Großer Alarm in Lützi: Cops stürmen den Ort

Leo Drais, Infomail 1210, 11. Januar 2022

Es wird endgültig Ernst. Heute Morgen wurden die Bewohner:innen und Aktivist:innen in Lützerath  von einem Großaufmarsch der Polizei geweckt. Eine endlose Schlange Bullenwannen zog sich durch den Tagebau Garzweiler. Ihr Ziel ist für heute wohl, einen Zaun um den Ort zu errichten und Barrikaden zu beseitigen. Damit sie dafür freie Hand erhalten, haben sie den Ort gestürmt. Die Besetzer:innen haben sich auf Baumhäusern und Häusern verschanzt, Tripods und Konstruktionen sind besetzt, Sitzblockaden wurden gebildet. Die Polizei arbeitet sich mit Schweißbrennern und schwerem Werkzeug an einbetonierten Stahlträgern ab, Klettercops räumen Strukturen.

Wir lassen uns nicht spalten!

Ideologische Helferin der Bullen und damit von RWEs Profitinteressen ist die Presse, insbesondere die aus dem Haus Springer und anderer Privater. Während im WDR eine Reporterin ihrem Kollegen im Studio noch versucht zu widersprechen, als dieser meinte, im Studio hätte man noch nichts von Polizeigewalt gehört, gibt es für WELT-Abonnent:innen die erwartbare einseitige Berichterstattung. Steinwürfe und Molotowcocktails von Aktivist:innen sind Gewalt. Prügeln, Pfeffern, Schmerzgriffe, Schläge, Stürmen, Schubsen – alles gegenüber friedlichen Aktivist:innen – werden nicht beim Namen genannt: Gewalt, ganz zu schweigen von der Brachialgewalt, die von Räumpanzern, Wasserwerfern, Abrissbaggern bis hin zu den Schaufelradbaggern RWEs ausgeht.

Diese Zerstörung Lützeraths und damit unserer Lebensgrundlagen ist nichts anderes als rohe kapitalistische Gewalt, deren Soldat:innen die Cops sind. Im Fernsehen und Internet wurden heute morgen auch gewerkschaftliche Vertreter:innen der Bullen interviewt. Es soll der Anschein entstehen, sie machen da nur ihren Job, so wie andere Beschäftigte auch. Aber Bullshit! Cop sein ist keine Arbeit wie alle anderen. Sie ist weder politisch neutral (die Politik war‘s, die entschieden hat, Lützerath zu räumen) noch demokratisch (oder gibt es irgendeine zivile Kontrolle über die Polizei?). Sie ist eine hörige gewalttätige Vollstreckerin der Manager:innen von RWE und deren Lakai:innen in der Berufspolitik, die wie schon im Danni und im Hambi Leben gefährdet. um die gewinnbringende Zerstörung der Erde voranzutreiben. Und daher: Bullen raus aus dem Deutschen Gewerkschaftsbund – ihr seid keine Arbeiter:innen!

Die ganze Unterscheidung zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit dient nur dazu, den Protest zu spalten. Herbert Reul forderte völlig zynisch bei der Einweihung einer Polizeiwache, dass sich „die, die das Klima und nicht Chaoten schützen wollen“ von den „Randalierenden distanzieren sollen“! Fallen wir nicht darauf rein! Reul und seine Knüppelgang sind es, die gerade in Lützerath randalieren und Strukturen angreifen!

Lützi ist ein solidarischer Ort. Ob Sitzblockade, Lockon oder auch, wenn Menschen aktiven Widerstand leisten (also Militanz, aka Gewalt), ist legitim und Lützerath hat Platz für alle, solange Rücksicht aufeinander genommen wird. Denn durch Lützi läuft die 1,5-Grad-Grenze. Ihre Verteidigung ist für viele Menschen überlebensnotwendig!

Viele Menschen waren in den letzten Tagen in Lützi, aber haben es wieder verlassen müssen, weil sie zur Arbeit müssen, sich Verhaftungen und Repression nicht leisten können, schlicht Angst vor behelmten Gewalttäter:innen haben. Aber sie waren da, haben sich eingebracht, sind immer noch da, unterstützen das „Unser aller Camp“ in Keyenberg, was nun zum Rückgrat von Lützi wird. Oder sie sind in Gedanken bei den Aktivist:innen, unterstützen sie finanziell oder planen ihre Anreise zur Großdemo am 14. Januar. Alles das ist wichtig! Lützi ist viel mehr als die Bilder, die die Presse zeigt! Es ist eine Bewegung, die sich von der Regierung und insbesondere von den Grünen verraten fühlt. Es sind Anwohner:innen des Tagebaus, die vielleicht selbst in ihrer Vergangenheit vertrieben wurden. Es sind die, denen FFF nicht genug war.

Wie gewinnen wir?

Wer es noch kann – auf nach Lützi! Es wird auch vom Camp in Keyenberg aus immer wieder Aktionen geben, um die Besetzung zu unterstützen. Wer sich da verständlicherweise nicht rein traut – auch kein Problem! Es gibt viele andere Aufgaben: Küfa, Shuttle fahren, Camp aufbauen und vieles mehr.

Die Klimabewegung geht mit Lützi einen wichtigen Schritt. Viele verlieren das Vertrauen in die Grünen, die hier ihre lange Tradition klimazerstörender, bürgerlicher Realpolitik fortsetzen. Der Danni und der Hambi grüßen genauso wie der Plan, eine Erdgasinfrastruktur hochzuziehen, die uns auf Jahre weiter an fossile Energie binden wird. Ob‘s die Welt ruiniert, ist den Grünen egal. Hauptsache es kommt nicht aus Russland!

Zurecht pragert die Vorsitzende der Linkspartei, Janine Wissler, den neuerlichen und sicher nicht letzten Verrat der Grünen (und natürlich auch der SPD) an. Doch sie schweigt sich darüber aus, dass auch Berliner Bullen trotz rot-grün-roter Landesregierung an der Räumung beteiligt sind. Wir fordern die Linkspartei auf, mit diesen Halbheiten zu brechen und den Kampf ohne Wenn und Aber voll zu unterstützen!

Viele Klimaaktivist:innen haben zudem in den letzten Jahren ihren Weg zum Antikapitalismus gefunden. Gut so, denn ohne diesen ist jeder Versuch eines Klimaschutzes im Endeffekt nur Zeit Schinden oder Greenwashing. Es gibt keinen grünen Kapitalismus. Dass Lützi auch den Versuch darstellt, eine andere, solidarische und rücksichtsvollere Art des Zusammenlebens im Kleinen umzusetzen, ist deswegen auch nur konsequent.

Aber Lützi alleine reicht leider nicht. Wir brauchen Klimaklassenkampf! Wir brauchen politische Streiks, die die Forderung nach einer schnellstmöglichen Energiewende durchsetzen – ohne die Kohle unter Lützi! Wir brauchen Betriebsbesetzungen, die für eine nachhaltige Produktion eintreten  (passiert gerade in Italien in einer kleinen Autoteilefabrik bei Florenz).

Die Gewerkschaftsspitzen von IG BCE oder IG Metall wollen davon natürlich nichts wissen. An den Tischen von RWE und VW frisst es sich gut. Umso wichtiger ist es, dass kämpferische Gewerkschafter:innen sich gegen diese Machenschaft organisieren, in den Gewerkschaften eine (klima-)klassenkämpferische Opposition aufbauen. Und umso wichtiger ist es, dass Lützerath auch einen Schritt hin zu einer engen, organischen Verbindung zwischen Klimabewegung und Arbeiter:innenbewegung setzt. Möglichkeiten gibt es viele: Dieses Jahr stehen Tarifrunden bei der Bahn, der Post und im öffentlichen Dienst an. Klimaaktivist:innen sollten hier den Kontakt und den Austausch suchen und Arbeitskämpfe unterstützen, sie politisieren. Besonders im Transportbereich von Bahn und Post bietet es sich an, Themen rund um die Klimakrise einzubringen. Umgekehrt stellt jetzt Lützerath eine große Chance dar. Alle Gewerkschaftslinken sollten sich auf den Weg dorthin machen, wenn sie können. Überlassen wir das Thema nicht den Bossen unserer Gewerkschaften!

  • Lützi bleibt, damit die 1,5-Grad-Grenze bleibt!

  • Freiheit für alle Aktivist:innen – Klima schützen ist kein Verbrechen!

  • Kein Zaun um Lützerath – sofortiger Abbruch des Polizeieinsatzes!

  • Kolleg:innen von der IG BCE: Brecht mit RWE!

  • Kommt am 14. Januar zur Großdemo nach Lützerath!

Unterstützung aus der Ferne

Spendet an die Bewegung vor Ort: Kontoinhaberin: Lützerath lebt, IBAN:  DE24 4306 0967 1204 1870 01, Verwendungszweck: Lützi Lebt.

Oder via PayPal: nutzt gerne den Weg der Überweisung, da wir bei Paypal Gebühren an Elon Musk zahlen müssen: https://cutt.ly/OJAyBsa

Achtet auf Solidemos in Euren Städten!

Macht Solifotos und schickt sie an https://luetzerathlebt.info/ticker/




Lützi bleibt! Tagebuch von Aktivist:innen

Genoss:innen von Arbeiter:innenmacht und REVOLUTION beteiligen sich an den Aktionen und Demonstrationen gegen die Räumung von Lützerath. Hier ihre Eindrücke vor Ort.

Sonntag, 15.1.23: Wir kehren Lützi nicht den Rücken, wir tragen es nun in die Betriebe

Nach einer Woche gemeinsamen Zusammenlebens, gemeinsamen Kampfes in Lützi und in Keyenberg geht nun eine wichtige Zeit der gemeinsamen Erfahrung für unsere Genoss:innen zu Ende. Wir kehren in unsere Heimatstädte, an unsere Arbeitsplätze, Schulen und Universitäten zurück.

Es ist uns wichtig zu betonen: Wir gehen nicht, weil wir denken, die Auseinandersetzung sei vorbei. Die Genoss:innen sagten heute auf der Pressekonferenz von Lützi Bleibt vollkommen zu Recht, dass, egal ob das Dorf falle oder nicht, wir weiter um jeden Zentimeter Erde und damit gegen weitere Erderwärmung kämpfen würden. Genoss:innen – und das richten wir hier auch ganz explizit an unsere anarchistischen Genoss:innen in Lützerath – wir schätzen euren Mut und euer Engagement. Haltet durch, verzagt nicht!

Es sind unsere eigenen Umstände, die uns zwingen zu gehen. In Gedanken bleiben wir bei euch, jenen, die nach wie vor in und um Lützerath ausharren. Auch ihr seid bei uns, während wir versuchen, den Klimaklassenkampf im Bundesgebiet weiter voranzubringen.

An alle, die sich ihrer Verantwortung bewusst werden, ihre eigene Zukunft in die Hand zu nehmen, und erkennen, dass die kapitalistische Regierung und ihre Freund:innen in Banken und Konzernen es nicht tun werden: Schließt euch den Aktionen am 17. Januar im Bundesgebiet an!

Lasst uns noch einen Schritt weiter gehen, lasst uns gemeinsam unsere Kolleg:innen und ihre Gewerkschaften, unsere Mitschüler:innen und die Klimabewegung für die notwendigen Mittel gewinnen: für Massendemonstrationen und politische Massenstreiks, um die Enteignung von RWE und aller Engeriekonzerne unter Arbeiter:innenkontrolle zu erzwingen.

Unser Ziel ist es, eine ökologische Transformation in Gang zu setzen, die ihren Namen wirklich verdient: ine ökologische Planwirtschaft, für deren Aufbau die Reichen und nicht die Arbeiter:innen und Menschen des globalen Südens zahlen müssen.

Samstag, 14.1.23: Zehntausende gegen RWE!

Heute versammelten sich 35.000 Menschen um Lützerath. Sie wurden in dieser Woche aus Lützi verdrängt, sind aber noch vor Ort, reisten in den letzten Tagen ins Unser Aller Camp nach Keyenberg oder stießen heute aus dem Bundesgebiet und  Ausland zu uns. Jedes Gesicht war willkommen im gemeinsamen Kampf um Lützi.

Die Polizei bezifferte ursprünglich die Zahl auf 8.000 Demonstrant:innen und hat damit so unverschämt gelogen wie über alle anderen Verbrechen an Mensch und Natur, die sie in den letzten Tagen im Namen RWEs beging. Doch weder ihre Lügen und die wütende Hetze der rechten Presse noch Starkwind, strömender Regen und die Abgelegenheit Lützeraths hielten die Bewegung davon ab, ihre zahlenmäßige Stärke zu demonstrieren. Das allein ist ein Achtungserfolg.

Anarchist:innen liefen Schulter an Schulter mit Kommunist:innen. Jung lief neben Alt. Eltern waren mit ihren Kindern gekommen. Großeltern hatten ihren Enkeln Taschengeld mitgegeben, um für deren Zukunft zu kämpfen.

Auch die Slogans nach Klimagerechtigkeit und System Change sind konkreter geworden.

Populäre Slogans vergangener Tage wie „Brecht die Macht der Banken und Konzerne“ wurden erneut von tausenden Stimmen erhoben. Neben sie traten neue wie „Alle Dörfer bleiben, RWE enteignen“. Sie finden ihr Echo in einer breiten Bewegung, nicht nur in den Köpfen einiger weniger. Herbert Reuls Gespenst des Antikapitalismus macht sich breit in der Klimabewegung.

Mit großem Mut und immenser Opferbereitschaft kämpften vorwiegend junge Menschen darum, die Ketten der Cops und ihre Absperrungen zu durchbrechen. Ihr Ziel war, die Gewalt gegenüber den verbliebenen Bewohner:innen Lützis zu beenden.

Sie kämpften aber auch für sich. Das spürte man. Es geht nicht nur um den Kampf für eine manchmal scheinbar ferne Utopie. Es geht darum, die unmittelbar bevorstehende Dystopie zu verhindern. Das gibt der Bewegung eine große moralische und argumentative Kraft.

Dieser Opferwille wurde mit massiver Gewalt durch die Polizei beantwortet. Tausende psychopathischer Kräfte, die ganz eindeutig auf Verletzung und „Zerstörung“ der Demonstrationsteilnehmer:innen eingepeitscht wurden, forderten ihren Tribut. Mindestens eine Person musste per Hubschrauber in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Viele weitere hatten grauenhafte Wunden. Währenddessen feierte die Polizeiführung ihre eigene Gewalt im Welt-TV als „vorbildlichen Einsatz nach Handbuch“.

Wir möchten aber auch zwei Dinge zur Diskussion stellen. Wer Dörfer wie Lützerath in einer Situation wie in der vergangenen Woche verteidigen will, braucht neben Mut, Solidarität und vielen Innovationen der Bewegung zwei weitere Zutaten.

