialistische Macht überleben zu können.

Obwohl die westlichen imperialistischen Mächte noch nicht direkt mit kämpfenden Einheiten in der Ukraine zusammengearbeitet haben (auch wenn freiwillige „Ex-Soldat:innen“ ermutigt werden), haben sie die ukrainischen Streitkräfte bereits vor dem Krieg massiv ausgerüstet und ausgebildet und sie im Krieg mit Waffen, Logistik und Informationsdiensten sowie mit der Ausbildung an den neueren Waffensystemen unterstützt. Darüber hinaus wurde der Krieg genutzt, um die Präsenz der NATO-Truppen und aller Arten von Waffen entlang der Ostfront auszubauen. Mehrere EU-Staaten haben umfangreiche Aufrüstungsprogramme beschlossen (darunter auch Deutschland). Nach Angaben der Washington Post haben allein die USA von 2014 bis 2021, also bereits vor dem Krieg, 2,7 Milliarden US-Dollar an Militärhilfe bereitgestellt. Im ersten Jahr des Ukrainekriegs haben die USA 48 Milliarden US-Dollar an finanzieller und militärischer Hilfe geleistet, während die EU-Staaten (und die Union) 52 Milliarden US-Dollar aufbrachten. Zusammen mit der Hilfe des Vereinigten Königreichs und anderer Länder (Kanada, Australien, … ) hat die Ukraine im ersten Kriegsjahr eine Hilfe erhalten, die dem BIP entspricht, das sie im Jahr vor dem Krieg produziert hat. Allein die USA haben seit Beginn des Krieges bis November 2022 direkte Militärhilfe in Höhe von 23 Milliarden US-Dollar geleistet (alle diese Daten stammen aus dem „Ukraine Support Monitor“ des „Instituts der deutschen Wirtschaft“, das der deutschen Regierung und dem Deutschen Arbeit„geber“verband nahesteht). Im Vergleich dazu haben die USA in einem durchschnittlichen Jahr vor 2021 280 Millionen US-Dollar in Afghanistan investiert.

Der Großteil der bis Ende 2022 an die Ukraine gelieferten Ausrüstung stammte aus den Beständen westlicher Armeen. Dies ging mit einer langfristigen Erneuerung mit moderneren Waffen in diesen einher. Schon vor dem Krieg gehörte die Rüstungsindustrie im Westen zu den am schnellsten wachsenden Bereichen der imperialistischen Länder. Während der Coronakrise wuchs sie im Jahr 2021 um 2 %. Im ersten Quartal 2022 konnten Panzer- und Artilleriehersteller:innen wie Rheinmetall ihre Gewinnspanne um 10 % steigern. Doch das Beste für diese Unternehmen steht noch bevor. Ende 2022 wird immer deutlicher, dass die Lieferungen aus Lagerbeständen für die ukrainische Armee nicht ausreichen. Sie verbraucht pro Tag Munition, die den Vorrat ganzer NATO-Armeen aufbraucht, so dass Anfang 2023 ein erheblicher Munitionsmangel entsteht, vor allem für die moderneren Waffen (z. B. die Leopardpanzer, die Munition aus Schweizer Produktionsstätten benötigen würden). Dies erfordert nun eine direkte Lieferung aus westlichen Produktionsstätten. Normalerweise dauert es bei komplexeren Waffen 28 Monate von der Bestellung bis zur Lieferung. Einiges davon war zwar bereits vorbereitet, aber die NATO-Regierungen haben nicht mit einem so langen Zermürbungskrieg gerechnet – vor allem nicht mit der Menge an konventionellen Waffensystemen wie Panzern und Artillerie. Die westliche Führung appelliert nun an die Industrie, riesige Rüstungsprojekte auf die Beine zu stellen, um Vorräte anzuhäufen und schnell auf den Kriegsschauplatz liefern zu können. Die Vertreter:innen der Rüstungsindustrie reagierten eifrig, verwiesen aber gleichzeitig auf die gestiegenen Produktionskosten und verlangten strenge Zahlungsverpflichtungen. Während also die militärische Unterstützung bisher nur über die Lieferung aus Vorratsdepots finanziert wurde, wird deren Kalkulation nun direkt zur Staatsverschuldung beitragen.

Da die westlichen Imperialist:innen also auf eine Kriegswirtschaft zusteuern, wird dies spezifische Auswirkungen auf die weltwirtschaftlichen Krisentendenzen mit sich führen. Einerseits hat das Wachstum der Rüstungsindustrien kurzfristige Auswirkungen in Form von Nachfrage- und Beschäftigungswachstum. Da es sich dabei aber um unproduktive Arbeit für den Kapitalkreislauf handelt, löst sie in keiner Weise die langfristigen Probleme der Kapitalverwertung. Dies kommt in der Frage der Finanzierung dieses Wachstums zum Ausdruck. Wie beim Vietnamkrieg in den 1960er/1970er Jahren ist nicht zu erwarten, dass die Kriegsanstrengungen über Steuererhöhungen finanziert werden. Er (wie später auch Afghanistan) wurde vor allem über eine massive Erhöhung der Staatsverschuldung und eine Ausweitung der verfügbaren Geldmenge finanziert. Der Vietnamkrieg verkörperte somit den Beginn der ersten Inflationsperiode nach dem Zweiten Weltkrieg. Da wir bereits in das zweite Jahr des Ukrainekrieges mit hohen Inflationsraten und einem astronomischen Schuldenstand eintreten, wird der Drang zur Kriegswirtschaft das QT-Projekt des Schulden- und Inflationsabbaus konterkarieren. Hinzu kommen die unmittelbaren Probleme der Rüstungsindustrie selbst: Wie alle Industrien weist sie Versorgungsprobleme (z. B. im wichtigen Bereich der Halbleiter oder Rohstoffe) durch Preissteigerungen bei Vorprodukten und Mangel an qualifizierten Arbeitskräften auf. Letzteres hängt auch mit der Notwendigkeit zusammen, die Produktionsketten der Rüstungsindustrie in den „zuverlässigen“ imperialistischen Kern zu verlagern. Nicht zuletzt gehört sie auch zu den größten Produzentinnen von Treibhausgasen und muss vor allem in den imperialistischen Kernländern zunehmende Restriktionen einhalten. All dies führt zu explodierenden Kosten des neuen Wettrüstens. Wie im Fall des Vietnamkriegs könnten die hohen wirtschaftlichen Risiken, die auf dem Spiel stehen, die USA dazu veranlassen, eine direkte Beteiligung in Betracht zu ziehen, um einen schnellen Sieg sicherzustellen.

Der Faktor China

Nach eher pessimistischen Prognosen für 2023 in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres sind die bürgerlichen Ökonom:innen seit Anfang dieses Jahres wieder erstaunlich optimistisch. Während sie in allen großen imperialistischen Volkswirtschaften rezessive Tendenzen sahen, erwarten sie jetzt nur noch im Vereinigten Königreich einen Einbruch. Während sie einen Trend zu einem globalen Wachstum von unter 2,7 % voraussagten, reden sie nun über einen in Richtung 3 % – eine mögliche „sanfte Landung“ nach der „Überhitzung nach der Pandemie“. Eine Grundlage für den Optimismus sind Daten über sinkende Inflationsraten, insbesondere fallende Preise im Energie- und Wohnungssektor. Hinzu kommen Daten über hohe Beschäftigungsquoten und abnehmende Probleme in den Lieferketten. Sollten wir also eine Rückkehr zu den stetigen Wachstumstrends der Zeit vor der Pandemie erwarten, wie es Weltbank und IWF suggerieren?

Wie wir bereits erwähnt haben, gibt es mehrere Probleme mit dieser Perspektive: Erstens war dieses „vorpandemische Wachstumsniveau“ bereits eines der schlechtesten in der Geschichte des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist Ausdruck eines historisch niedrigen Produktivitäts- und Rentabilitätsniveaus, das keine gute Grundlage für eine Zunahme der für ein nachhaltiges kapitalistisches Wachstum erforderlichen Investitionen darstellt. Zweitens ist die derzeitige Preissenkung Ausdruck des Nachfragerückgangs aufgrund der weltweit sinkenden Wachstumsraten am Ende des letzten Jahres (Wachstum von nur 0 bis 1 % in den meisten imperialistischen Ländern) – und insbesondere des historisch niedrigen Wachstums in China (2 % im letzten Quartal). Gerade letzteres hatte auch einen enormen Einfluss auf den Rückgang der Ölpreise. Drittens hat sich der Anstieg der Zinssätze auf das Investitions- und Ausgabenniveau ausgewirkt, so dass die sinkende Nachfrage auch Auswirkungen auf die Preise hatte. Viertens haben die notwendigen Lohnkämpfe der Arbeiter:innenklasse, um zu verhindern, dass die Krise über die Inflation bezahlt wird, die Löhne in einer Weise erhöht, die sich im Jahr 2023 auf das Preisniveau auswirken wird. Fünftens werden die genannten Auswirkungen der Kriegswirtschaft erst im Jahr 2023 spürbar werden. All diese gegensätzlichen Elemente sowie die Probleme bei der Umstellung der Volkswirtschaften auf Reshoring und die Abkehr von fossilen Brennstoffen machen diese optimistischen Aussichten ziemlich obsolet.

Aber es gibt noch einen viel wichtigeren Faktor: China. Es hat die Coronakrise in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 schneller als erwartet überwunden. Wirtschaftswissenschaftler:innen erwarten, dass es in diesem Jahr auf einen Wachstumspfad von bis zu 4 bis 5 % zurückkehren wird. Dies ist wichtig für exportorientierte Volkswirtschaften, die ansonsten mit Märkten konfrontiert sind, die mit Wachstumsraten von 1 % zu kämpfen haben. Der Druck, die chinesische Expansion wieder als Vehikel für die eigene Erholung zu nutzen, wird groß sein. Dies geht einher mit einer wachsenden politischen Nutzung der wirtschaftlichen Macht durch die chinesische Regierung und die Kapitalist:innen auf der anderen Seite. Zwar könnten westliche Regierungen versuchen, ihre Kapitalist:innen unter Druck zu setzen, einen Teil ihrer Chinainvestitionen zu verlagern, doch wird dies schwierig sein, wenn das Land den Zugang zu Rohstoffen und Produktionsprozessen blockiert, die der Westen dringend benötigt, wie beispielsweise die Auseinandersetzungen um die Solarindustrie in jüngster Zeit gezeigt haben. China zu sanktionieren oder die „Abhängigkeit“ von ihm zu verringern, wird für die Wachstumsperspektiven des Westens äußerst kostspielig sein und kann zu einer schnellen Wende hin zu einem Einbruch der Weltwirtschaft führen.

Dies trägt zu der zunehmenden geopolitischen Konfrontation zwischen China und den USA bei. China ist im Vergleich zu Russland eine wirtschaftliche Supermacht, mit der die USA auf rein wirtschaftlicher Ebene nur schwer zurechtkommen, obwohl sowohl Trump als auch Biden dies durch Handels- und protektionistische Maßnahmen versucht haben. Es liegt auf der Hand, dass sich Chinas wirtschaftliche Stärke zunehmend auch auf die politische und rüstungspolitische Ebene überträgt. Der Ukrainekrieg zeigt, dass es eine vom Westen unabhängige Rolle spielen und eine eigene Einflusssphäre um sich scharen kann. Während der Westen in Bezug auf den Ukrainekrieg vorgibt, dass „die Welt geschlossen hinter uns gegen Russland steht“, gelang es China, einen großen Block von Ländern anzuführen, die nicht bereit sind, Sanktionen gegen Russland zu unterstützen und Waffen an die Ukraine zu liefern. Darüber hinaus wurde Russland in eine untergeordnete Rolle als billiger Energielieferant gedrängt. China ist somit ein Gewinner der neuen Blockkonfrontation. Da es sich nun als möglicher Friedensvermittler (zusammen mit Brasilien und Indien) präsentiert, ist dies eine gewaltige Provokation für die US-Hegemonie. Sicherlich wird dies den Taiwankonflikt anheizen, da es zu neuen Anschuldigungen führen wird, dass China in Wirklichkeit Waffen und Munition an Russland liefert. Der Ukrainekrieg wird also nur ein Vorspiel für die viel größere Konfrontation zwischen den beiden größten Supermächten abgeben – mit unvorhersehbaren Folgen für das weitere Schicksal der Weltwirtschaft, da die Spannungen zunehmen werden.

Eine neue Periode der „Deglobalisierung“?

Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass wir weit davon entfernt sind, uns in einer neuen Periode des Aufschwungs der Kapitalakkumulation zu befinden. Die nächsten Jahre werden weiterhin von der Krise des gegenwärtigen Akkumulationsregimes geprägt sein. Anders als zu Beginn der Globalisierungsperiode gibt es keine entscheidenden neuen Niederlagen der Arbeiter:innenklasse, die zu noch höheren Ausbeutungsraten führen könnten. Auch gibt es im Gegensatz zu damals keine aufstrebende Wirtschaftsmacht wie China, die mit wesentlich höheren Profitraten in das Konzert der imperialistischen Akkumulation einsteigen kann. Im Gegenteil, die Profitraten aller imperialistischen Volkswirtschaften haben sich auf einem niedrigen Niveau angeglichen. China ist selbst von einem Motor der globalen Akkumulationsdynamik zu einem Krisenfaktor geworden.

All diese Krisenfaktoren: Energie und Ökologie, Pandemie, Verschuldung, Inflationsgefahr, Zusammenbruch von Zombie-Unternehmen, die aussichtslose Krise fast aller halbkolonialen Regionen, insbesondere der Absturz der Schwellenländer, wachsende Kriegsgefahr und Aufrüstungsspiralen lassen einen reibungslosen Übergang zu einer neuen Investitionswelle in klimaneutrale und intelligente Technologien (Energieeffizienz, erneuerbare Energien, Industrie 4.0 etc.) höchst unwahrscheinlich erscheinen. Die Phänomene der „Deglobalisierung“, wie der Rückgang der Direktinvestitionen, das geringere Gewicht globaler Wertschöpfungsketten, die Schwächung des Welthandels, z. B. durch neue Zölle, stellen vor allem ein Zeichen der Krise und nicht das Merkmal einer neuen Blüteperiode dar.

Auch wenn die „Globalisierung“ nicht mehr dynamisch voranschreitet, wird der Kapitalismus kaum vom neuen Grad der Internationalisierung seiner Produktionsweise ablassen. In der gegenwärtigen Zeit bedeutet dies, dass auch die Krise eine viel internationalere und globalere Dynamik annimmt.  Wir werden mit einer Welt der Krisen und Kriege konfrontiert sein, in der die internationale Arbeiter:innenklasse für ihre Grundrechte und einen sozial und ökologisch bewohnbaren Planeten für alle kämpfen muss. Deshalb ist der Kampf um die Führung der Klasse, die Stärkung ihrer grundlegenden Kampforgane, ihre Gewinnung für eine internationalistische und kommunistische Transformation der Gesellschaft sowie die Verteidigung gegen die verschiedenen populistischen Pseudoreaktionen auf die Krise notwendiger denn je!




China nach dem 20. Parteikongress der KP

Peter Main, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

In den letzten Monaten des Jahres 2022 wurden der Welt zwei sehr unterschiedliche Bilder von China präsentiert. Der 20. Parteitag der KPCh, der Mitte Oktober stattfand, war das China, wie seine Herrscher:innen es von der Welt sehen wollten: geordnet, geeint, mächtig, ein Staat, mit dem man rechnen muss, ein Staat, der die Fremdherrschaft abgeschüttelt und sich unter einer entschlossenen und einfallsreichen Führung zu einer Weltmacht entwickelt hat.

Einige Wochen später verbreiteten sich Szenen von Straßenschlachten zwischen Tausenden von Bürger:innen und schwer bewaffneten Bereitschaftspolizist:innen nicht nur in Chinas Wirtschaftsmetropole S(c)hanghai, sondern auch in Provinzstädten im ganzen Land, in den sozialen Medien Chinas und anschließend in der ganzen Welt. Mitte Dezember wurde die Null-Covid-Politik, die vom Parteivorsitzenden und Staatspräsidenten Xi Jinping selbst nicht nur als notwendig, sondern auch als vorbildlich verteidigt wurde, vollständig abgeschafft.

Es lohnt sich, Xis Hinweis auf die Covid-Politik des Regimes, Zero-Covid, in seinem Bericht an den Parteitag ausführlich zu zitieren:

„Als wir auf den plötzlichen Ausbruch von Covid-19 reagierten, stellten wir die Menschen und ihr Leben über alles andere, arbeiteten daran, sowohl importierte Fälle als auch das Wiederaufflammen im eigenen Land zu verhindern, und verfolgten beharrlich eine dynamische Null-Covid-Politik. Indem wir einen umfassenden Volkskrieg gegen die Ausbreitung des Virus geführt haben, haben wir die Gesundheit und Sicherheit der Bevölkerung so weit wie möglich geschützt und sowohl bei der Bekämpfung der Epidemie als auch bei der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung äußerst ermutigende Erfolge erzielt.“ (1)

Kein Wort über die Umkehrung dieser Politik. In der Tat wurde die Verpflichtung zur „dynamischen Null-Covid“-Politik in den folgenden Wochen immer wieder wiederholt, bis sie angesichts des breiten Widerstands nicht nur der aufbegehrenden Bevölkerung, sondern auch der Provinzbehörden, die es sich nicht mehr leisten konnten, sie durchzusetzen, kurzerhand fallen gelassen wurde. Auch die Sorge um den „größtmöglichen Schutz der Gesundheit und Sicherheit der Bevölkerung“ scheint sich verflüchtigt zu haben, obwohl bei einer zu schnellen Aufhebung der Null-Covid-Bestimmungen eine Welle von Covid-Infektionen unvermeidlich gewesen wäre.

Die Kehrtwende in der Politik war nicht nur dramatisch, sondern auch ganz offensichtlich nicht geplant. Dies ist vielleicht noch bedeutsamer als der Wandel selbst und deutet darauf hin, dass Xis Führungsteam im Ständigen Ausschuss des Politbüros das Land nicht so vollständig im Griff hat, wie die Bilder der dicht gedrängten Reihen von Kongressdelegierten vermuten ließen.

In jüngster Zeit gab es weitere Anzeichen für weitreichende Änderungen der Politik. Im Zuge der dramatischen Schuldenkrise auf dem Immobilienmarkt, die durch Evergrande symbolisiert wird, aber keineswegs auf dieses Unternehmen beschränkt ist, wurden die „drei roten Linien“, die das Verhältnis von Schulden zu Vermögenswerten beschränken und die Krise ausgelöst hatten, im Dezember gelockert. Berichten zufolge sollte die Frist für die Einhaltung der neuen Quoten verlängert werden, um den Unternehmen und ihren Gläubiger:innen mehr Zeit zu geben, halbfertige Projekte abzuschließen und zu verkaufen.

Im Januar folgte dann eine plötzliche Lösung der Probleme, die das Regime bei einigen der reichsten und erfolgreichsten Privatunternehmen Chinas, den Hightechgiganten wie Alibaba, Tencent und Didi Chuxing (DiDi), entdeckt hatte. Die Unternehmen räumten ihre Fehler ordnungsgemäß ein, wie aus Berichten der Regulierungskommission für das Banken- und Versicherungswesen hervorgeht, und die Möglichkeit künftiger Fehler wurde dadurch beseitigt, dass der Staat „goldene Aktien“ erwarb, die eine größere Transparenz und, sagen wir, eine bessere Koordinierung mit den Prioritäten der Regierung gewährleisten werden. Oder, wie einige sagen würden, mit den Prioritäten der chinesischen Kommunistischen Partei.

Im Bereich der Außenbeziehungen wurde der Verfechter der „Wolfskrieger:innen“-Diplomatie, Zhao Lijian, in die Abteilung für Grenz- und Meeresangelegenheiten des Außenministeriums versetzt, d. h. degradiert, und stattdessen sahen wir Liu He, Vizepremier und ehemaliges Mitglied des Politbüros, wie er den Reichen und Einflussreichen in Davos freudig die Hand reichte und ihnen versicherte, dass Peking nichts so sehr wünsche wie herzliche gegenseitige Beziehungen.

Dass Regierungen ihre Politik ändern, manchmal sogar drastisch, ist natürlich nichts Neues. In den imperialistischen Demokratien ist es praktisch selbstverständlich, dass im Wahlkampf geäußerte Versprechen routinemäßig zurückgenommen oder ganz fallen gelassen werden, sobald man im Amt ist. In China gibt es jedoch keine Wähler:innen, die sich täuschen lassen, und so kurz nach der Präsentation des Parteikongresses passt das Fallenlassen von Null-Covid einfach nicht in das Schema einer Partei, die populäre Maßnahmen vorstellt, um die Zustimmung der Öffentlichkeit zu gewinnen, und dann auf die unpopuläre Politik zurückgreift, die sie schon immer umsetzen wollte. Im Gegenteil, es war die unpopuläre Politik, die hervorgehoben wurde.

Bedeutet dies also, dass die KPCh durchaus die Absicht hatte, mit Null-Covid fortzufahren, aber einfach nicht in der Lage war, ihre gewählte Politik durchzusetzen, da die scheinbar unwiderstehliche Kraft auf ein wirklich unbewegliches Objekt traf? Wenn ja, was war dieses unverrückbare Objekt? Und wie könnte eine Partei mit 96 Millionen Mitgliedern, 1,6 Millionen Ausschüssen in Privatunternehmen und einer entscheidenden Kontrolle über riesige staatliche Unternehmen nicht wissen, dass ihr ein solches Hindernis im Weg steht? Oder, wenn die Partei wusste, dass es unmöglich sein würde, Null-Covid durchzusetzen, und sicherlich hatten viele Kommentator:innen diese Meinung vor dem Kongress geäußert, warum hat sie sich dennoch auf die denkbar öffentlichste Weise für diese Politik eingesetzt?

Es ist bezeichnend, dass viele westliche Kommentator:innen die Antworten auf diese sehr offensichtlichen Fragen in der Persönlichkeit von Xi Jinping selbst gefunden haben, aber das erklärt wirklich nichts. Zweifellos muss man härter und entschlossener sein als der Durchschnitt, um an die Spitze der KPCh zu gelangen, aber die Erklärung liegt nicht in der Psychologie oder Persönlichkeit von Xi Jinping, sondern in der politischen Pathologie der Partei, die er führt.

Eine solch gigantische Partei, deren Mitgliederzahl größer ist als die Bevölkerung eines jeden EU-Staates und die in den meisten Gemeinden und Unternehmen das Sagen hat, bringt zwangsläufig eine Vielzahl unterschiedlicher Strömungen, Interessengruppen und politischer Fraktionen hervor. Um all das zusammenzuhalten, braucht die Partei als Ganze einen „starken Führer“, quasi einen Bonaparte, dem alle Fraktionen zu huldigen haben. In der Zeit vor und während der eigentlichen Tagung des Parteikongresses wurde es als absolut notwendig erachtet, in keiner Frage den Anschein zu erwecken, einer Fraktion nachzugeben, um nicht als Zeichen der Schwäche gesehen zu werden, das ausgenutzt werden könnte.

Der Charakter einer Partei, ihr grundlegendes Wesen, ist in ihrem Programm zu finden, das als die Gesamtheit ihrer Philosophie, ihrer Prinzipien, ihrer Praxis und ihrer Prioritäten und deren Entwicklung im Laufe der Zeit verstanden wird. Ein Überblick über die Geschichte der Entwicklung der KPCh findet sich in der Zeitschrift Fifth International 22 oder unter https://fifthinternational.org/content/china-centenary-chinese-communist-party, aber kurz gesagt, ist sie eine stalinistische Partei. Nicht in dem Sinne, dass Stalin selbst ihren Charakter bestimmt hätte, sondern in dem programmatischen Sinne, dass sie im Laufe der Zeit die Schlüsselelemente von Stalins Negation des revolutionären Marxismus übernommen hat:

  • in den 1920er Jahren: Klassenkollaboration, gefolgt von ultralinkem Abenteurertum;

  • in den 1930er Jahren die Volksfront und die menschewistische Theorie vom schrittweisen Aufbau des Sozialismus;

  • 1949 die Bildung einer Volksfrontregierung und die Orientierung auf eine langjährige kapitalistische Entwicklung;

  • 1953 die Ablehnung dieser Entwicklung zugunsten einer bürokratischen Planwirtschaft mit Zwangskollektivierung und beschleunigter industrieller Entwicklung, die zum Massenhunger führte;

  • in den 1960er Jahren Fraktionskriege und das Chaos der Kulturrevolution;

  • in den späten 1970er Jahren die Entscheidung, die Marktkräfte zu stimulieren, um die Wirtschaft wiederzubeleben;

  • in den 1980er Jahren die Einladung an ausländisches Kapital, in Sonderwirtschaftszonen zu investieren, und das Massaker an der Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens und dann

  • in den 1990er Jahren die Restauration des Kapitalismus.

Obwohl die chinesische KP Mitte der 1920er Jahre über eine echte Massenbasis in der Arbeiter:innenklasse verfügte, hatte sie nie ein Programm, das auf der Machtergreifung durch Arbeiter:innenräte beruhte, und bis 1928 war diese Arbeiter:innenmitgliedschaft von den ehemaligen Verbündeten der bürgerlich-nationalistischen Kuomintang buchstäblich ausgelöscht worden. Diejenigen, die Chiang Kai-sheks (Tschiang Kai-scheks) Weißen Terror überlebten und der Partei treu blieben, flohen in die Berge, wo sie über mehrere verzweifelt schwierige Jahre hinweg einen Organisations- und Militärapparat aufbauten, der von der städtischen Arbeiter:innenklasse völlig abgekoppelt war, aber immer noch KP China hieß. Wie Trotzki über die Apparatschiks sagte, die den ersten Fünfjahresplan umsetzten, bestand ihr grundlegender Fehler darin, dass sie glaubten, sie seien die Revolution. Daraus folgte, dass alles, was notwendig war, um ihren Apparat zu erhalten, legitim war.

Selbst nach all den Irrungen und Wirrungen der chinesischen Geschichte seit 1927 ist dieser Apparat, diese Aneignung von Legitimität der Schlüssel zum Verständnis der heutigen Merkmale, der heutigen Probleme des chinesischen politischen und wirtschaftlichen Systems. In der Tat trugen die Irrungen und Wirrungen zur Konsolidierung des Apparats bei. Jede der großen politischen Strategien der Partei war ein Irrtum und führte in eine Krise. Innerhalb der Partei bildeten sich immer wieder Fraktionen, die andere Lösungen für diese Krisen vorschlugen. In jeder Phase gewann diejenige Fraktion, die die Interessen, ja das Überleben des Apparats am besten zum Ausdruck brachte. Wie Rosa Luxemburg von den Führer:innen der sozialdemokratischen Partei vor 1914 sagte, glaubten die der KPCh zunehmend, dass die wichtigste Tugend, die innerhalb der Mitgliedschaft gelobt und belohnt werden sollte, die des Gehorsams sei. Unabhängig von der konkurrierenden Politik war das Kriterium, nach dem sie beurteilt wurden, das Überleben und vorzugsweise die Expansion des Apparats selbst. Folglich war die soziale Basis der Partei der Apparat selbst, das, was wir in Anlehnung an Trotzki die „bürokratische Kaste“ genannt haben.

An dieser Stelle sei daran erinnert, dass die Annahme, in „rückständigen Ländern“ müsse es eine Periode oder Stufe der kapitalistischen Entwicklung der Produktivkräfte geben, bevor von der Macht der Arbeiter:innenklasse und einer sozialistischen Entwicklung die Rede sein könne – die Position der Menschewiki in Russland –, damals weithin als orthodoxe marxistische Position angesehen wurde. Im Jahr 1917 galten Trotzki und Lenin als „Ketzer“, weil sie die Auffassung vertraten, dass die notwendige Entwicklung von einem Arbeiter:innenstaat mit Hilfe sozialistischer Enteignungs- und Planungstechniken durchgeführt werden könne. In China war die von Mao vor 1949 verfolgte Strategie der „Neuen Demokratie“, d. h. einer Volksfrontregierung, im Wesentlichen eine Neuformulierung der menschewistischen Perspektive.

Spätestens 1952 hatten jedoch der Koreakrieg und die Unterstützung der Gegner:innen der KPCh durch die USA und die Kuomintang den utopischen Charakter einer solchen Politik bewiesen. Als der bürokratische Apparat unter der Leitung von Planer:innen aus der Sowjetunion die Kontrolle über die Entwicklung der Wirtschaft übernahm, verfestigte sich der Charakter der KPCh als politischer Ausdruck dieses Apparats, der sich nun enorm ausweitete, noch mehr. Obwohl der Frieden und der systematische Wiederaufbau die wirtschaftliche Stabilität, wenn nicht gar den Wohlstand, wie in den Anfangsjahren der Sowjetunion recht schnell wiederherstellten, führte die Frage, wie es weitergehen sollte, welche strategischen Prioritäten zu verfolgen waren, zu heftigen Kontroversen innerhalb der Bürokratie und damit auch der Partei.

Im Grunde waren diese Auseinandersetzungen Ausdruck der Unmöglichkeit, China als autarke Wirtschaft nach dem Programm des Sozialismus in einem Land zu entwickeln. Als Parteiführer Deng Xiaoping sich 1992 für die Wiederherstellung des Kapitalismus entschied, kehrte er zum ursprünglichen, menschewistischen Programm zurück und behielt nicht nur die bürokratische Diktatur, sondern auch das programmatische Ziel des Sozialismus in einem Land bei, das von Stalin 1924 übernommen, aber ursprünglich von Georg von Vollmar, einem bayerischen Sozialdemokraten, 1894 formuliert worden war.

Die Politik der Restauration brachte eine qualitative Veränderung des Charakters des Staates und der Rolle der Bürokratie und ihrer Partei mit sich. Während die Form des Staates mit seiner nicht rechenschaftspflichtigen Regierung und dem stehenden Heer schon immer bürgerlich gewesen war, waren die Eigentumsverhältnisse, auf denen er beruhte – vergesellschaftetes Eigentum und integrierte Produktionsplanung – die eines Arbeiter:innenstaates. Die Überbrückung dieses Widerspruchs verkörperte sich in der bürokratischen und militärischen Kaste und ihrer Partei, die im Wesentlichen parasitär auf der vergesellschafteten Wirtschaft basierte und scheinbar „über“ der Gesellschaft stand, was Trotzki als „Sowjetbonapartismus“ bezeichnete.

Die Abschaffung der Planung und die Förderung kapitalistischer Eigentumsverhältnisse, sei es in Form staatlicher kapitalistischer Unternehmen oder in Form von Privateigentum, löste diesen Widerspruch auf: ein bürgerlicher Staatsapparat schützte und förderte nun eine bürgerliche Wirtschaft, behielt aber die politische Kontrolle der Bürokratie und ihrer Partei bei. Nichtsdestotrotz bleibt die bürokratisch-militärische Kaste mit ihren eigenen Kasteninteressen parasitär und muss ihr bonapartistisches Regime aufrechterhalten.

All dies macht deutlich, dass die KPCh zwar den Kapitalismus in China so effektiv restauriert hat, dass sie zu einer imperialistischen Macht geworden ist, aber dennoch keine Partei der Bourgeoisie im Sinne einer Verwurzelung in dieser Klasse geworden ist. Ihre gesamte Politik sorgt jedoch für das Wachstum einer neuen kapitalistischen Klasse, deren Interessen nicht immer mit den Prioritäten der Kaste und ihrer Partei übereinstimmen mögen. Dies erklärt die zunehmend nationalistische, sogar fremdenfeindliche Rhetorik des Regimes. Wie Xi Jinping selbst auf dem Kongress betonte, „hat sich unsere Partei dem Ziel verschrieben, dauerhafte Größe für die chinesische Nation zu erreichen“ (2).  Dies impliziert die Vorstellung, dass jedes Klasseninteresse und jede Partei, die ein Klasseninteresse vertritt, automatisch spalterisch und unpatriotisch sind. Wie wir noch sehen werden, ist dies der Grund, warum sie, selbst während sie den Kapitalismus entwickelt, es für notwendig erachten kann, Kapitalist:innen systematisch zu unterdrücken. Längerfristig ist dies jedoch auch der Grund, warum sich die Bourgeoisie gegen die KPCh wenden kann.

Xi Jinping

Die lange Geschichte der KPCh-internen Fraktionskämpfe, von denen einige äußerst gewalttätig waren, hat sich seit der Restauration des Kapitalismus fortgesetzt. In einer Einparteiendiktatur könnte es nicht anders sein. Politische Unterschiede, die ihren Ursprung in den zwangsläufig unterschiedlichen Erfahrungen nicht nur der verschiedenen Regionen, sondern auch der verschiedenen Klassen haben, können sich innerhalb der einen Partei nur in Form von Fraktionsunterschieden äußern. Es ist bekannt, dass Xi Jinping die Führung der KPCh erst nach einem langwierigen Streit mit den Anhänger:innen der früheren Führung um Jiang Zemin erlangte, der 2011 im 18. Parteitag gipfelte.

In seinem Bericht an den 20. Parteitag listete Xi Jinping die Probleme auf, mit denen sich seine Führung damals auseinandersetzen musste:

„Innerhalb der Partei gab es viele Probleme im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der Parteiführung, einschließlich eines Mangels an klarem Verständnis und wirksamen Maßnahmen sowie einer Tendenz zu einer schwachen, hohlen und verwässerten Parteiführung in der Praxis. Einige Parteimitglieder und Funktionär:innen schwankten in ihrer politischen Überzeugung. Trotz wiederholter Warnungen hielten sinnlose Formalitäten, Bürokratismus, Hedonismus und Extravaganz in einigen Orten und Abteilungen an. Das Streben nach Privilegien und Praktiken stellte ein ernstes Problem dar und es wurden einige schockierende Fälle von Korruption aufgedeckt.“ (3)

Als ob das nicht genug wäre, betonte XI Jinping  auch, dass „das traditionelle Entwicklungsmodell uns nicht länger vorwärts bringen kann“ (4).  Die Konfrontation mit und die Überwindung von solch schwerwiegenden Problemen stellt nach Xis eigenen Worten eine „neue Ära“ dar, die sich an seinem eigenen theoretischen Werk „Gedanken zum Sozialismus mit chinesischen Merkmalen für eine neue Ära“ orientiert. Ein Merkmal davon scheint jedoch keineswegs neu zu sein: „Die Führung der Kommunistischen Partei Chinas ist das bestimmende Merkmal des Sozialismus mit chinesischen Merkmalen und die größte Stärke des Systems des Sozialismus mit chinesischen Merkmalen, dass die Partei die höchste Kraft der politischen Führung ist und die Aufrechterhaltung der zentralisierten, einheitlichen Führung des Zentralkomitees der Partei das höchste politische Prinzip ist.“ (5)

Formelle Reden können natürlich in der Übersetzung etwas verlorengehen, aber was der Parteivorsitzende hier anspricht, ist real genug. Seine Führung musste sich mit Problemen auseinandersetzen, die sich aus der Tatsache ergaben, dass China zu einer Weltmacht, einer imperialistischen Macht, geworden war, was durch die Fähigkeit des Regimes bewiesen wurde, die Finanzkrise von 2008 – 2010 nicht nur zu überstehen, sondern gestärkt aus ihr hervorzugehen. Diese neue Realität brachte ganz andere Aufgaben und Prioritäten mit sich als die, mit denen die vorherige Führung bei der Restauration des Kapitalismus konfrontiert war. Die Spannungen und Konflikte innerhalb der Partei erklären den zunehmend bonapartistischen Charakter der Führung.

Chinas neuer Status zeigt sich auch in der Entwicklung der Volksbefreiungsarmee (VBA) seit 1979, als sie von ihrem viel kleineren (aber sehr erfahrenen!) vietnamesischen Nachbarn gedemütigt wurde. Heute ist sie reorganisiert, von der industriellen Produktion abgekoppelt, mit technologisch hochentwickelten Waffen ausgestattet und verfügt über Abteilungen für Weltraum- und Cyberkriegsführung. Peking hat nicht nur zum ersten Mal seit dem frühen 15. Jahrhundert eine Flotte in den Indischen Ozean entsandt, sondern auch Streitkräfte als „UN-Friedenstruppen“ im Libanon, im Kongo, im Sudan und sogar in Haiti stationiert. Während Russlands Erfahrung in der Ukraine Peking viel zu denken geben wird, besteht kaum ein Zweifel daran, dass ein zukünftiger Krieg praktisch als selbstverständlich angesehen wird. Dies machte Chinas Staatspräsident auf bedrohliche Weise deutlich, als er in seiner Kongressrede „die Missionen und Aufgaben der KPCh“ umriss, zu denen auch die Notwendigkeit gehörte, „die Ziele für den hundertsten Jahrestag der Volksbefreiungsarmee im Jahr 2027 zu erfüllen“ (6).  Eines der oft genannten Ziele bildet natürlich die Eingliederung Taiwans in die VR China.

Zu Beginn von Xis dritter Amtszeit wird bei der Betrachtung seiner ersten beiden Regierungsperioden die Interaktion zwischen der bürokratischen Kaste, deren prägende Erfahrungen in einer Planwirtschaft gesammelt wurden, in der Wirtschaftspolitik und -ziele einfach von politischen Prioritäten abgeleitet wurden, und einer aufstrebenden Klasse von Kapitalist:innen deutlich. Die Kapitalist:innen waren zwar für eine gute Ordnung und billige Arbeitskräfte auf die vom Regime durchgesetzten sozialen Kontrollen angewiesen, setzten aber im Kontext der zyklischen Dynamik des Kapitalismus und der bereits bestehenden Dominanz anderer imperialistischer Mächte zunehmend ihre eigenen Prioritäten fest. Zum Zeitpunkt des 20. Kongresses hatten diese Faktoren bereits dazu geführt, dass die Wirtschaftswachstumsraten zum ersten Mal in der Amtszeit von Xi deutlich zurückgingen.

