Vom Kapitalismus, dem Verkehr und seiner Wende

Leo Drais, Revolutionärer Marxismus 54, Dezember 2021

1. Einleitung

Offensichtlich und allgegenwärtig zeigen sich die Einwirkungen der kapitalistischen Produktionsweise auf Mensch und Natur in der von ihr hervorgebrachten Verkehrs- und Transportweise. Lang gestreckte Asphaltwüsten, die man Autobahnen nennt, ziehen sich durch die halbe Welt, zerschneiden Felder und Wälder. Sie tragen Menschen und Waren in einer scheinbar nie endenden Kolonne von Lkws und Pkws, welche ihrerseits für fast ein Fünftel der Abgase verantwortlich ist, die das Treibhaus Erde mit anheizen (1). Und da der auf gummierten Rädern rollende Tross des motorisierten Individualverkehrs global betrachtet seit Jahrzehnten stets länger und länger wurde und die entlegensten Gebiete der Welt eroberte, drängte er vielerorts jenes stählern besohlte Verkehrsmittel zurück, das einst im Ansturm des Kapitalismus auf die Welt selbige erobert, ja die modernen Großindustrie überhaupt erst ermöglicht hatte, die Eisenbahn.

Währenddessen schwimmen auf den Meeren Ruß ausstoßende Giganten von nie dagewesener Größe. Sie halten wesentlich die globalisierten Just-in-time-Produktionsketten in Gang, deren außerordentliche Empfindlichkeit sich beeindruckend zeigte, als die präzise und knappe Taktung in Handel und Fabriken jäh ins Stocken geriet, weil der Containerriese „Ever Given“ im Kanal von Suez steckenblieb wie ein Sandkorn, das in ein sensibles Getriebe fällt.

Und die Luft, sie war von einem Netz durchzogen, das in seiner Engmaschigkeit eine nie dagewesene Dichte erreicht hatte und weiß von den Flugzeugen in den Himmel gezeichnet war, bis Corona die Höhenflüge der Luftfahrt schließlich auf den Boden der tiefsten Krise in der Geschichte der zivilen Fliegerei herunterholte und der Himmel auf einmal so blau und frei von  Kondensspuren war, wie es manch ein Mensch noch nie gesehen hatte. Derweil, mit der Rückkehr des Reisens ins breite Leben, kehren die Flugmaschinen wieder in die Wolken zurück.

Global und total sind die hier gezeichneten Phänomene. Aber sie erscheinen keineswegs auf der ganzen Welt gleich, genauso wenig, wie alle Länder und Nationalökonomien gleichermaßen ProduzentInnen und KonsumentInnen, ProfiteurInnen und VerliererInnen der heute auftretenden Transportweise sind. Auf die Spitze getriebener Hightech in modernen Fahrzeugen wie Fahrwegen in der imperialistischen – der hochnäsig sogenannten „Ersten Welt“ – steht vielfach der Rückständigkeit fehlender oder kaputter Straßen oder antiquierter Fahrzeuge in der halbkolonialen, abfällig als „Dritte Welt“ bezeichneten, gegenüber.

Lokal zeigen sich genauso die Unterschiede. Während sich zu Hauptverkehrszeiten in Metropolen Transport zumeist zäh und in überwältigender Masse auf den Straßen, in Untergrundbahnen und Bussen, auf Rollern, Fahrrad und zu Fuß vollzieht, wobei sich mancherorts die Durchschnittsgeschwindigkeit des im Blech verpackten Menschen kaum von der eines auf den eigenen Füßen gehenden unterscheidet, finden sich die Weiten ländlicher Gebiete abgehängt und oftmals der Alternativlosigkeit eigener Privatfahrzeuge gegenüber, fernab jeden Gleisanschlusses oder auch nur eines regelmäßig fahrenden Busses. Neben der Wohnungs- zeigt vor allem die Verkehrsfrage alltäglich den Unterschied zwischen Stadt und Land.

Und natürlich vollziehen sich die Klassenunterschiede der Gesellschaft auch in der von ihr produzierten Weise, Wege zurückzulegen. Überbordender Luxus und verschwenderisches Auftreten der Luxus- und Business-Classes, überschwere oder Rennwagen ähnliche Edelkarossen sowie private Yachten im Dienste eines kleinen, superreichen Teils der Menschheit stehen ihrem übergroßen anderen Extrem gegenüber: der Fortbewegung mittels notwendigen Einsatzes des eigenen Körpers oder anderer, geradeso leistbarer Mobilitätsarten.

Die Beschreibung lässt sich lange fortsetzen, für die Einleitung reicht es. Das bisher Genannte sind nur Ausschnitte eines Verkehrssystems, das sich in einer mehrfachen Krise befindet, und – da sich diese zuspitzt – die Frage nach ihrer Lösung aufwerfen, die Verkehrsfrage. Ihr wohnt die Lösung von Ineffizienz und Reibungspunkten inne, aber angesichts der sich vollziehenden Katastrophe des Klimawandels ist es vor allem die Bekämpfung derselben, die das Eintreten für eine ökologische Verkehrswende als Teil der Klimabewegung aufgebracht hat.

Dieser Bewegung ist die Dringlichkeit zur Überwindung der bestehenden Verkehrsweise von einem rationalen oder auch ökologisch nachhaltigen Standpunkt aus klar, wie auch überhaupt einem großen Teil der Gesellschaft. Doch warum stellt sich das offensichtlich Erforderliche nicht ein? Warum kann trotz kleiner lokaler Ausreißer in Richtung einer umfassenden Verkehrswende von ihr global wie auch in den einzelnen Staaten keine Rede sein?

Haben Politik und Wirtschaft die Bedrängnis hausgemachter Zerstörung existentieller Lebensgrundlagen für die Menschheit einfach nicht begriffen? Ist das vielfach versprochene Ziel der maximalen Erderwärmung von 1,5 °C bei dieser nicht existierenden Verkehrswende als Teil der gesamten kapitalistischen Produktion und Konsumtion schon im Grunde verloren? Ist es nicht bekannt, dass das gepriesene und beförderte E-Auto die Umweltkrise nicht löst, sondern verschärft? Warum haben Millionen bei Fridays for Future (FFF), Tausende bei Sand im Getriebe und Hunderte AktivistInnen in den Kronen des Dannenröder Waldes, um bloß mal die Umweltbewegung Deutschlands zu erwähnen, nicht gereicht, um Verkehrsministerien und Industrie das Notwendige gegen die Klimakrise einzubläuen, sie zum „Umdenken“ zu bewegen? Was muss sich in und mit der Umweltbewegung ändern? Was muss passieren? Wer zwingt die Regierung, VW und Co in die Knie? Und was (wer?) kann das Steuer wirklich herumreißen, die Weichen in Richtung einer Verkehrswende stellen, deren Name ihr wirkliches Programm ist? Und was ist überhaupt ihr Programm?

Diese Fragen zu beantworten, heißt, ihnen auf den Grund zu gehen – auf den tiefsten Grund der kapitalistischen Gesellschaft, ihre ökonomische Struktur, und welche Rolle der Verkehr darin spielt.

2. Verkehr und Kapitalismus

Viele, im Prinzip alle Programme bürgerlicher Prägung streben an, den Verkehr zu ändern, ohne die Grundlage anzutasten, auf der er fährt: das Privateigentum an Produktionsmitteln mitsamt dem einhergehenden Zwang zur Mehrwertaneignung und Produktionsausweitung – kurz, den Kapitalismus. Dies verwundert auch nicht. Schließlich ist er nicht nur das Fundament, auf dem der Transport im Kapitalismus stattfindet, sondern eben auch auch die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft selbst. Seine VordenkerInnen treibt kein Interesse um, daran zu rütteln, selbst wenn ihr Wunsch nach einer nachhaltigen Verkehrswende noch so aufrichtig wäre.

Aber, selbst linkere, reformistische bis hin zu revolutionär verstandene Vorschläge bleiben oft diffus. Antikapitalistisch zwar dem Wort und Empfinden nach, aber doch wenig konkret, wenn es gilt, dem Antikapitalismus einen klaren Weg zu weisen.

Zweierlei ist dafür ursächlich. Einerseits bestrebt eine auf Reformen fokussierte Politik in allen ihren Spielarten – und zu diesen gehört unfreiwillig auch diverser grüner Anarchismus – nicht den finalen Bruch mit der bestehenden Gesellschaft und ihre revolutionäre Überwindung. Sie will es zum einen nicht, weil ihre AkteurInnen doch zu sehr mit Staat und Kapitalismus verwachsen sind und davor zurückschrecken, am eigenen morschen Ast zu sägen. Oder aber manche/r scheut das Aussprechen gewisser Forderungen aus Angst, die abzustoßen, die doch eigentlich für eine fortschrittliche Verkehrspolitik gewonnen werden sollen. Auch wenn manche eigentlich Gefallen an, zum Beispiel, einer ArbeiterInnenkontrolle über die Autoindustrie mit demokratischem Umstellungsplan finden, trauen sie dies aber gleichzeitig den ArbeiterInnen auch nicht wirklich zu und betrachten sie (vielleicht unterbewusst) als passives Objekt.

Andererseits besteht eine verkürzte Verkehrspolitik oft darin, dass sie am mal nahen, mal weiter entfernten Horizont zwar ein schön anzusehendes Ziel verspricht, (weniger Verkehr, kostenloser Nahverkehr, Struktur der kurzen Wege usw.), aber der Weg dahin unklar im fast undurchdringlichen Dickicht aus Ahnungslosigkeit und gewisser Naivität verborgen liegt. Er soll dann mit den mehr oder minder stumpfen Klingen des Parlamentarismus freigeschnitten werden oder es wird versucht, in eifrigem Aktivismus das Gestrüpp zu durchqueren, was bald zum Verlaufen und zur Erschöpfung führt und die Transportwende nicht wirklich näher gerückt hat.

Dieser Mangel an tauglichen Wegen zum Ziel ist direkt verbunden mit einem an korrekten Analysen darüber, dass den bestehenden Erscheinungsformen von Fortbewegung ökonomische Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegen, die entscheidend das Wirken und die Möglichkeiten von Wirtschaft und bürgerlicher Politik bestimmen und jede wirkliche ökologische Wende in Industrie und bürgerlicher Politik verunmöglichen.

Also, was sind diese Gesetzmäßigkeiten? Wie bestimmt der Kapitalismus unsere Art und Weise der Ortsveränderung? Und welche Rolle spielt Verkehr umgekehrt im Kapitalismus? Betrachten wir dazu mehrere Szenarien, zunächst im Gütertransport, welcher im Gegensatz zum Personenverkehr fast ausschließlich kommerziell durch die Transportindustrien – Reedereien, Logistik-, Fuhrunternehmen usw. – abgewickelt wird. Außerhalb davon findet er fast nur in der unbezahlten Reproduktionsarbeit privat statt, etwa nach dem Einkauf im Supermarkt oder beim Umzug.

2.1. Gütertransport

Bevor Güter, die im kommerziellen Transport fast immer zugleich Waren sind, transportiert werden können, braucht es ein Fahrzeug mit einer entsprechenden Infrastruktur. Dabei genießen Luft- und Schifffahrt den strukturellen Vorteil, ihre Verkehrswege natürlich vorzufinden und weitgehend unentgeltlich zu nutzen. Lediglich an den Anfangs- und Endpunkten der Wege braucht es einen (Flug-)Hafen mitsamt Zuführungen. Den Weg selbst begleiten ansonsten lediglich Satellit, Funk, Überwachungseinrichtungen und Küstenwachen oder FluglotsInnen. Straßen und Schienenwege sowie Pipelines sind demgegenüber in ihrer Gesamtheit vom Menschen zu schaffen.

Nehmen wir die Fahrt eines Containerschiffs als (unvollkommenes) Beispiel. Nun betrachten wir Folgendes nacheinander: das Schiff als Transportmittel, die Besatzung als TransportarbeiterInnen und die Ware, das Transportgut.

Das Containerschiff wurde in der südkoreanischen Daewoo-Werft gebaut. Die dort Arbeitenden schufen den Gebrauchsgegenstand Transportmittel, aber genauso auch seinen Wert – ein Schiff als Ausdruck und Träger der darin versammelten menschlichen Arbeitskraft. Für ihren Einsatz bekamen die WerftarbeiterInnen einen Lohn vom Schiffsbaukonzern, der sich darüber hinaus aber einen Mehrwert aneignete, der als sein Gewinn neben Lohn-, Material- und Maschinenkosten für das Schiff ebenfalls in den Preis mit einging, den die Reederei schließlich dafür zahlte.

Nun haben wir ein fertiges neues Schiff. Darin enthalten sind nicht nur Technik und Schweröl oder Diesel, sondern auch der gesellschaftliche Wert, den die ArbeiterInnen in der Werft geschaffen haben. Was passiert nun mit diesem?

Wir haben ja noch keine Ladung im Schiff. In Taiwan zum Beispiel wird nun ein Container ins Schiff geladen. Die Besatzung sichert ihn und passt während der Überfahrt auf ihn und seinen Inhalt – sagen wir Fernseher – auf. Es wird Transportarbeit geleistet. Und obwohl die Besatzung des Schiffes in der Regel nie den Inhalt, sprich den Fernseher, berührt oder an sich verändert, passiert etwas mit ihm. Er wechselt seinen Ort. Aber nicht nur das. Weil die Ortsveränderung ein notwendiger Übergang von einer Produktionssphäre in die andere (annähernd die Hälfe der Waren, die um den Planeten reisen, sind unfertige Produkte innerhalb von Wertschöpfungskette und  Produktionssphäre) (2) oder aber wie in unserem Fall in die Konsumsphäre ist, wird der Transport auch zum Teil der Produktion selbst, obwohl die Ware selbst außer in ihrer geographischen Lage nicht verändert wird. Der Transport bildet die Verlängerung der Produktion in die Zirkulationssphäre, wofür produktive, Mehrwert schaffende Arbeit im Kapitalismus aufgewendet werden muss.

Übrigens gehört die Ware dem/r ReederIn oder LogistikerIn heute meistens nicht mehr während des Transports, was einen Unterschied zum früheren Handel darstellt, der seine gesellschaftlich notwendige Position aus dem gesellschaftlichen Bedürfnis, Waren zu transportieren, ableitete. Er kaufte die Ware in Asien, brachte sie nach Europa und verkaufte sie weiter. Die schieren Mengen, die kurzen Zeiten und die hohe Sicherheit im Zusammenhang mit Transportrisiken (Versicherung) haben den Besitz der zu transportierenden Waren durch die ReederInnen überflüssig gemacht. Die Reederei braucht das Eigentum am Transportgut nicht mehr zu seiner Absicherung.

Zurück zu unserem Schiff, das nun beladen ist und Kurs auf Europa genommen hat. Indem die Besatzung den Frachter bewegt, wird der Ware Fernseher Wert hinzugefügt. Wo kommt dieser  her? Aus der Transportarbeit und – aus dem Schiff. Der in ihm enthaltene Wert, den es in der Werft erhalten hat, wird durch die Arbeit der Besatzung ein kleines bisschen in die Fernseher übertragen, bis das Containerschiff schließlich an sein wirtschaftliches Ende gekommen ist und seinen Wert vermittels der Transportarbeit auf alle Waren übertragen hat, die es jemals beförderte. Selbiges gilt für den taiwanesischen Lkw, der den Container zum Hafen brachte, die Kräne, die ihn be- und entluden, den Güterwagen, der ihn nach Wien trug, und den Lkw, der den Fernseher ins Geschäft brachte.

Aber bleiben wir beim Schiff. Die Reederei wird dem/r ProduzentIn, Zwischen- oder EndhändlerIn die Überfahrt von Kaohsiung nach Rotterdam, den Transport der Fernseher in Rechnung stellen, diese dann wiederum dem/r EndverbraucherIn. Die Rechnung der Reederei enthält die Lohnkosten für die Besatzung, Hafengebühren, Treibstoffkosten und einen gewissen Prozentsatz, der für das Schiff abbezahlt wird, sowie – den Gewinn, den die Reederei mit dem Transport machen will. Wie schon die Werft aus ihren ArbeiterInnen hat sich auch der/die ReederIn einen Mehrwert aus der Arbeit der Besatzung angeeignet, der zum größten Teil darin investiert wird, noch größere Containerriesen anzuschaffen, um noch günstigere Transporte anbieten zu können, damit in der Konkurrenz auf den Ozeanen mitgehalten werden kann.

Was halten wir bisher fest? Erstens, dass Verkehr in der Form des Gütertransports ein notwendiges Rückgrat der kapitalistischen Produktion darstellt, ja dass die Ortsveränderung selbst ein zwingender Teil davon ist und somit Transportarbeit den Dingen auf Schiff, Zug, Lkw und in Flugzeugen Wert hinzufügt – und dass diese Transportarbeit vermittelst der Mehrwertaneignung, die durch die TransportkapitalistInnen stattfindet, ebenfalls Ausbeutung beinhaltet.

2.2. Personentransport

Betrachten wir nun ein Passagierflugzeug. Gemeinsam mit unserem Containerschiff hat es nicht nur die Fähigkeit zur Ortsveränderung und die Abhängigkeit von gewissen Infrastrukturen, sondern auch, dass es eine riesige Masse menschlicher Arbeit – Wert – repräsentiert und in sich gigantisch viel Kapital gebunden hat. Die gesellschaftlichen Prozesse um Arbeit und Ausbeutung, Lohn und Profit sind in der Daewoo-Werft wie bei Airbus gleich. Auch findet in der Transportarbeit der Flugzeugbesatzung Ausbeutung statt.

Aber was ist mit dem Wert des Flugzeugs? Wird dieser auch auf das, was transportiert wird, die Reisenden, übertragen, findet also Wertbildung statt?

Ja, und zwar unabhängig davon, wer und wofür transportiert wird und ob es sich um  Angehörige der ArbeiterInnenklasse handelt oder nicht. Der Personentransport stellt eine Dienstleistung dar: die Ortsveränderung von Menschen. Ihre Produktion und ihr Konsum finden gleichzeitig statt. Der Wert des Flugzeugs verschwindet mit jedem Personenkilometer ein kleines bisschen in der Dienstleistung Fliegen. Er wird (wenn wir annehmen, dass ausschließlich Menschen befördert werden) nie in transportierten Dingen seinen Ausdruck finden, da der Endkonsum nicht in der Benutzung eines transportierten Dings, einer Ware besteht, sondern in der Ortsveränderung selbst. Hat das Flugzeug all seinen Wert durch Abermillionen zurückgelegter Personenkilometer verloren und wird verschrottet, existiert dieser ehemalige Wert der Flugmaschine bloß noch in der Erinnerung an ein Reiseerlebnis.

Das Gleiche gilt auch für den ArbeiterInnenberufsverkehr, nur dass hier eindeutig der Arbeitslohn die Quelle der Bezahlung ausmacht – wie für den Reise- und Urlaubsverkehr der Lohnabhängigen. Die Transportkosten dafür gehen in ihre Reproduktionskosten ein. Analog zur Güterproduktion (Verlängerung der Produktion in die Zirkulation) lässt sich von der Verlängerung der Arbeitszeit in die Freizeit gegenüber den KapitalistInnen und somit vortrefflich für die Bezahlung des Arbeitsweges argumentieren.

3. Autoindustrie und Kapitalmacht

Ca. 1,3 Milliarden Autos gibt es weltweit, bis 2030 könnten die 2 Milliarden längst erreicht sein (3). Wie kein anderes Gefährt steht es so sehr für die individuelle Mobilität des Menschen. In der Bundesrepublik allerspätestens seit dem sogenannten „Wirtschaftswunder“, welches oft und nicht von ungefähr neben dem Wiederaufbau den VW-Käfer als Symbol trägt. Wohlstand und individuelle Freiheit werden mit dem privaten Kraftfahrzeug verbunden und zelebriert. Und es lässt sich auch nicht von der Hand weisen, dass für Teile der weltweiten ArbeiterInnenklasse der Besitz eines eigenen Autos eine historische Errungenschaft darstellt.

Dabei ist der private Pkw das gesamtgesellschaftlich irrationalste und ineffizienteste Verkehrsmittel. Die meiste Zeit nimmt er Raum ein, ohne ihn zu überwinden, verbringt den absoluten Großteil seiner Existenz im abgestellten Zustand. Auf keinen Bus oder Zug, kein Taxi trifft dies zu, da sie ja nur im bewegten Zustand für das Verkehrsunternehmen Geld verdienen können.

Mit relativ viel Material- und Energieaufwand kann das Auto nur wenig Mensch und Güter  transportieren. Wer sich täglich damit in den städtischen Berufsverkehr wagt, wird auch noch feststellen: Die meisten Autos sind mit einer Person besetzt. Dabei aber, immerhin, braucht sich niemand allein zu fühlen. Man steht als Kollektiv und wohlklimatisiert im Stau, was gut tut, wenn Ungeduld und Wut auf alle anderen aufsteigen.

Besucht man dann eine der klaffenden Lücken in der Natur, wo eine Autobahn durch einen Wald gezogen wird, und erinnert man sich dabei an den verallgemeinerten Gestank der Stadt, der nach Abgas riecht, so stellt sich die Frage:

Warum hat sich eine so destruktive Verkehrsweise im Personenverkehr in einem Großteil der Welt gegenüber dem öffentlichen Verkehr durchsetzen können?

Kehren wir dafür zurück zur ökonomischen Basis der Gesellschaft. An ihr lässt sich beweisen, dass der Siegeszug des Autos keinen Zufall oder bloße Willkür, böse List diverser Regierungen und Konzerne verkörperte, sondern vollkommen der Logik des Kapitalismus folgte. Innerhalb dieser war er mehr oder weniger zwangsläufig, auch wenn das Auto für die Menschheit als Ganzes natürlich keine Alternativlosigkeit darstellt und höchstens 1/8 aller Menschen es sein Eigen nennen kann.

Die moderne Auto-, zu der wir im weiteren Sinne auch die Nutzfahrzeugindustrie zählen wollen, a), der Einfachheit halber und b), weil beide intensiv miteinander verflochten sind – zu VW gehören mit MAN und Scania auch Lkw-Riesen –, ist das Ergebnis und eine der größten industriellen Nutznießerinnen des kapitalistischen Wertgesetzes und nimmt in diversen Nationalökonomien eine führende Stellung ein. Extraprofite, Begünstigung im Ausgleichsprozess nationaler Profitraten und damit erhöhte Mehrwertaneignung gegenüber anderen Sektoren aufgrund hoher organischer Kapitalzusammensetzung und -konzentration (Monopolisierung), daraus folgend Werttransfer in die Hände der Autokapitale (4) – all dies bringt der Autoindustrie enorme Vorteile allein wirtschaftlicher Natur ein, treibt sie aber angesichts der enormen Konkurrenz innerhalb der Branche wie auch generell auch zu immer neuen technischen Revolutionen.

Schauen wir uns das näher an und besuchen eine Autofabrik eines/r der auf dem Weltmarkt führenden HerstellerInnen. Wir treffen auf eine extrem hohe Technisierung und Automatisierung, Schweißrobotik, digitale Steuerung ganzer Fabriknetzwerke, hochpräzise Werkzeugmaschinen, Fließbandmontage; ökonomisch ausgedrückt: eine extreme Konzentration konstanten Kapitals. Das VW-Werk Wolfsburg ist die größte Fabrik der Welt. Bis zu 3 500 Autos verlassen sie täglich. Über 60 000 Menschen arbeiten hier (5). Und es mag verwundern, dass angesichts der mitunter vergleichsweise hohen Löhne  die Ausbeutungsrate teilweise über denen vieler prekär bezahlter Jobs liegt. Doch Ausbeutung misst sich mathematisch nicht an der Höhe des gezahlten Lohnes (variables Kapital), auch wenn  als ArbeiterIn natürlich zuerst darauf geschaut wird. Entscheidend ist der abgegriffene Mehrwert. Dieser dürfte, wenn er auch hinter dem Vorhang von Marktpreisen und Gewinn nur schemenhaft ersichtlich ist, enorm hoch sein. BranchenkennerInnen gehen davon aus, dass bei der Lohnarbeit in Stammwerken weniger als 20 Prozent der Arbeitszeit für den eigenen Lohn aufgewandt wird. Der Rest ist Mehrarbeitszeit für die AutomobilkapitalistInnen um Porsche, Piëch, Quandt und Co.

Gleichzeitig treibt die enorme Konkurrenz zwischen den HauptherstellerInnen zu immer weiteren Produktivitätssteigerungen, Beschleunigung und Technisierung der Produktion an.

Für die Autoindustrie und ihre Produkte hat das eine interessante Konsequenz und sie hängt direkt mit dem SUV-Boom der letzten Jahre zusammen. Bei gleichbleibendem Produkt, aber massiv gesteigerter Produktivität werden zwar kurzzeitig Vorteile gegenüber den KonkurrenzherstellerInnen erzielt (Extraprofit aufgrund modernerer, arbeitssparender Produktionsmethoden). Da die Konkurrenz dies aber bald aufgeholt haben wird, folgt schließlich, dass allgemein weniger Wert und Gewinn in die Ware Automobil eingehen als zuvor, weniger Arbeitskraft nötig ist, ein solches zu bauen. Nur diese kann aber (Mehr-)Wert schaffen. Die Lösung der Automobilindustrie liegt in einer Weiterentwicklung des Produkts hin zu einem Fahrzeug, das als Ware mehr Wert in sich gebunden hat, sprich größer, schwerer, stärker, schneller ist und vor lauter technischem Schnickschnack fast platzt. Der SUV wurde geboren, der dann auch jede Motorenentwicklung, die auf geringeren Verbrauch der Aggregate abzielte, ad absurdum führt.

Im Ganzen dürfte aber dennoch, trotz SUV-Booms und Auslagerung bedeutender Produktionsteile in Billiglohnbereiche (inländisch wie ausländisch) sowie gesteigerter Arbeitsintensität die Profitrate in der Autoindustrie in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gesunken sein.

Dem entgegenwirken kann sie nur durch Ausweitung ihrer Produktion und das Erobern neuer Märkte. Und das ist die eigentliche Motivation hinter dem E-Mobilitätshype, wie auch schon die Legende vom sauberen Diesel dazu dienen sollte, als Türöffnerin in gewisse Märkte, nicht zuletzt den der USA, zu dienen.

Die harte Konkurrenz, der Druck der Profitrate führte und führt natürlich zu einem gnadenlosen Preiskampf, Produktions- und Marktpreis können stark voneinander abweichen. Mehr noch verschwinden in diesem Konkurrenzkampf eigenständige HerstellerInnen, werden vernichtet oder gehen in anderen Konzernen auf, die so ihre Macht ausbauen – Kapitalkonzentration, Monopolisierung. Im VW-Konzern sind auf diese Weise die ehemals eigenständigen HerstellerInnen Audi, Porsche, Skoda, Seat, MAN, Scania, Bentley, Lamborghini, Ducati und weitere aufgegangen.

Kommen wir zurück zur Frage, worauf die Autoindustrie ihre gesellschaftliche Stellung gründet. Auf der Hand liegt natürlich eine enorme Wirtschaftsleistung, die sich im BIP der jeweiligen Länder auffällig niederschlägt. Bei VW, dem 2019 weltweit größten Hersteller, stand in jenem Jahr ein Umsatz von 253 Milliarden Euro 17 Milliarden Euro Gewinn gegenüber (6). 2019 betrug das zusammengezogene Bruttowertschöpfungsvolumen der drei deutschen Konzerne VW, BMW und Daimler, die zugleich die drei Spitzenplätze der nach dieser Größe eingestuften deutschen Unternehmen besetzen, 102 Milliarden Euro (7).

Zudem ist mit dem Sektor eine herausstechende Anzahl an Arbeitsplätzen verbunden. Allein direkt in der BRD sind über 800 000 hier beschäftigt, wobei sich noch abertausende Jobs ringsum ansiedeln (ZuliefererInnen auch im weiteren Sinne; so z. B. die deutsche Chemieindustrie) und damit auch das politische Gewicht der Industrie verstärken (8).

Aber das allein erklärt noch nicht die Kapitalmacht dieser Konzerne in den Nationalökonomien Deutschlands, Japans, der USA, Frankreichs, Italiens, Südkoreas und anderer Länder. Als Kapitale mit einer Spitzenposition hinsichtlich hoher organischer Zusammensetzung (Anteil von konstantem gegenüber variablem Kapital) eignen sie sich über die Ausgleichsbewegung, die Tendenz zu einer gesellschaftlichen Durchschnittsprofitrate, bezogen auf die Gesamtökonomie, vermittelt durch den allgemeinen Warenmarkt einen größeren Teil des Mehrwerts an als Unternehmen mit geringer organischer Zusammensetzung, was sich als selbst verstärkendes Moment weiter fortsetzt.

Die Kapitale mit geringer organischer Zusammensetzung werden so außerdem verschärft dazu getrieben, ihrerseits das konstante Kapital zu erneuern. Die Autoindustrie ist zum wichtigen Zugpferd der Wertschöpfung eines Staates geworden, über die Branche hinaus.

Mehr noch führt die bereits angesprochene Zentralisierung und Monopolisierungstendenz im Automobilsektor VW und Co. in eine Position, in der ein Werttransfer in ihre Hände stattfindet zuungunsten nicht zentralisierter Bereiche der Gesamtökonomie aber auch der Branche selbst. Die Riesen VW und Co, aber auch ihre Zuliefergrößen wie Bosch, Mahle oder Continental profitieren somit direkt von einer großen Anzahl kleinerer bis mittelgroßer Unternehmen, die sich um die Autoindustrie angesiedelt haben, von ihr abhängig sind und unter denen eine große Konkurrenz herrscht (bspw. im Maschinen-, Formen- und Werkzeugbau).

Schließlich hat sich mit der Herausbildung des Imperialismus auch in der Autoindustrie eine Gesellschaftsform des Kapitals durchgesetzt. Aktiengesellschaften mit Streubesitz, Kredite, staatlicher Teilbesitz, Verflechtung mit dem Finanzkapital, all das ermöglicht der Autoindustrie als Ganzer, ihre Vormachtstellung nicht nur in einzelnen Ökonomien, sondern auch auf dem Weltmarkt zu behaupten.

Soweit zur heutigen Situation. Erklärt ist so aber noch nicht ihr historischer Siegeszug, insbesondere, da zu jenem Zeitpunkt, als das Auto auf den Markt trat, in den wirtschaftlich fortgeschrittensten Ländern der Welt bereits gut ausgebaute, flächendeckende Eisenbahnsysteme existierten.

Werfen wir deswegen einen Blick zurück.

Dass Kapital relevant überhaupt in diesen oder jenen produktiven Sektor fließt, hat erst mal gewisse technische Vorbedingungen. Im Fall der Autoindustrie war das die Entwicklung des Verbrennungsmotors (Otto- und Dieselmotor als Hubkolbenmotoren), der im Gegensatz zur bis dahin populären Dampfmaschine eine ausreichend kompakte Größe und Leichtigkeit bei ausreichender Kraftentfaltung aufwies, sodass er für den Verbau in Straßenfahrzeugen (zuerst umgebauten Kutschen) infrage kam. Gleichzeitig brauchte es auch massive Fortschritte im Bereich der Erdölförderung und -raffinierung, wobei die Durchsetzung von Diesel- und Benzinkraftstoff so nicht von Anfang an feststand. Ford wollte für seine Automobile ursprünglich Ethanol verwenden. Andere Erfindungen wie die Kautschukvulkanisierung spielen ebenfalls eine Rolle.

Final entscheidend für die Durchsetzung im Personenverkehr und die Stärke der Autoindustrie war und ist aber, dass das Auto im Gegensatz zu Eisenbahn, Tram, Bus und ganz zu schweigen von Schiff und Flugzeug ein Massenkonsumgut sein kann und dadurch massiv anlagesuchendes Kapital anzog – zu einem Zeitpunkt, als der Eisenbahnmarkt und seine Industrie schon weitgehend aufgeteilt waren.

Dass sich Kapital so verhält, es dahin drängt, wo es Profit erwartet, ist gewissermaßen eine allgemein gültige Regel. Elon Musks Tesla, vollgestopft mit spekulativ-fiktivem Anlagekapital mit höherem Börsenwert als Ford, GM und VW zusammen (9), und der E-Autohype geben ein modernes Beispiel dafür ab.

Das Auto erscheint hierbei wie gemacht für die kapitalistische Produktion. Für das Kapital lohnt sich die Massenabsatztauglichkeit und daraus abgeleitet eine Produktionsweise, die sich geradezu anbietet für eine immer weiter getriebene Arbeitsteilung, Automatisierung und fortwährende Produktivitätssteigerungen. Ford führte 1914 die Fließbandfertigung als zentrale Produktionsmaschinerie im Detroiter Autowerk ein und hob die Rationalisierung in der Produktion auf ein neues Niveau. Auch wenn Henry Ford weder der Erfinder noch erste Anwender dieses Verfahrens war, so hat er es doch derartig berühmt gemacht, dass es in Verbindung mit anderen Komponenten seiner Strategie als Fordismus in die Geschichte einging. Das Fertigungsprinzip Fließband findet bis heute bei Pkws, Lkws und Motorrädern Anwendung.

Weder im Flugzeugbau noch bei Eisenbahnen oder Schiffen finden derartige Produktivitätssteigerungen und eine solch verschärfte Jagd danach statt, auch wenn diese Industrien an sich natürlich danach suchen. Aber weder Absatzzahlen noch der Gegenstand der Produktion bieten das in einem Maß wie in der Kraftfahrzeugindustrie an.

Und es ist uns natürlich klar, dass der Vergleich von Auto und Schiff ein wenig an Äpfel und Birnen erinnert. Nichtsdestoweniger gilt: Im verallgemeinerten Konkurrenzkampf aller Kapitale, die sich alle auf dem Markt begegnen und einen Kampf um die Aneignung  gesamtgesellschaftlicher Mehrwertanteile führen, kommt die Kapitalmacht der Autoindustrie voll zum Tragen. In einem einzelnen Auto steckt verglichen mit einer Lokomotive wenig Wert. Aber bezogen auf den schieren Output an Autos werden in der Automobilbranche gigantische Kapitalmengen durchgeschleust, riesige Wertsummen produziert und ebensolche Mehrwertgrößen abgegriffen, die viel größer als in anderen Transportmittelindustrien sind.