Einerseits eine Massenbewegung, die mehr als nur dazu in der Lage ist, groß zu mobilisieren. Denn das ist uns gelungen. Wir müssen diese Bewegung gleichzeitig in den Gewerkschaften verankern. Und zwar gegen den Widerstand einer von SPD und Grünen kontrollierten Bürokratie, die den Kapitalismus und die Eigentumsrechte der Reichen als Naturgesetz begreifen. Das ist harte Arbeit. Aber wir wissen, dass viele in der Bewegung sich nicht vor solcher scheuen. Es ist eine Frage der Strategie und taktischen Vorgehens.

Zweitens ist es vollkommen legitim, Proteste zu schaffen, an denen alle teilnehmen können, die die großen Ziele der Bewegung teilen. Die Mutter, das Kleinkind, der Großvater und die Jugendliche, die Kranken, die Ängstlichen, die Mutigen. Für sie alle muss Platz sein. Es darf keinen Gewaltfetisch geben. Aber das heißt eben auch, es nicht einfach aus Prinzip abzulehnen, sich gegen die Gewalt der Unterdrücker:innen zu wehren. Sich gegen einen bewaffneten Staat durchzusetzen, der Unrecht tut, ist nie friedlich passiert.

Das ist einfach eine deutsche Ideologie. Im Übrigen auch eine, die in eurozentrischer Manier die Kämpfe des globalen Südens verdreht.

Nicht Gandhis Ideologie brachte die Unabhängigkeit vom Kolonialismus, sondern Massenbewegungen, die Generalstreiks kannten, in denen Kolonialbeamt:innen zunehmend um ihre eigene Haut fürchten mussten und die zum Beispiel in Indien 1946 in Matrosen- und Soldatenaufstände mündeten. Es war gerade die halbe Revolution, die von den Bürgerlichen wie Gandhi ausgebremst wurde, die viele damalige nationale Revolutionen „akzeptabel und friedlich“ für die westliche herrschende Klasse gestaltete, die diese Länder weiter in der Abhängigkeit vom Imperialismus hielt und dementsprechend heute besonders anfällig für den globalen Klimawandel machte.

Von solchen Zuständen sind wir in Deutschland weit entfernt. Aber es würde helfen, wenn die, die in den ersten Reihen stehen, nicht dafür gescholten werden, dass sie sich wehren, wenn der behelmte schwarze Block mit Schusswaffen, Knüppeln, Giftgas und Vollkörperausrüstung sich zwischen sie und eine lebenswerte Zukunft stellt.

Der Tag wird Zehntausenden in Erinnerung bleiben. Als ein Tag der Solidarität, des Mutes und vielleicht auch als ein Tag, aus dem wir gemeinsam für die Zukunft lernen können, um die wir kämpfen.

Freitag, 13.1.23: Können wir Lützerath zurückgewinnen?

Diese Frage stellen sich heute alle, die sich um Lützerath aufhalten oder auf dem Weg hierher sind. Wir sagen: ja, wenn wir uns gut organisieren und entschlossen sind!  Während wir auf den morgigen Tag und die Großdemo hoffen, geht die Polizei brutal in Lützerath vor und versucht nicht nur das Morgen sondern unsere gesamte Zukunft im Namen der Profite von RWE zu zerstören. Einige mutige Aktivist:innen harren aber nach wie vor in Lützi aus, so wie Pinky und Brain, die mit ihrem Tunnel versuchen, den Kapitalismus, immerhin aber den Polizeieinsatz vorübergehend zu untergraben.

In Keyenberg sind mittlerweile viele, viele neue Gesichter und Menschen angekommen, wie auch viele, die aus Lützi geräumt wurden. Dass wir viele sind, gibt uns Hoffnung. Wir nehmen Greta Thunberg beim Wort, die heute aus Lützerath aufrief, sie morgen vor Ort zu sehen! Wir sind froh über die Solidarität in vielen deutschen Städten und aus dem Ausland. Die Besetzung der Grünen Büros ist absolut gerechtfertigt, Habecks Aussage, dass der „Kohlekompromiss“ ein Erfolg sei, ist Heuchelei. Dem Klima ist es egal, ob dank den Grünen Garzweiler II verkleinert wurde oder nicht, wenn Lützi fällt, fallen die 1,5 Grad – Versprechen gebrochen! Diese Leute verraten offenen Auges. Sie wissen das, wir wissen das.

Wer eine lebenswerte Zukunft will, kann nicht auf Habeck, Baerbock und Co. hoffen. Wir müssen die Grünen ablehnen, alle die auf der Welle von FFF in die Grünen eintraten und jetzt enttäuscht sind, sind das mit Recht. Sie sollten die Partei verlassen! Zwar ist es lobenswert, dass Luisa Neubauer und andere versuchen, in den Grünen für ihre Prinzipien zu kämpfen, aber es ist hoffnungslos in einer Partei, die auf bürgerliche Regierungsbeteiligung statt auf Klimaschutz pocht. Solange Luisa Neubauer und Co. weiter in dieser Partei ist, ist auch ihre Sitzblockade und ihr sich von den Cops- wegtragen-lassen letztlich unglaubwürdig und inkonsequent.

Wir brauchen mehr: eine revolutionär-sozialistische Partei, die sich internationalistisch organisiert und die es schafft, die Arbeiter:innen in Deutschland wieder gegen den Hauptfeind zu organisieren: Das deutsche Kapital und den deutschen Staat. Nicht weniger schulden wir Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die am 15. Januar 1919 umgebracht wurden, von der gleichen Klasse, die auch heute unsere Zukunft zerstört!

Donnerstag, 12.1.23: Polizei zerstört und gefährdet Leben im Namen von RWE

Seit Mittwoch morgen ist die Polizei in Lützerath, räumt und zerstört auch nachts. Sie missachtet dabei auch ihre eigenen Sicherheitsvorkehrungen: Es gab Fälle, wo Tripods laut Einschätzung der Kletterercops nur sicher mit Kränen geräumt werden könnten. Andere Polizist:innen fanden, dass “dies viel zu lange dauere” und legten selbst Hand an! Damit RWE schneller räumen und mehr Profite machen können, gehen die Cops für das Kapital auch über Leichen, wir haben den Hambi nicht vergessen!

Auch bei der Rodung neben Bäumen mit Baumhäusern riskieren sie Leben: Bei Starkwind sind nun etliche nicht mehr durch eine erste Reihe Bäume geschützt, die den Wind abfängt. Die jetzt umgestürzten Bäume könnten zusammenbrechen, ganz davon abgesehen, dass bei den Rodungen keine Sicherheitsabstände eingehalten wurden!

Während die rechte Presse von Randalen und Sinnlosigkeit seitens der Klimabewegung spricht, schweigt sie sich darüber aus, wie die Polizei Lützerath zerstört.

Von Keyenberg startete am Morgen eine Demo mit rund 600 Personen in Richtung Lützerath. Es gab von einem Teil der Demonstrant:innen den Versuch, über die Felder in Richtung des Dorfes zu gehen, einige blockierten längere Zeit eine Zufahrtsstraße der Polizei.

Ein Genosse von Revolution wurde dabei aus der angemeldeten Demonstration festgenommen und einer Identitätskontrolle unterzogen, in der er mehr als 3 Stunden in Wind und Regen stehen musste. Grund: Er hatte eine Fahne!

Trotz allem war die Solidarität unter den Aktiviti sehr groß. Es wird sich geholfen und freundlich begegnet, trotz widriger Umstände.

Besonders zynisch übrigens: Während große Teile des geretteten Keyenbergs und umliegender Dörfer RWE gehören und leer stehen, sind Geflüchtete in Notunterkünften und nicht in eigentlich vorhandenem Leerstand untergebracht. RWE enteignen heißt um Garzweiler also auch, Wohnraum zur Verfügung stellen, der von Menschen gebraucht wird!

Jetzt am Abend gehen die Cops in das Camp in Keyenberg und versuchen Personenkontrollen durchzuführen! Wenn Ihr her kommen wollt, passt auf Euch auf! Checkt den Lützi-Ticker!

Wir hoffen vor allem auf Unterstützung am Wochenende, um das Blatt erneut zu wenden!

Lützi bleibt – im Baumhaus und im Tunnel, in Keyenberg im UAC, in der besetzten Geschäftsstelle der Grünen!

Mittwoch, 11.1.23: Es wird ernst

Es wird ernst! Heute hat die Polizei mit der eigentlichen Räumung begonnen. Am Morgen wurde das Dorf gestürmt, über 1000 Cops sind da und versuchen mit RWE Lützerath einzuzäunen. Barrikaden und Strukturen werden geräumt, außerdem die großen Hallen.

Die Presse – an der Spitze WELT, Bild und Co – versucht dabei, den legitimen Protest zu diffamieren und als gewalttätig darzustellen. Die Gewalt geht hier aber eindeutig von den Cops und RWE aus! Schmerzgriffe, Pfeffer, Schubsen, Schlagen und mit Brachialmaschinen Lützi platt machen, was ist das anderes als rohe kapitalistische Gewalt??

Wir lassen uns nicht spalten! Solange aufeinander acht gegeben wird, haben alle Formen des Protestes Platz, ob friedlich oder „anderweitig“, ob in Lützi selbst, im UAC (Unser aller Camp) in Keyenberg oder in deiner Stadt!

Kommt ins „Unser aller Camp“, kommt nach Lützi, kommt am Samstag zur Großdemo gegen Polizei, RWE, die Landesregierung und die Grünen, die das hier mitzuverantworten haben!

Info zu den Aktionen und Protesten: https://luetzerathlebt.info/

Spendenkonto: https://luetzerathlebt.info/spendenkonto/

Dienstag, 10.01.23: Die Polizei provoziert: erfolglos.

Die Polizei hat begonnen, Strukturen im Tagebauvorfeld und auf der Landstraße 277 zu räumen, mit dem Ziel, ihre Zauntrasse zu errichten. Währenddessen befestigen Straßenbaumaschinen die Wege für Räumfahrzeuge.

Aus 14 Bundesländern reisen Polizist:innen an. Die Räumung des Orts wird ab morgen oder übermorgen vermutet. Aktuell ist aber der Zugang nach Lützerath weiterhin physisch offen. Gleichzeitig stoppt und schikaniert die Polizei Reisende mit Trekkingrucksäcken und Zelten bis zu Bahnhöfen in Düsseldorf.

Auch in und um Lützerath kam es zu Provokationen der Polizei, die mit Schubsen und Schlägen versuchte, Sitz- und Stehblockaden einzuschüchtern oder aufzubrechen.

Gerade im Angesicht der breiten öffentlichen Solidarität und der inneren Widersprüche in der schwarz-grünen Landesregierung ist die Taktik von Polizei und Regierung vermutlich, ein Narrativ zu schaffen, in dem wir Besetzer:innen „den ersten Stein“ warfen, um die folgende und bereits jetzt geplante massive Brutalität bei der Räumung Lützeraths zu rechtfertigen. Vorerst ist dieses Kalkül nicht aufgegangen.

Wir betonen an dieser Stelle ausdrücklich, dass die systematische Gewalt von dem Konzern RWE ausgeht, der dutzende von Quadratkilometern Land zerstören und Millionen Tonnen Kohle für seine Profite verfeuern will. Dies versucht die Landesregierung, durch den Einsatz und die Vorbereitung eines millionenschweren und brutalen Polizeieinsatzes durchzusetzen. Widerstand ist legitim und gerechtfertigt.

Montag, 09.01.23: Die Ruhe vor dem Sturm

Die Polizei baut weiter im Tagebauvorfeld ihr Lager auf. Bisher tut sie dies eher vorsichtig. Es gibt vorrangig ein Abtasten der Kräfte und der Situation, keine ausgedehnten Konfrontationen.

Zwei Tripods direkt vor der Polizei konnten so den ganzen Tag gehalten werden. Überall entstehen Barrikaden und Strukturen zur Verhinderung der Räumung. Es gibt etliche Baumhäuser und verschanzte Höfe.

In der lokalen Bevölkerung herrscht viel Unterstützung – ein Umstand, der aktuell kaum in den Medien erwähnt wird.

Ab Mittwoch wird mit dem offiziellen Beginn der Räumung gerechnet. Dies ist natürlich eine Vermutung, kein gesicherter Fakt. Eventuell ist der Zutritt zu Lützerath auch danach noch möglich, wenn auch unter erschwerten und kriminalisierten Bedingungen.

In jedem Fall steht nun aber das zweite Camp in  Keyenberg, das als Rückzugsort und alternativer Ausgangspunkt für Protest dient.

Die Stimmung ist motiviert. In Lützerath haben sich vorwiegend jene Jugendlichen versammelt, die vor vier Jahren mit Fridays for Future begannen, aktiv zu werden. Viele von ihnen haben sich über ihre Erfahrungen und Überlegungen antikapitalistischen Ideen zugewandt.

Sonntag, 08.01.23: Belagerungszustand und Volksfest – Lützerath vor der Räumung

Nach der Ausrufung des Tags X fand heute der letzte Dorfspaziergang nach Lützerath statt. 5.000  – 7.000 Menschen nahmen daran teil.

Die Unterstützung ist sehr breit aufgestellt. So haben auch prominente Kulturschaffende wie Jan Böhmermann und Henning May in den letzten Tagen ihre Solidarität mit dem Widerstand in und um Lützerath erklärt.

Das zeigte sich auch am heutigen Tag. Durch Shuttlebusse herangebracht und von der Küche für Alle versorgt, konnten so viele Leute wie nie zuvor durch Lützerath ziehen.

Während die zentrale Kundgebung stattfand, musste der nahe Kohlebagger stillstehen, da sich zu viele Menschen im Tagebauvorfeld befanden.

Währenddessen wurden im Dorf und auf den Zubringerstraßen zahlreiche Barrikaden errichtet. Nicht nur zahlenmäßig, sondern auch moralisch scheint der Widerstand nach diesem Wochenende so stark zu sein wie nie zuvor.

Die Stimmung im Ort war friedlich und kämpferisch. Neben Jugendlichen in Maleranzügen und Vermummung arbeiteten angereiste Familien gemeinsam am Aufreißen des Pflasters oder dem Ausheben von Gräben, um Räumfahrzeuge zu stoppen.

Der große Andrang drängte auch die Polizei zurück. Am Abend wurde die Lage unübersichtlich.

Der heutige Tag hat uns Kraft und Zuversicht gegeben. Wenn sich die Stimmung, die heute an der Abbruchkante herrschte, auf das Bundesgebiet überträgt, können wir gewinnen und Lützerath bleibt!

Weitere Artikel zu Lützerath auf unserer Website

Tag X: Lützerath verteidigen

Lützerath, die Umweltbewegung und die Grünen

„Nix bliev wie et wor“: Lützerath verteidigen!