Ein Überblick über die Wirtschaftsleistung Chinas vor und während der ersten Amtszeit von Xi wird den Hintergrund liefern, vor dem spezifischere Themen und Probleme bewertet werden können. Es ist sehr schwierig, chinesische Wirtschaftsdaten zu interpretieren, selbst für einen Vergleich mit anderen großen kapitalistischen Volkswirtschaften, ganz zu schweigen von dem Versuch, sie in marxistische Analysekategorien zu übertragen. Dennoch kann man davon ausgehen, dass die Statistiken des Staates bei der Festlegung der Politik eine Rolle spielen, und die nachstehende Grafik zeigt eine wichtige Reihe, nämlich die Nettogewinne der Industrie:

Grafik 1 zu Reingewinnen von Industrieunternehmen (7)

Aus diesem Schaubild geht eindeutig hervor, dass nach einem Jahrzehnt und mehr mit ständig steigenden Gewinnen 2011, im Jahr vor Xis Amtsantritt, eine Abschwächung mit kaum einem Anstieg zu verzeichnen war, und die fünf Jahre seiner ersten Amtszeit waren die ersten mit uneinheitlichem Wachstum und sogar einer Phase des Rückgangs. Sie endeten jedoch mit einem Höhepunkt im Jahr 2017.

Eine gewisse Vorstellung von der Beziehung zwischen Investitionen und Profiten, die zumindest einen Eindruck von der „Profitrate“ nach marxistischem Verständnis vermittelt, zeigt ein Vergleich der Schlussfolgerungen vieler verschiedener Analyst:innen (8), die alle versuchen, „konventionelle“ Statistiken als „Stellvertreter“ für die marxistischen Kategorien zu verwenden.

Betrachtet man diese beiden Zahlenreihen zusammen, kann man zum Schluss kommen, dass das Wachstum der chinesischen Wirtschaft von etwa 2004 bis zur Krise 2008 von einem recht starken Rückgang der Profitrate begleitet war, dann eine kurzzeitige Erholung durch das Konjunkturprogramm und ein recht allgemeiner Rückgang bis 2015/6 erfolgten. Insbesondere in der ersten Amtszeit von Xi gab es zwar ein Wachstum der Profitmasse, aber auch einen Rückgang der Profitrate, was auf schwierige Zeiten hindeutete.

Politisch musste sich Xi mit zwei oppositionellen Fraktionen auseinandersetzen. Die eine war der Meinung, dass die Partei mit ihrer Förderung des Privatkapitals bereits zu weit gegangen war, und war diejenige, mit der man am leichtesten fertig wurde. Korruptionsvorwürfe waren das Mittel der Wahl gegen Leute wie Bo Xilai, den Parteichef in Chongqing, der die Führung anstrebte, indem er sich den Mantel von Mao Zedong umhängte. Die andere, die im Allgemeinen mit Jiang Zemin in Verbindung gebracht wird, der in den 1990er Jahren die Restauration des Kapitalismus beaufsichtigt hatte, war sowohl in der Partei als auch im Staatsapparat viel besser verankert. Offensichtlich war sie nicht prinzipiell gegen den Kapitalismus, aber ihr Hauptanliegen scheint der Schutz dieses Apparats gewesen zu sein, den sie durch Xi Jinpings Engagement für ein schnelleres Wachstum durch ein größeres Vertrauen in die „Marktkräfte“, d. h. den privaten Sektor, bedroht sah.

Die Zeitschrift The Economist beschrieb kürzlich die ersten drei oder vier Jahre von Xis Führung als „die Blütezeit der Privatwirtschaft“, in der Technologieunternehmen wie Alibaba und Tencent zu Global Playern aufstiegen und ihre Gründer:innen als die neuen Milliardär:innen gefeiert wurden. Ihr Erfolg in China bestätigte schnell, dass das Kapital international expandieren muss. Im Jahr 2014 brachte Jack Ma Alibaba an die New Yorker Börse (NYSE) und sammelte 25 Mrd. US-Dollar ein – zum damaligen Zeitpunkt der größte Börsengang (Börseneinführung; Initial Public Offering, IPO), der Welt, der den Konzern mit 231 Mrd. US-Dollar bewertete. Seitdem sind weitere 240 chinesische Unternehmen an die Börse gegangen, deren Gesamtwert sich im Dezember 2021 auf 2 Billionen US-Dollar belief. Solche Bewertungen sind Ausdruck der wachsenden Bedeutung des Privatkapitals, d. h. der Bourgeoisie, in China, die eine potenzielle, unzuverlässige alternative Macht im Land darstellt.

Im Inland war die „Blütezeit der Privatwirtschaft“ nicht von Dauer. Im Juni 2015 brach die Börse in Shanghai, an der die Aktienbewertungen im Jahr zuvor um 150 % gestiegen waren, plötzlich um 28 % ein – das entspricht 3,5 Billionen US-Dollar. Die geplatzte Blase war durch eine gezielte Regierungspolitik mit billigen Krediten aufgeblasen worden, die „Kleinanleger:innen“, d. h. einfache Menschen, zum Kauf von Aktien ermutigte. Dies war Ausdruck der Gesamtstrategie von Xi, die Kapitalallokation auf den Markt und weg von den staatlichen Banken zu verlagern. Diese Strategie hat sich auch nicht geändert, trotz aller Irrungen und Wirrungen der letzten Jahre. In seinem Bericht an den Kongress betonte Xi: „Wir werden darauf hinwirken, dass der Markt die entscheidende Rolle bei der Ressourcenallokation spielt und die Regierung ihre Rolle besser wahrnimmt.“ (9)

Während die Börsenkrise durch ein faktisches Verkaufsverbot schnell unter Kontrolle gebracht wurde, zeigten ihre Folgen einen anderen Aspekt der Kaste-gegen-Klasse-Frage. Für Millionen von Apparatschiks und Parteimitgliedern in Ministerien, Banken und Staatsbetrieben war dies der Beweis dafür, dass man dem „Markt“ tatsächlich zu viele Zugeständnisse gemacht hatte. Es erschien zwar nicht als klug, sich der fortgesetzten marktfreundlichen Politik der Führung offen zu widersetzen, aber das war auch nicht notwendig, um die Stabilität zu gewährleisten. Obwohl Xi weitere Reformen durchführte und beispielsweise ausländischen Banken erlaubte, in ausgewählten Regionen tätig zu werden, herrschte im größten Teil der chinesischen Wirtschaft weiterhin die alte Ordnung.

Einer der wichtigsten dieser „alten Wege“ war die Immobilienentwicklung. Diese hatte seit den 1990er Jahren eine zentrale Rolle gespielt, nach dem Motto: „Wenn du baust, werden sie kommen“. Ursprünglich bedeutete dies in den Sonderwirtschaftszonen, dass, wenn eine lokale Behörde z. B. die Grundlagen für einen Industriepark baute und Grundstücke zu niedrigen Preisen anbot, Unternehmen angelockt wurden, die dann Fabriken errichteten und in der Regel die Produktion von billigen Konsumgütern aus Hongkong verlagerten. Dies würde an sich schon eine Nachfrage nach Arbeitskräften, Lagerräumen, Geschäften, Unterkünften, Transportmöglichkeiten usw. erzeugen.

Aus diesen kleinen Anfängen entwickelte sich ein ganzes Erschließungssystem: Die Kommunalverwaltungen verkauften Grundstücke an Erschließungsunternehmen und erhielten so Einnahmen zur Finanzierung ihrer eigenen Aufgaben. Die Erschließungsunternehmen bauten, was immer die Marktbedingungen als rentabel erscheinen ließen, und die Firmen siedelten sich an, zahlten Miete an die Erschließungsunternehmen und erzielten im Allgemeinen einen guten Gewinn mit ihrer für den Export bestimmten Produktion. Die weitere Expansion brachte den Kommunen mehr Einnahmen. Neue Gebäude kurbelten die Bauindustrie und das Materialangebot an, der Zustrom neuer Arbeitskräfte schuf eine Nachfrage nach Wohnraum usw. Sowohl nach dem finanziellen Schock von 2008/09 als auch nach den Schwierigkeiten an den Börsen im Jahr 2015 bot dieses Entwicklungsmodell eine Grundlage für die Stabilisierung der nationalen Wirtschaft. Ein Aspekt dieses Modells, der Wohnungsbau, wurde im Zusammenhang mit der Verstädterung besonders wichtig, da er etwa 30 Prozent der Einnahmen der lokalen Behörden ausmachte.

Die Bedenken hinsichtlich der Politik sind natürlich nicht verschwunden. Sowohl die Kapitalist:innen als auch die Parteiführer:innen, die bereits über Obamas „Schwenk zum Pazifik“ beunruhigt waren, mussten nun mit Trumps offener Feindseligkeit und seiner Unterstützung für Beschränkungen des chinesischen Exporthandels rechnen. Darüber hinaus waren ausländische Unternehmen inzwischen so gut in China verankert, dass sie ihre eigenen Einschätzungen des Wirtschaftswachstums entwickeln konnten – und diese zeigten durchweg, dass die offiziellen Zahlen übertrieben waren, das BIP wuchs nicht mit bis zu 7 % pro Jahr, sondern eher mit etwa 5 %.

China und die Welt

Die obigen Grafiken liefern den Hintergrund für den heftigen Fraktionsstreit, der vor und auf dem 18. Parteitag 2011 ausgetragen wurde und aus dem Xi Jinping als Sieger hervorging. Chinas Fähigkeit, sich nicht nur von der Krise 2008/9 zu erholen, sondern auch viele andere Länder aus der Rezession zu ziehen, machte deutlich, dass das quantitative Wachstum seit der Restauration des Kapitalismus nun eine qualitative Veränderung des Status des Landes mit sich gebracht hatte: Es war nun eine Weltmacht, eine imperialistische Macht. Das erforderte eine Neuordnung der Beziehungen zum Rest der Welt, insbesondere zur dominierenden Macht, den USA.

Dies ist die materielle Realität, die das größere Durchsetzungsvermögen, ja sogar die Aggressivität erklärt, die auf der Weltbühne an den Tag gelegt und oft der Persönlichkeit Xi Jinpings zugeschrieben wird. Die weitere Entwicklung erforderte nun eine Reihe von Maßnahmen, die darauf abzielten, diesen neuen Status zu konsolidieren, indem andere Mächte gezwungen wurden, Chinas Prioritäten und Anforderungen zumindest zu berücksichtigen.

Das eigentliche Kernstück von Xis Programm war daher abseits fraktionellen Disputs eine Strategie, die Chinas neuem Status entsprach: die Belt-and-Road-Initiative, BRI (Initiative See- und Straßenwege). Was genau die Führung der KPCh von Marx‘ „Das Kapital“ oder Lenins „Imperialismus“ hält, werden wir wohl nie erfahren, sie wird beides sicherlich studiert haben, aber die Notwendigkeit, Kapital zu exportieren und Macht global zu projizieren, war zu dem Zeitpunkt, als Xi die Macht übernahm, keine theoretische Frage mehr.

Grafik 2: Die Initiative See- und Straßenwege

Schon ein kurzer Blick auf die Karte der BRI-Initiativen macht ihr Ziel deutlich: die langfristige Integration der eurasischen Landmasse und der angrenzenden Regionen Afrikas unter chinesischer „Führung“ oder Kontrolle, wie manche sagen würden.

Das Projekt verbindet den Ausbau der Infrastruktur mit „sozialen Entwicklungen“ wie Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, während die damit verbundene Asiatische Infrastrukturinvestitionsbank, deren größter Anteilseigner mit rund 26 % China ist, zweifellos ein alternatives Finanznetzwerk auf Renminbi-Basis (Yuan; chinesische Währung) bereitstellen soll. Kredit aufnehmende Länder können die Projekte selbst als Sicherheiten für die Ausleihe verwenden. Auf diese Weise wurde der neue Hafen von Hambantota in Sri Lanka zu einem chinesischen Vermögenswert, der für 99 Jahre in Mietkauf  gepachtet wurde, wenn Kredite nicht zurückgezahlt werden konnten.

Die BRI bietet auch einen Absatzmarkt für die Produkte von Chinas Überinvestitionen in die – grob gesagt – „Schwerindustrie“, so dass der Kapitalexport nicht nur Finanzmittel umfasst, sondern auch das, was nach Abschluss der Projekte zu Anlagevermögen wird.

Doch so beeindruckend das Ausmaß der BRI auch sein mag, wie das Beispiel Hambantota zeigt, muss sich Chinas Fähigkeit, den Rest der Welt auszubeuten, erst noch beweisen. Das Hafenprojekt war ein finanzielles Desaster, und dasselbe gilt für mehrere Elemente des China-Pakistan Wirtschaftskorridors (CPEC), der oft als eine der Schlüsselkomponenten der gesamten BRI dargestellt wird. Andere Länder nehmen nicht nur diese Misserfolge zur Kenntnis, sondern auch die Feindseligkeit, die entsteht, wenn deutlich wird, dass die Projekte keine Investitionsmöglichkeiten für lokales Kapital bieten und nur wenige Beschäftigungsmöglichkeiten für die lokale Bevölkerung schaffen, da auch Arbeitskräfte aus China exportiert werden.

Dies zeigt nicht nur die chinesische Unerfahrenheit bei der Planung und dem Bau von Projekten im Ausland, sondern auch, dass es etwas ganz anderes ist, mit den etablierten Imperialist:innen auf globaler Ebene zu konkurrieren, was Bankwesen, Technologie, Planung, Produktspezifikationen und eine Unzahl von Vorschriften einschließt, als die Preise für Konsumgüter zu unterbieten.

Sowohl innenpolitisch als auch global gesehen war die erste Amtszeit von Xi Jinping also bestenfalls ein bedingter Erfolg. China konnte nun zweifellos als wichtiger globaler Akteur gelten. Viele Länder waren nun auf die chinesische Expansion angewiesen, um ihren eigenen Exporthandel aufrechtzuerhalten, aber die etablierten imperialistischen Mächte begannen, den Neuling eher als potenziellen Rivalen denn als nützliche Quelle für billige Waren zu betrachten. Im Inland hatte sich das Wachstum fortgesetzt, wenn auch nicht mit den außergewöhnlichen, manche würden sagen unglaublichen, Raten von bis zu 13 Prozent, die 2010 – 2012 verzeichnet wurden, aber der Versuch, die Investitionen von einem staatlich gelenkten auf ein marktgesteuertes Modell umzustellen, war nicht sehr erfolgreich gewesen.

Diese Angelegenheiten bildeten den Hintergrund für den 19. Parteitag im Jahr 2017, auf dem Xis Streben nach mehr Kontrolle deutlich gemacht wurde. Dies war der Kongress, der seinen Beitrag zur Philosophie und zum Programm der Partei mit dem von Mao Zedong (Mao Tse-tung) gleichsetzte. Eine solche Förderung des Großen Führers ist ein deutlicher Hinweis auf ernsthafte Fraktionsstreitigkeiten, die unterdrückt werden müssen, um das Regime als Ganzes zusammenzuhalten. Dass Xi dennoch auf die innerparteilichen Fraktionen Rücksicht nehmen musste, zeigte sich daran, dass deren Vertreter:innen wie Hu Jintao und Li Keqiang nicht nur im Politbüro, sondern auch im Ständigen Ausschuss, dem eigentlichen Entscheidungsgremium im Land, vertreten waren.

Wie genau sich Xis Pläne entwickelt haben könnten, werden wir natürlich nie erfahren, da die Covid-19-Pandemie gegen Ende des zweiten Jahres seiner zweiten Amtszeit ausbrach. Zu diesem Zeitpunkt hatte er jedoch bereits die von Deng Xiaoping eingeführte Begrenzung der Amtszeit auf zwei Wahlperioden aufgehoben, die einen reibungslosen Übergang von einem Staatsoberhaupt zum nächsten gewährleisten sollte, und es wurde offen diskutiert, ob er beabsichtigte, Staatsoberhaupt auf Lebenszeit zu werden.

Schon vor dem Ausbruch der Pandemie gab es Anzeichen für eine Verlangsamung der chinesischen Wirtschaft. Die Exporte gingen 2019 gegenüber dem Vorjahr um 0,5 % zurück, und die offizielle Zahl für das BIP-Wachstum lag bei 6,1 % und nicht bei den angestrebten 6,5 %. Zusätzlich zu diesen Schwierigkeiten, die in der Struktur des Regimes und der Wirtschaft begründet sind, müssen wir die Probleme berücksichtigen, die sich aus der Pandemie und der Reaktion darauf auf nationaler und internationaler Ebene ergeben haben. Auch wenn sie nicht durch dieselben Faktoren verursacht wurden, zeigen sie doch die wesentlichen Merkmale des Regimes.

Abgesehen von der Beziehung zwischen Klimawandel, Umweltveränderungen und sozialer Organisation, dem „Metanarrativ“ der Pandemie, reichten die Reaktionen und Maßnahmen des Regimes von einem anfänglichen, typisch bürokratischen Versuch, die Existenz eines Problems zu leugnen, bis hin zu einer einzigartig autoritären, aber recht wirksamen Abriegelung, die die Ausbreitung des Virus stoppte, aber auch einen Großteil der Wirtschaft zum Erliegen brachte.

Danach erholte sich die inländische Produktion schnell und erreichte innerhalb von nur sechs Wochen wieder 80 % der Produktion vor der Pandemie, doch zu diesem Zeitpunkt geriet der internationale Handel in eine Krise, die sich in Form von Lieferengpässen und Transportstörungen bemerkbar machte, was sich wiederum auf die chinesische Wirtschaft auswirkte, die natürlich in hohem Maße auf den Handel angewiesen ist. Das Regime griff auf sein übliches Rezept zur Ankurbelung der Wirtschaft zurück, indem es mehr Kredite für den Bau und die Infrastruktur bereitstellte.

Damit verschärfte es jedoch tief sitzende Probleme in der Wirtschaft, die sich bereits seit mehreren Jahren entwickelt hatten. Diese hängen mit der Rolle des Immobilienwesens zusammen, insbesondere dem Wohnungsbau, und veranschaulichen sehr gut die Funktionsweise des Gesetzes der ungleichmäßigen und kombinierten Entwicklung, wie es China betrifft.

Dass sich der Kapitalismus sowohl innerhalb der Länder als auch zwischen ihnen ungleichmäßig entwickelt, war schon immer ein offensichtliches Merkmal, aber insbesondere Trotzki erweiterte dieses Gesetz mit seiner Feststellung, dass in der imperialistischen Epoche das Vordringen des Kapitals in weniger entwickelte Regionen der Welt nicht einfach zu einer Wiederholung des Entwicklungsprozesses führte, der in den ersten kapitalistischen Gesellschaften stattgefunden hatte. Die sich entwickelnden kapitalistischen Unternehmen und Institutionen mussten sich zwangsläufig an die bestehenden sozialen Strukturen und Klassen anpassen, oder, wie er es ausdrückte: „ … es gibt eine Kombination der einzelnen Schritte, eine Verschmelzung archaischer mit moderneren Formen.“ (10)

Diese Einsicht, die Trotzkis Strategie der Permanenten Revolution untermauerte, lässt sich in der Tat an jedem beliebigen Land demonstrieren. In Großbritannien beispielsweise gibt es noch immer eine Erbmonarchie, ein Relikt des Feudalismus, das sich vor Jahrhunderten mit der aufstrebenden Bourgeoisie arrangiert hat. Im Falle des heutigen China haben wir es jedoch mit einer ganz anderen Kombination von Faktoren zu tun, da sich der Kapitalismus im Kontext eines bereits bestehenden degenerierten Arbeiter:innenstaates entwickelt hat. Vor allem aber hat sich eine kapitalistische Klasse neben einem bereits bestehenden Staatsapparat herausgebildet, der auf den Eigentumsverhältnissen einer bürokratischen Planwirtschaft gründete.

Wir haben bereits festgestellt, wie die wirtschaftlichen Ziele des Staates erreicht werden konnten, indem er durch lokale Planungsentscheidungen Anreize für kapitalistische Investitionen stiftete. Zwanzig Jahre, nachdem diese Zusammenarbeit zwischen dem Staat und dem Privatkapital erstmals das industrielle Wachstum angekurbelt hatte, war sie zu einem festen Bestandteil der gesamten Volkswirtschaft geworden.

Im Rahmen der bürokratischen Planung waren die wirtschaftlichen Ziele im Wesentlichen der praktische Ausdruck der politischen Prioritäten, d. h. der Parteipolitik. Da weder die Arbeitskraft noch die Produkte Waren waren, gab es kein objektives Kriterium für das Wertmaß und die Preise waren in Wirklichkeit nur Buchhaltungsinstrumente zur Überwachung der Produktion und des Austausches innerhalb der geschlossenen Wirtschaft.

Mit der Restauration des Kapitalismus und der Verwandlung der Arbeitskraft in Ware gab es nun eine Grundlage für die Wertberechnung, die jedoch selbst in den am weitesten entwickelten kapitalistischen Volkswirtschaften nicht automatisch oder transparent vor sich geht. In China reichte es sicherlich nicht aus, das Verhältnis zwischen politischen Zielen und wirtschaftlichen Entscheidungen sofort zu verändern. Das Ergebnis war im Laufe der Zeit eben eine Praxis, die einige Aspekte der Planung mit anderen Momenten der kapitalistischen Wirtschaft verband.

Im Wesentlichen wird die Wirtschaftspolitik nach wie vor von politischen Zielen bestimmt: Die Ministerien entscheiden, welche Wachstumsrate erforderlich ist, und dieses Ziel wird an die Regional- und Stadtregierungen weitergegeben, die dann die Projekte genehmigen, die diese Wachstumsrate erzeugen sollen. Beispiel Wohnungsbau: Die lokale Regierung bewilligt den Verkauf von Grundstücken (oft aus Enteignung von bäuerlichem Besitz!), lokale Zweigstellen der staatlichen Banken bieten Bauträgern Kredite an, Bauträger bauen die gewünschten Wohnblöcke und verkaufen sie, oft „außerplanmäßig“, d. h., bevor sie tatsächlich gebaut werden. Hauskäufer:innen nehmen Hypotheken auf und beginnen mit der Abzahlung, noch bevor ihr zukünftiges Heim gebaut ist – allerdings in der Gewissheit, dass der Wert ihres zukünftigen Heims ohnehin steigen wird.

Nach dem Verkauf der Wohnungen kann der Bauträger sowohl die erforderlichen Materialien und Arbeitskräfte einkaufen als auch das Darlehen der staatlichen Bank rechtzeitig zurückzahlen. Eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten: Die Kommunalverwaltung erfüllt ihre Ziele, die Bank wird mit Zinsen belohnt, der Bauträger macht einen ordentlichen Gewinn, die Hauskäufer:innen ziehen in ihre neuen Wohnungen ein, verschiedene Wirtschaftszweige wie das Baugewerbe, die Haushaltsgeräteindustrie, der Straßenbau usw. haben reichlich Arbeit und die Regierung erreicht ihr politisches Ziel.

Dieser glückliche Ausgang hängt jedoch letztlich davon ab, ob das ursprüngliche Wachstumsziel selbst rational war, und zwar nicht nur für eine bestimmte, sondern für alle Kommunalverwaltungen. Als der Immobiliensektor vollständig etabliert war, machte er etwa 25 Prozent des BIP aus und finanzierte 30 Prozent der Aktivitäten der lokalen Gebietskörperschaften. Vieles hing davon ab, dass diese ursprünglichen Ziele auf genauen Bewertungen und Prognosen des Bedarfs und der Ressourcen beruhten.

Die Wirtschaftspolitik des Regimes ist in hohem Maße dem Erbe des degenerierten Arbeiter:innenstaates geschuldet, als die Planung auf dem Ausgleich der materiellen Inputs und Outputs verschiedener Sektoren basierte, um politische Prioritäten zu erreichen. Diese Denkweise, bei der die Wirtschaftspolitik zur Erreichung politischer Ziele eingesetzt wird, prägt auch heute noch die Entscheidungsfindung auf verschiedenen Ebenen des Staatsapparats.

In einer kapitalistischen Wirtschaft ist es unmöglich, das Gesamtwachstum zu planen, weil die Zusammensetzung des Kapitals zwischen und innerhalb der verschiedenen Sektoren so stark variiert. Die Existenz riesiger Industriemonopole sowie kleiner lokaler Dienstleister:innen und alle möglichen Variationen zwischen ihnen sorgen dafür, dass die Wachstumsraten nicht einheitlich sein können. Selbst wenn es möglich wäre, einen ausgewogenen Austausch von Werten in der gesamten Wirtschaft zu berechnen, würde dies die Beobachtung von Marx ignorieren, dass eine Wirtschaft, um im Gleichgewicht zu bleiben, nicht nur eine Wertäquivalenz beim Austausch von Waren zwischen den Sektoren aufweisen muss, sondern dass diese Waren auch die von der Gesellschaft benötigten Gebrauchswerte liefern müssen.

Die Geschichten über unbewohnte Städte mögen übertrieben sein, aber der Zusammenbruch des Immobiliensektors oder die immer noch wachsende Bewegung der Verweigerung der Rückzahlung von Hypothekendarlehen für unbewohnte Wohnungen waren nicht fiktiv. Der Bausektor veranschaulicht somit die Wechselwirkung zwischen dem „planerischen“ Erbe des degenerierten Arbeiter:innenstaates und der Dynamik eines restaurierten Kapitalismus.

Nimmt man zu der zwangsläufig unausgewogenen Wirtschaft noch die Folgen der Beteiligung des Privatkapitals an ihr hinzu, wird sofort klar, wie es zu einer Krise im Immobiliensektor kommen konnte. Die Spekulant:innen, die untereinander und mit anderen kapitalistischen Sektoren um Finanzmittel konkurrieren, haben ihre Kosten gesenkt und ihre Umsätze beschleunigt, indem sie die Nachfrage antizipiert haben, immer noch nach der Philosophie „Wenn du es baust, werden sie kommen“. Die lokalen Behörden, die davon ausgingen, dass der Staat immer einspringen würde, um die Bilanzen auszugleichen, förderten die kontinuierliche Expansion des Sektors, unabhängig von der „effektiven Nachfrage“ oder gar dem Gleichgewicht der Wirtschaft. Die Schuldenspirale wurde noch dadurch verstärkt, dass die größten Bauträger Gelder auf den globalen Anleihemärkten aufnahmen und ihr Ansehen in China als Sicherheit für Kredite nutzten.

Die Fähigkeit des Immobiliensektors, eine zentrale Rolle bei den Bemühungen um die Ankurbelung der nationalen Wirtschaft nach dem anfänglichen Stillstand im Frühjahr 2020 zu spielen, war daher wirklich sehr begrenzt. Mitte 2021 war die Zentralregierung so besorgt über das Ausmaß der Verschuldung des Sektors, dass sie strenge Grenzwerte für das Verhältnis von Schulden zu verschiedenen Formen von Vermögenswerten festlegte, die so genannten „drei roten Linien“. Damit geriet ein Element der Entwicklungsstrategie der Kaste, nämlich das Vertrauen auf die Marktkräfte oder auf gierige Kapitalist:innen, wie sie manchmal genannt werden, in Konflikt mit einer anderen Priorität, der politischen Stabilität. Der Effekt war fast unmittelbar: Die Finanzierung der Immobilienentwicklung trocknete aus und lenkte die Aufmerksamkeit auf die Unfähigkeit der großen Unternehmen, ihre bestehenden Schulden zu bedienen. Im Oktober erklärte der größte Schuldner von allen, Evergrande, dass er nicht in der Lage sei, die Zinsen, geschweige denn das Kapital für internationale Anleihen in Höhe von 350 Milliarden US-Dollar zurückzuzahlen.

Die Krise von Evergrande warf ein Schlaglicht auf den gesamten Immobiliensektor, deckte die enorme Verschuldung auf und führte zu einem Baustopp in Städten im ganzen Land. Dies ließ sofort Zweifel an den vielen Unternehmen, ja an den vielen Sektoren der gesamten Wirtschaft aufkommen, die von der Immobilien- und Bauträgerbranche abhängig geworden waren. Sie alle sahen sich nicht nur mit einem Rückgang der Nachfrage konfrontiert, sondern auch mit der Nichtbezahlung von Schulden für von ihnen bereits gelieferte Waren.

Darüber hinaus wurde die Finanzierung der Provinz- und Stadtregierungen, die zuvor auf die Einnahmen aus Grundstücksverkäufen angewiesen waren, in Frage gestellt. Diese wirtschaftliche Sackgasse in der heimischen Wirtschaft stand zwangsläufig in Wechselwirkung mit dem Abschwung im internationalen Handel und darüber hinaus mit den Auswirkungen der Sanktionen, die insbesondere von den USA gegen verschiedene chinesische Waren und Unternehmen verhängt wurden.

Die Situation wurde durch das Eintreffen von Varianten des Covidvirus aus dem Ausland noch verschärft, da andere Regierungen außerhalb Asiens keine „Null-Covid“-Strategie verfolgt hatten. Die Entscheidung Pekings, die gleichen „Null-Covid“-Großquarantänemaßnahmen, die „Abriegelungen“, durchzuführen, wie sie nach dem ersten Ausbruch in Wuhan angewandt wurden, hatte nicht nur erhebliche Auswirkungen auf die Wirtschaft, sondern rief auch im eigenen Land Proteste und Widerstand in einem Ausmaß hervor, das selbst die von der Partei kontrollierten Medien nicht verbergen konnten.

Es war diese Kombination aus systemischen Widersprüchen und den konjunkturellen Auswirkungen der Pandemie, die zu dem dramatischen Wachstumsrückgang im letzten Jahr führte: Berichten zufolge im Quartal April – Juni auf 0,4 % pro Jahr.

Alles in allem wurde Xis Gesamtstrategie angesichts des bevorstehenden 20. Parteitags im Oktober 2022 in Frage gestellt, was den Widerstand innerhalb der Partei anheizen könnte, insbesondere seitens der „Jungen Kommunistischen Liga“, die mit den Anhänger:innen von Jiang Zemin, Li Keqiang und Hu Jintao identifiziert wurde. Xi reagierte auf diese Bedrohung mit einem offensichtlichen Linksruck, einer stärkeren Betonung der staatlichen Kontrolle und einer Politik zur Erreichung des „gemeinsamen Wohlstands“.

Ein weiterer wichtiger Faktor, der den Eindruck verstärkte, dass die KPCh eine feindseligere Haltung gegenüber einer Kapitalist:innenklasse einnimmt, die zu selbstbewusst und unabhängig geworden ist, war eine Welle von Maßnahmen gegen einige der bekanntesten kapitalistischen Geschäftsleute. Dies begann im November 2020, als Jack Ma, den wir bereits kennengelernt haben, als er sein „Plattformunternehmen“ Alibaba an die New Yorker Börse brachte, daran gehindert wurde, den Finanzzweig seines Unternehmens, ANT, an die Hongkonger Börse zu bringen, angeblich auf ausdrücklichen Befehl von Xi selbst. Kommentator:innen sahen darin eine Bestrafung für die Notierung in New York, die in Peking als „unpatriotisch“ gilt. Aber es geschah auch kurz, nachdem Ma die staatlichen Kontrollen der Investitionsentscheidungen von Unternehmen kritisiert hatte.

Dies markierte den Beginn einer Kampagne gegen mehrere große chinesische Technologieunternehmen, darunter „Pony Mas“ (Ma Huatengs) Tencent, eines der reichsten Unternehmen nicht nur in China, sondern der ganzen Welt, und Didi Chuxing, ursprünglich ein Mietwagenunternehmen, das in die Bereiche Fahrzeugvermietung, Lieferungen und andere verbrauchernahe Apps expandierte. Die ganze Episode wurde anschließend als Teil der Strategie des „gemeinsamen Wohlstands“ der chinesischen KP dargestellt. Im Vorfeld des 20. Parteitags schien dies ein Zeichen für eine „antikapitalistische“ Politik zu sein. Es gibt jedoch viele sehr reiche Kapitalist:innen in China, Berichten zufolge 400 US-Dollar-Milliardär:innen, und die große Mehrheit von ihnen geriet nicht ins Visier. Der reichste von ihnen, Zhong Shanshan, Vorsitzender von Nongfu Spring, einem Getränkeunternehmen, das laut Forbes 62,3 Milliarden US-Dollar wert ist, hat offenbar nichts zu befürchten. (11)

Die weniger radikale, aber realistischere Erklärung für die Parteipolitik liegt in dem gemeinsamen Merkmal der Unternehmen, die ins Visier genommen wurden: der Kontrolle über riesige Mengen an Verbraucher:innendaten und Kapital. Diejenigen, die versuchen, den kapitalistischen Charakter Chinas zu leugnen, weisen oft darauf hin, dass viele der größten Unternehmen und Banken in China in „Staatsbesitz“ sind. Dies hat dazu geführt, dass sich einige der dynamischsten und innovativsten Privatkapitalist:innen auf die neuen Branchen und Technologien gestürzt haben, um ihr Geld zu verdienen. Ein Großteil ihres Erfolgs hängt mit der Verarbeitung riesiger Datenmengen über die Verbraucher:innen zusammen.

Wie ihre Gegenspieler:innen im Westen sind die „Plattform“-Unternehmen in der Lage, Informationen wie Kaufgewohnheiten, Kreditwürdigkeit, Freizeitaktivitäten, E-Mail-Verbindungen, Internetnutzung, Vorlieben und Abneigungen in sozialen Medien, Beschäftigungsdaten, kurzum alles über ihre Hunderte von Millionen Kund:innen zu integrieren. So können sie gezielt Werbung schalten, Finanzdienstleistungen maßschneidern und gute und schlechte Kreditrisiken erkennen.

Die Datenauswertung in diesem Umfang bringt sie jedoch in das Gebiet des staatlichen Überwachungssystems und könnte sogar einige Aspekte dieses Systems gefährden. Darüber hinaus können die von diesen Unternehmen kontrollierten Kapitalmengen und ihre Aktivitäten auf den Weltmärkten die finanziellen und wirtschaftlichen Prioritäten des Staates in Frage stellen. Ein Beispiel hierfür sind die an der New Yorker Börse notierten Unternehmen. Börsennotierte Unternehmen sind verpflichtet, ihre Bücher nach den Standards der NYSE prüfen zu lassen. Dies würde jedoch höchstwahrscheinlich Informationen über die chinesische Binnenwirtschaft und das tatsächliche Ausmaß des staatlichen Einflusses offenbaren, die Peking den US-Behörden nicht bekanntgeben möchte. Im Grunde ist dies also ein Aspekt des Kampfes zwischen bürokratischer Kaste und Kapitalist:innenklasse.

Die Art und Weise, wie diese sehr realen Interessenkonflikte gelöst wurden, ist sehr aufschlussreich. Am 16. Januar 2023 wurde berichtet, dass Guo Shuqing, der Vorsitzende der Regulierungskommission für das Bank- und Versicherungswesen, sagte, dass die Kommission ihre Arbeit praktisch abgeschlossen habe, während die Bemühungen zur „Bereinigung der Finanzgeschäfte von 14 Plattformunternehmen“ weitergingen. (12)  Die Internet-Regulierungsbehörde ist nun dazu übergegangen, kleine Kapitalbeteiligungen an vielen der größten Unternehmen zu erkaufen, und setzt Regierungsbeamt:innen als Vorstandsmitglieder ein, um deren Geschäftstätigkeit zu überwachen. Mit anderen Worten: Diese gigantischen kapitalistischen Unternehmen werden weiterhin im Geschäft bleiben, aber der Staat wird Zugang zu den Entscheidungsprozessen erhalten.

Am selben Tag erhielt Didi Chuxing die Erlaubnis, neue Kund:innen zu werben, und ist damit wieder im Geschäft, nachdem es im letzten Juli eine Strafe von 1,18 Mrd. US-Dollar bezahlt hatte. Am 18. Januar 2023 stieg der Börsenwert von Tencent und Alibaba um 350 Mrd. US-Dollar gegenüber dem Tiefstand vom Oktober 2022.

Was die Bauträger anbelangt, so stellte die Regierung Ende Dezember 16 Unterstützungsmaßnahmen für den Immobiliensektor vor. Danach sagten die staatlichen Banken dem Sektor den Gegenwert von etwa 256 Mrd. US-Dollar an potenziellen Krediten zu, allerdings nur für bestimmte Bauträger. (13) Damit haben die Finanzbehörden festgestellt, welche Unternehmen potenziell lebensfähig sind und welche keine Zukunft haben. Es wird erwartet, dass die umfangreichen Mittel für Fusionen und Übernahmen sowie für den Aufkauf von Vermögenswerten der in Konkurs gegangenen Unternehmen verwendet werden. Das Verfahren ähnelt stark dem, das in den USA zur Bewältigung der Finanzkrise von 2008 – 2009 angewandt wurde: Rationalisierung des Sektors und Übertragung der Schulden auf den Staat. Auch hier führten die angeblich antikapitalistischen Prioritäten der Kaste in Wirklichkeit zu einem Deal mit den größten Kapitalist:innen.

Auf internationaler Ebene war die Gefahr eines Ausschlusses chinesischer Unternehmen von der NYSE das potenziell größte Hindernis für die wirtschaftliche Stabilität. Die Wurzel des Problems lag darin, dass Chinas Wertpapiergesetz von 2019 Prüfungsunterlagen als Staatsgeheimnis einstuft, so dass sie das Land nicht verlassen und von den US-Behörden nicht eingesehen werden können. Der Holding Foreign Companies Accountable Act (HCFAA) der Vereinigten Staaten, der im Dezember 2020 verabschiedet wurde, schreibt jedoch vor, dass in den USA notierte ausländische Unternehmen die Vorschriften des Public Company Accounting Oversight Board (PCAOB) (Aufsichtsbehörde über die Firmenbilanzen) für die Prüfung von Abschlüssen einhalten müssen, andernfalls droht ihnen nach drei aufeinanderfolgenden Jahren der Nichteinhaltung die Streichung von der Liste.