Ein Blick auf Wirtschaftsgrößen in Geldform bestätigt das:

  Gewinn 2019 Umsatz 2019
Toyota (Japan, Auto) 16 946 Mrd. US-Dollar (netto) 272 031 Mrd. US-Dollar
VW (Deutschland, Auto) 14 948 Mrd US-Dollar (netto) 282 948 Mrd. US-Dollar
Airbus (EU, Flugzeugbau, inkl. Defence und Aerospace) 7,2 Mrd. US-Dollar (bereinigtes EBIT ohne abgezogene Strafzahlungen usw.); Verlust von 1,525 Mrd. US-Dollar (netto) 78 935 Mrd. US-Dollar
CRRC (China, größter Schienenfahrzeugbauer weltweit) 2 039 Mrd. US-Dollar (netto, 2018) 33 655 Mrd. US-Dollar (2018)
Hyundai Heavy Industries (Südkorea, größter Schiffsbauer weltweit) – 0,2 Mrd. US-Dollar (netto) 21,8 Mrd. US-Dollar

Tabelle 1 (10)

Ein anderes, schwergewichtiges Kapital darf dabei nicht in unserer Betrachtung fehlen. Historisch wuchs das ökonomische Gewicht der Auto- mit dem der erdölfördernden Industrie, beide bedingten sich gegenseitig. Heute wird das meiste geförderte Erdöl im Straßenverkehr verbrannt. Er ist der größte Einzelverbraucher. Allein in den OECD-Staaten liegt der Verbrauchsanteil bei 35 % (11). Global betrachtet ist das Ölfördermaximum (der Peak Oil) dabei noch nicht erreicht, auch wenn es irgendwann eintreten wird und in vielen erdölfördernden Staaten die jährliche Menge rückläufig ist.

Alternative Antriebsarten konnten sich im frühen 20. Jahrhundert nicht durchsetzen, entweder weil die Vormachtstellung von Ölkonzernen im Zusammenhang mit der Autoindustrie schon zu groß war oder die Techniken Nachteile gegenüber dem Verbrenner aufwiesen. In den USA verdrängte Standard Oil gezielt den E-Antrieb, der sich gegen das billige Benzin und dessen größere mögliche Reichweite nicht durchsetzen konnte. Der von Ford eigentlich angestrebte Ethanolkraftstoff für seine Modelle wurde in diesem Zuge ebenfalls durch Benzin ersetzt.

Es lohnt auch, einen statistischen Blick auf die Umsatz- und Gewinnzahlen des Ölsektors zu werfen, einfach um dessen Gewicht besser zu begreifen. Unter den Top Ten der umsatzstärksten Unternehmen der Welt finden sich mit Sinopec, China National Petroleum, Saudi Aramco und Exxon Mobil vier petrochemische Konzerne (2019: Gesamtumsatz 1 407 Mrd. US-Dollar, Gesamtgewinn 136 Mrd. US-Dollar, wovon allein 111 Mrd. US-Dollar auf Saudi Aramco entfallen, das börsennotiert 2 Billionen US-Dollar Unternehmenswert besitzt und zeitweise als wertvollstes Unternehmen der Welt galt (12)).

Naturgemäß hat der fossile Energiesektor mit dem Straßenverkehr als größtem Abnehmer ein Interesse an einer möglichst langen Fortführung der bestehenden Verkehrsweise. Für die Autoindustrie gilt, E-Auto hin oder her (derzeit liegt der Neuzulassungsanteil bei 4,3 % (13)), dass die Industrie als Ganze bis auf Weiteres voranging Verbrenner herstellen wird. Schließlich existieren hinsichtlich der Ladeinfrastruktur, -zeit und Reichweite nach wie vor strukturell große E-Mobilitätsnachteile (völlig davon abgesehen, dass das E-Auto ökologischer Unsinn ist, siehe dazu Kapitel 8.2).

Beide, Ölkonzerne und Straßenfahrzeugindustrie, bilden unterm Strich eine mächtige wirtschaftliche Phalanx der fossilen und irrationalen, gleichzeitig aber enorm kapitalintensiven Fortbewegungsweise, die natürlich auch ihren politischen Ausdruck finden muss.

4. Staat und Verkehrsindustrie

Verkehrspolitik wird auf den ersten Blick zunächst davon geleitet, welche geographische Struktur und Rolle ein Land prägen. Umgekehrt wirkt die Verkehrspolitik aber auch auf diese Faktoren ein. Sie bestimmt und verschärft den Unterschied zwischen Ballungsraum und Land, bindet Regionen besser an oder hängt sie ab.

Kapitalmacht drückt sich politisch aus. Tiefer gehend betrachtet ist der bürgerliche Staat ein ideeller Gesamtkapitalist, in dem sich die Interessen des jeweiligen, an den Nationalstaat gebundenen Kapitals kumulieren, politisch ausdrücken und rechtlich verwirklichen. Ihm liegt die Aufgabe zugrunde, die Verwertungsbedingungen für den Kapitalismus, seine Produktions- und Reproduktionsbedingungen aufrechtzuerhalten und gesamtgesellschaftlich zu entwickeln. Was heißt das? Unter anderem: Etablierung einer Währung, Organisation eines Bildungssystems und – Herstellen und Überwachen einer Transportinfrastruktur.

Staaten und ihre Nationalökonomien befinden sich in einem dialektischen Wechselspiel zueinander. Zudem sind sie Teil eines sich über seine Einzelbestandteile erhebenden Weltmarktes. Wie das alles in die Verkehrspolitik einzelner Länder eingeht, können wir angesichts der globalen Ungleichzeitigkeit und hohen Detailkomplexität daher nur partiell zeigen.

Grundsätzlich lassen sich fünf Faktoren um die Verkehrspolitik eines Staates ausmachen:

  • Stellung des Staates auf dem Weltmarkt (Halbkolonie, Regional- oder imperialistische Macht; vorhandene Rohstoffquellen, Transitposition, internationale Konkurrenz … )
  • Zusammensetzung und Erfordernisse des gesellschaftlichen Gesamtkapitals des Landes (dieser Faktor bestimmt u. a. wesentlich die Verteilung der Bevölkerung auf seine Fläche  und welches Verkehrsaufkommen die Bevölkerung, insbesondere die ArbeiterInnenklasse braucht, darüber hinaus aber auch Kultur, Freizeit usw.)
  • Rolle der Transportindustrie im jeweiligen Land (in ihrer Gesamtheit: Verkehrswege, Bauindustrie, Fahrzeugbau, Transportkonzerne)
  • Einwirkung gesellschaftlicher Kräfte (Umweltbewegung, Initiativen für und wider Verkehrsprojekte, Gewerkschaften, … ); kommt besonders in bürgerlichen Demokratien zum Tragen
  • Geographie (physische Topographie, natürliche Verkehrswege, Seeanbindung, technischer Aufwand für Verkehrswegebau, … )

Zur weiteren Erläuterung betrachten wir nun im Ansatz die Verkehrspolitik Deutschlands und Chinas als imperialistischer Mächte sowie Pakistans als beispielhaft  halbkolonialem Land.

4.1. Deutschland: Autoland

Die Verkehrspolitik in der Bundesrepublik als imperialistischer Macht, die sich in hohem Maße auf eine Exportwirtschaft begründet, deren vordersten Plätze die drei großen AutoherstellerInnen einnehmen, weist einen dazu passenden extrem hohen Fokus auf den Straßenverkehr aus. Verkehrs- und Wirtschaftsministerium sind wesentliche Handlanger dieser Kapitalmacht und eng mit ihr verbunden.  Tradition hat das. Einst wurde unter der NS-Herrschaft mit den Geldern der verbotenen Gewerkschaften in Wolfsburg das Kraft-durch-Freude-Werk aus dem Boden gestampft, gebaut für den Kraft-durch-Freude-Wagen. Ersteres ist heute das VW-Werk, letzteres wurde schließlich der VW Käfer. Der VW-Konzern selbst gehört derweil zu 12 % dem Bundesland Niedersachsen (14). Staat (ob NS-Staat oder BRD) und Kapital fallen hier anteilig in eins. Der globale Konkurrenzkampf um Mehrwertaneignung und Profite wird direkt unter politischer Beteiligung geführt – ein für das imperialistische Stadium des Kapitalismus typisches Phänomen.

Während seit der Wiedervereinigung rund 6 000 km Bundesstraßen und Autobahnen neu gebaut wurden, verschwanden tausende Kilometer Schienenwege, insbesondere in der Fläche (15). Ironischer Weise ist die Autoindustrie mit ihrer riesenhaften Produktionsmaschine und Exportmenge eine der abhängigen Hauptkundinnen des Schienengüterverkehrs. Zugleich hegt sie für den inländischen Personenverkehr ein Interesse, die Eisenbahn zurückzudrängen.

Dabei besteht die deutsche Industrielandschaft natürlich nicht nur aus VW und Co. Mit Siemens und Airbus (EU-Konzern) existieren sogar zwei internationale Weltmarktspitzen des Eisenbahn- und Flugzeugsektors (die trotzdem in ihrer Kapitalmacht weit hinter die Straßenfahrzeugindustrie zurückfallen; siehe Tabelle 1).

Generell existiert ein sehr hoher Grad an Industrie und kapitalintensiver Wertschöpfung, welche zwingend auf ein funktionierendes Verkehrssystem angewiesen sind, wofür der Staat zu sorgen hat, der dieser Aufgabe nur ungenügend nachkommt. Der Investitionsstau und die Widersprüchlichkeit im bundesrepublikanischen Verkehrswegebau sind symptomatisch für die nicht deckungsgleichen Interessen einzelner Kapitale mit denen des ideellen Gesamtkapitalisten Staat. Dieser muss wesentlich für die Finanzierung von Wegen aufkommen, mittels derer die Maschinerie der privaten Aneignung am Laufen gehalten wird.

Eindrucksvoll bestätigt sich dies in der Just-in-time-Produktion. Einerseits versucht das private Kapital hiermit, den Umfang und die Kosten des konstanten Kapitals zu verschlanken (Abbau von Lagern und Lagerbeständen). Die Externalisierung der Lagerbestände auf die Straßen, Schienen und Wasserwege mitsamt ihrer Verstopfung sind die Folgen, was nun wiederum auf Seiten des Kapitals das Bedürfnis nach mehr Kapazitäten im Verkehrssektor hervorruft. Ergo: Der Staat, obwohl selbst eher bestrebt, die eigenen Kosten gering zu halten, hat für einen Ausbau der Kapazitäten sorgen, vor allem der Straßen, die den übergroßen Teil des Warentransportes tragen. In der Konsequenz ist gesamtgesellschaftlich damit vom Ausgangspunkt der Just-in-time-Produktion übrigens das Gegenteil erreicht worden. Das einzelne Unternehmen konnte sein konstantes Kapital zwar gegenüber dem wertschaffenden, variablen verringern. Gleichzeitig ist aber das Gesamtausmaß an konstantem Kapital durch neue Straßen und Fahrzeuge gestiegen. Das begünstigt die Bauindustrie und – die deutschen Autokonzerne, die unter ihren Dächern auch einige der größten Lkw-HerstellerInnen der Welt beherbergen.

Diese staatliche, chronische Bevorzugung der Straße und Benachteiligung der Schiene schlägt sich im Kontext des europäischen Kapitalismus und seiner inneren Konkurrenz dann ebenfalls in einer widersprüchlichen (und den Straßenverkehr letztlich weiter begünstigenden Entwicklung nieder): Einerseits ist der europäische Imperialismus geneigt, den europäischen Markt zu einen und Handelshürden zu beseitigen, andererseits führt die nationalstaatliche Konkurrenz (die selbst nur die Konkurrenz des Kapitals weiter zuspitzt) immer wieder zum Gegenteil. Während die Schweiz als Transitland ohne große eigene Automobilindustrie seit Jahrzehnten eine Verkehrspolitik betreibt, die den Fokus auf die Gleise setzt, passiert dies in der BRD nicht. Und so fahren, zeitaufwändig und die Produktion bremsend, die Güterzüge auf der Achse Rotterdam – Genua vergleichsweise zügig durch die Schweizer Berge, um dann von Basel bis Wesel permanent im Stau marodierender Infrastruktur und überlasteter Knoten zu stehen.

Zu erwähnen ist noch, dass es bei großen bundesdeutschen Verkehrsprojekten mittlerweile fast Standard ist, dass diese von mehr oder weniger großen Bürgerinitiativen (dafür oder dagegen) und der Umweltbewegung begleitet werden, die zudem über unterschiedliche Möglichkeiten verfügen, in die Planung (Raumordnungs-, Planfeststellungsverfahren, … ) einzugreifen. Als Folge haben sich hiesige Infrastrukturprojekte extrem verlangsamt – ein internationaler Konkurrenznachteil für das deutsche Kapital. Gleichzeitig kann der deutsche Staat durch die Einbeziehung der lokal betroffenen Bevölkerung und von Bewegungen selbige integrieren und Widerstände ins Leere laufen lassen. Großprojekte wie Stuttgart 21, Nordwestlandebahn Frankfurt oder jüngst die A49 zeigten genau das. Gebaut wurde am Ende natürlich trotzdem.

4.2. Imperialistischer Aufsteiger China

Das eigentliche Autoland: Mit der höchsten Neuzulassungsquote ist China der heiß begehrteste und umkämpfteste Markt der Welt (16). Dabei wetteifern nicht nur internationale Größen wie Toyota oder VW, sondern auch eine große Anzahl chinesischer HerstellerInnen wie Geely oder SAIC miteinander, die sonst international wenig zu melden haben. Um letztere zu stärken, hatte der chinesische Staat 2017 eine E-Autoquote beschlossen, die VW und Co unmöglich halten können. So ist der E-Autohype schließlich auch nichts anderes als ein Ausdruck der scharfen Konkurrenz im Automobilbereich (17).

Doch China ist nicht nur Autoweltmeister. Die größten Häfen der Welt, das längste Eisenbahnschnellfahrnetz und der größte Eisenbahnhersteller, der größte Flughafen nach Reisendenaufkommen (hier half Corona, Atlanta zu verdrängen), einige der größten petrochemischen Konzerne – und überhaupt, die größte industrielle Produktion der Welt, die nach einer ausgiebigen Exportinfrastruktur verlangt, prägen die Pekinger Verkehrspolitik.

Chinas Imperialismus wurzelt in der Geschichte als bürokratisch degenerierter ArbeiterInnenstaat und dessen kapitalistischer Restauration durch KP und Staatsapparat selbst (18).  Finanzkapital und Staat sind deutlich enger miteinander verschränkt als in klassisch imperialistischen Ländern. Zugleich herrscht die Regierung Xi Jinpings mit drakonischer Hand.  Gepaart mit den gigantischen, nach wie vor anwachsenden Produktivkräften betreibt der chinesische Staat so insbesondere seit der Globalisierung ein nie da gewesenes, hochsubventioniertes und schnelles Verkehrssystem-Infrastrukturprogramm und versucht, im Einklang mit der Transportindustrie klassische WeltmarktführerInnen auf allen Ebenen herauszufordern. Das Ergebnis ist ein aus ökologischer Sicht widersprüchliches: Einerseits erlebt die Eisenbahn in China eine mit Europa und den USA unvergleichliche Renaissance. Industrie und die große Fläche verlangen danach. 3 Millionen Menschen arbeiteten 2010 im staatlichen Eisenbahnbereich. Die Schnellfahrstrecke Peking – Shanghai ist mit umgerechnet 25 Mrd. Euro nicht nur Chinas größtes Einzelinfrastrukturprojekt gewesen, sie ermöglicht auch, die 1 300 km mit Strom aus Kohleenergie verschlingenden 350 km/h in unter fünf Stunden zu fahren und das billiger als im Flugzeug (19).

Andererseits, wie oben schon erwähnt, durchläuft China einen staatlich massiv beförderten Autoboom. Die Bilder von im Smog verschwindenden Städten sind Symbole schlechthin für Chinas intensiv fossile Energieträger verbrennende Industrie und Transportweise. 2018 emittierte der Gigant 29,7 % der weltweiten Treibhausgasemissionen, auch das – Weltspitze (20).

Was im Inneren entsteht, findet seine Erweiterung im Äußeren. Im imperialistischen Kampf um die Neuaufteilung der Welt hat China mit der „Neuen Seidenstraße“ ein Transportinfrastrukturprojekt auf den Weg gebracht, das den halben Globus umspannt. Von Peking finanzierte, gebaute (teilweise mit eigens mitgebrachten Arbeitskräften) und betriebene Straßen und Schienen in Afrika, Europa und Asien, Containerzugverbindungen von Europa nach China und zurück, Häfen in Südeuropa und halb Asien, Pipelines von Russland und dem Arabischen Golf ausgehend ins Reich der Mitte – längst hat China damit begonnen, seine Einflussnahme in Asphalt, Beton und Stahl zu bauen. Die Relevanz verkehrstechnischer Erschließung von Regionen für den weltpolitischen Führungsanspruch hat es erkannt. Was für manche Naiven nach einer wohltätigen Förderung der halbkolonialen Welt aussieht, ist nichts anderes als Kapitalexport, geostrategische Erschließung von Märkten und Rohstoffquellen und eine Kampfansage an die globale Konkurrenz.

4.3. Pakistan und die Seidenstraße

Eingebunden in Chinas „Neue Seidenstraße“ ist die Halbkolonie Pakistan. Eine formal-politische Unabhängigkeit ordnet sich einer ökonomischen Überausbeutung und Abhängigkeit unter, die schließlich auch die Verkehrspolitik des Landes entschieden mit dominieren.

Die Gestaltung und der Betrieb zentraler Infrastrukturen erfolgen im Interesse und auf Druck internationaler Kapitale, z. B. als Teil einer internationalen Strategie der Pekinger Regierung, der wichtigsten Schutzmacht Pakistans, zur Eroberung der Welt, oder folgen Diktaten von Instituten wie dem IWF. Auf diese Weise stehen moderne Anlagen in Häfen und neue Straßen – im Dienste fremder Kapitale – krasser Rückständigkeit und massiven Mängeln gegenüber.

Für Pakistan sieht diese Strategie so aus, dass der Persische Golf über die Häfen Gwadar (Chinas eigener Hafen) und Karatschi auf dem Straßen-, Schienen- und Pipelineweg mit China verbunden werden soll, wobei Pakistan zwar an der Nutzung der Wege teilnehmen darf, aber bloß als Nebeneffekt. Bestimmt werden Verkehrsströme vom Indischen Ozean zum jungen Imperialisten China durch die Interessen des Letztgenannten, der zudem die Strom- und Internetversorgung des Landes aufzubauen versprochen hat.

Auch wenn er bisher weit hinter den angestrebten Erwartungen liegt, zeigt der China-Pakistan Economic Corridor (21) doch eindrucksvoll, wie brisant Kapitalexport in Verbindung mit den Wegen globaler Warenströme und geopolitischen Gemengelagen verknüpft sein kann. Denn einerseits liegt ein Motiv zum Abkürzen des Weges zwischen den ostchinesischen Industrieregionen und dem Indischen Ozean natürlich in der potentiellen Zeiteinsparung im Warenverkehr nach Europa. Viel eher dürfte es aber darum gehen, die von Piraterie gespickte Straße von Malakka zu meiden und vor allem jene Gewässer nicht durchfahren zu müssen, wo China in Streitigkeiten mit Japan und den USA verwickelt ist, die in der Vergangenheit schon zu gewetzten Säbeln zwischen den Kriegsflotten führten. Umgekehrt bekäme China über Pakistan einen direkten militärischen Zugang zum Persischen Golf und damit zu jener Region, die Chinas hauptsächliche Erdöllieferantin ist.

Doch damit nicht genug. Das durch Pakistan verlaufende Teilstück der „Neuen Seidenstraße“ verschärft auch den Konflikt zwischen den drei Atommächten Pakistan und China auf der einen und Indien auf der anderen Seite. So soll ein Teil der Handelsrouten doch durch Jammu und Kashmir verlaufen, die Region Kaschmir also, die sowohl Islamabad als auch Neu-Delhi für sich beanspruchen. Andere Routen, die direkt durch Indien führen, erzeugen kaum weniger Reibung. Der Kampf um die Neuaufteilung der Erde, der Druck auf die halbkoloniale Welt und ihre Abhängigkeit von imperialistischen Zentren, das gleichzeitige Mit- und Gegeneinander einzelner Nationen in der globalisierten Welt, die ungleichzeitige und kombinierte Entwicklung: exemplarisch ist all das auf pakistanischem Boden als Baustein im Seidenstraßenprojekt Chinas ausgedrückt. Es versucht, Kapitalexport, Warenexport und -import sowie die geopolitische Beherrschung des asiatischen Kontinents miteinander zu verbinden.

5. Imperialismus und Weltmarktrückgrat

Auseinandersetzungen um die globalen Transportwege sind natürlich nicht neu, auch wenn die „Neue Seidenstraße“ Pekings Niveau und Umfang der Konkurrenz gegenüber vergangenen Projekten deutlich in den Schatten stellen dürfte, sollte auch nur die Hälfte des Geplanten Wirklichkeit werden. Das Schicksal des Projekts hängt dabei grundsätzlich von der Krisenentwicklung der nächsten Periode ab. Denn: Mehr als durch technische oder geographische Hindernisse werden die Geschwindigkeiten, Wege und Abwicklungen der globalen Handelsströme durch die Bedingungen des Weltmarktes diktiert. Zugespitzte Handelskriege, Zollschranken und Protektionismus, neue Krisenverschärfungen oder Crashes auf den Finanzmärkten können die Transportketten, diese Blutbahnen der Globalisierung, zum plötzlichen und weitgehenden Erliegen bringen.

Schauplatz internationaler Zusammenstöße sind immer wieder Warenwege. Seeblockaden erdrosselten ganze Länder (England gegenüber Deutschland im Ersten Weltkrieg oder, in jüngerer Zeit, die Blockade Venezuelas oder Kubas durch die USA). Kanäle, die Ozeane verbinden und Seewege abkürzen, standen im Mittelpunkt von Auseinandersetzungen (Suezkrise) oder wurden vom Imperialismus in Beschlag genommen (frühere US-Pachtung des Panamakanals). In Kriegen wie zu Friedenszeiten verfolgen Verkehrsinfrastrukturen immer auch einen, mal stärkeren, mal schwächeren militärischen Zweck. Jedoch das alles ist nur Ausdruck der Tatsache, dass sich der Welthandel und die Konkurrenz durch den globalen Güterverkehr verwirklichen, heute in einem nie dagewesenen Umfang.

Kehren wir daher nochmal zurück zu der Rolle, die der Verkehr in der kapitalistischen Produktion spielt und denken dies auf der Ebene weltumspannender Wertschöpfung weiter.

Der Kapitalkreislauf, die Mehrwertaneignung können nur real werden durch den Warentransport. Er ist ein physisch notwendiger Bestandteil dieser Zirkulation und geht als Teil der Produktionskosten in den Preis der Ware ein, so wie er ihr durch die Transportarbeit Wert hinzufügt. So weit waren wir schon.

Nun war der Kapitalismus aber nie nur auf einzelne Nationalökonomien beschränkt. Kapital hat von Anfang an versucht, die Grenzen der einzelnen Staaten zu überwinden und in die Welt zu drängen, sie zu erobern, wofür im Frühkapitalismus vor allem die Schifffahrt eine zentrale Rolle spielte. Die  koloniale Aufteilung und Ausbeutung der Welt durch west- und mitteleuropäische Mächte wäre ohne sie unmöglich gewesen. Später wurde sie ergänzt um Eisenbahn, Flugzeug, Lkw. Heute stellt im interkontinentalen Gütertransport nach wie vor das Schiff das Rückgrat schlechthin dar.

Mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert trat der Kapitalismus in sein höchstes Entwicklungsstadium, den Imperialismus. Dieser bedeutete das Umschlagen von Quantität in Qualität. Der Kapital- erlangte die Oberhand gegenüber dem Warenexport. Zentralisierung und Monopole modifizierten und überhöhten die freie Konkurrenz. Banken und Industrie „verwuchsen“ zum Finanzkapital. Internationale Kapitalverbände bildeten sich, die Welt war fortan unter diese und die von ihnen dominierten Großmächte aufgeteilt. Über die Welt wird wesentlich in den imperialistischen Zentren, wo die größten Konzerne und Finanzhäuser sitzen, entschieden. Damit einher geht eine Tendenz zur „Verewigung“ der Machtverhältnisse. Diese reibt sich jedoch fortwährend daran, dass trotz einer Neigung zur Monopolbildung die kapitalistische Konkurrenz alles andere als überwunden ist, sondern, im Gegenteil, mit besonderer Intensität in Krisen, eine heftige Zuspitzung erfährt.

5.1. Kapitalzentralisierung und nochmal Autoindustrie

Beziehen wir nun die Totalität des Imperialismus auf die Verkehrsindustrie: Kapitalverflechtung und Monopolisierungstendenz führen zu einer empfindlichen Abhängigkeit einiger ImperialistInnen und Regionalmächte von der in ihr ansässigen Transportindustrie.

Dazu zählen natürlich jene Länder mit einer großen Autoindustrie, die mit Ausnahme Südkoreas und Indiens nahezu komplett auf die imperialistische Welt konzentriert ist. HerstellerInnen, die ihren Ursprung in Halbkolonien haben, gehören in der Regel längst Monopolkonzernen an. Letztere weisen in ihrer Besitzstruktur ein engmaschiges Geflecht aus Eigentümerfamilien, Banken, Staaten, Fonds und Vermögensverwaltungen auf.

Es ist aber nicht nur die Autoindustrie, die aus ihrer ökonomischen Position heraus in hohem Maße der Wirtschaft einiger Länder ihren Stempel aufdrückt. Bauindustrie, ReederInnen und LogistikerInnen, FlugzeugbauerInnen und EisenbahnherstellerInnen und vor allem die eng mit dem Sektor verwachsene Energieindustrie weisen allesamt eine hohe Wertschöpfung sowie einen enormen Grad an Zentralisierung und Verflechtung mit Banken und zinstragendem Kapital auf. Sie stehen zu einem guten Teil auf dem absoluten Spitzenplatz im Unternehmensranking einzelner Staaten und bestimmen drastisch über deren Wirtschafts-, Verkehrs- und Außenpolitik, heben somit ihre scharfen Verwertungs- und  Konkurrenzinteressen auf die Ebene der Staatspolitik.

Und trotz herausragender anderer Transportmonopole gilt wieder: Das Auto erobert die Welt. Es ist kein Zufall, dass mit dem Auftreten des Imperialismus sein Siegeszug in der Transportindustrie begann und vor allem die Eisenbahn und den öffentlichen Personen(nah)verkehr zurückdrängte. Denn in den fortgeschrittensten Industrienationen und dort besonders in der Periode nach dem Zweiten Weltkrieg, der durch eine massive Zerstörung von Produktivkräften und Kapital den Weg für eine Erholung des Kapitalismus bereitete, brachte der Imperialismus eine Hebung des Lebensstandards und Löhne mit sich, die jahrzehntelang über den durchschnittlichen Reproduktionskosten lagen. Somit stellten (und stellen vielerorts) größer werdende Teile der ArbeiterInnenklasse wie auch des KleinbürgerInnentums einen Massenabsatzmarkt für Pkw dar, wobei das Produkt wie schon erwähnt als industriell gefertigtes Massenkonsumgut eine große Verbilligung erfuhr. (Übrigens: Vor der weiten Verbreitung des eigenen Autos für zumeist männliche Arbeiter in der Zeit von 1945 – 1970 waren günstigere Mopeds, Kleinkraft- oder Motorräder die zunächst für die ArbeiterInnenklasse im westlichen Imperialismus weiter verbreiteten eigenen motorisierten Fahrzeuge. In der halbkolonialen Welt dominieren motorisierte Zweiräder bis heute häufig das Bild.)

Die Hebung des Lohnniveaus und des Lebensstandards der ArbeiterInnenklasse in den westlichen Industriestaaten war und ist nicht nur das Ergebnis von Klassenkämpfen und Verbilligung der Produktion. Die überdurchschnittlichen Löhne über Jahrzehnte hinweg hängen direkt mit dem Imperialismus zusammen, mit den durch ihn realisierten Extraprofiten, die durch Überausbeutung der (halb)kolonialen Welt in einzelnen Industriesektoren erzielt werden. Diese erleichtert damit die Zahlung höherer Löhne in den imperialistischen Kernländern für große Teile der dort ansässigen ArbeiterInnenklasse – vereinfacht gesagt.

Der Rest ist Geschichte: Die Verbilligung des Individualverkehrs, die offensichtlichen Vorteile des Autos hinsichtlich der Flexibilität und eine ideologische Kampagne für die im gummibesohlten Blech verpackte Fortbewegung führten bald zu einer Abkehr von Schienenverkehr und ÖPNV, die auch staatlich massiv befeuert wurde: Rückbau von Gleisen, Ausbau der „autofreundlichen Stadt“, massiver Straßenausbau. Automobilkapitale wirkten dabei nicht nur vermittels des Staates, sondern auch selbst direkt mit. Das zeigte zum Beispiel die Episode um General Motors, Firestone und Standard Oil sowie in deren Hintergrund wirkende schwergewichtige Bankkapitale wie Rockefeller, welche über Jahrzehnte hinweg in US-Großstädten den schienengebundenen Verkehr aufkauften und im Nachgang zerstörten (22).

5.2. Billiger Gütertransport und Globalisierung

Die Jahrzehnte der Globalisierung führten eine schon immer im Kapitalismus angelegte Tendenz fort. Eine sich ausdehnende Sphäre der Akkumulation, der wachsende Haufen an Kapital und dessen Konzentration führen zu einer Steigerung des Verkehrsaufkommens.

Bedingt wird das in erster Linie natürlich durch die kapitalimmanente andauernde Ausdehnung der Produktion selbst: Wo ein größerer Berg an Waren, da braucht‘s auch mehr, um ihn zu bewegen.

Ebenso wenig führt die Kapitalkonzentration zu einer Einsparung von Transportwegen. Im Gegenteil, die zwischen einzelnen Produktionsstätten und zum/r EndverbraucherIn werden im Allgemeinen länger und ebenfalls die Arbeitswege von vielen Lohnabhängigen. Diese pendeln in den Industrienationen mitunter weit über 100 km. Aber noch häufiger folgen die TrägerInnen der Ware Arbeitskraft dem Ruf des Kapitals vom Land in die Stadt. Wie die weltweit größte Migrationsbewegung über die letzten 300 Jahre darstellt, wird die Kluft zwischen den Lebensräumen  größer.

Aber zurück zur Globalisierung, die ja eine Periode der imperialistischen Epoche beschreibt. Eines ihrer hervorstechendsten Merkmale sind die schon mehrfach angesprochenen globalen Warenströme. Sie vermitteln den Stofftransfer zwischen den imperialistischen Mächten untereinander sowie von und zur (halb)kolonialen Welt.

„Made in China, Taiwan, Vietnam, Bangladesh usw.“ sind auf dem Weltmarkt längst Standards. Aber wieso lohnt sich das für das Kapital? Warum wird überhaupt die Produktion für, sagen wir, den europäischen Markt ans andere Ende der Welt verlagert, wo sich dadurch die Transportzeit und scheinbar die Umschlagszeit des Kapitals doch um ein Vielfaches verlängern im Vergleich zur Vorratshaltung in den Montagefabriken, gerade wenn Produktionsabläufe auch noch auf unterschiedliche, weit auseinanderliegende Orte aufgesplittet sind? Das Kapital ist an der Verwertung seines vorgeschossenen Tauschwerts interessiert. Seine Zirkulationszeit und -kosten verringern sich eben durch die Just-in-time-Produktion (geringere Kapitalbindung in Warenform durch verringerte Lagerhaltung). Dies stellt eine Gegentendenz zum Fall der Profitrate dar. Sie wird „bezahlt“ durch prekäre Löhne und Arbeitsbedingungen in der „Dritten Welt“ wie im Logistikgewerbe einerseits, durch Auslagerung der Ersatzteillager auf die Autobahnen und Seewege andererseits. Das Kapital schert sich auch einen Dreck darum, was das für menschliche Nerven und das Klima bedeutet (CO2-Emission, Lärm, Stau). Hauptsache freie Fahrt fürs Monopolkapital.

Je niedriger die Transportkosten sind, desto attraktiver und rentabler wird die Auslagerung von Produktionsketten auf die ganze Welt, ausgehend von der imperialistischen. Tatsächlich sind die Kosten im Güterverkehr in den letzten Jahrzehnten im Durchschnitt immer weiter gesunken. Er bildet das günstige Rückgrat der Globalisierung. Voraussetzung dafür ist nicht nur das Größer, Schneller, Weiter von Schiff, Flugzeug, Lkw und Eisenbahn und deren gewaltige Kapazitäten. Die Externalisierung von Transportkosten in die Gesamtgesellschaft spielt eine ebenso wichtige Rolle.  Verkehrswegebau und somit die Gewinne der Transportindustrie und die billige Logistik für das Gesamtkapital werden beispielsweise massiv staatlich bezuschusst. Nur so kann sich die schon umrissene Just-in-time-Produktion wirklich für das einzelne Kapital lohnen, welches somit die „Lagerstätte“ Transportweg nicht entsprechend zu bezahlen braucht. Außerdem: Schifffahrt und Luftfahrt nutzen ihre Verkehrswege weitgehend unentgeltlich. Ihre Kosten werden zu übergroßen Teilen von der gesamten Menschheit getragen, während der in diesem Sektor anfallende Profit in die Hände der Unternehmen wandert. Bestimmte Fortbewegungsmittel und Verkehrsträger genießen also je nach Land ein unterschiedlich hohes Maß an Privilegien. Als Beispiel erinnern wir daran, dass die Fliegerei in der BRD von der Kerosinsteuer befreit ist.