Auf geht’s, ab geht’s: Welche Strategie brauchen wir als Klimabewegung in Zeiten von Krieg & Krise?




Tag X! Lützerath verteidigen!

Aufruf der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1209, 4. Januar 2023

Lützerath hat den Tag X ausgerufen. Dies kommt als Reaktion auf Maßnahmen von RWE und der Polizei. Diese haben damit begonnen, Strukturen anzugreifen, die von den Bewohner:innen des Dorfes aufgebaut wurden, um es zu erhalten. Ebenfalls wurden eine Zufahrtsstraße für schweres Gerät und Wälle aufgeschüttet als auch Zäune zur Abschirmung des Dorfes aufgestellt.

Das heißt: Die Räumung des besetzten Weilers hat begonnen. Unsere Anstrengungen, diese zu verhindern, müssen nun ebenfalls verstärkt werden. Wir als Arbeiter:innenmacht möchten hierfür einen Beitrag leisten.

Wir möchten betonen: Wir stehen nicht vor einer selbstverständlichen Niederlage nach einem langen Kampf. Es gibt gute Grundlagen für eine Verteidigung. Die Aktivist:innen vor Ort haben diese zwei Jahre lang mit ehrlicher, harter politischer Arbeit vorbereitet. Hierfür muss ihnen von allen Spektren der Linken und der Klimabewegung Respekt gezollt werden.

Diese neuen Einwohner:innen Lützeraths sind bereit, den Ort, den sie mittlerweile ihr Heim nennen, und mit diesem die 1,5-Grad-Grenze zu verteidigen. Es gibt eine breite Verankerung und Unterstützung in der Region, im Kreis Heinsberg, unter den Dörfern an der Kante. Hunderte weitere Aktivist:innen sind bereits vor Ort. Tausende sollten sich in den nächsten Tagen anschließen. Voraussichtlich bis zum 09.01. wird es möglich sein, legal zur Mahnwache und damit in das Dorf zu gelangen. Es sollte unser Ziel sein, dass Zehntausende an der Großdemonstration in der Region am 14. Januar teilnehmen.

Vor einer Entscheidung

Aber die Situation drängt auf eine Entscheidung. Die Gegenseite weiß dies und so wird die Schlinge zugezogen: von der schwarz-grünen Landesregierung, von RWE und der willfährigen Polizei.

Es bahnt sich hier eine Entscheidung an, welche für die künftige Klimabewegung konstitutiv und für die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels zentral sein dürfte. Dennoch, Lützerath ist für uns keine Offenbarung, auch wenn dies für viele so sein mag, die große Hoffnungen auf einen Richtungswechsel unter einer grünen Bundesregierung legten. Es handelt sich auch nicht um einen Fehler der Grünen, wie Luisa Neubauer sagt.

Die Räumung des Weilers und die Ausdehnung des Kohletagebaus Garzweiler II nennt sich in der Welt dieser Partei schlicht Realpolitik. Ein integraler Teil davon sind zwangsläufig auch die regelmäßigen Beteuerungen, dass man diese eigentlich nicht betreiben wolle. Sie wollten auch die A49 nicht und lassen sie bauen. Sie wollten auch Stuttgart 21 nicht und lassen es bauen. Ach, sie wollten so vieles nicht. Aber noch viel mehr wollen sie Teil dieses Systems sein. Die Grünen haben eine grundlegende Transformation vollzogen, in der sie nicht mehr in erster Linie als grüne, sondern als bürgerliche Partei glaubwürdig sein wollen. Ihr vorderstes Ziel ist es, Teil der bürgerlichen Regierung zu sein.

Das aber bedeutet, dass sie für eine Klimabewegung keine – gar keine! – Glaubwürdigkeit, kein Vertrauen mehr besitzen darf, die ihren eigenen Slogan ernst nimmt, System Change statt Climate Change zu erwirken! Lützerath fällt nicht, weil die Grünen einen Fehler machen, sondern weil sie aktiv die Räumung Lützeraths vorantreiben. Eine Partei, die den Kapitalismus verteidigt, muss auch RWEs Interessen durchsetzen.

Aber was muss passieren, damit Lützerath nicht zur Realdystopie wie der Danni und Hambi wird? Reicht unsere jetzige Verteidigung? Wir werden es sehen. Aber selbst wenn bis zum Ende der Räumungs- und Rodungssaison durchgehalten wird, selbst wenn der Einsatz noch so teuer wird – was passiert dann? RWE wird nicht nachlassen, hat Lützerath sowieso fast schon zur Hälfte umbaggert, koste es was wolle. Im Hambi nahm man auch den Tod in Kauf. Individuelle Militanz, verklebte Fingerkuppen und Entschlossenheit alleine, so sehr sie moralisch gerechtfertigt sind, sind auf Dauer nicht genug. Was also hilft da?

Klimaklassenkampf!

Was uns bisher fehlt, ist: Klimaklassenkampf, eine Stilllegung von RWEs Tagebau durch die, die dort arbeiten, ein wirklicher Klimastreik: Autobänder, Bahnen, Rüstungsfabriken anhalten, damit Lützerath bleibt, damit wir das 1,5-Grad-Ziel einhalten. Weil es das nicht gibt, ist die Besetzung natürlich das aus der Not geborene Mittel der Wahl, bewundernswert, definitiv unterstützenswert, aber gegen die Macht von Staat und Konzernen strategisch unterlegen.

Über die unmittelbaren praktischen Aufgaben einer Besetzung hinaus brauchen wir die Debatte, wie wir jene gewinnen können, die den Profit der Klimakiller erarbeiten. Etliche von ihnen wollen in ihrer Rolle als Lohnabhängige dieser Konzerne nichts von der der Klimabewegung wissen. So erscheint es zumindest. Das ist definitiv auch Schuld von Gewerkschaftsführungen, die selbst am fossilen Tropf hängen, allen voran die IG BCE und die IG Metall.

Vielen ist aber vollkommen klar, dass das, was sie jeden Tag bauen, produzieren oder konstruieren, nichts mit Nachhaltigkeit zu tun hat. Allerdings gibt es keine alternative Strategie, die Arbeitsplätze erhält oder neue schafft und das mit sozialer Sicherheit verbindet, die nicht von den Beschäftigten, sondern den Kapitalist:innen bezahlt wird. Immerhin, es gibt erste Sektoren unter Beschäftigten bei Bus und Bahn oder bei regenerativen Energiebetreibern, aber auch in der Metallindustrie, die beginnen, die Verhältnisse in Frage zu stellen.

Das bisher größte Problem in unserem Kampf bleibt aber, dass es eine weitgehende Trennung zwischen der Klimabewegung und denen gibt, die täglich im fossilen Kapitalismus arbeiten müssen. Wie viele fuhren zu Ende Gelände nach Hamburg und wollten von den Hafenstreiks nichts wissen? Wie viele kämpferische Gewerkschafter:innen kommen nicht darauf, selbst mal eine Besetzung in Augenschein zu nehmen, den Austausch mit Aktivist:innen auf Klimacamps zu suchen. Wir sollten deswegen nicht glauben, dass viele Klimaaktivist:innen nicht selbst Lohnabhängige sein mögen oder umgekehrt. Es gibt aber bisher keine organischen und organisatorischen Verbindungen, die über die Bekenntnis zum gemeinsamen Kampf hinausgehen.

Wir als Arbeiter:innenmacht sehen uns als Organisation, die diese Verbindungen schaffen und dies gemeinsam mit allen tun möchte, die dieses Ziel teilen. Gleichzeitig sind wir uns bewusst, dass dies ein Unterfangen ist, dass letztlich nur gegen den Widerstand der konservativsten Elemente sowohl in der Gewerkschafts- als auch der Umweltbewegung durchgesetzt werden kann.

Es braucht aber auch Sofortmaßnahmen.

  • Wir rufen euch auf: Bringt euch und eure Organisationen jetzt in die Verteidigung Lützeraths ein!

  • Beteiligt euch massenhaft an der Besetzung vor Ort! Unterstützt sie finanziell, logistisch oder medial, insbesondere, wenn ihr nicht selbst in Lützerath sein könnt!

  • Beteiligt euch an der Demonstration nach Lützerath am 14. Januar! Beteiligt euch auch an Solidaritätsaktionen, Demonstrationen und Kundgebungen im Bundesgebiet! Wo möglich plädieren wir insbesondere für das Mittel politischer Betriebsversammlungen, die sich gegen die Räumung aussprechen.

Aktuelle Infos unter: https://luetzerathlebt.info

Vor allem muss die Verteidigung Lützeraths einen kollektiven Charakter annehmen. Bringt Erklärungen in Gewerkschaftsgliederungen, Mietervereinen, sozialen Verbänden, Parteien und Vereinen ein, die den Erhalt Lützeraths fordern, die Rodungen verurteilen und Maßnahmen eurer Organisation ankündigen! Sendet diese Erklärungen auch an die Landesregierung in NRW! In ihnen sollten eure Organisationen oder Gliederungen sich aber auch dazu verpflichten, dem Kampf gegen die Rodung finanziell, logistisch, medial, rechtlich und/oder durch die Mobilisierung von Protesten zu helfen.

Die Beteiligung an der Besetzung und an der Demonstration am 14. Januar ist eine wichtige Sache. Aber wir werden Rodung und Räumung nicht allein vor Ort stoppen können. Wir müssen den politischen Preis für die schwarz-grüne Landes-, für die Bundesregierung und für RWE durch große und vor allem koordinierte bundesweite Proteste in die Höhe treiben. Gegen die Räumungsversuche sollten in Düsseldorf, in Berlin und weiteren Städten möglichst große Aktionen auf die Beine gestellt werden. Hierfür sollten wir nicht nur den linken Flügel der Klimabewegung und der linken Bewegungen gewinnen. Wir sollten auch die Grünen, die SPD und die Gewerkschaftsführungen auffordern, für Lützerath zu mobilisieren – gerade um die inneren Widersprüche in diesen Organisationen voranzutreiben und durch Aktion und gemeinsame Erfahrung jene an der Basis für eine alternative Politik zu gewinnen, die sich zunehmend von der Politik der regierenden Parteien verraten fühlen.

Lützerath ist eine der vielen Chancen, die Trennung zwischen Klimaaktivist:innen und Arbeiter:innenklasse zumindest im Ansatz zu überwinden, Militante für Klimaklassenkampf zu gewinnen. Besser, wir nehmen sie wahr. Noch drei Jahre, bis die 1,5 Grad gerissen werden könnten, eine Grenze, die zwischen den Baggern und Lützi verläuft.

  • Solidarität mit Lützerath! Alle Dörfer bleiben! Klima schützen ist kein Verbrechen!



Lützerath, die Umweltbewegung und die Grünen

Leo Drais, Neue Internationale 269, November 2022

Es gibt Orte, von denen kaum wer wüsste, wären sie nicht zum Schnittpunkt von Umweltzerstörung und Kampf dagegen geworden. Der Hambacher und Dannenröder Wald sind solche Orte. Oder – Lützerath.

Die Hälfte des kleinen Weilers ist bereits geschliffen, der letzter offizielle Einwohner, der Landwirt Eckardt Heukamp, zog Anfang Oktober aus, nachdem er vor Gericht gegen RWE verloren hatte. Gerade mal 50 Meter trennen den Ort noch vom Abgrund des Energieriesen, des Tagebaus Garzweiler II. Und doch ist Lützerath nicht ausgestorben. Mehr als 200 Klimaaktivist:innen halten es besetzt – 10 mal mehr, als der Ort offizielle Bewohner:innen hatte.

Der Artikel könnte also auch heißen: Solidarität mit „Lützi“! Oder: Wie kann Lützerath gehalten werden?

Warum Lützerath?

Die besondere Brisanz Lützeraths ergibt sich aus einer Studie, der zufolge die 1,5-Grad-Grenze  sinnbildlich zwischen der jetzigen Abbruchkante und dem Ort verläuft. Wenn RWE die unter Lützerath liegende Braunkohle verstromt, ist allein dadurch das CO2-Budget, das Deutschland zur Einhaltung des Pariser Klimaabkommens noch zusteht, verbraucht.

Natürlich steht und fällt das nicht allein hier. Selbst wenn das braunschwarze Nichts nicht weiter gefräst wird, wird der deutsche Kapitalismus jedes noch so weit gesteckte Klimaziel verfehlen. Allein die Autoindustrie sorgt schon dafür, früher oder später.

Trotzdem ergibt sich aus der Lage Lützeraths nicht nur eine hohe Symbolwirkung des Protests gegen Umweltzerstörung, sondern auch tatsächlich eine reale ökologische Notwendigkeit, dass der Ort nicht fällt.

Dabei schien es immer wieder so, dass er quasi fast und im Grunde eigentlich schon beabsichtigt werde, gerettet zu werden. In etwa so klangen die Landesregierung von NRW, die Ampel vor gut einem Jahr, der Bundestag noch diesen Sommer. So unverbindlich wie geheuchelt.

Und dann, am 4. Oktober, hauen RWE, NRW-Wirtschaftsministerin Neubaur (Grüne) zusammen mit Robert Habeck raus, dass Lützerath abgebaggert werde. Seitdem kann jeden Tag der Räumungsbefehl ergehen. Dafür bestrebe man, also sei man dafür, solle auf jeden Fall schon 2030 aus der Braunkohleverstromung ausgestiegen werden. Ja, ja. Der Physik des Klimas ist das egal, nachfolgende Generationen werden‘s danken.

Heuchelei und Lüge – Bündnis ’90/Die Grünen

Wie schon im Hambi und Danni wird der Marschbefehl auf Lützi unter Mitwirkung der Grünen erteilt, als Teil der Landesregierung und der Ampel sowieso. Im Grunde sind sie zur Zeit die konsequenteste, zugleich auch die verlogenste Partei im Interesse des deutschen Kapitalismus.

Denn um diesen geht es den Grünen als bürgerlicher Partei eigentlich. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine trieb sie dazu, konsequenter und offener ihren Klassenstandpunkt zu beziehen. Der rechte Flügel um Habeck, Baerbock, Hofreiter usw. nutzt die Lage, um die Grünen von ökologisch sowieso völlig unzureichenden Prinzipien zu befreien. Der Kampf um die Ukraine, bei dem die Grünen auch gleich mal den letzten pazifistischen Rest ausmisten, erfordere eben „Realpolitik“.

Und das bedeutet, an der Spitze einer Macht wie Deutschland, einem imperialistischen Land eben, auch einen Wirtschaftskrieg gegen den russischen Konkurrenten zu führen. Die Unabhängigkeit vom Menschenrecht verachtenden russischen Gas soll mit Menschenrecht verachtendem saudischen und katarischen erkauft werden (auch wenn der Katar-Deal erstmal platzte), garniert mit Frackinggas aus den USA und eben rheinischer Braunkohle. Auch am AKW-Strom hält man noch etwas länger fest.