Die Pattsituation wurde im August 2022 beendet, als Peking zustimmte, den PCAOB-Inspektor:innen in Hongkong Zugang zu den erforderlichen Unterlagen zu gewähren – um das Gesicht zu wahren, durften die Unterlagen China nicht verlassen. Im Dezember bestätigte die PCAOB-Vorsitzende Erica Williams, dass die Inspektionen abgeschlossen seien. Das bedeutet nicht, dass sie die Prüfungsberichte vollständig akzeptiert haben, sondern nur, dass sie vollen Zugang zu ihnen hatten.

Aussichten

Nachdem Xi Jinping seine eigene Position gesichert und die führenden Parteigremien von parteiinternen Gegner:innen gesäubert hatte, musste er sich nun allgemeineren politischen Anliegen zuwenden. Die neue Parteiführung musste von den unechten „repräsentativen“ Institutionen des Nationalen Volkskongresses und der Nationalen Konsultativkonferenz des Volkes auf der so genannten „Doppeltagung“ im März in neue Regierungspositionen und Minister:innen umgesetzt werden. Das war eine rein formale Überlegung. Wichtiger sind die neuen politischen Prioritäten, die sich nicht nur aus dem politischen Manövrieren für den Kongress ergeben, sondern auch aus dem chaotischen Ende des „Null-Covid“ und den wirtschaftlichen Schwierigkeiten im In- und Ausland.

Die bereits unternommenen Schritte in Bezug auf den Immobiliensektor, die Hightechunternehmen und die Börsennotierungen an der NYSE deuten darauf hin, dass Xi wieder auf Wachstum im Privatsektor setzen wird, allerdings mit einer stärkeren Kontrolle durch die Partei. Die Abkehr von der „Wolfskrieger:innen“-Diplomatie und die vorgeschlagenen Treffen mit Antony Blinken und später mit Joe Biden selbst deuten auf eine Neubewertung der Außenpolitik hin. Die Choreographie dafür wurde durch die bizarre Saga des „Spionageballons“ unterbrochen, aber die Kombination aus globalen Wirtschaftstrends und den Auswirkungen des Ukrainekriegs lässt vermuten, dass der Tanz im Laufe der Zeit wieder aufgenommen werden wird.

Im Inland haben viele Kommentator:innen eine Rückkehr zu höheren Wachstumsraten vorausgesagt, die auf einen steilen Anstieg der Verbraucher:innenausgaben zurückzuführen ist. Han Wenxiu, ein führender Beamter der einflussreichen Zentralen Kommission für Finanz- und Wirtschaftsangelegenheiten, sagte im Dezember 2022, dass das erste Quartal 2023 noch von den Störungen nach der Schließung betroffen sein, aber für das zweite Quartal mit einer beschleunigten wirtschaftlichen Verbesserung gerechnet werde.

Die Ankurbelung dieser Ausgaben war auch ein Thema auf der zentralen Wirtschaftskonferenz Mitte Dezember 2022 . Die Konferenz findet jährlich statt, aber dieses Treffen wurde als besonders wichtig angesehen, weil es direkt nach dem Kongress erfolgte und daher als eine Absichtserklärung für Xi Jinpings neue Regierung angesehen werden konnte.

Grundlage für diesen Optimismus ist das riesige Reservoir an erzwungenen Ersparnissen, das die breite Bevölkerung aufgrund der Lockdowns besitzt. Diese werden seit Anfang 2020 auf 4,8 Billionen US-Dollar geschätzt (14). Das ist mehr als das britische Bruttoinlandsprodukt und würde, wenn es ausgegeben würde, eindeutig einen beträchtlichen Anreiz darstellen. Das ist jedoch ein großes „Wenn“, denn die Lebenserfahrung der riesigen chinesischen Arbeiter:innenklasse zeigt, dass Sparen eine hohe Priorität hat, um sich gegen Krankheit und die Realität einer alternden Bevölkerung zu schützen, die weitgehend nicht durch staatliche Sozialausgaben abgesichert ist.

Welche offensichtlichen Zugeständnisse an das Privatkapital und den „Markt“ die neue Führungsriege von Xi Jinping auch immer machen mag, ob im Inland oder im Ausland, ihr Ziel wird es sein, eine schwer angeschlagene Wirtschaft wieder zu stabilisieren und damit ihr eigenes Regime zu stärken. Ihr Programm, eine kapitalistische Wirtschaft unter ihrer eigenen rigiden politischen Kontrolle zu entwickeln, die von ihren eigenen politischen Prioritäten geleitet wird, bleibt utopisch. Sie verfügt zwar über ein außerordentliches Maß an Kontrolle und Überwachung, aber die Entwicklung des Kapitalismus selbst wird sich als stärker erweisen.

Nachdem wir die Aufmerksamkeit auf das „kombinierte“ Element des chinesischen Kapitalismus, das Erbe des degenerierten Arbeiterstaates, gelenkt haben, müssen wir auch den „ungleichen“ Charakter aller Kapitalismen berücksichtigen. Es ist zwangsläufig so, dass sich verschiedene Kapitalblöcke unterschiedlich schnell entwickeln. Unterschiede im Umfang der Anlageinvestitionen, im Verhältnis zwischen diesen und den Investitionen in die Arbeitskraft, in der Umschlagdauer der verschiedenen Wirtschaftssektoren, in der Proportionalität oder dem Mangel an Proportionalität zwischen den verschiedenen Sektoren und Unternehmen und in den Auswirkungen der globalen Märkte und Investitionsentscheidungen sind nur einige der Faktoren, die eine ungleiche Entwicklung gewährleisten.

Entsprechend dieser Ungleichheit werden auch die Prioritäten und Pläne derjenigen, die die verschiedenen Kapitalblöcke kontrollieren, unterschiedlich sein und möglicherweise nicht nur untereinander, sondern auch mit denen der herrschenden Kaste in Konflikt geraten. Angesichts des Grades der personellen Durchdringung zwischen der Kapitalist:innenklasse und der bürokratischen Kaste werden sich diese Unterschiede auf den Regimeapparat übertragen. Dies wird sich zunehmend in der Bildung von Fraktionen ausdrücken, de facto oder de jure. Ihre Existenz wird eine ständige Tendenz zu einer strengeren internen Disziplinierung innerhalb der Kaste durch den Mechanismus, der alles zusammenhält, die Partei, erfordern.

Zur Veranschaulichung dieses Prozesses genügt es, die Auswirkungen der Krise im Immobiliensektor zu betrachten. Sowohl die Kapitalist:Innen selbst als auch die Bürokrat:innen, die mit ihnen zu tun haben, wissen, dass es die Parteipolitik und die Parteifunktionär:innen waren, die sein übermäßiges Wachstum und schließlich Bankrott gefördert haben. Buchstäblich Tausende von Kapitalist:innen und Manager:innen in allen damit verbundenen Branchen wissen das auch. Die Aushöhlung der Autorität und Legitimität der Partei ist praktisch garantiert, und deshalb werden Unzufriedenheit und der Druck auf Veränderungen wachsen. Und das sind nur die Spannungen zwischen der Bourgeoisie und der bürokratischen Kaste. Millionen und Abermillionen von Arbeiter:innen wissen auch, wo die Schuld für ihre unfertigen Häuser, den Verlust ihrer Arbeit, ihre Hypotheken und ihren sinkenden Lebensstandard liegt.

Weder verärgerte Geschäftsleute noch wütende Arbeiter:innen sind an sich eine große Bedrohung für die KP China und ihr Regime. Die Anwesenheit von Parteimitgliedern in praktisch allen Gemeinden und an den meisten Arbeitsplätzen sowie die durch die pandemischen Abriegelungen erheblich verbesserten Überwachungsmöglichkeiten sind mächtige Instrumente zur Unterdrückung der Opposition. Dennoch macht das schiere Ausmaß der Parteikontrolle angesichts der unvermeidlichen Reibungen des wirtschaftlichen Wandels und der Auswirkungen globaler Ereignisse die Partei zur offensichtlichen Zielscheibe von Unzufriedenheit, und das schafft ein Umfeld, in dem unter den richtigen Bedingungen die Feindseligkeit gegenüber dem Regime wachsen kann.

Die Geschwindigkeit, mit der die vom „Mann auf der Brücke“ kurz vor dem Parteitag vorgetragenen Slogans über die sozialen Medien aufgegriffen wurden, macht deutlich, wie weit verbreitet diese Unzufriedenheit bereits ist. Sie lauteten: „Wir wollen keine Diktator:innen, wir wollen Wahlen“, „Rettet China mit einer Person, einer Stimme, um den/die Präsident:in zu wählen“ und „Streikt in der Schule und am Arbeitsplatz, setzt den Diktator und Landesverräter Xi Jinping ab!“

Es sollte niemanden überraschen, dass demokratische Forderungen sofort auf große Resonanz stoßen, wann immer sie erhoben werden können. Die Gefahr für Sozialist:innen besteht darin, dass sie zwar an sich fortschrittliche und daher unterstützenswerte Forderungen sind, ihre Herkunft aus der bürgerlich-demokratischen Bewegung aber bedeutet, dass sie auch von bürgerlichen Gegner:innen der bürokratischen Diktatur unterstützt werden können. Das hat sich sowohl beim Zusammenbruch der Sowjetunion als auch bei den verschiedenen „Farbenrevolutionen“ in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts sehr deutlich gezeigt.

Die Aufgabe der Sozialist:innen besteht darin, solche populären und unterstützenswerten Forderungen mit einer Strategie zu verbinden, die nicht nur das Regime stürzen kann, sondern dabei auch Organisationen der Arbeiter:innenklasse aufbaut, die sicherstellen können, dass ein Sieg in diesem Kampf nicht einfach die Tür für eine Machtergreifung durch kapitalistische Kräfte mit einem Programm für eine effizientere Ausbeutung sowohl im Inland als auch in Übersee öffnet. Mit anderen Worten: Der revolutionäre Sturz der bürokratischen Kaste in China wird die Strategie und Taktik der Permanenten Revolution erfordern.

Aus den Erfahrungen der demokratischen Bewegungen des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts können wir die Hauptmerkmale dieser Strategie erkennen. Das zentrale Ziel, das alle anderen Elemente der Strategie miteinander verbindet, ist der Aufbau unabhängiger, demokratisch rechenschaftspflichtiger Organisationen der Arbeiter:innenklasse wie Betriebsräte, Gewerkschaften, Gemeindeorganisationen, Frauenorganisationen, Jugendorganisationen und andere Organisationen unterdrückter Schichten wie Immigrant:innen und LGBTQ+. Sobald es zu einem bestimmten Zeitpunkt praktisch möglich ist, müssen diese Organisationen die Grundlage sein, von der aus abrufbare Delegierte in Organisationen auf höherer Ebene, auf Stadt-, Landes- oder Bundesebene, entsandt werden. Die genauen Formen und Organisationsstrukturen, die die Klassenorganisation am besten voranbringen, können nicht vorhergesagt werden, aber aus den Erfahrungen der Protestbewegungen, die in den letzten zwei Jahrzehnten häufig entstanden sind, können Lehren gezogen werden.

Politisch gesehen besteht die größte Gefahr für jede Arbeiter:innenbewegung in der Unterordnung unter bürgerliche Kräfte, die ihre eigenen Gründe haben, sich der Bürokratie entgegenzustellen. Die Erfahrungen mit den farbigen Revolutionen in Osteuropa unterstreichen diese Gefahr sehr deutlich. Unabhängig davon, ob diese vom Ausland unterstützt werden oder nicht, müssen die Organisationen der Arbeiter:innenklasse eine vollständige Unabhängigkeit von ihnen gewährleisten.

Das Vorhandensein von proletarischen Organisationen ist zwar eine Voraussetzung für einen fortschreitenden Sturz der Bürokratie, doch reicht dies nicht aus. Wie die Welt zu oft gesehen hat, z. B. beim Arabischen Frühling oder der griechischen Finanzkrise, stehen und fallen diese Organisationen mit ihren politischen Führungen. Um das tragische Schicksal dieser großen Massenbewegungen zu vermeiden, müssen revolutionäre Marxist:innen in jeder Phase der Entwicklung eingreifen. Dazu müssen die Revolutionär:innen selbst organisiert werden, das heißt, sie müssen eine Partei aufbauen, die auf der Strategie der Permanenten Revolution basiert, auf die chinesischen Verhältnisse angewandt.

Daraus folgt, dass die erste Aufgabe der Revolutionär:innen hier und jetzt darin besteht, diese Strategie zu entwickeln, ein Programm für den revolutionären Sturz der Bürokratie und die Bildung eines Arbeiter:innenstaates auf der Grundlage demokratisch verantwortlicher Arbeiter:innenräte auszuarbeiten. Den Kern einer solchen Partei werden diejenigen bilden, die bereits erkannt haben, dass dies ihre Hauptziele sind, und die sich der Entwicklung der Mittel zur Erreichung dieser Ziele widmen. Dies wird sowohl Studium als auch praktisches Engagement erfordern, um die Führer:innen der chinesischen Arbeiter:innenschaft und der unterdrückten Schichten Chinas für dieses Programm zu gewinnen. An diese Genossinnen und Genossen ist dieser Artikel gerichtet.

Endnoten

(1) https://english.news.cn/20221025/8eb6f5239f984f01a2bc45b5b5db0c51/c.html

(2) ibid

(3) ibid

(4) ibid

(5) ibid

(6) ibid

(7) https://chuangcn.org/2020/06/measuring-profitability/

(8) https://chuangcn.org/2020/06/measuring-profitability

(9) op.cit.

(10) L D Trotsky, History of the Russian Revolution, Haymarket 2008, p. 5

(11) https://www.forbes.com/profile/zhong-shanshan/?sh=40cb72c849ae

(12) Financial Times, London, January 16, 2023

(13) Financial Times, London, December 28, 2022

(14) Financial Times, London, January 10, 2023




Degrowth: Grüne Alternative zum Kapitalismus?

Alex Zora, Infomail 1229, 1. August 2023

Wer sich in den letzten Jahren mit den Themen Klima, Umweltschutz und Nachhaltigkeit auseinandergesetzt hat, wird wahrscheinlich auch irgendwann über das Thema Degrowth (Direktübersetzung: Wachstumsrücknahme bzw. Entwachstum) gestoßen sein. Oft wird auch das Wort Postwachstum für dasselbe Konzept verwendet. Vertreter:innen der Degrowth-Bewegung üben Kritik am Kapitalismus und seinem Wachstumszwang. Sie treten stattdessen für eine Gesellschaft ein, die sozial und ökologisch sein soll. Hört sich erstmal alles ganz vernünftig an, doch kann Degrowth wirklich eine Strategie zu Überwindung von Umweltzerstörung und Kapitalismus sein?

Eine kurze Geschichte

Die Ursprünge der Degrowth-Bewegung liegen Mitte der 1970er Jahre. 1972 publizierte der „Club of Rome“ (im Wesentlichen ein bürgerlicher Think-Tank aus einer Zeit bevor der Begriff Think-Tank populär wurde) „Die Grenzen des Wachstums“. In dieser Systemanalyse, basierend auf Computersimulationen, wurde festgestellt, dass aufgrund begrenzter Ressourcen kein unbegrenztes Wirtschaftswachstum möglich ist: „Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht.“

Der Bericht löste zwar große Debatten aus und ist mit 30 Millionen verkauften Exemplaren weltweit das meistverkaufte ökologische Buch, die Degrowth-Bewegung ist aber eigentlich erst ein Produkt des 21. Jahrhunderts. Wichtigen Input dafür lieferte das 2002 in Lyon gegründete „Institut zur Wirtschafts- und Sozialforschung für nachhaltigen Degrowth“[1], später breitete sich die Bewegung – vor allem im akademischen Bereich – weiter aus. Seit 2008 gibt es internationale Degrowth-Konferenzen, die alle 2 Jahre stattfinden. Heute ist Degrowth bzw. Wachstumskritik wichtiger Bestandteil der meisten Organisationen der Klimabewegung.

Was ist Degrowth?

Innerhalb der Degrowth-Bewegung gibt es sowohl radikale wie gemäßigte Teile. Teile der Grünen in Österreich und Deutschland sind Anhänger:innen des Konzepts, ehemalige Umwelt-Aktivist:innen wie Kathrin Henneberger sind als Degrowth-Anhänger:innen mittlerweile sogar im deutschen Bundestag vertreten, die deutsche Parteistiftung der Grünen war auch Unterstützer:in der Degrowth Konferenz 2014 in Leipzig. Aber auch in Österreich ist Degrowth z.B. in der Grünen Parteiakademie ein wichtiges Thema[2].

Gleichzeitig gibt es auch radikalere Teile, insbesondere die, die auch in der realen Klima(-gerechtigkeits-)bewegung aktiv sind. Teile der Degrowth Bewegung beziehen sich sogar positiv auf den Sozialismus (wie zum Beispiel der griechische Ökonom Giorgis Kallis) bzw. Teile des Ökoszialismus beziehen sich positiv auf Degrowth (wie zum Beispiel Michael Löwy). Eine gesonderte Auseinandersetzung mit den linken Auslegern der Postwachstum-Bewegung wäre mit Sicherheit auch fruchtbar, doch wir werden uns an dieser Stelle vor allem mit dem Mainstream der Degrowth-Bewegung auseinandersetzen.

Das Webportal degrowth.info beschreibt Postwachstum folgendermaßen: „Unter Degrowth oder Postwachstum verstehen wir eine Wirtschaftsweise und Gesellschaftsform, die das Wohlergehen aller zum Ziel hat und die ökologischen Lebensgrundlagen erhält. Dafür ist eine grundlegende Veränderung unserer Lebenswelt und ein umfassender kultureller Wandel notwendig. Das aktuelle wirtschaftliche und gesellschaftliche Leitprinzip lautet „höher, schneller, weiter“ – es bedingt und befördert eine Konkurrenz zwischen allen Menschen. Dies führt zum einen zu Beschleunigung, Überforderung und Ausgrenzung. Zum anderen zerstört die Wirtschaftsweise unsere natürlichen Lebensgrundlagen sowie die Lebensräume von Pflanzen und Tieren. Wir sind der Überzeugung, dass die gemeinsamen Werte einer Postwachstumsgesellschaft Achtsamkeit, Solidarität und Kooperation sein sollten. Die Menschheit muss sich als Teil des planetarischen Ökosystems begreifen. Nur so kann ein selbstbestimmtes Leben in Würde für alle ermöglicht werden. Praktisch gesehen heißt das:

  • Eine Orientierung am guten Leben für alle. […]

  • Eine Verringerung von Produktion und Konsum im globalen Norden, eine Befreiung vom einseitigen westlichen Entwicklungsparadigma und damit die Ermöglichung einer selbstbestimmten Gestaltung von Gesellschaft im globalen Süden.

  • Ein Ausbau demokratischer Entscheidungsformen, um echte politische Teilhabe zu ermöglichen.

  • Soziale Veränderungen und Orientierung an Suffizienz, statt bloßen technologischen Neuerungen und Effizienzsteigerung, um ökologische Probleme zu lösen. Wir betrachten die These von der Möglichkeit der absoluten Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch als historisch widerlegt.

  • Regional verankerte, aber miteinander vernetzte und offene Wirtschaftskreisläufe.  […]“

Ein zentrales Konzept der Degrowth-Bewegung ist die Ablehnung des Bruttoinlandsprodukts (der Summe aller in einem Jahr erzeugten Dienstleistungen und Waren minus aller Vorleistungen) als zentrales Maß gesellschaftlicher Entwicklung. Statt eines fortschreitenden Wirtschaftswachstums soll die Wirtschaft gezielt geschrumpft werden. Ergänzt wird das oft damit, dass insbesondere der Throughput (also die Rate, mit der sich Waren (und Dienstleistungen) durch den Wirtschaftskreislauf bewegen) reduziert werden soll. Damit solle die Kopplung zwischen Wirtschaftswachstum und Treibhausgasausstoß (und Umweltzerstörung) bekämpft werden. Im Kapitalismus ist dieses gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis in den Daten recht klar ersichtlich. Die einzigen Zeitpunkte seit dem Ende des Nachkriegsbooms, zu denen der Ausstoß von Treibhausgasemissionen gegenüber dem jeweiligen Vorjahr relevant gesunken ist, waren 1974 (1. Ölpreiskrise), Anfang der 1980er Jahre (2. Ölpreiskrise), 1992 (Zusammenbruch der UdSSR), 2009 (globale Finanzkrise) und 2020 (Corona-Krise). Die Verknüpfung von wachsender Wirtschaft und wachsender Belastung für die Umwelt sind deshalb – zumindest im heutigen Wirtschaftssystem – sehr eindeutig.

Es gibt durchaus Beispiele einzelner Länder oder Kontinente (z.B. der EU), die es zwar schaffen Wirtschaftswachstum mit sinkenden Treibhausgasemissionen zu verbinden. Hierbei werden aber Auslagerungseffekte (z.B. wird CO2-intensive Produktion aus Europa nach China oder Indien verlagert, die dort hergestellten Produkte aber weiterhin in Europa konsumiert) berücksichtigt. Der zentrale Punkt ist jedoch, ob die Summe (also Einsparung in Land A + Erhöhung in Land B) der Emissionen steigt oder sinkt, was zumindest auf globaler Ebene außerhalb der oben erwähnten Wirtschaftskrisen bisher nicht passiert ist. Das Argument, im Kapitalismus wäre Wirtschaftswachstum mit sinkenden Emissionen vereinbar, ist deshalb zumindest mehr als fraglich. Abseits davon umfasst ökologische Nachhaltigkeit noch um einiges mehr als das Thema Treibhausgase.

Degrowth als Lösung?

Wir können also einige wesentliche Argumente der Degrowth-Bewegung nachvollziehen. Die Feststellung von Teilen der Bewegung, dass Nachhaltigkeit und Kapitalismus unvereinbar sind, teilen wir – auch wenn die Auffassung über das, was den Kapitalismus genau ausmacht, bei der Degrowth-Bewegung mehr als fraglich ist. Aber auch, wenn es einige Übereinstimmungen gibt, bestehen gleichzeitig wesentliche Unterschiede sowohl in der Analyse wie in den vorgeschlagenen Lösungen.

Analytisch ist das Problem bei den meisten Teilen der Degrowth-Bewegung, dass der Kapitalismus als Produktionsweise nicht verstanden wird. Denn sehr oft wird der Fokus der Kritik am Kapitalismus auf dessen Ideologie bezogen. Wachstumsideologie, Konzern-Gier oder kapitalistische Denkweise werden hier zum zentralen Ziel der Kritik. Kultureller Wandel, gesellschaftliches Umdenken und neue Werte stehen als Lösungen im Zentrum. Insbesondere bei den gemäßigten Teilen der Bewegung geht es deshalb in erster Linie darum, das „Wachstumsparadigma“ des Kapitalismus zu überwinden, nicht notwendigerweise um die Überwindung des Kapitalismus selbst. Die radikaleren Teile der Bewegung hingegen sehen die Lösung der Umweltprobleme und eine weitere Existenz des Kapitalismus als unvereinbar an. Doch wie und durch wen so eine Überwindung geschehen soll oder kann, ist dann auch wieder wenig ausformuliert. Meistens hängt man sich am neuen Modewort des linken Reformismus – Transformation – an. Ob damit auch zentrale Konzepte wie gramscianische Hegemonietheorie oder Poulantzas Staatstheorie [3] übernommen werden, bleibt meistens unklar, die Vermutung liegt aber nahe.

Für uns ist an dieser Stelle zentral festzuhalten, dass es zwar durchaus so etwas wie eine Wachstumsideologie im Kapitalismus gibt, aber dass diese ein Ausdruck der ökonomischen Verhältnisse und Zwänge des Kapitalismus selbst ist. Der Kapitalismus ist eine Gesellschaft basierend auf Privateigentum an Produktionsmitteln, Konkurrenz auf einem mehr oder weniger freien Markt und der Produktion für eben diesen Markt in Form von Waren. Unternehmenswachstum (was nichts anderes ist als Anhäufung bzw. Akkumulation von Kapital) ist ein essentieller Bestandteil der kapitalistischen Ökonomie. Wenn ein Unternehmen aufhört zu wachsen und seine Konkurrenz am Markt aber weiterhin gute Wachstumsraten zu verzeichnen hat, dann wird es im Wettbewerb verlieren. Wachstum ist deshalb ein essentieller Bestandteil des Kapitalismus, es erwächst aus dessen ökonomischen Prinzipien und nicht aus irgendwelchen falschen Denkweisen oder Paradigmen.

Postwachstumsgesellschaft

Erklärtes Ziel der Degrowth-Bewegung ist der Aufbau einer Postwachstumsgesellschaft als Alternative zu unserem aktuellen Wirtschaftssystem. Über die Frage, wie weitreichend diese Transformation sein muss – also ob es reicht, lenkend in die Marktwirtschaft einzugreifen und das Denken der Menschen zu ändern, oder ob das ganze kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem auf dem Misthaufen der Geschichte landen soll – besteht auch in der Degrowth-Bewegung keine Einigkeit.

Auch die zentrale Frage, was die Grundpfeiler einer Postwachstumsgesellschaft sein sollen, bleiben zumeist sehr vage beantwortet. Echte Demokratie, Nachhaltigkeit, gesundes Schrumpfen und viele andere werden als zentrale Werte einer Postwachstumsgesellschaft proklamiert, doch WIE eine Gesellschaft organisiert sein kann, die solche Werte umsetzen kann, wird nicht beantwortet. Solange keine Brücke geschlagen wird zwischen den materiellen Grundlagen sowie der gesellschaftlichen Organisation von Politik und Ökonomie auf der einen Seite und den angestrebten Werten auf der anderen Seite, bleibt Degrowth utopistisches Wunschdenken. Wie bei den utopischen Sozialist:innen des 19. Jahrhunderts fehlt die Verbindung zwischen Ideen für eine neue Gesellschaft, den materiellen Verhältnissen der heutigen Gesellschaft und der sich daraus ergebenden Möglichkeiten dafür, wie eine neue Gesellschaft organisiert sein kann. Die Fragen, wie produziert wird und wer darüber bestimmt, welche Eigentumsverhältnisse und welche Organisation von Produktion und Verteilung es braucht, wird außerhalb eines kleines Teils der Degrowth-Bewegung mit explizit sozialistischem Anspruch nicht beantwortet.

Unserer Ansicht nach liegt der Schlüssel zur Überwindung des Kapitalismus in den widersprüchlichen Interessen der Klassengesellschaft. Um Waren zu produzieren und Gewinne zu realisieren, benötigt der Kapitalismus eine globale Klasse von Arbeiter:innen. Diese Arbeiter:innenklasse (darunter fallen überausgebeutete Näher:innen in Bangladesch genauso wie IT-Programmierer:innen mit Studienabschluss in Japan) hat die ökonomische Macht und das grundsätzliche Interesse, dieses System zu überwinden und die Grundlage für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung (sowohl von Mensch als auch Natur) und Unterdrückung zu legen.

Wachstumskritik und Kapitalismus

Wie weiter oben schon erwähnt, ist unserer Meinung nach ein grüner Kapitalismus nicht möglich. Solange das Motiv der Wirtschaft die Maximierung von Profit ist und die Entscheidungsmacht bei einzelnen Unternehmer:innen, Aufsichtsräten und CEOs liegt, wird der Kapitalismus weiterhin Mensch und Natur ausbeuten. Sie tun das nicht aus Böswilligkeit, Gier oder Unwissenheit, sondern wegen der Gesetze des Marktes, der Konkurrenz und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit zur Profitmaximierung. Doch die Kritik der Degrowth-Bewegung richtet sich ja nicht gegen kapitalistisches Wachstum, sondern gegen jegliches Wirtschaftswachstum an sich.

Grundsätzlich sehen wir auch die Möglichkeit und Notwendigkeit, wesentliche Teile der kapitalistischen Ökonomie zu schrumpfen bzw. gänzlich abzuschaffen. In einer globalen, nachkapitalistischen Gesellschaft gäbe es keine Notwendigkeit mehr für eine Rüstungsindustrie und die Produktion von Luxusgütern; nahezu die gesamte Finanzbranche könnte ersatzlos gestrichen werden; weite Teile der Wirtschaft, die heute auf Werbung und Marketing ausgerichtet sind, würden entfallen; gesellschaftliche Ausgaben für Repression, Justiz und Strafvollzug würden massiv abnehmen; schnell verschleißende Billigproduktion könnte durch qualitativ hochwertige und langlebige Erzeugnisse ersetzt werden. Darüber hinaus gibt es bestimmt noch viele andere Branchen, in denen aktuell unnötig Ressourcen und Güter verschwendet werden.

Gleichzeitig gibt es Branchen, die massiv ausgebaut werden müssten. Große Teile der Welt brauchen einen massiven Ausbau der Infrastruktur; Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssysteme werden massiv ausgeweitet werden müssen. Und viele Probleme, die der Kapitalismus verursacht hat, erfordern auch nach Überwindung des Kapitalismus massive gesellschaftliche Ressourcen (z.B. wird die globale Verschmutzung insbesondere durch Mikroplastik nicht verschwinden, nur weil der Kapitalismus aufhört zu existieren).

Insgesamt ist es deshalb allein aus dieser Perspektive unklar, ob die vielfältigen Probleme des Kapitalismus eine schrumpfende oder eine wachsende Wirtschaft erfordern. Von Degrowth-Seite wird der kapitalistische Zwang zum Wachstum mit dem Zwang zum Schrumpfen beantwortet, der Fokus liegt damit nicht direkt, sondern nur indirekt auf Nachhaltigkeit und Ökologie. Statt sich anzusehen, wie die Wirtschaft demokratisch gestaltet und geplant werden kann, um die sozialen und ökologischen Probleme des Kapitalismus zu lösen, wird ein negatives Vorzeichen vor die ökonomischen Gesetze des Kapitalismus gesetzt. Nicht gesehen wird, dass mit einer Überwindung des Kapitalismus auch die blinden Kräfte des Marktes überwunden werden können.

Gleichzeitig ist dabei auch eine grundlegende Betrachtung dessen wesentlich, wie menschliche Arbeit und Produktion funktionieren. Alles, was heute an Infrastruktur, Wissen, Produktionsstätten, etc. existiert, ist das angehäufte Produkt von Jahrtausenden menschlicher Arbeit. Weil Menschen nicht ausschließlich alles, was produziert wurde, auch wieder unmittelbar konsumierten, konnte eine Entwicklung in Gang gesetzt werden, die es erlaubte, die Produktivkräfte massiv auszubauen. Es muss nicht mehr wie früher der Großteil der Gesellschaft an der unmittelbaren Produktion von Lebensmitteln beschäftigt sein. Die Gesellschaft, in der wir heute leben, lässt zwar hunderte Millionen Menschen in Armut, Hunger und ohne sauberes Trinkwasser leben, doch die materiellen Möglichkeiten sind geschaffen worden für ein gutes Leben für mittlerweile 8 Milliarden Menschen (wenn es nicht so etwas wie das Privateigentum an Produktionsmitteln gäbe).

Wenn wir deshalb zukünftigen Generationen ein fortschreitendes Maß an individueller und kollektiver Freiheit geben wollen, die Arbeitszeit nicht bei X Stunden pro Tag einfrieren, sondern nach und nach weiter reduzieren möchten und der Menschheit als Ganzes insgesamt mehr kollektive und individuelle Möglichkeiten geben wollen, dann braucht es eine Anhäufung von menschlicher Arbeit. Das ist natürlich nicht beschränkt auf unmittelbar materielle Güter (z.B. automatisierte Produktionsstätten und Supercomputer), sondern hat genauso eine wissenschaftlich-technisch-strategische Komponente. Beispielsweise hat die Frage, wie eine Gesellschaft ihr Gesundheitssystem so aufbauen kann, sodass Vorsorge und Prävention in einem optimalen Verhältnis zu Behandlung und Therapie stehen, einen bedeutenden Einfluss auf die Möglichkeit, die Produktivkräfte massiv zu steigern, ohne gleichzeitig unmittelbar auf abzubauende oder zu verheizende Ressourcen angewiesen zu sein. Eine sozialistische Akkumulation[4] müsste keineswegs nur eine quantitative Anhäufung von immer mehr und mehr materiellen Gütern, Maschinen und Co. bedeuteten, sondern kann auch eine qualitative Weiterentwicklung der Produktivkräfte bedeuten (wie zum Beispiel die Ersetzung von Glühbirnen durch LEDs; den massiven Ausbau des globalen Bildungssystems oder die alleine durch Abschaffung von Patenten ausgehenden Möglichkeiten von kollektiver Arbeit).

Unbegrenztes Wachstum und begrenzte Ressourcen?

Von Vertreter:innen der Degrowth-Bewegung wird gerne eines der ursprünglichen Probleme angeführt, das den Club of Rome dazu brachte „Die Grenzen des Wachstums“ herauszugeben. Wie funktioniert exponentielles Wirtschaftswachstum in einer Welt mit begrenzten Ressourcen. Und in der kapitalistischen Produktionsweise ist das eine mehr als berechtigte Frage, sind hier doch die Möglichkeiten rational in die Wirtschaft einzugreifen stark limitiert. Selbst dort, wo eingegriffen wird (z.B. durch eine CO2-Steuer, Subventionen für PV-Anlagen oder Förderungen für den öffentlichen Verkehr), passiert das in den meisten Fällen vermittelt über Marktanreize. Die Entscheidungen, was und wie produziert wird, werden von einer kleinen Klasse an Kapitalist:innen mit Hinblick auf Wettbewerb und Profitlogik getroffen.

Dabei muss eine Steigerung von Effizienz und Produktivität nicht unbedingt aus einem immer größeren Verbrauch von materiellen Ressourcen erwachsen. Zum Beispiel die hat die Einführung von Schrift vor vielen tausend Jahren unmittelbar sehr wenig materielle Ressourcen erfordert (abgesehen von Tontafeln und Papyrusrollen), doch die dadurch ermöglichten Fortschritte in Produktivität und Wissen(saustausch) waren enorm. Gleichzeitig gibt es rein technisch gesehen schon recht viele Möglichkeiten zum Recyceln im großen Stil. Doch solange die Entscheidung, ob die Förderung von Kobalt durch Kinderarbeit im Kongo oder durch das Recyceln von alten Batterien passiert, vom Preis der Produktion abhängt, wird sich an der Ausbeutung von Mensch und Natur wenig ändern. Wenn diese Entscheidung aber demokratisch von der Gesellschaft und nicht von der Klasse der Besitzenden getroffen wird, kann diese sich auch dafür entscheiden nachhaltig zu handeln, auch wenn das unmittelbaren Profitbetrachtungen im Weg stehen würde.

Demokratische Planwirtschaft

Die heutigen massiven Probleme, vor denen die menschliche Zivilisation steht, sind vielfältig. Nicht nur der in den Medien extrem präsente Klimawandel ist ein Problem für unsere Gesellschaft. In den letzten Jahrzehnten ist auch der globale Stoffwechsel massiv in Mitleidenschaft gezogen worden. Stickstoff- und Phosphorkreislauf sind hoch gefährdet, die Übernutzung von Boden und die Vernichtung von Biodiversität erreichen mittlerweile gefährliche Ausmaße. Insgesamt bedroht der Kapitalismus unmittelbar die Zukunft unseres Planeten.

Die Lösung dafür besteht, wie auch schon weiter oben erwähnt, nicht in einer Ökologisierung des Kapitalismus (nach Bild eines Green New Deal), in mehr Marktanreizen für grünere Produktion (etwa CO2-Steuer oder Emissionszertifikatshandel), sondern letztlich müssen wir als Gesellschaft direkt darin eingreifen können, was wie produziert wird. In einem System, in dem diese Entscheidungen privatisiert sind und das Recht auf Eigentum an Produktionsmitteln demokratische Entscheidungen darüber verhindert, gewinnt Profitorientierung immer über Nachhaltigkeit.

Stattdessen braucht es eine Organisation der Wirtschaft, in der demokratisch und rational entschieden werden kann was wie produziert wird – auch wenn das nicht unmittelbare Profite produziert. Es braucht außerdem eine globale Abstimmung und Arbeitsteilung über Produktion und Verteilung. Damit kann auch gewährleistet werden, dass die aufgrund imperialistischer Interessen gezielt unterentwickelt gehaltenen Länder des globalen Südens auf dasselbe Level von Produktivität und kollektiven Wohlstand kommen können. Für all das ist es sekundär, ob die Wirtschaft wächst oder schrumpft. Das zentrale Element ist die schnellstmögliche Reduktion von Treibhausgasemissionen, die Umstellung auf eine nachhaltige Landwirtschaft und so gut wie möglich die Lösung der ökologischen Probleme des Kapitalismus. Entscheidungen können nach modernsten wissenschaftlichen Erkenntnissen rational von der Mehrheit der Gesellschaft getroffen werden. All das bedeutet nicht, dass das auch automatisch alles von allein passieren wird, aber eine demokratische Planwirtschaft ist die Voraussetzung dafür, dass solche Entscheidungen überhaupt erst getroffen werden können.

Um zu einer demokratischen Planwirtschaft zu gelangen, die sich bewusst und deutlich von den bürokratischen Planwirtschaften des Stalinismus abgrenzen muss, braucht es die Vergesellschaftung von Produktion und Verteilung. Die Arbeiter:innenklasse muss die Macht in den Betrieben übernehmen und sie in gesellschaftliches Eigentum überführen. Auf verallgemeinerter Ebene (und nicht nur in isolierten Hochburgen inmitten des kapitalistischen Marktes) kann das nur durch die Übernahme der Staatsmacht durch die Arbeiter:innenklasse gelingen. Der bürgerliche Staat kann aber nicht übernommen oder transformiert werden, er muss zerschlagen und durch eigene Organe der proletarischen Gegenmacht (Räte) ersetzt werden. So ein Programm mag sich sehr entfernt anhören, doch eine langsame Transformation des Kapitalismus in einer sozial-ökologischen Wende ist nicht nur noch viel weiter weg, sondern letztlich auch eine gefährliche Illusion.