Der größte externalisierte Kostenfaktor für die Menschheit im 21. Jahrhundert ist und wird in noch viel größerem Ausmaß aber unzweifelhaft der sein, die vom globalen Verkehrsaufkommen mit verursachten Folgen der Klimakatastrophe einzudämmen und zu bewältigen. Bisher hat noch kaum ein Energie-, Auto-, Luftfahrt- oder sonstiges Kapital direkt aus eigener Tasche für Überschwemmungen oder Waldbrände aufkommen müssen. Das muss wohl gegen diese und den Staat durch eine andere Kraft durchgesetzt werden.

6. ArbeiterInnenklasse, Bewusstsein und die „Kultur“ der Fortbewegung

Es wird nun ausschließlich um den Personenverkehr der Gegenwart gehen und um die Frage, was das Verkehrsverhalten der Individuen bestimmt. Außerdem werden wir uns aufgrund der Grenzen dieses Textes auf Mitteleuropa bzw. Deutschland fokussieren.

6.1 Mobilität – reiner Zweck?

Welches Fortbewegungsmittel der einzelne Mensch für sich wählt, wird durch vier Faktoren beeinflusst: den zurückzulegenden Weg und dessen Zweck; die dafür aufzuwendende Zeit; die Verfügbarkeit, worunter auch die finanziellen Mittel fallen; die Kultur.

Lebt ein Mensch auf dem Land oder in der Stadt? Besitzt er ein hohes oder niedriges Einkommen? Treibt ihn die Sozialisierung und verallgemeinerte Konkurrenz in mehr oder minderem Maß zur Jagd nach Statussymbolen und Selbstdarstellung? Vollzieht sich sein Alltag bestimmt durch Arbeit und Reproduktionsarbeit in geraffter Hast oder reichlich entspannter Freizeit? Das Fortbewegungsverhalten, der Konsum von Verkehr ist durch all das beeinflusst, in letzter Instanz also wesentlich bestimmt durch die gesellschaftliche Produktionsweise.

Es ist wichtig, das weiter auszuführen, weil es in der Umweltbewegung, ihrer sozialen wie ideologischen Prägung nach der Kleinbürgerlichkeit gehorchend, populär ist, sich der Verkehrswende nicht nur durch unzulängliche Reformpolitik, sondern auch vom Standpunkt der individuellen Konsumkritik aus anzunähern. An sich ist die Infragestellung von Ressourcen vernutzendem, umweltschädlichem Konsum auch keineswegs abzulehnen – wer auf Pkw oder Kurzstreckenflug verzichten kann, sollte dies tun.

Und natürlich bedingen sich Konsum und Produktion gegenseitig. Aber sind sie wirklich gleichwertig im gegenseitigen Wirken aufeinander? Nein. Es ist die Produktion, die nicht nur dem Verbrauch vorausgeht, sondern vor allem Angebote schafft oder eben nicht. Dass das Kapital aufgrund der riesigen Profite den fossilen motorisierten Individualverkehr hervorgebracht hat, versuchten wir bereits nachzuweisen. In der Folge ist der Straßenverkehr sehr oft für Privatleute schon von vorneherein deutlich günstiger als der öffentliche Nah- und Fernverkehr, dessen höhere Preise für die KonsumentInnen vor allem als politisch so gewollt betrachtet werden müssen. Im Zusammenhang mit der damit einhergehenden persönlichen Flexibilität, viel besseren Anbindungen abseits der großen Städte und der auf den meisten Strecken deutlich kürzeren Fahrzeit liegt es auf der Hand, warum Menschen die Fortbewegung im eigenen Pkw schon allein aus privat-ökonomischen Gründen bevorzugen, sofern letzterer denn leistbar ist.

Mobilität ist in der kapitalistischen Gesellschaftsformation aber weit mehr als eine nüchtern abgewogene Mittel-zum-Zweck-Betrachtung. Mobil sein ist Teil unserer Kultur geworden, ein Status. Dem eigenen Auto wird die Zauberkraft persönlich erreichbarer Freiheit („für freie BürgerInnen“) zugeschrieben in einer ansonsten für die Mehrheit der Menschen unfreien Welt. Wer ein Auto hat, dem steht es frei, wann immer es ihm/r beliebt, egal wohin und wie schnell zu fahren. Wer noch freier sein will – frei von Blechfahrgastzelle und Sicherheitsgurt und frei im Fahrtwind – fährt dann Motorrad. Fahren ist ein Erlebnis. Im Verkehr Zeit zu verbringen, wird zum Hobby.

Und es ist nicht egal, womit gefahren wird. Es muss schon ein Audi, Mercedes oder Porsche sein. Die Produkte der großen Industrie repräsentieren nicht nur den einfachen Gebrauchswert Auto. Nein, sie sind eine Marke, ein auf den/die BesitzerIn des Fahrzeugs abfärbendes und identitätsstiftendes Statussymbol, dem an sich schon die Attribute von billig und primitiv bis teuer und edel anhaften. Aus dem Auto wird ein Dacia oder eben ein Maybach. Sage mir, was du fährst, und ich sage dir, wer du bist.

Dieser Markenfetisch, diese gesellschaftlich vollzogene Überhöhung eines Gebrauchsgegenstandes, besitzt natürlich auch einen realen Bezug zu den Produkten –  dass Autos sich voneinander unterscheiden. Trotzdem ist der zusätzliche Effekt der Marke nicht zu verkennen. Sie geht mit in den Preis des Autos ein, erhöht real den Profit der HerstellerInnen. Deswegen leisten die Autokonzerne es sich, Millionen ihrer Einnahmen nicht in die eigentliche Produktion zu reinvestieren, sondern in Werbung, Sponsoring und extrem kostspieligen Motorsport (Prestige ist der Bourgeoisie ein treuer Begleiter) zu stecken.

Das ist die eine Seite des Markenfetischs. Auf der anderen finden wir den schnellen moralischen Verfall des Gebrauchswerts, der doch eigentlich soviel Ansehen bedeuten kann. Aber, es ist eben der Fluch aller Autos: gestern noch im Rampenlicht der HändlerInnen, morgen schon in die Jahre gekommen. Trotz voller Funktionsfähigkeit wird es ersetzt durch ein neues und glanzvolleres Statussymbol. Die bourgeoise Weise, sich fortzubewegen, bringt eine frivole Dekadenz mit sich, die umso überbordender ausfällt, je größer das Vermögen ist. Die Fortsetzung der Luxuslimousine sind Yacht und Privatjet.

6.2 Reproduktive Freizeit und Zerstreuung

Der beschriebene Kult um das Auto war gutbürgerlichen Ursprungs und von Anfang an männlich geprägt – bis heute. In den namhaften Motorsportkategorien gibt es immer noch kaum Frauen. Lange war der Führerscheinerwerb an die Zustimmung des Ehemanns gebunden. Mit Herausbildung einer ArbeiterInnenaristokratie und der Produktverbilligung wurden der Kauf eigener privater Kfz und überhaupt die Verbürgerlichung großer Teile der ArbeiterInnenklasse in imperialistischen Ländern und reicheren Halbkolonien erst möglich. Das eigene Fahrzeug suggerierte auch dem Proletariat Status, Geschwindigkeit und Scheinfreiheit.

Der Aspekt der Scheinfreiheit und überhaupt der Lebensstandardhebung spielte für den Fordismus eine wichtige Rolle zur Ruhigstellung der ArbeiterInnenklasse. Nach dem Motto: im Betrieb zwar ausgebeutet und unterdrückt, außerhalb aber alle „Freiheit“ des Konsums – des Autofahrens – als Ausgleich. Das Konzept Fords war auch Vorbild für den schon erwähnten  Kraft-durch-Freude- Wagen der NS-Diktatur. Das Auto befriedigt nicht nur Bedürfnisse des Transportkapitals, sondern befriedet in gewisser Weise auch den Klassenkampf. Die Hebung des Lebensniveaus der ArbeiterInnenklasse (im Generellen, das Auto ist natürlich nur ein Ausschnitt) bedeutete nicht nur eine materielle Errungenschaft für diese, sondern auch eine über den Reformismus vermittelte gestärkte ökonomische Grundlage für Passivität im Klassenkampf.

Überhaupt ist es so, dass das Freizeitvergnügen für die ArbeiterInnenklasse den ausgleichenden Gegensatz oder besser gesagt die logische Ergänzung zur Entfremdung und Verdinglichung in der Produktion verkörpert. Der Spaß und das Erleben im Urlaub und am Wochenende machen den mehr oder weniger allgemeinen Verdruss der Arbeit, dieses sich montags schon nach dem Freitag Sehnen, vergessen und reproduzieren die Arbeitskraft nicht zuerst physisch, sondern psychisch. Die täglichen Massenbewegungen der ArbeiterInnenklasse von und zur Arbeit werden ergänzt um die des erschwinglichen Tourismus’.

Kreuzfahrtschiffe übergeben täglich tausende Menschen in die zur Ware gewordene Kultur solcher Städte wie Barcelona oder Venedig, die davon nicht nur profitieren, sondern schon Proteste gegen den Gegenwartstourismus erlebten. Billigflieger machen auch jugendlichen geringer Verdienenden einmal im Jahr eine Woche Malle oder Goldstrand möglich, wo der Alltag unterschiedlicher Grauschattierungen feierlich im Partyrausch vergessen wird. Verlängerte Wochenenden fangen mit kilometerlangen Staus an und enden genauso auf der Fahrbahn der Gegenrichtung, ein Meer aus Blech auf dem Weg zum und vom Strand.

Es ist offensichtlich, dass Verkehr und Massentourismus – von Spaßfahrten und Spritztouren sowieso zu schweigen – miteinander eng verflochten sind. Das destruktive Potential, das sich daraus für die Umwelt ergibt, ist ebenso bekannt, wie es billigend in Kauf genommen wird. Für manche/n liegt es an dieser Stelle natürlich wieder nah, sich mit der bloßen Kritik des Konsums abzugeben. Aber, schon wieder, ist das leider nicht hinreichend. Der Massentourismus ist nicht nur Ergebnis seiner Erschwinglichkeit und seines eigenen Warencharakters. Er tritt auf, weil er wirklich ein Bedürfnis von individualisierten, entfremdeten Menschen nach Zerstreuung und Selbstaufwertung befriedigt, das unmittelbar aus der kapitalistischen Lebensrealität entspringt. Diese sorgt nicht nur für ein entfremdetes und auf Konkurrenz basierendes, sondern auch weitgehend bewusstloses Dasein, das kaum Selbstentfaltung in der Produktionssphäre, im täglichen Schaffen, zulässt. Den Massentourismus einfach nur zu beschränken, wird folglich als Einbuße an individueller (Schein-)Freiheit empfunden (werden). Wir wollen im Programm unten noch darstellen, dass die Lösung auch hierfür nur dort gefunden werden kann, wo die Menschen ihr Leben produzieren.

6.3 Was wird aus der (Auto-)ArbeiterInnenklasse?

Weltweit sind Millionen Menschen in der Kfz-Industrie beschäftigt. Allein hierzulande dürfte bei weit über einer Millionen Menschen ihre Existenz von der Arbeit im Autosektor abhängen, wenn wir bspw. Zulieferbetriebe, Werkstätten und Familienangehörige in unsere Betrachtung einbeziehen.

Sehr vielen der dort Beschäftigten dämmert mindestens, dass die Verkehrsweise, für die sie unter dem Kommando der Automobilkonzerne produzieren, einer zwingenden und dringenden Änderung bedarf. Einigen ist es sehr bewusst. Aber klar, falsch wäre es natürlich auch zu verleugnen, dass es bei einem Teil der IndustriearbeiterInnenschaft ebenfalls eine irrationale Tendenz zur Leugnung der Klimafrage gibt.

Völlig unbenommen davon, wie sich die Erfordernisse des Klimawandels für die einzelnen Beschäftigen darstellen – was so gut wie alle umtreibt, ist die Frage, wie es künftig um den eigenen Job steht, eine begründete Sorge, nicht nur spekulativ, sondern akut und real. 178 000 Stellen stehen allein in den Zentren der deutschen Autoindustrie für die nächsten vier Jahre zur Disposition, viele wurden in den letzten Jahren schon zerstört (23). Vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Konkurrenz auf dem Weltmarkt und andauernden Krise versuchen Kapital und Regierung, mit massiven Investitionen die deutsche Exportwirtschaft für die Zukunft fit zu machen. Im Zusammenhang mit der Klimakrise rückten „grüne Technologien“ in den Fokus der Industrie – als mögliches Vehikel im Rennen um neue Profite. Für die Autoindustrie bedeutet das ideologisch keineswegs die Abkehr vom motorisierten Individualverkehr, sondern eine „ökologische“ Erneuerung der Privatflotte: E-Auto, alternative Antriebe, Carsharing usw. Das hält zwar den Klimawandel nicht auf, soll aber satt Profite bringen, die Konkurrenz ausstechen. Zuerst erfordert der Umbau des Autos nun den der Autofabriken und fällt hier in eins mit der längst real werdenden Industrie 4.0 (Digitale Revolution). Die Erneuerung des konstanten Kapitals und die geringere technische Komplexität des E-Auto-Antriebsstranges sollen eine Verringerung des variablen Kapitals ermöglichen.

Wahrscheinlich bedeutet dies die größte Neuzusammensetzung der ArbeiterInnenklasse im schwersten Bataillon der deutschen Industrie seit der Agenda 2010. Letztere hat dem deutschen Kapital nicht nur die Möglichkeit verschafft, im Zuge der Krise 2008 die Konkurrenz auszustechen und sich nach vorne zu exportieren, sondern erleichtert nun auch ein Absägen von Arbeitskräften zum Umbau und Auslagern der Automobilproduktion.

Dabei setzen IG Metall und die Sozialdemokratie heute den Kurs fort, der unter „Autokanzler“ Schröder schon den Großangriff der Agenda von Leih- und Zeitarbeit sowie Prekarisierung bedeutete. Sie halten dem Kapital den Rücken frei vor einer Gegenwehr aus der ArbeiterInnenklasse und greifen sie im Namen des Standorts Deutschland selbst an. Die Gewerkschaftsbürokratien ermöglichen in der brutalen Konkurrenz VW, Daimler und BMW und ihren ZuliefererInnen von Bosch bis Continental Wettbewerbsvorteile durch Stillhalten und Mitgestalten von Auslagerungen, Entlassungen und Werksschließungen.

Andererseits trottet die IG Metall im Grunde ohne ein eigenes, taugliches Mobilitätswendekonzept den Konzernen servil hinterher. Sie hofft dabei, dass bei allem industriellen Umbau der nächsten 10 Jahre eine sie stützende Stammbelegschaft übrig bleibt, die sie gegen alle anderen – ausländische Standorte, befristete Kräfte im Inland usw. – ins Feld führen kann. Bei der Umweltbewegung sieht es auch nicht besser aus, was die Beziehung zur ArbeiterInnenklasse angeht. Für die Gewerkschaftsbürokratie existiert eine doppelte Abhängigkeit – einerseits von der (Kern-)Belegschaft in den Fabriken, andererseits von gut bezahlten Posten beim Kapital im Aufsichtsrat. Sie muss die ArbeiterInnenklasse immer wieder verraten, aber für Teile von ihr ab und zu mal ein paar Krümel rausholen (und wenn‘s der vorübergehende Arbeitsplatzerhalt ist). Die Umweltbewegung von Grünen über FFF bis zu Ende Gelände oder Sand im Getriebe verfügt hingegen über so gut wie überhaupt keine (organische) Verbindung zur ArbeiterInnenklasse, was zur Folge hat, dass selbige in ihrer Umweltpolitik – wenn überhaupt – nur eine absolut untergeordnete Rolle spielt.

Während das Konzept der IG Metall den vermeintlichen Schutz von Arbeitsplätzen bei VW und Co vorschiebt, um darüber das umweltzerstörerische Profitspiel vom Individualverkehrskonzept dieser Konzerne fortzusetzen, und  die Beschäftigten ideologisch an diese bindet (ähnlich der IG BCE in Bezug auf RWE-Braunkohle), bleibt es bei der Umweltbewegung auf der Straße oft bei abstrakten Appellen bis hin zu einem ebenso abstrakten Antikapitalismus. Dies führt dazu, dass die (Auto-)ArbeiterInnenklasse die Umweltbewegung zwar vielleicht als an sich wichtig, aber ohne taugliches Zukunftskonzept versteht – womit sie nicht ganz Unrecht hat.

Die gesamte Umweltbewegung auf ihrem derzeitigen Stand verfügt kaum über tragfähige Gesamtmobilitätskonzepte. Bei den Grünen bestehen sie darin, das E-Auto zu subventionieren und die Bahn zu privatisieren und zu zerschlagen (so auf Betreiben der Grünen hin bei der S-Bahn Berlin bereits angestoßen), Herbert Diess (Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG) und die Quandts und Klattens (BMW-GroßaktionärInnen) wird es freuen, Zugreisende werden dadurch nichts gewinnen. In ihrer Realpolitik sind die Grünen sowieso keine Verkehrswendepartei. Sinnbildlich haben sie als Teil der hessischen Landesregierung den besetzten Dannenröder Wald für einen Autobahnbau räumen und roden lassen.

Auf der Straße ist seit 2019 FFF zur zahlenmäßig und in der Außenwirkung dominierenden Kraft der Klimabewegung geworden. Ihr Großteil befindet sich mittlerweile zumindest fühlbar in dem Widerspruch, dass die wesentliche Politik der Bewegung auf Appelle an BerufspolitikerInnen beschränkt ist, von denen immer wieder keine taugliche Klimapolitik kommt. Es fehlt die Einsicht, dass eine  Regierung keine neutrale Vertretung der Allgemeinheit ist, sondern integraler Bestandteil bürgerlicher Herrschaft. Deren wesentliche Aufgabe ist es, den politischen Willen der KapitalistInnen in rechtliche Formen zu gießen und den ökonomischen Wettbewerb zum politisch (und militärisch) zugespitzten Konkurrenzkampf der Staaten zu erheben, in dem jede wirklich nachhaltige Politik an der kapitalistischen Realität zerbricht. Eigene Konzepte bringt FFF kaum. Zwar wird mit Vehemenz die Einhaltung des 1,5 °C-Zieles gefordert, mitunter auch Konkretes wie der zügige Kohleausstieg oder kostenlose Nahverkehr, aber wie und durch wen das Realität werden soll (wenn es die Regierung – auch mit grüner Beteiligung – nicht umsetzt), bleibt völlig offen.

Konfrontiert mit der unmöglichen Nachhaltigkeit im kapitalistischen System hat sich mittlerweile die nichtssagende Abstraktion des „system change not climate change“ etabliert. Von der Klimabewegung der „Mitte“ abgewandt sucht der sich als radikaler und konsequenter verstehende Teil der Umweltbewegung nach Alternativen und Möglichkeiten des Systemwandels. Raus kam dabei bisher in erster Linie ein Wechsel der Aktionsform weg von Schulstreiks und Demonstrationen hin zu Wald- und Grubenbesetzungen und dem sogenannten zivilen Ungehorsam. Diese firmieren oft unter nunmehr offen antikapitalistischem Label und bringen vielen AktivistInnen wenigstens eine relativ ausgereifte Erkenntnis bei, dass die Rettung der Lebensgrundlage der Menschheit (und innerhalb dieser steht die Verkehrswende) nur gegen Staat und Kapital durchsetzbar ist. Allein, hier hört der Gedanke bei vielen gerade vom Anarchismus Beeinflussten auf. Der Antikapitalismus bleibt ein wesentlich abstrakter – ein starkes Gefühl mit viel Entschlossenheit zur Tat vielleicht. Doch leider fehlt somit, wirklich bewusst auf konkrete Ziele hinzusteuern, weil – im Geist ganz verwandt mit der Appellpolitik der freitäglichen Streiks – die entscheidenden Fragen auch in den Kronen der Bäume und Tiefen der Gruben offenbleiben: Wie sieht eine konkrete antikapitalistische Verkehrswende aus und wer setzt sie durch? So radikal und richtig die Aktionen von Sand im Getriebe bis Waldbesetzung sind, ausreichend sind sie bei weitem nicht. Den Klima- zum Klassenkampf zu machen, liegt ihnen fern.

Für die ArbeiterInnenklasse in den Fossilien fördernden Industrien oder solchen, die Erzeugnisse herstellen, die sie verbrennen– sei es in Wolfsburg, Untertürkheim oder Garzweiler –, stellt sich die Umweltbewegung im Groben so dar, dass sie bei ihr politisch kaum berücksichtigt wird. Die Frage, was aus den Jobs in Motorenwerken wird, wird schlicht nicht beantwortet. Sie spielt höchstens eine untergeordnete Rolle, worin sich in bestimmter Weise die kleinbürgerlich-akademische Klassenherkunft von Grünen bis radikalen AktivistInnen ausdrückt. Ihr Verhältnis zur ArbeiterInnenklasse ist nicht einfach nur ignorant, sondern auch paternalistisch.

Und das vereint dann auch alle: die KapitalistInnen und ihre klassischen Parteien, die Gewerkschafts- und Betriebsratsspitzen der IG Metall sowie die SPD- und Linksparteiführungen sowie die Mehrheit der Umweltbewegung mitsamt den Grünen und NGOs von BUND & Co. Sie alle schauen paternalistisch, also bevormundend, auf die ArbeiterInnenklasse als passives Teilelement innerhalb einer „sozialökologischen Transformation“ herab. Die einen wollen ihr eine CO2-Steuer auferlegen. Die anderen verweisen bei der Jobfrage auf E-Auto-Innovationen oder freie Arbeitsplätze im Nahverkehr. Wieder andere drehen sich um und sagen „There are no jobs on a dead planet.“

Was bleibt, ist die vielerorts umgehende Angst davor, morgen den Job los zu sein, und die Sorgen, dass man am Ende für die Kosten der Verkehrswende nicht nur selbst, sondern sogar in erster Linie blecht. Ein Programm, das die ArbeiterInnenklasse in den Mittelpunkt des ökologischen Umbaus stellt, das sie als Subjekt desselben begreift und die Kosten dafür jenen aufbürdet, die seit Jahrzehnten satte Profite mit einer fossilen und kapitalistisch gestalteten Mobilität einfahren, so ein Fahrplan findet sich fast nirgends.

7. Exkurs: Winfried Wolfs tugendhafte Verkehrsreform

Wir unternehmen noch einen kurzen Ausflug zu einem, der vielen deutschsprachigen Linken als Koryphäe der Mobilitätsfrage gilt: Winfried Wolf. Er war Bundestagsabgeordneter der PDS und ihr Verkehrsexperte. Er ist aktiv in Attac und Bürgerbahn statt Börsenbahn und in der Bewegung gegen Stuttgart 21 und hat diverse Bücher rund um Kapitalismus und Verkehr produziert, wobei „Verkehr. Klima. Umwelt.“ zu Recht als empfehlenswertes Standardwerk gilt, welches  einen guten Überblick über die Entwicklungen und destruktiven Absurditäten zu Land, zu Wasser und in der Luft seit der Industrialisierung gibt (24).

Aber, wir wollen an zwei Aspekten Kritik üben: Wolfs unzulänglicher Analyse und seinem noch unzulänglicheren, weil durch und durch reformistischen, Programm.

Wolfs Arbeiten bieten eine gute Einsicht darin, WIE sich Entwicklungen der Verkehrsindustrie (zusammen mit dem Ölsektor) und damit der globalen Mobilität vollziehen. Er stellt dar, wie das Autokapital die Eisenbahnen und den öffentlichen Personenverkehr zurückdrängte und zerstörte, wie die Globalisierung die Zunahme der Warenströme vervielfachte und welche Interessen der hiesigen Autoindustrie sich im E-Auto-Boom ausdrücken.

Gerade bei „Verkehr. Klima. Umwelt.“ hinterlässt Wolf jedoch entscheidende Lücken, denn WARUM sich diese Entwicklung der Mobilität so vollzog wie von ihm nachgezeichnet, bleibt an einem gewissen Punkt unbeantwortet. Während die Rolle von Staat und Kapital für den Aufstieg fossiler Verkehre und Individualmobilität detailliert beleuchtet wird, bleiben die dahinter liegenden Triebkräfte im Dunkeln. Maximal treten sie in einen schemenhaften Halbschatten. Nirgends werden die entscheidenden ökonomischen Motive völlig aufgedeckt. Konkurrenz und Profitjagd schwingen zwar irgendwo mit, Mehrwert und tendenzieller Fall der Durchschnittsprofitrate sowie die Modifizierung des Kapitalismus zum Imperialismus, und warum gerade wegen dieser Faktoren die Automobilproduktion so gut zum Kapitalismus passt und eine globalisierte Welt entstanden ist, werden dagegen nirgends ausführlich dargelegt.

Folglich erscheinen sämtliche Phänomene und Symptomatiken von Fordismus über Massenmotorisierung bis Billigkurzstreckenflüge nicht zuvorderst als Ergebnis integraler Zwänge der kapitalistischen Gesellschaft, sondern irgendwo immer als Wahn und Fetisch. Sein Buch trägt nicht zufällig den Untertitel „Die Globalisierung des Tempowahns“. Und selbst wenn natürlich beim verallgemeinerten Schneller und Weiter Ideologie eine zentrale Rolle spielt: Woher kommt diese dann? Ist sie nicht vielleicht schon direkt eingeschrieben in die Genese des Kapitalismus mit seiner allgegenwärtigen Konkurrenz?

Vorzeitig gestoppt auf dem analytischen Weg zu den tieferen Ursachen der Verkehrsentwicklung, scheint es bei Wolf, als hätte es innerhalb des Kapitalismus immer auch eine alternative Entwicklung geben können, als wären Individualverkehr und Eisenbahnzerstörung zu guten Teilen Willkür und Wahnsinn des Kapitals. Dabei beschreibt Wolf selbst, welche ökonomische Macht, welche Unmengen an Kapital sich in diesem Bereich binden konnten. Warum also hätten der Kapitalismus und seine Staaten Verkehrskonzepte hervorbringen sollen, die vielleicht nachhaltiger, aber weniger profitträchtig sind?

Übrigens übertreibt Wolf die innige, fast schon als verewigt suggerierte stoffliche Bindung des Kapitals an den Sektor Auto und Öl. Seiner Natur nach ist Kapital erst mal flexibel und kann sich im Zuge seiner krisenhaften Zerstörung, des Klimawandels, technischen Entwicklungen und der imperialistischer Neuaufteilung der Welt auch andere Schwerpunkte suchen. Doch es wird immer zur Plünderung der natürlichen Ressourcen tendieren, weil sie in der Regel kostengünstiger sind als ihre Ersetzung durch nachhaltigere Alternativen, die zudem mehr Arbeitsaufwand erfordern mögen und zusätzlich unter Vermeidung von Abfall wieder in den natürlichen Kreislauf eingehen sollen. Kohle, Gas und Öl mögen bei weiterer Erschöpfung ihrer Lagerstätten eines Tages fürs Kapital zu teuer werden. Eine ökologische Alternative muss deshalb noch lange nicht an ihre Stelle treten. Das zeigt das E-Auto, für dessen Herstellung die Schweinerei bei der Lithiumgewinnung in Kauf genommen wird.

Nichtsdestoweniger gilt für heute erstmal weiterhin, dass der Verkehrswende eine starke Kapitalkonzentration auf nicht nachhaltige, fossile Transportarten entgegensteht. Wie geht Wolf programmatisch damit um?

Er setzt seine inkonsequente Analyse fort. Weit entfernt davon, tiefschürfend darzustellen, dass der Kapitalismus unabänderlichen, gebieterischen Gesetzen und Mechanismen unterliegt, landet er ein rein reformistisches Programm und präsentiert eine Aufstellung von „sieben Tugenden einer Verkehrswende“, die er in seiner Schrift zum E-Auto (25) dann zu 12 Punkten weiterentwickelt.

Grundsätzlich sind die in den sieben Tugenden angesprochenen Aspekte erst mal unterstützenswert. Sie umfassen kurz gesagt Verkehrsvermeidung, Förderung nichtmotorisierten Verkehrs, Ausbau des ÖPNV, autofreie Städte, Flächenbahnausbau, Verlagerung von Flugverkehr und Reduktion sowie Verlagerung des Gütertransports. Leider hört das Programm auch schon damit auf und geht über in das Kapitel „Entschleunigung als realistische Utopie (26)“.

Eine sich durchziehende Gegenüberstellung in Wolfs Tugenden stellt die sogenannte „SLOW – FAST“-Perspektive dar, wobei „FAST“ für ein Weiter so in der Verkehrsentwicklung steht und „SLOW“ für ein Moment der Verkehrswende.

Wolf verbindet diese Gegenüberstellung mit einer Kostenrechnung für die Gesamtgesellschaft, wobei er zu dem Schluss kommt, dass eine Verkehrswende („SLOW“) zwar großer Investitionen bedürfe, langfristig die Kosten aber deutlich unter jenen lägen, die bei Weiterführung der „FAST“-Verkehrsweise anfielen. So richtig das bezogen auf die Gesamtgesellschaft oder auch bezüglich der Staatsausgaben eventuell sein mag (erst recht in Anbetracht der Folgekosten klimatischer Veränderungen), so verkennt Wolfs Argumentationsweise doch den entscheidenden Punkt: Es geht im Kapitalismus Unternehmen und dem Staat nicht darum, was der Gesamtgesellschaft (schon gar nicht der Menschheit insgesamt) nützt oder für sie die rationale, richtige Mobilität ausmacht oder ob es am Ende sogar die Chance bietet, mehr Jobs zu schaffen, als vielleicht in der Straßenfahrzeugindustrie verlorengehen. Sondern es dreht sich alles Handeln und Trachten darum, ob es dem eigenen, national verwurzelten Kapital Vorteile bringt. Und da bezogen auf die BRD der schwerste Bolide des Kapitals eben in Gestalt der Autoindustrie die Wirtschaft durchpflügt, handelt auch die bürgerliche Politik dementsprechend so, dass hier die Profite und Rechnungen passen, völlig egal, ob wir demnächst am fossilen Individualpersonen- und Schwerlastverkehr zugrunde gehen. Finanzministerium und BetriebswirtschaftlerInnen denken aufgrund der zeitlich stets unmittelbar wirkenden Konkurrenz zuerst in Quartals- und Jahresabschlüssen, zuletzt an zukünftige Generationen.

Bei Wolf wiederum bleibt die Frage, wer für die Kosten der Verkehrswende aufkommen soll, einigermaßen offen. Die hauptsächlich Steuern zahlende ArbeiterInnenklasse und das KleinbürgerInnentum oder die, die die Erde mit Millionen Autos bewerfen? Zwar sprach er sich auf diversen Vorträgen auch schon mal für die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien aus. In seinen beiden erwähnten Büchern spielt das jedenfalls so gut wie keine Rolle.

Eine weitere Lücke tut sich bei der internationalen Umsetzbarkeit auf. Wolfs Programm ist in erster Linie ein nationales. In vielen Aspekten stößt das erst mal an keine Grenze – der kostenlose, gut ausgebaute öffentliche Nahverkehr trägt seine Regionalität ja schon im Namen und mit dem Rad gehen auch nur die wenigsten auf Weltreise. Entscheidend ist jedoch, wie sich Wolf die Verkehrsreduktion im internationalen, expansiven und globalisierten Güterverkehr vorstellt. Wir haben gezeigt, warum dieser logisch aus der immanenten und fortwährenden, aber kombinierten und ungleichmäßigen Ausweitung der kapitalistischen Produktionsweise folgt, welche Rolle er für die imperialistischen Staaten spielt und wie zentral er ist für die Ausbeutung und Niederhaltung der halbkolonialen Welt. Abstrakt einfach die Verkehrsvermeidung zu fordern, wird sie nicht verwirklichen. Genauso wenig kommt die globale Mobilitätswende, indem man fordert, die fortgeschrittenen Industriestaaten mögen mit gutem Beispiel vorangehen, obwohl sie die größten ProfiteurInnen weltumspannender Just-in-time-Produktionsketten sind!

Schon landen wir wieder bei den grausam bestimmenden ökonomischen Faktoren der imperialistischen Welt, die Wolf im Halbdunkel belässt. Würde er sie beleuchten, fiele das Licht eigentlich schon fast von selbst auf das, was weltweite Verkehrsumstellung und Transportvermeidung bedeuten: nämlich eine weltweite antikapitalistische Umstellung der gesamten Produktion. Die aber braucht ein entsprechend international basiertes Programm.

Hier steckt dann auch der Karren im Dreck des Wünsch-dir-was-Utopismus, was Wolfs „SLOW“-Plädoyer für Entschleunigung und Rückbesinnung auf das Nahe und Lokale angeht. Eine allgemeine Rückbesinnung auf Langsamkeit in einer sich generell beschleunigenden Gesellschaft erreichen zu wollen, ohne letztere grundlegend zu ändern, bedarf entweder des entsprechenden Reichtums oder erinnert an den Versuch, die Vergänglichkeit der Zeit durch Verlangsamung der Uhren aufzuhalten. Denn, obwohl er für Entschleunigung, entspanntes Reisen und Nerven schonenden Verkehr eine Veränderung der Mobilitätsinfrastruktur voraussetzt, erscheint diese bei ihm doch losgelöst von einer Veränderung der Gesellschaftsformation selbst. Letztere aber ist, wie wir schon beschrieben haben, der eigentliche Faktor, der nicht nur das Verkehrswesen seitens staatlicher und privater Wirtschaft entscheidend bestimmt, sondern auch das (un-)bewusste Verkehrsverhalten der Menschen selbst.

Ob „FAST“ oder „SLOW“, ist gesellschaftlich bestimmt: Wie viel Zeit und Geld hat ein Mensch, um von A nach B zu kommen? Was produziert eine Nationalökonomie – und was nicht? Wie sieht die historisch gewachsene Verteilung der Bevölkerung auf Stadt und Land aus? Wie äußern sich gerade der seit dem Aufkommen des Neoliberalismus gestiegene Leistungsdruck und Stress, der Individualismus und die Konkurrenz im täglichen Weg von und zur Arbeit und im Freizeitverkehr?

Alles Fragen, die von der Symptomatik Verkehr als einer Erscheinungsform des Kapitalismus auf letzteren selbst als ursächlich verweisen – und damit eine andere Gesellschaft zu einer wesentlichen Voraussetzung einer globalen, umfassenden Mobilitätswende werden lassen. Eben das spricht er aber nicht aus, der Winfried Wolf.