Wir stellen hier auch gar nicht in Abrede, dass die Versorgungssicherheit der Bevölkerung mit Strom und Wärme sichergestellt werden muss. Aber die Politik der Grünen ist diesbezüglich verlogen und geheuchelt.

Solange ein Großteil der Kosten auf die Bevölkerung abgewälzt wird, ohne die Überprofite der Energieriesen anzurühren, solange VW in seinen werkseigenen Kraftwerken Gas verfeuern darf, um eine völlig unökologische und ineffiziente Verkehrsweise zu produzieren, solange der schleifende Ausbau erneuerbarer Energien mit dem Ausbau des Autobahnnetzes gepaart wird und Koalitionsfrieden und kapitalistische „Realpolitik“ das Agieren bestimmen, kann diese Politik nicht anders bezeichnet werden.

Es geht den Grünen um die Konkurrenzfähigkeit der energieintensiven deutschen Industrie und nur zweitrangig um Versorgungssicherheit. Für letztere ist die Kohle unter Lützerath wie überhaupt von Garzweiler, Hambach und Inden kaum erforderlich, schon gar nicht bis 2030.

Und, wir wollen hier auch keine Illusionen erzeugen, dass es irgendwann anders sein könnte. Die Grünen werden auch in Zukunft Wälder roden, E-Auto-Fabriken bauen und Kriege führen lassen und sagen „Wir haben das nie gewollt, wir können nur nicht anders.“ Wenigstens ist der zweite Halbsatz für eine Partei, die glaubt, man könne Kapitalismus entgegen jeder Logik auch auf ökologisch trimmen, tatsächlich ein bisschen ehrlich. Als bürgerliche Partei können sie tatsächlich nicht anders, und alle, die vielleicht motiviert durch Fridays for Future mit ernsthaften Ambitionen in die Partei eintraten und sich jetzt enttäuscht sehen, sind gut beraten, sie zu verlassen.

Luisa Neubauer und das angeblich Radikale

Eine besondere Rolle im geschäftigen Heucheln kommt dabei Aktivist:innen wie Luisa Neubauer zu. Einerseits steht sie mit beiden Beinen fest in den Grünen, ihr Kopf ist aber einer der bekanntesten von Fridays for Future und damit der Klimabewegung in Deutschland. Was hier an Widerspruch erscheint, ist aber eigentlich keiner, nur der (Selbst-)Betrug ist größer.

Denn wenn sie einerseits auf dem Parteitag der Grünen eine noch so vehement vorgetragene Abrechnung über verfehlte Klimapolitik präsentiert (nicht ohne Anerkennung, dass der Krieg kurzfristig mehr andere fossile Energie erfordert, nicht ohne lobende Worte gegenüber jenen in Parlamenten und Regierungen) und dann nach Lützi fährt und für dessen Verteidigung eintritt, versucht sie, eine Schnittstelle zwischen der Praxis einer kapitalistischen Partei und einer radikaleren Protestform der Umweltbewegung zu bilden.

De facto bedeutet das aber nicht, die Grünen zu einer Klimapolitik zu treiben, die ihren Namen verdient. Es bedeutet im Gegenteil, Flankenschutz für Habeck und Neubaur durch alle sich selbst „radikal“ gerierenden Teile der Grünen. Deren angebliche und von manchen bewunderte geringere Korrumpierbarkeit ist schlicht Pseudoradikalität, hinter der Grünen und NGOs bisher letztlich die Treue gehalten wird.

Es ist nicht von ungefähr, dass die mit den Grünen eng verbundene Fridays-for-Future-Spitze schon wenige Monate nach Geburt der Bewegung von deren linkesten Teilen, diplomatisch gesagt, viel Kritik einfing.

Es ist ja der Verdienst von Luisa Neubauer, Jakob Blasel, Carla Reemtsma und Co., dass die Bewegung, die sich so sehr davor fürchtete, von anderen politischen Kräften vereinnahmt zu werden, von Anfang an von bürgerlich-grüner Politik dominiert und undemokratisch diszipliniert wurde. Wenn diese Köpfe jetzt davon sprechen, dass man das System radikaler in Frage stellen müsse und so weiter, dann leiern sie damit nur einen Begriff von Radikalität runter, ähnlich radikal wie ein Klimastreik, der so wirklich nie einer war, wenn dabei die gesamte Arbeiter:innenklasse weiterarbeitet.

Ein radikaler, das Problem an der Wurzel packender Kampf ist das aber nicht.

Tatsächlich Radikales

Viel näher kommen dem die Besetzer:innen von Lützerath. Sie verbinden den Kampf gegen die Klimakatastrophe tatsächlich mit Antikapitalismus, stellen der dystopischen, toten Grube des Konzerns eine kleine Utopie entgegen.

Dabei ist nicht das Mittel Gradmesser der Radikalität. Wenn sich der „Aufstand der letzten Generation“ an der Straße festklebt, aber in seinen Zielen nicht viel mehr als ein Tempolimit auf Autobahnen und ein 9-Euro-Ticket fordert, ist das nicht radikal. Radikal wäre, den Kapitalismus infrage zu stellen. In diesem Sinn ist die Besetzung von Lützi tatsächlich radikal.

Aber sie ist auch Ausdruck zweier Schwächen. Erstens gibt es in Deutschland dreieinhalb Jahre nach FFF keine Millionen Schüler:innen mehr auf den Straßen, ist die Umweltbewegung gespalten in den unvermeidlichen Glauben an die Grünen, denn Glauben wird ja wichtig, wenn man nicht mehr weiter weiß, und in einen kleineren, sich selbst als radikal verstehenden Teil, welcher besetzt und zivilen Ungehorsam leistet. Wobei, wie gesagt, das mit der Radikalität ja so eine Sache ist.

Die zweite, entscheidendere Schwäche ist, dass selbst diese radikaleren Teile der Umweltbewegung außerhalb einer definitiv richtigen Besetzung auch nicht so ganz weiß, wie RWE, ja der ganze Kapitalismus in die Knie gezwungen werden können, was gerade auch der anarchistischen Prägung dieses Teils der Bewegung entspricht.

Aber die direkte Aktion ersetzt keine Analyse, kein konkretes Programm. Diskussion darum gibt es natürlich (darum ja auch dieser Artikel). Wir denken, dass ohne eine Verbindung von Arbeiter:innen- und Umweltbewegung beide zum Scheitern, in gewisser Weise mit der Menschenwelt zum Untergehen verdammt sind. Leider ist diese Verbindung, die im Endeffekt nur ein revolutionäres Programm gegen den Kapitalismus entzünden kann, weit weg, auch wenn die Mehrheit der Beschäftigten bei VW oder RWE sicher nicht den Klimawandel leugnet und es Ansätze von Diskussionen darüber gibt, wie die Industrie umgestellt werden muss, schnellstmöglich.

Das nimmt ihr aber nicht die Notwendigkeit. Ohne Enteignung der gesamten Industrie unter demokratischer Kontrolle, ohne demokratischen Plan zur schnellstmöglichen Umstellung der Produktion sind wir auf das Hoffen und Warten und Druck Machen auf (grüne) Regierungen beschränkt.

Nicht nur kann eine schnellstmögliche Umstellung auf Erneuerbare und die Lösung ihrer Verfügbarkeitsprobleme nur mit dem Know-how der Arbeiter:innenklasse passieren, es kann auch nur durch sie mit Streiks und Betriebsbesetzungen erkämpft werden. Weil aber natürlich weder SPD, LINKE oder Gewerkschaftsführungen für sowas eintreten, braucht es die radikalen Teile der Umweltbewegung, um wenigstens die Debatte darum zu suchen. Es braucht – Klimaklassenkampf!

In diesem Sinne: Solidarität mit Lützi! Gegen jede Räumung und Repression der Besetzung! Für eine Radikalisierung, die die fossile Welt tatsächlich begräbt!




Streik der Unikliniken NRW beendet

Jürgen Roth, Infomail 1193, 21. Juli 2022

In der Nacht von Montag auf Dienstag einigten sich die Leitungen der 6 Universitätskliniken in Nordrhein-Westfalen (Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln, Münster) auf einen Tarifvertrag Entlastung (TVE).

Hartes Brot

Der nach Gewerkschaftsangaben längste Streik im Gesundheitswesen ist vorbei. Nach 79 Tagen Arbeitskampf einigten sich beide Seiten auf einen TVE. Es war beileibe kein leichter!

Anfang des Jahres hatten die Beschäftigten ein 100-Tage-Ultimatum für einen TVE verabschiedet. Das Kalkül dahinter: die damals amtierende schwarz-gelbe Landesregierung werde wohl kaum riskieren, dass dieses 2 Wochen vor der Wahl auslaufe und ein großer Streik ausbreche. Sie irrten gründlich! Alter und neuer Gesundheitsminister Laumann (CDU) und Landesregierung schoben bürokratische Probleme vor: Die Unikliniken könnten nicht aus dem Tarifvertrag der Länder (TV-L) ausscheiden, dies sei auch nicht im Interesse ver.dis.

Was sie „vergaßen“ zu erwähnen: Sie hatten sich gar nicht erst bei den Verbänden der „Landesarbeitgeber:innen“ für die Aufhebung von deren Blockadehaltung gegen einen bundesweit geltenden TVE eingesetzt, sondern drohten mit der Keule eines Rauswurfes aus der Tarifgemeinschaft, um auch den landeseigenen AdL (Arbeitgeberverband des Landes NRW), in dem sie ja schließlich die Unternehmensseite verkörpern, nicht mit solchem „Schnickschnack“ zu belasten.

Die Streikenden waren überdies mit einer Klage der Uniklinik Bonn vor 2 Arbeitsgerichtsinstanzen zwecks einstweiliger Verfügung zur Aussetzung des Streiks sowie einer nahezu vollständigen Mediensperre über ihre Arbeitsniederlegung konfrontiert. Das hielt sie nicht ab, ihre Stärken eindrucksvoll zu demonstrieren. Notdienstvereinbarungen sahen Bettensperrungen (1.800) und Abteilungsschließungen (50) vor, auch wenn das Landesarbeitsgericht Köln auf Klage der UKB hin die Öffnung zusätzlicher 25 OP-Säle in 2. Instanz landesweit anordnete. Machtvolle Kundgebungen und Demonstrationen, zuletzt am 21.6. in Münster und am 29.6. in Düsseldorf, Solidaritätsbekundungen bis in weite Teile der sog. Zivilgesellschaft hinein und die Vorstellung des Schwarzbuchs Krankenhaus in einer gerammelt vollen Kölner Kirche trugen das Ihrige dazu bei, der Verweigerungshaltung der „Arbeitgeber:innenseite“ die Stirn zu bieten.

Ergebnis

2018 hatte ein fast gleich langer Streik an den Unikliniken Düsseldorf und Essen dort bereits zu einer Entlastung des Personals geführt. Doch wurde dieser von ver.di im Vorfeld der diesjährigen Auseinandersetzungen gekündigt. Die Unterschreitung der vereinbarten Mindestpersonalbesetzung blieb weitgehend konsequenzlos. Nach Abstimmung an den 6 Klinikstandorten segnete am Dienstagnachmittag auch die 75-köpfige Tarifkommission die Einigung mit überwältigender Mehrheit ab. Ob der Rat der 200 tatsächlich dabei wie versprochen das letzte Wort behielt, erschließt sich aus den Medienberichten nicht. Seit Mittwochmorgen ist der Streik ausgesetzt.

Der TVE gilt erst ab 1.1.2023. Für große Teile des Pflegepersonals wurde ein schichtgenaues Verhältnis von Beschäftigten zu Patient:innen festgelegt. Wird dieses unterschritten bzw. kommt es zu anderweitigen zusätzlichen Belastungen, erhalten die Beschäftigten entweder finanziellen Ausgleich oder einen Belastungspunkt. Für 7 gibt es 1 Tag Freizeitausgleich. Im 1. Jahr der Umsetzung können so bis zu 11, im 2. 14 und im 3. 18 Tage herauskommen. Erstmals wurden für viele Gruppen außerhalb der Pflege Mindestbesetzungen und Entlastungsausgleiche vereinbart (Radiologie, Betriebskitas, Therapeut:innen). Auszubildende erhalten mehr persönliche Anleitung und Tage für die Selbstlernzeit, Mindeststandards für Praxisanleitung und Zahl der Lehrkräfte sowie Belastungsausgleich bei Unterschreitungen.

Das kurze Streichholz zog das Personal in Servicebereichen, IT und Technik. Hier wurden pro Krankenhaus lediglich 30 zusätzliche Vollzeitstellen ausgehandelt, was zu vielen Diskussionen in den Belegschaften geführt haben soll.

Bewertung

Das Berliner Ergebnis wurde übertroffen, weil erstmals auch außerpflegerische Bereiche erfasst wurden. Katharina Wesenick, Landesfachbereichsleiterin Gesundheit im ver.di-Landesbezirk NRW, spricht von einem „wichtigen Etappensieg“, man habe die eigene Gesundheit und das Patient:innenwohl gegen die „Profitlogik“ im Krankenhaus durchsetzen müssen. An der Streikbewegung seien der demokratische Prozess, die große Beteiligung der Beschäftigten und deren Selbstermächtigung gewesen. Tausende hätten sich nicht nur am Streik, sondern auch als Expert:innen ihrer Arbeitssituation an Aushandlungsprozessen beteiligt.

Diesem Euphemismus können wir uns nur bedingt anschließen. Zum Ersten: Die Kliniken haben anderthalb Jahre Zeit, ihre Computersysteme auf das neue System umzustellen, was sich nicht in nennenswerter Aufstockung der IT niederschlägt! Für diese Übergangsphase gelten die vereinbarten Belastungsausgleiche nicht, sondern pauschal 5 Entlastungstage (nur) fürs Pflegepersonal.

Zum Zweiten: Interventionsmöglichkeiten des Personals bei Unterschreitung der Mindestbemessungsgrenzen wie Aufnahme- und Behandlungsstopps inkl. Bettensperrungen und Abteilungsschließungen finden ebenso wenig Niederschlag wie in Berlin. Kommt es also bei gleicher oder zunehmender Zahl von Fällen bzw. Fallschwere nicht zur Neueinstellung von Personal – bundesweit fehlen 200.000 Stellen allein in der Pflege –, droht eine Art von Langzeitarbeitskonto, dessen freie Tage sich zwar hübsch summieren, die die Beschäftigten aber mit ins Grab nehmen können.