Endnoten

[1] Institut d’Etudes. Economiques et Sociales pour la Décroissance Soutenable, http://www.decroissance.org/

[2] https://wien.gbw.at/artikelansicht/beitrag/gruenes-wachstum-im-wandel/

[3] Für eine ausführliche Kritik am Konzept der Transformationstheorie siehe „Modell Oktoberrevolution – Aktualität und Diskussion der bolschewistischen Revolutionskonzeption“ in Revolutionärer Marxismus Nr. 49

[4] Sie hierzu auch Die Neue Ökonomik von Jewgeni Preobraschenski




Droht eine neue Bankenkrise?

Markus Lehner, Neue Internationale 272, April 2023

Am 8. März verkündete die Silicon Valley Bank (SVB), dass sie 2 Milliarden US-Dollar über eine Kapitalerhöhung einholen wolle, um Verluste in ihren Vermögenswerten auszugleichen. Nachdem dadurch bekannt wurde, dass die Bank mehr als die Hälfte ihres Vermögens in langfristige Staatsanleihen angelegt hatte, die massiv an Wert verloren haben, brach unter den Kontoinhaber:innen Panik aus. Die 16.-größte US-Bank, die vor allem für viele Kund:innen aus dem Technologiebereich eine wichtige Dienstleisterin war, verzeichnete massiv Einlagen oberhalb der staatlichen Garantie von 250.000 US-Dollar. Jede/r davon wollte so schnell wie möglich ihre/seine Werte sichern. Innerhalb von nur 40 Stunden verschwanden so 42 Milliarden US-Dollar aus den Büchern der Bank – eine Hightechvariante des „Bankenruns“ über Twitter und Onlinetransfers, der innerhalb von wenigen Stunden ein Viertel der Bilanzsumme der Bank in Luft auflöste. Schon am 10. März erklärte die US-Finanzaufsicht die Bank für zahlungsunfähig.

Ausbreitung der Bankenkrise

Anfänglich wirkte dies wie ein lokales Ereignis, das sich auf Managementfehler einer einzelnen Bank zurückführen ließe. Doch schnell wurde klar, dass auch andere Banken in den USA zu schwanken begannen. Insbesondere solche mit Transfergeschäften in Kryptowährungen gerieten ebenso in Schieflage wie einige mittelgroße, die ähnliche Probleme mit ihren Vermögenswerten hatten wie die SVB, z. B. die First Republic. Dies schlug sich schnell in weiterem Kapitalabfluss und sinkenden Börsenkursen für Bankaktien nieder. Innerhalb nur einer Woche nach der SVB-Pleite verloren die US-Banken 229 Milliarden US-Dollar an Marktwert (– 17 %). Immer noch verkündeten die politischen Führungen in den USA und der EU, dass es sich um nichts mit 2008 Vergleichbares handle, dass die Regularien, die nach 2008 eingeführt wurden, wirken würden und sich alles schnell wieder entspannen werde.

Dann kamen schlechte Nachrichten aus dem Paradeplatz in Zürich, dem Sitz einer der beiden Großbanken der Schweiz, der Credit Suisse (CS). Angesichts ihrer nicht gerade rosigen Ertragslage (4 Verlustquartale in Folge) suchte auch sie angesichts der Erschütterungen des Bankensektors, sich durch eine Kapitalerhöhung abzusichern. Am 15. März wurde jedoch bekannt, dass einer der Hauptinvestoren in die Bank aus Saudi-Arabien nicht bereit war, ihr beizustehen. Prompt wurde Kapital in großen Mengen von der Bank abgezogen. Auch die Aussagen der Regulator:innen, der Bank beizustehen, bzw. die Bereitstellung eines 54 Milliarden US-Dollar-Kredits durch die Zentralbank führten nicht zu einer Beruhigung der Lage. Eine drohende Pleite der CS hätte nicht mehr wie bei der SVB durch die Finanzbehörden eingedämmt werden können.

Die CS gehört zu den 30 globalen Großbanken, die als „too big to fail“ eingestuft werden – die also mit so vielen Firmen und anderen Großbanken durch wechselseitige Verbindlichkeiten verbunden ist, dass es zu einem Systemcrash wie 2008 nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers gekommen wäre. Innerhalb von nur 4 Tagen wurde daher durch Bundesregierung und Schweizerische Nationalbank eine Notübernahme durch die andere Schweizer Großbank, die UBS, vermittelt. Eine Fusion, die sonst Jahre an Vorbereitung erfordert, wurde in wenigen Tagen so durchgeführt, dass für einen Zusammenbruch der CS keine Zeit mehr da war und die Anleger:innen erstmal beruhigt werden konnten. Die Verschiebung des Problems auf die UBS, die jetzt wider Willen mit den gigantischen Risiken der CS zurechtkommen muss, zeigt, welche Nervosität an den Schaltzentralen des großen Kapitals vor einer erneuten Erschütterung der Weltwirtschaft wie 2008 herrschte – und das angesichts der schon sowieso angespannten Weltlage nach der Pandemiekrise, dem Ukrainekrieg, den wachsenden Spannungen mit China, der fortdauernden Inflation und den Folgen der Klimakrise bzw. der damit verbundenen Energiekrise.

Von den Regierungen und Zentralbanken wird immer wieder betont, wie anders die Situation sei als 2008. Damals war die Krise durch den Totalverlust von in Wertpapiere verbrieften privaten Schulden und die mangelnde Eigenkapitalabsicherung insbesondere bei Investmentbanken zustande gekommen. Seitdem habe man Regulierungen eingeführt (Basel III), die solche Produkte und solch riskantes Kapital/Risiko-Verhältnis im Bankengeschäft unterbinden würden. Die jetzige Krise sei durch einzelne Verfehlungen, Rückschritte bei den Regulierungen etwa unter Trump bzw. durch ein zu spätes Reagieren auf die Zinswende der Zentralbanken zustande gekommen. Alles Faktoren, die durch entsprechende Maßnahmen der Finanzbehörden und der Zentralbanken rasch in den Griff zu bekommen seien.

Gründe für die gegenwärtige Krise

Bekanntlich hatte Marx in seiner Analyse der Finanzkrisen 1847 und 1857 festgestellt, dass jede solcher Krisen immer ihre ganz eigene Geschichte und Erscheinungsform hat, die immer ganz anders auszufallen scheint – um letztlich doch auf dieselben Probleme in der realen Akkumulation des Kapitals zurückzuführen zu sein. Gehen wir also zunächst auf die Gründe für die gegenwärtige Krise in ihrer unmittelbaren Form ein, um dann auf die Zusammenhänge mit der allgemeinen Krisentendenz zu kommen.

Nach der Finanzkrise 2008 betrieben die Zentralbanken eine Politik des „billigen Geldes“ (QE, Quantitative Easing) – sowohl durch niedrige Zinsen, Aufkäufe von Anleihen und anderen Wertpapieren als auch durch Expansion von niedrig verzinsten Staatsanleihen. Banken konnten dadurch ihr stockendes Kreditgeschäft weder in Gang bringen und somit das Wachstum der westlichen Wirtschaften, wenn auch auf historisch sehr niedrigem Niveau, über das 2010er Jahrzehnt aufrechterhalten. Im Allgemeinen stand damit den Einlagen und dem Kapital einer Bank gegenüber ein Mix aus „superstabilen“ Staatsanleihen, Immobilienkrediten (abgesichert durch wieder steigende Immobilienpreise) und den Krediten in anderen Bereichen. Die zum Teil riskanten Kredite (z. B. in die „Zombiefirmen“) schienen mehr als abgesichert durch den höheren Anteil an „sicheren Vermögenswerten“.

Mit der Coronakrise, der Lieferketten- und Kapazitätsausfälle, der nochmals gestiegenen Schuldenprobleme und der  wieder enorm zunehmenden Inflation kam es seit 2022 zur Abkehr von QE und einer Politik des „Quantitative Tightening“ (QT). Die Anleihekäufe wurden gestoppt, die Zinsen für Zentralbankkredite schrittweise erhöht und die Ausgabe von Staatsanleihen wieder mit Zinserträgen verbunden. In der Folge steigen Kreditkosten wieder, Immobilienpreise beginnen zu sinken und Anleihekurse, insbesondere für langfristige Staatsanleihen fallen (der „Wert“ eines Anleihepapiers berechnet sich aus der Abzinsung des Rückzahlungsbetrags zum jeweils gegenwärtigen Zinssatz). Alle diese Faktoren bedeuten, dass Vermögenswerte der Banken eigentlich neu berechnet werden müssten – bei den Anleihewerten ganz offensichtlich (teilweise auf 20 % gefallen), ebenso aufgrund der höheren Ausfallwahrscheinlichkeit von Firmenkrediten angesichts erhöhter Insolvenzgefahren und von Immobilienkrediten aufgrund der sinkenden Erträge aus dem Immobiliengeschäft.

Tatsächlich verhielt sich die Mehrheit der Banken aber so, als ob sie weiterhin in einem Umfeld wachsender Liquidität arbeiten würden und setzten ihre Anlagepolitik fast unverändert fort – mit ein Grund, warum die Wende zu QT wenig Wirkung auf das Inflationsgeschehen hatte. Um die Dimension des Problems aufzuzeigen, hier die konkreten Zahlen zur Bilanz des US-Bankensektors:

Den Einlagen der US-Bankkund:innen von 19 Billionen US-Dollar und dem Eigenkapital von 2 Billionen stehen als Vermögenswerte (nach nomineller Berechnung) 3,4 Billionen in Cash, 6 Billionen in Staatsanleihen und Immobilienkrediten sowie 11 Billionen in anderen Krediten gegenüber (noch ergänzt um etwa 3 Billionen in anderen Vermögenswerten bzw. Verbindlichkeiten auf beiden Seiten). Allein der Wertverlust der Anleihepapiere bedeutet, dass der Wert derselben bei Verkauf um 620 Milliarden niedriger ist als ihr nomineller – was bei einem Bankenrun, der die Cashreserven übersteigt, durch Notverkäufe von Anleihepapieren sofort wirksam wird. Eine Studie von Finanzwissenschaftler:innen der University of Southern California (die The Economist vom 18.3. zitiert) kommt zu dem Schluss, dass die Bewertung der Vermögenswerte der US-Banken tatsächlich um 2 Billionen nach unten berichtigt werden muss. D. h., im Fall eines Bankenruns würde die Eigenkapitaldecke der US-Banken nach Auflösung der Vermögenswerte praktisch ausgelöscht werden. Im Unterschied zum Tenor der allgemeinen Beruhigung stellt The Economist daher zu Recht fest: „time to fix the system – again“. Der SVB-Crash hat daher offensichtlich gemacht, dass das Geschäftsmodell der Banken aus der QE-Zeit heute zu einer Berichtigung ihrer Vermögenswerte führen muss, die unmittelbar eine Überprüfung der bestehenden Schulden wie auch der Risiken zukünftiger Kreditvergaben verlangt. Mit Verspätung setzt also auch bei den Banken die „Verknappung des Geldes“ ein. Tatsächlich erinnert die Krise 2023 daher eher an diejenige, die in der ersten Hälfte der 1980er Jahre nach der radikalen Zinswende der Reaganregierung („Volckerschock“) stattfand.

Falsche Fixierung und ihre Ursachen

Es wäre auch eine falsche Fixierung, die Schwere der Krise an den Ereignissen von 2008 festzumachen. Die Grundlage der wiederholten Bankenkrisen im Kapitalismus findet sich in der von Marx analysierten Verdoppelung der Ware in Ware und Geld und damit der Notwendigkeit, dass sich ihre Einheit immer wieder in der Metamorphose des Geld-Ware-Kreislaufes herstellen muss. Damit einher geht die Loslösung des realen Werts, der in tatsächlichen Arbeitsprozessen begründet ist, von der Wertform, den verschiedenen Preisausdrücken von allem Möglichen, das die Form einer Ware annehmen kann.

Die Verselbstständigung der Wertform, die im zinstragenden Kapital, im „Kapital als Kapital“ seinen Höhepunkt erreicht, ist jedoch immer rückgekoppelt an die Realisierung des realen Werts im Ware-Geldkreislauf. Während sich die Tendenz zur Ausgleichung der Profitrate nur als langfristiger Durchschnitt, aber kaum je aktuell konkret realisiert, erscheinen Zinsen, Kurse, Preise auf Terminbörsen, etc. als täglich/stündlich sich darstellende „konkrete“ Werte, um die sich das Wirtschaftsgeschehen zu drehen scheint – in Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse!

Nachdem sich die Übereinstimmung von Wert und Wertform nur zufällig, im Durchschnitt und über mehr oder weniger lange Zeiträume ergibt, wird das Gleichgewicht der (Kapital-)Märkte immer wieder in unvorhersehbarer (zufälliger, katastrophischer) Weise durchbrochen, um eine Berichtigung der Wert/Wertform-Widersprüche auszulösen. Diese abstrakte Tendenz zur Finanzmarktkrise bekommt ihre allgemeine Form durch folgenden Zusammenhang: Grundlegend wird die Dynamik der Kapitalakkumulation durch den tendenziellen Fall der Durchschnittsprofitrate und den damit verbundenen Zwang zur ständigen Ausdehnung der Kapitalverwertung bestimmt – eine Bewegung die langfristig zu Überakkumulation (Überkapazitäten, einbrechender Nachfrage, Investitionsrückgang … führt. Dieser Tendenz wiederum wirkt das scheinbar davon unabhängige beständige Wachstum aller möglichen Formen des zinstragenden Kapitals entgegen, die weiterhin Verwertung des Kapitals zu ermöglichen scheinen, wenn die realen Profite dies auch gar nicht mehr tragen können. Wertform und Wert spiegeln vor, sich vollständig zu entkoppeln, und die Akkumulation kann fortgesetzt werden, solange sich noch „Kreditgeber:innen“ finden.

Sobald aber an wichtigen Stellen ein:e Akteur:in den „Kredit“ verspielt und sich dies dominoartig auf andere Bereiche ausdehnt, beginnt das Kartenhaus einzustürzen. Während es 2008 das Sinken von Immobilienpreisen und damit einhergehend der Zusammenbruch der Subprimewertpapiere war, so ist es paradoxer Weise 2023 der Wertverlust der scheinbar so sicheren Staatsanleihepapiere, der zu einer Wertberichtigung der Bankvermögen führte. Was auch immer der Anlass einer Finanzkrise ist – es geht immer darum, dass das Hinauszögern einer in der Realwirtschaft begründeten Krise durch die Finanzmärkte letztlich zu einer Berichtigung führen muss, um dann umgekehrt zum Verstärker der realwirtschaftlichen Krise zu werden.

Welche Auswirkungen wird die Bankenkrise zeitigen?

Zunächst einmal müssen hierzu die unmittelbaren Maßnahmen betrachtet werden, mit denen Regierungen und Zentralbanken die Bankenkrise eingedämmt haben. Im Fall der SVB und vergleichbarer Banken hat die US-Zentralbank zunächst die Einlagensicherung über die üblichen 250.000 US-Dollar erhöht – die von der SVB verspekulierten Gelder wurden also über Steuerzahlungen den Einlegern:innen erstattet. Darüber hinaus hat die US-Zentralbank für die betroffenen Banken ein Programm eingerichtet (Bank Term Funding Program), über das sie den Wertverlust der Staatsanleihen bis zum Nominalwert durch einen Kredit ersetzen können. Letzteres ist auf 1 Jahr begrenzt und soll somit den US-Banken die Möglichkeit geben, sich in einer Übergangsfrist an die Hochzinsumgebung anzupassen. Trotzdem bedeutet dies, dass diese Banken zwar ihr Vermögen berichtigen können, aber zusätzliche Zinslasten bekommen, die insgesamt auf ihre Fähigkeit zu Kreditvergaben wirken werden. Diese Maßnahme wird zwar zur Rettung vieler Banken führen – aber zur Verstärkung der Probleme der sowieso schon schwierigen Finanzierung von Neuinvestitionen beitragen (höhere Kreditzinsen, restriktivere Kreditbedingungen). Dies wird zum schon in den letzten Quartalen feststellbaren deutlichen Rückgang in der Investitionstätigkeit in der US-Privatwirtschaft nochmals hinzukommen. In der EU und in UK sind ähnliche Programme zu erwarten und werden daher auch dort die Stagnationstendenz verschärfen.

Die Maßnahmen in Verbindung mit der CS-Krise waren teilweise noch radikaler. Bei der Übernahme durch die UBS wurde nicht nur die CS weit unter Marktwert verscherbelt (um 3,2 Milliarden US-Dollar Kaufpreis für eine Bank, die noch zur letzten Finanzkrise über 100 Milliarden Marktwert auswies), es wurden auch hohe Staatsgarantien zur Risikoabsicherung bereitgestellt. Für die unmittelbar zu befürchtenden Ausfälle wurden fast 10 Milliarden von der Schweizer Regierung versprochen und für längerfristige Risiken weitere 100 Milliarden. Während hier also die Schweizer Steuerzahler:innen zur Kasse gebeten werden, wurde immerhin auch den Investor:innen in die CS etwas abverlangt: die Tier-1-Bonds (spezielle Form der Wandelanleihen) der CS wurden nicht mit dem Eigenkapital in die UBS überführt, so dass hier einige Premiuminvestor:innen (z. B. aus Saudi-Arabien) zusammen ungefähr 17 Milliarden verloren haben. Insgesamt ist mit der UBS+ aber eine Monsterbank entstanden, deren Bilanzsumme etwa doppelt so groß ist wie das Bruttonationalprodukt der Schweiz. Sollte also die UBS scheitern (wie schon mal 2008), könnte die „Rettung der globalen Märkte“ wohl nicht mehr von der Schweiz allein gestemmt werden. Auch wenn der Zusammenbruch einer Großbank damit erst mal verhindert wurde, wird die UBS schwer an der Abarbeitung der Probleme zu leiden haben und mit den Herkulesaufgaben einer solchen Großfusion (z. B. in der ganzen IT-Infrastruktur) noch lange beschäftigt sein. Jedenfalls ist mit der CS eine der wichtigen Investitionsbanken für Restrukturierungs- und Großinvestitionsvorhaben in Europa und den USA weggefallen bzw. nur teilweise durch die UBS+ ersetzt worden. Die CS-Krisenbewältigung verschärft damit nicht nur die Verschuldungsprobleme, sondern wird ebenfalls negative Folgen auf die Finanzierung von Investitionen haben.

Wie auch immer es mit der Bankenkrise weitergeht (nicht abschätzbar sind noch die Risiken im sogenannten Schattenbankensektor), jedenfalls wird die Krisenbewältigung die sowieso schon bestehenden Tendenzen zur Stagnation verstärken. Auch wenn eine synchronisierte Rezession in der EU und den USA dieses Jahr ausbleiben mag, so sind Wachstumsraten unter ein Prozent für die Kapitalverwertung katastrophal. Mit der Bankenkrise wird zur schwachen Investitionsnachfrage jetzt auch eine Welle von Insolvenzen folgen, die aus „Risikoberichtigungen“ und „Abschreibungen“ im Rahmen der Bankenstabilisierung resultieren. Mit der hartnäckigen Inflation um 5 – 10 % kombiniert sich diese Entwicklung zu einer chronischen Stagflation. Sinkende Reallohneinkommen, Austeritätsprogramme, drohender Arbeitsplatzverlust bei Pleiteunternehmen usw. werden auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Masse der Lohnabhängigen immer schlimmer einwirken – und zu einer Verstärkung der Abwehrkämpfe führen müssen!

Was tun gegen die Bankenkrise?

Neoliberale Kampfblätter wie The Economist oder die Financial Times streiten durchaus über den richtigen Umgang mit der erneuten Bankenkrise. Letztere befürchtet durch die neuerlichen Rettungsmaßnahmen einen „moral hazard“ (moralisches Risiko), eine Bestärkung von Fehlverhalten auf den Finanzmärkten und tendiert dazu, dass man der Krise endlich freien Lauf lassen müsse, um die „schlechten“ Finanzakteur:innen aus dem Markt zu drängen. The Economist neigt eher zum Vertrauen in die „Regulierer:innen“ und meint, dass man Extreme wie die SVB oder CS zwar tatsächlich „bestrafen“ muss, aber die Auswirkungen dann durch das Wirken der Regulierer:innen eingedämmt werden müssen. Dabei wird behauptet, dass dies von Krise zu Krise immer besser gelernt wird und das System so auch diesmal wieder gestärkt aus den Turbulenzen herauskommen würde. Liberale Ökonom:innen wie z. B. Joseph E. Stiglitz sehen dagegen das Problem, dass bestimmte Finanzmarktakteur:innen jede Regulierung umgehen würden und immer wieder das Gleichgewicht des Gesamtsystems ins Wanken bringen. Er fordert daher weitergehende „wissenschaftliche“ Kontrolle über Bankengeschäft und ihr Risikomanagement, wobei z. B. die Fehler bei der Bewertung der gegenwärtigen Bankvermögen in den USA vermieden werden hätten können.

Offensichtlich gehen alle diese Ansätze insofern in die Irre, als sie das Problem an der „Irrationalität“ einzelner Finanzakteur:innen und dem Mehr oder Weniger der Regulierung von Finanzmärkten festmachen. Tatsächlich liegt der Ursprung der Krise aber gar nicht in den Finanzmärkten. Diese sind nur ein Element und Symptom der Gesamtkrise der Kapitalverwertung und können auch nur dort in den Griff bekommen werden. Eine linke Antwort darauf gibt z. B. Michael Roberts in seinem Blogbeitrag „Bank Busts and Regulation“ (21.3.), wo  er die Frage der Verstaatlichung des Bankensektors konkret aufwirft. Er entwickelt dabei ein Modell der „demokratischen Kontrolle“ der Banken und ihrer Finanzierungsgeschäfte sowie ihrer Einbettung in einen nationalen ökonomischen Entwicklungsplan.

So sehr die Bankenverstaatlichung natürlich im Zentrum eines Aktionsprogramms im Rahmen der kapitalistischen Gesamtkrise steht, so sehr kann diese Forderung nicht isoliert von der Frage des Gesamtkampfes gegen die Krise aufgestellt werden. Ein staatliches Bankensystem im Rahmen einer „Selbstverwaltung“ führte z. B. im früheren Jugoslawien zu einer de facto wirtschaftlichen Diktatur der Republiksbanken, die über ihre Kreditvergabe letztlich alle Ebenen der betrieblichen Selbstverwaltung und „Demokratie“ aushebeln konnten – und erst recht zu einer Finanzkrise führten.

Die Arbeiter:innenkontrolle über einen staatlicher Bankensektor kann letztlich keinen Dauerzustand bilden, sondern nur einen Hebel auf dem Weg zur Überwindung des Kapitalismus selbst liefern. Dieser Kampf muss daher mit dem um Vergesellschaftung aller zentralen Produktionssektoren und für einen demokratisch bestimmten Plan entwickelt werden, in dessen Rahmen dann Banken reine Vermittlungsorgane für die gesellschaftliche Gesamtrechnung sind. Erst dann ist gewährleistet, dass die Verselbständigung der Wertform gegenüber den eigentlichen Gebrauchswert produzierenden Bereichen nicht wieder zu deren Diktatur über den Menschen wird und sich die Vermittlung von gesellschaftlichem Bedarf und produktiven Kapazitäten aus bewusster menschlicher Kooperation und Kommunikation herstellt. Eine solche, qualitativ andere Form der Vergesellschaftung erfordert eine Zerschlagung der alten Staatsmacht und die Errichtung einer rätedemokratischen neuen – kurz, eine proletarische Revolution.




Zur politischen Ökonomie der Reproduktionsarbeit

Aventina Holzer / Martin Suchanek, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

Die gegenwärtige Krise ist auch eine der sozialen Reproduktion. Die Angriffe auf das Gesundheitswesen, Erziehung, Bildung und Altersvorsorge und die damit verbundene Ausdehnung privater, nach wie vor allem von Frauen geleisteter privater Hausarbeit rücken auch ins Zentrum des Klassenkampfes. Beschäftige in den Krankenhäusern, Erzieher:innen und Lehrer:innen streiken, spielen eine größere, mitunter sogar eine Vorreiter:innenrolle im Klassenkampf. Millionen gehen gegen Angriffe auf die Renten auf die Straße. Die Frauen*streiks der letzten Jahre thematisieren die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Kein Wunder also, dass die Frage nach dem Verhältnis von Produktion und Reproduktion, von kapitalistischer Mehrwertproduktion und Reproduktionsarbeit auch wieder ins Zentrum theoretischer Diskussion und Theoriebildung gerückt ist. Im Folgenden wollen wir grundlegende Momente einer marxistischen Analyse darlegen.

Das Verhältnis von Produktion und Reproduktion wird vom radikalen wie auch sozialistischen Feminismus als wunder Punkt der Marx’schen Theorie angesehen. Marx und Engels hätten dazu allenfalls Ansätze geliefert, wären aber letztlich blind für die  Unterdrückung der Frauen sowie andere Unterdrückungsverhältnisse gewesen. Seit der zweiten Welle des Feminismus beschäftigen sich verschiedene Theoretiker:innen mit der Reproduktionssphäre und sie versuchen dabei, Alternativen aufzuzeigen, die Marx vernachlässigt hätte.

Feministische Kritiken

So bestimmen Mariarosa Dalla Costa und Selma James das Verhältnis der proletarischen Frau zum proletarischen Mann als Ausbeutungsverhältnis. Die unbezahlte Arbeit im Haushalt betrachten sie als produktive Arbeit, als Produktion von Mehrwert, womit sie auch ihre Forderung nach Lohn für Hausarbeit begründen.

An Rosa Luxemburgs Imperialismustheorie anknüpfend, betrachteten die Autorinnen der Bielefelder Schule (Maria Mies, Veronika Bennholdt-Thomsen und Claudia von Werlhof) Haus- und Subsistenzarbeit als fortdauerndes Äußeres der kapitalistischen Produktionsweise. Die Ausbeutung der Hausfrauen und Bäuerinnen wird für sie zur Voraussetzung für die Kapitalakkumulation selbst. Daher erscheinen nicht die Lohnarbeiter:innen, sondern die in diesen „Produktionsweisen“ Tätigen, die Opfer einer permanenten ursprünglichen Akkumulation, als das revolutionäre Subjekt. Bis heute fließt diese Vorstellung in die feministische Diskussion ein, z. B. bei Silvia Federici, die einen Teil ihrer theoretischen Grundlagen aus dieser Tradition, vor allem von Maria Mies, übernimmt.

Diese Konzeptionen blieben innerhalb der marxistisch orientierten Frauenforschung und selbst im sozialistischen Feminismus keineswegs unwidersprochen. So weisen z. B. Ursula Beer in „Geschlecht, Struktur, Geschichte“ oder Lise Vogel in „Marxismus und Frauenunterdrückung“ nach, dass viele der radikal- und sozialistisch feministischen Kritiken den Marx’schen Kategorien einen anderen Sinn unterschieben – und diesen dann kritisieren – oder überhaupt nicht erst versuchen, an der Kritik der politischen Ökonomie begrifflich anzuknüpfen.

Autor:innen wie Lise Vogel versuchen hingegen, eine „einheitliche Theorie“ der Produktion und Reproduktion zu entwickeln. Sie gehen dabei mit Marx davon aus, dass in der kapitalistischen Produktionsweise geschichtlich wie logisch die Produktion die Reproduktion bestimmen muss. Ihre Theorie scheitert dabei nicht am Bezug auf Marx, wohl aber an ihrer strukturalistischen Lesart des Marxismus und damit einhergehend an Zugeständnissen an die Vorstellung einer klassenübergreifenden Bewegung aller Frauen, der proletarischen, kleinbürgerlichen und auch bürgerlichen.

Die von Vogel mitbegründete Social Reproduction Theory (Theorie der sozialen Reproduktion) stellt heute einen wichtigen Begründungszusammenhang für den linken Flügel des Feminismus dar, wie z. B. die Autorinnen von „Feminismus der 99 %“ (Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya, Nancy Fraser). Im Vergleich zu Vogel leisten sie auf theoretischem Gebiet allerdings Rückschrittliches. Wie frühere Autor:innen werfen sie dem Marxismus vor, die Bedeutung der Reproduktion zu unterschätzen.

Ihm wird ein angeblich verkürzter Klassenbegriff unterschoben. Zugleich wird die Sphäre der Reproduktion (im Gegensatz zu Vogel) faktisch als eigene Produktionsweise begriffen, die als gleichwertig oder sogar übergeordnet zum Verhältnis Kapital – Arbeit aufgefasst wird. Wie schon bei früheren feministischen Kritiken fällt diese begrifflich oft sehr unpräzise und moralisierend aus (z. B. wenn es um die Bestimmung von notwendiger und Mehrarbeit oder produktiver und unproduktiver Arbeit geht).

In früheren Beiträgen in der Zeitschrift Fight und im Revolutionären Marxismus haben wir uns mit oben genanten Theorien beschäftigt. Im Folgenden wollen wir, an Marx anknüpfend, das Verhältnis von Produktion und Reproduktion analysieren, seine historische Entwicklung nachzeichnen und auf die aktuellen krisenhaften Tendenzen der Reproduktion eingehen.

1. Wert- und gebrauchswertseitige Vermittlung der Reproduktionsarbeit

Insbesondere in den Kapiteln über den Akkumulationsprozess im Kapital Band I verweist Marx darauf, dass in jeder Gesellschaftsformation Produktion und Reproduktion eng verzahnt sind, sie im Gesamtzusammenhang betrachtet werden müssen.

„Die Bedingungen der Produktion sind zugleich die Bedingungen der Reproduktion. Keine Gesellschaft kann fortwährend produzieren, d. h. reproduzieren, ohne fortwährend einen Teil ihrer Produkte in Produktionsmittel oder Elemente der Neuproduktion rückzuverwandeln. Unter sonst gleichbleibenden Umständen kann sie ihren Reichtum nur auf derselben Stufenleiter reproduzieren oder erhalten, indem sie die, während des Jahres z. B., verbrauchten Produktionsmittel, d. h. Arbeitsmittel, Rohmateriale und Hilfsstoffe, in natura durch ein gleiches Quantum neuer Exemplare ersetzt, welches von der jährlichen Produktenmasse abgeschieden und von neuem dem Produktionsprozeß einverleibt wird.“ (Marx, Das Kapital, Band I, MEW 23, S. 591)

Marx bestimmt hier einerseits grundlegende Bedingungen der Reproduktion, die für alle Gesellschaftsformationen gelten, nämlich dass Arbeit verrichtet werden muss, um Produktionsmittel (PM) zu erneuern und die Arbeitskraft (AK) wiederherzustellen. Wollen wir jedoch die jeweiligen Beziehungen zwischen Produktion und Reproduktion verstehen, reicht es nicht, bei dieser abstrakten, allgemeinen Vorstellung zu verbleiben, sondern es muss das Verhältnis betrachtet werden, das diese beiden Sphären in unterschiedlichen Gesellschaftsformationen annehmen. Marx betrachtet Reproduktion dabei von zwei Seiten:

a) Reproduktion des Kapitals (Kapitalkreislauf)

Alle Bedingungen der Produktion (PM und AK) müssen als Waren gekauft werden.

Im Produktionsprozess P werden sie genutzt, um neue Ware (W‘) herzustellen. Dabei übertragen die PM einen Wertanteil an das Produkt, die Arbeitskraft konsumiert die PM, indem es sie in Bewegung setzt und umformt. Sie verrichtet Arbeit und überträgt dabei nicht nur Neuwert auf das Produkt, das dem Wert der Ware AK entspricht, sondern zusätzlichen Wert – Mehrwert –, den sich der/die Kapitalist:in aneignet. Die AK produziert und reproduziert also im Akkumulationsprozesses das Kapital.

In der von Marx zuerst betrachteten einfachen Reproduktion eignet sich der/die Kapitalist:in den Mehrwert zur Gänze an und verausgabt ihn für seine/ihre eigenen Bedürfnisse, also unproduktiv, weil er nicht zur Vermehrung das Kapitals verwendet wird.

Der eigentlich typische Fall für den kapitalistischen Produktionsprozess ist natürlich, dass möglichst viel Mehrwert angeeignet wird, um als zusätzliches Kapital verwertet zu werden, die sog. erweiterte Reproduktion. Dieser Prozess kann als Kreislauf des Kapitals dargestellt werden, als dessen Produktions- und Reproduktionsprozess, weil am Ende das in Geldform G in den Prozess eingetretene Kapital diesen erneut und auf erweiterter Stufenleiter, als G’, durchlaufen kann:

G – W (PM/AK) – P – W‘ – G‘

Legende: AK: Arbeitskraft; PM: Produktionsmittel; W: Ware; W´: Neue, im Produktionsprozess geschaffene Ware; C: Kapital (konstantes + variables); M: Mehrwert; P: Produktion bzw. Produktionsprozess, G: Geld

Arbeit, die in einem solchen Prozess verwertet wird, also einen Mehrwert fürs Kapital schafft, nennt Marx produktive Arbeit (im Gegensatz zur unproduktiven). Sie ist produktiv, weil sie nicht nur bestehenden Wert ersetzt, sondern Mehrwert für ein Kapital schafft, also zu einer erweiterten Reproduktion beiträgt.

b) Doppelte Art der Konsumtion der Arbeitskraft

Marx verdeutlicht, dass das Kapital im Produktionsprozess die Arbeitskraft konsumiert. Dabei wird das Kapital beständig reproduziert als Produkt der entfremdeten, vom Kapitalist angeeigneten Arbeit. Zugleich wird so beständig auch die Arbeitskraft produziert.

„Der Arbeiter selbst produziert daher beständig den objektiven Reichtum als Kapital, ihm fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht, und der Kapitalist produziert ebenso beständig die Arbeitskraft als subjektive, von ihren eignen Vergegenständlichungs- und Verwirklichungsmitteln getrennte, abstrakte, in der bloßen Leiblichkeit des Arbeiters existierende Reichtumsquelle, kurz den Arbeiter als Lohnarbeiter.“ (MEW 23, S. 596)

Mit anderen Worten: Sobald sich die kapitalistische Produktionsweise durchgesetzt hat, müssen die Lohnarbeiter:innen ihre Arbeitskraft verkaufen, um überhaupt die Mittel für ihre Reproduktion kaufen zu können. Geschichtlich geht dem ein gewaltsamer, blutiger Prozess der ursprünglichen Akkumulation voraus, indem Verhältnisse durchgesetzt werden, die den Lohnsklav:innen jede andere Form der Sicherung ihrer Existenz verunmöglichen. Doch einmal etabliert, bringt das Kapitalverhältnis auch die spezifisch kapitalistische Form der Reproduktion der Arbeiter:innenklasse hervor, während Männer wie Frauen der herrschenden Klasse von der Ausbeutung der Arbeit anderer leben. Daher unterscheidet sich auch ihre Reproduktion grundlegend von der der lohnabhängigen Klasse. Die Reproduktionsarbeit für die herrschende Klasse muss nicht von den Frauen dieser Klasse erledigt werden, sondern wird von Frauen (oder auch Männern) aus der Arbeiter:innenklasse verrichtet.

Jedenfalls ist die Konsumtion des/der Lohnarbeiter:in doppelter Art:

1. Produktive Konsumtion

Der/die Arbeiter:in konsumiert im Produktionsprozess Produktionsmittel und produziert so Mehrwert, vermehrt das Kapital.

2. Individuelle Konsumtion

Der/die Arbeiter:in konsumiert Lebensmittel, die mit dem Arbeitslohn gekauft werden.

In der Analyse betont Marx zuerst die Verschiedenheit der beiden Prozesse. Betrachten wir nämlich die beiden Formen der Konsumtion als individuelle Verhältnisse zwischen Arbeiter:in und Kapitalist:in, so scheint es sich um sehr verschiedene, voneinander getrennte Bereiche zu handeln:

„In der ersten handelt er (der Arbeiter; Anm. der Redaktion) als bewegende Kraft des Kapitals und gehört dem Kapitalisten; in der zweiten gehört er sich selbst und verrichtet Lebensfunktionen außerhalb des Produktionsprozesses. Das Resultat der einen ist das Leben des Kapitalisten, das der andern ist das Leben des Arbeiters selbst.“ (MEW 23, S. 596 f.)

Marx geht aber weiter. Die Sache sieht sehr viel anders aus, wenn wir nicht einzelne Kapitalist:innen – Arbeiter:innen, sondern das Klassenverhältnis von Kapital und Arbeit betrachten.

Betrachten wir die individuelle Konsumtion vom Standpunkt Einzelner, so erscheint diese als gänzlich verschieden von der produktiven Konsumtion. In der Produktion muss die Arbeitskraft für andere schuften, im privaten Bereich, der individuellen Konsumtion, kann sie frei über ihr Geld verfügen, scheinbar kaufen, was sie will. Es herrscht Freiheit. Dies wird durch die Geldform des Arbeitslohns, im Grunde durch den Geldfetisch, noch zusätzlich verstärkt, weil es so scheint, als ob’s eine beliebige, freie Entscheidung des einzelnen Arbeiter/der einzelnen Arbeiterin wäre, ob er/sie dies oder jenes für sein/ihr Entgelt kauft.

Betrachten wir jedoch den Gesamtprozesse, so erweist sich dies als Ideologie, als Fiktion, wenn auch eine sehr wirkmächtige Apologie der verallgemeinerten Warenproduktion.

In Wirklichkeit reproduziert jene Freiheit selbst noch das Kapitalverhältnis. Betrachten wir nämlich die individuelle Konsumtion in ihrer Gesamtheit, also als Klassenverhältnis von Kapital und Arbeit, so erweist sich die Reproduktion der Arbeitskraft als sich ständig reproduzierender Teil des Gesamtprozesses der Produktion und Reproduktion des Kapitals.

Dies ist unvermeidlich, weil Letztere immer über den Kauf/Verkauf von Waren vermittelt und so an den Akkumulationsprozess des Kapitals gebunden und diesem untergeordnet bleiben muss.