So vernünftig seine tugendhaften Vorschläge zum Gutteil sind – Vernunft setzt sich nicht durch durchs bloße Aussprechen durch. Das weiß Wolf sicher. Trotzdem lässt er weit offen, wer diese Vernunft gegen eine für die Menschheit irrationale, von den Interessen des durchrationalisierten Privatkapitals beherrschte Verkehrspolitik nur durchsetzen kann. Er schreibt zwar, dass eine Bewegung von unten notwendig sei, aber wer diese ist, bleibt unausgesprochen. Wer führt sie an? Wofür steht sie ein? Wünscht sich Wolf eine Bewegung wie jene gegen Stuttgart 21, die zwar breit und mächtig auftrat, aber aufgrund ihrer kleinbürgerlichen Führung und staatsbürgerlichen Beschränktheit das profitträchtig-irrationale Beerdigen des effizientesten Kopfbahnhofs Deutschlands nicht aufzuhalten vermochte (jedenfalls bisher)? Hätten demgegenüber eine Mobilisierung der ArbeiterInnenklasse und die Perspektive von politischen Streiks die Bewegung vielleicht hinreichend gestärkt, um Staat und Bahn zu stoppen?

Es bleibt offen. Einzig das Hereinziehen der Bewegung in die Schlichtung bezeichnet Wolf in „Abgrundtief + bodenlos – Stuttgart 21 und sein absehbares Scheitern“ (27) als wirklich großen Fehler –  nicht aber, dass der Kampf nicht in die Stellwerke, Meldestellen und Betriebswerke der Bahn, in die Hallen von Daimler und Co getragen wurde.

Und das überrascht auch nicht, weil Wolfs Einstellung zur ArbeiterInnenklasse am Ende hauptsächlich die gleiche paternalistische ist, die wir schon Gewerkschaftsbürokratien und Umweltbewegung attestierten. In seinen Programmen rechnet er vor, dass eine Verkehrswende mehr Jobs bringe, als in der Autoindustrie vernichtet würden. Er vergleicht die Größe der Automobil- mit der gesamten ArbeiterInnenklasse der BRD. Er verweist auf Tausende offene Stellen im Nahverkehr. Er sieht also die Problemstellung der Verkehrswende für die ArbeiterInnenklasse. Jedoch, er schlägt nicht vor, dass diese sich selbst bemächtigend des Problems annehmen soll und somit zum Subjekt der Verkehrswende werden kann. Angekommen an der Grenze seines Programms, zeigt uns Wolf den Weg in die Realität nicht. Die Antwort auf die Frage „WIE und durch WEN umsetzen“? verbleibt im Dunkel des Wolf‘schen Linksreformismus.

8. Der Fahrplan zur Verkehrswende

8.1. Zielsetzung

So breit der Konsens über die Notwendigkeit einer Verkehrswende, so unterschiedlich ist die Vorstellung, was darunter verstanden wird. Selbst in der Politik der CDU finden sich floskelhafte Versprechungen über die Verkehrsverlagerung auf die Schiene – wobei es dann auch bleibt. Von einer echten Verkehrswende kann hierzulande nicht gesprochen werden. In anderen Ländern sieht es nur geringfügig besser aus, international existiert die Verkehrswende sowieso nicht.

Jetzt ist das Wort schon einige Male gefallen: Was also verstehen wir unter einer wirklichen Verkehrswende?

Sie besteht vereinfacht gesagt im fortschrittlichen Auflösen der akuten Mobilitätskrise – der Verkehrsfrage –  welche wir nochmal kurz zusammenfassen:

  • Verkehr als Teil der Klimakrise: 15 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen werden in diesem Sektor emittiert (in der BRD 21 %). Mehr als die Hälfte des Erdöls wird in Flugzeugen (6 %), Schiffen (4 %) und auf den Straßen (40 %) verbrannt. Die Werte stammen aus Zeiten vor Corona und sind kritisch zu betrachten, da die Art der Stromerzeugung für den Schienenverkehr in den verwendeten Quellen vermutlich unberücksichtigt blieb.
  • Verkehr als Teil weiterer Umweltprobleme: Luftverschmutzung, Oberflächenversiegelung, Lärmemissionen, Abfälle von Fahrzeugen und Fahrwegen (z. B. Reifenabrieb ist erste Quelle des Mikroplastiks in den Meeren).
  • Ausgehend von den beiden Punkten Verkehr als Teil der Energie- und Ressourcenfrage – die Geschwindigkeit einer Verkehrs- wird zentral von jener der Energiewende abhängen.
  • Verkehr als unmittelbare Gefahr: 2018 starben weltweit 1 350 000 Menschen bei Unfällen im Straßenverkehr. Davon ist der überwiegende Teil in armen Ländern und unter Armen zu beklagen. Für Menschen von 5 – 29 Jahren ist der Verkehrstod die wahrscheinlichste Todesursache. Abgesehen davon existiert die Gefahr von Erkrankungen durch Lärm, Stress, Abgase.
  • Verkehr als Teil der Stadt-Land-Frage: Platznot durch städtischen (Individual-)Verkehr auf engstem Raum steht ländlichem Infrastrukturmangel gegenüber. Beides resultiert auf unterschiedliche Weise im Verlust von Lebensqualität (und ohnedies knapper Zeit).
  • Verkehr und Logistik als gesellschaftlich irrationale Konzeption: Warenketten um die ganze Welt, Wettbewerb als Verursacher von überflüssigem Verkehr (Leerfahrten usw.), abgestellte und Raum beanspruchende Massen an Privat-Pkws.
  • Verkehr als Teil der kapitalistischen Verwertungslogik. Krise und Kampf um die Neuaufteilung der Welt: (militärischer) Kampf um Absatzmärkte sowie Ressourcen (Lithium, Öl, Erdgas), Verkehrswegebau den Erfordernissen der imperialistischen Welt entsprechend, einsetzende Deglobalisierung werden mittelfristig die Konkurrenz im Güterverkehrssektor zuspitzen.
  • Relative Zurückdrängung öffentlichen, Bevorzugung des ineffizienten motorisierten Individualverkehrs.
  • Verkehr als Klassen- und Unterdrückungsfrage: Die Möglichkeit, von A nach B zu kommen, im Generellen sowie grenzüberschreitender Verkehr im Speziellen hängen ab von der gesellschaftlichen Stellung und Herkunft. Freiem Reisen für die Reichsten in alle Länder der Welt stehen fehlende sichere und legale Fluchtwege für Millionen Menschen gegenüber. Noch anschaulicher: Weitgehend ungehinderte Warenverkehre auf einem Weltmarkt stehen unfreien Bewegungsmöglichkeiten für Menschen gegenüber.
  • Abschließend: Klassenkampf unmittelbar im Sektor selbst – Ausbeutung der VerkehrsarbeiterInnen, Kampf um Löhne, Arbeitszeiten, Arbeitsplatzerhalt usw.

Ausgehend davon und im Unterschied zu weiten Teilen der bürgerlichen Politik ist die Verkehrswende für uns daher keine vorrangig technologische, sondern zuallererst eine gesellschaftliche Frage. Die aktuelle Nichtexistenz einer Verkehrswende ist Ergebnis der gesellschaftlichen Konstellation. Zwar erkennt die bürgerliche Gesellschaft die Notwendigkeit tiefgreifender Änderungen, allein, sie ist unfähig, sie zu verwirklichen. Ihre Vorstellung von Nachhaltigkeit ist eine, die sich stets ihren eigenen ökonomischen Erfordernissen unterwerfen muss. Was „nachhaltig“ ist und was nicht, was eine Mobilitätswende ist und was nicht, richtet sich für das Kapital an den eigenen Klasseninteressen aus. Daher ist die Verkehrswende für uns ein integraler Teil antikapitalistischer, sozialistischer Politik, die die Frage der Nachhaltigkeit zuerst aus dem Blickwinkel des langfristigen Erhalts der Lebensgrundlagen der Menschheit betrachtet.

Eckpunkte:

  • Herstellen einer Produktions- und damit Verkehrsweise mit ausgeglichenem Mensch-Natur-Verhältnis vermittels einer ökologischen Kreislaufwirtschaft. Während dem/r ProduzentIn im Kapitalismus ab dem Verkauf der Ware naturgemäß egal ist, was mit ihr passiert – ergo auch bei oder nach ihrem Verbrauch – bedeutet eine ökologische Kreislaufwirtschaft eine möglichst große Langlebigkeit von z. B. Fahrzeugen und Nutzbarhaltung der in ihnen versammelten Ressourcen für die Menschheit, ohne die Natur in einem nicht nachhaltigen Maß auszubeuten oder sie als Senke zu vernutzen.
  • Bezogen auf das Verkehrsaufkommen muss der Leitsatz dabei lauten: „So wenig wie möglich, so viel nötig.“ Schon hierbei springt ins Auge, dass der Kapitalismus dazu nicht in der Lage ist, weil sein Kreislauf Geld – Produktion – Produkt – Ware – Geld + Gewinn – gesteigerte Produktion … zur fortwährenden Ausdehnung (des Verkehrsaufkommens) drängt und dessen Logistik insgesamt ineffizient organisiert ist.
  • Eine ökologische Kreislauf- kann weltweit daher nur als Planwirtschaft verwirklicht werden, die schon bei der Produktion von Fahrzeugen und Transportwegen den weiteren Verbleib nach Abnutzung mit einbezieht. Während für den/die KapitalistIn dieser Gedanke in der Konkurrenz tödlich ist, ist es bei einer Planwirtschaft umgekehrt: Nicht auf den Ressourcenkreislauf zu achten, wäre ihr Untergang (auf lange Sicht ist das allerdings auch für den Kapitalismus der Fall).

Andere populäre Konzepte – Postwachstum (Degrowth), Gemeinwohlökonomie etc. – sind schließlich zum Scheitern verurteilt. Sie kennen weder den Weg zu ihrer Verwirklichung, noch brechen sie offen mit dem Kapitalismus, von dem auch keine korrekte Analyse geleistet wird.

  • Eine Planwirtschaft im Interesse der gesamten Menschheit hat wiederum die Aufhebung der kapitalistischen Klassengesellschaft (in der die Profitinteressen des Kapitals über den Bedürfnissen der Gesamtheit der Menschen stehen) zur Voraussetzung. Notwendig hierfür ist der Sturz des bürgerlichen Staates und die Erreichung einer demokratischen Rätemacht der ArbeiterInnenklasse über die Gesellschaft, die z. B. das Verkehrswesen vermittels Enteignung der Transportindustrie und Entwicklung und Kontrolle der Produktion einem demokratischen Plan unterstellen kann.
  • Das aber erfordert, die ArbeiterInnenklasse nicht nur als zentrale Kraft der Mobilitätswende zu begreifen, sondern sie auch zum bewussten Subjekt selbiger zu „erziehen“, was in der Notwenigkeit mündet, revolutionäre ArbeiterInnenparteien und eine neue Internationale aufzubauen, die die Verkehrsfrage als Teil ihres Programms begreifen.

8.2 Verkehrsträgerbetrachtung

Einrahmen sollen diese Eckpunkte ein integrales Mobilitätsübergangsprogramm, ein Wegweiser, der von tagesaktuellen Forderungen aus auf die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft und damit des Verkehrs zeigt.

Dabei ist aus Sicht der Produktivkräfte und der technologischen Ausgestaltung der Verkehrswende die Voraussetzung jene, die der Kapitalismus geschaffen hat, sprich die heute bestehenden Transportwege und -mittel. Schauen wir also auf ihr Potential in einer Verkehrswende.

  • Eigene Körperkraft (v. a. Gehen und Radfahren): die ökologischste Art der Fortbewegung und die mit Abstand meist genutzte, oft sogar schnellste auf der Kurzstrecke.
  • Motorisierter Individualverkehr (v. a. Auto, Moped, Roller, Motorrad): die ineffektivste Art der Fortbewegung, gemessen an der Nutzungshäufigkeit und möglichen Personenkilometern, daneben zumeist fossil angetrieben. Das E-Auto ist demgegenüber aus gleich mehreren Gründen keine generell grüne Alternative. Seine Herstellung erfordert bisher einen Wasser verschlingenden Lithiumabbau (1 t Lithium erfordert 1 900 000 l). Seine Herstellung emittiert die doppelte Menge an Treibhausgasen ggü. Autos mit Verbrennungsmotoren und macht diesen Rückstand gegenüber ihnen bauartgleichen erst nach 8 Jahren wett. Der flächendeckende E-Auto-Rollout verzögert also die Energiewende (28). Weiterhin weisen E-Auto wie Verbrenner den gleichen ineffizienten Nachteil auf, ihr/en Treibstoff/depot als zusätzliches Gewicht mit sich führen zu müssen. Für die Anbindung kleiner Orte an den nächsten öffentlichen Anschluss bleibt dieser Rest an motorisiertem Individualverkehr  (mglw. als Sharingkonzept bzw. durch öffentliche (Ruf-)Taxis) sinnvoll.
  • Landgebundener öffentlicher Verkehr (v. a. Bus, Tram, U-Bahn, Bahn): Verkehrsmittel mit dem Potential, den Kern eines nachhaltigen Verkehrs darzustellen, sowohl im Nah- als auch Fernbereich. Busse (ggf. mit Oberleitung) machen dort Sinn, wo aus Schienenwegen zu wenig Nutzen entspringt oder diese aufgrund der Topographie unmöglich sind. Tramkonzepte können schon ab einigen tausend Menschen im Einzugsgebiet sinnvoll sein. U-Bahn-Konzepte, die ihrerseits vor allem aufgrund der „autofreundlichen Stadt“ einen Hype erfuhren, machen über ihren Erhalt hinaus keinen Sinn wegen Bauaufwands, Evakuierungsschwierigkeiten und der zusätzlichen Wege nach unten und oben.

Im Regional- und vor allem Fernbahnverkehr ist das Potential des Rad-Schiene-Systems noch lange nicht ausgeschöpft: Elektrifizierung, integrale Taktfahrpläne, internationaler komfortabler Nachtzugverkehr, Knoten- und Streckenentflechtung usw. können potentiell zu Land Flugzeug- und Fernautoverkehr ersetzen. Der Hochgeschwindigkeitsbetrieb ist zumindest zu prüfen, da über einer Geschwindigkeit um die 250 km/h Luftwiderstand und daher Energieverbrauch extrem steigen. Allerdings kann zumindest theoretisch auch ein Zug mit 350 km/h vollkommen ökologisch fahren, immer aber bleibt das eine Frage der Energieerzeugung. Das Konzept eines elektrisch getriebenen Fahrzeugs kann freilich nur wirklich umweltschonend sein, wenn die elektrische Energie auf entsprechende, z. B. erneuerbare Art gewonnen wird.

  • Luft- und Schifffahrt: im Personenverkehr zu Überquerung der Seen und Kontinente mehr oder weniger alternativlos, beide sehr energieaufwändig. Fähren machen vielerorts ökologisch möglicherweise mehr Sinn als lange Tunnel und Brücken zur Meeresunter/-überquerung. Bis heute existieren im Grunde keine massentauglichen alternativen, nicht fossile Antriebe für diese Verkehrsträger.
  • Straßengüterverkehr: im Fernverkehr extrem ineffektiv, nur auf die „letzte Meile“ und in der Kurzstrecke ohne großes Aufkommen mit alternativen Antrieben sinnvoll oder für die minimal notwendige Erschließung von abgelegenen Zielen.
  • Schienengüterverkehr: landgebundenes Transportmittel mit dem größten Potential, den Kern künftiger Transportketten zu bilden, sowohl national wie auch kontinental. Im Vergleich zum Lkw bei gleicher Last deutlich weniger Rollwiderstand zwischen Fahrzeug und Fahrweg bei leicht möglicher externer Energieversorgung (Oberleitung).
  • Luftfahrt: nur für absolut dringende und notwendige Güter vernünftig, extrem energieaufwändig.
  • Schifffahrt: sehr energieintensiv. Möglich sind statt Schweröl auch Gasantriebe (auch aus erneuerbaren Quellen, z. B. power-to-gas). Im interkontinentalen Verkehr nach wie vor notwendig, aber mit Änderung der Produktionsweise enorm reduzierbar im Aufkommen.

Soweit zu den Voraussetzungen technikseitig. Zwar haben in den vergangenen Jahrzehnten  immer wieder auch neue technische Entwicklungen Furore gemacht, seien es das autonome Fahren oder beispielsweise die Magnetschwebebahn in den Varianten deutscher Transrapid oder als Elon-Musk-Vakuumröhre Hyperloop. Diese sind aber bisher nie wirklich über das Erprobungsstadium hinausgekommen und bei denen stellt sich auch ganz grundsätzlich die Frage nicht unbedingt der Machbarkeit, aber der Sinnhaftigkeit hinsichtlich des aufwändigen Verkehrswegebaus. Freilich wäre es falsch, sich gegen die Erforschung neuer Verkehrskonzepte zu stellen. Entscheidend muss aber immer die Frage des Gesamtnutzens und -aufwands für die Menschheit als Ganzes sein, was schon in sich trägt, dass es eine demokratische Kontrolle und keine der Konzerne und MilliardärInnen braucht.

Die andere und wichtigste Voraussetzung, die der Kapitalismus für eine Verkehrswende geschaffen hat, sind die Abermillionen ArbeiterInnen einschließlich IngenieurInnen, die weltweit in dem Bereich arbeiten. Sie vereinen auf sich eine riesige Expertise darüber, wie ein schnellstmöglicher Umbau von Logistik und Transport überhaupt geschehen kann. Sie können das treibende Subjekt des Umbruchs darstellen.

8.3 Übergangsprogramm

Betten wir daher endlich die Verkehrswende in die aktuelle Lage einerseits und in eine sozialistische Perspektive andererseits ein! Gleich vorweg: Eine fortschrittliche Verkehrspolitik wird dabei, um der akuten ökologischen Notlage gerecht zu werden, nicht ohne repressive Einschränkungen gegenüber besonders umweltschädlichen Verkehrsweisen auskommen, die manch ein/e Privilegierte/r als Einschränkung ihrer/seiner individuellen (bürgerlichen) Freiheit empfinden wird. Auf der anderen Seite werden sich aber ganz andere, für die Masse der Menschheit ungleich größere Freiheiten ergeben.

  • Für ein ökologisches Notsofortprogramm! Massive Einschränkung des Flugbetriebs, Verbot von Inlandflügen und Flügen unter 3 000 km! Aufbau kontinentaler Fernzug- und Nachtzugnetze! Für den schnellstmöglichen, umfänglichen Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel und baulich getrennter Radwege in der Stadt und auf dem Land! Gleitende Anpassung der Fahrpreise hin zu einem kostenlosen Nah- und Berufsverkehr! Für eine Preisgestaltung, die Bahnreisen gegenüber dem Autoverkehr entscheidend günstiger macht! Einschränkungen und Verbote für bestimmte Fahrzeugklassen (Verbrauchsobergrenzen)! Schnellstmögliche Abkehr vom innerstädtischen Autoverkehr! Weitreichender Stopp der Automobilproduktion und sofortiger Umbau der Fabriken für andere Produkte, einem gesamtgesellschaftlichen Wirtschaftsplan entsprechend! Verbot des Motorsports – er ist das Aushängeschild individueller, fossiler rücksichtsloser Raserei!
  • Für eine Umweltbewegung, die sich zu einer konkret-revolutionären weiterentwickelt und die ArbeiterInnenklasse in den Mittelpunkt einer Mobilitätswende stellt!
  • Für die demokratische (Fein-)Gestaltung und Kontrolle eines solchen Notfallplanes und des Verkehrswegebaus im Generellen durch Komitees der Beschäftigten im Transportbereich sowie AnwohnerInnen, PendlerInnen und Reisende! Für die Finanzierung eines solchen Notprogramms durch eine massive Besteuerung von VW, Shell, Lufthansa und alle die, die jahrzehntelang mit fossiler Mobilität riesige Gewinne getätigt haben!
  • Für die innige Verknüpfung der Energie- mit der Verkehrswende unter ArbeiterInnenkontrolle! Erforschung und Entwicklung von power-to-gas als möglicher Energiequelle alternativer Antriebe wie Speichermedium für Überschussstrom!
  • So oder so steht die ArbeiterInnenklasse nicht zuletzt in den Autokathedralen vor großen Umbrüchen. Aber statt sie als passiven Spielball von Politik und Konzernen zu betrachten, schlagen wir vor: Keine einzige Jobstreichung! Weiterbeschäftigung bei vollem Lohn! Entschädigungslose Enteignung und Verstaatlichung der Autoindustrie unter demokratischer ArbeiterInnenkontrolle! Ein Startpunkt kann schon in den kommenden Kämpfen liegen: Für Streiks und Besetzungen unter Kontrolle der ArbeiterInnen selbst, nicht der Gewerkschaftsbürokratie von IG Metall und Co!
  • Andererseits werden die Beschäftigten im direkten Transportbereich allzu oft gegeneinander ausgespielt: PilotInnen und Bodenpersonale, polnische und deutsche Lkw-FahrerInnen, EVGlerInnen und GDL-Mitglieder … Wir halten dem die Perspektive Neuordnung der Gewerkschaften entlang der Wertschöpfungsketten entgegen im Rahmen eines demokratisch erneuerten und fusionierten DGB (z. B. mit der GDL, die nicht zum DGB gehört)! Für eine internationale TransportarbeiterInnengewerkschaft unter direkter Kontrolle aller Logistik- und Transportbeschäftigten!
  • Für die generelle Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden pro Woche bei vollem Lohn und Personalausgleich! Verteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit auf alle! Sämtliche Steigerungen und Entwicklungen der Produktivkraft ermöglichen eine weitere Ausweitung der Freizeit – und schaffen somit die Möglichkeit zur Verkehrsvermeidung!
  • Für die weltweite Restrukturierung von Stadt und Land, von Wohn- und Produktionsstätten und damit der Verkehrsinfrastruktur nach einem globalen Wirtschaftsplan! Aufbau von Infrastruktur, wo ihn der Imperialismus immer verhindert und sabotiert hat! Umbau, wo er eine unökologische Verkehrsweise erschaffen hat: Für die weitgehende Renaturierung von Autobahnen und anderen Asphaltwüsten, sofern sie nicht für anderes sinnvoll genutzt werden können! Für so wenig wie möglich, so viel wie nötig Transport in der Produktion! Weitgehende Trennung von Transportwegen und Wohnorten! Gleichmäßige Verteilung der Bevölkerung, Land- und Forstwirtschaft, Dienstleistungs- und Freizeitangeboten, Industrie nach einem Clustermodell (Wohnen im Mittelpunkt)! Vernetzung durch ein Verkehrskonzept, das öffentliche Schienenverkehre zum Kern hat!  Für die Vergesellschaftung der Hausarbeit – nicht nur als Teil der Frauenbefreiung, sondern auch als Möglichkeit zur Transportvermeidung unter Ausschaltung vieler sonst privat anfallender Einzelhandelseinkäufe!
  • Für offene Grenzen und einen freien internationalen Verkehr! Für das Recht, überall leben und arbeiten zu dürfen statt unachtsam-bewusstlosen Massentourismus’!

Das Programm ist bewusst grob gehalten. Die jeweilige lokale Ausgestaltung der Verkehrswende ist Aufgabe derer, die dort leben und arbeiten. Jedoch ist sie stets vom globalen Standpunkt, als Teil einer internationalen Perspektive zu betrachten.

Zu guter Letzt wollen wir darauf verweisen, dass eine gewisse Entschleunigung in einem revolutionären Programm einen konkret erreichbaren Fortschritt darstellen kann. Ein Mensch, der die alltägliche Konkurrenz, Bewusstlosigkeit und Erniedrigung des Kapitalismus nicht mehr kennt und im Gegenzug als Teil eines wirklichen, bewussten Kollektivs arbeitet und lebt und dabei auch noch über ein vielfach größeres Maß an Freizeit als heute verfügt, wird den Drang nach Flucht, Schnelligkeit, Zerstreuung und Besitz eines eigenen Fahrzeugs als Scheinfreiheit auf vier Rädern vermutlich kaum noch spüren. Seine Bewegung und sein Raum werden viel eher bewusstes Erleben statt Mühsal oder Ablenkung beinhalten. Voraussetzung dafür bleibt, heute einen konkreten Antikapitalismus zu entwickeln.

Endnoten

(1) Der Anteil des Straßenverkehrs an den globalen Treibhausgasemissionen betrug 2018 18 %. Siehe: Statista, Anteil der Verkehrsträger an den weltweiten CO2-Emissionen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe im Jahr 2018, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/317683/umfrage/verkehrsttraeger-anteil-co2-emissionen-fossile-brennstoffe/ (abgerufen am 03.12.2021)

(2) Die hier angeführte These, dass ca. die Hälfte aller Gütertransporte aus unfertigen Produkten (sog. Vorleistungsgütern) besteht, ist abgeleitet aus der Welthandelsstatistik. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Handel nicht deckungsgleich mit Transport ist, allerdings bringt der konkrete Handel von Dingen innerhalb der Wertschöpfung zumeist auch eine Ortsveränderung mit sich, weil nur in den wenigsten Fällen unterschiedliche Unternehmen einen Produktionsstandort teilen. Zum Hintergrund siehe: WTO, World Trade Statistical Review 2019, S. 42, https://www.wto.org/english/res_e/statis_e/wts2019_e/wts2019_e.pdf (abgerufen am 03.12.2021)

(3) Carsguide.com.au, How many cars are there in the world?, https://www.carsguide.com.au/car-advice/how-many-cars-are-there-in-the-world-70629 (abgerufen am 03.12.2021)

(4) Zum vertieften Verständnis des Imperialismus siehe: Suchanek, Martin: Marxistische Imperialismustheorie: Bestandsaufnahme und Aktualisierung, in: Revolutionärer Marxismus 53, global red, Berlin 2020, S. 11 – 128

(5) Ingenieur.de, Das sind die 10 größten Fabriken der Welt, https://www.ingenieur.de/technik/fachbereiche/rekorde/die-10-groessten-fabriken-der-welt/ (abgerufen am 02.12.2021)

(6) Industrie.de, Volkswagen hat seinen Gewinn deutlich gesteigert, https://industrie.de/arbeitswelt/volkswagen-hat-seinen-gewinn-deutlich-gesteigert/ (abgerufen am 02.12.2021)

(7) Statista, Bruttowertschöpfung der deutschen Automobilindustrie von 2009 bis 2019,

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/290075/umfrage/bruttowertschoepfung-der-deutschen-automobilindustrie/ (abgerufen am 02.12.2021)

8) BMWi, Automobilindustrie: Branchenskizze, https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Textsammlungen/Branchenfokus/Industrie/branchenfokus-automobilindustrie.html (abgerufen am 02.12.2021)

(9) Manager Magazin, 1 Kursgewinn von Tesla = 1 Gesamtwert von Daimler, https://www.manager-magazin.de/finanzen/boerse/tesla-aktie-tagesgewinn-uebersteigt-wert-von-daimler-elon-musk-anteil-auf-hoehe-von-toyota-a-59613c34-a222-4e06-8bf1-0bf3d5b66f0a (abgerufen am 03.12.2021)

(10) Für Daten der Tabelle 1 siehe: Macrotrends.net, Toyota Revenue, https://www.macrotrends.net/stocks/charts/TM/toyota/revenue (abgerufen am 04.12.2021); Macrotrends.net, Toyota Net Income, https://www.macrotrends.net/stocks/charts/TM/toyota/net-income (abgerufen am 04.12.2021);

Macrotrends.net, Volkswagen Revenue, https://www.macrotrends.net/stocks/charts/VWAGY/volkswagen-ag/revenue (abgerufen am 04.12.2021);

Macrotrends.net, Volkswagen Net Income, https://www.macrotrends.net/stocks/charts/VWAGY/volkswagen-ag/net-income (abgerufen am 04.12.2021)

Macrotrends.net, Airbus Revenue; https://www.macrotrends.net/stocks/charts/EADSY/airbus-group/revenue (abgerufen am 04.12.2021)

Flugrevue.de, Airbus macht Milliardenverlust, https://www.flugrevue.de/zivil/strafzahlungen-neubewertungen-und-a400m-abschreibungen-airbus-macht-milliardenverlust/ (abgerufen am 04.12.2021)

Macrotrends.net, Airbus Net Income, https://www.macrotrends.net/stocks/charts/EADSY/airbus-group/net-income, (abgerufen am 04.12.2021)

Wikipedia.en, CRRC, https://en.wikipedia.org/wiki/CRRC (abgerufen am 04.12.2021)

Wikipedia.en, List of largest companies of South Korea, https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_largest_companies_of_South_Korea#2020_Forbes_list (abgerufen am 04.12.2021)

(11)Statista, Distribution of oil demand in the OECD in 2019 by sector, https://www.statista.com/statistics/307194/top-oil-consuming-sectors-worldwide/ (abgerufen am 04.12.2021)

(12) Wikipedia, Liste der größten Unternehmen der Welt, https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_gr%C3%B6%C3%9Ften_Unternehmen_der_Welt (abgerufen am 03.12.2021)

(13) Auto, Motor und Sport, Die weltweit meistverkauften Stromer – Europa führt, https://www.auto-motor-und-sport.de/verkehr/elektroauto-verkaufszahlen-2020-weltweit-europa-top-20/ (abgerufen am 03.12.2021)

(14) Volkswagen AG, Aktionärsstruktur, https://www.volkswagenag.com/de/InvestorRelations/shares/shareholder-structure.html (abgerufen 02.12.2021)

(15) Siehe: BMVI, Statistik, https://www.bmvi.de/DE/Service/Statistik/statistik.html

(16) Statista, Anzahl der Neuzulassungen von Personenkraftwagen in ausgewählten Ländern in den Jahren 2019 und 2020, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/181566/umfrage/neuzulassungen-von-personenkraftwagen-nach-laendern/ (abgerufen am 02.12.2021)

(17) Zu umfassenderen politökonomischen Hintergründen des E-Auto-Hype siehe: Wolf, Winfried: Elektro-Pkw als Teil der Krise der aktuelle Mobilität. Oder: Die Notwendigkeit einer umfassenden Verkehrswende, in: isw_REPORT_NR. 112 / 113, isw – Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e V., München 2018

(18) Zur Kritik des chinesischen Imperialismus siehe: Zora, Alex: China als Modell? Das isw München und der chinesische Imperialismus, in: Revolutionärer Marxismus 53, global red, Berlin 2020, S. 246 – 258

(19) Wikipedia, Schnellfahrstrecke Peking–Shanghai, https://de.wikipedia.org/wiki/Schnellfahrstrecke_Peking%E2%80%93Shanghai (abgerufen am 02.12.2021)

(20) CO2online, https://www.co2online.de/klima-schuetzen/klimawandel/co2-ausstoss-der-laender/ (abgerufen am 02.12.2021)

(21) China-Pakistan-Economic-Corridor Authority (CPEC), http://cpec.gov.pk/ (abgerufen am 02.12.2021). Zur Zusammenstellung des als „Großer amerikanischer Straßenskandal“ in die Geschichte eingegangenen Snell-Reports siehe: Wolf, Winfried: Verkehr. Klima. Umwelt. Die Globalisierung des Tempowahns, Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft, Wien 2009, S. 126 ff.

(23) VDA, Arbeitsplatzverlust durch Transformation in Autoindustrie, https://www.vda.de/de/presse/Pressemeldungen/210506-Arbeitsplatzverlust-durch-Transformation-in-Autoindustrie (abgerufen am 02.12.2021)

(24) Wolf, Winfried: Verkehr. Klima. Umwelt. …, a. a. O.

(25) Wolf, Winfried: Elektro-Pkw … , a. a. O.

(26) Wolf, Winfried: Verkehr. Klima. Umwelt. … ., a. a. O.

(27) Siehe: Wolf, Winfried: Abgrundtief + bodenlos – Stuttgart 21 und sein absehbares Scheitern, PapyRossa Verlag, Köln 2017

(28) Zur Kritik des E-Autos als unökologischer Alternative zum Verbrenner siehe: Wolf, Winfried: Elektro-Pkw … , a. a. O.




Der Ökosozialismus bei Michael Löwy und seine Revision des Marxismus

Michael Märzen, Revolutionärer Marxismus 54, Dezember 2021

Mit diesem Artikel möchten wir unsere bisherige Kritik des Ökosozialismus zur Diskussion stellen.1 Dabei ist es schwierig, von dem Ökosozialismus zu sprechen, da es sich um einen politisch breit besetzten Begriff handelt. Eine der ausgeprägteren politischen Darstellungen lieferte Michael Löwy, Mitglied der Vierten Internationale (ehemals Vereinigtes Sekretariat), in seinem Buch „Ökosozialismus – Die radikale Alternative zur ökologischen und kapitalistischen Katastrophe“2, weshalb wir uns vor allem darauf beziehen. Das bedeutet aber auch, dass dieser Artikel nicht schon unser letztes Wort zu diesem Thema sein kann. Die zunehmende Bedeutung der Ökologie, welche durch die Umweltbewegung eine beträchtliche öffentliche Aufmerksamkeit erhalten hat, wird eine marxistische Auseinandersetzung mit den Ideen des Ökosozialismus auch in Zukunft erfordern.