Zum Dritten: Der Häuserkampf geht weiter, auch wenn Wesenick von einem flächendeckenden Ergebnis faselt. Schlimmer noch: Der TVE gilt nicht für den AdL! Der neue Landtag änderte das Hochschulgesetz und signalisierte so grünes Licht für das Ausscheiden der Unikliniken aus der Tarifgemeinschaft zwecks Abschlussmöglichkeit für einen TVE. In einem Anerkennungstarifvertrag ist festgelegt, dass sie in den kommenden 7 Jahren sämtliche Tarifregelungen des öffentlichen Dienstes der Länder (TV-L) automatisch übernehmen (Arbeitszeit, Entgelt, betriebliche Altersversorgung … ). Und danach? Bedeutet dies etwa, dass das gewerkschaftlich organisierte Uniklinikpersonal während der nächsten 3 – 4 TV-L-Runden außen vor bleibt, wo es doch neben angestellten Lehrer:innen und Erzieher:innen in den letzten Jahren deren Speerspitze darstellte? Die Befürwortung der Änderung des Hochschulgesetzes durch ver.di-NRW stellt also ggü. Berlin eine Verschlechterung dar.

Zum Vierten: Immer wieder suggerierte die ver.di-Führung ihren Mitgliedern, ein TVE finanziere sich wie von selbst. Doch zahlen die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) nur die von Spahns Pflegepersonalstärkungsgesetz eingeräumten mageren zusätzlichen Stellen direkt am Krankenbett. Des Weiteren wurde sie nicht müde, den Beschäftigten zu versichern, der Staat werde die übrig gebliebene Lücke zur notwendigen Personalaufstockung schließen und man hoffe auf einen starken Anreiz für Personalaufbau durch den abgeschlossenen Tarifvertrag. Doch der Landtagsbeschluss deckt nur die Bezahlung des Anerkennungstarifvertrags für 7 Jahre ab, denn die Unikliniken hatten sich bis zuletzt gegen die durch den TVE entstehenden Zusatzkosten mit Händen und Füßen gesträubt und angedroht, dies durch Abstriche am TV-L wettzumachen.

Die Erfahrung der siegreichen Beschäftigten an der Charité und bei Vivantes Berlin beweist: All das sind Phantastereien! Der Senat betonte dort ausdrücklich, er dürfe lt. Krankenhausfinanzierungsgesetz den laufenden Betrieb gar nicht subventionieren, und erhöhte lediglich das Budget für Investitionen in die Substanz, zu denen er demnach verpflichtet ist. Trotz dieser Erhöhung bleibt es lt. Berliner Krankenhausgesellschaft immer noch weit unter dem an Instandhaltung und Erneuerung von Gebäuden und Technik Nötigem. Das Krankenhausfinanzierungsgesetz gilt auch für NRW ebenso wie die langjährige Vernachlässigung der Pflichten durch die Landesregierung und das Subventionsverbot für den laufenden Betrieb.

Für ein Nein in der Urabstimmung!

Aus all diesen Gründen sollten die Gewerkschaftsmitglieder das Ergebnis ablehnen und den Streik wiederaufnehmen. Wichtig ist, die von Wesenick beschriebenen demokratischen Prozesse an der Basis – ja, diese ist umfänglicher als früher in die Auseinandersetzungen einbezogen und darf ihre Meinung äußern – auf die Kampfesführung auszuweiten: der Rat der 200 muss auf Mitgliederversammlungen als Streikkomitee und verhandlungsführende Tarifkommission gewählt werden, jederzeit neu wählbar und rechenschaftspflichtig sein. Ferner muss er als Kern von nach den gleichen direkt- oder rätedemokratischen Prinzipien fungierenden Veto-, Inspektions- und Kontrollorganen operieren, die die Umsetzung des TVE überwachen und energische Schritte einleiten, wirklich massenhaft zusätzliches Personal einzustellen. Dabei kommt man um die Frage der Finanzierung nicht herum. Eine einheitliche staatliche Zwangskrankenversicherung für alle mit progressiven Betragssätzen muss ebenso her wie eine Finanzierung der Investitionsmittel durch progressive Besteuerung von Gewinnen, Einkommen und Vermögen.

Nach der Urabstimmung gilt als unmittelbare Aufgabe der Opposition gegen die bisherigen TVEs: Einberufung einer Konferenz aller Beschäftigten in Gesundheitswesen, Alten- und Behindertenbetreuung einzuberufen, um die ver.di-Führung zur Aufnahme eines Kampfes um einen bundesweit geltenden TVE aufzunehmen bis hin zum politischen Streik aller Gewerkschaften des DGB und darüber hinaus (GDL, Marburger Bund, UFO, Gorillas … ) für eine gesetzlich verbindliche Personalregelung, entschädigungslose Verstaatlichung der Privatkliniken, Wegfall der Fallpauschalen und Ersatz durchs Selbstkostenprinzip. Diese Personengruppe gilt es ferner, für die Idee einer klassenkämpferischen, antibürokratisch-oppositionellen Gewerkschaftsbasisbewegung zu gewinnen. Schließt Euch der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) an! Damit könnte ein wichtiger Grundstein auf dem Weg zu einem integrierten, sozialistischen Gesundheitswesen gelegt werden.

Weitere Artikel zum Streik

https://arbeiterinnenmacht.de/2022/04/28/unikliniken-in-nordrhein-westfalen-vor-einem-streik/

https://arbeiterinnenmacht.de/2022/05/06/unikliniken-nrw-im-streik/

https://arbeiterinnenmacht.de/2022/05/27/uniklinken-in-nordrhein-westfalen-4-wochen-streik/

https://arbeiterinnenmacht.de/2022/06/18/nrw-unikliniken-in-der-8-streikwoche-licht-und-schatten/




NRW-Unikliniken in der 8. Streikwoche: Licht und Schatten

Jürgen Roth, Infomail 1191, 18. Juni 2022

Seit 45 Tagen streiken Beschäftigte der 6 Universitätskliniken in Nordrhein-Westfalen für einen Tarifvertrag Entlastung (TVE), der personelle Mindestbesetzungen, bessere Ausbildungsbedingungen und einen Freizeitausgleich für Arbeit in belastenden Situationen festschreibt unter Verweis auf ähnliche Regelungen in Berlin, Mainz und Jena. (Wir berichteten: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/04/28/unikliniken-in-nordrhein-westfalen-vor-einem-streik/; https://arbeiterinnenmacht.de/2022/05/06/unikliniken-nrw-im-streik/; https://arbeiterinnenmacht.de/2022/05/27/uniklinken-in-nordrhein-westfalen-4-wochen-streik/)

Erneuter Angriff und Protest

Gegen den Streik an der Universitätsklinik Bonn (UKB) legte der Klinikvorstand beim Arbeitsgericht Klage ein. Doch diese wurde in 1. Instanz abgewiesen. Das Patient:innenwohl sei nicht gefährdet, es gebe eine Notdienstvereinbarung, so die Richterin. Das UKB wollte mittels einstweiliger Verfügung wegen Verstoßes gegen die Friedenspflicht und fehlender Erstreikbarkeit der Forderungen wegen Rechtswidrigkeit den Arbeitskampf gerichtlich unterbinden lassen und erwägt Berufung.

Ver.di-Landesbezirksleiterin Gabriele Schmidt hatte in einer lahmen Replik vom 13. Juni 2022 kundgetan, die einstweilige Verfügung sein unter allen 6 Kliniken abgestimmt und ziele auf Beeinträchtigung des Streikrechts. Damit berufe sie sich auf die Tarifzugehörigkeit in der Tarifgemeinschaft der Länder. Die „Arbeitgeberseite“ falle somit der neuen Landesregierung und den demokratischen Parteien im Landesparlament in den Rücken.

Lahm ist dieses Erklärung deshalb, weil Landesregierung und demokratischen Parteien hiermit ein Freibrief für deren gute Absichten ausgestellt wird, als seien die Klinikvorstände nicht Büttel der Landesregierung. Für Kollegin Schmidt scheint in NRW der Schwanz mit dem Hund zu wedeln.

Zudem sei angemerkt, dass sie mit dem Zaunpfahl bzgl. des „Landesarbeitgeberverbandes“ ADL winkt, hatte doch ver.di das Ansinnen der alten Landesregierung begrüßt, durch eine Änderung des Landeshochschulgesetzes den Weg für Verhandlungen freizuräumen.

Wir hatten kritisiert, dass in der Folge dieses Ansinnens der zukünftige TVE, sollte er denn zustande kommen, der ja einem Manteltarifvertrag gleichkommt, praktisch als 6 Hausabkommen Gestalt annähme. Der ADL wäre so nur noch für Lohn- und Gehaltsverhandlungen zuständig. Der Beschäftigtenseite diente eine solche Zersplitterung ganz und gar nicht – im Gegenteil! Doch was tun Bürokrat:innen nicht alles, um endlich ihr ureigenes Spielfeld betreten zu dürfen: den Verhandlungstisch?

Solidarität

Es waren die klassenbewussten Kolleg:innen der Essener Uniklinik, die als Erste dagegen protestierten. Am 13. Juni besetzten sie dortige Räumlichkeiten und forderten „ihren“ Vorstand auf, zur einstweiligen Verfügung Stellung zu beziehen. Dieser ließ sie daraufhin von der Polizei aus dem Gebäude entfernen und sagte eine Verhandlungsrunde um 16 Uhr am gleichen Nachmittag ab. Die Essener hatten gemeinsam mit ihren Düsseldorfer ver.di-Kolleg:innen 2018 einen für beide Häuser gültigen Tarifvertrag Entlastung (TVE) erkämpft, der im März diesen Jahres von der Gewerkschaft gekündigt wurde zugunsten eines neuen Anlaufs für alle landeseigenen Unikliniken.

Eine für den darauffolgenden Tag ursprünglich in Münster, dem einzigen westfälischen Standort, geplante zentrale Demonstration aller Streikenden wurde kurzerhand nach Bonn verlegt, wo die Kolleg:innen ihrem Unmut über das dreiste Vorgehen der UKB lautstark Luft machten. U. a. wiesen sie darauf hin, dass der Vorstand sich lange gegen eine Notdienstvereinbarung gesträubt hatte. Zwei Tage später fand dann auch in Münster eine große Kundgebung statt.

Solidarität zeigten auch 640 ärztliche Mitarbeiter:innen, die mittels einer Petition den Streik unterstützen. Auch die Studierendenvertretungen in NRW erklärten sich solidarisch mit diesem Arbeitskampf.

Angebot oder vergifteter Köder?

Nach 36 Streiktagen legten die Klinikleitungen ein Angebot vor, was die landesweite Demonstration und Kundgebung am 10. Juni und die an diesem Tag 1.500 Streikenden einhellig als Mogelpackung verurteilten. Ver.di wies es zurück, weil es nur für Pflegekräfte am Bett gelte (5 Entlastungstage pro Monat), nicht für Ambulanzen, OPs und Aufnahmen, schon gar nicht für Personal außerhalb der Pflege. Stattdessen schlägt die Gewerkschaft richtigerweise ein Verfahren vor, das schichtgenaue Mindestbesetzungen für alle Krankenhausbereiche vereinbart. Werden diese unterlaufen, entsteht in jedem Einzelfall auf freie Tage. Die angebotenen Entlastungstage werden überdies schrittweise reduziert, sobald das Pflegepersonal aufgestockt wird.

Betriebswirtschaftlich macht dieser Spaltpilz durch Verengung der für Entlastung infrage kommenden Zielgruppe durchaus Sinn, folgt sie doch der Refinanzierungslogik im bestehenden System. Gemäß Pflegestärkungsgesetz, noch unter Federführung von Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn verabschiedet, ist mehr Personal am Bett in engen Grenzen für die Kliniken kostenneutral umsetzbar.

Das letzte Wort über einen TVE

Die Tarifkommission ist 75-köpfig besetzt, neben den Apparatschiks mit Kolleg:innen aus allen Bereichen (Teamdelegierte). Man folgt hier also dem Berliner Modell, was sicher gegenüber früherer Art von Verhandlungsführung einen gehörigen Schuss Basisdemokratie verkörpert. Doch die eigentliche Verhandlungskommission ist kleiner. Hier werden die „Profis“ der Bürokratie den Ton angeben. Das letzte Wort über den TVE soll aber der „Rat der 200“ sein, sämtlich aus gewählten Delegierten aller 6 Unikliniken bestehend. Unserer Meinung nach sollten allerdings alle Mitglieder das wirklich letzte Wort haben (Urabstimmung).

Doch die 200 Delegierten sollen sich mit dem (vor)letzten Wort, das ihnen zusteht, nicht zufriedengeben! Um der eigentlichen basisdemokratischen Bedeutung des Begriffs Rat gerecht werden zu können, müssen seine Delegierten auch von Abteilungsversammlungen jederzeit neu und abwählbar sein. Zweitens muss er die Funktion des obersten Streikkomitees ausfüllen. Bürokrat:innen dürfen sich auch als Kandidat:innen bewerben, bitte schön! Ihre Bewährung während des Streiks wäre aber dann Voraussetzung für ihren Wahlerfolg, nicht ihr „Amt“. Dies ist umso dringender, als die ver.di-Spitze in NRW immer wieder zum Einknicken neigte, sei es in Angeboten, den Streik bei Verhandlungsbereitschaft der Arbeit„geber“:innenseite auszusetzen, oder ihren Köder mit dem Ausscheren des Manteltarifs aus dem ADL zu schlucken.

Drittens sollte der „Rat der 200“ den Belegschaften verdeutlichen, wie notwendig direkte Kontrollorgane auf jeder Station, in jeder Abteilung sein werden, die sich bei Unterschreitung der Mindestpersonalbemessung das Recht auf Gegenmaßnahmen wie Schließungen von Betten und Stationen, Nichtaufnahme geplanter Behandlungsfälle und dergleichen aneignen und nach gleichen basisdemokratischen Räteprinzipien funktionieren und zentralisiert werden müssen. Der Streik hat die Bedeutung dessen in den Augen vieler Beschäftigter bereits gezeigt: Die Arbeitsbelastung auf den betroffenen Stationen fiel oft viel geringer als im „Normalbetrieb“ aus! So sehr eine Entlastung in Form freier Tage auch begrüßenswert ist, so sehr steht und fällt diese letztlich mit einer großen Zahl von Neueinstellungen. Erfolgen die nicht, mutiert die gut gemeinte Tarifklausel zu einer besseren Variante von Lebensarbeitszeitkonto.