„Innerhalb der Grenzen des absolut Notwendigen ist daher die individuelle Konsumtion der Arbeiterklasse Rückverwandlung der vom Kapital gegen Arbeitskraft veräußerten Lebensmittel in vom Kapital neu exploitierbare Arbeitskraft. Sie ist Produktion und Reproduktion des dem Kapitalisten unentbehrlichsten Produktionsmittels, des Arbeiters selbst. Die individuelle Konsumtion des Arbeiters bleibt also ein Moment der Produktion und Reproduktion des Kapitals, ob sie innerhalb oder außerhalb der Werkstatt, Fabrik usw., innerhalb oder außerhalb des Arbeitsprozesses vorgeht, ganz wie die Reinigung der Maschine, ob sie während des Arbeitsprozesses oder bestimmter Pausen desselben geschieht.“ (MEW 23, S. 597)

Ferner: „Die beständige Erhaltung und Reproduktion der Arbeiterklasse bleibt beständige Bedingung für die Reproduktion des Kapitals. Der Kapitalist kann ihre Erfüllung getrost dem Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb der Arbeiter überlassen.“ (MEW 23, S. 597 f.)

An dieser Stelle setzt die feministische Kritik ein, weil Marx diesen Aspekt nicht weiter ausgeführt hätte. Das stimmt zwar zu einem gewissen Grad. Die Kritik verkennt jedoch, dass Marx hier nicht etwas abbricht, sondern vielmehr zu einer Schlussfolgerung kommt, die sich aus dem Obigen und den Reproduktionsbedingungen der Ware Arbeitskraft ableitet.

Die Arbeiter:innen sind zur eigenen Reproduktion gezwungen, weil sie selbst Lohnarbeiter:innen sind, ihre Arbeitskraft aus „Selbsterhaltungstrieb“ verkaufen müssen. Das Kapital kann daher getrost die Sorge um die Reproduktion der Arbeitskraft externalisieren.

Die Reproduktion kann als „frei“ erscheinen, was durch die „freie“ Arbeit, Arbeitskontrakt usw. bestärkt wird. In Wirklichkeit ist diese Freiheit jedoch gesellschaftlicher Schein, Ideologie. Oder in Marx’ Worten:

„Von gesellschaftlichem Standpunkt ist also die Arbeiterklasse, auch außerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses, ebenso Zubehör des Kapitals als das tote Arbeitsinstrument.“ (MEW 23, S. 598)

Es ist also ein Fehler, dabei stehen zu bleiben, die produktive und individuelle Konsumption nur aus individueller und nicht aus gesellschaftlicher Sicht zu betrachten. Das führt nämlich unweigerlich zu einer mechanischen, unvermittelten Aufspaltung zwischen produktiver und reproduktiver Sphäre, die so nicht existiert.

c) Produktions- und Reproduktionskreislauf

Die Unterordnung von Konsum/Reproduktionskreislauf der Arbeitskraft unter den des Kapitals wird auch deutlich, wenn wir diese einander gegenüberstellen. Erinnern wir uns zuerst an den Produktionskreislauf des Kapitals:

G – W (PM, AK) – P – W‘ – G‘

Dieser stellt das Wesen, weil Zweck der Produktion im Kapitalismus dar. Es findet also Anhäufung von Kapital, von kapitalistischem Reichtum statt; der Zweck der Produktion besteht in der Produktion von Mehrwert.

Die Reproduktion der Arbeitskraft lässt sich knapp so darstellen:

G (Arbeitslohn in Geldform) – W (Konsumgüter) – Reproduktion – W’ (AK) – G

Der Arbeitslohn, den die Arbeitskraft als Geld erhält, muss in Waren W (Konsumgüter, Mittel zum Lebensunterhalt ausgegeben werden). Es wird sodann konsumiert, verzehrt (inkl. stofflicher Umwandlung durch Hausarbeit wie Kochen, … ). Am Ende wird die Ware W’ (Arbeitskraft) reproduziert, die wieder zu ihrem Wert/Preis verkauft wird.

Es entsteht hier kein zusätzlicher Wert, sondern es werden nur Wertbestandteile reproduziert. Die Arbeitskraft geht durch den Reproduktionsprozess und verlässt ihn so, wie sie in ihn hineintritt, um wieder ihre Haut zu Markte tragen zu können, um also erneut die Summe G, die ihren Reproduktionskosten entspricht, erhalten zu können. Die Reproduktionsarbeit (ob nun private Hausarbeit oder öffentliche Arbeit wie an Schulen) erhält nur die Arbeitskraft, sie schafft aber unter diesen Bedingungen keinen Mehrwert.

Das trifft auch auf die Arbeiter:innenklasse insgesamt zu, denn der gesamte Lohnfonds (Gesamtsumme aller Löhne wie auch aller staatlichen oder sozialversicherungsrechtlichen Lohnersatzleistungen, des „Soziallohns“, usw.) entspricht im Grunde nur den Reproduktionskosten der Gesamtklasse, also aller ihrer Mitglieder (lohnarbeitende Männer und Frauen, Teilbeschäftigte, im Haushalt Tätige, Kinder, Rentner:innen, Kranke, … ).

Bei der Bestimmung des Werts der Ware Arbeitskraft betrachtet Marx auch alle diese Personen als Teil der Gesamtklasse. Allein das zeigt, wie albern die Kritik an ihm ist, dass er nur die produktiven Arbeiter:innen in der Fabrik betrachten würde. Der gesamte Lohnfonds inkludiert wie die Preisbestimmung der Ware Arbeitskraft selbst (im Unterschied zu anderen Waren) auch eine historische, „moralische“ Komponente, die selbst vom Klassenkampf modifiziert wird.

Wichtig ist aber, dass der größte Teil der Reproduktionsarbeit/-kosten dazu da ist, die Arbeitskraft zu erhalten (gesamtes Gesundheitswesen, Kosten, Wohnung, Heizung, … ). Während diese relativ konstant bleiben, so erhöhen sich mit Entwicklung des Kapitalismus die Bildungskosten, also Kosten zur Erhöhung des Arbeitsvermögens der Arbeitskraft, so dass diese statt Träger einfacher gesellschaftlicher Arbeit zu sein, auch solche zusammengesetzter, komplizierter wird.

Arbeiten im öffentlichen Reproduktionsbereich gehen natürlich in den Durchschnittswert der Ware Arbeitskraft ein. Die Kosten für Gebäude, Arbeitsmittel usw. sowie für die Bezahlung der Arbeitskräfte in diesem Bereich führen zu einer Erhöhung oder Senkung des Durchschnittswerts der Ware Arbeitskraft (z. B. wenn die Kosten für Erziehung, Bildung, Lebensmittel usw.) steigen oder fallen. Aber im staatlich/öffentlich organisierten Reproduktionssektor wird keine Mehrarbeit verrichtet, die sich das Kapital in Form von Mehrwert aneignet. Erst recht findet das nicht in der privaten Hausarbeit statt.

Anders verhält es sich, wenn Teile des Reproduktionsprozesses privatkapitalistisch organisiert werden, beispielsweise wenn Krankenhäuser oder Schulen privatisiert und zum Zweck der Profitmaximierung, als stinknormales Geschäft betrieben werden. Lassen wir einmal die Probleme beiseite, den Wert der Waren genau zu bestimmen, festzulegen, wie verschiedene „Produkte“ im Gesundheitsbereich oder im Bildungssektor vergleichbar und bepreist werden können, so besteht nun der entscheidende Zweck der Reproduktionsarbeit für den/die Kapitalist;in darin, Profit zu erwirtschaften, was, wie wir alle aus Erfahrung wissen, bis zu einem gewissen Grad im Widerspruch zur Reproduktion der Arbeitkraft (z. B. von Patient:innen) steht.

Doch zurück zur Wertbildung der Arbeitskraft und zu deren Reproduktion.

Jede Arbeitskraft, die im privaten Haushalt oder im staatlichen Caresektor reproduktiv tätig wird, muss ihrerseits reproduziert, erhalten werden. Das heißt, diese Kosten gehen wie die zur Herstellung jeder anderen Arbeit in den Wert der Arbeitskraft ein.

D. h., auf die private Hausarbeit bezogen, geht diese im gesellschaftlichen Durchschnitt in den Wert der Ware Arbeitskraft ein (resp. auch in den Wert zukünftiger Arbeitskraft und die Reproduktion des gesamten Haushaltes).

Die Erhaltungskosten zur Reproduktion gehen ebenso in die Reproduktionskosten der Arbeitskraft ein wie die Kosten der Lebensmittel, der Haushaltsgeräte usw. Das heißt umgekehrt auch, die Reproduktionskosten für die Hausarbeit (ob nun mehr oder minder gerecht verteilt oder auf die Frau abgewälzt) müssen bestritten werden. Ebenso trifft das auch auf die (noch) nicht arbeitenden Familienmitglieder zu.

Der entscheidende Unterschied zum Kapitalkreislauf besteht darin, dass hier kein Mehrprodukt, damit auch kein Mehrwert geschaffen wird, den sich jemand außerhalb der Familie aneignen würde.

Im Grunde trifft das auch zu, wenn größer werdende Teile der Reproduktionsarbeit staatlich oder gesellschaftlich organisiert werden („Soziallohn“), also für staatliche Schulen, Kitas, Unis, Krankenhäuser, Altersheime. Solange die für diese Tätigkeiten aufgewandten Mittel nicht als Kapital fungieren, also nicht investiert werden, um Profit abzuschöpfen, sondern als staatlicher/sozialer Dienst, werden sie aus Lohnbestandteilen (z. B. Kranken-, Pflege-, Rentenversicherung) oder über Steuern (mit historisch wechselnden Anteilen verschiedener Klassen), also staatlich finanziert.

Dem Kapital erscheint daher diese gesellschaftlich notwendige Arbeit immer als faux frais, als überschüssige Kosten der Produktion, als Abzug vom Gesamtprofit. Sie können nie knapp genug bemessen sein. Genau genommen ist dies der Standpunkt des konkurrierenden Einzelkapitals.

Vom Standpunkt der Gesamtkapitals und seiner Reproduktionsbedingungen sind sie keineswegs unnütz, ja essentiell. Das wissen auch einzelne Kapitalist:innen, wenn ausnahmsweise die Arbeiter:innen in einer günstigen Position sind oder wenn Mangel an Arbeitskraft droht. Dann wird nach Maßnahmen zur Überwindung solcher Arbeitsmarktkrisen gerufen.

In jedem Fall sind die Reproduktionskosten der Gesamtklasse bei einem bestimmten Entwicklungsstadium des Kapitalismus für ein bestimmtes gesellschaftliches Gesamtkapital mehr oder weniger gegeben.

d) Erweiterte Reproduktion

Ihre Entwicklung ist grundsätzlich bestimmt von der Akkumulationsbewegung des Kapitals.

Diese beinhaltet aber nicht nur eine Bestimmung für eine Phase der Entwicklung, sondern auch ein dynamisches Element.

Die erweiterte Reproduktion des Kapitals bedeutet schließlich nicht einfach eine quantitative Erweiterung, sondern geht, vermittelt über die Konkurrenz, mit einer stetigen Erneuerung des Produktionsapparates, eine Revolutionierung der technischen Basis der Produktion einher. Diese führt nicht nur zu einer wachsenden organischen Zusammensetzung des Kapitals und zu einem tendenziellen Fall der Profitrate.

Die erweiterte Reproduktion des Kapitals wirkt auch auf die Reproduktion der Arbeitskraft zurück, sobald und sofern der Wert der Konsumgüter der Arbeiter:innenklasse infolge von Produktivitätssteigerungen sinkt. Die Industrialisierung der Landwirtschaft, die industrielle Massenproduktion von Lebensmitteln oder Haushaltsgeräten und anderen Gegenständen des täglichen Bedarfs (Elektronik), die Verringerung von Transportkosten oder Massenverkehrsmitteln führen zur Reduktion des Werts der Ware Arbeitskraft. Infolge von Wertsenkungen der Konsumgüter ermöglichen sie in bestimmten Perioden der kapitalistischen Entwicklung (z. B. im sog. langen Boom), dass die Menge der Gebrauchswerte/Güter, die die Arbeiter:innen konsumieren können, konstant bleibt oder sogar zunimmt, obwohl der Wert der Ware Arbeitskraft sinkt.

Diese Form der Erhöhung des (relativen) Mehrwerts und ihre Verstrickung mit den Reproduktionskosten verdeutlichen, dass die Bestimmung der Reproduktion durch die Produktion nicht nur ein grundlegendes Merkmal des Kapitalismus darstellt, sondern diese im Zuge der kapitalistischen Entwicklung auch immer mehr um sich greift, immer totaler wird.

Zugleich führt diese Verbindung dazu, dass, historisch betrachtet, auch die Reproduktionsarbeit immer mehr vergesellschaftet wird, wenn auch für private, bornierte Zwecke. In Krisen gestaltet sich dieser Prozess insofern prekärer, als erreichte Stadien von Vergesellschaftung selbst in Frage gestellt werden, also sich eine Tendenz zur Regression manifestiert.

e) Reproduktion und geschlechtliche Ungleichheit

Die geschlechtlich ungleiche Verteilung der Reproduktionsarbeit kann dabei nicht nur aus biologischen Faktoren erklärt werden. Sie muss grundsätzlich aus der historischen Entwicklung begriffen werden, wo die kapitalistische Produktion ihr vorausgehende Formen der Unterdrückung der Frau aufgreift und funktional, dem Wertgesetz unterworfen, umformt.

Dabei ist die Entstehung der Frauenunterdrückung natürlich mit der Gebärfähigkeit der Frauen verbunden, also dem biologischen Fakt, dass nur sie Kinder auf die Welt bringen können. Damit entsteht auf der einen Seite eine Form der Reproduktionsarbeit, die nicht auslagerbar oder auf Männer übertragbar ist, andererseits schafft es auch einen Widerspruch. Schwanger sein ist notwendig für die Reproduktion der Menschheit, hat aber auch den Nachteil, dass die Arbeitsfähigkeit für andere Tätigkeiten phasenweise eingeschränkt wird. Speziell im Kapitalismus mit seinem Fokus auf Profitmaximierung mündet das in sehr bestimmten Arten der Organisierung von reproduktiver Arbeit und reproduziert diese.

Für die kapitalistische Produktionsweise folgt grundsätzlich die Scheidung von produktiver Konsumtion und individueller Konsumtion der Arbeiter:innenklasse aus der Scheidung von Arbeitsprodukt und Arbeitenden, der Trennung von Arbeitskraft und Produktionsmitteln (Eigentumsmonopol des Kapitals). Das Verhältnis von Produktion und (privater) Reproduktion nimmt eine neue, historisch spezifische Form an. Hier sieht man auch den Unterschied zur feudalen Ausbeutung, die Marx hervorhebt, in der Produktion und Reproduktion wesentlich weniger getrennt waren. Es gab zu dieser Zeit eine viel stärkere Einheit im bäuerlichen Haushalt, wo Produktion und Reproduktion zugleich stattfanden und die Familie genauso Produktions- wie Lebenseinheit war.

Die vorgefundene Unterdrückung der Frau führt zur Herausbildung und Durchsetzung einer geschlechtlichen Arbeitsteilung, in der der Mann als „Oberhaupt“ und Ernährer tätig, die Frau für die Hausarbeit zuständig ist (sofern sich ein proletarischer Haushalt überhaupt herausbilden kann).

Im Lohn der männlichen Arbeitskraft werden daher die Reproduktionskosten des Haushalts mit gesetzt, daher die höhere  Bezahlung der männlichen Arbeitskraft (es gibt daraus resultierend auch eine historisch-moralische Einwirkung auf den Arbeitslohn).

Im privaten Haushalt wird dadurch eine vorgefundene geschlechtsspezifische Arbeitsteilung reproduziert und produziert. Die historisch moralischen Einwirkungen sind unter anderem struktureller Sexismus, der abseits von dieser besseren Entlohnung für Männer auch ideologisiert, dass die Arbeit von Frauen generell weniger wert ist als die von Männern.

Die bürgerliche Familie entspricht diesem Reproduktionszusammenhang, sie erscheint als Reich der „Freiheit“, des Rückzugs, des privaten Glücks und der Selbstbestimmung gegenüber der Fabrik, der Ausbeutung der Arbeitskraft unter der Despotie des Kapitals.

Individuell betrachtet, scheint sich der Mensch in der Privatsphäre zu verwirklichen, auch wenn diese, wie Marx zeigt, letztlich vom Kapital bestimmt ist. Aber der/die Warenbesitzer:in der AK scheint hier wirklich sich zu gehören (resp. auch seine/ihre Familie).

Die Familie, Partnerschaft (selbst in ihrer patriarchalen Form) scheint daher ein Rückzugsraum, eine sicherer Hafen vor der Unbill der Arbeit in der Fabrik, im Produktionsprozess. Aber dies ist weitgehend Fiktion, wie Marx hervorhebt:

„Hat die Produktion kapitalistische Form, so die Reproduktion. Wie in der kapitalistischen Produktionsweise der Arbeitsprozeß nur als ein Mittel für den Verwertungsprozeß erscheint, so die Reproduktion nur als ein Mittel, den vorgeschoßnen Wert als Kapital zu reproduzieren, d. h. als sich verwertenden Wert.“ (MEW 23, S. 591)

2. Historische Entwicklungsdynamik der Reproduktionsarbeit

Nachdem wir Grundzüge des Verhältnisses von Produktion und Reproduktion umrissen haben, wollen wir uns dessen historischer Entwicklung zuwenden. So wie das Lohnarbeitsverhältnis keineswegs „rein“ hervortritt, sondern geschichtliche Modifikationen durchläuft wie auch aufgrund der imperialistischen Weltordnung sehr verschieden in imperialistischen und halbkolonialen oder kolonialen Ländern in Erscheinung tritt, so durchläuft auch die kapitalistische Form der Reproduktion der Arbeitskraft Entwicklungsstufen. Diese dürfen dabei keineswegs als strenge Abfolge betrachtet werden, die für alle Länder gleichermaßen gelten würde. Vielmehr gilt auch dafür das Gesetz der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung, wo im Rahmen einer reaktionären imperialistischen Ordnung relativ weit vergesellschaftete Formen der Produktion und Reproduktion gleichzeitig und verwoben mit extrem rückständigen auftreten, ja diese im Rahmen eines globalen Ausbeutungsverhältnisses sogar immer wieder hervorbringen.

Im Folgenden wollen wir grob einige Entwicklungsphasen skizzieren – und wir sehen dabei auch, dass Formen, die zuerst im Frühkapitalismus entstehen, heute noch in extrem ausgebeuteten Ökonomien weit verbreitet, ja prägend sein können.

a) Übergang, Entstehung des Kapitalismus

Die Fesselung der Frau an den Haushalt hat der Kapitalismus nicht erfunden, wohl aber die Trennung von Produktion und Reproduktion. Um kapitalistische Verhältnisse auch in der Reproduktion zu erzwingen, muss also einerseits die Fesselung an den Haushalt aufrechterhalten, andererseits dieser als Produktionseinheit (die die Güter ihrer eigenen Reproduktion ganz oder in wesentlichen Teilen herstellt) zerschlagen werden.

D. h. die Arbeiter:innenklasse muss gezwungen werden, ihre Lebensmittel als Waren bei Dritten (kapitalistischen Produzent:innen oder Händler:innen) gegen Geld (Arbeitslohn) zu kaufen.

Dies ist funktional wichtig und muss gewaltsam hergestellt werden, weil, ansonsten die Arbeitskraft selbst nicht in vollem Maß zum Verkauf als Ware gezwungen wäre.

Hier zeigt sich zugleich, dass es – trotz einiger Gemeinsamkeiten mit der Subsistenz- und der kleinen Warenproduktion – im Grunde irreführend ist, die private Hausarbeit als eine eigene Produktionsweise zu bestimmen. Dies verschleiert vielmehr den spezifisch kapitalistischen Charakter der Reproduktion der Arbeiter:innenklasse. Wir haben es bei der (privaten) Reproduktion im Haushalt nicht mit einer oder gar mehreren Produktionsweisen außerhalb des Kapitals zu tun, sondern mit einer – so unsere These – spezifisch kapitalistischen Form der Reproduktion im Kapitalismus.

Gerade in ihrer Bestimmtheit durch die Produktion liegt ihr Wesenskern. Dass dies leicht anders erscheinen mag, hängt mit verschiedenen Faktoren, die zu einer ideologischen Fetischisierung führen, zusammen.

1. Erscheint der Haushalt, die Privatsphäre als Gegenteil der betrieblichen, sachlichen Despotie (selbst die Despotie des Haustyrannen ist unterschieden, weil wesentlich persönlich, patriarchal, Herrschaft des Vaters, im engen Wortsinn).

2.  Kapitalistische Reproduktion existiert nicht rein, sondern in mehr oder weniger krassen Hybridformen.

Davon einige wichtige:

  • Die Haushaltsformen des Kleinbürgertums (z. B. der Bauern-/Bäuerinnenschaft) setzen die Einheit von Produktion und Reproduktion fort.

  • In den halbkolonialen Ländern dauert der Prozess der ursprünglichen Akkumulation an. Dies führt zur Bildung von wichtigen, prekären Formen der Reproduktion für beachtliche Teile der Bevölkerung des globalen Südens.

  • Für die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse ist, global betrachtet, bis heute eine „normale“ Reproduktion in der Familie nicht oder nur bedingt möglich. Die Ausweitung der Teile der Klasse, die unter ihren Reproduktionskosten Lohnarbeit verrichten müssen, bedeutet auch, dass der proletarische Haushalt seine Reproduktionsfunktion nicht oder jedenfalls nicht voll erfüllen kann.

  • Umgekehrt wird aber der „Rückzug“ zu einer vorkapitalistisch funktionierenden Form der Reproduktion verunmöglicht.

  • Umso stärker wird die Tendenz zur Barbarisierung der Verhältnisse im Haushalt (Hunger, Armut, Aufteilung des Mangels, aber auch Gewalt gegen Frauen und Kinder).

Für die frühe kapitalistische Entwicklung wie auch für bedeutende Teile der Arbeiter:innenklasse stellt die Familie keineswegs eine historische Selbstverständlichkeit dar. Im Gegenteil! Die Überausbeutung verunmöglichte diese weitgehend für die neue entstehende Klasse (siehe auch urspr. Akkumulation, Ausdehnung des Arbeitstages, Sklaverei, … ).

Für deren unterste Schichten nimmt soziale Vorsorge – sofern vorhanden – die Form des Armenhauses, von Waisenhäusern samt despotischem Regime an. Die Kriminalisierung anderer Einkommensarten (Betteln, Verbot des Zugriffs auf vormaliges Gemeineigentum) stellen unerlässliche Mittel dar, den Zwang zur Lohnarbeit durchzusetzen. Dieses Regime muss gewährleisten, dass die „Armenversorgung“ unter dem Niveau des extrem geringen Arbeitslohns liegt. Daher auch die fast ungebrochene Tendenz zur absoluten Verelendung im Frühkapitalismus – eine Tendenz, die wir in der halbkolonialen Welt, teilweise sogar unter den marginalisierten (oftmals zugleich migrantischen und/oder rassistisch unterdrückten) Schichten der Klasse auch in den imperialistischen Zentren vorfinden.

b) Entstehung und Durchsetzung der proletarischen Familie

Die „klassische“ bürgerliche Familie (Vater als Ernährer, Frau als Hausfrau, Kinder) ist in der Arbeiter:innenklasse auch immer ein zwiespältiges historisches Produkt. Ihre Verwirklichung ist an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Der Arbeitslohn des Mannes muss die Reproduktionskosten der gesamten Familie real abdecken können (Frau, Kinder, Alte), damit die Frau Hausfrau sein kann, die Kinder nicht gegen Lohn arbeiten müssen und die Alten versorgt werden können. Daher müssen auch der Ausbeutung gewisse Schranken gesetzt werden, also Grenzen der absoluten Mehrwertabpressung durchgesetzt werden. Um diese Reproduktionsfähigkeit der Familien überhaupt herzustellen, müssen die Löhne dem Wert der Arbeitskraft (A) entsprechen, muss der Arbeitstag begrenzt werden, müssen Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie Beschränkungen der Kinder- und Frauenarbeit und staatliche Sozialleistungen durchgesetzt werden.

Dies ist nur möglich auf Basis von gewerkschaftlichen und politischen Kämpfen, die reale Errungenschaften durchsetzen (z. B. den 10-Stundentag). Diese werden oft auch begünstigt dadurch, dass ein Teil der herrschenden Klasse (bzw. deren politischen Personals) erkennt, dass eine gewisse Grenze der Ausbeutung notwendig ist, um die Reproduktion des Ausbeutungsmaterials zu sichern (ob dies aus Einsicht oder Furcht vor Radikalisierung der Arbeiter:innenklasse erfolgt, ist hier zweitrangig).

Die Bildung der proletarischen Familie setzt also eine gewisse materielle Besserstellung der Klasse voraus. Wenigstens signifikante Teile müssen in der Lage sein, den Verkauf ihrer Arbeitskraft zu oder über ihren Reproduktionskosten durchzusetzen.

Dies stellt gegenüber dem Frühkapitalismus oder extremen Formen der Ausbeutung eine Errungenschaft der gesamten Klasse, von Mann und Frau dar. Aber sie geht zugleich einher mit einer Festigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Arbeiter:innenklasse. Die Frau kann jetzt auch „nur“ Hausfrau, der Mann kann real alleiniger „Ernährer“ der Familie sein. Für die Frau bedeutet dies aber zugleich eine Fessel, eine Befestigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, den Zwang, die Hausarbeit zu leisten, die keinen Mehrwert generiert, die Festigung der Abhängigkeit vom Mann (als Einkommensquelle) und ihrer Vereinzelung und Unterdrückung. Damit einher geht auch die Entstehung des proletarischen Haushaltes (eigene, kleine Mietwohnung, eigener Herd, … ).

Die Festigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung verstärkt darüber hinaus durch rechtliche Ungleichheit und reaktionäre Ideologien und Chauvinismus in der Arbeiter:innenklasse die soziale Unterdrückung.

Ökonomisch wird diese zusätzlich befestigt, indem der Lohn des Mannes als Familienlohn gesetzt ist. Der Wert der Arbeitskraft ist wesentlich der der männlichen. Der Wert der weiblichen Arbeitskraft wird so auf einen Bruchteil der männlichen fixiert, da ihre Reproduktionskosten in diesem System geringer sind, weil das Lohneinkommen der Familienmitglieder vom Mann, nicht der Frau bestritten werden soll/muss.

Wir haben es hier also mit einer systematischen Ungleichheit des Werts der Arbeitskraft zu tun, die das spezifisch kapitalistische System der Reproduktion schafft bzw. von diesem geschaffen wird.

Dies drückt sich einerseits in der Last der Hausarbeit aus, die den Frauen aufgebürdet wird. Zweitens aber auch in einer beruflichen Arbeitsteilung. Frauen werden aus industriellen Branchen verdrängt (oder erst gar nicht reingelassen), auf zeitweilige, schlechter bezahlte Tätigkeiten verwiesen.

Dieses „Modell“ wird zum vorherrschenden in den kapitalistischen Zentren mit Expansion des Kapitalismus in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und der imperialistischen Epoche bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Es wird auch auf Halbkolonien mit der Expansion des Kapitalverhältnisses und der Entstehung einer, wenn auch kleineren Arbeiter:innenaristokratie ausgeweitet, aber verbleibt dort bis heute eine Form, die nie die gesamte Klasse umfasst.

Nicht minder wichtig ist, dass dieses Modell bis heute, wenn auch modifiziert und, was die Frage der Lohndifferenzen betrifft, etwas gerechter die vorherrschende ideologischen Form darstellt.

Bei den erzreaktionären bürgerlichen Kräften tritt das ganz klar und unverhüllt hervor. Aber auch dem Liberalismus, dem Mainstreamfeminismus und dem Reformismus liegt dieses Modell zugrunde. Es wird jedoch seiner „unschönen“ Seiten bereinigt. Die gleiche Verteilung der Hausarbeit und gleiche Löhne/Einkommen werden propagiert. Ein mehr oder weniger großer privater, quasi familiär organisierter Teil der Reproduktionsarbeit wird aber als erstrebenswert oder unverzichtbar und eigentlich menschlich betrachtet. (Dies kann natürlich auch auf gleichgeschlechtliche oder Transpartner:innenschaften erweitert werden, gewissermaßen als flexiblere, anpassungsfähigere Formen der bürgerlichen Familie).

Die zunehmende Vergesellschaftung der Produktion gerät aber mit dieser engen Form der kapitalistischen Reproduktionsarbeit in Widerspruch bzw. Letztere stellt auch eine Schranke für die Expansion des Kapitals ab einer bestimmten Stufe dar.

c) Ausdehnung der Lohnarbeit der proletarischen Frauen

Das zeigte sich zuerst im Ersten Weltkrieg. Aber die Ausdehnung der Frauenarbeit in der Produktion für diesen Krieg war nur vorübergehend, nicht zuletzt aufgrund der ökonomischen Verwerfungen in der Zwischenkriegszeit, der Zerrüttung des Weltmarktes, der Massenarbeitslosigkeit und der ungelösten Probleme der globalen Vorherrschaft unter den imperialistischen Mächten.

Anders im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Frauen kehren nicht in den Haushalt zurück. Dies hat zwar auch historisch spezifische Gründe in manchen Ländern (Mangel an männlicher Arbeitskraft wegen Kriegsgefangenschaft und toter Soldaten). Vor allem aber erfordern die veränderten, günstigen Akkumulationsbedingungen (Zerstörung und Ersetzung von Kapital, massive Ausdehnung der Produktion und hohe Profitraten, Ablösung des Kolonialsystems und Ausdehnung des Weltmarktes, USA als Demiurgin des Weltmarktes, Dollar als Weltgeld, Erhöhung des relativen Mehrwerts erlaubt hohe Profite und gleichzeitige Ausdehnung des Konsumfonds der Arbeiter:innenklasse) auch eine massive Expansion der weiblichen Lohnarbeit.

Proletarische Frauen (wie die gesamte Klasse) werden als Konsumentinnen wie als Lohnarbeiterinnen wichtiger. Die Expansion weiblicher Lohnarbeit wird außerdem am Beginn durch Lohndifferenz zwischen den Geschlechtern begünstigt. Frauen werden als billigere, oft nur „vorübergehende“ Arbeitskraft in bestimmen Sektoren massenhaft beschäftigt. Männer gelten am Beginn weiter als Vollzeitarbeiter. Dies entspricht einem geschlechtlich extrem segregierten Arbeitsmarkt, auf dem in der ersten Phase der Nachkriegsperiode Männer- und Frauenberufe klar getrennt sind.

In dieser ersten Phase der Expansion geht diese noch ohne große Erschütterung der proletarischen Familien wie des Oberhaupts der Familienform mit ihrer ideologisierten Selbstverständlichkeit einher. Diese wird am Beginn sogar eher stabilisiert, auch weil das Proletariat ab Mitte der 1950er Jahre stetige ökonomische Verbesserungen verspüren kann. Politisch-ideologisch sind die 1950er und frühen 1960er Jahre restaurativ, extrem miefig, reaktionär. Es ist daher auch kein Wunder, dass von einer rechtlichen Gleichstellung der Frauen in den meisten Ländern nicht die Rede sein kann.

Zugleich entwickeln sich jedoch die inneren und gesellschaftlichen Widersprüche.

Die Expansion weiblicher Lohnarbeit, die Ausdehnung des Bedarfs an qualifizierter Arbeitskraft und höhere Lebenserwartung erfordern auch eine Ausdehnung der Reproduktion, die gesellschaftlich geleistet wird und nicht privat. Das wiederum bedarf eines Ausbaus des Bildungswesens und sozialstaatlicher Leistungen (Gesundheitssystem, Altersvorsorge) sowie von Einrichtungen, die Frauen Vollzeitarbeit ermöglichen (Kitas, Ganztagsschulen, Pflegeheime).

Mit der Expansion geht außerdem auch eine Ausdehnung weiblicher Lohnarbeit im Bereich Bildung und Gesundheit einher.

Die Expansion macht aber auch die fest etablierte Ungleichheit, die patriarchalen Verhältnisse in Ehe und Familie immer fragwürdiger, ja unhaltbarer. Ihre gesellschaftliche Legitimation erodiert zusehends.

All das legt auch die Grundlage für die 2. Welle der Frauenbewegung der 1960er/1970er Jahre. Das Auftreten des radikalen und sozialistischen Feminismus führt dazu, dass Forderungen der Bewegung von der Gesellschaft insgesamt aufgegriffen oder jedenfalls zu einem Kampffeld für Millionen Menschen werden.

Es ist auch kein Zufall, dass die Frage der Hausarbeit/Reproduktion und der politischen Ökonomie mehr Beachtung findet in dieser Zeit und zu einem wichtigen Gegenstand der Diskussion in der Linken und Frauenbewegung gerät.

Die Expansion weiblicher Lohnarbeit ist in praktisch allen Ländern enorm, v. a. in imperialistischen Staaten, oft noch mehr in den degenerierten Arbeiter:innenstaaten, aber auch in vielen Halbkolonien.

Mit der Ausdehnung einer gesellschaftlich organisierter Reproduktionssphäre, die über Steuern, Sozialabgaben, also über Lohnbestandteile oder die Revenue des Kapitals finanziert wird, verringert sich tendenziell das reale Lohndifferential zwischen Männern und Frauen, zwischen besser und schlechter bezahlten Teilen der Arbeiter:innenklasse. Ein größerer Bestandteil des Lohnfonds insgesamt wird über staatliche Leistungen oder Sozialversicherungen umverteilt und kommt so als Anspruch auch weniger hohe Steuern oder Beiträge zahlenden Lohnabhängigen zugute.

Das Lohndifferential (Gender Pay Gap) sowie die geschlechtsspezifische Struktur der Arbeitswelt verlieren ihre offizielle gesellschaftliche Legimitation, werden ihres scheinbar natürlichen Charakters entkleidet.

Dennoch wirken sie massiv fort, ebenso die ungleiche Verteilung der privaten Hausarbeit und der überproportionale Anteil von Frauen an der Reproduktionsarbeit.

Die Ausdehnung des Soziallohns sowie der Druck der Frauen- und Arbeiter:innenbewegung wirken bei aller Zähigkeit auf eine Angleichung der Löhne/Entgelte von männlicher und weiblicher Lohnarbeit.

Die Ausdehnung der weiblichen Lohnarbeit, also direkte Beteiligung der Frau an wenn auch indirekter, „blinder“ vergesellschafteter Produktion drängt auch auf eine Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit.

Dieser Prozess stößt aber im Kapitalismus an innere Grenzen wegen des Warencharakter der Arbeitskraft, der inneren Anarchie der Produktionsweise und der bornierten, kapitalistischen Zwecke der Produktion. Zugleich bleibt die Familie weiter ein wichtiges bürgerliches Integrations- und Herrschaftsinstrument, so dass sie aus gutem Grund von konservativer und reaktionärer Seite auch dann besonders eifrig verteidigt wird, wenn sie eigentlich gesellschaftlich ersetzbar wäre. Hinzu kommt, dass sie gerade während und wegen ökonomischer Krisen weiter eine wichtige Rolle spielt: Denn gesellschaftliche Reproduktion ist wesentlich unproduktive Arbeit fürs Einzelkapital, daher Abzug von seinem Profit, tritt als unnötige Kosten in Erscheinung, die möglichst reduziert werden müssen.

3. Krise, Klassenkampf, Vergesellschaftung

Mit dem Ende des langen Booms und Einsetzen der chronischen Überakkumulation des Kapitals, die die Weltwirtschaft in verschiedenen Formen seit den 1970er Jahren mit prägt, wird auch diese Widersprüchlichkeit deutlicher. Die Sphäre der Reproduktion stürzt selbst in eine tiefe Krise.

Deren Hintergrund und Ursache bildet die strukturelle Überakkumulation. Das Kapital stößt zunehmend auf Schwierigkeiten, eine ausreichend hohe Profitrate aufrechtzuerhalten, weil die organische Zusammensetzung des Kapitals steigt und der Mehrwert schaffende Teil des Kapitals (also das variable Kapital im Verhältnis zum konstanten) immer kleiner wird. Es gibt also nicht nur einen Drang dazu, sich andere Anlagesphären (und -gebiete) zu suchen, sondern auch, die Ausbeutungsrate zu erhöhen (also die Kosten fürs variable Kapital zu senken). Das bedeutet auf der einen Seite, dass es zu mehr Privatisierungen des Caresektors kommt, um neue Bereiche zu erschließen. Es heißt aber auf der anderen auch, dass Menschen (vor allem Frauen), die stark in die Reproduktionsarbeit eingebunden sind, zusätzlich auch wieder stärker in die Lohnarbeit gedrängt werden, ohne sie von der Zusatzarbeit zuhause zu entlasten.

Vor allem in imperialistischen Ländern ist viel Reproduktionsarbeit staatlich geregelt. Sie stellt zwar einen essenziellen Beitrag zum Erhalt des Systems dar, wird aber aufgrund ihrer nicht Mehrwert schaffenden Rolle immer stärker eingespart. Viele der Probleme in unseren jetzigen Gesundheitssystemen ergeben sich aus Rentabilitätskalkülen. Nachdem ein System niedergespart wurde, kommt oft ein guter Moment für Privatisierungswellen. Die organische Zusammensetzung in diesen Bereichen liegt oft unter dem Durchschnitt und es gibt einen leichten Eintritt in den Markt, wenn die Leistungen des öffentlichen Sektors nicht mehr mithalten können (solange staatlich keine Regelungen dagegen getroffen werden). Damit wird also die vorher „nichtproduktive“ (nicht Mehrwert schaffende) zu profitmaximierender Arbeit oder zumindest darauf vorbereitet.