Hintergrund unserer Auseinandersetzung mit dem Ökosozialismus war die Tatsache, dass im Dezember 2018 das Netzwerk „Aufbruch – für eine ökosozialistische Alternative“ in Österreich gegründet worden war. Die beteiligten Organisationen Aufbruch Salzburg, Aufbruch Innsbruck, Revolutionär-Sozialistische Organisation (RSO), Sozialistische Alternative (SOAL) und Solidarische Linke Kärnten (SLK) bekannten sich damit zum gemeinsamen Aufbau einer antikapitalistischen und ökosozialistischen Organisation, ohne ihre eigenen Strukturen aufzulösen. Dieser Gründung war ein Austausch über eine antikapitalistische und ökosozialistische Kooperation vorangegangen, an dem wir uns zwar nicht personell beteiligen konnten, aber zu dem wir in einem Diskussionsbeitrag3 unsere Offenheit gegenüber einer antikapitalistischen Kooperation klarstellten. Zur Frage des Ökosozialismus konnten wir damals noch keine fundierte Position beziehen. Deshalb schrieben wir: „Ist der Begriff des ‚Ökosozialismus‘ wirklich noch so offen oder stehen hinter dem Begriff teilweise nicht schon seit längerer Zeit linke Strömungen, die sich damit bewusst vom ‚orthodoxen‘ Marxismus abzugrenzen versuchten? Wir halten eine gewissenhafte Auseinandersetzung mit dem Ökosozialismus im Rahmen einer Kooperation jedenfalls für vernünftiger, als diesen als Ausgangspunkt einer solchen zu setzen.“ Unsere Bedenken wurden jedenfalls bei der Gründung dieser Kooperation nicht berücksichtigt. Auch haben wir von keiner Seite eine Antwort auf unseren Beitrag erhalten.

Zum inhaltlichen Einstieg möchten wir klarstellen, dass sich unsere Kritik des Ökosozialismus nicht auf die hervorgehobene Bedeutung der Ökologie bezieht. Der Kapitalismus zerstört die Lebensgrundlagen auf unserem Planeten in einem immer drastischeren Ausmaß und gefährdet damit nicht nur die Möglichkeit einer zukünftigen egalitären Gesellschaft, sondern die Existenz menschlicher Zivilisation überhaupt. Dementsprechend kann man der Umweltfrage gar nicht genug Aufmerksamkeit schenken. Unsere Kritik bezieht sich vielmehr auf die Revisionen, die zum Teil und unter anderen bei Löwy an den revolutionären Auffassungen des Marxismus vorgenommen werden und zu gefährlichen politischen Schlussfolgerungen verleiten. In diesem Zusammenhang ist es auch aufschlussreich zu erwähnen, dass einige dieser Revisionen – zumindest für den deutschsprachigen Raum – bis in die historischen Ursprünge des Ökosozialismus in entsprechenden Debatten innerhalb der deutschen Grünen in den 1980er Jahren zurück reichen. Eine lesenswerte Kritik an den damaligen ökosozialistischen Führungsfiguren Rainer Trampert und Thomas Ebermann findet sich schon bei Dieter Elken4. Nun aber zu Michael Löwy.

Warum Ökosozialismus?

Löwy geht davon aus, dass die Rettung des ökologischen Gleichgewichts auf dem Planeten unvereinbar ist mit der „expansiven und zerstörerischen Logik des kapitalistischen Systems“ (S. 7). An dessen Stelle brauche es über den Weg einer Revolution eine nachhaltige Gesellschaft auf Grundlage einer demokratisch geplanten Wirtschaft. Soweit können wir ihm folgen. Aber schon beim eigentlichen Ausgangspunkt für seine Theorie des Ökosozialismus wird es schwierig: Löwy unterstellt der ArbeiterInnenbewegung sozialdemokratischer und stalinistischer Tradition eine „Fortschrittsideologie“ und eine „Ideologie des Produktivismus“. Er definiert nicht klar, was er darunter versteht. Aber sofern er damit die Unterordnung der Ökologie unter die quantitative Ausweitung der Produktion meint, können wir ihm zustimmen – allerdings sind wir nicht wie er bereit, das Kind mit dem Bade auszuschütten und sogleich die Idee des Fortschritts zu verwerfen, sondern würden diese vielmehr unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit verteidigen. Wie dem auch sei, aufgrund des „Produktivismus“ müsse es eine „Konvergenz“ (S. 37) der ArbeiterInnen- und der Umweltbewegung zum Ökosozialismus geben. Dabei handle es sich um eine „ökologische Theorie- und Aktionsströmung, die sich die grundlegenden Errungenschaften des Marxismus zu eigen macht und sich dessen Schlacken entledigt“ (S. 28). Man muss ihm zugutehalten, dass er entgegen anderen ÖkosozialistInnen Marx und Engels gegen den „Produktivismus“-Vorwurf letztlich verteidigt. Warum es daher abseits der noch zu diskutierenden Schlacken nicht ausreiche, den Marxismus gegen sozialdemokratische und stalinistische Entstellungen zu verteidigen und die Umweltbewegung für den Marxismus zu gewinnen, bleibt an dieser Stelle noch etwas unverständlich.

Zur Herrschaft über die Natur

Einen Teil der Antwort findet man in Löwys Auseinandersetzung mit Marx‘ und Engels‘ Bemerkungen zur Herrschaft über die Natur, die sich immer wieder in ihren Werken finden und die immer wieder kritisiert wurden. So verweist er beispielhaft auf Engels‘ Aussage, dass die Menschen im Sozialismus zum ersten Male bewusste, wirkliche Herren der Natur werden. Anschließend verweist er wohlwollend darauf, dass Marx den Mensch als Teil der Natur gesehen habe (was hier nicht als Widerspruch zu Engels gemeint ist). Er zitiert eine bedeutende Textstelle bei Engels selbst, die da lautet: „Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben. ( … ) Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand der außerhalb der Natur steht (…) und dass unsere ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen anderen Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.“5 Trotz dieser Klarstellung und Verteidigung von Marx und Engels gesteht er den falschen KritikerInnen zu, dass die marxistischen Schriften Anlässe für unterschiedliche Interpretationen des Verhältnisses von Mensch und Natur böten. Und schlussendlich behauptet er, dass Marx am Ende den Sozialismus nicht mehr als „Herrschaft“ oder „Kontrolle“ des Menschen über die Natur gesehen habe, sondern eher als „Kontrolle des Stoffwechsels mit der Natur“ und offenbart zumindest seine Distanzierung zur marxistischen Terminologie – wozu man einwendend fragen könnte, wie der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur denn (nachhaltig) kontrollieren könne ohne Kontrolle und Beherrschung der Natur im Engels‘schen Sinne, sprich dem Erkennen und Anwenden ihrer Gesetze.

Zur Frage der Produktivkräfte

Kommen wir aber zum eigentlichen Kritikpunkt von Löwy am Marxismus. Diesen verortet er in einer bestimmten Formulierung des historischen Materialismus von Marx selbst, im Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie“: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in einen Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen ( … ). Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“6 Dazu meint Löwy: „Diese Konzeption scheint den Produktivapparat als ,neutral’ zu betrachten: und wenn er einmal von den durch den Kapitalismus auferlegten Produktionsverhältnissen befreit sei, könne er sich unbegrenzt entwickeln. Der Irrtum dieser theoretischen Konzeption muss heute nicht einmal mehr bewiesen werden. ( … ) [Der Produktivapparat ist] nicht neutral, er dient der Akkumulation des Kapitals und der unbegrenzten Expansion des Marktes. Er steht im Widerspruch zu den Erfordernissen des Umweltschutzes ( … ). Man muss ihn daher ‚revolutionieren‘ ( … ) Das kann für bestimmte Produktionsbranchen bedeuten, sie zu ‚brechen‘ ( … ).“ (S. 33 f.) Und gegen Ende des Buches erklärt er, dass „eine sozialistisch-ökologische Transformation zugleich sowohl die Produktionsverhältnisse als auch die Produktivkräfte, und damit verbunden, die Konsummodelle, die Transportsysteme sowie letztlich die gesamte kapitalistische Zivilisation umwandeln muss.“ (S. 139)

Die ökologische Frage fordere laut Löwy daher von den MarxistInnen eine Revision der traditionellen Konzeption der Produktivkräfte und er zitiert wohlwollend den italienischen „Ökomarxisten“ Tiziano Bagarolo, der meint: „Die Formel, nach der sich eine Transformation potenzieller Produktivkräfte in reale Destruktivkräfte vor allem in Bezug auf die Umwelt vollzieht, erscheint uns [für den Entwurf eines ‚differenzierten‘ Fortschrittkonzepts] angemessener und bedeutsamer als das altbekannte Schema des Widerspruchs zwischen (dynamischen) Produktivkräften und (den sie in Ketten haltenden) Produktionsweisen.“ (S. 25 f.) Zum besseren Verständnis sei hier Marx selbst zu den Destruktivkräften zitiert: „In der Entwicklung der Produktivkräfte tritt eine Stufe ein, auf welcher Produktionskräfte und Verkehrsmittel hervorgerufen werden, welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil anrichten, welche keine Produktionskräfte mehr sind, sondern Destruktionskräfte (… ).“7

Dass Löwy Marx‘ und Engels‘ Konzeption des Verhältnisses von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als Irrtum (ohne Beweis!) einfach beiseiteschiebt, ist höchst problematisch. Immerhin bildet sie den Kern der materialistischen Geschichtsauffassung im Marxismus. Der Verweis, dass eben alles revolutioniert werden müsse, bietet dafür keinen Ersatz, denn dabei handelt es sich nur um eine Schlussfolgerung und um keine materialistische Herleitung gesellschaftlicher Veränderung. Obendrein basiert diese Schlussfolgerung auf der falschen Unterstellung, dass die Veränderung der Produktionsweise nicht auch eine qualitative Veränderung der Produktivkräfte nach sich ziehe und impliziert eine „produktivistische“ Deutung. Was die Entwicklung von Produktivkräften tatsächlich bedeutet, wird klar, wenn man sich vor Augen hält, was Marx eigentlich unter Produktivkräften verstanden hat – was Löwy in seinem Buch unterlässt. Im ersten Band von „Das Kapital“ schreibt Marx: „Die Produktivkraft der Arbeit ist durch mannigfache Umstände bestimmt, unter anderen durch den Durchschnittsgrad des Geschickes der Arbeiter, die Entwicklungsstufe der Wissenschaft und ihrer technologischen Anwendbarkeit, die gesellschaftliche Kombination des Produktionsprozesses, den Umfang und die Wirkungsfähigkeit der Produktionsmittel und durch Naturverhältnisse.“8 Die Produktivkräfte umfassen also nicht nur Wissenschaft, Technik oder Maschinerie, sondern (wie an anderer Stelle formuliert) die Naturbedingungen, unter denen produziert wird, und die menschliche Arbeitskraft selbst, die es natürlich beide zu bewahren gilt. Somit wird klar, dass Umweltzerstörung bei Marx Zerstörung von Produktivkraft ist!

Somit teilt Löwy ein gutes Stück die undialektische Interpretation eines Großteils der Sozialdemokratie und des Stalinismus vom Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie. Demzufolge laufe in der Geschichte ein unilinearer Entwicklungsprozess der Produktivkräfte vom Niederen zum Höheren ab, der auf einer bestimmten Stufe an die Schranke der Produktionsverhältnisse stoße. Somit wird der dialektische Charakter von Produktionsweisen, welche die Vermittlung des Gegensatzpaares von Produktivkräften (Inhalt) und Produktionsverhältnissen (Form) verkörpern, reduziert auf die Frage, ob die Produktivkräfte im quantitativen Sinn weiter wachsen können oder nicht, um den Übergang zu einer neuen Produktionsweise zu begründen. Es wird also nicht thematisiert, inwieweit der Gegensatz objektiv revolutionäre Möglichkeiten schafft, ja dieser gerade in der letzten aller Klassengesellschaften, dem Kapitalismus, mit der Entwicklung der Produktivität der Arbeit immer heftiger eklatieren muss. Vielmehr wird die Überlebtheit der jeweils aktuellen Produktionsweise, die notwendig die Überlebtheit bestimmter Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse beinhalten muss, verflacht so definiert, als ob die Produktivkräfte aufgehört haben müssen zu wachsen. Die Dynamik des Kerns der materialistischen Geschichtsauffassung wird somit eingeebnet. Leugnen die ÖkologInnen den dialektischen Zusammenhang der Produktivkräfte mit den Produktionsverhältnissen und machen für die ökologische Katastrophe einseitig erstere verantwortlich, so entstellen AutorInnen wie Löwy und zumindest ein Teil der Öko-SozialistInnen den Marxismus ebenso wie die sozialdemokratischen und stalinistischen ApologetInnen. Für diese stellt sich die Frage der revolutionären Aufhebung einer Produktionsweise durch eine andere als eine objektivistische in Gestalt des Waltens und Wachsens der Produktivkräfte, nicht des subjektiven Faktors der revolutionären ausgebeuteten Klasse. Bagarolo fasst zudem den Widerspruch falsch als einen zwischen Produktivkräften und Produktionsweisen, nicht -verhältnissen. Die Sozialdemokratie, Stalinismus und Ökosozialismus letztlich gemeinsame einseitige Interpretation, die sie Marx und Engels unterschieben, ist streng genommen nur für den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus im engeren Sinne richtig. Weder auf den Übergang von klassenlosen zu Klassengesellschaften noch auf den zwischen vorkapitalistischen, auf dem Grundeigentum beruhenden Produktionsweisen ist diese enge Auslegung so ohne Weiteres anwendbar. Die Übergänge zwischen mykenischem Griechenland und den Stadtstaaten der klassischen Antike bzw. zwischen antikem Rom und europäischem Mittelalter waren oft mit langen Phasen des Rückgangs von Produktivkräften und Kultur verknüpft. Im weiteren und dialektischen Sinn bleibt natürlich die Aussage des Vorwortes hier richtig, weil gerade der Niedergang der Produktivkräfte zu anderen Produktionsverhältnissen führen muss, will sich die Gesellschaft weiterentwickeln. Gemäß den revisionistischen Entstellungen der dialektisch-materialistischen Geschichtsauffassung müssten dagegen von der asiatischen Produktionsweise über die Antike bis zum Feudalismus sich die Produktivkräfte von Stufe zu Stufe stets gesteigert haben. Der Übergang zwischen diesen Produktionsweisen, so er denn überhaupt stattgefunden hat, muss nach diesem Konzept dann die Bremsen jeweils gelöst haben.

Doch der Geschichtsverlauf gleicht nicht einem mit zunehmender Geschwindigkeit stets vorwärts rollenden Fahrzeug, das ab und an abgebremst wird, um danach seine Fahrt umso zügiger fortzusetzen. Manchmal geht ihm der Sprit aus, wechselt es die Richtung, baut einen Unfall und die Besatzung wechselt es gegen ein anderes aus.

Zur ökosozialistischen Ethik

Oberflächlich betrachtet könnte man meinen, dass es sich bei der Frage der Produktivkräfte nur um ein belangloses Missverständnis handelt. Tatsächlich folgen aus der falschen Theorie aber irreführende Folgerungen für die Praxis. Löwy problematisiert die Hemmung der Produktivkräfte durch den Kapitalismus nämlich kaum, sondern vorwiegend deren falsche Entwicklung und Handhabung. Dementsprechend spielt der offensichtlichste Ausdruck von Produktivkrafthemmung und -zerstörung, die Wirtschaftskrise, keine zentrale Rolle in seiner politischen Konzeption. Wirtschaftskrisen werden bei ihm vor allem aufgrund der darauf folgenden hemmungsloseren Ausbeutung der Natur als Verschärfung der Umweltkrise thematisiert. Natürlich gibt es auch Menschen, die darunter leiden und sich gegen die Ausbeutung von Mensch und Natur wehren, aber er skizziert keine revolutionäre Situation, in der die herrschende KapitalistInnenklasse in eine politische Krise gerät und die ausgebeutete und unterdrückte ArbeiterInnenklasse die bestehenden Verhältnisse nicht mehr ertragen möchte. Stattdessen widmet er ein eigenes Kapitel einer „ökosozialistischen Ethik“ (S. 91 – 99), die der nicht-ethischen Logik des Kapitals radikal entgegengesetzt sei. Dabei wird noch einmal der genannte Zusammenhang zur Revision der Marx‘schen Auffassung der Produktivkräfte deutlich: „Der Sozialismus und die Ökologie beinhalten beide qualitative soziale Werte, die nicht auf den Markt reduzierbar sind. ( … ) Diese Konvergenz der Empfindsamkeiten wird nur möglich, wenn die MarxistInnen ihr traditionelles Konzept der ‚Produktivkräfte‘ einer kritischen Analyse unterziehen – und wenn die ÖkologInnen mit der Illusion einer im Grunde natürlichen ‚Marktwirtschaft‘ brechen.“ (S. 94)

Die ökosozialistische Ethik müsse sozial, egalitär und demokratisch sein und der Ökosozialismus würde letztendlich als Ethik der Verantwortung zum humanistischen Imperativ: „Die ökologische Krise, die das natürliche Gleichgewicht der Umwelt bedroht, gefährdet nicht nur Fauna und Flora, sondern auch und vor allem die Gesundheit, die Lebensbedingungen und das Überleben unserer Spezies. Der Kampf für die Rettung der Umwelt, der notwendigerweise zugleich ein Kampf für einen Zivilisationswandel ist, wird zum humanistischen Imperativ, der nicht nur diese oder jene Klasse betrifft, sondern die Gesamtheit der Individuen und jenseits davon auch die kommenden Generationen.“ (S. 95) „Ein Paradigmenwechsel wird benötigt, ein neues Zivilisationsmodell, kurz: eine revolutionäre Umwälzung.“ (S. 97) Hier verlässt Löwy nicht nur den Boden des wissenschaftlichen Sozialismus, der sich von seinen utopischen Vorläufern dadurch abgrenzte, dass er ihn aus den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen und deren Entwicklung begründete und nicht aus moralischen oder sonstigen Prinzipien, nach denen sich die Welt zu richten habe. Mit dem Verweise auf die Betroffenheit „nicht nur dieser oder jener Klasse“ bereitet er implizit einer „ökologischen Volksfront“ den Boden, sprich einer klassenübergreifenden Strategie zur Abwendung der ökologischen Katastrophe.

Zur Revolution

Im Marxismus ist es die ArbeiterInnenklasse, die aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess den Kapitalismus nicht nur beseitigen kann, sondern daran auch ein objektives Interesse hat. Wer ist das „revolutionäre Subjekt“ bei Michael Löwy? Eine wirklich eindeutige Antwort bleibt er schuldig. Natürlich bezieht sich Löwy implizit beim Ökosozialismus als Konvergenz von ArbeiterInnen- und Umweltbewegung auf die ArbeiterInnenklasse. Auch spricht er davon, die Produktionsmittel in die Hände der ArbeiterInnen zu geben. Aber die Rolle der ArbeiterInnenklasse wird nicht weiter ausgeführt und wo es um politische AkteurInnen geht, hebt er vor allem indigene Gemeinschaften hervor und als besonders entscheidend die globalisierungskritische Bewegung. Aufschlussreicher ist die „Internationale ökosozialistische Erklärung von Belém/Brasilien (2008)“, die Löwy am Ende des Buches anfügt. Dort heißt es: „Die am stärksten unterdrückten Schichten der menschlichen Gesellschaft, die Armen und die indigenen Bevölkerungsgruppen, müssen ein prägender Teil dieser ökosozialistischen Revolution werden ( … ) Gleichzeitig ist die Geschlechtergerechtigkeit eine grundlegende Komponente des Ökosozialismus ( … ) In allen Gesellschaften gibt es darüber hinaus noch weitere mögliche TrägerInnen für eine revolutionäre ökosozialistische Veränderung. ( … ) Die Arbeiterkämpfe, die Kämpfe der Bauern und Bäuerinnen, die Kämpfe der Landlosen und der Arbeitslosen für soziale Gerechtigkeit sind untrennbar mit den Kämpfen für Umweltgerechtigkeit verbunden.“ (S. 169 f.) Es ist unbestreitbar, dass all die genannten sozialen Gruppen wichtig sind im Kampf gegen den Kapitalismus. Aber zumindest in der Erklärung von Belém, die Löwy unterzeichnet hat, sind die Kämpfe der ArbeiterInnen nur ein Teil vieler Kämpfe, ohne herausragende Rolle. Wir wollen hier keinen rein ökonomischen ArbeiterInnenkampf beschwören – es geht um die Frage, wer die notwendige revolutionäre Umgestaltung tatsächlich vollziehen kann und auf wen sich eine sozialistische Organisation daher orientieren und stützen muss.

Diese Frage wird in Löwys Buch allerdings nicht gestellt. Überhaupt findet sich bei ihm keine wirkliche Begründung einer politischen Organisation, geschweige denn Partei. In der marxistischen Tradition müssen sich die klassenbewussten Teile des Proletariats zur ArbeiterInnenpartei formieren, zum politischen Subjekt werden, um die Mehrheit der Lohnabhängigen (und unter ihrer Führung auch Teile des KleinbürgerInnentums) für den Sozialismus zu gewinnen. Auch bleibt in diesem Zusammenhang bei ihm die Frage offen, wie ein revolutionäres Klassenbewusstsein in der ArbeiterInnenklasse befördert werden soll. Die ÖkosozialistInnen haben sich in einem internationalen Netzwerk organisiert, der Aufbau einer Partei gehört nicht zu dessen Zielen.

Zu guter Letzt wollen wir noch auf eine zentrale Frage eingehen, nämlich die programmatische Methode. Löwy kommt wie wir aus einer politischen Tradition, die sich die Methode von Trotzkis Übergangsprogramm auf die Fahnen schreibt. Er stellt richtig fest, dass die Notwendigkeit der Revolution nicht bedeutet, auf den Kampf für Reformen, also für Verbesserungen innerhalb des Kapitalismus zu verzichten. Allerdings geht er dabei so weit, dass er die Übergangsdynamik vom Kapitalismus zum Sozialismus im Kampf für (ökosoziale) Reformen verortet: „Der Kampf für ökosoziale Reformen zeichnet sich dadurch aus, dass er zugleich Träger einer Veränderungsdynamik ist, des Übergangs von Minimalforderungen zu einem Maximalprogramm, unter der Bedingung, dass man sich nicht dem Druck der herrschenden Interessen unterwirft ( …).“ (S. 37) Mit Minimalforderungen werden im Marxismus Reformen bezeichnet, die den Kapitalismus nicht grundsätzlich infrage stellen, während Maximalforderungen die nach einer zukünftigen Gesellschaft bezeichnen. Übergangsforderungen wie zum Beispiel diese, dass die ArbeiterInnen in ihren Betrieben Komitees schaffen, mit denen sie eine Kontrolle über die kapitalistische Produktion ausüben, sollen am Kampf um Verbesserungen im Hier und Jetzt anknüpfen (in diesem Beispiel könnte es um die Umweltverträglichkeit des Unternehmens gehen), aber die ArbeiterInnenklasse zur Eroberung der politischen Macht befähigen. Löwy formuliert in Wahrheit keine solchen Übergangsforderungen. Stattdessen scheint es, als ob er darunter nur solche versteht, die in der kapitalistischen Profitlogik nicht umsetzbar sind („dass man sich nicht dem Druck der herrschenden Interessen unterwirft“), etwa die öffentliche Umgestaltung des Verkehrssystems, und somit über den Kapitalismus hinausweisen. Allerdings handelt es sich dabei nicht um Übergangsforderungen, weil sie in ihrer Konsequenz nicht zur Selbstermächtigung der ArbeiterInnen gegen das Kapital führen und nicht mit der Intervention einer revolutionären Vorhutpartei zum Zweck der Lösung der Machtfrage verbunden werden. Aber lassen wir Trotzki im Namen der IV. Internationale selbst zu Wort kommen:

„Man muß der Masse im Verlauf ihres täglichen Kampfes helfen, die Brücke zu finden zwischen ihren aktuellen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution. Diese Brücke muß in einem System von Übergangsforderungen bestehen, die ausgehen von den augenblicklichen Voraussetzungen und dem heutigen Bewußtsein breiter Schichten der Arbeiterklasse und unabänderlich zu ein und demselben Schluss führen: der Eroberung der Macht durch das Proletariat. ( … ) Die Kommunistische Internationale hat den Weg der Sozialdemokratie in der Epoche des faulenden Kapitalismus beschritten, wo nicht mehr die Rede sein kann von systematischen Sozialreformen noch von der Hebung des Lebensstandards der Massen; ( … ) wo jede ernsthafte Forderung des Proletariats und sogar jede fortschrittliche Forderung des Kleinbürgertums unausweichlich über die Grenzen des kapitalistischen Eigentums und des bürgerlichen Staates hinausführt.

Die strategische Aufgabe der IV. Internationale besteht nicht darin den Kapitalismus zu reformieren, sondern darin, ihn zu stürzen. Ihr politisches Ziel ist die Eroberung der Macht durch das Proletariat, um die Enteignung der Bourgeoisie durchzuführen. ( … )

Die IV. Internationale verwirft nicht die Forderungen des alten ‚Minimal‘-Programms, soweit sie noch einige Lebenskraft bewahrt haben. ( … ) Aber sie führt diese Tagesarbeit aus im Rahmen einer richtigen, aktuellen, d. h. revolutionären Perspektive. In dem Maße, wie die alten partiellen ‚Minimal‘-Forderungen der Massen auf die zerstörerischen und erniedrigenden Tendenzen des verfallenden Kapitalismus stoßen – und das geschieht auf Schritt und Tritt –, stellt die IV. Internationale ein System von Übergangsforderungen auf, dessen Sinn es ist, sich immer offener und entschlossener gegen die Grundlagen der bürgerlichen Herrschaft selbst zu richten. Das alte ‚Minimalprogramm‘ wird ständig überholt vom Übergangsprogramm, dessen Aufgabe darin besteht, die Massen systematisch für die proletarische Revolution zu mobilisieren.“9

Übergangsforderungen bestehen eben nicht nur im Kampf für (ökosoziale) radikale Reformen, sondern zielen auf einen Bruch mit der kapitalistischen Herrschaft, im Besonderen durch den Aufbau proletarischer Gegenmacht. Im Gegensatz dazu weist der Ökosozialismus von Michael Löwy programmatisch nicht über einen Kampf um Minimalforderungen, gepaart mit einem ökologischen Maximalismus, hinaus.

Endnoten

1 Dieser Beitrag ist eine Ausweitung und Überarbeitung des im Jahr 2019 erschienenen Artikels „Ökosozialismus: Kritik der Konzeption von Michael Löwy“ (siehe http://arbeiterinnenstandpunkt.net/?p=3957). Insbesondere der Abschnitt zu den Produktivkräften wurde zugespitzt und jene zur ökosozialistischen Ethik sowie zur Übergangsmethode mit Zitaten versehen.

2 Löwy, Michael: Ökosozialismus – Die radikale Alternative zur ökologischen und kapitalistischen Katastrophe, LAIKA Verlag, Hamburg 2016

3 http://www.oekosoz.org/wp-content/uploads/2018/08/AST_-Diskussionbeitrag-zur-antikapitalistischen-Kooperation.pdf

4 http://marxismus-online.eu/display/dyn/paf1276a7-5407-4e3f-9299-eaedaed2660d/content.html

5 Engels, Friedrich: Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, in: Dialektik der Natur, MEW 20; Berlin/O. 1962, S. 452 f.; zitiert nach Löwy, a. a. O., S. 67

6 Marx, Karl: Vorwort zu ders.: Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, Berlin/O. 1974, S. 9; zitiert nach Löwy, a. a. O., S. 69

7 Marx, Karl; Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie, MEW 3, Berlin/O. 1969, S. 69; zitiert nach Löwy, a. a. O., S. 70

8 Marx, Karl: Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals, MEW 23, Berlin/O. 1971, S. 54

9 Trotzki, Leo: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale (1938). In: Ders.: Das Übergangsprogramm der 4. Internationale. 1938 – 1940 – Schriften zum Programm, Verlag Ergebnisse und Perspektiven, Essen o. J., S. 7 f.




Ein neues Jahr und die Notwendigkeit an einer neuen Internationale

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1174, 1. Januar 2022

Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den alten und neuen, „aufstrebenden“ imperialistischen Mächten verschärft sich zum Jahreswechsel 2021/22. Die NATO-Mächte unter US-Führung drohen mit weiteren wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland. Dieses verstärkt seine Truppen an der Grenze zur Ukraine mit dem ausdrücklichen Ziel, eine weitere Ausdehnung der NATO in Richtung ihrer Ost- und Südgrenze zu blockieren. Die alte und neue Allianz des Kalten Kriegs zielt darauf ab, ihren geostrategischen Rivalen in die Knie zu zwingen. Obwohl Russland immer noch im militärischen Sinne eine „Großmacht“ verkörpert, ist es wirtschaftlich viel schwächer und gegenüber massiven Sanktionen, die USA und EU verhängen, verwundbar.

Bilaterale Gespräche zwischen Biden und Putin, NATO-Russland-Konsultationen bilden die diplomatische Begleitmusik zur imperialistischen Konfrontation. Wechselseitige Ausweisung von Botschaftsangehörigen, gegenseitige Vorwürfe der systematischen Desinformation und Lügenpropaganda, von Kriegsvorbereitungen und Aufrüstung verdeutlichen das explosive Potential dieses neuen Kalten Krieges, der die Gefahr in sich birgt, zu einem heißen zu geraten.

Hinter dem wachsenden Gegensatz in Osteuropa und in vielen anderen Regionen der Welt steht freilich der zentrale zwischen den USA und China, der sich im Pazifik weiter zuspitzt und  mehr und mehr die internationalen Verhältnisse bestimmt.

Der Kampf um Marktanteile, Zugriff auf Rohstoffe, Produktionsketten und Handelsrouten droht 2022 immer bedrohlicher Formen anzunehmen – sei es in Europa, im Nahen und Mittleren Osten, einem neuen „Wettrennen um Afrika“ oder in der Konfrontation um Taiwan.

Welche genauen Formen dieser Konflikt annehmen wird, ob und wie sehr es der EU gelingt, sich in diesem als dritte Großmacht unter deutscher und französischer Führung zu festigen, wird letztlich in der Arena des Klassenkampfes entschieden werden, nicht ohne massive politische Krisen zu lösen sein.

Trotz Trumps Niederlage und seiner Ersetzung durch Biden ist die Welt nicht friedlicher und die US-Politik nicht weniger aggressiv geworden. Biden begründet seine Form des „America first“ anders – als Ringen eines vorgeblich progressiven demokratischen Lagers gegen die „Diktaturen“.

Niemand wird den bonapartistischen Charakter des chinesischen und russischen politischen Regimes leugnen oder nicht mit den dortigen Kampagnen gegen nationale Unterdrückung und für demokratische Rechte liebäugeln. Einen Abbau demokratischer Rechte, zunehmende Überwachung, innere nationalistische Mobilisierung prägen auch viele der westlichen Demokratien – von ihren Vasallenregimen in Osteuropa, in Lateinamerika oder im Nahen Osten ganz zu schweigen.

Die zahlreichen barbarischen Interventionen, die Abschottung ihrer Außengrenzen und ihre brutale Durchsetzung seitens der USA oder der Festung Europa sowie der Vormarsch des  Rassismus gegen MigrantInnen zeigen, wie es wirklich um die „Demokratie“ dieser Mächte bestellt ist.

Die ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückten dürfen in dieser zunehmenden imperialistischen Konfrontation nicht für eines der „Lager“ Seite beziehen. Ob in den USA, in Deutschland, Frankreich oder Britannien, in Japan oder Australien, in Russland oder China: Der Hauptfeind steht im eigenen Land. Auch in den Regionalmächten, also jenen Halbkolonien, die gerne eine wie von Russland und China bereits erreichte imperialistische Rolle spielen möchten – seien es Länder wie Türkei, Brasilien, Indien oder Pakistan, Israel, Südafrika oder der Iran –, muss sich der Kampf der Lohnabhängigen und ihrer Verbündeten gegen „ihren“ Staat, „ihre“ herrschende Klasse richten – einschließlich der Unterstützung des Befreiungskampfes unterdrückter Nationen wie der PalästinenserInnen, der KurdInnen, von ethnischen und nationalen Minderheiten.

Nur durch eine solche eigenständige Klassenpolitik wird sich die Klasse der Lohnabhängigen in den kommenden großen Kämpfen als eigenständige soziale Kraft formieren können und und allen wegen ihrer „Rasse“, Nationalität oder Geschlecht Unterdrückten ihre Führung anbieten.

Die globale ökonomische Krise der Kapitalismus

Auch wenn sich etliche Länder von der tiefen Krise der Weltwirtschaft, die 2020 fast alle Nationen in eine Rezession trieb, etwas erholt haben, so ist diese „Erholung“ überaus fragil. In den westlichen imperialistischen Ländern wird sie vor allem durch eine expansive Geldpolitik,  eine Ausdehnung der Staats- und Unternehmensverschuldung herbeigeführt. Sie gleicht eher einem Strohfeuer. Große Teil der Welt, d. h. vor allem die halbkoloniale Länder haben sich erst gar nicht von der Krise „erholt“, sondern stehen selbst vor Währungs- und Finanzkrisen, vor dem Staatsbankrott. Darüber hinaus erschwert die zunehmende globale Rivalität eine konzertierte Politik der imperialistischen Länder, ja verunmöglicht sie tendenziell.

Niemand sollte sich von den sozialen Versprechungen der Regierungen der USA, Chinas oder der EU-Kommission blenden lassen, die die Staatsverschuldungsorgien begleiteten. Weder Bidens American Jobs Plan noch der Green Deal der EU oder Chinas „Common prosperity“ werden die ArbeiterInnenklasse retten. Vielmehr stellen alle diese vor allem Programme zur Reorganisation des Gesamtkapitals dar, die mit einigen Versprechungen für die Lohnabhängigen und zum Schutz des Weltklimas garniert werden.

Die ArbeiterInnenklasse, die BäuerInnenschaft, aber auch große Teile der Mittelschichten müssen sich darauf vorbereiten, dass sie in der kommenden Periode für die Kosten von Pandemie und großer Krise zur Kasse gebeten werden sollen – sei es durch Inflation und Entwertung ihrer Löhnung und Ersparnisse, durch Entlassungen, Umstrukturierungen, Schließungen, weitere Angriffe auf soziale Rechte, Kürzungen öffentlicher Leistungen oder Privatisierungen. Rassistisch und national Unterdrückte, Frauen, LGBTIAQ-Personen, Jugendliche und Alte sind von der Krise besonders hart betroffen – sowohl was ihre ökonomische Lage wie auch die Ausbreitung von rabiaten und brutalen Formen, von Gewalt gegen Frauen und Minderheiten, von Sexismus, Rassismus, Nationalismus und Chauvinismus betrifft.