Die 200 Delegierten sind darum, obwohl selber Rat, doch gut beraten, auch in anderer Hinsicht nach Abschluss eines TVE Akzente zu setzen: als Keimzelle und Funktionsmodell für die bundesweite Ausdehnung der Krankenhausbewegung auf alle Allgemein- und Sonderkrankenhäuser inklusive der Altenpflegeeinrichtungen! Ferner müssen sie alle Illusionen, die die ver.di-Führung eifrigst schürt, der Staat werde sein Versprechen halten und die Personalregelungen finanzieren, im Gegenteil zerstreuen. Der bezahlt nämlich in Wirklichkeit zusehends weniger die Erhaltungs- und Erneuerungsinvestitionen der stationären Einrichtungen, zu denen er in Gestalt der Bundesländer eigentlich gesetzlich verpflichtet ist. Ein Protest vor kurzem in Berlin angesichts der Erfahrungen geringer Neueinstellungen vor dem Roten Rathaus erinnerte den Senat an dieses Versprechen. Ver.di-Spitze und selbst viele Streikende hatten es unermüdlich propagiert und für bare Münze gehalten, dass dies machbar sei und die Kosten des TVE sich wie von selbst rechne. Doch in die Finanzierung des laufenden Betriebs einzugreifen, dafür seien ihm die Hände durch das duale Krankenhausfinanzierungsgesetz gebunden. Diesen Politiker:innen – immer dabei: die Linkspartei! – und ihren Steigbügelhalter:innen in der Gewerkschaftsbürokratie gilt es, nicht länger auf den Leim zu gehen.

Wir brauchen diesbezüglich eine unabhängige und eigenständige Arbeiter:innenpolitik bis hin zum politischen Erzwingungsstreik für eine gesetzliche Personalbemessung, die Abschaffung des Marktprinzips in Form der Fallpauschalen (DRGs) und für Selbstkostenfinanzierung als Schritte hin  zu einem rationalen, geplanten, von Beschäftigten und Patient:innen und den Arbeiter:innenorganisationen kontrollierten Gesundheitswesens!




Uniklinken in Nordrhein-Westfalen: 4 Wochen Streik

Jürgen Roth, Neue Internationale 265, Juni 2022

Seit dem 4. Mai befinden sich die Beschäftigten der Universitätskliniken Nordrhein-Westfalen im Streik. Bei der Urabstimmung votierten 98 % für den Vollstreik. Dieser war zunächst bis zum 26. Mai befristet, wurde jedoch erstmal bis zum 2. Juni verlängert.

Die Kampfbereitschaft fiel nicht vom Himmel. Schon am 19. Januar verfassten über 700 Beschäftigte der landeseigenen Universitätskliniken Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster einen Beschluss, der verbindliche Regelungen zur Entlastung aller Arbeitsbereiche, Sicherstellung und Verbesserung der Ausbildungsqualität und ein wirksames Konsequenzenmanagement im Fall ihrer Nichteinhaltung von der Landesregierung forderte. Dieses Ultimatum lief nach 100 Tagen am 1. Mai ab. Der Arbeitskampf nimmt seither härtere Formen an.

Verlauf

Zeitgleich mit dem Warnstreik zum landesweiten Branchentag „Kitas/Ganztag“ für die Tarifauseinandersetzung der Sozial- und Erziehungsdienste in NRW am 4. Mai hatte ver.di auch die Unikliniken zum Streik aufgerufen. 1.900 Beschäftigte nahmen daraufhin mit Beginn der Frühschicht ihre Arbeit nicht auf. Am Samstag, den 7.5.2022, führten sie eine Kundgebung mit anschließender Demonstration zum Landtag durch. In Essen befinden sich seitdem täglich durchschnittlich 250 Kolleg:innen im Ausstand, so dass knapp zwei Drittel der OP-Säle geschlossen werden mussten. Des Weiteren gab es erhebliche Verzögerungen bei terminierten und ambulanten Behandlungen.

Am 9. Mai fuhren Azubis aus 5 Uniklinken nach Aachen, um ihre dortigen Kolleg:innen zu unterstützen. Die Klinikleitung hatte als einzige keine Notdienstvereinbarung mit der Gewerkschaft abgeschlossen, welche regeln soll, wie viele Beschäftigte mindestens auf den Stationen und in den Funktionsabteilungen bleiben, welche Betten und Einheiten geschlossen werden sowie, dass Auszubildende keine Fehltage für den Streik eingetragen bekommen. Dem Aachener Berufsnachwuchs wurde dagegen genau damit gedroht, was zur Folge haben kann, dass Streikteilnehmer:innen nicht zur Abschlussprüfung zugelassen werden!

Am 19. Mai rief ver.di die Azubis zu einem Auszubildendenstreiktag nach Essen auf, um hier nochmal ein deutliches Zeichen des Protests zu setzen. Ein Aufruf an alle Streikenden wäre sicher angemessener gewesen, handelt es sich doch bei den Maßnahmen der Aachener Klinikleitung de facto um einen Angriff aufs Streikrecht für eine bestimmte Personengruppe. Getreu dem Motto, dass eine Attacke auf eine/n Gewerkschafter:in eine auf alle bedeutet, wäre eine geschlossene Manifestation der Ablehnung durch alle nur konsequent!

Zeichen der Solidarität

In einem Aufruf für ärztliche Unterstützung für eine verbindliche Personalbesetzung an den Universitätskliniken in NRW, der auch vom „Verein demokratischer Ärzt*innen (vdää*)“ unterzeichnet ist, drückten über 530 Ärzt:innen und Medizinstudierende am 5. Mai ihre Solidarität mit den Arbeitskampfmaßnahmen aus. Ins selbe Horn tutet auch die „Solidaritäts-Erklärung des Stuttgarter Metallertreff / Zukunftsforum Stuttgarter Gewerkschaften für die streikenden Kolleg*innen in den Unikliniken in NRW“, veröffentlicht am 23. Mai und unterstützt von der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG).

Am 12. Mai beschloss eine Versammlung am Hamburger Uniklinikum Eppendorf (UKE) eine Reihe von Auftaktaktionen, an deren Ende ein Tarifvertrag Entlastung (TVE) stehen soll. So machte eine Gruppe Pflegender vor dem Krankenhaus auf ihre Lage aufmerksam. Sie zeigte sich wenig beeindruckt vom Optimismus der Hamburger Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD), die stolz auf 3.760 Auszubildende im Pflegebereich der Hansestadt verwies. Die Verlautbarung eines ver.di-Sprechers, die Chancen stünden gut für einen niedrigeren Betreuungsschlüssel in der Intensivpflege, hat die Aktivist:innen ebenso wenig von ihrem Protest abgehalten, wie sie einen konsequenten Beitrag im Kampf gegen den Pflegenotstand darstellt. Auch in Bremen regte sich der zuständige Gewerkschaftssekretär mit einem Vorstoß, man müsse auch hier bald für einen TVE mobilisieren. Die Gewerkschaftsbasis vor Ort sollte ihn rasch beim Wort nehmen. Als Zeichen der Solidarität mit dem Kampf in NRW sind auch diese Ereignisse in Hamburg und Bremen allemal zu werten.

Gegenwind

Die aktuelle Streikbewegung war von Beginn an vom Berliner Kampf um Entlastung an den Krankenhäusern inspiriert. Gegenüber dem Berliner Vorbild zeichnet sie sogar zwei Vorzüge aus: Erstens werden Mindestbesetzungsregeln auch für nichtpflegerische Bereiche gefordert. Zweitens ging der Kampf rasch zum Vollstreik über.

In mehreren Artikeln haben wir Vorschläge für Kampfführung und wirksame Kontrolle über ein evtl. erzieltes Ergebnis im Sinne der Stärkung der Selbstorganisierung der Basis hin zur wirksamen Arbeiter:innenkontrolle und zum politischen Streik für eine gesetzliche Pflegepersonalbemessung unterbreitet.

Aktuell bläst den nordrhein-westfälischen Kolleg:innen jedoch anders als in Berlin ein starker Wind entgegen. Auch dort hatte anfänglich der Senat mit Verweis auf die Haltung der kommunalen (VKA) und Landesarbeit„geber“:innenverbände die Unmöglichkeit ihres Unterfangens zu verdeutlichen versucht. Doch die Berliner Streikenden ließen sich von der Drohung, Berlin flöge aus den Verbänden, wenn es sich auf Verhandlungen über einen TVE einlasse, nicht einschüchtern.

In NRW jedoch läuft die Sache anders. Gesundheitsminister Laumann und Ministerpräsident Wüst ließen verlautbaren, ein Tarifvertrag komme auf jeden Fall zustande. Vorher hatten sie den gleichen Taschenspielertrick wie die Berliner Regierenden vorgeführt. Doch jetzt signalisieren sie, ernsthafte Verhandlungen aufnehmen zu wollen. Passiert ist seit dem Ultimatum bisher aber nichts bzgl. eines realen Angebots.

Ver.di kritisiert daran lediglich den langsamen Verhandlungstakt. Die Gewerkschaft entblödet sich aber nicht, den vermeintlichen Sinneswandel der Unternehmer:innenseite festzustellen und zu loben. Mag sein, dass die von den bürgerliche Medien organisierte „öffentliche Meinung“ dafür verantwortlich ist. Nach anfänglichen Sympathien für den Arbeitskampf mehren sich von Tag zu Tag – der Streik geht in die 5. Woche – kritische Stimmen. So schreibt die „Rheinische Post“ von Geiselhaft, in die Patient:innen von den Gewerkschafter:innen genommen würden. Andere Blätter raunen von Zorn und Fassungslosigkeit auf Seiten der Behandlungsbedürftigen.

Es ist notwendig, dagegen eine eigene Öffentlichkeit von unten zu mobilisieren, den Schulterschluss mit Patient:innenvereinigungen zu suchen und klarzumachen, dass die Forderungen der Beschäftigten in jedem Fall auch einen Beitrag zur Verbesserung der Behandlungen leisten würden. Verursacht wird der gesamte Pflegenotstand schließlich eindeutig von den profitorientierten Gesundheitskapitalen und ihren politischen Helfershelfer:innen, die sich jetzt aufführen, als hätten sie Kreide gefressen.

Doch viel wichtiger ist, deren Bauernfängerei zu entlarven und verurteilen. Diese liegt darin, dass die Klinikleitungen als Vorbedingung, um über einen TVE verhandeln zu können, aus dem Arbeit„geber“:innenverband austreten wollen. Dafür muss das NRW-Hochschulgesetz geändert werden. Nach dem Austritt wären die Unikliniken nicht mehr an die Tarifgemeinschaft gebunden. Die anderen, v. a. Entgelt betreffenden Tarifverträge sollen trotz des Austritts weiter gelten. Ver.di-Landesbezirksleiterin Gabriele Schmidt sprach daraufhin in einer Pressemitteilung von ver.di NRW vom 11.5.2022 davon, „dass der politische Wille da ist, den Weg für Tarifverhandlungen freizumachen“. Landesfachbereichsleiterin Katharina Wesenick redete von einem möglichen Einstieg in einen geordneten Ausstieg aus dem Konflikt (WDR, 10.5.2022). Ähnliche Töne finden sich im Artikel „Eine starke Bewegung“ in ver.di publik 3/2022.

Natürlich können Gewerkschaften der Kapitalseite nicht aufzwingen, wie sie sich organisiert. In diesem Sinne hat die Berliner Krankenhausbewegung völlig richtig reagiert, entsprechende Einlassungen des Senats glatt zu ignorieren. Selbst in NRW hat die ver.di-Führung trotz ihrer Schönrednerei den Streik bisher nicht ausgesetzt, sondern verlängert. Doch bleibt zu kritisieren, dass sie einen Ausstieg aus dem Unternehmer:innenverband gutheißt, nur um an den Verhandlungstisch zu kommen. Das ist denn doch des Schlechten, der Sozialpartner:innenschaft, zu viel.

Immerhin verweist sie ihre Mitgliedschaft damit auf den Weg eines immer weiter zersplitterten Häuserkampfes, also schlechterer Bedingungen für ein branchenweites Ergebnis. Notwendig wäre aber folgende Ansage: Diese Taktik stellt nur einen weiteren Spaltungsversuch der organisierten Beschäftigten dar. Folglich werden wir mit verstärkter Kraft den branchen- und bundesweiten Kampf ausweiten bis hin zum politischen Massenstreik für eine gesetzliche Personalbemessung!

Eine solche politische Stoßrichtung müssen wir von der Gewerkschaft einfordern – auf deren Führung verlassen dürfen wir uns nicht. Vielmehr muss diese Ausrichtung auf den Streikversammlungen offen diskutiert und beschlossen sowie Streikleitungen gewählt werden, die diesem Kurs verpflichtet sind.

Welche Perspektive fürs Gesundheitswesen?

Der Kampf gegen die Überlastung des Personals, gegen miese Löhne und Personalnotstand muss, wie die Erfahrung bisheriger Kämpfe zeigt, über die rein betriebliche Ebene hinausgehen. Das Problem ist letztlich ein gesellschaftliches und politisches. Es braucht eine gemeinsame Bewegung aller Krankenhäuser für ein bedarfsgerechtes und menschenwürdiges Gesundheitssystem unter Kontrolle der Beschäftigten.

Die Auseinandersetzung in NRW muss sich bewusster als ihr Berliner Vorbild für die bundesweite Ausdehnung ihres Kampfes einsetzen. Gerade angesichts fehlender Finanzierung des TVE, angesichts anhaltender Profitorientierung des Gesundheitswesens muss auch das Mittel politischer Streiks der gesamten Gewerkschaftsbewegung gegen das DRG-System, Krankenhausschließungen und -privatisierungen und für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen ins Kalkül gezogen werden.

  • Entschädigungslose Enteignung privater und privatisierter Krankenhäuser unter Kontrolle der Beschäftigten und der Gewerkschaften! Entschädigungslose Enteignung der Pharma- und Medizintechnikkonzerne!
  • Für eine gesetzliche Personalbemessung, die den tatsächlichen Bedarf widerspiegelt und die in allen Sektoren, auch der Altenpflege, gilt!
  • Für ein ausreichendes Pflegepersonalgesetz in allen Sektoren, auch der Altenpflege! Personalbedarf für die PatientInnenversorgung, errechnet durch die Beschäftigten sowie PatientInnen und ihre Organisationen selber! Laufende Personalbesetzungs- und Betriebsregelungen unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Weg mit Beitragsbemessungsgrenzen, Befreiungs- und Ausstiegsmöglichkeiten aus der gesetzlichen Krankenversicherung! Für weitere Finanzierung des Plans durch progressive Steuern auf Kapital, Gewinne und Vermögen!
  • Erstellung eines Plans für ein integriertes Gesundheits-, Rettungs-, Kur- und Rehabilitationswesen von unten durch Beschäftigte und Patient:innen unter Hinzuziehung von Expert:innen ihres Vertrauens!
  • Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung, die für diese Forderungen eintritt!



Nach NRW-Wahl: Zeitenwende für die Ampel?