Je teurer dann aber wiederum privatisierte Institutionen werden und je mehr an Löhnen in krisenhaften Situationen gespart wird, umso mehr werden Leistungen der Reproduktionsarbeit (Kindergarten, Krankenhäuser usw.) unbezahlbar für die Arbeiter:innenklasse oder jedenfalls für die schlechter entlohnten Teile. Das wiederum drängt Leute wieder zurück in die Familie, um reproduktive Aufgaben vermehrt selbst zu übernehmen. Dieses Phänomen gibt es natürlich nicht nur bei Privatisierungen, sondern auch staatlichen Angeboten, die nicht kostenlos oder an viele Bedingungen geknüpft sind (z. B. Staatsbürger:innenschaft) oder eine bestimmte Familienkonstellation). Es nimmt aber nicht dasselbe Ausmaß an. Speziell trifft diese Dynamik auf Halbkolonien zu.

Kürzungen beim Soziallohn, also dem Anteil an Sozialabgaben und damit der Finanzierung von reproduktiven Leistungen, bedeuten auch einen Rückgang im gesamten Lohnfonds. Diese Unterfinanzierung steht für mehr soziale Ungleichheit und führt damit zu immer reaktionäreren Tendenzen. Mit zusammenbrechenden Sozialsystemen, verschärfter Ungleichheit und einem Zurückdrängen von reproduktiven Arbeiten in Familie und Haushalt erfolgt eigentlich ein gesellschaftlicher Rückschritt. Obwohl die technischen und organisatorischen Möglichkeiten da wären und auch das Kapital davon profitiert, über Arbeiter:innen zu verfügen, die voll ausbeutbar sind, führen inhärente Tendenzen des Kapitalismus zu einer barbarischen Situation. Diese zementieren auch die bürgerliche Kleinfamilie und ketten sowohl Frauen als auch Kinder und alte Menschen noch heftiger an sie als ohnehin schon.

Doch diese Entwicklungen passieren nicht ohne Widersprüche. Streiks in Bereichen, wo vor allem Frauen beschäftigt sind (Pflege, Kindergarten, etc.), handeln immer wieder neu aus, wie die Reproduktionsarbeit organisiert wird, und in vielen Ländern bilden sich dabei auch neue kämpferische Sektoren der Arbeiter:innenklasse.

Die krisenhaften Entwicklungen im Reproduktionsbereich dürfen jedoch nicht damit verwechselt werden, dass es nur eine Tendenz weg von der wenn auch naturwüchsigen Vergesellschaftung hin zur privaten Hausarbeit gebe.

Im Gegenteil, für bedeutende Sektoren der lohnabhängigen Mittelschichten wie auch der Arbeiter:innenklasse können wir ein Fortschreiten einer wenn auch privatkapitalistisch organisierten Vergesellschaftung der Hausarbeit konstatieren.

Wir wollen das am Beispiel der sog. Plattformökonomie verdeutlichen. In den letzten Jahren erleben wir eine große Ausbreitung von Dienstleistungen, die über solche Onlinedienste Teile von Reproduktionstätigkeiten anbieten. Das umfasst Lieferdienste für Essen und Nahrungsmittel, die mittlerweile von fast allen Schichten der Arbeiter:innenklasse zumindest gelegentlich genutzt werden.

Für größere Teile der Lohnabhängigen werden diese zum Standard für ihre Reproduktion. Der entscheidende Grund dafür besteht darin, dass die ständige Intensivierung der Arbeit, deren Verdichtung, die durch Homeoffice oft noch einen neuen Schub erhält, die Menschen während der Arbeit so sehr auslaugt, dass sie kaum noch die Kraft haben, für sich selbst zu kochen oder zu putzen.

Daher bietet die Plattformökonomie längst mehr als Mahlzeiten oder Fertiggerichte. Darüber werden auch Reinigungskräfte, Pfleger:innen oder Kinderbetreuung vermittelt.

Diese Inanspruchnahme von privat angebotenen und über größere Kapitale organisierten Diensten, die nun auch Teil der produktiven, Mehrwert schaffenden Arbeit werden, ist natürlich nicht für die gesamte Arbeiter:innenklasse möglich und erfordert, um unter den gegenwärtigen Konkurrenzbedingungen profitabel funktionieren zu können, dass die Beschäftigten der über die Plattformökonomie organisierten Lieferdienst oder Caresektoren selbst für geringe, unterdurchschnittliche Löhne und unter ungesicherten Arbeitsbedingungen tätig sind. Pointiert könnte man sagen, dass bei diesen Unternehmen vor allem jene Arbeiter:innen angestellt werden, die sich diese Dienste nicht oder nur gelegentlich leisten können. Hinzu kommt, dass, solange diese Dienste vergleichsweise billig angeboten werden, sie auch zu einer Erhöhung des relativen Mehrwerts führen.

Natürlich gibt es ähnliche Phänomene auch im bislang ganz oder halbstaatlich organisierten Reproduktionsbereich – bei Krankenhäusern, Schulen, Kitas, … Diese sind bereits, wenn auch zum Zweck der Reproduktion des Gesamtkapitals, vergesellschaftet. Nun werden bereits gesellschaftlich organisierte Bereiche der Reproduktion zerlegt, privatisiert oder im ersten Schritt einer privaten, profitorientierten Kostenrechnung und Kalkulation unterworfen.

Neben Tendenzen zur Privatisierung finden wir also auch in der aktuellen Krise solche zur Vergesellschaftung. Doch diese folgen keinem bewussten gesamtgesellschaftlichen Plan, sondern finden auf privater Basis oder durch den Staat statt. Das Zurückdrängen der Hausarbeit in die Familien und Abwälzen auf die Frauen bildet also nur eine Tendenz in der aktuellen Krisenperiode. Diese wird durch eine andere, nämlich die Ausdehnung privat organisierter Reproduktionstätigkeit ergänzt.

Während in der Phase der Ausdehnung des Reproduktionssektors in den 1960er und 1970er Jahren diese mit einem weitgehend allgemeinen Zugang zu Grundleistungen einherging, so geht die aktuelle Kommodifizierung der Reproduktionsarbeit damit einher, dass verschiedene Schichten der Arbeiter:innenklasse weit unterschiedlicheren Zugang zu diesen haben als bisher.

So wie die inneren Differenzen der Klasse in einem Land und erst recht international zunehmen, wie die Unterschiede in Einkommens- und Lebensverhältnissen zwischen Arbeiter:innenaristokratie, der Masse der Klasse und der wachsenden Schicht der prekär Beschäftigten größer werden – und dies noch viel mehr auf globaler Ebene – , so werden auch die Reproduktionsbedingungen unterschiedlicher, vergrößert sich die Kluft innerhalb der Arbeiter:innenklasse.

Ein zentraler Aspekt ist dabei, dass diese Tendenzen die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung vertiefen, so dass Frauen von der Krise des Reproduktionssektors besonders stark betroffen sind.

Wir können aus all diesen Gründen ihre „Lösung“ nicht dem bürgerlichen Staat oder dem Markt überlassen. Der Kampf um die Verteidigung bestehender Errungenschaften um die Reorganisation der Reproduktionsarbeit bildet zugleich ein zentrales Feld des Klassenkampfes in der gegenwärtigen Periode. Die widersprüchlichen Tendenzen zur Vergesellschaftung, zur Privatisierung und zur Ausdehnung der privaten Hausarbeit sind im Kapitalismus letztlich unlösbar, zumal die Erhöhung der Mehrwertrate ein zentrales Element der Krisenbewältigungsstrategien der herrschenden Klasse bildet, ja bilden muss.

Im Sinne eines Programms von Übergangsforderungen gilt es, an bestehenden Kämpfen anzusetzen und diese mit dem für eine planmäßige Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit unter Arbeiter:innenkontrolle zu verbinden:

  • Ausbau und Einführung von Großkantinen und Restaurants unter Arbeiter:innenkontrolle als Alternative zu isolierter Hausarbeit. Entschädigungslose Enteignung der großen Handelsketten und Lieferdienste unter Arbeiter:innenkontrolle.

  • Kommunalisierung aller Kindergärten und Schulen. Diese müssen kostenlos und für alle zugänglich sein. Für ein massives Investitionsprogramm zur Erneuerung und zum Ausbau und zur Einstellung fehlender Erzieher:innen, Lehrer:innen, Sozialarbeiter:innen und anderer Beschäftigter zu vollen tariflichen Löhnen. Kontrolle über die Einrichtungen durch Ausschüsse von Beschäftigten, Schüler:innen und Eltern!

  • Enteignung von Wohnungskonzernen und von Grund und Boden. Kontrolle der Mieten durch Ausschüsse der Mieter:innen und Gewerkschaften.

  • Verstaatlichung und Ausbau des gesamten Caresektors unter Kontrolle der Beschäftigten, Patient:innen, und Gewerkschaften, finanziert durch die Besteuerung des Kapitals und der Reichen!

  • Kampf für Reduzierung der Arbeitszeit für die gesamte Arbeiter:innenklasse auf 30 Stunden pro Arbeitswoche bei vollem Lohn- und Personalausgleich, damit die Reproduktionsarbeit auf beide Geschlechter verteilt werden kann und den Frauen die Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben erleichtert wird!

  • Für die Vergesellschaftung der Haus- und Reproduktionsarbeit. Gleichmäßige Aufteilung der übrig bleibenden privaten Tätigkeiten unter Männern und Frauen!

Die Vergesellschaftung der Hausarbeit kann im Kapitalismus nie vollständig erreicht werden, ganz so, wie die planmäßige und bewusste Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit nicht durchgeführt werden kann, solange das Privateigentum an den Produktionsmitteln die Gesellschaft prägt. Daher ist der Kampf um sie mit dem für die Enteignung des Kapitals, mit der sozialistischen Revolution untrennbar verbunden.




Wirtschaftskrise und politische Instabilität: Politisch-Ökonomische Perspektive 2023

Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1214, 19. Februar 2023

Stagflation und instabile Regierungskoalition 2023

2023 wird die österreichische und europäische Wirtschaft in eine Rezession bei gleichzeitigen hohen Inflationsraten eintreten. Das ist die logische Folge aus schon länger fallenden Industrie-Profitraten und der gestiegenen Unsicherheit in Produktion und Kapitalverwertung. Diese Einschätzung teilen auch die wichtigsten bürgerlichen Wirtschaftsforschungsinstitute, das WIFO schreibt: „Nach der kräftigen Expansion im 1. Halbjahr 2022 befindet sich die österreichische Volkswirtschaft mittlerweile in einer Abschwungphase. Die Konjunkturabschwächung betrifft sämtliche Wertschöpfungsbereiche; das verarbeitende Gewerbe dürfte sogar in eine Rezession schlittern.“[1], und spricht von Stagflation.[2] Das Institut für Höhere Studien IHS prognostiziert für 2023 ein Wachstum von nur 0,3 % bei einer Inflationsrate von 8,6 %.[3] Die EU Kommission prognostiziert 2023 eine Rezession im gesamten Euro-Raum.[4]

Der Wirtschaftsabschwung 2023 hat denselben Hintergrund wie die Hochinflation 2022. Die Profitrate, also das Verhältnis von Profit zur Gesamtinvestition in Maschinen, Arbeitskraft, Miete usw., in der Industrie geht bereits seit Jahren zurück, was 2020 schon vor der Corona-Pandemie zu einem beginnenden Abschwung geführt hat. Der wurde dann aber von den Lockdownfolgen „überholt“ und aufgenommen. Am grundlegenden Problem (der Überakkumulation, siehe später im Text) hat sich aber nichts geändert, weil die in kapitalistischen Krisen übliche Vernichtung von Kapital durch Staatshilfen ersetzt wurde.

Fallende Profitraten befeuern auch die Inflation. Inflation ist im Großen die Summe aus individuellen Firmenentscheidungen, Preise zu erhöhen. Wenn ein:e individuelle:r Kapitalist:in auf zahlungsfreudige Nachfrage trifft, kann sie entscheiden mehr zu produzieren, oder mehr Geld zu verlangen. In einer unsicheren Wirtschaftssituation werden Kapitalist:innen eher die Preise erhöhen, statt zu investieren, und selbst die Firmen, die diese Entscheidung selber nicht getroffen hätten, „machen mit“ (blöd wären sie, wenn sie sich das entgehen lassen würden). Aber höhere Preise für dieselbe Warenmenge bremsen auch die Kapitalakkumulation, also die Verwandlung von Kapital in mehr Kapital durch Wieder-Investition. Eine Situation, in der die Kapitalakkumulation nicht funktioniert, läutet die Rezession ein, auch wenn einzelne Branchen noch hohe Profite machen.

Kapitalakkumulation funktioniert in drei Schritten: Aus Geld werden Waren (Produktionsmittel und Arbeitskraft), aus diesen Waren im Produktionsprozess andere Waren (die fertigen Produkte), und diese Waren werden zu mehr Geld gemacht (die Verwertung des Kapitals). Wenn einer der drei Übergänge ernsthaft unterbrochen wird, stockt die Akkumulation des Kapitals, eine Krise bricht aus. Die Kombination aus Corona, Klimakrise und Krieg hat an allen drei Übergängen Sand ins Getriebe geworfen.

Der Einfluss durch die globale Pandemie, die Auswirkungen der Klimakrise und den russischen Angriffskrieg in der Ukraine ist besonders und zum Beispiel anders als die Krisendynamik der Finanzkrise ab 2008. Lockdowns in Produktionsstätten, Überschwemmungen und Dürren stören die Produktion, also die Verwandlung von Vorprodukten in Waren. Geschlossene Häfen und abgebrochene Wirtschaftsbeziehungen unterbrechen globale Produktionsketten, die in den vergangenen Jahrzehnten erfolgreich eingesetzt wurden, um den tendenziellen Fall der Profitraten zu bremsen. Generell führt die neue imperialistische Blockbildung zu einer Art De-Globalisierung, und unterläuft damit das Geschäftsmodell vieler imperialistischer Staaten. Das gilt auch für Österreich, dessen Bank- und Handelskapital eng mit den Balkanstaaten und Russland verwoben ist.

Eine Rezession wird zu Entlassungswellen und einem Einbruch der Arbeiter:inneneinkommen führen. Wenn wir aus der Erfahrung der Coronakrise schließen, werden die europäischen Regierungen rasch und schnell mit Subventionen eingreifen, die vor allem den Kapitalist:innen zugutekommen. Um die Verteilung der Krisenkosten wird wohl nicht mehr dieses Jahr gekämpft werden, die Regierung wird aber in der Zukunft auf Austerität, also Sparpolitik, und Deregulierung des Arbeitsrechts setzen. Insofern wird 2023 wohl von der Rezession und Abwehrkämpfen am Arbeitsplatz, aber noch nicht von Austerität und Widerstand dagegen geprägt sein. Dabei ist auch zu beachten, dass die Kosten für die Corona-Hilfen auch weiterhin stark auf den Regierungen lasten und noch nicht wieder zurückgeholt werden konnten. Das ist sicher auch einer der Gründe für die Unsicherheit im Handeln der jetzigen Regierung.

Die türkis-grüne Koalition ist instabil und angreifbar. Sie hat in den Umfragen massiv an Zustimmung verloren, die Minister:innen werden nicht anerkannt und die beiden Parteien streiten heftig, miteinander und intern. Das macht sie nicht weniger klassenbewusst (für die herrschende Klasse), sie verliert die Perspektive als „ideelle Gesamtkapitalistin“ aus dem Blick, weil der eigene Machtverlust bedrohlicher ist. Sie kann derzeit schon durch vergleichsweise wenig Druck auf der Straße und in den Betrieben zum Einlenken gezwungen werden.

Gleichzeitig setzt die ÖVP in solchen Fällen auf offenen Rassismus (Sachslehner: „Jeder Asylantrag ist einer zu viel“) und staatliche Schikanen vor allem gegen Asylwerber:innen. Auch die SPÖ hat nach der Wahl im Burgenland einen Kurs des offen hetzenden Rassismus eingeschlagen (Rendi-Wagner: „Wir haben ein Migrationsproblem“).

Die sozialdemokratische Opposition ist seit dem Abtreten von Sebastian Kurz schwach und fast handlungsunfähig. Ihre Strategie, die Regierung durch Untersuchungsausschüsse unter Druck zu setzen hat nicht funktioniert. Sicher auch deshalb, weil die ÖVP die Geschäftsordnung und Medienlandschaft geschickt navigiert, aber auch weil der Ausschuss-Fokus der SPÖ von Anfang an eine Vermeidungsstrategie war, um nicht auf die eigene Mitgliedschaft, die Betriebe, oder außerparlamentarische Oppositionsarbeit zurückzugreifen. Unter dem Eindruck von Krieg und Hochinflation arbeitet die Bundespartei als „loyale Opposition“, die Verbesserungsvorschläge macht und die langsame Umsetzung kritisiert. Die SPÖ präsentiert kein Alternativprogramm zur Regierungslinie und macht folgerichtig auch keinen Druck auf Neuwahlen oder wirksamen politischen Widerstand. Die Neuwahlen können natürlich trotzdem kommen, aber aus der Instabilität der Regierungskoalition wird sie den Sozialdemokrat:innen eher „passieren“.

In dieser Situation ist eine Annäherung der Nehammer-ÖVP an Kickl und die FPÖ möglich. Die Parteien stimmen in weiten Teilen ihrer Krisenpolitik überein, die aus rassistischer Spaltung und Politik im Sinne der Reichsten besteht. Die soziale Rhetorik der FPÖ ist auch nicht teurer als die Forderungen des Gewerkschaftsflügel in der SPÖ (als mögliche Alternative). Es ist nicht gesagt, dass die türkis-grüne Koalition platzen wird, sie ist aber viel Druck ausgesetzt. Eine Neuauflage des schwarz-blauen Rechtsblocks und seiner radikalen Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse ist also durchaus im Bereich des Möglichen.

Es gibt keine tragfähige und politisch denkbare Koalition ohne ÖVP, es ist aber eine neue große Koalition mit einer deutlich nach rechts rückenden SPÖ denkbar. Das beschleunigt auch die Tendenzen innerhalb der ÖVP, die grüne Koalitionspartnerin anzugreifen.

Zusammengefasst ist die politische Ökonomie seit 2020 von den gleichzeitigen Auswirkungen der Gesundheitskrise, Klimakrise und der imperialistischen Zuspitzung geprägt. Daraus entstehen recht komplizierte Wechselwirkungen zwischen Produktion und Verwertung, die die kommende Rezession vertiefen werden.

Ausgangslage: Lockdowns und kapitalistische Reproduktion

Die grundlegende ökonomische Dynamik im Kapitalismus ist die Akkumulation von Kapital, die Marxist:innen in den „Reproduktionsschemata“ darstellen. Kapitalist:innen tauschen Kapital in Geldform (oft zumindest teilweise als Kredit) für Waren, besonders Produktionsmittel, Vorprodukte und Arbeitskraft. Wenn die im Produktionsprozess zusammenwirken, entstehen neue (andere) Waren. Werden diese verkauft, hält der/die Kapitalist:in am Ende wieder Kapital in Geldform in der Hand, im Idealfall mehr als am Anfang (die Verwertung des Kapitals). In einer nächsten Runde wird dieses Geld wieder in mehr Kapital investiert, dadurch vermehrt sich das gesellschaftliche Kapital ständig („Kapitalakkumulation“). Abgekürzt wird das als Geld – Ware – andere Waren – mehr Geld oder G – W – G‘ dargestellt.

Die Kapitalakkumulation ist der grundlegende Motor der kapitalistischen Entwicklung. Sie hat die Warenproduktion (W – W‘), die Kapitalverwertung (W‘ – G‘) und die Wieder-Investition (G‘ – W) als notwendige Bestandteile.

Im Produktionsprozess sinkt aber die Profitrate auf mittlere Sicht, weil bei beschleunigter Akkumulation immer mehr Kapital auf dieselbe Arbeitskraft kommt und damit weniger Mehrwert pro eingesetztem Kapitalstock entsteht. Eine Gegenstrategie (von mehreren) zur fallenden Profitrate ist die Beschleunigung des Kapitalumschlags (der Zeit zwischen G und G‘) durch reibungslose Logistik, globale Produktionsketten, aber auch kurzfristig verfügbaren Krediten.

Die Lockdowns ab 2020 haben diese beschleunigte Reproduktion immer wieder unterbrochen. Am offensichtlichsten war das anhand von geschlossenen Fabriken, aber auch großen chinesischen Häfen und Zusammenbrüchen in Containerschiffahrt oder LKW-Transporten. Die Zerstörung mehrerer russisch-europäischer Gaspipelines und die Einschränkung der Lieferungen durch die Pipelines in der Ukraine, aber auch die Sanktionen und Lieferembargos im Rahmen des Kriegs schlagen in dieselbe Kerbe.

Niedriginflation nach 2008, Hochinflation ab 2022

Nach der globalen Wirtschaftskrise ab 2008 folgte eine lange Zeit der Niedriginflation in den imperialistischen Zentren. Die von den Zentralbanken angestrebte Durchschnittsinflation von 2 % wurde nicht erreicht, das mit „unorthodoxer Geldpolitik“ günstig verborgte Geld kam nicht über die Banken hinaus. Statt in der Konsum- oder Investitionsnachfrage landeten die Zentralbank-Milliarden an den Börsen (wo es tatsächlich zu einer Preisexplosion von Finanzprodukten, also asset inflation kam). Die Niedriginflation war eine Krisenfolge und führte zu tatsächlichen Problemen in der Kapitalakkumulation. Gleichzeitig muss gesagt werden, dass in den „Minwarenkörben“ der Arbeiter:innen sehr wohl Inflationsraten jenseits der 2 % erreicht wurden, einige neokoloniale Länder sogar in die Hyperinflation gingen.

Auf den Einbruch 2020 und den Kriegsbeginn 2022 folgte dafür eine Hochinflationsperiode. Die Preise hatten bereits ab 2021 deutlich an Fahrt aufgenommen. Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine und dem begleitenden Wirtschaftskrieg kam ein Preisschock auf den Energiemärkten dazu. Die liberalisierten Strom- und Gasbörsen auf dem Weltmarkt breiteten diesen Schock in alle Wirtschaftsbereiche aus.

Sowohl die Niedrig- als auch die Hochinflation zeigen systematische Probleme im Kapitalismus auf. Sie sind aber nicht für die Krise verantwortlich, sondern umgekehrt die Folge von erst niedrigen Profitraten und anschließend hoher Unsicherheit bei den erwarteten Profitraten. Die Antwort der Regierungen, besonders in den USA, ist eine Rezession einzuleiten, um die Konsumnachfrage zu schwächen. Die Inflation ist aber nicht durch „heißgelaufene“ Nachfrage ausgelöst worden und wird nicht im erhofften Ausmaß fallen. Trotzdem ist die Leitzinserhöhung ein wirkungsvoller Angriff, um die Krisenkosten auf unsere Schultern zu verteilen.

Neue Blockbildung und Positionierung der für den österreichischen Imperialismus zentralen Balkanstaaten

Nicht erst seit dem Krieg zeigt der weltweite Kapitalismus eine Tendenz zur Deglobalisierung. Das liegt einerseits an der neuen Blockbildung, grob zwischen den Polen USA/EU und China/Russland sowie den entstehenden Wirtschaftskriegen. Der zeitweise, wiederholte Zusammenbruch der internationalen Logistik, erst durch Ölpreisschwankungen Anfang 2020, dann durch Lockdowns, beschleunigte diese Tendenz. Die neue US-Administration führt hier im Großen und Ganzen die Trump-Politik einer weiteren Konfrontation mit China fort. Änderungen sind hier vor allem in Bezug auf 1) einen gemeinsamen Ansatz mit seinen traditionellen Verbündeten (EU, GB, Japan, Australien) aber auch neuen Verbündeten (Indien), 2) Zuspitzung auf zielgerichtetere Maßnahmen (Chips-Embargo statt Einfuhrzöllen). Im militärischen Bereich gibt es hingegen die größten Kontinuitäten (Quad, mögliche Verteidigung Taiwans gegen Angriff, etc.).

Die Blockbildung zieht sich aber auch durch Ost- und Zentraleuropa, für den österreichischen Imperialismus zentrale Regionen. Das österreichische Kapital konnte sich überhaupt erst durch den Zusammenbruch der stalinistischen Staaten und gezielte Investitionen des Bank- und Handelskapitals von Deutschland unabhängig machen. Bis heute ist Österreich am Balkan, in Zentraleuropa und in Russland über-exponiert. Das hat bereits 2011 zu massiven Verlusten österreichischer Banken geführt, als ein Rückzahlungseinbruch am Balkan mit der Rubelkrise zusammenfiel. Die teilweisen Versuche Russlands, serbische und ungarische Nationalist:innen auf ihre Seite zu ziehen, werden die Lage für das österreichische Kapital weiter anspannen und Angriffe auf die Arbeiter:innen zur Folge haben.

Bestandaufnahme: österreichische Wirtschaft 2022

2021 und 2022 hat das österreichische Kapital hohe Wachstumsraten erzielt. Das Bruttoinlandsprodukt ist um jeweils fast 5 % gestiegen. Der Arbeitsmarkt hat sich so weit erholt, dass es 2022 sogar zu einer Arbeitskräfteknappheit kam. Diese erstreckt sich von angelernten Niedriglohnberufen bis zu Facharbeiter*innen, ist also ein gesamtgesellschaftliches Phänomen.

Das Wachstum war aber von Aufholeffekten getragen. 2021 produzierte die Industrie mehr als 2020, weil damals Fabriken und Transportwege teilweise geschlossen waren. 2022 waren es Tourismus und Hotellerie, die im Vergleich zu den Lockdownmonaten höhere Einnahmen hatten. Der Einbruch 2020 ist damit aber nicht ausgeglichen, wobei die staatlichen Hilfszahlungen hier viele Unternehmen vor der Insolvenz retten konnten. Das bedeutet aber auch, dass die Ursachen der Rezession, nämlich Überakkumulation und niedrige Profitraten, weiter auf den Ausbruch warten. Die Bruttoinvestitionen und der Privatkonsum sind 2022 bereits zurückgegangen.

Die österreichischen Banken sind gleichzeitig überexponiert, also hohem Risiko ausgesetzt, vor allem durch die Investitionen in Ost- und Zentraleuropa sowie Russland. Ein plötzlicher Einkommensverlust bei Facharbeiter:innen könnte außerdem die Kreditrückzahlung bei Hypotheken in Wanken bringen. Gleichzeitig scheinen die europäischen Regulierungsbemühungen nach 2008 bei den österreichischen Geschäftsbanken schon zu Veränderungen geführt zu haben. Die Eigenkapitalquote ist, bis auf Kleinstbanken wie im berüchtigten Mattersburg, relativ stabil. Das wird nicht ausreichen, wenn es eine gesamtwirtschaftliche Krisendynamik gibt (das zeigt auch die jetzt schon langsamere Kreditvergabe). Derzeit deutet aber nichts darauf hin, dass diese in Österreich vom Bankensektor ausgehen würde.

Eine globale Finanzkrise ist aber durchaus im Rahmen des Möglichen. 2022 gab es Liquiditätsprobleme und sogar Insolvenzen bei Energieunternehmen, die auf liberalisierten Strom- und Gasmärkten ähnlich wie Finanzinstitute agieren. Gleichzeitig kam es an den großen Aktienbörsen zu einem anhaltenden Kursverfall im ersten Halbjahr 2022, und die Kryptowährungs-Börsen erlebten Zusammenbrüche. Sowohl bei der Deutsche Bank, Credit Suisse als auch bei Blackrock wurden Finanzierungslücken öffentlich. So kann bei fallenden Finanzrenditen die Blase platzen und zu einem „Lehman Moment“ wie 2008 führen, also dem ersten großen Bank-Dominostein, der umfällt. Egal ob die Krise vom Finanzsektor ausgeht oder der Finanzsektor als Multiplikator darunter liegender Krisendynamiken funktioniert, wird mit der Rezession ab 2023 auch eine Finanzkrise einhergehen. Die Banken werden keinesfalls stabilisierend wirken können, sondern im Gegenteil die Geschwindigkeit der Krisenentwicklung weiter anheizen.

Türkis-Grüne Umverteilungsmaschine

Die türkis-grüne Regierung ist in allererster Linie instabil. Die beiden Parteien halten sich aneinander fest, für die ÖVP geht es um den Machterhalt nach dem Zusammenbruch von Schwarz-Blau, für die Grünen um die erstmalige Regierungsbeteiligung. Die politische Schnittmenge der Koalition ist gering.

Im Gegensatz zur rot-schwarzen großen Koalition sind aber bei türkis-grün die Arbeiter:inneninteressen nicht einmal mehr indirekt vertreten. Der Einfluss der Gewerkschaften im SPÖ-Parlamentsklub hat die Klasse zwar politisch gelähmt, aber sie waren nie bereit ihre grundlegenden Interessen aufzugeben. Worauf sich ÖVP und Grüne einigen können, ist eine breite Bereitstellung von Staatsmitteln an das Kapital, mit Detailfragen zu Klein- oder Großkonzernen und wie wichtig der Öko-Fokus bei den Förderungen sein soll. Außerdem wissen die Grünen, dass ihr nächstes Wahlergebnis davon abhängt, wie glaubwürdig sie ihre soziale Rhetorik formulieren.

Türkis-grün wird medial und von der Opposition vor allem als zurückhaltend und inkompetent dargestellt. Tatsächlich hat die Regierung aber als Umverteilungsmaschine von unten nach oben effektiv funktioniert. Das zeigt sich am Wachstum der Profite durch COFAG-Hilfen bei gleichzeitigen Reallohnverlusten, der Preistreiberei staatlicher Energiekonzerne (zugunsten der privaten Minderheits-Shareholder) und auch an den Vorschlägen für Verschärfungen im Arbeitslosenversicherungs- und Pensionsgesetz (auf die sich die Koalitionspartnerinnen aber nicht einigen konnten).

Für direkte Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse ist die Koalition derzeit aber zu schwach. Auch wenn die Bundes-SPÖ desorganisiert ist, haben die Gewerkschaften mit Warnstreiks und der Mobilisierung für Preissenkungen im Herbst klar gemacht, dass sie noch Kampfmittel haben. Daraus erklärt sich auch die Zurückhaltung bei Erzwingungsstreiks bei den Kollektivvertragsverhandlungen, eine Mobilisierungsniederlage hätte diese Drohung abgeschwächt.

Auch eine Neuauflage der großen Koalition ist denkbar, für die ÖVP und die hinter ihr stehenden Kapitalfraktionen aber weniger attraktiv als Schwarz-Blau und Schwarz-Grün. Diese Koalition würde den Rechtsruck der SPÖ weiter beschleunigen, die parteiinternen Konflikte beruhigen aber hinter der Fassade weiter zuspitzen. Eine SPÖ, die die Krisenausterität mitträgt, würde die Gewerkschaft nachhaltig schwächen, aber oppositionelle Kräfte in ihr stärken.

Die Instabilität der Koalition geht aber mit einem entschlossenen Kurs einher. Beide Parteien wollen dringend an der Macht bleiben, für die Grünen steht perspektivisch mal wieder die Existenz im Parlament, für die ÖVP das Umkrempeln der Partei nach Mitterlehner auf dem Spiel. Vor allem wollen sie ihre Kern-Kapitalfraktionen an sich binden, die sich wegen dem Tumult der letzten Jahre auch auf andere Kräfte (vor allem NEOS und FPÖ) orientieren könnten.

Wenn Nehammer und Kogler gemeinsam an der Macht bleiben, werden sie in die Offensive gehen müssen. Zerbrechen sie an dieser Herausforderung, droht eine neue Rechtsblock-Regierung.

Schwache Opposition

Die parlamentarische linke Opposition wird in Österreich vor allem von der Sozialdemokratie gestellt. Sie hatte bis in die 1990er-Jahre eine entscheidende Rolle im Aufbau und der Verwaltung des österreichischen Kapitals. Wegen der zentralen Rolle der verstaatlichten Industrie übernahm die Verwaltungsbürokratie die unterstützende Rolle, die andere Kapitalfraktionen für normale bürgerliche Parteien einnehmen. Damit hatte die SPÖ eine soziale Basis sowohl in der organisierten Arbeiter:innenklasse als auch im Management der Kernindustrien. Die ideologische Entsprechung war die Sozialpartner*innenschaft mit jährlichen Lohnverhandlungen und hoher kollektivvertraglicher Abdeckung als Abstimmungsmechanismus.

Die ökonomische Grundlage der Sozialpartner:innenschaft war die historische Schwäche des österreichischen Kapitals nach dem zweiten Weltkrieg. Sie war kein Zugeständnis an eine besonders kämpferischen Arbeiter:innenklasse, sondern ein Einbinden in die nationale Akkumulationsstrategie. Nachdem die ganz gut funktionierte und das österreichische Kapital ab 1990 sogar eigenständig imperialistische Bestrebungen durchführen konnte fiel die ökonomische Basis der Sozialpartner:innenschaft weg. Der Zusammenbruch der stalinistischen Staaten in Ost- und Zentraleuropa schuf einen Nährboden für einen eigenständigen österreichischen Zusammenbruch, gleichzeitig fiel die „Systemalternative“ weg, die viele Zugeständnisse motiviert hatte. Firmen haben, bis auf Ausnahme- und Krisensituationen, kein Interesse mehr an Sozialpartner:innenschaft, die entsprechenden Rechtsformen und die Ideologie existieren aber weiterhin.

Die Sozialdemokratie orientiert sich also weitgehend an einem Gesellschaftsentwurf, den es nicht mehr gibt. Ihre Strategie in der Regierung und in der Opposition ist die Befriedung von Klassenkämpfen bei gleichzeitiger Verlangsamung von Verschlechterungen für die eigene soziale Basis. Ihre programmatische Stoßrichtung ist aber leer und die Partei kommt auch deshalb nicht aus ihrer Krise heraus. Angesichts einer rechten Wähler:innenmehrheit bedeutet das einen massiven Bedeutungsverlust der Sozialdemokratie seit dem Zusammenbruch der stalinistischen Staaten.

Die parlamentarische Opposition hat das dadurch entstehende Vakuum nicht füllen können. Die KPÖ ist, bis auf die Steiermark, zu schwach, um ihr eigenes linksreformistisches Programm verwirklichen zu können. Noch weniger ist sie in der Lage, eigene Kämpfe gegen die Regierung zu führen oder effektiv auf die parlamentarische Ebene zu tragen.

Die Grünen als bürgerliche Partei konnten nach dem Aufflammen der Klimaproteste im ersten Halbjahr 2019 bei den Wahlen im Herbst 2019 deutlich profitieren – vor allem auf Kosten der SPÖ. Doch mit dem Regierungseintritt Anfang 2020 verlor einerseits die breite Klimabewegung an Fahrt (vielmehr ging der Fokus nach einer Pandemie-Pause auf radikalere, aber kleinere Aktionsformen über), andererseits enttäuschten die Grünen in der Regierung mit ihrer zaghaften Klimapolitik.

Aber auch die außerparlamentarische Opposition ist gleichzeitig schwächer geworden, statt den Bedeutungsverlust des Reformismus für sich zu nutzen. Wir haben es nicht geschafft, einen Fuß in die Tür zu den Gemeindebauten und Arbeiter*innenbezirken zu bekommen, als sie langsam hinter der SPÖ zugegangen ist. Zu keinem Zeitpunkt wurde außerparlamentarischen Gruppen das Vertrauen entgegengebracht, dass die SPÖ zu ihren Hochzeiten genoss, nämlich die Anliegen der Arbeiter:innen und Erwerbslosen effektiv zu vertreten.

Aber auch die klassische Rolle der außerparlamentarischen Linken, gegen die richtigen Dinge zu protestieren und scharfe Kritik zu äußern, hat sie in der Bevölkerung verloren. Gegen den Aufstieg der FPÖ, gegen Rassismus und auch gegen die eskalierende Klimakrise hatten wir noch Antworten mit Massenwirkung gefunden, auch wenn sie nicht mehrheitsfähig waren. Wir haben es aber nicht geschafft, auf Pandemiepolitik und Krieg Antworten zu finden, die breiter in der Arbeiter:innenklasse oder den fortschrittlichsten Schichten verankert wären. Die Mobilisierungsfähigkeit der radikalen Linken und der linken „Zivilgesellschaft“ ist 2022 massiv gesunken. Das ist ein ordentliches Problem, wenn wir uns auf ein Jahr der Abwehrkämpfe vorbereiten.

Perspektiven

Die Weltwirtschaft wird 2023 in eine Rezession übergehen, bei weiterhin hoher Inflation in den imperialistischen Zentren. Die ist durch die Unsicherheit in der Kapitalakkumulation getrieben, die wiederum auf den Krieg, die Pandemie, und Auswirkungen der Klimakrise zurückgeht. Das wird Österreich besonders betreffen, weil die Abhängigkeit von Energie aus Russland, und der wirtschaftlichen Entwicklung Osteuropas besonders groß ist. Das österreichische Bankensystem ist in Gebieten überexponiert, die von der neuen Blockbildung betroffen sind, wirkt aber stabil genug um nicht der Auslöser einer tiefen Krisendynamik zu sein.

Die Regierungskoalition ist instabil, sie muss sich gleichzeitig um das Vertrauen von entscheidenden Kapitalfraktionen und ein Mindestmaß an Zustimmung aus der Bevölkerung bemühen. In dieser Konstellation rechnen wir nicht mit breiten Angriffen auf die Arbeiter:innenklasse, aber großzügigen Mitteln für das Kapital und Umverteilung von Unten nach Oben. Einzelne scharfe Verschlechterungen, beispielsweise bei Erwerbslosen und rassistische Angriffe sind aber zu erwarten. Außerdem wird 2023 bestimmt ein Sparpaket vorbereitet und eventuell schon stückchenweise umgesetzt werden.

Die rechte Opposition um FPÖ und NEOS wird weiter stärker werden, sie bündelt auch effektiv die Unzufriedenheit in verschiedenen Teilen der Bevölkerung.  Ein Koalitionsbruch mit kurzem „freiem Spiel der Kräfte“ und anschließender Rechtsblock-Regierung ist eine reale Gefahr.