Die Pandemie und die Gesundheitskrise

Eng mit der ökonomischen Krise ist die globale Pandemie verbunden. Der Kapitalismus hat sich trotz rascher Entwicklung von Impfstoffen und gigantischer Staatsausgaben in den imperialistischen Metropolen als unfähig erwiesen, über zwei Jahre eine weltweite Gesundheitskrise zu bewältigen, die mittlerweile selbst nach offiziellen Zahlen mehr als fünf Millionen Menschen das Leben gekostet hat.

In den Halbkolonien wird bis heute hunderten Millionen der Zugang zu Impfstoffen vorenthalten. Die Monopolisierung der Produktion und Verteilung der Vakzine durch die reichen Länder wird durch die Profitmacherei mit dem Impfstoff verschärft. Jahre neoliberaler „Gesundheitspolitik“ und die ökologisch verheerende Zurichtung der Landwirtschaft durch das Agrobusiness zeigen in der Pandemie ihre verheerende Wirkung. Die kapitalistischen Prioritäten schwanken zwischen dem Interesse, Kapitalzirkulation, Produktion, Akkumulation und Welthandel aufrechtzuerhalten und den Notwendigkeiten, die Ausbreitung des Virus so weit einzudämmen, dass ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems verhindert wird. Daher schwankt die Politik auch zwischen einer zynischen Inkaufnahme einer faktischen Durchseuchung („Herdenimmunität“) großer Teile vor allem der halbkolonialen Welt, begrenzten und selektiven Einschränkungen und Lockdowns (Flatten-the-curve-Strategie).

Eine Lösung dieses brennenden Problems der Menschheit vermag der Kapitalismus, vermag keine einzige bürgerliche Regierung, ob nun westliche Demokratie oder bonapartistische Diktatur, zu liefern. Um diese aktuelle Menschheitsfrage zu lösen, braucht die ArbeiterInnenklasse daher eine Politik, die vor der Eigentumsfrage nicht halt-, die Patente und Know-how für alle zugänglich macht und auch davor nicht zurückschreckt, nicht notwendige Produktion zeitweilig einzustellen oder auf unmittelbare Überlebenserfordernisse umzulenken, die Staaten und Reichen zur Sicherung der Löhne und Lebensstandards zwingt.

Die ökologische Krise

Eng damit verbunden ist die ökologische Krise. COP26 in Glasgow verbreitete wie all seine Vorgänger vollmundige Absichtserklärungen. Natürlich bekennen sich alle wichtigen Länder mittlerweile zum Ziel der Klimaneutralität bis irgendwann in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, aber das ist auch alles. Derweil wird der Kampf darum geführt, wer die Kosten für die Umweltzerstörung tragen soll. Sichere Verlierer sind dabei schon heute die Länder der sog. Dritten Welt, denen die Mittel zur Bekämpfung der akuten Auswirkungen des Klimawandels und anderer ökologischer Katastrophen vorenthalten werden. Millionen und Abermillionen verlieren so schon jetzt ihre Existenzgrundlage aufgrund der Zerstörung ihrer Lebensbedingungen.

Ebenso wie die imperialistische Konkurrenz, die Kriegsgefahr, die globale Wirtschaftskrise und die Pandemie wirft die Frage der ökologischen Krise die Notwendigkeit einer internationalen, antikapitalistischen Lösung auf, eines Programms von Übergangsforderungen zur Sicherung der Lebensgrundlagen der Menschheit, zur Reorganisation von Produktion und Distribution gemäß den Bedürfnissen von Mensch und Natur.

Die Krise bürgerlicher Politik

Die Mehrfachkrise der Menschheit geht einher mit eine tiefen Krise bürgerlicher Politik selbst. Diese schafft eine wirkliche Polarisierung, weil die herrschenden Klassen zwischen den Polen einer Politik der Inkorporation der Lohnabhängigen und ihrer Organisationen und einer der offenen Konfrontation und populistischen Mobilisierung schwanken.

Regierungen der „Mitte“, des „demokratischen“ Blocks aus Liberalen, moderaten Konservativen, Grünen bis hin zur Sozialdemokratie stehen in vielen Ländern rechtspopulistische (bis hin zu faschistischen) Parteien und Bewegungen gegenüber. Diese stehen dem Bürgertum als Alternative für eine härtere Gangart zur Verfügung, die auf mehr Nationalismus setzt und diese reaktionäre Einheit durch die demagogische Mobilisierung gegen die Frauenbewegung, MigrantInnen, rassistisch Unterdrückte und neuerdings gegen Corona-Maßnahmen herzustellen versucht.

Eine solche rechte, reaktionäre, kleinbürgerliche Bewegung steht zugleich als Reserve der Bourgeoisie gegen die ArbeiterInnenklasse oder Bewegungen von rassistisch Unterdrückten zur Verfügung.

Vor dem Hintergrund eines Rechtsrucks der letzten Jahre droht ein weiterer Vormarsch dieser rechten Gefahr wie auch eine Hinwendung zu autoritären, antidemokratischen Herrschaftsformen. Doch diese Entwicklung selbst ist keineswegs unausweichlich. Wie in jeder Periode, in der das Gleichgewicht der Weltordnung, des tradierten Verhältnisses zwischen den Staaten wie auch den Klassen erschüttert wird, so ist auch die gegenwärtige von großen politischen Schwankungen und einer zunehmenden Polarisierung zwischen den Klassen geprägt. Doch diese tritt seit den Niederlagen der Arabischen Revolution, der griechischen ArbeiterInnenklasse oder der Flüchtlingsbewegung heute vor allem als schiefe Polarisierung zwischen rechten/rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien einerseits und klassenübergreifenden Bündnissen von linken Parteien mit offen bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Massenbewegungen (wie z. B. Fridays for Future) oder auch von ökonomischen Kämpfen der Lohnabhängigen andererseits hervor.

Als eigenständige politische Kraft steckt die ArbeiterInnenklasse in einer tiefen, historischen Krise, einer Krise ihrer Führung, die aber auch ihre bestehenden Organisationen, Traditionen erfasst hat, an deren Stelle keine neue globale politische Formierung getreten ist, die es mit diesen Herausforderungen aufnehmen kann.

Neue Internationale!

Dabei mangelt es nicht an wichtigen, ermutigenden, imposanten Mobilisierungen: Streiks von Millionen und Abermillionen indischer ArbeiterInnen, die enorme ökonomische Militanz der chinesischen ArbeiterInnenklasse, der Aufschwung der Streikkämpfe in den USA, revolutionäre Erhebungen wie im Sudan, Wahlsiege linker KandidatInnen wie Boric in Chile verdeutlichen die Kampf- und Mobilisierungsbereitschaft der LohnarbeiterInnen wie ihr Potential, ins nationale Geschehen einzugreifen.

Bewegungen wie die Umweltbewegung, Black Lives Matters und andere antirassistische Mobilisierungen, die Frauen*streiks oder auch grenzüberschreitende gewerkschaftliche Kämpfe wie z. B. bei Amazon verdeutlichen die Notwendigkeit und Realisierbarkeit gemeinsamer Aktionen der Klasse auf internationaler Ebene.

Wenn wir den großen Herausforderungen der kommenden Periode – der zunehmenden imperialistischen Konkurrenz und Kriegsgefahr, der globalen wirtschaftlichen, ökologischen und Gesundheitskrise entgegentreten wollen, brauchen wir vor allem eines: klassenkämpferischen und revolutionären Internationalismus.

Wir brauchen einen Internationalismus, der mehr ausmacht als die Summer nationaler, politischer und sozialer Kämpfe. Einen Internationalismus, der davon ausgeht, dass keines der großen Probleme der Menschheit im nationalen Rahmen gelöst werden kann. Einen Internationalismus, der davon ausgeht, dass die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln, die Enteignung der EnteignerInnen die unerlässliche Voraussetzung für die Lösung dieser Probleme darstellt, weil nur so die Wirtschaft gemäß den Bedürfnissen von Mensch und Natur reorganisiert werden kann. Wir brauchen einen Internationalismus, der von der Erkenntnis ausgeht, dass es zu seiner Verwirklichung eines Programms und Kampfinstrumentes bedarf: einer globalen revolutionären Partei der ArbeiterInnenklasse, einer neuen Fünften Internationale.




Weltlage: 4 Krisen – Klima, Pandemie, Wirtschaft und Krieg

Internationales Exekutivkomitee der Liga für die 5. Internationale, 15.12.202, Infomail 1174, 31. Dezember 2021

In den vergangenen zwei Jahren sah sich die Welt mit einer Reihe von miteinander verknüpften Krisen konfrontiert. An erster Stelle steht eine globale Gesundheitskrise. Covid-19 hat die Regierungen und Gesundheitssysteme überrascht, obwohl sie von EpidemiologInnen und der WHO vor einer wahrscheinlichen zweiten SARS-Epidemie gewarnt worden waren und die Gewerkschaften des Gesundheitspersonals darauf hingewiesen hatten, dass ihre Krankenhäuser und Kliniken nicht in der Lage sind, eine solche zu bewältigen. Covid-19 hat weltweit mehr als fünf Millionen Todesopfer gefordert und wütet mit seinen Delta- und Omikronvarianten immer noch und bricht in Ländern wieder aus, die überzeugt waren, die Krankheit unter Kontrolle zu haben, und ihre Wirtschaft wieder in Gang brachten.

In den Schlagzeilen stehen auch die zunehmenden extremen Wetterereignisse, Überschwemmungen, Waldbrände und Dürren rund um den Globus, die die Aussicht auf einen katastrophalen Klimawandel unbestreitbar machen. Dennoch war die Klimakonferenz COP26 in Glasgow nur ein weiteres RednerInnenfest. Die Öl-, Gas- und Kohlekonzerne und die von ihren Produkten abhängigen Staaten USA, China, Indien, Brasilien und Saudi-Arabien blockierten jede feste Verpflichtung zur Reduzierung dieser Quellen von CO2-Emissionen. Wieder einmal wurden die halbkolonialen Länder, vor allem in den Tropen, die bereits schwer gelitten haben, um die Milliarden betrogen, die sie zur Bekämpfung der Auswirkungen benötigen, und stattdessen wurden ihnen weitere Kredite angeboten.

Drittens verursachte Covid die stärkste jährliche Schrumpfung der Weltwirtschaft seit den 1930er Jahren. Die Abriegelungen zwangen die großen imperialistischen Staaten, ihre neoliberalen Dogmen bezüglich der Staatsausgaben über Bord zu werfen. Die Zinssätze, die jahrelang bei Null lagen, um die zur Stagnation neigenden Volkswirtschaften anzukurbeln, erlaubten es den Staaten nun, Billionen zu leihen und in den imperialistischen Kernländern die Lohnabhängigen (bzw. die sie beschäftigenden Unternehmen) dafür zu bezahlen, dass sie ihre qualifizierten Arbeitskräfte behalten oder diese von zu Hause aus arbeiten. Die Unterbrechung der Versorgungsketten und der Weltmärkte sowie die wiederholten Aussperrungen haben zwar enorme Verluste verursacht, doch das volle Ausmaß der Kapitalvernichtung wird erst deutlich werden, wenn die Pandemie aufhört. Der Internationale Währungsfonds sagt voraus, dass das weltweite Bruttoinlandsprodukt bis 2024 immer noch 2,8 % unter dem Wert liegen wird, den es vor dem pandemiebedingten Einbruch gehabt hätte.

Gleichzeitig sind  diktatorische Regionalmächte wie Saudi-Arabien und der Iran in blutige Kriege in Äthiopien und im Jemen verwickelt. Am Horn von Afrika und in der gesamten Sahelzone schüren Militärputsche, islamistische Guerillabewegungen und kriminelle Banden das Chaos, während die Regierungstruppen ebenso frei Gräueltaten begehen wie die TerroristInnen. Das Wettrüsten zur See zwischen den USA und China in Ostasien, der neue AUKUS-Militärpakt zwischen USA, Australien und Großbritannien sowie Chinas Unterdrückung in Hongkong und der Provinz (Uigurisches Autonomes Gebiet) Xinjiang machen ebenfalls deutlich, dass die Welt in eine Phase verschärfter zwischenimperialistischer Rivalität eingetreten ist, die den Ausbruch von Stellvertreterkriegen zwischen den Regionalmächten verspricht.

Zusammengefasst haben diese Faktoren zu einer sich vertiefenden politischen Krise in den alteingesessenen bürgerlichen Demokratien geführt. Im Jahrzehnt nach der Großen Rezession stagnierten die Reallöhne in vielen imperialistischen Ländern und sanken in den Vereinigten Staaten und Großbritannien. Begleitet wurde dies von Kürzungen der Sozialleistungen, um die enormen Subventionen für Unternehmen zu finanzieren, die als „zu groß zum Scheitern“ eingestuft wurden.

Die bürgerliche Demokratie ohne Wohlstand ist ein instabiles Phänomen, und es hat eine weit verbreitete politische Polarisierung stattgefunden. Die Präsidentschaft von Donald Trump polarisierte und destabilisierte die US-Innenpolitik. Zwar wurde er 2020 abgewählt, aber dann erfolgte das beispiellose Spektakel, in dem er versuchte, sich an die Macht zu klammern, und die Invasion des US-Kapitols durch seine halbfaschistischen AnhängerInnen. Trotzdem sind die RepublikanerInnen in den Augen der Hälfte der WählerInnenschaft nicht diskreditiert, und ein Comeback eines/r anderen RechtspopulistIn im Jahr 2024 stellt eine reale Möglichkeit dar.

Nächstes Jahr könnte Jair Bolsonaro aufgrund seiner großen faschistischen AnhängerInnenschaft und seiner Unterstützung im Militär einen ernsthafteren Versuch als den von Trump unternehmen, sich mit einem Putsch gegen die Wahlniederlage zu wehren. Die Impf- und AbriegelungsgegnerInnen in Europa sind in der Regel mit bereits bestehenden rechten Parteien wie der Freiheitlichen Partei Österreichs und der Alternative für Deutschland verbunden. Die letztgenannte Entwicklung zeigt, wie groß die Unzufriedenheit in den Mittelschichten und auch in den weniger klassenbewussten Teilen der ArbeiterInnenklasse ist.

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums kam es in den letzten Jahren trotz der Beschränkungen für öffentliche Aktivitäten auch zu Massenmobilisierungen. In Indien zwang ein riesiger eintägiger Generalstreik im November 2020, gefolgt von einer einjährigen Blockade in Delhi durch Bauern und Bäuerinnen, die gegen neoliberale Landwirtschaftsgesetze protestierten, den „starken Mann“ Modi zu einem demütigenden Einlenken. Dann ereigneten sich noch die enormen Black-Lives-Matter-Mobilisierungen in den USA nach dem Mord an George Floyd.

Die großen „Schulstreiks für die Zukunft“ im Jahr 2019 haben die Frage des Klimawandels auf die politische Tagesordnung gesetzt. Die sudanesische Massenbewegung von 2018 – 2019, die den Diktator Umar (Omar) al-Baschir stürzte, kehrte im Oktober dieses Jahres zurück, nachdem der Interimspräsident Abdel Fattah Burhan die zivilen VertreterInnen aus dem Souveränen Rat verdrängt hatte. In Chile führten Massenproteste im Oktober 2019 zur Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung und zur Abschaffung der Pinochet-Verfassung. In der 2. Runde der Präsidentschaftswahlen wurde der Reformist Boric im Dezember 2021 ins Amt gehievt.

Die Beunruhigung der Bevölkerungen angesichts von Armut, Inflation, Arbeitslosigkeit, extremen Wetterereignissen und Krieg ist also durchaus gerechtfertigt. Immer wieder haben sie ihre Bereitschaft gezeigt, auf der Straße zu protestieren. Was fehlt, ist eine politische Führung mit einem Programm, um die Kräfte zu lenken, die den korrupten MillionärInnen und den Militärregimen die Macht entreißen und sie in die Hände von Räten und Milizen der ArbeiterInnen in den Städten und auf dem Land und der Jugend legen können.

Angesichts dieser Herausforderungen haben sich die Organisationen der ArbeiterInnenklasse und ihrer Verbündeten jedoch als träge und durch verschiedene Arten von Reformismus stockkonservativ erwiesen. Diese Blockade zu durchbrechen, damit die neue Welt aus der Agonie der alten geboren werden kann, ist die Aufgabe der RevolutionärInnen weltweit, und die internationale Organisation ist dabei der Schlüssel zum Erfolg.

Die Pandemie hält an

Die Covid-19-Pandemie ist eindeutig noch nicht vorbei, wie die „vierte Welle“ in Deutschland, Österreich und anderen mittel- und osteuropäischen Ländern sowie die rasche Ausbreitung der „Omikron“variante zeigen. Sie wird weiterhin starke wirtschaftliche Auswirkungen auf ein kapitalistisches System zeitigen, das sich 2019 bereits von einem Jahrzehnt der beinahe Stagnation auf eine weitere große Rezession zubewegte. Das Virus ist nicht nur zu ansteckenderen Varianten mutiert, sondern während alle imperialistischen Länder außer Russland einen Großteil ihrer Bevölkerung geimpft haben, waren nur einige Halbkolonien (vor allem in den Golfstaaten, in Ostasien und Lateinamerika) dazu in der Lage, und das mit erheblicher Verzögerung. Der tatsächliche wirtschaftliche Tribut, den die Krankheit in Afrika, Lateinamerika und weiten Teilen Asiens fordern wird, dürfte enorm sein, doch das Angebot an Impfstoffen wurde von den imperialistischen Ländern aufgekauft. Das wahre Ausmaß der Verwüstung für die Bevölkerungen in der halbkolonialen Welt kann man nur erahnen.

Die Pandemie hat die Gesundheitsdienste der Welt an ihre Belastungsgrenze gebracht und die kapitalistischen Volkswirtschaften gestört, Lieferketten unterbrochen, Arbeitskräfte entlassen und zu Konkursen geführt. In den älteren imperialistischen Ländern konnten einige dieser Auswirkungen durch Kurzarbeit und massive Almosen an die Arbeit„geber“Innen aufgefangen werden, die durch historisch niedrige Zinssätze gestützt wurden.

Dennoch stiegen die Börsen und Anleihemärkte nach einem kurzzeitigen Absturz im zweiten Trimester 2020 bis zum Jahresende wieder auf neue Höchststände. Dies deutet nicht auf eine Erholung der Realwirtschaft hin (des Teils, der Mehrwert erzeugt und realisiert), sondern vielmehr auf eine weitere Aufblähung des fiktiven Kapitals, das keine ausreichend rentablen Ziele für Investitionen in produktive Industrien finden kann. ZentralbankerInnen und FinanzministerInnen  warnen nun vor einer Rückkehr zur Inflation und, wenn die so genannten realen Volkswirtschaften um die Stagnation herum schwanken, zu einer „Stagflation“, wie sie zuletzt in den 1970er Jahren zu beobachten war, einem Jahrzehnt explosiver Klassenkämpfe, Revolutionen und Konterrevolutionen.

Die Internationale Arbeitsorganisation hat errechnet, dass in den Jahren 2020 – 2021 umgerechnet 100 Millionen Vollzeitarbeitsplätze verlorengegangen sind, und befürchtet, dass die Zahl im Jahr 2022 weiter steigen wird, da staatliche Unterstützungsausgaben zurückgezogen werden und Unternehmen in Konkurs gehen, wobei junge und weibliche ArbeiterInnen am stärksten betroffen sind. Sobald der Aufschwung abgeschlossen ist, werden große Veränderungen in Handel und Industrie sichtbar werden.

Die kommende Klimakatastrophe

Während die Regierungen der Welt auf der Klimakonferenz in Glasgow das Ziel bekräftigten, den globalen Temperaturanstieg bis 2050 unter der vom Weltklimarat (IPCC) gesetzten Grenze von 1,5 °C zu halten, ließen sie den Konzernen freie Hand, um weiterhin Bergbau und Bohrungen durchzuführen. Die IPCC-ExpertInnen sagen voraus, dass die Welt in Wirklichkeit auf einen Anstieg von 2,4 °C zusteuert. Selbst der niedrigere Wert würde extreme Hitzewellen, einen Anstieg des Meeresspiegels mit Überflutung von Inseln und Küstenstädten sowie die Zerstörung der Artenvielfalt an Land und in den Ozeanen bedeuten.

Der Klimawandel wird auch enorme politische Auswirkungen mit sich führen. In ganz Afrika haben die Verknappung der Wasserressourcen und die Versteppung von Acker- und Weideland bereits zu verstärkter Migration und zu Konflikten zwischen ViehzüchterInnen und LandwirtInnen sowie zwischen Staaten um Wasserressourcen geführt, die alle dramatisch zunehmen werden.

Unterdessen breiten sich extreme Wetterereignisse aus: riesige Waldbrände in Australien, Griechenland und entlang der Westküste der USA und Kanadas, Überschwemmungen in Deutschland und China, zerstörerische Wirbelstürme auf den Fidschiinseln und in Indonesien. In vielen Regionen Afrikas und in Afghanistan herrschen aufgrund von Dürren Hungersnöte . Obwohl das Leid in diesen Gebieten zum Teil durch Kriege und pandemiebedingte Verwerfungen verursacht wird, können die meisten dieser Ereignisse direkt auf den Klimawandel zurückgeführt werden. Die Konferenz in Glasgow hat es jedoch völlig versäumt, Maßnahmen zu ergreifen, die die Ursachen des vom Menschen verursachten Klimawandels auch nur ansatzweise zu begrenzen beginnen könnten. Ihre „große Errungenschaft“ bestand lediglich in der Aufforderung an die Regierungen, ihre Subventionen für die Kohle-, Öl- und Gasförderung einzustellen, ohne dass ein wirklicher Zeitplan für die Beendigung der Förderung festgelegt wurde.

Der Klimawandel stellt ebenso wie Pandemien, Rezessionen und Kriege eine existenzielle Herausforderung für den Kapitalismus als Produktionsweise und Klassenherrschaft dar. Seine Unfähigkeit, die Produktivkräfte zu planen und entwickeln, ohne gewaltige zerstörerische Kräfte, Zusammenbrüche und zunehmende Ungleichheiten freizusetzen – was Marx den metabolischen Bruch mit der Natur nannte –, verurteilt ihn trotz all seiner technologischen und wissenschaftlichen Wunderwerke zu einem sozialen System im Verfall. Dies hat ein Schlaglicht auf die Untauglichkeit des Kapitalismus geworfen, auf die vorrangige Bedeutung des Profits gegenüber den Bedürfnissen der Menschen. Die Revolution des 21. Jahrhunderts wird sich nicht nur mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch und den Kriegen befassen müssen, sondern auch mit der ganzen Reihe von Umweltkatastrophen und künftigen Pandemien, die zur Krise „Sozialismus oder Barbarei“ in unserer Welt beitragen.

Stagflation führt zum Einbruch

Der marxistische Wirtschaftswissenschaftler Michael Roberts kommentiert, dass „die Prognosen für das durchschnittliche jährliche reale BIP-Wachstum in praktisch allen großen Volkswirtschaften für dieses Jahrzehnt einen geringeren Anstieg vorhersagen als für das der 2010er Jahre – das ich die Lange Depression genannt habe“. Gleichzeitig setzt sich die Inflation in den Volkswirtschaften weltweit durch und untergräbt Löhne, Renten und Ersparnisse, was die zur Ankurbelung des Aufschwungs gedachten Ausgaben stoppen könnte, ganz zu schweigen von der Ankündigung einer neuen Ära (neo-)keynesianischer Sozialausgaben, auf die linke sozialdemokratische und populistische ReformistInnen hoffen.

Der Einbruch von 2020 beendete ein Jahrzehnt, in dem die Weltwirtschaft trotz Aufschwungs zur Stagnation tendierte. Die Ursache hierfür liegt in der Überakkumulation von Kapital, die ihrerseits darauf zurückzuführen ist, dass innerhalb der Produktion keine ausreichend rentablen Investitionsbereiche gefunden wurden und das Kapital folglich in unproduktive, ja parasitäre umgeleitet wurde. Nur eine wirklich umfassende Kapitalvernichtung, bei der alte Industrien mit niedrigen Profitraten stillgelegt werden, könnte dieses Problem in Angriff nehmen. Ein großer Einbruch, gefolgt von einer langen Depression, würde jedoch nicht nur die Profitraten langfristig erhöhen, sondern auch die anderen Hauptmerkmale unserer „Epoche der Kriege und Revolutionen“ (und Gegenrevolutionen) hervorbringen. Die Großmächte, die davon besessen sind, ihre wirtschaftliche und militärische Vorherrschaft in der Welt zu verteidigen oder zu erlangen, sind noch weniger geneigt, multilaterale Institutionen, Verträge oder Vereinbarungen wieder in Kraft zu setzen. Die USA sind führend bei der Verhängung von Sanktionen gegen alle, die ihre Interessen verletzen. Kalte und Handelskriege können sich in heiße Kriege verwandeln, wenn lebenswichtige strategische Interessen auf dem Spiel stehen.

Rivalität zwischen Großmächten

Nach dem Rückzug der Vereinigten Staaten aus Afghanistan strömt eine neue Welle verzweifelter Flüchtlinge in die Nachbarstaaten wie Iran und Pakistan, angetrieben von den vielen Menschen, die in diesem Land vorm Verhungern stehen. Tausende erreichen die Grenzen der Europäischen Union, was zum Teil auf das zynische Vorgehen des weißrussischen Diktators Alexander Lukaschenko zurückzuführen ist, der von seinem großen Bruder, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, unterstützt wird.

Putin führt einen Kampf mit der EU, seit die Nato ihre Mitgliedschaft bis an die Grenzen Russlands ausgedehnt und „farbige Revolutionen“ im „nahen Ausland“, einschließlich der Ukraine, angezettelt hat. Sein Gegenangriff umfasste die Einnahme der Krim, die Unterstützung der ostukrainischen SeparatistInnen und des Assad-Regimes, eines langjährigen Verbündeten und Protegés der UdSSR und später der Russischen Föderation. Die USA und Russland sind mitverantwortlich für den Beginn eines neuen Kalten Krieges in Europa, der sich durchaus parallel zu dem zwischen den USA und China in Asien entwickeln könnte.

In China hat Xi Jinping seine Führungsrolle auf unbestimmte Zeit verlängert. Die „historische Resolution“ des sechsten Plenums des Zentralkomitees der KPCh hat seine bonapartistische Rolle noch verstärkt, indem sie ihn als „Kern“ bezeichnet und ihn auf den gleichen Status wie Mao Zedong (Mao Tse-tung) hebt. Diese Rolle des Schiedsrichters spiegelt eindeutig tiefe Spannungen innerhalb der beiden herrschenden Kräfte in China wider, der parteigebundenen militärisch-staatlichen kapitalistischen Bürokratie und der wachsenden Großbourgeoisie im Privatsektor. Xis Antikorruptionskampagne richtet sich sowohl gegen (unbekannte) bürokratische KonkurrentInnen als auch gegen superreiche KapitalistInnen wie den Alibaba-Gründer Jack Ma, die aus Angst, sie könnten Verbindungen zur chinesischen Bourgeoisie im Ausland, vor allem in Taiwan, knüpfen, in die Schranken gewiesen wurden.

Ein weiterer Aspekt ist die Verstärkung des chinesischen (Han-)Chauvinismus durch die KPCh mit der Verfolgung der UigurInnen und der Bedrohung Taiwans, den Marineanlagen im Südchinesischen Meer und den gemeinsamen Manövern mit Russland in der Nähe von Japan. Das Programm „Gemeinsamer Wohlstand“ wird als Mittel zur Überwindung der Kluft zwischen den Superreichen und den Massen sowie der Ungleichheiten zwischen den verschiedenen Regionen des riesigen Landes, einschließlich der Kluft zwischen Stadt und Land, angepriesen, und das, obwohl alle „aus der absoluten Armut herausgeholt“ wurden. Eine Reihe chinesischer Unternehmen und GeschäftsführerInnen hat sich jedoch beeilt, Geld in den herumgereichten Hut zu stecken.

Xis starkes Auftreten im Ausland, seine Nichtteilnahme an der Klimakonferenz, aber ein persönliches Treffen mit Biden, sollen zeigen, dass auch China zu einer „unverzichtbaren Nation“ geworden ist. Darüber hinaus mehren sich Hinweise aus den Staaten Südasiens und Afrikas, dass es sich bei der Neue-Seidenstraße-Initiative um ein imperialistisches Investitionsprojekt handelt, das für autoritäre und geradezu diktatorische Regime (Myanmar und vielleicht Afghanistan) attraktiv ist, weil die chinesische Hilfe nicht an die Einhaltung von Menschenrechten geknüpft ist. Wenn China, ebenso wie Russland, mit solchen Regimen assoziiert wird, könnte dies dem Land in den ideologischen Kämpfen des Kalten Krieges mit den USA nicht gut bekommen.

Aber auch die alten „demokratischen“ Imperialismen untergraben den Ruf ihres „weichen Drucks“ , indem sie sich weigern, Flüchtlinge aus Kriegen und Invasionen aufzunehmen, die sie selbst verursacht haben. Sie sind ebenso, ja mehr noch, daran schuld, dass sie sie durch hohe, mit Stacheldraht besetzte Zäune und den Einsatz von Streitkräften am Überschreiten der weißrussisch-polnischen Grenze hindern, obwohl die EU-Staaten völkerrechtlich verpflichtet sind, alle Asylanträge zu prüfen.

Die Europäische Union sieht sich mit einer weiteren großen Einwanderungskrise konfrontiert, nicht wegen einer unerträglichen Zahl von Flüchtlingen und WirtschaftsmigrantInnen, sondern wegen des rassistischen Drucks populistischer Parteien, die sich dagegen wehren, dass die Regierungen ihren vertraglichen Verpflichtungen zur Bearbeitung von Asylanträgen nachkommen. Das gilt an der Kanalküste ebenso wie in den Wäldern von Belarus.

Brüssel wird seine rassistische Einwanderungspolitik fortsetzen und die „Festung Europa“ für die meisten Flüchtlinge abschotten, während es einige Fach- und hochqualifizierte Arbeitskräfte zulässt, um die rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien zu beschwichtigen. Ihr Rassismus gegen Flüchtlinge und gegen MuslimInnen wird weiterhin ein wichtiges Mittel sein, um reaktionäre Bewegungen zu mobilisieren, aber in der aktuellen Situation orientieren sich die meisten jetzt an den reaktionären Bewegungen gegen die Impfung und präsentieren sich als VerteidigerInnen der „Freiheit“.

Wäre die EU eine echte gemeinsame Volkswirtschaft, wäre sie nach den USA der zweitgrößte Wirtschaftsraum, eine wirtschaftliche Riesin, aber eine politische Zwergin. Ihr Zusammenhalt liegt Lichtjahre hinter den USA und China zurück, und der Brexit hat ihr finanzielles und militärisches Gewicht verringert. Frankreich hat sich unter Emmanuel Macron für wirtschaftlichen und politischen Föderalismus und eine von den USA unabhängige militärische Stärke eingesetzt. Deutschland hingegen hat sich mit wirklich entscheidenden Maßnahmen in diese Richtung zurückgehalten. Das Erfordernis der Einstimmigkeit bei wichtigen Reformen bedeutet, dass die osteuropäischen Staaten ein Veto gegen wichtige Initiativen wie eine einheitliche, von den USA unabhängige europäische Armee einlegen können.

Progressive Massenbewegungen

In der Zwischenzeit haben die Bewegungen zur Rettung des Planeten, wie Fridays for Future und der Global Climate Strike, internationale Ausmaße angenommen. Es gab Proteste auf der ganzen Welt, einschließlich der Mobilisierung von Bauern, BäuerInnen und indigenen Gemeinschaften im globalen Süden. Aber wie Glasgow (und die Konferenz von Paris davor) gezeigt haben, waren sie nicht in der Lage, das Verhalten der Regierungen und der naturzerstörenden Konzerne zu ändern, nicht einmal die Subventionen für die Kohleproduktion „auslaufen“ zu lassen, geschweige denn den Kohlebergbau oder die Öl- und Gasförderung zu stoppen.

Demokratische Revolutionen gegen repressive Regime, die von der Jugend der Welt angeführt wurden, verbreiteten sich am Ende der Großen Rezession im Jahr 2011 in den arabischen Ländern, in Südostasien (Myanmar und Thailand) und in Lateinamerika. Da es ihnen jedoch nicht gelang, den militärischen Unterdrückungsapparat zu zerschlagen, die korrupten herrschenden Klassen zu stürzen und neue Machtorgane der ArbeiterInnen, der Jugend und der Unterdrückten zu installieren, haben sich die „demokratischen Frühlinge“ fast alle in „konterrevolutionäre Winter“ verwandelt, wofür das brutale Regime von as-Sisi in Ägypten der beste Beweis ist. Die anhaltende Mobilisierung im Sudan nach dem Putsch vom 25. Oktober 2021 unter der Führung von General Abdel Fattah Burhan zeigt jedoch die Dynamik der Volkskräfte und, dass die Eliten immer wieder vor der Herausforderung stehen, in Zeiten der Wirtschaftskrise stabile, dauerhafte repressive Regime zu schaffen.

Dennoch gibt es eine regelrechte Pandemie von „starken Männern“, darunter Duterte auf den Philippinen, die Juntas in Myanmar und im Sudan, Bolsonaro in Brasilien, Erdogan in der Türkei, Modi in Indien, Xi in China, bin Salman in Saudi-Arabien – die Liste ist endlos. Das Problem, mit dem fortschrittliche Kräfte auf der ganzen Welt konfrontiert sind, ist die begrenzte Wirksamkeit von friedlichem Protest. Selbst massenhafte und langanhaltende Proteste werden scheitern, solange der Staat die Moral und Disziplin seiner Repressionskräfte aufrechterhalten kann.