Leo Drais, Infomail 1188, 18. Mai 2022

Vielleicht läuft die Geschichte doch ein bisschen in Kreisen. Zum Beispiel in der politischen Beziehung zwischen Nordrhein-Westfalen und dem Bund. 2017 verlor Hannelore Kraft für die SPD die Landtagswahlen – es wurde als Vorbote für Merkels vierte Wiederwahl betrachtet und so kam es. Oder nehmen wir 2021. Eine Flutkatastrophe erschüttert NRW. Armin Laschet, Spitzenkandidat der CDU für die Bundestagswahl und davor Ministerpräsident in Düsseldorf, fand die Flut anscheinend lustig. Danach verging ihm das Lachen dann schnell. Im September verlor er gegen Olaf Scholz. Die vor sich hinsiechende SPD konnte dank der Union das Krankenhaus kriselnder Parteien verlassen.

Landtagswahl

Jetzt aber hat sie in Nordrhein-Westfalen eine saftige Niederlage kassiert, im Kontext einer Wahlbeteiligung von gerade mal 55 %. Die CDU holte 35,7 % – exakt 9 % mehr als die SPD. AfD und FDP schafften gerade so den Einzug ins Parlament. Die eigentlichen Gewinner:innen sind die Grünen, die mit 18,2 % über zehn Prozent dazugewinnen konnten.

Sie betonten gleich, dass ohne sie nichts gehen würde, und wahrscheinlich haben sie damit Recht.

Denn da weder CDU noch SPD aufeinander Bock haben (rechnerisch zumindest eine mögliche Große Landeskoalition), bleibt beiden nur, die Grünen zu umgarnen. Die SPD wäre dabei sogar noch auf die FDP angewiesen, also auf eine regionale Wiederauflage der Ampel, was kaum passieren wird.

Ziemlich sicher wird der bisherige Ministerpräsident Hendrik Wüst also eine CDU/Grünen- Regierung anführen. Vieles spricht dafür. Zum Beispiel dass die Union weiß, dass sie mit den Grünen im Grunde fast alles machen kann, solange hier und da mal ein Windrad aufgestellt wird. Ihre gesamte Umweltpolitik ist keine und gerät daher nicht mit dem Kapital in Konflikt. In allen anderen Belangen sind sich Union und Grüne sowieso sehr nah. Die einen vielleicht etwas konservativ-miefig, die anderen  eben grün und hip. Vielleicht gäbe es zusammen keine Cannabislegalisierung oder formal-rechtliche Fortschritte für non-binäre Menschen.

Aber das sind Bundesangelegenheiten. Wenn es um das Wesentliche geht – Abwälzung der Krisenkosten auf die Arbeiter:innenklasse, Durchsetzen von Polizeigesetzen, dem Kapital den Weg ebnen – ziehen Grüne und Union an einem Strang. Ihre größte Differenz besteht wohl darin, wie viel Staatsintervention zur Neuformierung des deutschen Kapitals nötig ist. Doch die breite Unterstützung für den Green Deal in der EU zeigt, dass sich, jedenfalls für die nächste Zukunft, eine gemeinsame Linie finden lässt. Natürlich könnte man auch mit der FDP gut. Die hat in NRW jedoch ebenfalls ordentlich verloren und warum sollten sich Union und Grüne Verhandlungen mit ihr antun, wenn es auch ohne sie geht?

Ampelzeichen?

Die Rückkehr der Krise in die Reihen der SPD kommt nicht überraschend. Bei der Wahl im Saarland konnte sie noch von der CDU-Krise profitieren, zumal der dortige Unions-Kandidat sehr unpopulär war. In Schleswig-Holstein ging‘s dafür krachend bergab – 11,3 Prozent Verlust und bei der Union ein fast genauso großer Gewinn.

Was bedeutet die SPD-Krise für die Bundesregierung? Euphorie für die Ampel gab es sowieso nie, und nicht erst seit dem Krieg wird Scholz von den Ereignissen getrieben. Mit dem Krieg und der Inflation haben sich die ökonomischen Bedingungen für eine Koalition zwischen einer bürgerlichen Arbeiter:innenpartei – also einer Partei, die die kapitalistischen Verhältnisse verteidigt, sich aber auf  die organisierte Arbeiter:innenbewegung, vor allem die Gewerkschaften, stützt –, und zwei offen bürgerlichen Parteien nochmal ordentlich prekärer gestaltet. Einerseits erleichtert die SPD an der Regierung der herrschenden Klasse die Ruhigstellung der Lohnabhängigen durch die Einbindung der Gewerkschaftsapparate und Betriebsräte der Großunternehmen, die beide eine soziale Hauptstütze der Regierung bilden. Andererseits werfen Krisenperioden für das Kapital unwillkürlich die Frage auf, ob es sich die Kosten des Korporatismus weiter leisten kann und will. Und hier kommt die Union ins Spiel – nicht nur am Rhein, sondern auch an der Spree.

Mit Friedrich Merz als neoliberalem Hardliner scheint die Union den Führer gefunden zu haben, der für sie in die Zeit passt. Mit ihm versucht sie, die Ampel vor sich her und einen Keil in sie zu treiben. Mit Erfolg. Im Kampf um die Neuaufteilung der Welt, sprich dem Ukraine-Krieg, stehen Baerbock und Lindner Merz näher als Scholz, dem immer wieder Zögerlichkeit vorgeworfen wird, als es zum Beispiel um schwere Waffen für Kiew ging.

Die Grünen und die Union sind demgegenüber die bürgerlichen Parteien, die am ehesten die Gesamtinteressen des deutschen Imperialismus vertreten. Sie haben die Bedeutung des von Scholz als Zeitenwende beschriebenen Periodenwechsels fürs deutsche Kapital begriffen, dem schon die bestehenden, unzureichenden sozialen Abfederungen der Inflation, sei es durch Neuverschuldung oder irgendwelche lächerlichen (Mindest-)Lohnerhöhungen demnächst schon zu viel sein könnten. Immerhin geht es darum, nicht im Kampf zwischen den Großmächten USA, China und Russland aufgerieben zu werden.

Ausblick

Natürlich ist es zu früh, der Ampel ein vorzeitiges Ende in Aussicht zu stellen. Denkbar ist jedoch allemal, dass Scholz das Schicksal Schmidts widerfährt: der Verlust seiner Koalitionspartnerinnen an die Union: Jamaika im Bundestag.

Schwieriger wird es für die Sozialdemokratie jedoch sicher. Sie ist einerseits in den DGB-Gewerkschaften und in der Arbeiter:innenaristokratie verwurzelt. So wählten lt. einer Erhebung des DGB (https://www.dgb.de/themen/++co++c653c982-d51c-11ec-96a8-001a4a160123) in NRW (noch) 36 % der gewerkschaftliche Organisierten SPD – deutlich mehr als 26,7 % der Gesamtbevölkerung.

Auch wenn sich die Gewerkschaftsführungen hier noch so Mühe geben, die Arbeiter:innenklasse mit warmen Worten abzuspeisen, kann das nicht ewig funktionieren. Bei Inflationsraten von über 7 Prozent kann der Druck durchaus so groß werden, dass Unmut und Arbeitskämpfe ausbrechen, denen die Gewerkschaftsbürokratie nachgeben muss. Bleiben selbst Ansätze von ernsthaften Kämpfen der DGB-Gewerkschaften aus, werden noch mehr Mitglieder mit den Füßen abstimmen – und austreten.

Bezüglich der SPD und ihrer Regierung wird beides die Fieberkurve steigen lassen. Ein schwächer und kleiner werdender DGB legt schleichend, aber stetig auch die verbliebene soziale Basis der SPD trocken. Gewerkschaften wiederum, die einem steigenden Druck aus der Arbeiter:innenklasse nachgeben und in eine verschärfte Konfrontation mit dem Kapital treten, bedeuten auch einen stärkeren Druck, den das Kapital und damit Grüne, FDP und Union auf die SPD ausüben werden.

Insgesamt eine Lage, die die SPD schneller ins Krankenbett zurückbefördern kann, als sie rausgekommen ist. Auf einen tapsig-trotteligen Laschet darf Scholz in der Persona Merz zumindest nicht hoffen. Und wir werden sehen, ob NRW wieder zum politischen Orakel für die Bundespolitik gestaltet wird.

Agonie der LINKEN

Wenn dem so ist, läuten für die andere bürgerliche Arbeiter:innenpartei demnächst die Totenglocken. Auch für DIE LINKE läuft die Zeit in NRW ein bisschen im Kreis. Seit sie existiert, dümpelt sie mal über, mal unter der 5 %-Hürde.

Auf den ersten Blick sieht es aus wie zuvor. DIE LINKE sitzt nicht im Landesparlament von NRW. In Prozenten ausgerückt hat sie die Hälfte der Wähler:innen verloren. Trotzdem ist das Ergebnis keines den letzten NRW-Wahlen vergleichbares. Es ist Teil der Überlebenskrise der Partei, die längst zu einer sich selbst verstärkenden geworden ist. Ihrem ganzen Wesen nach ist die Partei eine, die bürgerlich-reformistische Realpolitik betreibt. Dass sie in Wahlkämpfen um Nuancen sozialer daherkommt als die SPD, nutzt vielleicht als „Wir hatten gute Inhalte“-Entschuldigung nach der Wahl, aber mehr auch nicht. Weil DIE LINKE keine Kampfpartei, sondern genauso eine Grinsebacken auf Wahlplakate druckende Angeberin leerer Versprechen ist, braucht sie niemand, schon gar nicht die Arbeiter:innenklasse. Die entscheidet sich im Zweifel taktisch lieber für die SPD als Anti-Laschet-Abstimmung wie bei der Bundestagswahl, wählt eine offen bürgerliche Partei wie die Grünen oder die Union oder bleibt der Wahl gleich ganz fern.

Im Juni will die Partei wieder mal die Weichen stellen. Mehr als Formelkompromisse und das Beschwören einer nicht existenten Geschlossenheit wird wohl kaum dabei herauskommen. Der nächste Sündenbock-Parteivorsitz darf seinen Kopf schon mal aufs Schafott der nächsten Wahlpleiten und Skandale legen.

Revolutionär:innen in der LINKEN sollten ernsthaft ihre Hoffnung daraufhin abwägen, ob die Partei irgendwann mal in eine Richtung verändert werden kann, die auch nur im Ansatz die Adjektive „klassenkämpferisch“ oder gar „sozialistisch“ verdient hätte. Wir denken, dass das nicht passieren wird. Die Partei ist wurmstichig bis ins Mark, zerfressen vom Karrierismus und ausgeblutet vom Grabenkampf. Die Linken in der Linkspartei, die für eine Politik des Klassenkampfes eintreten, sollten das sinkende Schiff bald, aber organisiert verlassen. Es gilt, diejenigen zu sammeln, die ernsthaft nach einer Kampfpartei und revolutionären Antworten suchen. Ja, es gilt, so eine Partei schnell aufzubauen. Sie wird nötig sein, um den kläglichen Linksparteirest sowie die SPD unter Druck zu setzen und die Arbeiter:innenklasse selbst zur ersten Kraft im Kampf gegen Krieg und Inflation zu bewaffnen.

Während sich ein riesiger Apparat an das wie auch immer schlecht weitergehende Leben der LINKEN klammern wird, haben Revolutionär:innen das nicht nötig. Ihr Überleben sollte gleichbedeutend mit dem der Arbeiter:innenklasse sein.

Die LINKE liegt in ihrer Agonie – und Sterbende sollen auch mal sterben dürfen. Damit die Zeit nicht ewig im Kreis läuft und Krisen auch mal wirklich enden.




Unikliniken NRW im Streik

Jürgen Roth, Infomail 1187, 6. Mai 2022

2021 hatten das Institut Arbeit und Technik (IAT) der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen und die Arbeit„nehmer“:innenkammern Bremen und Saarland – die einzigen derartigen Institute im Bundesgebiet –, gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung, insgesamt 12.700 Aussteiger:innen und Teilzeitkräfte der Pflegeberufe online befragt unter dem Motto „Ich pflege wieder, wenn … “. Nach vorsichtiger Kalkulation entstünden lt. dieser Umfrage durch verbesserte Arbeitsbedingungen 300.000 zusätzliche Vollzeitkräfte.

Als stärkste Motivation für Berufsrückkehr bzw. Arbeitszeitaufstockung wurde genannt: eine Personaldecke, die sich tatsächlich am Bedarf der pflegebedürftigen Menschen ausrichtet. Daneben werden genannt: Stärkung der Tarifbindung (nicht nur das Zurückgehen auf regionale Durchschnittswerte in der stationären Langzeitpflege als Kriterium für die Neuzulassung von Einrichtungen) sowie die Sicherung der Finanzierung. Auffällig war, dass ehemalige Beschäftigte aus der ambulanten Pflege diesen Bereich seltener als Ziel eines Wiedereinstiegs benannten. Dies wirft ein Licht auf die dortigen noch schlechteren Arbeitsverhältnisse, wo es kaum Ansätze zur Personalbemessung gibt.

Der Pflege- und sonstige Personalnotstand im Krankenhaus ließe sich also beheben, wenn v. a. die Zahl der Stellen und Arbeitsstunden aufgestockt würden. Jahrelange Auseinandersetzungen mit deutlichen Erfolgen in jüngster Zeit haben aber gezeigt: Das geht nur mit Arbeitskampf gegen Krankenhausträger, Kommunal- und Landesregierungen! Und hier liefern die Beschäftigten der 6 Unikliniken in Nordrhein-Westfalen (NRW) in Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster gerade ein nachahmenswertes Beispiel ab. Ihrem Kampf gebührt volle Solidarität!

Von der Urabstimmung zum Vollstreik

Nachdem NRW-Landesregierung und Arbeit„geber“verband des Landes (AdL) das 100-Tage-Ultimatum am Sonntag, dem 1. Mai 2022, verstreichen lassen hatten, gab ver.di auf einer Pressekonferenz am darauffolgenden Montag bekannt, dass sich die organisierten Beschäftigten in einer Urabstimmung mit 98,31 % – einem überwältigenden Ergebnis – für Ausweitung des Streiks ausgesprochen hatten. Bisher gab es einen zweitägigen Warnstreik, der der Sammlung von 500 Aktivist:innen diente, die sich in Oberhausen trafen, darunter auch im Niederrheinstadion des Ex-Erstligisten RWO. Näheres dazu in NI 264: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/04/28/unikliniken-in-nordrhein-westfalen-vor-einem-streik/.

An der Urabstimmung hatten sich nicht nur Mitglieder, sondern auch weitere Beschäftigte beteiligt, was wir mit einem weinenden wie lachenden Auge betrachten sollten. Die positive Seite dieser Methode aus dem Arsenal des Social Organizing: So gewinnt das Ergebnis noch mehr Schlagkraft; die negative: Nichtmitglieder entscheiden darüber mit, ob – noch nicht wie – ver.di streiken soll. Es geht jetzt auch darum, aus diesen stimmberechtigten Unorganisierten rasch Gewerkschaftsmitglieder zu machen, denn die Gefahr von Streikbruch lastet natürlich auf dieser Gruppe objektiv schwerer.