In dieser Situation werden sich auch die Konflikte innerhalb der SPÖ zuspitzen, die im Niedergang der Sozialpartner:innenschaft keine strategische Orientierung mehr hat. Durch den rassistischen Rechtsruck der Parteiführung sind Konflikte mit den Jugendorganisationen wahrscheinlich. Aber auch in den Gewerkschaften kann ein Streit über die Ausrichtung der eigenen Arbeit und die fehlende Kampfbereitschaft der Führung entstehen.

Kommunist:innen und Revolutionär:innen starten also mit großen Aufgaben und wenigen Ressourcen ins Jahr 2023. Um überhaupt außerparlamentarisch wirkmächtig zu werden, müssen sie eine stringente Analyse der Periode weiterentwickeln und klare Antworten auf die Fragen von Inflation und Krieg geben. Wir müssen außerdem klären und erklären, welches Feindbild in dieser Situation angegriffen werden kann – die Umverteilungsregierung, die Überprofit-Konzerne und die rechten Hetzer:innen.

In den kommenden Auseinandersetzungen, wie schon bei den rotesten um die Kollektivvertragsverhandlungen 2022, können wir den Kontakt zu organisierten Arbeiter:innen aufbauen und Zusammenarbeit mit gewerkschaftlichen Strukturen suchen. Auch die sich radikalisierende Klimabewegung und antirassistische Mobilisierungen sind Felder, wo gemeinsamer Protest und kritische Diskussionen notwendig sind.

Die immer tieferen, immer komplexeren Krisen des Kapitalismus zeigen auf, dass es eine Alternative zum bestehenden System braucht. Das bedeutet nicht nur, eine Alternative zum Kapitalismus zu entwerfen, sondern auch Organisationsformen und eine Partei aufzubauen, die die Unterdrückten vereint und mit der sie erfolgreich siegen können. In Österreich bedeutet das, den Kräften links der reformistischen Organisationen ein revolutionäres Programm vorzulegen, und sie in der gemeinsamen Aktion von einer revolutionären Methode zu überzeugen.

Endnoten

[1] WIFO Presseaussendung am 7. Oktober 2022. „Stagflation in Österreich. Prognose für 2022 und 2023.“

[2] Stagflation ist ein Begriff aus der Volkswirtschaftslehre. Bürgerliche Ökonom*innen gehen davon aus, dass Inflationsraten gedämpft werden wenn die Wirtschaft schrumpft, weil die sinkende Nachfrage auch die Preise dämpft. In den Ölpreiskrisen der 1970er-Jahre hat dieses „Patentrezept“ (das auf Kosten von Arbeitsplatzverlust und Sozialabbau geht) versagt, weil die Inflation weder von Konsum- und auch nicht von Investitionsnachfrage getrieben wurde. Von damals stammt auch das Wort Stagflation.

[3] IHS Presseinfo am 6. Oktober 2022. „IHS-Direktor Klaus Neusser zur Herbstprognose der österreichischen Wirtschaft 2022–2023: „Wir kommen mit ein paar Schrammen gut durch den Winter.“

[4] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunktur/eu-kommission-herbstprognose-bip-inflation-101.html




Rückkehr der Inflation?

Markus Lehner, Infomail 1176, 19. Januar 2022

Inflationsraten Ende 2021 von 5,3 % in Deutschland oder 7 % in den USA – so etwas kannten viele BewohnerInnen der imperialistischen Zentren nur noch aus Erzählungen „aus grauer Vorzeit“ oder von Ländern des „globalen Südens“. Seit einigen Monaten sind Inflationsraten über 2 % üblich geworden. Zunächst erklärten WirtschaftsforscherInnen und ZentralbänkerInnen, dass es sich um Sondereffekte handeln würde: kurzfristige Lieferengpässe aufgrund der wirtschaftlichen Folgen von Corona oder Spezialeffekte, wie die Rücknahme der Mehrwertsteuerermäßigung.

Inzwischen sind die meisten dieser ExpertInnen sehr viel vorsichtiger geworden – insbesondere nachdem der Vorsitzende der FED, der US-Zentralbank, erklärte: „Inflation is here to stay“. Die Frage ist also: Stehen wir am Beginn einer neuen Ära der Inflation – und wenn ja, aus welchem Grund? Insbesondere stellt sich die Frage nach den Auswirkungen auf die ArbeiterInnenklasse und die notwendige Reaktion darauf.

Zunächst einmal: Was ist überhaupt Inflation?

Einfach gesagt geht es um eine allgemeine und längerfristige Steigerung der Preise, die nicht nur einen bestimmten Sektor, sondern wesentliche Bereiche sowohl für den Massenkonsum als auch für Investitionsgüter betrifft. Das Schwierige dabei ist, dass eine solche übergreifende Preissteigerungstendenz sehr verschiedene Ursachen haben kann. Da es sich bei Preisen um ein quantitatives Verhältnis von Geld und Waren handelt, in dem sich letztlich ein Wertverhältnis widerspiegeln muss, kann die Ursache sowohl auf der Geld- wie auf der Warenseite liegen.

Geld dient einerseits als Zirkulationsmittel, um den Tausch von Waren zu ermöglichen, und andererseits als Wertmaßstab im Tauschverhältnis (tritt uns also z. B. als Preis einer Ware entgegen). Daher können sowohl Schwankungen in der Geldmenge als auch im Wert des Geldes das allgemeine Preisniveau beeinflussen. Der klassische Fall in der Geldtheorie waren die massiven Zuflüsse von Silber in der frühen Neuzeit aus den spanischen Kolonien. Herrschte zuvor trotz Ausdehnung von der Arbeitsproduktivität in Europa Geldknappheit und damit eine Tendenz zu fallenden Preisen, so führte die Ausdehnung der Geldmenge vor allem in Spanien zu einer massiven Inflation (samt Abfluss des Silbers in die produktiveren Sektoren Europas). War dies zunächst der erhöhten Nachfrage geschuldet, so wurde es noch verstärkt, indem die Silbermünzen immer mehr „gestreckt“ wurden (d. h. ihr nomineller und realer Wert auseinanderfielen).

Zusätzlich ist Geld nicht nur Zirkulationsmittel und Maßstab der Werte – es ist durch Kredit- und Wechselgeschäfte immer auch Zahlungsmittel für Tauschvorgänge, bei denen Kauf dem Verkauf vorgezogen wird (nachträgliche Zahlung mit entsprechender Verzinsung). Auch durch Schwankungen der Masse an Zahlungsmitteln und deren Werte (sowie der Zinsen) können Preiseffekte entstehen. Dies betrifft Phasen der Ausdehnung der „Liquidität“ (Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit einer wachsenden Zahl von GläubigerInnen) wie ihres Schrumpfens. Ein hohes Ausmaß an Zahlungsausfällen und Zurückhalten von kurzfristiger Vorfinanzierung – wie z. B. nach der Finanzkrise 2008 – führt zu Marktstockungen und damit kurzfristig zu raschem Preisverfall für plötzlich schwer verkäufliche Waren. Langfristig wirkt hingegen die Ausdehnung der Geldmenge als Zahlungsmittel auch inflationär – wenn der so zum Anwachsen gebrachten Nachfrage (Kauf) langfristig nicht auch die entsprechenden Gegenleistung entspricht (Verkauf). Moderne Inflationen entspringen zumeist Ungleichgewichten in diesen Kreditgeldsphären und weniger dem klassischen Geldumlaufbereich.

Weltmarktstellung, Finanzsystem und Inflation

Von Seite der Ware her gesehen ist das Phänomen der Inflation vor allem eines des Verhältnisses von Wert und Preis. Der Wert wird wesentlich bestimmt durch die gesellschaftliche Arbeitszeit, die für die Produktion der Ware unter den vorherrschenden durchschnittlichen Arbeitsbedingungen notwendig ist. D. h. längerfristige Veränderungen der Arbeitsproduktivität, vor allem sektoral oder regional, führen zu Ausgleichsbewegungen, die sich durch Veränderungen der Preise vermitteln. So hat die „billige Industrieware“ des britischen Kapitals im 19. Jahrhundert auf dem vom Britannien dominierten Weltmarkt zu einer Ära fallender Preise geführt. D. h. obwohl Britannien praktisch das ganze 19. Jahrhundert eine nachhaltig steigende Staatsverschuldung erlebte, führte dies nicht zu Inflation, da dies mehr als wettgemacht wurde durch den deflationären Effekt der Weltmarktstellung des britischen Kapitals. Ein Produktivitätsvorteil, der lange von KonkurrentInnen nicht eingeholt werden kann, kann durch Verkauf über Wert zu einem Werttransfer führen. Trotz Ausdehnung der Geldmenge (dargestellt noch in Gold bzw. damit gedeckten Äquivalenten) wurde dies durch den Zufluss an ausländischen Werten (Gold oder Anleihen) mehr als wettgemacht.

Der Zusammenbruch der Goldwährungssysteme (British Empire, Bretton Woods) hatte jeweils die Gefahr von inflationären Krisenphasen zur Folge gehabt. Um das Beispiel der 1970er Jahre heranzuziehen: Der lange Boom der Nachkriegsperiode endete in Profitabilitätsproblemen, Stockungen der Investitionstätigkeit und Stagnation der Arbeitsproduktivität. Gleichzeitig war der Welthandel stark von nationalstaatlichen Beschränkungen und Monopolpreisen bestimmt. Die Überschuldung der USA, die zur Aufkündigung der Währungsregulierung von Bretton Woods 1973 führte, überschwemmte den Weltfinanzmarkt mit Dollars, die per Schuldenfinanzierung zur Ankurbelung der stockenden Wirtschaften dienen sollten. Tatsächlich kamen letztere jedoch nicht vom Fleck, weshalb sich im Verlauf der späten 1970er Jahre auch in den reichen Industrieländern die Inflationsraten auf die 10 % zubewegten. Stagnation, Verschuldung und Inflation wurden zum Teufelskreis der „Stagflation“ – bis die US-Zentralbank 1982 mit massiven Zinserhöhungen („Volcker-Schock“), teilweise bis zu 20 %, den großen „Dollar-Staubsauger“ anwarf. Die danach einsetzende massive Schuldenkrise war einer der entscheidenden Hebel für die Durchsetzung der neoliberalen Angriffe und der Durchsetzung des „Washington Consensus“ während der 1980er Jahre.

Die darauffolgende Globalisierungsperiode führte zu zwei Jahrzehnten von globalem Wachstum, gestützt auf den Zusammenbruch der degenerierten ArbeiterInnenstaaten, massiver Deregulierung und Privatisierung, Abbau von Handelsschranken und nationalen Schutzbestimmungen – und damit der Ankurbelung von Arbeitsproduktivität und Investitionstätigkeit aufgrund entsprechender Profitraten. Die Deregulierung der globalen Finanzmärkte führte zu einer Ära der scheinbar unbegrenzt wachsenden Liquidität, der Zahlungsmittel für einen in neuer Qualität wachsenden Weltmarkt. Insbesondere die Verbilligung von Waren und Dienstleistungen durch globales Outsourcing, Steigerungen von Produktivität und Ausbeutungsraten zeitigte durch das Sinken der Herstellungspreise einen deflationären Effekt. Die scheinbar explodierenden Geldmengen führten unter diesen spezifischen Bedingungen nicht zur Inflation. Außerdem wuchs die Massenkaufkraft in Folge der neoliberalen Lohn- und Haushaltspolitik auch in den imperialistischen Ländern nicht in entsprechendem Ausmaß, so dass der Geldüberhang eher wiederum in neue Finanzmarktprodukte floss und das Kreditgeldsystem stabilisierte. In den imperialisierten Ländern dagegen wurden diejenigen, die den „Washington Consensus“ verließen, ganz automatisch durch Schrumpfen der Dollarreserven oder Abwertung ihrer Währung mit Inflation gestraft. Die Inflation war also nicht verschwunden – nur dass sie in den imperialistischen Ländern als solche der Finanzwerte, in den imperialisierten Ländern als Zwangsmittel zur Aufrechterhaltung neoliberaler Politik auftrat.

Globale Krise

Mit dem Sinken der Profitraten in den frühen 2000er Jahren kehrte die Realwirtschaft zur Stagnation zurück, während der spekulative Boom durch das Aufblasen der Finanzmärkte weitergetrieben wurde – bis zur Finanzmarktkrise 2008. Die vorläufige Rettung des globalen Kapitals wurde paradoxerweise 2009/2010 mit der Politik des „Quantitative Easing“, also der extremen weiteren Ausdehnung der Zahlungsmittelmengen erzielt. Damit wurde die Liquidität wiederhergestellt und gleichzeitig ein großer Teil der imperialistischen Kapitale gerettet. Da die 2010er Jahre in den alten imperialistischen Ländern aber gleichzeitig weiterhin durch sehr geringe Wachstums- und Profitraten in der Realwirtschaft gekennzeichnet waren, stellt sich die Frage, warum sich das dort nicht als Inflation ausgewirkt hat. Hier wirkten folgende drei Faktoren: (1) Die Gewichte im Welthandel hatten sich stark zu Gunsten von China verschoben, das als Lokomotive der Weltwirtschaft mit seinen Produktionsketten den Weltmarkt weiterhin mit billigen Herstellerpreisen bedienen konnte; (2) die Antikrisenpolitik in den imperialistischen Ländern fußte weiterhin auf Stagnation der Löhne und Massenkaufkraft; (3) trotz der Politik des billigen Geldes vertraute das globale Kapital aus Angst vor schlimmeren Verlusten in sogar gesteigertem Maße ihr Geld den klassischen imperialistischen Anlagemärkten an. In Folge wurden viele der angeblich aufsteigenden Schwellenländer (z. B. Brasilien, Türkei) durch Kapitalmangel und schrumpfende Weltmarktchancen gebeutelt. In vielen dieser Länder breitete sich bereits Stagflation aus.

Die Corona-Krise traf dieses sowieso schon krisenhafte Weltsystem. Mit dem Wachstumseinbruch der ersten Corona-Welle und den folgenden Einschränkungen, was Welthandel, Transport und Zulieferindustrien betraf, kam es zu schweren Rezessionen in fast allen Ländern des Globus. Wiederum wurden in den imperialistischen Ländern massive Geldmittel zur „Überbrückung“ bis zum erneuten Anlaufen der Weltwirtschaft bereitgestellt. Dies betraf sowohl große staatliche Ausgabenprogramme wie auch weitere Ausweitung der Zahlungsmittelmengen (z. B. durch Übernahme gefährdeter Finanzierungen). Anders, als sich Regierungen und Zentralbanken es vorstellten, ging die Krise aber nicht so rasch vorbei. Insbesondere führten das Prinzip „so wenig Lockdown in den Betrieben wie möglich“ ebenso wie der Mangel an Unterstützung der Impfkampagnen in der imperialisierten Welt dazu, dass die Pandemie unvermindert weitergeht, von Mutationswelle zu Mutationswelle.

Außerdem wächst das Gewicht der schon seit der letzten Krise immer zahlreicher werdenden „Zombiekapitale“ (Betriebe, die abseits der bestehenden Geldpolitik längst zahlungsunfähig wären). Dies drückt die gesamtwirtschaftliche Produktivität, bindet Kapital für neue Investitionen und drückt die Durchschnittsprofitrate. Die Wachstumsraten, die sich bisher für das neue Jahrzehnt andeuten, sind daher ebenso stagnativ wie im letzten Jahrzehnt. Dazu kommt, dass diesmal auch China in einer real- und finanzwirtschaftlichen Krise steckt (Stichwort: Evergrande). Während es diesmal nicht die dynamische Rolle auf dem Weltmarkt spielen kann, kommt auch noch dazu, dass nicht erst seit Trumps US-Präsidentschaft der Welthandel wieder deutlich protektionistischer organisiert wird. In wachsender Weise werden auch Produktionsketten wieder in die imperialistischen Kernländer zurückverlegt (Schlagwort „Deglobalisierung“).

Inflation ist zurück

All dies bedeutet, dass derzeit die gewachsene Geldmenge durch sehr viel weniger deflationäre Gegengewichte gebremst wird. Die Stimuluspakete z. B. von Bundesregierung oder USA waren stärker als 2009 auf Belebung von Massenkonsum und Investitionen ausgerichtet (in der Annahme, dass dies der kurzfristigen Überbrückung dient). Doch trafen sie auf einen weiterhin stagnierenden bzw. sogar schrumpfenden Weltmarkt. Geringere Kapazitäten in der Öllieferung führten zu steigenden Preisen mit einem Anstieg der Gaspreise in Folge. Mit den CO2-Zertifikaten führt dies insbesondere bei den Energiepreisen zu einem enormen Anstieg. Ähnliche Preisauftriebe gibt es für Baumaterialien und -maschinerie. Der Rückbau von Produktionsketten ebenso wie pandemiebedingte Ausfälle bringen auch einen Nachfrageüberhang nach Arbeitskräften mit sich, was zu einer Lohnsteigerungstendenz führt. Letztlich mündet die Finanzmarktentwicklung auch weiterhin in hohen Investitionsraten in Immobilien und damit auch zu weiter steigenden Mieten.

All das bedeutet heute, dass sich die Politik des billigen Geldes derzeit auch tatsächlich in steigenden Preisen auswirkt. Sollte es nicht zu einem raschen und starken Wachstum, fußend vor allem auf steigenden Investitionen, kommen, droht tatsächlich auch in den imperialistischen Zentren die Rückkehr der Stagflation (Kombination von Stagnation und Inflation, die einander wechselseitig verstärken). Da ein realer, von Investitionen getragener anhaltender Aufschwung nicht zu erwarten ist, müssen wir uns auch wieder auf die Schockmaßnahmen vorbereiten, die das Kapital für so einen Fall parat hält.

Zunächst einmal muss uns als Lohnabhängigen klar sein, dass eine längerfristige Phase der Inflation eine starke Bedrohung für unsere Lebensverhältnisse darstellt. Schon jetzt sind gerade NiedrigverdienerInnen und Hartz-IV-EmpfängerInnen massiv von den Preiserhöhungen betroffen. Aber auch „Normalverdienende“ werden diese zu spüren bekommen, wenn die Inflation nicht vollumfänglich in die Lohnforderungen eingeht. Alle Behauptungen von einem „vorübergehenden Phänomen“ müssen entschieden zurückgewiesen werden.

Tatsächlich kann sich das Problem von Erhöhungen von Strom- und Wohnkosten in nächster Zeit sogar extrem zuspitzen. Dies muss insbesondere bei Fragen der Enteignung von Wohnungsgesellschaften und Energiekonzernen mit eingebracht werden. Insgesamt kann die ArbeiterInnenklasse den Auswirkungen einer Stagflationskrise nur durch einen konsequenten Kampf für eine gleitende Skala von Löhnen und Arbeitszeiten unter ArbeiterInnenkontrolle begegnen, also eine unmittelbare Anpassung der Einkommen an Preiserhöhungen. Da die offizielle Inflation die Preissteigerungen der Lohnabhängigen oft nur unzureichend widerspiegelt, muss diese Erhöhung von Löhnen, Arbeitslosengeld, Renten usw. die Preisentwicklung jener Waren widerspiegeln, die vor allem von den Lohnabhängigen konsumiert werden, um sich zu reproduzieren.

Doch die Auswirkungen einer Inflation und möglicher „Schocktherapien“ der Herrschenden wie eine Rückkehr zu einer Hochzinspolitik treffen nicht nur die Preise. Ein mögliche drohende „Schocktherapie“ muss ihrerseits zwangsläufig zu einer massiven Welle von Betriebsschließungen führen – was nur mit einer koordinierten Welle von Betriebsbesetzungen beantwortet werden kann.

Viel spricht dafür, dass die zu erwartende Stagflationskrise die der 1970er Jahre global um einiges übersteigen wird. Daher können die genannten Abwehrmaßnahmen der ArbeiterInnenklasse nur die Vorbereitung auf die notwendige Offensive für den Angriff auf die Wurzel des Problems sein: das Privateigentum an den Produktionsmitteln und eine Neuaufteilung der gesellschaftlichen Arbeit unter Kontrolle der Lohnabhängigen. Die ökonomische und ökologische Krise, auf die wir zusteuern, erfordert lebensnotwendig den Kampf um eine sozialistische Gesellschaft.




Afghanistans Wirtschaft im freien Fall

Martin Suchanek, Neue Internationale 260, November 2021

Seit der Machtübernahme der Taliban ist die Ökonomie des Landes faktisch zusammengebrochen. Sein BIP soll nach Prognosen des IWF um bis zu 30 % schrumpfen – und dies, nachdem die Wirtschaft faktisch schon seit Jahren am Boden liegt.

Schon vor dem Sturz des westlichen Marionettenregimes Ghani und dem Abzug der US-Truppen und ihrer Verbündeten prägten Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und Armut das Leben der Massen auf dem Land und in den städtischen Slums. Zwei Drittel der Bevölkerung lebten unter der Armutsgrenze. Dies war eine direkte Folge des Beharrens der USA und ihrer Verbündeten auf dem „Freihandel“, der das Land für eine Flut billiger Waren öffnete, mit denen die heimische Wirtschaft nicht konkurrieren konnte. Dies galt insbesondere für die Landwirtschaft, was zu einer Flucht in die Städte führte, während das Land weiterhin unter der Kontrolle der traditionellen Führer blieb.

Doch nun droht eine humanitäre Katastrophe. Ein Drittel der Bevölkerung – also rund 12 der 37 Millionen – leidet unter Hunger und Unterernährung. Ohne rasche und massive Hilfe droht Millionen der Tod.

Ursache: Imperialismus

Für die dramatische Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage sind die ehemaligen Besatzungsmächte zu einem großen Teil verantwortlich. Nach dem Abzug der US/NATO-Truppen und dem Sieg der Taliban wurden die westlichen Hilfsgelder mit einem Schlag gestoppt.

Dabei waren es jene Finanzmittel, die in den letzten Jahrzehnten das Land überhaupt am Laufen hielten. Unter der Herrschaft der USA und ihrer Verbündeten wurden rund 40 % des afghanischen Bruttoinlandsproduktes aus internationalen Hilfsgeldern bestritten, 60 – 70 % der Staatsausgaben finanzierten die Geberländer aus dem Westen oder dem Arabischen (Persischen) Golf. Nach der Machtübernahmen der Taliban kamen diese Quellen zum Erliegen. Außerdem froren die USA und andere westliche Staaten die Reserven Afghanistans ein. Den größten Teil davon, rund 7 Milliarden US-Dollar, kontrolliert seither die US-amerikanische Notenbank, die Federal Reserve. Die Regierung Biden hat sich faktisch den größten Teil der Geldreserven angeeignet und verfügt über diese seither als Mittel zur Erpressung des Regimes in Kabul.

Mit verheerenden Folgen für die afghanische Wirtschaft! Der drastische Einbruch des BIP geht mit einem Zusammenbruch des Bankensystems, der Geldzirkulation und einer rasenden Inflation einher. Kein Wunder, dass alle, die irgendwie konnten, in den letzten Monaten ihre Bankkonten leerten, was wiederum die Geldkrise zusätzlich verschärfte. Geschäfte, Restaurants und die öffentliche Verwaltung sind zu größten Teilen geschlossen, Staatsbedienstete erhalten keine Löhne, weil der Staat faktisch pleite ist.

Da Afghanistan kaum über industrielle Produktion verfügt und die Landwirtschaft infolge von Krieg, Besatzung sowie klimatischer Veränderungen und zunehmender Dürren am Boden liegt und die eigene Bevölkerung nicht ernähren kann, droht nun eine Hungerkatastrophe. Die Inflation und der Zusammenbruch der Geldzirkulation bedeuten auch, dass auch viele Waren unerschwinglich werden – vor allem Lebensmittel, Brennstoffe für die Heizungen und auch Geld für die Miete. Mit dem Winter droht also auch das Frieren.

Die Politik des westlichen Imperialismus und vor allem der USA folgt einem menschenverachtenden zynischen Kalkül. Sie nimmt Elend, Hunger und Kälte bewusst in Kauf und nutzt sie als politische Druckmittel. Nachdem die Taliban militärisch gesiegt haben, sollen sie durch finanziellen Druck – einschließlich des zumindest zeitweiligen Raubes ihrer Devisenreserven – gefügig gemacht werden.

Das Sperren von Hilfsgeldern durch die NATO, die USA oder auch die Bundesrepublik wird hierzulande gern als Akt der Unterstützung der Bevölkerung dargestellt. In Wirklichkeit ist es Teil eines zynischen Spiels, um Einfluss auf die Zukunft des Landes zu sichern. Selbst wenn es zu „humanitären“ Abkommen mit den Taliban und einigen Hilfsgeldern kommen sollte, werden die westlichen Staaten darauf bestehen, dass sie oder mit ihnen verbundene NGOs die Verteilung der Gelder kontrollieren.

Wirtschaftlich befindet sich das Regime in Kabul in einer prekären Lage. Als Alternative zum Westen hoffte das Taliban-Regime auf den globalen Gegenspieler der USA, auf China, sowie auf bessere Beziehungen zu Pakistan, Iran und Russland.

Doch auch China und die anderen Mächte in der Region verfolgen vor allem ihre eigenen Interessen. Falls Peking den Taliban finanziell unter die Arme greifen sollte, so nur im Austausch für politische und wirtschaftliche Zugeständnisse. Dies würde erstens die Ausschaltung von ISIS-Chorasan, einer ultrareaktionären Dschihadisten-Truppe, die im Land gegen die Taliban kämpft und auch von China als Bedrohung betrachtet wird, der Ostturkestanischen Islamischen Bewegung (separatistische Strömung unter den chinesischen UigurInnen) und aller anderen islamistischen Gruppierungen betreffen, die als Sicherheitsrisiko für die Ordnung in benachbarten Staaten und die Neue Seidenstraße betrachtet werden. Zweitens würde es bedeuten, dass China ein privilegierter Zugriff zu den reichen, wenn auch bislang nicht erschlossenen Bodenschätzen des Landes gewährt wird. Im Gegenzug könnte Afghanistan Hilfsgelder erhalten, die das Land am Laufen zu halten.

Brandbeschleuniger Taliban-Regime

Neben der erpresserischen Politik der verschiedenen imperialistischen Mächte darf der zweite Faktor nicht vergessen werden, der die aktuelle Misere noch verschärft: die theokratische Diktatur der Taliban selbst. Als Organisation verfügen die Taliban nicht über die Voraussetzungen, um das Land zu regieren. Ihre Fähigkeit, im ganzen Land Kräfte gegen die verhassten BesatzerInnen zu mobilisieren und sich dabei vor allem auf lokale Führer und Geistliche zu stützen, hat keine nationale Verwaltung geschaffen, auch nicht auf militärischer Ebene. Nun droht der Zerfall, die vorhandenen zentralen Stellen zu untergraben.

Natürlich hätten jede Gesellschaft und jedes politische Regime bei einem Wegfall eines Drittels des BIP und von zwei Dritteln des Staatshaushaltes mit einer wirtschaftlichen und sozialen Katastrophe zu kämpfen.

Aber den Taliban geht es zuerst um die Sicherung ihres neuen, islamistischen Regimes. So forcieren sie seit der Machtübernahme den Ausschluss der Frauen aus dem gesellschaftlichen Leben und gehen daran, deren begrenzte Rechte durch Repression, öffentliche Angriffe, Erniedrigung bis hin zur Verfolgung von Vorkämpferinnen für die Rechte der Frauen zu beschneiden. Vor allem aber sollen Frauen aus vielen Berufen verdrängt, ausgeschlossen oder auf eng umrissene Bereiche beschränkt werden, vor allem aus der öffentlichen Verwaltung, dem kulturellen Leben, dem Gesundheitswesen, den Universitäten und Schulen.

Die frauenfeindliche, reaktionären Politik bedeutet zugleich, dass qualifizierte Fachkräfte am Arbeiten gehindert werden, dass das wirtschaftliche und soziale Leben weiter zerrüttet wird.

Was auf die systematische geschlechtliche Unterdrückung zutrifft, lässt sich auf allen anderen Gebieten des gesellschaftlichen und politischen Lebens finden – der Unterdrückung der ArbeiterInnenklasse, der BäuerInnenschaft, der Intelligenz, nationaler und religiöser Minderheiten wie der Hazara.

Die despotische Politik der Taliban, die Angst vor Unterdrückung und Verfolgung bis hin zum Mord treibt ebenso wie der Hunger Hunderttausende, wenn nicht Millionen zur Flucht. Schon jetzt leben rund 3 Millionen allein in Pakistan und im Iran. In den kommenden Wochen werden die Lager in den Grenzregionen dieser Länder und in Tadschikistan weiter anwachsen. Die meisten, die Repression, Hunger und Not entkommen wollen, sind jedoch Binnenflüchtlinge. Und die Zahlen steigen.

Was tun?

Die Verhinderung der unmittelbar drohenden humanitären Katastrophe, der Hunderttausende, wenn nicht Millionen Menschen infolge von Armut, Hunger und Kälte zum Opfer zu fallen drohen, muss unmittelbar im Zentrum jeder fortschrittlichen und internationalistischen Politik stehen.

Das bedeutet vor allem in den westlichen Staaten, die über Jahrzehnte Afghanistan besetzt und kontrolliert haben, dafür zu kämpfen, dass die US-Regierung und ihre Verbündeten nicht weiter ihre finanziellen Ressourcen als Mittel zur politischen Erpressung nutzen können. Die USA muss zur Herausgabe der Reserven ohne jegliche Bedingungen gezwungen werden. Wir müssen außerdem die Freigabe von Hilfsgeldern zur Sicherung des Überlebens in Afghanistan wie in den Flüchtlingslager fordern sowie die Öffnung der Grenzen zur EU, in die USA oder nach Britannien für alle Geflüchteten, die in diese Länder wollen.

So wenig wie einer der imperialistischen Machtgruppierungen die Kontrolle über die Verteilung von Hilfsgeldern anvertraut werden kann, so wenig Verlass ist auf das Regime in Kabul, solche Gelder und Güter gerecht zu verteilen.

Aufgrund der despotischen, brutalen Herrschaft der Taliban und ihrer Unterdrückungsmaschinerie kann ein Kampf um die Verteilung der Hilfsgüter von Gewerkschaften, Linken und demokratischen Frauenorganisationen nur unter Bedingungen der Illegalität geführt werden. Dennoch besteht die unmittelbare Priorität darin, soweit wie möglich lokale, demokratisch kontrollierte Organisationen zu bilden, die die Verteilung der beschaffbaren Hilfsgüter überwachen.

Die heroischen Demonstrationen von Frauen um ihr Recht auf Arbeit im September zeigen jedoch, dass die Herrschaft der Islamisten noch nicht voll konsolidiert ist. Die aktuelle, sich vertiefende Krise erschwert die Festigung der Taliban-Herrschaft zur Zeit und eröffnet einen Spielraum zur Mobilisierung um Fragen der Versorgung der Bevölkerung und die Kontrolle über die Verteilung von Hilfsgütern und knappen Ressourcen. Das Aufgreifen der Überlebensfragen von Millionen erlaubt zugleich, den Kampf gegen das Taliban-Regime zu entfachen.

Lehren

Für diese Perspektive sind zwei politische Lehren von zentraler Bedeutung: Erstens, im Kampf für demokratische und soziale Forderungen kann man sich auf keine der imperialistischen Mächte oder ihre regionalen VertreterInnen verlassen, politische Unabhängigkeit wird entscheidend sein. Wirkliche Verbündete werden sich nur unter den Kräften in der Region und darüber hinaus finden, die ihre Unabhängigkeit von „ihren“ Regierungen bewiesen haben.

Zweitens müssen die afghanischen RevolutionärInnen eine neue Parteiorganisation aufbauen, die sich auf ein Programm der permanenten Revolution stützt, das die unvermeidlichen sozialen und politischen Kämpfe mit dem Aufbau von Organisationen der ArbeiterInnenklasse und der Bauern und Bäuerinnen verbindet; mit Organisationen, die bei einer Zuspitzung des Klassenkampfes zu Organen des Sturzes des bestehenden Regimes und seiner Ersetzung durch eine ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung geraten können.




Politisch-ökonomische Perspektiven: Lage in Österreich

Arbeiter*innenstandpunkt, Österreichische Sektion der Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1135, 18. Januar 2021

Österreich befindet sich in der tiefsten Wirtschaftskrise der Zweiten Republik. Der Wirtschaftsabschwung begann Ende 2019 und wurde Anfang 2020 durch einen zeitweisen Zusammenbruch der weltweiten Energiemärkte, der sich schnell auf die Finanzmärkte ausweitete, vertieft. Die weltweite Corona-Pandemie führte schließlich zu einem kurzzeitigen Zusammenbruch der Produktion mit tiefen Einschnitten bei Profiten und Beschäftigungsniveau. Dazu kommt die weiter eskalierende Umweltkrise und in Österreich ein weiteres Zurückdrängen der ArbeiterInnenbewegung.

Es ist die Aufgabe von MarxistInnen, in dieser Situation als StrategInnen der Klasse aufzutreten, auch wenn sie diese Strategie nicht selbst umsetzen können. Die Grundlage dazu ist die politisch-ökonomische Analyse der Situation. Die Kräfteverhältnisse sind ungünstig: Die traditionelle ArbeiterInnenpartei SPÖ verliert weiter an Boden, die Gewerkschaftsbewegung entscheidet sich zwischen erniedrigenden Verhandlungsergebnissen und einer weiteren Verdrängung aus den politischen Institutionen, oppositionelle und revolutionäre Kräfte in der ArbeiterInnenbewegung sind weiter sehr schwach.

Die österreichische Regierung ist ein schwarz-grüner BürgerInnenblock, der aus einer der tieferen politischen Krisen seit 1945, der Absage an eine sozialpartnerInnenschaftliche Koalition und dem Rücktritt der schwarz-blauen Regierung nach der Ibiza-Affäre hervorgegangen ist. Österreich befindet sich also in einer kombinierten Wirtschafts-, Gesundheits- und Umweltkrise, die den Beginn einer politischen und sozialen bedeuten kann. Um die Auswirkungen auf die ArbeiterInnenklasse und ihre Aufgaben zu verstehen, ist es notwendig, die einzelnen Krisen und ihre Wechselwirkung zu analysieren.

In der öffentlichen Debatte um die Reaktion auf die Corona-Krise scheinen sich hauptsächlich drei Kapitalfraktionen gegenüberzustehen. Tourismus und Industrie mussten Rekordverluste hinnehmen; im Handel konnten zwar manche Bereiche ihre Position sogar ausbauen, die Mehrheit jedoch nicht. Die Industrie hat zwar unter der Zerrüttung des Welthandels gelitten und viele Unternehmen nutzen die Krise, um ihre Produktion zu verlagern, sie konnte sich aber weitgehend den behördlichen Unternehmensschließungen entziehen. Ihre unterschiedlichen Interessen prägen das Spannungsfeld, in dem die Regierung ihre Reaktion auf die Pandemie gestaltet, und führen zu widersprüchlichen Maßnahmen und einer Gefährdung der Bevölkerung.

Sowohl die beschlossenen Einschränkungen (Quarantäne und Ausgangssperre) als auch, wo sie vermieden wurden (Betriebe, Konsum), gehen in erster Linie zulasten der ArbeiterInnenklasse. Gleichzeitig bereitet sich die Regierung darauf vor, die hohen Kosten der Krisenbewältigung im Sozialsystem und bei den Löhnen einzusparen.

Die Weltwirtschaft befindet sich seit Ende 2019 in einer Rezession. Der Abschwung begann bereits 2016 mit einem Verfall der Profitraten in der Industrie. Gleichzeitig verschoben sich die globalen Kräfteverhältnisse weiter: Erstens macht China den USA immer klarer Konkurrenz um den Platz als führende imperialistische Macht; zweitens hat der Aufstieg der USA zur Energie-Nettoexporteurin die widersprüchlichen Interessen auf den Energiemärkten (die für Wirtschafts- und Kriegspolitik der letzten 30 Jahre sehr wichtig waren) weiter verschärft. Die Handelskriege, die die USA unter Trump gegen China und die EU begannen, fielen zeitlich mit dem Abschwung in der Industrie zusammen. Die generell gestiegene Konkurrenz zwischen den imperialistischen Blöcken war aber weiteres Öl in diesem Feuer. Wie alle Kriege sind auch Handelskriege kostspielig für alle Beteiligten und schnitten in die Profitmargen der Konzerne. Die Tiefe der Krise liegt auch am ungewöhnlich langen Aufschwung nach 2010 und daran, dass nach der letzten Krise kaum Kapital vernichtet, sondern hauptsächlich mit Staatshilfen und Geldpolitik saniert wurde.

Die fallenden Profitraten führten zu einem Geldfluss in die Finanz- und Hochtechnologieindustrie. Die Finanzindustrie ist ein klassisches Ziel für abwandernde Investitionen, weil die Erlöse hier nicht nur von der Profitabilität der Gesamtwirtschaft, sondern auch dem erwarteten Firmenverkaufspreis abhängen. Der Ertrag einer Aktie zum Beispiel setzt sich aus den Dividenden, aber auch aus der Kursentwicklung zwischen Kauf und Verkauf zusammen. Solange also neues Geld in die Finanzmärkte fließt (zum Beispiel weil die Unternehmensprofite weiter sinken), solange scheinen Wertpapier-Investitionen abgesichert.

Die globalen Finanzmärkte sind zuerst im Februar und dann Anfang März nach einer Krise auf den Ölmärkten zusammengebrochen, scheinen sich aber soweit erholt zu haben. Auch in Österreich sind die meisten Banken stabil. Der Skandal um die Commerzialbank Mattersburg (die ihre Bilanzen zu einem großen Teil gefälscht hatte) und der Zusammenbruch von Wirecard (die ebenfalls im großen Stil betrogen hat) hatten keine Kettenreaktion zur Folge. Das liegt auch an den verschärften internationalen Einlagebestimmungen (seit 2008 müssen Banken einen höheren Prozentsatz ihrer Kredite als Einlagen halten), vor allem aber daran, dass eine große Pleitewelle und damit Kreditausfälle durch kurzfristige staatliche Garantien bisher vermieden werden konnten. Am Ende des Tages sind finanzielle Erträge aber nur eine Umverteilung des gesellschaftlich erarbeiteten Mehrwerts. Bei einer weiteren Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage werden auch Börsen und Banken wieder krachen.