Führungskrise

Ein weiteres Merkmal der weltweiten Situation liegt in der Schwäche der „Mitte-Links“-Regierungen, die in einer Reihe von Ländern an die Macht gekommen sind und in anderen in den Startlöchern stehen, wenn es den reaktionären populistischen FührerInnen nicht gelingt, sich an der Macht zu halten. In Brasilien würde Bolsonaro wahrscheinlich durch den ehemaligen Präsidenten Lula da Silva ersetzt, dessen gewählte Nachfolgerin Dilma Rousseff durch einen Putsch von Justiz und Parlament abgesetzt wurde. Es war Lulas „Volksfront“ mit den verräterischen bürgerlichen Parteien, die den Weg für Bolsonaro freigemacht hat. Selbst wenn Lula gewinnen und sich erneut im Amt etablieren sollte, würde sich der Zyklus mit ziemlicher Sicherheit wiederholen, dieses Mal mit der Hinzufügung einer mächtigen faschistischen Bewegung, einem Erbe von Bolsonaros Präsidentschaft.

Größere parlamentarische Reformen sind nur in zwei Szenarien möglich: ein florierender expansiver Kapitalismus, der sich „Brosamen von seinem Tisch“ leisten kann, oder ein Massenaufstand, der mit einer Revolution droht und ernsthafte Reformen zu einer realistischen Option für eine bedrohte herrschende Klasse macht. Da weder das eine noch das andere existiert, Letzteres aufgrund der erdrückenden Wirkung der sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Bürokratie, sind anhaltende politische Krisen in den kommenden Jahren fast garantiert.

Die Rückkehr der Taliban an die Macht nach der schmachvollen Niederlage der USA und dem chaotischen Abzug aus Kabul hat zur Destabilisierung ganz Südasiens, einschließlich Afghanistan, Pakistan, Indien, Bangladesch, Sri Lanka und Myanmar, beigetragen. Dahinter steht die Rivalität zwischen den USA und China und der verzweifelte Versuch Indiens, beide herauszufordern. Xi Jinpings „Neue Seidenstraße“-Initiative, die die regionale Vorherrschaft sichern soll, wird für künftige Konflikte rund um den Indischen Ozean sorgen.

Heute wird die Region jedoch von legitimen demokratischen Kämpfen um nationale Rechte erschüttert. Die UigurInnen, die Rohingya, die TamilInnen, die Kaschmiris, die BelutschInnen und eine Vielzahl ethnisch-linguistischer Gemeinschaften in Afghanistan haben alle unter Pogromen und ethnischen Säuberungen durch Militärregime und fundamentalistische Gruppen gelitten, seien sie nun hinduistisch, muslimisch, buddhistisch oder, wie im Fall der UigurInnen, angeblich kommunistisch.

Die Kräfte in Europa und Nordamerika, die sich für palästinensische Belange einsetzen, sahen sich einem bösartigen Gegenangriff des israelischen Staates und seiner UnterstützerInnen in den imperialistischen Regierungen und den rechtsgerichteten Medien gegenüber. Der anfängliche Erfolg der Kampagnen zur Entlarvung des Apartheidcharakters des israelischen SiedlerInnenstaates führte zu einer Flut von falschen Anschuldigungen wegen rassistischer Judenfeindlichkeit. Ihr größter Schlag lag in ihrem Beitrag zum Sturz von Jeremy Corbyn aus der Führung der Labour-Partei. UnterstützerInnen der palästinensischen Sache, darunter auch mutige fortschrittliche Juden und Jüdinnen, wurden in Großbritannien ins Visier genommen, und jede ernsthafte Kritik an Israel wird nun in den Medien als Antisemitismus gebrandmarkt.

Nie war die Notwendigkeit einer neuen Internationale deutlicher, wenn die ArbeiterInnenklasse der Welt und ihre natürlichen Verbündeten unter den sozial und rassisch Unterdrückten und der armen Bauern-/Bäuerinnenschaft sich vereinen und ihren Widerstand gegen die Angriffe des heimischen Kapitalismus und Imperialismus stärken sollen. Doch die Parteien, die sich selbst als sozialistisch oder kommunistisch bezeichnen, und die trotzkistischen zentristischen Kräfte auf weltweiter Ebene haben sich größtenteils in die nationale Isolation zurückgezogen, selbst im Vergleich zu den antikapitalistischen, antineoliberalen, globalisierungskritischen oder Antikriegsmobilisierungen des Zeitraums 1998 – 2006.

In jenen Jahren versammelten sich auf weltweiten und kontinentalen Sozialforen KlimaaktivistInnen, indigene Gruppen, FeministInnen, progressive GewerkschafterInnen und linke sozialistische Gruppen verschiedener Art. Aber die reformistischen Parteien wie die brasilianische Arbeiterpartei (PT) und kämpferische Nichtregierungsorganisationen (NGOs) (wie Attac) lähmten diese Treffen mit einer Zwangsjacke aus „keine Abstimmungen“ über Maßnahmen, keine politischen Parteien, keine Debatten, die zur Annahme von politischen Konzepten führten. Die teilweisen Ausnahmen bildeten das Europäische Sozialforum in Florenz (2002) und das Weltsozialforum in Porto Alegre (2003), die eine weltweite Antikriegsbewegung mit mehreren zehn Millionen TeilnehmerInnen ins Leben riefen.

Was sollen wir tun?

Nach der Großen Rezession, den Occupy-Bewegungen und dem Arabischen Frühling folgten internationale Bewegungen von Frauen und farbigen Menschen. ReformistInnen und RevolutionärInnen in diesen fortschrittlichen Bewegungen reichten sich in gemeinsamen Aktionen gegen Kriege und die Misshandlung von MigrantInnen erneut die Hand.

Organisatorisch basierte diese Zusammenarbeit eher auf Netzwerken als auf demokratischen repräsentativen Strukturen. Obwohl viele diese „Führungslosigkeit“ gelobt haben, überließ das die Entscheidungen über Politik und Taktik selbsternannten AkademikerInnen, radikalen JournalistInnen und „GemeindeführerInnen“. Während die meisten ihre Solidarität untereinander verkünden, erkennen sie nicht, dass all die verschiedenen Bewegungen eine viel stärkere Einheit für den Sieg benötigen. Schritte in diese Richtung könnten durch Einheitsfronten unternommen, in denen Ziele demokratisch vereinbart und dann gemeinsam umgesetzt werden.

Identitätspolitik, bei der die subjektive Erfahrung der Unterdrückung die vorrangige Determinante für Ziele und Taktiken ist, spaltet die Unterdrückten eher, als dass sie sie vereint. Obwohl viele in diesen Bewegungen tatsächlich die Notwendigkeit anerkennen, die Kräfte der ArbeiterInnenklasse zu gewinnen, und sich selbst als antikapitalistisch und sogar marxistisch bezeichnen, akzeptieren sie nicht, dass der Sturz des Kapitalismus ein gemeinsames Programm und die Integration in den Klassenkampf mittels einer revolutionären Partei erfordert. Dies ist zum Teil das Ergebnis der Versäumnisse und Verbrechen der Sozialdemokratie, des Stalinismus und der zentristischen Spielarten des Trotzkismus.

Ohne ein neues Weltprogramm für die Revolution werden die Lösungen für die brennenden Fragen der Umwelt, der Rassen- und Geschlechterungleichheit und der Armut nicht gefunden werden können. Nur eine wiedergeborene und international organisierte ArbeiterInnenbewegung, die die jungen AktivistInnen einbezieht, die sich bereits in all diesen Kämpfen engagieren, kann eine Avantgarde schaffen, die in der Lage ist, den Kapitalismus an jeder dieser Fronten herauszufordern. Die von uns skizzierten Krisen werden dazu beitragen, vorrevolutionäre und revolutionäre Situationen zu schaffen, die noch größer sind als die, die 2010 – 2011 nach der Großen Rezession auftraten.

Aus diesem Grund ruft die Liga für die Fünfte Internationale alle kämpferischen und fortschrittlichen Kräfte, die den Kapitalismus und den Imperialismus als Feind anerkennen, dazu auf, sich erneut zu versammeln, um über die Strategie zu diskutieren und gemeinsame Aktionen zu organisieren. Ihr Ziel sollte die Entwicklung eines gemeinsamen Aktionsprogramms ausmachen, das den ArbeiterInnen und Unterdrückten der Welt einen Weg von den heutigen Kämpfen hin zu einer Weltrevolution aufzeigt.




Nein zur Zerschlagung der Bahn – Schiene statt Gewinnmaschine!

Leo Drais, Gegenwehr! Betriebs- und Gewerkschaftsinfo der Gruppe ArbeiterInnenmacht, 16. November 2021

Es gibt unter uns EisenbahnerInnen ziemlich viele, für die das mit den Zügen nicht einfach nur ein Job ist. Wir kennen das Potential, das eine funktionierende Eisenbahn hätte. Wir merken, wie gut das System aus Fahrzeugen, Infrastruktur und uns Beschäftigten ineinandergreifen könnte und welche Möglichkeiten der Schienenverkehr an sich böte.

Wir merken das, weil wir in unserer täglichen Arbeit (oft) das Gegenteil erleben. Störungen, Verspätungen, Ausfälle bekommen nicht nur Reisende und KundInnen nach außen mit, sondern vor allem auch wir. Für uns heißt das: liegengebliebene Züge, Regelwerkswidersprüche, Fremdeinwirkung, Langsamfahrstellen, Rotausleuchtung, PZB-Ausfall, fehlende Bremshundertstel usw. usf. Und wir leiden da mit. Selbst dann noch, wenn längst Zynismus oder Resignation eingesetzt haben. Weil es Stress und einen späteren Feierabend bedeutet, die kaputte Weiche zu bearbeiten oder Umleitungen zu fahren. Und weil wir, die wir auf Loks, in Stellwerken und Betriebszentralen, in Werkstätten und in den Gleisen mit dem Mangelhaften arbeiten müssen, Bahnbetrieb eigentlich können – es liegt zum Wenigsten an uns, dass die Bahn in Deutschland ist, wie sie ist.

DB AG und Staat

Denn an der DB AG und der bundesdeutschen Verkehrspolitik gibt es so gut wie nichts zu feiern. Seit der Bahnreform 1994 ist das Netz verstümmelt, das Land abgehängt, der Service verkümmert, Bahngelände verscherbelt. In Stuttgart und andernorts sind Milliarden für Sinnlosigkeiten verbrannt worden. Zugleich – so die Verkehrswende auf Deutsch – wurden 6 000 km Bundesstraßen und Autobahnen gebaut.

Und natürlich wollen wir nicht vergessen, wie tausende KollegInnen gegangen wurden oder gingen und ewig kein Nachwuchs kam oder um wie viel sich unsere Arbeitsbedingungen verschlechterten.

Nein, an diesem hochverschuldeten Konstrukt DB AG mit einer aufgeblähten Führungsebene, die uns schwer auf den Schultern lastet, gibt es nicht viel zu verteidigen. Sie ist ein eigener Verschiebebahnhof – von Geldern. Regio, Cargo und Fernverkehr zahlen Trassengebühren an den Netzbereich. Steuergelder und Subventionen landen in Auslandsgeschäften. Am Ende findet sich alles in derselben schöngerechneten Bilanz wieder. Die AG trimmte die Eisenbahn – ganz nach dem Willen des Eigners Bund – auf einen Börsenkurs, dem nur die Krise von 2008 zuvorkam. Sie beantwortet die Krise im Gütergeschäft mit dem Abbau von Gleisanschlüssen, das Ausbleiben von Fahrgästen mit Streckenschließungen. Sie versteht unter der Verkehrswende Fahrpreiserhöhungen und, den Fernverkehr 40 Meter tief unter Frankfurt zu vergraben –, als ob ein S21 nicht schon zu viel wäre.

Staat und Verkehrsministerium machten bei diesem Spiel immer freudig mit – wenn mal ausnahmsweise nicht gerade die Autoindustrie hofiert wurde. Die Staatsinvestitionen in die Schiene betragen in der BRD nur etwa ein Fünftel im Vergleich zur Schweiz. Mit Milliarden soll aber das E-Auto vorangebracht werden. Naiv zu glauben, eine Trennung von Netz und Betrieb würde die Bahn verbessern! Das hieße auch zu glauben, dass das nächste Verkehrsministerium keine speichelleckende Lakaiin der Autokonzerne mehr sei.

Zerschlagung und Wettbewerb

Die Monopolkommission – diese personifizierte ideelle Gesamtkapitalistin, die so tut, als ob hinter der jetzt schon bestehenden bunten Eisenbahnlandschaft keine (Staats-)Monopole stünden, sowie Grüne und FDP schlagen aber genau das vor: Trennt die DB, treibt das Messer zwischen Rad und Schiene, zwischen Infrastruktur und Betrieb! Bahnreform 2.0.

Die Motivation der Baerbock- und Lindner-Truppe mag verschieden ausfallen, die konkrete Ausarbeitung ist noch lange nicht klar, aber die zwei groben Ideen scheinen aber durch: Die kostenintensive, aufwendige Infrastruktur mit riesigem Investitionsstau bleibt (vorläufig) in Staatshand. Was draußen fährt, wird noch mehr dem Wettbewerb ausgeliefert.

Übersetzt bedeutet das nicht nur bei der Verkehrswende, weitere Jahre mit stümperhaften Umstrukturierungen zu verbringen und tausende Jobs zu streichen und sie woanders (unter vielleicht schlechteren Bedingungen) hin zu verfrachten, es heißt auch, dass die Qualität auf der Schiene nicht besser wird – eher im Gegenteil. Wettbewerb heißt immer, möglichst günstig zu fahren, um die Konkurrenz zu schlagen, was wiederum sparen heißt … Und wo bietet sich das am besten an, wo sich doch mit dem Zugbetrieb sowieso kaum was verdienen lässt? Bei Mensch und Material! Auch verlagert sich der viel erwähnte DB-Wasserkopf damit nur. Denn jedes einzelne Unternehmen hat seinen eigenen! Im Vergleich zum DB-Riesen vielleicht nur im Modellbahnformat, aber ziehen wir hunderte kleine Chefetagen zusammen, haben wir wieder – einen Riesen, den Fahrgäste und SteuerzahlerInnen finanzieren.

SPD, EVG und GDL

Dass die SPD und die eng mit ihr verbundene EVG (in der der Autor dieses Textes Mitglied ist) die Zerschlagung ablehnen, ist erst mal richtig. Eine Aufspaltung bedeutet, die Belegschaft zu spalten,  unsere Kampfbedingungen zu schwächen, die neoliberale Klinge erneut an unsere Arbeitsbedingungen zu legen!

Aber EVG und SPD stellen sich zugleich auch hinter eine Konzernspitze, die das Trauerspiel Deutsche Eisenbahn seit bald 30 Jahren zu verantworten hat. Und das überrascht ja auch nicht. Die EVG-Führung und ihre VorgängerInnen sind selbst eng mit der AG verwachsen, nicken alles ab und haben überhaupt, was mit der Bahn seit den Neunzigern passiert ist, mitgetragen.

Genauso wenig überrascht, dass die GDL die grün-gelben Pläne unterstützen wird, erhofft sich ihre Führung doch, vom Aufbrechen der DB und damit der EVG zu profitieren. Zugleich sind viele ihrer Mitglieder ebenso gegen die Zerschlagung. Sie sollten einfordern, dass ihre Führung um Claus Weselsky mit der rückschrittlichen, bahnzerstörenden Position bricht und mit allen Bahn-Beschäftigten gegen die Zerschlagung kämpft.

Die Trennung von Netz und Betrieb gehört deshalb abgelehnt, weil sie die DB-Misere vertieft.

Alle, die sich gegen eine Zerschlagung stellen und dabei aber auch kein Deutsche-Bahn-weiter-so wollen, sollten sich weder auf die SPD noch auf Hommel, Borchert und Co. verlassen. Eine rote Linie kann  schließlich auch mal ganz schnell ihre Farbe wechseln. Wir müssen SPD und Linkspartei auffordern, dass sie die DB-Zerschlagung kategorisch ablehnen! Von der GDL fordern wir einen Kurswechsel. Die DGB-Gewerkschaften sollen zu Solidaritätsdemonstrationen und -streiks aufrufen, denn die drohende Zerschlagung der Bahn betrifft alle Lohnabhängigen. EVG sowie Betriebsräte müssen gewerkschafts- und betriebsübergreifende Versammlungen organisieren, auf denen der Angriff diskutiert und unsere Abwehr besprochen wird – inklusive des Streiks gegen die Zerschlagung!

In den kommenden Auseinandersetzungen können wir uns letztlich nur auf uns selbst und unsere Kampfkraft verlassen. Lasst uns daher auf Belegschaftsversammlungen Aktionskomitees wählen, um den Kampf zu organisieren! Nehmen wir unser Schicksal selbst in die Hand!

Anhang: Verkehrswende = EINE Eisenbahn

Wer eine gut funktionierende Bahn will und die Verkehrswende ernst meint, sollte für EINE einzige staatliche Bahn einstehen. Das heißt auch, alle Privatisierungen der letzten drei Jahrzehnte zurückzunehmen und die sogenannten Privatbahnen zu enteignen sowie die Länderbahnen in eine bundesdeutsche zu überführen. Nur so werden Schnittstellen weniger, Kommunikation einfacher und vor allem: die Bahn dem zermürbenden Wettbewerb entzogen.

Statt einer Zerschlagung braucht es einen Investitions- und Ausbauplan für die Schiene – und zwar finanziert durch massive Besteuerung der Konzerne und AktionärInnen, die mit einer klimaschädlichen Verkehrsweise Milliarden Gewinne gemacht haben: Oberleitung statt E-Auto, Flächenbahn statt Flächenautobahn, kostenloser Nahverkehr statt Pkw-Kaufprämien, Daseinsversorgung Schiene statt Gewinnmaschine!

Allein, dass es eine Staatsbahn gibt, ist natürlich kein Garant für einen funktionierende, breit ausgebauten Schienenverkehr mit guten Arbeitsbedingungen – siehe DB und ihre beiden Vorgängerinnen. Die drohende Zerschlagung bietet da auch eine Chance zur Diskussion, nämlich darüber: Wer kontrolliert eigentlich die Bahn und überhaupt die Verkehrswende? DB-Wasserkopf, Autokonzerne und Verkehrsministerium? Oder wäre es vielleicht eine Alternative, dass die Bahnbeschäftigten direkt und demokratisch zusammen mit anderen VerkehrsarbeiterInnen und Fahrgästen in Komitees darüber entscheiden und wachen, wie die Verkehrswende schnellstmöglich vorankommt? Wir brauchen keine Konzernspitze und keinen neuen Andi Scheuer dafür. Wir haben das Fachwissen und die Kenntnis darüber, wie Eisenbahn gut funktionieren kann als Teil eines nachhaltigen, integralen Verkehrssystems.

Klingt erst mal utopisch, aber wir können schon heute anfangen, solch eine Selbstorganisation aufzubauen, indem wir Aktionskomitees wählen, auch den politischen Streik als Kampfmittel diskutieren und verwirklichen! Wir sagen: Uns gibt‘s nicht für Profite, uns gibt‘s fürs Fahren!




COP 26: Revolutioniert die Klimabewegung!

Rebecca Anderson, Workers Power Britannien, Infomail 1168, 5. November 2021

Die COP26-Klimakonferenz der Staats- und Regierungschefs, die diesen Monat in Glasgow stattfindet, wird als die „letzte Chance, den unkontrollierten Klimawandel in den Griff zu bekommen“, bezeichnet.

Jede Regierung soll im Rahmen des Pariser Abkommens von 2015 nationale Klimapläne vorlegen, um die globale Erwärmung unter 1,5 Grad Celsius zu halten.

Doch noch bevor COP26 zusammentreten konnte, enthüllten zwei „undichte“ Stellen die Heuchelei und den Greenwash, die im Mittelpunkt der Konferenz stehen, und wie der Kapitalismus uns in eine Klimakatastrophe treibt.

Zunächst lieferten die Pandora Papers weitere Beweise dafür, dass die Konzerne, Banken und MilliardärInnen der Welt routinemäßig sogenannte Offshore-Konten in Ländern mit fremder Währung nutzen, um ihre unrechtmäßigen Gewinne zu verstecken, während sie gleichzeitig behaupten, dass notwendige Maßnahmen zur Rettung des Planeten zu teuer oder zu radikal sind.

Dann zeigen 32.000 Greenpeace zugespielte Akten, dass wichtige umweltverschmutzende Nationen und Unternehmen hinter den Kulissen massive Lobbyarbeit betrieben haben, um den Bericht des UN-Klimarates (IPCC) zu verwässern und die Schlussfolgerung zu streichen oder abzuschwächen, dass ein rascher Ausstieg aus fossilen Brennstoffen zusammen mit strengeren Kohlenstoffemissionszielen erforderlich ist.

Diese Beispiel verdeutlichen, dass das Geld eigentlich da wäre, um eine schnelle Umstellung auf Netto-Null zu finanzieren, und dass andererseits die KapitalistInnenklasse und die Staaten systematisch handeln, um ihren Reichtum, ihre Profite und ihre umweltverschmutzenden Industrien zu erhalten, anstatt dafür zu bezahlen.

Druck der VerschmutzerInnen

Australien, ein riesiger Kohleexporteur, setzte sich bei den IPCC-WissenschaftlerInnen dafür ein, Empfehlungen zur Schließung von Kohlekraftwerken und Verweise auf den negativen Einfluss der LobbyistInnen fossiler Brennstoffe auf die Klimagesetzgebung zu streichen.

Schlimmer noch, zusammen mit der Schweiz widersprach es den Aussagen, dass „Entwicklungsländer“ finanzielle Unterstützung von wohlhabenderen Ländern benötigen würden, um ihre Kohlenstoffemissionen zu reduzieren. Der saudische Regierungsberater stellte sogar die Idee in Frage, dass aus der Energiegewinnung durch fossile Brennstoffe überhaupt ausgestiegen werden müsse.

Natürlich ist auch die britische Regierung keine ehrliche „Vermittlerin“: Sie behauptet beispielsweise, dass ihre CO2-Emissionen im Jahr 2020 um fast 11 Prozent gesunken sind. Dies verschleiert jedoch die wirklichen von Großbritannien verursachten Umweltschäden.

Viele industrielle Aktivitäten wurden in ärmere Länder verlagert, zusammen mit ihrem Kohlenstoffausstoß, aber die Produkte werden wieder nach Großbritannien importiert und die Gewinne weiter an die Mutterkonzerne im imperialistischen Land transferiert.

Berücksichtigt man dies, lagen die CO2-Emissionen Großbritanniens im Jahr 2018 bei 8,05 Tonnen pro Kopf, verglichen mit 6,28 Tonnen in China – und daran sind alle „Großmächte“ schuld, nicht nur China, wie die Tories und ihre Medien behaupten.

Der Klimawandel erfordert eine globale Lösung, aber der Kapitalismus basiert auf privater Profitmacherei und konkurrierenden Nationalstaaten und kann das Problem daher nicht lösen. Die Unternehmen behaupten, eine Netto-Null-Umstellung würde ihre Gewinne schmälern oder sie in den Bankrott treiben.

Die imperialistischen Länder schützen ihre eigenen Unternehmen und Volkswirtschaften und bemühen sich, die Kosten für die Verringerung der Kohlenstoffemissionen auf andere Länder abzuwälzen. Unterdessen treffen die schlimmsten Auswirkungen der Umweltzerstörung die ärmeren halbkolonialen Länder, von Überschwemmungen in Bangladesch bis zur Abholzung der Wälder in Bolivien.

Wir müssen jedoch tiefgreifende Emissionssenkungen vornehmen, die das Großkapital grundlegend angreifen. Wir wissen, dass sie lügen, verheimlichen und sabotieren werden, um sich zu wehren – wie sie es in den letzten 50 Jahren getan haben. Wir müssen sie also kontrollieren, indem wir sie enteignen, nicht nur hier, sondern weltweit.

Den Widerstand aufbauen

Vor der Pandemie nahmen Millionen von Menschen am Klimastreik und an globalen Aktionstagen teil. Auf seinem Höhepunkt im September 2019 beteiligten sich sechs Millionen Menschen an einer Woche weltweiter Proteste und Arbeitsniederlegungen.

Jetzt rückt COP26 die Staats- und RegierungschefInnen der Welt wieder ins Rampenlicht. Während lokale Aktionen notwendig sind, um das Bewusstsein zu schärfen und die Bewegung aufzubauen, müssen unsere Ziele global sein. Ein für Freitag, den 5. November, geplanter internationaler Schulstreik und ein globaler Protest am nächsten Tag werden die Verantwortlichen der COP26 zum Handeln auffordern. Es gibt Demonstrationen in Glasgow und in ganz Großbritannien. Glasgower Bahn-, Müll- und SchularbeiterInnen haben ihre Streiks auf den Tag von COP26 gelegt.

Auf den Demos am 5. und 6. November sollten wir Massenversammlungen abhalten, auf denen StudentInnen, GewerkschafterInnen und AktivistInnen weitere Aktionen vereinbaren und Delegierte für ein laufendes Klimaaktionskomitee wählen können, das auf dem Schwung der COP26-Proteste aufbauen und eine wirksame Strategie für den Kampf für Netto-Null entwickeln kann. Das bedeutet, sich an die ArbeiterInnenklasse zu wenden. Die Lohnabhängigen verfügen über die Macht, die Produktion stillzulegen, von den Bossen zu verlangen, auf kohlenstofffreie Technologien umzusteigen, und letztlich die Kontrolle zu übernehmen.

Der Vorsitzende der britischen Labour-Party, Keir Starmer, weigert sich jedoch selbst, die Verstaatlichung der großen sechs Energieunternehmen in Britannien in Betracht zu ziehen, obwohl die Labourkonferenz dafür gestimmt hat. Der Vorsitzende der Gewerkschaft GMB (General, Municipal, Boilermakers and Allied Trade Union; 600 000 Mitglieder), Gary Smith, unterstützt den Ausbau von Flughäfen und Fracking, obwohl seine Mitglieder der gleichen Umweltkatastrophe ausgesetzt sind wie wir alle.

Wir müssen diese reformistischen FührerInnen, die kurzfristige Gewinne über das strategische Ziel der Rettung des Planeten stellen, politisch bekämpfen und ersetzen. Um eine Bewegung aufzubauen, die einen globalen Systemwandel herbeiführen kann, müssen wir auch unsere eigenen Organisationen politisch und programmatisch neue Ausrichten. Denn ein Systemwandel erfordert einen Bruch mit dem Kapitalismus, eine Programm von Übergangsforderungen, das im  revolutionären Sturz dieses Systems mündet, um den sozialistischen Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft zu planen und die Ungleichheit für immer zu beseitigen.




Hunderttausende beteiligen sich am Klimastreik

Martin Suchanek, Infomail 1164, 25. September 2021

620.000 Menschen beteiligten sich auf über 470 Demonstrationen am 24. September bundesweit am globalen Klimastreik. Allein in Berlin waren rund 100.000 auf der Straße, in Frankfurt/Main und Hamburg jeweils rund 20.000, in Stuttgart und München um die 15.000, um nur einige Städte zu nennen.

Zweifellos bildeten die Aktionen in Deutschland das Zentrum des globalen Aktionstages, mit Manifestationen und Demonstrationen an mindestens 1.400 Orten auf der ganzen Welt. Dafür gibt es zwei Gründe.

Erstens natürlich die Bundestagswahlen. Hunderttausende, darunter natürlich viele SchülerInnen, Studierende, aber auch ein größer gewordener Anteil von Menschen aller Altersgruppen folgten dem Aufruf. Auch wenn mittlerweile jede Partei außer der AfD den Kampf gegen den Klimawandel als vorrangiges Problem betrachtet, so ist wohl den meisten Menschen bewusst, dass von den Mainstreamparteien rasches und effektives Handeln nicht zu erwarten ist. Die FDP beschwört weiter den Markt und die „Innovation“ als probate Mittel, die Umwelt zu retten und dabei zugleich auch noch eine Menge Profit zu machen. Laschet und Scholz beschwören, auf die Frage des Klimawandels angesprochen, bei jeder Wahlsendung, welche Industrien eine Vorreiterrolle beim ökologischen Wandel und vor allem auf dem Weltmarkt spielen sollen. Die Grünen setzen ganz auf den Green Deal, den besten Kapitalismus in der besten aller Welten, und die Linkspartei versucht einmal die Quadratur des Kreises, will sie doch den Kapitalismus nicht nur sozialer, gerechter, sondern auch noch ökologisch-nachhaltiger machen.

Zweitens das Bewusstsein um die Bedeutung des Problems. Dass die Frage der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen – und der Klimawandel ist letztlich nur eine zugespitzte Ausprägung davon – zu den zentralen globalen gesellschaftlichen, politischen Fragen unserer Zeit gehört, ist mittlerweile zu einem Bestandteil des Massenbewusstseins geworden.

Das führt einerseits dazu, dass viele Menschen, insbesondere auch viele Jugendliche, auf eine Reformregierung unter Einschluss der Grünen hoffen. Sicherlich herrscht dieser Wunsch bei einer großen Mehrheit der 620.000 vor, die am 24. September auf die Straße gingen. Andererseits sind auch diese Jugendlichen, Lohnabhängigen und langjährigen AktivistInnen von Umweltbewegungen längst nicht so blauäugig, dass sie von den Grünen und der Linkspartei – von der SPD ganz zu schweigen – erwarten, dass diese an einer Regierung die richtigen Maßnahmen schon auf den Weg bringen würden. Dass ohne massiven Druck von unten keine einzige nennenswerte fortschrittliche Reform zu erwarten ist, gehört mittlerweile auch zum Bewusstsein vieler, die bei den globalen Aktionstagen auf die Straße gehen.

Dieses bringen auf ihre Weise selbst öffentliche Galionsfiguren wie Greta Thunberg oder Luisa Neubauer zum Ausdruck. So prangert Thunberg das Versagen der Regierungen und Mächten seit Jahren an, freilich um dann im nächsten Satz wieder einmal an deren Vernunft zu appellieren. Luisa Neubauer kandidiert gar zu den Bundestagswahlen für die grüne Partei. Etliche andere VertreterInnen von Fridays for Future sind ebenfalls eng bei den bürgerlichen Grünen, vorgeblich um darin Druck für die Bewegung zu machen. In Wirklichkeit binden sie damit, gewollt oder ungewollt, natürlich die Bewegung an die Grünen.

Allein die Tatsache, dass die bürgerlichen Führungsfiguren der Bewegung wie Neubauer darauf verweisen müssen, dass ohne Druck von unten, ohne Bewegung, in deren Namen sie demnächst auch im Parlament und in einer Regierungsfraktion sitzen will, nichts geht, verdeutlicht freilich auch, dass die Hoffnungen und Illusionen vieler in eine ökologische Reformpolitik einen Widerspruch enthalten.

Dieser Widerspruch zwischen einer Massenbewegung und deren bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Führung kann, ja wird sich in der kommenden Periode weiter zuspitzen. Die drohende globale ökologische Katastrophe wird noch viel akuter werden. Zugleich verunmöglichen die aktuelle Krise des Kapitalismus und die sich verschärfende Konkurrenz um die Neuaufteilung der Welt zwischen den großen Monopolen und Mächten eine gemeinsame Klimapolitik im Weltmaßstab. Dieser reale Zusammenhang von Marktwirtschaft, Imperialismus und drohender Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschheit wirft darüber hinaus fast unwillkürlich die Systemfrage auf.

Während sich die bürgerliche Gesellschaftsordnung immer mehr als unfähig zur Lösung des Problems erweist, so ist in den letzten Jahren eine, wenn auch sehr heterogene, in Ansätzen aber auch globale Bewegung entstanden, die diese einfordert und auf die politische Tagesordnung setzt. Diese zu vereinheitlichen und zu internationalisieren, zu politisieren und zu radikalisieren, ist das Gebot der Stunde für alle klassenkämpferischen, revolutionären, kommunistischen und sozialistischen Kräfte. Das bedeutet aber auch, selbst in dieser Bewegung zu agieren und darin für ein internationales Programm von Übergangsforderungen gegen die drohende Katastrophe einzutreten.

Mehr dazu in der Broschüre

Capitalism Kills. Imperialismus, Kapitalismus und die Zerstörung von Mensch und Natur



Gorleben – und (k)ein Ende

Bruno Tesch, Infomail 1163, 21. September 2021

Am 17. 9. 2021 gab das Bundesumweltministerium (BMU) bekannt, dass das Salzbergwerk Gorleben, dichtgemacht werden soll und „damit“ (…) „das Kapitel Gorleben geschlossen“ sei.

Zäher Entscheidungsfindungsprozess

Mit dem seit den 1960er Jahren vorangetriebenen Bau von Nuklearanlagen, um den steigenden Energiebedarf zu decken, ergab sich die Notwendigkeit zur 1972 eingeleiteten Suche nach Lagerstätten auf BRD-Boden für den unvermeidlich anfallenden radioaktiven Abfall. Praktisch über Nacht entschied sich dann 1977 die niedersächsische CDU-Regierung für Gorleben als Standort für ein atomares Entsorgungszentrum. Die Wahl fiel auf diesen Ort, weil er im Nordostzipfel Niedersachsens im damaligen so genannten Zonenrandgebiet und fernab von Erholungs- und Feriengetriebe lag und so als „sicheres Versteck“ gelten konnte. Eine Eignung des Geländes für ein Endlagerprojekt war aus geologischer Sicht jedoch in keinem wissenschaftlichen Gutachten ausgewiesen.

Nach oppositionellen Sicherheitsbedenken wurden 1979 die Erkundungen im Salzstock bis 2000 fortgeführt, nach zehnjähriger Pause dann wieder aufgenommen, bevor im September 2020 sich das 1986 nach der Tschernobylkatastrophe gebildete Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (heute: nukleare Sicherheit) zu dem Urteil „nicht geeignet“ durchringen konnte. Ausschlaggebend für dieses Verdikt waren anscheinend Erkenntnisse, wonach Steinsalz ein zu instabiles Medium sei, um als langfristig sicheres Endlager zur Bindung von hochradioaktivem Material dienen zu können. Außerdem sind Gaseinschlüsse entdeckt worden, die die Gefahr von Explosionen bergen könnten.

Es verstrich hernach noch ein weiteres Jahr, ehe die mit Detailplanung betraute Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) nun ihre Pläne für Gorleben vorlegte. Demnach soll der Rückbau mehrschrittig erfolgen. Die Hohlräume unter Tage und Schächte sollen mit Haldensalz verfüllt werden. Falls Lücken verbleiben, würde der Rest mit Spezialbeton ausgegossen werden. Die oberirdischen Bauten sollen einer Grünanlage weichen.