Streik aussitzen ohne Angebot?

Ver.di Landesleiterin Gabriele Schmidt bestätigte, dass es zwar kurz vor Ablauf des Ultimatums „positive Signale aus der Politik“ gegeben habe, doch weder ein konkretes Angebot noch einen Vorschlag für einen Verhandlungstermin. Auf keinen der 7 (!) von ver.di unterbreiteten Terminvorschläge hätten die Arbeit„geber“:innen reagiert. Schmidt bekräftigte, dass ihre Gewerkschaft jetzt nicht mehr in der Situation stecke, zu Warnstreiks aufzurufen, sondern zu richtigen. Das ist die richtige und erstaunlich rasche Antwort auf deren Verweigerungshaltung, die letztlich auch von der Landesregierung gedeckt wird.

Fortschritt

Im Vergleich zur Berliner Krankenhausbewegung sehen wir einen weiteren positiven Unterschied im raschen Übergang zu regulären Streiks direkt nach dem Ultimatum. Am Mittwoch, dem 5. Mai 2022, haben sich daraufhin 1.700 Beschäftigte an den 6 Standorten in den Ausstand begeben, wie ver.di-Landesfachbereichsleiterin Katharina Wesenick am gleichen Tag mitteilte. Für Mittwochabend war ein Treffen der gewerkschaftlichen Verhandlungsführung mit NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) angesetzt.

Wie streiken und das Ergebnis kontrollieren?

Von den Tarifbotschafter:innen mit informellem Status muss der Impuls für eine vollständige und formale Kontrolle über den zukünftigen Arbeitskampf und die Umsetzung des Ergebnisses ausgehen (Rechenschaftspflicht, Wahl und jederzeitige Abwahl von Streikkomitees vor und durch Mitgliedervollversammlungen, Kontrollorgane mit Vetobefugnissen bis hin zu Bettensperrungen, Aufnahmestopps und Stationsschließungen).

Die Streikenden dürfen sich nicht ins Bockshorn jagen lassen wie in Berlin. Dort wurde ihnen von Krankenhausträgern, Senat, aber leider auch der ver.di-Verhandlungsspitze vorgegaukelt, eine auskömmliche Finanzierung durch den Staat sei gegeben. Gar nicht weiter problematisiert wurde somit also die auf dem Fallpauschalen- oder DRG-Abrechnungssystem basierende Finanzierung der laufenden Betriebskosten. Der Senat bleibt trotz Mittelaufstockung weit unter dem nötigen Aufwand für Gebäude, Technik und sonstige Investitionen. Tarifverträge zu finanzieren, das verbietet ihm das Krankenhausfinanzierungsgesetz dagegen vollständig. Wird die Krankenhausfinanzierung nicht grundsätzlich geändert – Abschaffung der DRGs – und können wir die gewaltigen erforderlichen Mittel für deutlich mehr Personal, das für eine humane Pflege benötigt wird und unter diesen geänderten Bedingungen auch verfügbar wäre, nicht von den Reichen und ihrem Staat erzwingen, kann bei gleichem oder steigendem Behandlungsaufwand das Personal nur entlastet werden, wenn es wie oben beschrieben in den Betriebsablauf eingreift.

Welche Perspektive fürs Gesundheitswesen?

All das zeigt, dass der Kampf gegen die Überlastung des Personals, gegen miese Löhne und Personalnotstand über die rein betriebliche Ebene hinausgehen muss. Das Problem ist letztlich ein gesellschaftliches und politisches. Es braucht eine gemeinsame Bewegung aller Krankenhäuser für ein bedarfsgerechtes und menschenwürdiges Gesundheitssystem unter Kontrolle der Beschäftigten.

Die kommende Auseinandersetzung in NRW muss sich bewusster als ihr Berliner Vorbild für die bundesweite Ausdehnung ihres Kampfes einsetzen. Doch gerade angesichts fehlender Finanzierung des TVE, angesichts anhaltender Profitorientierung des Gesundheitswesens muss auch das Mittel politischer Streiks der gesamten Gewerkschaftsbewegung gegen das DRG-System, Krankenhausschließungen und -privatisierungen und für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen ins Kalkül gezogen werden.

  • Entschädigungslose Enteignung privater und privatisierter Krankenhäuser unter Kontrolle der Beschäftigten und der Gewerkschaften! Entschädigungslose Enteignung der Pharma- und Medizintechnikkonzerne!
  • Für eine gesetzliche Personalbemessung, die den tatsächlichen Bedarf widerspiegelt und die in allen Sektoren, auch der Altenpflege, gilt!
  • Für ein ausreichendes Pflegepersonalgesetz in allen Sektoren, auch der Altenpflege! Personalbedarf für die PatientInnenversorgung, errechnet durch die Beschäftigten sowie PatientInnen und ihre Organisationen selber! Laufende Personalbesetzungs- und Betriebsregelungen unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Weg mit Beitragsbemessungsgrenzen, Befreiungs- und Ausstiegsmöglichkeiten aus der gesetzlichen Krankenversicherung! Für weitere Finanzierung des Plans durch progressive Steuern auf Kapital, Gewinne und Vermögen!
  • Erstellung eines Plans für ein integriertes Gesundheits-, Rettungs-, Kur- und Rehabilitationswesen von unten durch Beschäftigte und Patient:innen unter Hinzuziehung von Expert:innen ihres Vertrauens!
  • Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung, die für diese Forderungen eintritt.



Unikliniken in Nordrhein-Westfalen: Vor einem Streik?

Jürgen Roth, Neue Internationale 264, Mai 2022

In Nordrhein-Westfalen haben sich Beschäftigte der 6 Universitätskliniken (Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln, Münster) zusammengeschlossen. Sie fordern einen Tarifvertrag Entlastung (TVE) nach Berliner Vorbild.

Ultimatum

Die Warnstreiks in der Länderentgelttarifrunde des öffentlichen Dienstes im November 2021 hatten den gewerkschaftlichen Organisationsgrad dort in die Höhe getrieben. 4.000 Beschäftigte beteiligten sich an Arbeitsniederlegungen, über 1.000 schlossen sich der Gewerkschaft an. Viele wurden Tarifbotschafter:innen, vergleichbar mit Tarifberater:innen bzw. Teamdelegierten an der Charité und bei Vivantes. Im Januar 2022 stellten 700 Aktive ein 100-Tage-Ultimatum an Landesregierung und -arbeit„geber“:innenverband, das am 1. Mai abläuft. 12.000 Unterschriften kamen bei einer Petition zusammen, die zusätzlich am 23. März überreicht wurde. Das entspricht einem Anteil von 63 % der von der Tarifforderung betroffenen Kolleg:innen. Am 12. und 13. April rief ver.di zu einem Warnstreik auf, der ohne Beeinträchtigung des Klinikbetriebs zunächst einmal der Sammlung der Aktivist:innen dienen sollte. Dem Aufruf folgten 500 Pflegekräfte nach Oberhausen in Stadthalle und Niederrheinstadion zu einem „Krankenhausratschlag“. Mit ernsthafteren Warnstreiks vor der Landtagswahl am 15. Mai ist zu rechnen, denn bisher gab es keine Reaktion von der Seite, an die sich das Ultimatum richtet.

Notruf nach Berliner Vorbild

Die Beschäftigten tauften ihr Bündnis „Notruf NRW – Gemeinsam stark für Entlastung“. 5.000 Überlastungsanzeigen an den 6 Uniklinken im Jahr 2021 verdeutlichen den Ernst der Lage: Es geht den Kolleg:innen um Mindestpersonalausstattungen für alle Bereiche, angemessene Belastungsausgleiche und Verbesserung der Ausbildungsqualität. Wichtig ist den Kolleg:innen der Einbezug aller Servicebereiche.

Doch nicht nur Forderungen und Umfang der von ihnen betroffenen Beschäftigtengruppen, 100-Tage-Ultimatum, Auftakt im Fußballstadion, Steigerung des gewerkschaftlichen Organisationsgrades, Existenz von Tarifbotschafter:innen gleichen den Verhältnissen vor den großen letztjährigen Berliner Krankenhausstreiks aufs Haar. Wöchentliche Aktiventreffen an jeder Uniklinik, ständige Gespräche mit den Kolleg:innen in allen betroffenen Abteilungen zwecks Erklärung der Tarifforderungen, Mitgliederwerbung und Aufforderung zur Unterzeichnung der Mehrheitspetition treten in die gleichen Fußstapfen. Des Weiteren ist positiv zu werten, dass auch in NRW, dem Vorbild aus der Hauptstadt folgend, offensichtlich Kontakte in die sog. Zivilgesellschaft geknüpft werden konnten: In digitalen Stadtversammlungen bekundeten Bürger:innen, Parteien und Verbände ihren Zuspruch, ihre Solidarität mit dem Kampf um den TVE.

Möglicherweise heben sich 2 Unterschiede fortschrittlich von den in Berlin ausgetretenen Pfaden ab: Zum einen scheint der Ruf nach Mindestpersonalbesetzung auch die Bereiche außerhalb der Pflege (ohne ärztliches Personal) zu umfassen, während es bei Vivantes „nur“ um eine Angleichung der Tochtergesellschaften an den Lohn- und Gehaltstarif des TVöD ging. Inwieweit in NRW diese Bereiche in einen Niedrigtarif ausgelagert worden waren bzw. noch sind, ist uns nicht bekannt. In Düsseldorf und Essen wurde aber seinerzeit auch für ihre Rückkehr unter Dach und TV der Klinikmütter gestreikt und dortige (Teil-)Erfolge könnten weitergehende Forderungen ermutigt haben. In jedem Fall muss aber ein Streikziel – anders als in der Hauptstadt – ihre vollständige Rückführung in Klinikhände sein! Zweitens zeigt sich, wie richtig wir lagen, als wir die Verknüpfung der Tarifrunde TVöD-L mit dem Kampf für einen TVE forderten. Das haben zwar GEW- und ver.di-Tarifkommissionen und -vorstände peinlichst herauszuhalten vermocht, doch die Beschäftigten der Uniklinken haben es an der Basis umgesetzt. Für sie war die Gehaltstarifrunde nicht Ende, sondern nächster Schritt in ihrer weitergehenden Auseinandersetzung!

Aus Fehlern lernen!

So weit, so gut! Es wurde mehr als gelernt aus den positiven Seiten der Berliner Krankenhausbewegung. Nun gilt es, deren Fehler und Schwächen zu überwinden. Erstens: Von den Tarifbotschafter:innen mit informellem Status muss der Impuls für eine vollständige und formale Kontrolle über den zukünftigen Arbeitskampf und die Umsetzung des Ergebnisses ausgehen (Wahl und jederzeitige Abwahl von Streikkomitees, Kontrollorgane mit Vetobefugnissen bis hin zu Bettensperrungen, Aufnahmestopps und Stationsschließungen). Am 25. April demonstrierten Beschäftigte der Charité und von Vivantes gegen die schleppende Umsetzung der Tarifbeschlüsse. So hat der Senat zwar die Landesinvestitionsmittel erhöht (2019: 80 Mio. Euro, 1922: 148 Mio., 1923: 154 Mio.).

Damit meint er, die Gewichtung im Budget der Kliniken zu ändern in Richtung auf mehr Mittel für die Finanzierung zusätzlichen Personals. Die Berliner Krankenhausgesellschaft rechnet aber allein mit einem jährlichen Investitionsmittelbedarf von 350 Mio. Euro. Stärkung der Eigenkapitalzuführungen allein für Vivantes (1922: 128,3 Mio.; 1923: 131,7 Mio.) sollen die Möglichkeit des Unternehmens verbessern, Kredite aufzunehmen. Tarifverträge zu finanzieren, das verbiete aber das Krankenhausfinanzierungsgesetz. Die Krankenhausträger müssen ihre laufenden Kosten selbst erwirtschaften – zuvorderst aus Fallpauschalen (DRGs)! Ver.di und Senatsparteien haben die Streikenden damals also getäuscht mit der Beschwichtigung, eine staatliche Finanzierung des TVE sei gewährleistet. Wird die Krankenhausfinanzierung nicht grundsätzlich geändert – Abschaffung der DRGs -, kann bei gleichem oder steigendem Behandlungsaufwand das Personal nur entlastet werden, wenn es wie oben beschrieben in den Betriebsablauf eingreift.

Vorbereiten muss sich die Krankenhausbewegung auch auf eine andere, kapitalistische „Lösung“ des Dilemmas Personalknappheit, die sich in der steigenden Zahl von Krankenhausschließungen bereits abzeichnet: den Rückzug aus der stationären Grundversorgung in der Fläche! Die kommende Auseinandersetzung in NRW muss sich bewusster als ihr Berliner Vorbild für die bundesweite Ausdehnung ihres Kampfes einsetzen. Doch gerade angesichts fehlender Finanzierung des TVE, angesichts anhaltender Profitorientierung des Gesundheitswesens muss auch das Mittel politischer Streiks der gesamten Gewerkschaftsbewegung gegen das DRG-System, Krankenhausschließungen und -privatisierungen und für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen ins Kalkül gezogen werden.

Welche Perspektive?

All das zeigt, dass der Kampf gegen die Überlastung des Personals, gegen miese Löhne und Personalnotstand über die rein betriebliche Ebene hinausgehen muss. Das Problem ist letztlich ein gesellschaftliches und politisches. Es braucht eine gemeinsame Bewegung aller Krankenhäuser für ein bedarfsgerechtes und menschenwürdiges Gesundheitssystem unter Kontrolle der Beschäftigten.

  • Entschädigungslose Enteignung privater und privatisierter Krankenhäuser unter Kontrolle der Beschäftigten und der Gewerkschaften! Entschädigungslose Enteignung der Pharma- und Medizintechnikkonzerne!
  • Für eine gesetzliche Personalbemessung, die den tatsächlichen Bedarf widerspiegelt und die  in allen Sektoren, auch der Altenpflege gilt!
  • Für ein ausreichendes Pflegepersonalgesetz in allen Sektoren, auch der Altenpflege! Personalbedarf für die PatientInnenversorgung, errechnet durch die Beschäftigten sowie PatientInnen und ihre Organisationen selber! Laufende Personalbesetzungs- und Betriebsregelungen unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Weg mit Beitragsbemessungsgrenzen, Befreiungs- und Ausstiegsmöglichkeiten aus der gesetzlichen Krankenversicherung! Für weitere Finanzierung des Plans durch progressive Steuern auf Kapital, Gewinne und Vermögen!
  • Erstellung eines Plans für ein integriertes Gesundheits-, Rettungs-, Kur- und Rehabilitationswesen von unten durch Beschäftigte und Patient:innen unter Hinzuziehung von Expert:innen ihres Vertrauens!
  • Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung, die für diese Forderungen eintritt.