Die kapitalistische Akkumulation ist ein Kreislauf, in dem (1) Geld in Waren investiert, (2) diese Waren in einem Produktionsprozess verarbeitet und (3) die produzierten Waren wieder mit Gewinn verkauft werden. Fehlt es am Geld für Schritt 1, spricht man von einer Kreditklemme, wenn Schritt 2 nicht zustande kommt, von einer Produktionskrise und, wenn die Waren in Schritt 3 unverkauft bleiben, von einer Realisierungs- oder Nachfragekrise.

Die komplexen Verflechtungen der globalen Gesundheits- und Wirtschaftskrise lassen alle drei Glieder des Kreislaufs wackeln. Bisher am sichersten scheint die Verfügbarkeit von Investitionen. Die Produktion musste im Frühjahr schon einmal heruntergefahren werden, bei weiter steigenden Infektionszahlen wird eine erneute Produktionskrise unausweichlich sein. Dazu kommen die ungleichzeitigen Entwicklungen in verschiedenen Ländern: Wenn die globalen Lieferketten zusammenbrechen, kann selbst die rücksichtsloseste Öffnung die Produktion nicht garantieren. Diese globalen Lieferkettenrisse, aber auch der Einkommensverlust breiter Teile der ArbeiterInnenklasse produzieren zudem eine riesige Nachfragelücke; selbst wo die Produktion ungehindert stattfindet, können Warenwerte nicht immer realisiert werden.

In den nächsten Monaten wird es zu einer regelrechten Insolvenzwelle kommen, was die Arbeitslosigkeit sprunghaft erhöhen, die Nachfrage zusammenbrechen lassen und Lieferketten stören wird. Diese Insolvenzen werden auch die Banken unter Druck setzen, deren Kredite nicht zurückgezahlt werden; eine Geldklemme ist abzusehen. Die Krise wird sich also zunächst einmal verschärfen und eine Auflösung ist nicht möglich, bevor die Pandemie nicht überwunden ist.

Gleichzeitig bedeutet die Insolvenz auch eine massive Zerstörung von Kapital. Für die überlebenden KapitalistInnen wird das der Ausgangspunkt für wieder profitable Produktion sein. Dieser Prozess hat nach der globalen Krise 2008 nicht stattgefunden, sondern wurde durch Geldpolitik beziehungsweise mit dem Aufstieg Chinas überspielt. Auch das ist ein Grund für die Tiefe der Krise 2020.

Die quasi schon akzeptierten Zerstörungen in dieser Krise tragen die Möglichkeit einer tatsächlichen Erholung in sich. Sie werden aber gleichzeitig zu einer großen Verschlechterung der Lebenssituation in der ArbeiterInnenklasse führen. Die internationalen Widersprüche werden sich in der Krise zuspitzen. Die KapitalistInnen in den imperialistischen Ländern werden von ihren Regierungen verlangen, sich auf Kosten der internationalen Konkurrenz sanieren zu können. Einen Vorgeschmack darauf, wie staatliche Außenpolitik und nationale Kapitalinteressen zusammenspielen könnten, hat die Handelspolitik unter Trump geliefert. Aber auch dort, wo die Sanierung auf Kosten der gesteigerten Überausbeutung halbkolonialer Länder gehen soll, werden die imperialistischen Mächte sich bald gegenseitig auf die Zehen steigen. Die halbkoloniale Welt ist weitgehend aufgeteilt, und um die offiziell souveränen Nationen an sich zu binden, müssen die Imperialist*innen teilweise kostspielige Zugeständnisse machen (zum Beispiel in der Öffnung von Märkten oder Infrastrukturprojekten), die wiederum die Basis der eigenen Profite untergraben.

Für das österreichische Kapital wird das bedeuten, dass die eigenen internationalen Investitionen mehr unter Druck geraten, wenn die größeren ImperialistInnen mehr auf sich schauen als auf Partnerschaften mit kleineren Ländern. Das bedeutet auch, dass die ohnehin schon wackligen Investitionen österreichischer Banken in Osteuropa weiter unter Druck geraten können. Manche Branchen werden erfolgreich darin sein, die gegenwärtige Krise zur Verlagerung von Produktion und Umstrukturierung bei den Lohnkosten zu nutzen – eine Sanierung direkt auf Kosten der ArbeiterInnen.

Die globalen Zuspitzungen, die wir erwarten, werden also mit Angriffen auf die Beschäftigten einhergehen, die an sich gegebene Möglichkeit der kapitalistischen Krisenlösung wird andere Widersprüche befeuern und zu einer Zeit der Angriffe führen. Auf Österreich kommen zuerst Arbeitsplatzverluste und direkt im Anschluss Sparpakete zu.

Die Industrie hat im Frühjahr ungefähr doppelt so hohe Verluste wie in der globalen Krise 2008 hinnehmen müssen (-7,6 % Bruttowertschöpfung), weil gleichzeitig die Produktion zurückgefahren wurde und Aufträge eingebrochen sind. Die Tourismusbranche war mit einem weitgehenden Wegfallen der internationalen KundInnen und einbrechender Nachfrage im Inland konfrontiert (-70 % im Frühjahr, -20 % im Sommer). Der Handel schließlich konnte den Betrieb weitgehend aufrechterhalten, in einzelnen Bereichen seine Ergebnisse verbessern (Online-Handel, Sportgeräte, Lebensmittel), während andere massive Verluste (Baumärkte, Möbel, Bekleidung) einfuhren. Die Industrie ist für 17 % der unselbstständig Beschäftigten, aber 25 % der Lohnsumme und 28 % der Erlöse und Erträge verantwortlich. Auf den Tourismus entfallen 11 % der Beschäftigten, 6 % der Personalkosten und nur 3,5 % der Erlöse; auf den Handel 22 % der Beschäftigten, 19 % der Lohnsumme und 33 % der Erlöse.

Neben den erwähnten wichtigen Industrien sind noch die Informationstechnologie (3,5 % der nichtfinanziellen Erlöse und Erträge) und die Finanz- und Versicherungsbranche (6,5 %) erwähnenswert. Eine weitere wichtige Großindustrie ist die Energieversorgung, die 2019 6,5 % der Erlöse erzielte und vor allem wegen der engen Verflechtung zwischen staatseigenen, privaten und gemischten Körperschaften, aber auch der Konzentration auf wenige Konzerne großen politischen Einfluss nehmen kann.

2019 waren in Österreich (im Jahresdurchschnitt) 2.960.514 Menschen in 341.102 Unternehmen unselbstständig beschäftigt. Dazu kommen 355.216 im öffentlichen Dienst, davon 39.977 BundeslehrerInnen, 67.560 LandeslehrerInnen, 91.879 in den Landeskrankenanstalten (wovon wiederum die Hälfte ausgegliedert ist).

Die österreichischen Kapitalfraktionen sind durch ihre Verbände und die Regierungsorganisationen stark vertreten. Seit den 1990er Jahren wurden sozialpartnerInnenschaftliche Strukturen, also solche, die zu gleichen Teilen von ArbeiterInnen- und Unternehmensvertretungen beschickt und in die politischen Institutionen mit einbezogen wurden, schrittweise zurückgedrängt. Der Grund dafür liegt darin, dass die wirtschaftliche Grundlage der SozialpartnerInnenschaft, die vergleichsweise Schwäche des österreichischen Kapitals nach dem Zweiten Weltkrieg, über 40 Jahre später vollkommen überwunden war. Die soziale Basis der SozialpartnerInnenschaft war die enge Bindung der ArbeiterInnenbewegung an das „neutrale“ Österreich und den westlichen Kapitalismus. Sie wurde für das Kapital nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Planwirtschaften deutlich weniger wichtig. Seit 2000 gab es ebenso lange Regierungen ohne (2000–2006, 2017–2020) wie mit Beteiligung der traditionellen ArbeiterInnenpartei SPÖ – zwischen 1945 und 2000 lediglich 4 Jahre ohne. Das österreichische Kapital konnte seine Macht im Vergleich zur Arbeiter*innenbewegung in den letzten 20 Jahren schrittweise ausbauen, die schwarz-blaue Koalition Kurz 1 und ihre schwarz-grüne Nachfolgerin Kurz 2 beruhen auf diesem „neuen Konsens“.

Das Verhältnis der Kapitalfraktionen zueinander hat sich deutlich turbulenter entwickelt. Die österreichische Finanzindustrie hat die entscheidende Rolle in der Entwicklung zu einem eigenständigeren Imperialismus gespielt, vor allem durch die schnelle Expansion nach Osteuropa und auf den Balkan seit den 1990er Jahren. Ein völliges Abschütteln der Abhängigkeit vom deutschen Imperialismus ist in weiten Teilen nicht gelungen. Bis auf einzelne Ausnahmen (z. B. Bosnien) ist für Österreich weiterhin die Ausübung einer imperialistischen Rolle nur durch Rückendeckung der EU und des deutschen Kapitals möglich. Wie in den meisten Ländern hat die Finanzindustrie aber seit der globalen Krise ab 2007 relativ an Bedeutung verloren. 2005 war sie noch für 10,5 % der österreichischen Umsatzerlöse verantwortlich, 2013 nur noch für 8,1 %, und 2018 waren es 6,5 %.

Der Aufstieg zum eigenständigeren imperialistischen Land hat den verschiedenen großen Kapitalfraktionen auf unterschiedliche Art Vorteile gebracht. Die Industrie profitiert von der Einbindung in internationale Produktionsketten und davon, zunehmend am Ende dieser Ketten zu stehen und so einen größeren Teil des Profits realisieren zu können. Der Handel profitiert von den fallenden Zöllen, auch durch die Konsolidierung der EU und eine steigende Binnennachfrage. Dem Tourismus bringen Reiseerleichterungen mehr internationale und teilweise zahlungskräftigere Gäste. Das imperialistische Projekt hat dadurch die Interessenunterschiede zwischen den nationalen Kapitalfraktionen verkleinert und ihre Position gegenüber der globalen und österreichischen ArbeiterInnenklasse verbessert.

In Bezug auf die Pandemiesituation werden aber auch Interessenunterschiede sichtbar. Im Handel, zum Beispiel besonders in den Baumärkten, haben die Betriebsbeschränkungen im Frühjahr zu großen Verlusten geführt. Auch die Nachfrage ist wegen der zusammenbrechenden Auftragslage im Kleingewerbe und den Einkommensverlusten in breiten Teilen der Bevölkerung deutlich zurückgegangen. Einzelne Sparten konnten ihre Ergebnisse verbessern (Onlinehandel, Lebensmittel, Sportgeräte), das gleicht die Verluste aber nicht aus. Der Handel ist an möglichst geringen Einschränkungen interessiert, die Regierung hat lange versucht, dem entgegenzukommen. Dem Zusammenbruch der Inlandsnachfrage hat sie weniger entgegenzusetzen.

Die Industrie musste ebenfalls weitgehende Verluste hinnehmen. Die reihen sich aber ein in einen allgemeinen Konjunkturrückgang seit 2019 und einen zu großen Kapitalstock. Insofern nutzen vor allem große Industrieunternehmen die gegenwärtige Situation für Umstrukturierungen auf Kosten der ArbeiterInnen, verschieben Produktion ins Ausland und nehmen die großzügigen Staatshilfen in Anspruch. Das ändert aber nichts an der rückläufigen internationalen Auftragslage und der Überakkumulation. Diese kann nur durch die umfassende Zerstörung von Kapital, also Firmenpleiten, gelöst werden. Der Industrie kommt zugute, dass die Corona-Einschränkungen im Herbst nicht auf Betriebsstätten zutreffen. Die Regierung hat das Aufrechterhalten der Produktion auch zum Ziel erklärt, was das Infektionsgeschehen weiter verschlimmern wird.

Tourismus und Gastgewerbe, klassische Niedriglohnsektoren, mussten mit den größten Verlusten kämpfen. In Wien und Niederösterreich brach die Nachfrage im Frühjahr um 90 % ein. Der Anstieg der Inlandsreisen im Sommer dämpfte die Verluste, konnte aber das Wegfallen der internationalen Reisen nicht einmal ansatzweise ausgleichen. Während die Gastronomie sich gegen jegliche Einschränkungen ausgesprochen hat, hoffen die Unternehmen im Wintertourismus, dass sie nach einem kurzen Lockdown umfangreich aufsperren können. Die Regierung kommt beiden Bereichen durch die Lockdown-Umsatzerstattung (geschlossenen Betrieben werden 80 % des 2019er Umsatzes direkt ausgezahlt, andere Staatshilfen wie Kurzarbeit werden nicht abgezogen) entgegen.

Die Symptombekämpfung in der Pandemie ist nicht nur sehr unternehmensfreundlich, sondern auch recht weitgehend. Das sorgt für relative Einigkeit zwischen den Kapitalfraktionen, obwohl sie in Detailfragen ganz unterschiedliche Interessen haben. Die zugrundeliegenden Probleme können die Regierungszahlungen aber nicht lösen, was auch die innerkapitalistischen Konflikte weiter anheizen wird, wenn die Krise anhält. Nach einer längeren Öffnung muss sich die österreichische ArbeiterInnenklasse auf massive Angriffe und Massenkündigungen vorbereiten.

Österreich wird schon vom zweiten BürgerInnenblock seit der Wahl 2017 regiert, als die ÖVP sich unter Kurz neu aufstellte, scharf nach rechts orientierte und mit der FPÖ statt traditionell der Sozialdemokratie koalierte. Auch nach dem Zusammenbruch der Regierung im Laufe der Ibiza-Affäre ging die Volkspartei aus den Neuwahlen gestärkt durch enttäuschte FPÖ-WählerInnen hervor und holte sich die Grünen als willige KoalitionspartnerInnen ins Regierungsboot.

Das ist nach den schwarz-blauen Koalitionen 2000–2006 der zweite Versuch der Konservativen, die SozialpartnerInnenschaft in Österreich entscheidend zurückzudrängen. Nur die politische Krise nach der FPÖ-Parteispaltung, Koalitionschaos 2006 und die Wirtschaftskrise 2008 brachten die ÖVP wieder an den „grünen Tisch“. Ihr strategisches Ziel ist eine politische Ablösung des österreichischen Kapitals von den Institutionen der ArbeiterInnenbewegung. Wirtschaftlich ist diese mit der schrittweisen privatisierten Verstaatlichung weitgehend abgeschlossen; die Gewerkschaftsbewegung spielt keine relevante Rolle mehr in der Kapitalakkumulation. Die verbürgerlichte SPÖ setzt dem kaum etwas entgegen, auch wenn sie ihre Existenzberechtigung (zu Recht) in Gefahr sieht.

Die Regierung fordert jetzt den nationalen Schulterschluss ein und ist bereit, ihre unternehmensfreundliche Krisenpolitik mit sozialpolitischen zivileren Minimaßnahmen zu flankieren. Außerdem verstehen auch die grauslichsten Neoliberalen, dass ein Komplettverfall der Einkommen in der Krise auch den KapitalistInnen schadet. Sie planen aber bereits massiven Sozialabbau (z. B. degressives Arbeitslosengeld), wie bei der Abschaffung der „Hacklerreglung“ sichtbar wurde, und weitere Angriffe, was auch die Grünen verstehen. Sie können sich im Zweifelsfall aussuchen, ob sie die Austerität mittragen oder durch FPÖ, NEOS oder eine besonders rückgratlose Spielart der SPÖ ersetzt werden.

Die SPÖ hatte trotz des Zusammenbruchs der schwarz-blauen Regierung von 2017 auf 2019 5,7 Prozentpunkte verloren. Bis auf eine beeindruckende, aber einmalige Massendemonstration gegen den 12-Stunden-Tag hatte die traditionell sozialdemokratisch geführte Gewerkschaftsbewegung auch keine echte Oppositionspolitik vorzuweisen. Die gesamte „rote Hälfte“ der Republik befindet sich auf dem Rückzug, aufgerieben zwischen dem eigenen Anspruch, den Kapitalismus mitzuverwaltenn und dem Unwillen des Kapitals, sie das weiter tun zu lassen.




Konflikt um EU-Budget: Haus ohne Halt

Jürgen Roth, Neue Internationale 252, Dezember 2020/Januar 2021

Nach wochenlangem Streit mit Polen und Ungarn konnte die deutsche Ratspräsidentschaft die nächste drohende Katastrophe der EU gerade noch einmal vermeiden. Am Donnerstag, den 10. Dezember 2020, einigte sich der Europäischer-Rats-Gipfel, das Treffen der europäischen Staats- und Regierungsspitzen, auf einen Kompromiss.

Der Haushalt mit mehrjährigem Finanzrahmen für die Jahre 2021 – 2027 steht. Sein Volumen beträgt ca. 1,1 Billionen Euro. Zusätzlich wurden ca. 750 Milliarden Euro für Corona-Hilfen bewilligt, die besser als Umstrukturierungsfonds für erhöhte „grüne und digitale“ Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union bezeichnet werden sollten. In der Frage des Rechtsstaatsmechanismus‘ hatte die deutsche Präsidentschaft des EU-MinisterInnenrats einen für die beiden Visegrád-Staaten akzeptablen Kompromiss durchgesetzt.

Rechtsstaatlichkeit

Polen und Ungarn wird bekanntlich seit langem vorgeworfen, Einfluss auf Justiz und Medien auszuüben und Minderheiten zu wenig Schutz zu gewähren. Der Kompromiss sieht vor, das neue Verfahren zur Ahndung von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit durch eine Zusatzerklärung zu ergänzen. Darin sind die Möglichkeiten festgelegt, sich gegen die Anwendung der Regelung zu wehren, z. B. durch eine Überprüfung seitens des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Außerdem soll die Feststellung eines Verstoßes erst dann zur Kürzung von Finanzhilfen führen können, wenn klar nachgewiesen wird, dass die Verletzung negative Auswirkungen auf die Verwendung von EU-Geldern hat. Überdies müssen sich bei Streitfragen die Staats- und RegierungschefInnen, also der Europäische Rat (ER), mit dem Thema beschäftigen.

Bei einer Ablehnung des Kompromisses hätte der EU ab Januar nur ein Nothaushalt zur Verfügung gestanden und das Corona-Konjunkturprogramm ohne die beiden „Außenseiter“ organisiert werden müssen, auf das wirtschaftlich stark leidende Länder, die gleichzeitig ein Schuldenproblem haben, wie z. B. Frankreich, Italien, Portugal, Spanien und Belgien, angewiesen sind.

Bezüglich des von Polen und Ungarn als „Sieg“ gefeierten Kompromisses entbrannte vor dem Gipfelbeschluss ein Zwist quer durch alle EU-Parteien und -Länder. Die KompromisslerInnen argumentierten teils auf der Linie des deutschen Ratspräsidialvorschlags, teils schlugen sie ein Ausklammern und eine Verlegung auf zwischenstaatliche Abkommen vor, die sich außerhalb des EU-Verfassungsrahmen bilden sollten. Vorbilder dafür sind die Eurogruppe und die Finanzmarktrettungsschirme.

Das gegnerische Lager setzte auf Härte gegenüber den beiden osteuropäischen Ländern. Für die Annahme der Rechtsstaatsklauseln im Europäischen Rat hätte eine qualifizierte Mehrheit genügt, die als sicher galt. Für Haushalt und Corona-Paket war allerdings Einstimmigkeit erforderlich und Polen und Ungarn hätten deren Beschluss durch ihr Veto verhindern können.

Die dramatische Einschränkung bürgerlich bürgerlich-demokratischer Rechte in den beiden osteuropäischen Ländern darf freilich nicht über die doppelte Heuchelei der restlichen EU hinwegtäuschen. Lediglich das EU-Parlament (EP) ist vom Volk gewählt, doch ist sein Einfluss auf die Gesetzgebung marginal. Alle übrigen Institutionen sind Bestandteile eines supranationalen Apparatgebildes, das zudem noch vom Wohlwollen der Regierungen der Mitgliedsstaaten abhängt -und zwar vor allem von jenen der dominierenden imperialistischen Mächte in der EU. Zudem bewegen sich nicht nur Ungarn und Polen, sondern faktisch alle Staaten und Institutionen auf eine Stärkung autoritärer polizeilicher Verfolgungs- und Überwachungsorgane zu oder führen, wie Frankreich, rassistische, anti-muslimische Gesetze ein. Von Menschenrechten ist an den Außengrenzen erst recht nichts zu spüren.

Zweitens geht es beim Konflikt um etwas ganz anderes als die bürgerliche Demokratie, nämlich um ein Aufbrechen des inneren Zusammenhalts, wie es sich schon im Brexit äußerte. Auf diesen widersprüchlichen Integrations- und Auseinanderentwicklungsprozess gehen wir weiter unten ein, indem wir seine Ursachen im Lichte der Entwicklung seit der Großen Krise 2007/2008 skizzieren. Zuvor wollen wir aber knapp die aktuelle ökonomische Lage skizzieren, die ihrerseits die Situation der EU vor dem Hindergrund der globalen Wirtschaftskrise verschärft.

COVID-19: Stress für die Wirtschafts- und Währungsunion

Die Herbstprognose der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) erwartet für die EU bis Ende 2021 ein Schrumpfen des BIP von 3 – 5 % im Vergleich zu Ende 2019, für Großbritannien sogar 6,4 % – unter der Voraussetzung wirksamen Impfschutzes! Angesichts der infolge von SARS-CoV-2 galoppierenden Staats-, Haushalts- und Firmenverschuldung steigt die Gefahr eines Finanzkollapses historischen Ausmaßes.

Nach einer Erholung im 3. Quartal 2020 aufgrund von Lockerungsmaßnahmen erwartet die EU-Kommission jetzt für die Eurozone einen Wirtschaftseinbruch von 7,8 % für das Gesamtjahr 2020, für 2021 ein Wachstum von 4,2 % und für 2022 von 3 % (EU-Wirtschaft insgesamt: -7,4 %, + 4,1 %, + 3 %). Sowohl die Eurozone wie das Gebiet der Gemeinschaft werden Ende 2022 den Stand vor Pandemieausbruch nicht erreicht haben.

Zwar konnte der Anstieg der Arbeitslosenquote insbes. durch Kurzarbeitsregelungen gedämpft werden, doch rechnet die Kommission mit weiterem Anstieg nach Auslaufen der Soforthilfemaßnahmen ab 2021: Für die Eurozone bzw. die EU lauten die Zahlen und Prognosen für 2019 7,5 % bzw. 6,7 %, 2020: 8,3 % bzw. 7,7 %, 2021: 9,4 % bzw. 8,6 %, 2022 8,9 % bzw. 8,0 %. Das gesamtstaatliche Defizit wird in der Eurozone aufgrund von steigenden Sozialausgaben und sinkenden Steuereinnahmen gegenüber 2019 massiv steigen. Damals betrug der Anteil an der Neuverschuldung am addierten Bruttoinlandsprodukt nur 0,6 %. 2020 soll die Neuverschuldung 8,8 % des BIP betragen, 2021 6,4 % und 2022 4,7 %. Die Gesamtschuldenquote im Eurogebiet soll gegenüber 85,9 % im Jahr 2019, 2020 auf 101,7 %, 2021 auf 102,3 % und 2022 auf 102,6 % steigen.

Das „Corona-Hilfspaket“ …

390 des 750 Mrd. Euro schweren Hilfspaketes sind als nicht rückzahlbare zusätzliche Finanzmittel in einem Programm geplant, das sich Next Generation EU (NGEU) nennt. Dafür soll sich die EU erstmals langfristig bis 2058 verschulden. Vorher bestand ihr Haushalt allein aus Zuweisungen der Mitgliedsstaaten. Neben Kreditaufnahme ist auch die Einführung eigener europäischer Steuern gedacht (auf Plastik und CO2).

Eine genauere Betrachtung zeigt, dass das Ziel der Finanzhilfen jedoch kaum in der direkten Krisenbekämpfung liegen kann, sondern in erster Linie die internationale Wettbewerbsfähigkeit auf dem zunehmend umkämpften Weltmarkt mittelfristig stärken soll. 2021 und 2022 dürfte gerade einmal ein Fünftel der Mittel fließen. 218,75 Mrd. Euro, das sind 70 % der insgesamt für diesen Zweck eingeplanten Gelder von 312,5 Mrd., sollen für die beiden Jahre nicht für die Bewältigung der Krisenfolgen, sondern zur Milderung der strukturellen Probleme der EU-Länder auf dem Arbeitsmarkt verwendet werden und bemessen sich an deren Arbeitslosenquoten zwischen 2015 und 2019, also Jahre vor der Corona-Krise. Die zeitliche Verteilung zwischen 2021 und 2026 ist intransparent. Zsolt Darvas vom Think Tank Bruegel schätzt, dass 2021 10 % und 2022 13 % ausgezahlt werden sollen.

Der Bedarf für direkte krisenbezogene Maßnahmen ist offensichtlich auch begrenzt. So haben 17 EU-Staaten im Rahmen des SURE-Programms 90 Mrd. Euro für die Unterstützung von Kurzarbeitsregelungen beantragt. Gleichzeitig blieben 240 Mrd. zinsgünstige Darlehen des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM für solche Maßregeln insbes. im Gesundheitswesen bislang unangetastet, obwohl der Verzicht auf umfassende „Reform“auflagen bei deren Inanspruchnahme beteuert wurde. Angesichts der Erfahrungen in der Eurokrise vor 6 Jahren finanzieren sich viele EU-Länder lieber zu Niedrigzinsen auf dem Kapitalmarkt, als diesen womöglich doch vergifteten Köder zu schlucken.

… und die Zukunft der Währungsunion

In den letzten Jahren hat sich die Rolle der Europäischen Zentralbank EZB deutlich verändert. Die Grenzen zwischen Notenbank und Geschäftsbank, die sie ursprünglich strikt befolgen sollte, muss sie immer weniger einhalten. So kann sie faule Staats- und Bankenpapiere kaufen und gleichzeitig die Leitzinsen niedrig halten. Diese Politik des lockeren Geldes (Quantitative Easing; QE) wird zudem flankiert von der Tatsache, dass der Euro zum ersten Mal seit Februar 2013 im Oktober 2020 den US-Dollar als internationales Zahlungsmittel wieder überholt hat. Im Finanzierungsgeschäft bleibt dessen Rolle allerdings ungebrochen. Laut Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) entfielen bis Juli 2020 mehr als die Hälfte aller internationalen grenzübergreifenden Kreditgeschäfte auf den Dollar.

Aber was passiert, wenn die Gesundheits-Krise und deren ökonomische Folgen länger als geschätzt andauern, sei es weil zu spät, zu wenig und zu unwirksam geimpft wird? Was geschieht, wenn die nicht durch die Pandemie bedingten wirtschaftlichen, strukturellen Ursachen mit Firmen- und Bankenzusammenbrüchen durchschlagen? Wird die EZB QE durchhalten können, wenn der privatkapitalistische Wirtschaftssektor nicht wieder auf eigenen Füßen steht, nachdem die Regierungssubventionen wegfallen? Schon jetzt steht das Ausmaß der Gesamtverschuldung, darunter auch die der Unternehmen, laut Institute of International Finance (IIF) im Vergleich zum BIP weltweit auf einem nie dagewesenen Hoch und machte in diesem Jahr einen Rekordsprung von 320 (2019) auf 365 %. Die OECD rechnet damit, dass 30 % der Unternehmen diese Stunde der Wahrheit nicht überleben werden. Banken werden mit Verweigerung des Kredits untereinander reagieren sowie auf eine Erhöhung ihrer Einkommensquelle, der Zinsen, drängen müssen, wollen sie nicht in diesen Strudel geraten. Deren Erhöhung verteuert auch die Staatsanleihen und damit die Gefahr staatlicher Zahlungsunfähigkeit. Dieses weltwirtschaftliche Damoklesschwert schwebt natürlich auch über der EU.

Robuster oder krisenanfälliger?

Covid-19 treibt auch Europa auseinander. Vielerorts sind die gemessenen Infektionszahlen, allerdings auf Basis breiterer Tests, höher als im April. Die aussagekräftigere Zahl der Toten ist sogar in der BRD mittlerweile deutlich höher. Wirtschaftlich betroffen ist insbesondere die für die Süd- und Südostländer so wichtige Tourismusbranche. Und insbesondere Frankreich, Italien und Spanien leiden unter einem viel schlimmeren Wirtschaftseinbruch als z. B. Deutschland. Zudem belaufen sich die Staatsschulden dieser 3 Länder auf mehr als zusammengerechnet 6 Bio. Euro bei einer Wirtschaftsleistung, die gerade anderthalbmal so groß wie die der BRD ausfällt.

Um die Frage der Krisenanfälligkeit beantworten zu können, betrachten wir die Entwicklung der EU seit der letzten Krise. Anders als herkömmliche Interpretationen der Eurokrise gehen wir nicht davon aus, dass die Zahlungsbilanzungleichgewichte in erster Linie durch zu hohe Löhne in den Defizitländern (neoliberale Lesart) bzw. zu niedrige in den Gläubigerstaaten (die neokeynesianische) verursacht wurden.

Dahinter steht vielmehr eine nur zum Teil durch die Lohnentwicklung bestimmte ungleiche internationale Arbeitsteilung. Eine übergeordnete bzw. dominante Position in dieser ergibt sich aus der Kapazität einiger weniger Produktionssysteme, komplexer Produktionsmittel, insbes. solche zur eigenständigen Herstellung anderer Produktionsmittel (Maschinenbau, Elektrotechnik, chemische Industrie). Als Ergebnis musste die südeuropäische Peripherie einen erheblichen Bedeutungsverlust hinnehmen, während sich zentrale imperialistische Ökonomien wie Deutschland gerade auf eine entwickeltere und produktivere Leistung in diesen zentralen Sektoren stützen.

Strukturreformen

Seit 2008 kam es neben dem Fokus auf Haushaltskonsolidierung, die mittlerweile eine Art Verfassungsrang einnimmt zu einer weiteren Vertiefung der europäischen Integration, zu einer merklichen Erweiterung der EU-Kompetenzen auf dem Feld der Arbeitsmarktpolitik. Kern ist das Europäische Semester (ES), welches die Koordination und Überwachung der nationalen Wirtschafts-, Fiskal-, Arbeits- und Sozialpolitiken gewährleisten soll. Damit sollen übrigens auch in die Lohnentwicklung mit Sanktionen eingegriffen werden, falls dass ein Referenzwert von 9 % Steigerung in 3 Jahren überschritten wird. Das ES ist neben der Troika aus EZB, IWF und EU-Kommission sowie dem ESM ein dritter Krisenbewältigungsmechanismus.

Strukturreformen auf dem Arbeitsmarkt führten schon bisher zu einer Schwächung der Rolle der Gewerkschaften, Abnahme der Tarifbindung, Verbetrieblichung der Lohnentwicklung, Anstieg prekärer Arbeitsverhältnisse und unfreiwilliger Teilzeitbeschäftigung. Trotz des Aufschwungs in den meisten EU-Ländern nach der letzten Krise und steigender Beschäftigung kam es zu einer Verlangsamung des Lohnwachstums. Hierbei stieg die Zahl atypischer Beschäftigung und Leiharbeit ab 2010 bzw. 2014 wieder an.

Die verheerenden Auswirkungen waren in den Ländern am größten, die Kredite aus dem Rettungsschirm ziehen mussten. Die Zahlungsbilanzungleichgewichte der südeuropäischen Länder sanken infolge des austeritätspolitisch induzierten Rückgangs der Importe, der selbst aus dem Rückgang der effektiven Kaufkraft resultierte. Dies hat offenkundig nichts mit einer Verbesserung ihrer internationalen Wettbewerbsposition zu tun. Die wachsenden Exporte aus der Peripherie dürfen nicht als Abbau tiefer Ungleichgewichte interpretiert werden. Vielmehr spricht der Einbruch der Industrieproduktion für eine weitere Erosion ihrer Produktionsstrukturen. Ganz anders dagegen die Entwicklung z. B. in Deutschland und Österreich. Diese Polarisierung innerhalb der europäischen Arbeitsteilung führte zu einer Abnahme der Bedeutung Südeuropas als Absatzmarkt für deutsche Exporte. Die BRD fährt seit 2012 einen größeren Außenhandelsüberschuss gegenüber dem Rest der Welt, v. a. den sog. Schwellenländern, als gegenüber der Eurozone ein.

Ökonomische Verschiebung

Der zweite Faktor, der die aktuelle Position Merkels und der Bundesrepublik im Haushaltskonflikt erklärt, ist die gegenläufige Entwicklung in den Visegrád-Ländern (Polen, Slowakei, Tschechische Republik, Ungarn). Die Industrieproduktion entwickelte sich dort noch geschwinder als in Deutschland und Österreich und stieg um mehr als ein Drittel gegenüber dem Vorkrisenniveau. Auch der Anteil der Bereiche Maschinen- und Fahrzeugbau, Elektrotechnik und Chemie nahm zu von 57 auf 59,6 %, am deutlichsten in der Slowakei. Mit Ausnahme Polens wurden diese Volkswirtschaften allerdings immer tiefer in das deutsche Produktionssystem integriert, zu verlängerten Werkbänken.

Politisch bedeutet dies eine relative Schwächung Südeuropas und folglich eine wachsende Asymmetrie in der für den bisherigen Integrationsprozess konstitutiven Achse Berlin – Paris und eine Gewichtsverlagerung von Süden nach Osten. Zugleich erleben wir in Osteuropa einen widersprüchlichen Prozess. Die wachsende ökonomische Dominanz des deutschen Kapitals geht mit politischen Konflikten Deutschlands (und der EU) mit den Regierungen dieser Staaten einher, die sich aus verschiedenen Quellen – nicht zuletzt auch – dem Agieren imperialistischer Konkurrenz speist. Andererseits setzt die wachsende ökonomische Abhängigkeit der Region der Zuspitzung des Konflikts Grenzen und erklärt auch das größere Interesse Deutschlands an Kompromissen selbst mit den polnischen und ungarischen Regierungen.

Italien: neues Zentrum der Widersprüche?

Italien nimmt in der Hierarchie der innereuropäischen Arbeitsteilung eine Zwischenposition zwischen Deutschland und der Peripherie in Süd- und Osteuropa ein. Seit den Umbrüchen der 1990er Jahre und dem Aufstieg Chinas zur imperialistischen Macht haben sich die Konkurrenzbedingungen gravierend geändert. Mit Wegfall der Abwertungsmöglichkeiten durch die Einführung des Euro geriet die italienische Industrie aufgrund ihres Spezialisierungsprofils unter verstärkten Kostensenkungsdruck. Hatte das Land einst ein außergewöhnlich hohes Niveau industrieller Beschäftigung ähnlich der BRD aufrechterhalten können, scheint sich ein Trend zur teilweisen Deindustrialisierung durchzusetzen.

Es ist also zu erwarten, dass Italien zum Herd eines künftigen Schwelbrands in der EU werden wird. Die aktuelle EU-Haushaltspolitik der Großen Koalition in der BRD und ihre vergleichsweise versöhnlerische Haltung gegenüber Polen und Ungarn reflektieren auch eine Veränderung der Ökonomie des Kontinents. Die explosive Vertiefung der Krise in Italien würden die EU und ihre Führungsmacht vor noch größere Herausforderungen stellen.

Düstere Aussichten

Obwohl die Haushaltskrise letztlich in einem vom deutschen Imperialismus vermittelten Kompromiss endete, verdeutlichte das Gezerre, das innerhalb der führenden Kreise der EU und innerhalb ihrer dominierenden Mächte, allen von in Deutschland, auch ein Konflikt über die zukünftige Europa-Strategie stattfindet. Sollen „abweichende“ kleinere Staaten oder Staatengruppen weiter taktisch eingebunden werden oder sollen die EU und die Eurozone zu einem zentralisierten, ökonomisch und politische einheitlicheren Staatenblock unter deutscher bzw. deutsch-französischer Führung geschmiedet werden.

Zugleich droht das größer gewordene wirtschaftliche Gefälle zwischen Norden und Süden in der EU den Zusammenhalt der Union weiter zu unterminieren. In Anbetracht einer herannahenden Krise in einem seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gekannten Ausmaß ist es äußerst unwahrscheinlich, dass Länder wie Österreich, die Niederlande, Finnland und Schweden, aber auch Teile des BRD-Kapitals solidarisch die Krisenlasten mit den kränkelnden Volkswirtschaften teilen. Der deutsche und der französische Imperialismus stehen somit vor schwer unlösbaren Herausforderungen angesichts der globalen Krise und der Konkurrenz durch China und die USA.

Der französische Imperialismus unter Macron versucht sich als als Vorreiter europäischer „Eigenständigkeit“ zu präsentieren. Angesichts der Schwächen der französischen Wirtschaft und der inneren politischen Krisen Frankreichs verbrauchen sich die meisten seiner Initiativen fast so schnell, wie sie in die Welt gesetzt wurden. Der deutsche Imperialismus setzt mit Merkel und von der Leyen zumindest der Form nach auf Ausgleich und Kompromiss – doch die Zeit läuft ihnen angesichts einer krisengeschüttelten Europäischen Union und  immer tieferer Widersprüche davon.

Härtere Gangart

Die Drohungen gegenüber Ungarn und Polen im Haushaltsstreit signalisierten, dass auch die Führung der EU-Kommission und Teile des deutschen Imperialismus erwägen, eine härtere Gangart gegenüber „abweichenden“ Mitgliedern der EU einzuschlagen. Im Haushaltsstreit hätte er mit einer „kompromisslosen“ Haltung letztlich aber mehr verloren und gewonnen. Die Dauer und Härte des Konflikts zeigen freilich, welche weit größeren uns noch bevorstehen, wenn die gegenwärtige Krise entscheidende Volkswirtschaften der EU – wie z. B. Italien – an den Rand des Bankrotts treiben sollte.