Die Kosten für das Rückbauvorhaben wollte die BGE nicht genau beziffern, sie sollen aber jene für die Offenhaltung des Bergwerks übersteigen. Bislang hat das Endlagerprojekt jährlich 20 Millionen und insgesamt 1,9 Milliarden Euro verschlungen. Dennoch: Ist nach dieser quälenden Genese nun also doch alles in Butter bzw. Beton?

Widerstandsbewegung

In den 1970 Jahren agierten einige Figuren auf den Abgeordnetenbänken allenfalls als „BedenkenträgerInnen“ gegen das nassforsche Vorgehen der niedersächsischen Landesregierung. Wirklicher Widerstand gegen eine ungezügelt nuklearfreundliche Politik entfaltete sich zunächst nur außerhalb von Parlamenten. Eine Bewegung entstand und verwandelte das verschlafene ländliche Wendland zu einem Ort von Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht. Im Laufe der Zeit erwarb sie sich nicht nur den mehrheitlichen Rückhalt unter der örtlichen Bevölkerung, sondern genoss bundesweit, ja international Sympathien und auch eine gewisse Vorbildfunktion.

Es begann bereits 1977 mit Kundgebungen auf dem künftigen Bauplatz bei Gorleben. 1979 kam es zu einer Großdemonstration, dem „Gorlebentreck“, in der Landeshauptstadt Hannover, gefolgt von kleineren Protestaktionen gegen Probebohrungen für das atomare Endlager. In dessen Nähe wurde 1980 als ständige Widerstandsmanifestation ein Hüttendorf unter dem Banner „Republik Freies Wendland“ errichtetet. Dieses wurde zwar nach einem Monat durch Polizei- und Bundesgrenzschutzeinheiten plattgemacht, erregte aber starkes politisches Aufsehen in der gesamten Bundesrepublik und befeuerte die Antiatomkraftbewegung.

Danach kehrte verhaltene Ruhe ein, bis ein Abkommen mit Frankreich ermöglichte, Atommüll aus der Wiederaufbereitungsanlage La Hague, in der Bestandteile aus abgebranntem Kernbrennstoff getrennt werden, in Deutschland einzulagern. Gorleben erhielt nun die Einstufung eines Zwischenlagers und war 1995 erstmals Zielort eines solchen Castor-Transports, benannt nach seinen Behältern, die eigens zur Aufbewahrung von gefährlichen Materialien konstruiert worden waren.

Die anfänglich moderaten Proteste eskalierten über die Jahre und flammten Anfang November 2010 voll auf, nachdem eine Woche zuvor der Bundestag die Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke beschlossen hatte. Seinen Höhepunkt erreichte der Widerstand ein Jahr später. Der Castor-Transport war insgesamt eine ganze Woche unterwegs, der Zugverkehr wurde immer wieder von DemonstrantInnen blockiert. Auf den letzten 50 km Streckenabschnittes bis ins Wendland herrschte Ausnahmezustand. Der Staat musste einen gewaltigen Apparat von bis an die 100000 Polizeikräften – etwa ebenso viele, wie sich an den Protesten beteiligten – auffahren, um diesem Gefahrgut den Weg zu bahnen. Dieser 13. Transport blieb auch der vorläufig letzte dieser Art nach Gorleben.

Das kann sich diese Bewegung als Erfolg gutschreiben lassen. Doch so mutig und einfallsreich sie auch gewesen sein mag, ihr Charakter blieb stets kleinbürgerlich. In bemerkenswerter Weise gelang ihr der Schulterschluss mit den Bauern und Bäuerinnen des Wendlands, die den Kern der Protestbewegung an entschlossener Tatkraft und strategischer Findigkeit dank ihrer Ortskenntnisse sogar noch übertrafen. Aber es darf jedoch nicht übersehen werden, dass die Forderungen der Protestbewegung kaum über ökologische Zielsetzungen wie Abschaltung von AKWs oder Einsatz von erneuerbaren Energien hinausreichten.

Interessanterweise gerieten viele allerdings auch auf Kollisionskurs mit der grünen Partei. Diese galt anfangs als Vorreiterin einer Antiatompolitik und stellte zu Beginn das Gros der Widerstandsbewegung, die spätere EU-Parlamentarierin Rebecca Harms fungierte bspw. als Sprecherin der „Republik Freies Wendland“. Nach Eintritt in die Regierungskoalition mit der SPD hatten die Grünen dann jedoch den sogenannten Atomkonsens 2000 mit zu verantworten, der vorsah, den Energiekonzernen aus Steuermitteln eine satte Entschädigung für deren allmählichen Ausstieg aus der Stromerzeugung durch Nuklearenergie zu zahlen. Es gab gerade in der Wendlandregion aus Enttäuschung über diesen Gesinnungsverrat etliche Austritte aus der Partei Bündnis 90/Grüne.

Ein Endlager gedeckelt – Probleme bleiben

Zum Durchschnaufen nach der Entscheidung des BMU besteht kein Grund, denn auf der Suche nach geeigneten Lagerstätten für hochradioaktiven Müll wird weiter „ergebnisoffen“ prospektiert und zwar im ganzen Land. Jetzt bangt der von Gorleben etwa 70 km entfernte Ort Bahlburg (Ortsteil von Winsen a. d. Luhe), in die engere Wahl zu kommen. In der Nähe befindet sich ein Salzstock. Andere bereits in Betrieb befindliche Lager für schwach- und mittelradioaktiven Abfall wie Asse II (Niedersachsen) oder Morsleben (Sachsen-Anhalt) müssen in Form von Deckeneinstürzen, Auslaugungen und Grundwassereinbrüchen bereits ausbaden, was eine vorschnelle Erkundung und die Opportunität des geringsten Widerstand in der Region eingebrockt hat.

Gorleben selbst sitzt zwar nicht mehr im Spielkreis „der Endlager-Plumpsack geht um“, ist aber keineswegs eine kernkraftlose Oase, denn zusammen mit Ahaus (Nordrhein-Westfalen) und Lubmin (Mecklenburg-Vorpommern) gehört der Ort zu den ausgewiesenen Zwischenlagern. In Hallen stapeln sich oberirdisch die Castor-Behälter. Diese halten offiziell 100 Jahre. Zur Endlagerung sollen sie dann in Pollux-Behälter umgefüllt werden.

Daneben existiert in Gorleben seit 1984 noch ein Abfalllager, in dem schwach wärmeentwickelnder radioaktiver Müll, der aus dem Betrieb deutscher Kernkraftwerke sowie aus Forschung und Industrie stammt, in einer Halle zwischengelagert ist.

Weitere artverwandte Planungen in der näheren Umgebung wurden verworfen, unter anderem weil sie politisch nicht durchsetzbar waren.

Wie zum Hohn klingt es nachgerade, wenn das BMU meint, vorhandene Strukturmittel könnten ja jetzt in die wirtschaftliche Entwicklung der Region investiert werden.

Darüber hinaus gehen jedoch die schmutzigen Geschäfte weiter. Seit Jahren hatte Deutschland abgereichertes Uran ins Ausland, z. B. nach der sibirischen Stadt Sewersk (Oblast Tomsk) exportiert. Dort befindet sich kein gesichertes Endlager, sondern die angelieferten Container standen meist unter freiem Himmel auf einem Parkplatz herum. Als jüngstes Beispiel kommentiert der atompolitische Sprecher der Linkspartei, Hubertus Zdebel, einen anderen Skandal ganz auf Linie des Atomkonsenses am 20.8.2021, bei dem es sich vordergründig um eine Reduzierung der Lieferungen von radioaktiven Reststoffen von Frankreich nach Deutschland handelt, wie folgt:

„Was der Öffentlichkeit bei diesem neuerlichen Atomdeal verschwiegen wird, sind die mal wieder zusätzlich anfallenden Kosten für die öffentliche Hand. Es ist nämlich vorgesehen, dass RWE, EnBW, Vattenfall und PreussenElektra (heute: E.ON), die etwas mehr als eine Milliarde Euro für die Wiederaufbereitung und Rückführung des Atommülls an Orano (die französische Betreibergesellschaft von La Hague – Anmerkung d. V.) zu zahlen haben, 525 Millionen Euro vom öffentlich-rechtlichen Fonds zur Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung (KENFO) erstattet bekommen sollen.“

„Um den Konzernen diese zusätzlichen Vergünstigungen zu verschaffen, hat die Große Koalition mit ihrer Stimmenmehrheit vor wenigen Wochen extra noch eine Änderung des Entsorgungsübergangsgesetzes vorgenommen.“

Programmatische Punkte

Auch wenn eine Wiederbelebung einer Widerstandsbewegung hierzulande nicht mehr zu erwarten ist, nachdem das Ende der heimischen atomaren Energieerzeugung absehbar zu sein scheint, müssen dennoch Antworten auf die weiter brodelnde Bedrohung durch die ungelöste Entsorgungsfrage gesucht werden. Denn in vielen anderen Ländern auch innerhalb der EU werden weiterhin AKWs betrieben, teilweise sogar neu gebaut (Finnland).

Die neue Umweltbewegung in Form von Fridays For Future hat den Fokus eher auf die CO2-Reduktion als auf den Einsatz gegen Kernspaltungsenergie und deren Folgen gelegt. Die Katastrophe von Fukushima Dalichi in Japan vor zehn Jahren hat jedoch gezeigt, dass diese Techniken weiterhin störanfällig sind und verheerende langfristige Nachwirkungen haben.

Um nachhaltige Antworten auf solche Fragen zu finden, muss ein Programm erstellt werden, das international organisierend wirken kann. Kernpunkte davon sind:

  • Für einen globalen Plan zum Ausstieg aus der fossilen und nuklearen Energieerzeugung. Für massive Investitionen in regenerative Energieformen wie Wind-, Wasser- und Sonnenenergie sowie in geeignete Speichertechnologien!
  • Entschädigungslose Enteignung der privatkapitalistischen Energiekonzerne.
  • Offenlegung aller Verträge und Geschäftsunterlagen der Energiewirtschaft, einschließlich derer staatlicher „Aufsichtsbehörden“ und deren Kontrolle mit Vetorecht durch ArbeiterInnenorgane, gebildet aus demokratisch gewählten und rechenschaftspflichtigen VertreterInnen aus Gewerkschaften und Beschäftigten.
  • Freier Zugang von ArbeiterInneninspektionsorganen zu allen Einrichtungen der Energiewirtschaft.
  • Endlagersuche für die sichere Verbringung von radioaktivem Restmüll unter Kontrolle der ArbeiterInnenbewegung und der örtlichen Bevölkerung.
  • Finanzierung aller notwendigen Maßnahmen zur Forschung, Sicherheit und Umstrukturierung aus UnternehmerInnenprofiten und SpekulantenInnengewinnen.



25.000 demonstrieren gegen Münchner Automobilmesse

Veronika Schulz, Infomail 1162, 15. September 2021

Bedenkt man, dass die VeranstalterInnen ausgerechnet wegen der vielfältigen Proteste und massiven Störaktionen rund um die IAA 2019 in Frankfurt einen Umzug nach München unternommen haben, haben die Aktionen der vergangenen Woche bewiesen, dass es für die AutoherstellerInnen und Konzernbosse kein Entkommen vor Widerstand gegen ihre Schau gibt.

Aktionen

Bereits am Dienstag gab es zum Auftakt der Messe Abseilaktionen von Brücken, die den Verkehr auf den Autobahnen um die Landeshauptstadt für mehrere Stunden lahmlegten.

Im weiteren Verlauf der Woche fanden Solidaritätsaktionen mit den Beschäftigten bei Bosch statt, die von einer Werksschließung und Entlassungen bedroht sind. An dieser Stelle zeigt sich ein praktischer Ansatz zur Verbindung der Kämpfe von Klima- und ArbeiterInnenbewegung, ist es doch im Interesse von allen Lohnabhängigen, die notwendige Konversion und/oder Transformation der bisherigen Produktion gemeinsam zu bewerkstelligen, ohne die Themen gegeneinander auszuspielen.

Eine Besetzung von zwei Häusern an der Karlstraße wurde ebenso rigide wie gewaltsam von den Bullen beendet wie die Aktionen am Bosch-Werk; am Einsatz von Pfefferspray und Knüppel wurde nicht gespart.

Parallel zu den vielfältigen Aktionen gab es beim Mobilitätswende-Camp auf der Theresienwiese sowie beim Kontra-IAA-Kongress die Möglichkeit zu inhaltlichen Diskussionen und Austausch.

Demonstration

Die Bündelung der Proteste und damit den Höhepunkt bildeten die Demonstrationen am Samstag. Politische Organisationen und Parteien hatten ebenso aufgerufen wie Umweltverbände, AktivistInnen aus der Klimabewegung und GewerkschafterInnen. Aus dem postautonomen Spektrum waren Kräften wie Ende Gelände, Extinction Rebellion oder Sand im Getriebe maßgeblich beteiligt. Zur Großdemonstration mit 5.000 TeilnehmerInnen kamen sogar noch an die 25.000 RadlerInnen, die sich in einer Sternfahrt aus mehr als 15 Städten im Umland Münchens teils bereits in den frühen Morgenstunden auf den Weg gemacht hatten. Bei allen Unterschieden und Vielfalt in den Protestformen herrschte Einigkeit über die notwendige und überfällige Abkehr vom Individualverkehr – egal ob mit Elektro- oder Verbrennungsmotor – sowie die Forderung nach einem massiven Ausbau des ÖPNV und Schienenverkehrs.

Die nach wie vor hohe Beteiligung von verschiedensten politischen Spektren und Zusammenschlüssen, ebenso wie von vielen Einzelpersonen insbesondere bei der Radldemo, zeigt die Dynamik und den Durchhaltewillen der Klimabewegung.

Wie es auch einer Verbindung der Kämpfe von Klima- und ArbeiterInnenbewegung bedarf, so müssen auch die Aktionen der verschiedenen politischen Spektren künftig besser vernetzt und abgestimmt werden, um eine höhere Durchschlagskraft einerseits zu erzielen, andererseits Hürden und Vorurteile gegenüber den jeweils anderen abzubauen. Umweltverbände, Klimabewegung und Gewerkschaften müssen gemeinsam für eine Überwindung des bisherigen Systems eintreten und Spaltungsversuchen von außen konsequent begegnen.

Berichterstattung

In der Berichterstattung der großen Medien ging es vorrangig um die Proteste der Klima- und Umweltbewegung gegen die Messe. Eine Hofberichterstattung wie noch vor wenigen Jahren mit verklärten Lobeshymnen auf „Innovationsfähigkeit“ und „Technologiefortschritt“ der Automobilindustrie suchte man vergebens. Auch in dieser Hinsicht ist die Rechnung von Branche und VeranstalterInnen nicht aufgegangen. Es gelang ihnen ebenfalls nicht, durch Aufnahme von Fahrrädern und E-Scootern ins Ausstellungsportfolio „Ergänzungen“ zum weiterhin dominanten Automobil, wenn auch mit Elektroantrieb, zu präsentieren. Derart plumpe PR nehmen selbst die wohlwollendsten ReporterInnen als das wahr, was sie ist: ein grünes Feigenblatt inmitten weiterhin selbstherrlicher Arroganz und Überheblichkeit, hängen doch „Arbeitsplätze“, „Wohlstand“ und überhaupt „die deutsche Wirtschaft“ als Ganzes am Tropf der Autolobby und ihrer Zulieferbetriebe.

Polizei und Landesregierung

So wenig sich mittlerweile selbst PressevertreterInnen der Mainstreammedien von oberflächlich „grünen“ Neuheiten der Autoindustrie blenden lassen, so eng verwoben bleiben Politik und Wirtschaft. Bezeichnend ist einmal mehr nicht nur die Quantität, sondern auch Qualität an Repression. Das Vorgehen der bayerischen Polizei, unterstützt durch USK und BFE-Einheiten aus verschiedenen anderen Bundesländern, war vom bayerischen Innenminister Herrmann (CSU) nicht nur legitimiert, sondern geradezu erwünscht und erwartet. Den „größten Polizeieinsatz seit 20 Jahren“ hatte Herrmann angekündigt, um die 5.000 PolizistInnen standen bereit. Auch wenn derartige Parolen mittlerweile zur Folklore im Vorfeld politischer Großereignisse wie G20-Gipfeln zählen, muten sie vor einer Messe wie der IAA in ihrer Law-and-Order-Rhetorik doch eher wahltaktisch an.

So entblödeten die Bullen sich nicht, Sprühkreide und Transparente zum Anlass für weitere Kontrollen und Schikane zu nehmen und AktivistInnen an der Ausübung ihres Demonstrationsrechts zu hindern. Auch die Regelungen des neuen bayerischen Polizeiaufgabengesetzes kamen zur Anwendung.

Den GenossInnen, die sich von den Autobahnbrücken abseilten, droht neben diversen Strafanzeigen auch eine Abwälzung der Einsatzkosten zu ihren Lasten, außerdem wurden sie für die gesamte Dauer der IAA in Präventivhaft genommen. Anfang dieser Woche wurde der „Sicherheitsgewahrsam“ von verschiedenen Gerichten als rechtswidrig eingestuft.

Die Grünen im Bayerischen Landtag fordern eine Aufarbeitung der Polizeieinsätze, insbesondere das Eingreifen während der Demonstration, was allerdings ebenfalls nicht ehrlicher Solidarität, sondern eigenem politischen Kalkül geschuldet sein dürfte.

Sämtliche Proteste, die bürgerliches Eigentum in Frage stellen oder die Art und Weise, wie wir produzieren, wie wir wohnen, womit spekuliert wird, werden nicht nur unterbunden, sondern kriminalisiert. Dabei geht die eigentlich Gefahr nicht von den konkreten Aktionen und BesetzerInnen aus, sondern liegt im Aufzeigen von Alternativen zur kapitalistischen Verwertungslogik und damit bei dem Widerstand gegen die herrschende Ideologie.




Proteste dominieren IAA in München

Mattis Molde / Helga Müller, Infomail 1162, 14. September 2021

Autobahnblockaden gegen die IAA gab es schon zu Beginn, Sitzblockaden und einen Gegenkongress unter der Woche, dann eine Großdemo am Samstag mit rund 25.000 TeilnehmerInnen. Die Mainstream-Medien fokussierten sich zurecht auf diese Ereignisse, denn der vorgebliche Anspruch der „Mobilitäts“-Messe wurde hinten und vorne nicht erfüllt.

Sackgasse IAA

Die IAA war einst der Wallfahrtsort der Motorfreaks, Leute, für die Autoherstellung und/oder Autofahren ein Glaubensbekenntnis waren und ein wesentlicher Bestandteil ihres Gefühlslebens. Das ist vorbei. Schon 2019 stürzten die BesucherInnenzahlen von einstiger Millionenhöhe auf unter 600.000 ab. Jetzt fielen sie auf 400.000. In einigen Messehallen herrschte zeitweise „tote Hose“.

Die MacherInnen hatten der Ausstellung ein neues „Format“ verpasst, es sollte um „Mobilität“ gehen. Das hätte heißen können, dass Studien und Modelle über die Verbindung verschiedener Verkehrsträger ins Zentrum gestellt werden. Beispiel: Was passiert auf dem letzten Kilometer von den Endpunkten des öffentlichen Schienenverkehrs zur Wohnung? Heute gibt es Busse im Halbstundentakt, abgestellte Fahrräder oder gar nichts.

Für die MacherInnen der IAA wie für die (deutsche) Autoindustrie ist das keine Frage: „Das Auto ist eine innovative Kraft und das am meisten genutzte Transportmittel“ heißt es in der IAA-Präsentation (https://www.iaa.de/fileadmin/IAA_Mobility/Fuer_Besucher/IAA_Erleben/Bike/IAA-MOBILITY-2021_Pre-Built-Booth-Packages_2021-07-01.pdf?1625471593). Letztere Behauptung ist zweifellos Unsinn – die eigenen Füße stehen den allermeisten Menschen zur Verfügung, nur einer Minderheit ein Auto. Und dem Produkt Automobil eine eigene Schöpfungskraft anzudichten, verrät viel über den Horizont dieser ZukunftserfinderInnen.

Sie setzen auf Autos, die sich untereinander verraten, wo es in der Innenstadt noch Parkplätze gibt. Auf Autos, die am besten so groß sind, dass sie Fahrräder transportieren können. Solche wurden erstmals auch auf der IAA gezeigt. Fahrräder mit Elektroantrieb und jeder Menge Sensorelektronik, Preisniveau ab 5000,- Euro aufwärts. Also genau nicht die Teile, die man in der Innenstadt oder an der S-Bahnhaltestelle abstellen kann. Und erst recht nicht die, die sich die Masse der Bevölkerung leisten kann.

Krise des Autos

Die IAA und ihre BetreiberInnen haben also nichts Wesentliches zur Lösung der Umwelt-, Klima- und Verkehrsprobleme beizutragen. Sie beschränken sich darauf, die ideologischen Nebelkerzen für ihre Profitproduktion neu zu gestalten. Millionen haben das erkannt und die Klimafrage ist zu einem Hauptthema bei WählerInnen geworden. Was noch lange nicht heißt, dass diejenigen, die das Problem beschäftigt, mit den Antworten zufrieden sind, die ihnen die KlimaretterInnen von CDU/CSU, FDP, SPD, Grünen und der LINKEN versprechen.

Ähnliches gilt für die Autoindustrie und ihre Show. Auch all die früheren IAA-BesucherInnen, die heute wegbleiben, die möglicherweise mittelfristig nach wie vor ein Auto brauchen oder dies zumindest glauben, finden ganz offensichtlich die Perspektive E-Auto nicht so klasse, die die Auto-Industrie heute anbietet: viel Elektronik, aber da ist das Handy billiger. Seine Umweltverträglichkeit ist zweifelhaft; nicht mal brummen tut es. Aber auf jeden Fall ist es schweineteuer.

Trotz dieser gigantischen Verblendungsshow, um die Transformation von Verbrenner- auf Elektromotoren als einen riesigen Schritt für mehr Umweltfreundlichkeit zu feiern, hat mit dieser IAA die Autoindustrie ein Schlaglicht auf ihre eigene Krise geworfen.

Klimabewegung, wohin?

Mit dem Umzug der IAA von Frankfurt/Main nach München wollten die VeranstalterInnen auch mögliche Protestaktionen von Umweltverbänden, Klimabewegung und diversen anderen Organisationen, die die Automobilindustrie in ihrer Jagd nach noch größeren Autos als eine der wichtigen VerursacherInnen der Klimaveränderung brandmarken, abschwächen. Dies hat sich aber als Rohrkrepierer herausgestellt. Auch in München haben sich wie vor zwei Jahren in Frankfurt bis zu 25.000 TeilnehmerInnen auf der zentralen Fußdemo und mittels Radlsternfahrt aus 11 umliegenden Gemeinden  für den Ausbau des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs und eine drastische Reduzierung des Individualverkehrs – sei es mit Verbrenner- oder mit E-Motoren – ausgesprochen.

Die hohe Beteiligung an den Protestaktionen zeigt, dass die Klimabewegung nicht an Dynamik eingebüßt hat. Aber sie muss aufpassen, dass ihre politische Stagnation nicht auch zu deren Verlust führt. Die Bewegung muss eine Antwort auf die Frage finden, wie sie die Scheinaktivitäten der Regierungen und der Konzerne durchbrechen kann. Viele ahnen, dass einfach wieder mehr Fridays for Future das nicht schaffen wird.

Manche versuchen eine politische Antwort in der Anpassung an die Kapitalinteressen und/oder in der Ausrichtung auf Parlamentarismus und Wahlen, andere setzen auf militantere Aktionsformen, ohne freilich andere Ziele zu vertreten. Auch wenn etliche AktivistInnen mittlerweile die Notwendigkeit einer Verbindung mit Lohnabhängigen anerkennen, so herrscht über das Wie und Warum vor allem Unklarheit. Mitunter handelt es sich um bloße Lippenbekenntnisse, hinter denen sich Ignoranz oder Indifferenz gegenüber der Arbeiterinnenklasse verbergen. Wiederum andere halten „Spitzengespräche“ zwischen bürgerlichen SprecherInnen von Fridays for Future und GewerkschaftsführerInnen schon für ein Zusammengehen von Umwelt- und Gewerkschaftsbewegung.

Die Hoffnung, dass die Wahl der Grünen oder der grün gewendeten Parteien etwas bewirkt, wird genauso wie alle auf „soziale“ und „demokratische“ Regierungspolitik zerplatzen. Regierungen können wechseln, das Kapital und seine Klasse, die Bourgeoisie, herrschen. Es ist ihr Staat, zur Sicherung ihres Besitzes und ihrer Kapitalvermehrung. Und das Kapital interessierte sich noch nie für den Zustand und die Bedürfnisse der Gesellschaft.

Abseilaktionen von Autobahnbrücken beweisen Widerstandswillen gegen eine Staatsmacht, die auf Camps, Demonstrationen oder schon an den einfahrenden Personenzügen aufmarschiert. Für sich genommen klärt aber keine noch so entschlossene Aktionsform die Frage der inhaltlichen, politischen Ausrichtung.

Die Propagierung von bestimmtem KonsumentInnenverhalten wird zwar oft auch mit Kapitalismus- und Konsumkritik begründet. Als strategische Orientierung beruht sie auf der Illusion, dass die KäuferInnen bestimmen würden, was produziert wird. Demzufolge würde bei einem Kaufboykott umweltschädlicher Produkte das Kapital seine Profite woanders – umweltgerecht – suchen. Das E-Auto beweist das Gegenteil, genau wie die ganze Produktwerbung bis hin zu Aldi, die suggeriert, durch den Kauf eines bestimmten Waschmittels könne der Urwald gerettet werden. Nur – wir haben keine Zeit darauf zu warten, dass diese Rezepte ihre Wirkungslosigkeit beweisen.

Kongress

Es gilt also, neue Fragen zu formulieren und alte wieder aufzunehmen. Hier sollte und wollte der Kontra-IAA-Kongress in München vom 9. bis 10. September 2021 ansetzen.

29 Workshops, Podien und Foren hatten seine OrganisatorInnen auf die Beine gestellt. Über 100 TeilnehmerInnen hatten sich nach ersten Schätzungen (eine Bilanz des Kongresses wird es von den VeranstalterInnen noch geben) an den diversen Veranstaltungen beteiligt. Es waren vor allem TeilnehmerInnen aus attac, Umweltverbänden, AktivistInnen aus der Klimabewegung, GewerkschafterInnen, politische Organisationen, auch aus der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Das postautonome Spektrum und die eher aktionsorientierten Teile der Umweltbewegung wie Ende Gelände, Extinction Rebellion oder Sand im Getriebe haben sich an dem auf der Theresienwiese aufgebauten Klimacamp – das lange gegen das Münchner Kreisverwaltungsreferat durchgekämpft werden musste – und den ab Freitag stattfindenden Blockaden beteiligt, weniger an dem Kongress. Zusammen kamen diese diversen Spektren auf den Demos am Samstag.

Inhaltlich kreiste der Kongress vor allem um die Frage: Wie kommen Umwelt- und ArbeiterInnenbewegung zusammen? Wie können die verschiedenen umweltaktivistischen Bewegungen und Organisationen die Spaltung, die gezielt – teilweise auch von den DGB-Gewerkschaften – geschürt wird, überwinden? Vor allem in der Energiebranche stellt die IGBCE ständig den Erhalt von Arbeitsplätzen der Abschaffung der umweltzerstörenden Erzeugung entgegen. Aber umgekehrt haben sich KlimaaktivistInnen lange nicht um die Frage gekümmert: Wie können Arbeitsplätze in anderen gesellschaftlich sinnvollen Sektoren aufgebaut und die Industrien entsprechend umgebaut werden?

Es gab aber natürlich auch noch andere Themenbereiche, die bis in den Bereich der Selbstfindung und -verwirklichung gingen – übrigens nicht unähnlich der Autoindustrie, die ja gerne Werbung macht, mit deren Hilfe sich das im Alltag gequälte Individuum in einsame Landschaften oder belebte Städte hineinträumen kann, in denen es nie Autos gibt, außer dem eigenen Traumwagen.

Schlüsselfrage Gewerkschaften

Die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) konnte auch einen Workshop unter dem Titel: „Welche gewerkschaftlichen Strategien braucht es für den sozialökologischen Umbau?“ durchführen. Sie stellte die Frage so: „Bislang trotten die verschiedenen Gewerkschaften hinter den Konzepten ,ihrer’ Konzerne hinterher: sei es bei E-Mobilität, autonomem Fahren, Luft- und Bahnverkehr. Bei Massenentlassungen und Betriebsschließungen werden dann zwar ‚neue Technologien und Konzepte’ gefordert, aber es bleibt bei wirkungslosen Appellen. Wie erreichen wir, dass die Gewerkschaften eine Strategie verfolgen, die nachhaltig, konsistent, branchenübergreifend ist und wie kann die nötige betriebliche und gesellschaftliche Durchsetzungsfähigkeit erreicht werden?“

Die Diskussion in den Workshops drehten sich um die Frage: Wie können die KollegInnen in den Betrieben, sei es in der Automobilindustrie oder in den Kohletagebauen, die, solange die Entscheidungen in den Händen der Bosse bleiben, zu Recht Angst vor Arbeitsplatzabbau haben, wenn es um den ökologischen Umbau ihrer Industrie geht, mit den Klimaaktivitäten vereint werden? Und zwar gegen jegliche Spaltungsversuche – sei es durch die Gewerkschaftsführungen, die oft die Frage des Erhalts der Arbeitsplätze in den jeweiligen Branchen gegen den ökologischen Umbau setzen, sei es durch die Bosse selbst, die wie z. B. in der Automobilindustrie die Transformation zu E-Autos nutzen, um Arbeitsplätze abzubauen, oder Produktlinien in sog. Billiglohnländer verlagern.

Es wurden durchaus viele Beispiele auch aus der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung diskutiert wie z. B. der Kampf um den Erhalt der Arbeitsplätze bei Lucas Aerospace in Nordengland, wo die KollegInnen in den 1970er Jahren selbst einen Plan für alternative gesellschaftlich und ökologisch sinnvolle Produkte entwickelten, oder auch das aktuelle Beispiel bei Bosch in München.

Das Werk – ein Autozulieferer – soll ähnlich wie bereits das in Bietigheim bei Stuttgart voraussichtlich geschlossen werden. Hier haben UmweltaktivistInnen aus diversen Umweltnetzwerken mit den KollegInnen über die Herstellung von Alternativprodukten, die sowohl ökologisch als auch gesellschaftlich sinnvoll sind, gesprochen. Im Gegensatz zu der landläufigen Meinung – auch der des 1. Bevollmächtigten der IG Metall in München – hat sich bei dieser Diskussion und den daraus resultierenden Aktivitäten herausgestellt, dass die KollegInnen dafür aufgeschlossen sind, vor allem wenn dies mit der Frage des Erhalts ihrer Arbeitsplätze verbunden wird.

Aussagen wie „Man muss den KollegInnen auch klipp und klar sagen, dass es in den reichen Industrieländern auch um Deindustrialisierung geht in Hinsicht auf eine gerechtere Aufteilung der Produktion und des Aufbaus von Arbeitsplätzen auch im armen globalen Süden“, die vor allem von „grün“ angehauchten DiskutantInnen in die Debatte geworfen wurden, stießen auf große Skepsis. Eine solche Herangehensweise führt keineswegs zu einer Überwindung der Spaltung, solange die Beschäftigten damit Arbeitsplatzabbau verbinden, sondern eher zu einer weiteren Vertiefung. Sie wird auch den KollegInnen in den ärmeren Regionen dieser Welt nicht weiterhelfen, solange eine Gesellschaft existiert, die auf Konkurrenz und Hetze nach mehr Profit ausgerichtet ist.

So eine „Gerechtigkeit“ lässt die Profite der KapitalistInnen unangetastet im Namen einer gerechteren Verteilung der Lasten und der Ausbeutung auf die ArbeiterInnenklasse. Der zunehmend nationalistischen Herangehensweise der reformistischen Gewerkschaftsbürokratie, Arbeitsplätze in Deutschland gegen die Konkurrenz aus dem Ausland zu verteidigen, wird hier zwar widersprochen – aber auf Kosten der Klasse. Die einzige wirkliche Alternative, die Verteilung aller Arbeit auf alle, für Lohnerhöhungen überall, ArbeiterInnenkontrolle über die Produktion und internationale Streiks und Solidarität wird mit dieser grün gewendeten Spaltungspolitik genauso unterminiert wie mit dem sozialpartnerschaftlichen Nationalismus der Gewerkschaftsführungen.

Für eine Opposition in den Gewerkschaften

Im Workshop der VKG wurde noch einmal ein besonderes Licht auf die Herangehensweise der Gewerkschaften – insbesondere der IG Metall – geworfen, die nichts für die Hebung des politischen Bewusstseins ihrer Mitglieder oder der Belegschaften tun, außer immer wieder zu betonen, dass der Erhalt von Arbeitsplätzen immer nur mit Verzicht zu machen sei. Das resultiert aus ihrem sozialpartnerschaftlichen Kurs. Daher führt sie auch keinen ernsthaften Kampf mit Hilfe von Streiks, die nicht nur Proteste darstellen, sondern das Ziel verfolgen, sich gegen die Interessen des Kapitals durchzusetzen.

Aber um sich mit den KollegInnen verbinden zu können und ihnen auch eine Perspektive über den rein gewerkschaftlichen Kampf hinaus zu geben, ist es für GewerkschafterInnen oder politisch linke Kräften in den Gewerkschaften, die Schluss machen wollen mit der Unterordnung unter die Kapitalinteressen, wichtig, an den Interessen der KollegInnen, am Kampf um den Erhalt der Arbeitsplätze und guter Arbeitsbedingungen anzusetzen. Gleichzeitig muss aber auch in diesem Kampf klar werden, dass es notwendig ist, gegen die sozialpartnerschaftlich ausgerichtete Politik der Gewerkschaftsführung eine linke klassenkämpferische Strömung aufzubauen, die in der Lage ist, den Kampf aufzunehmen.