Argentinien nach 100 Tagen ultra-neoliberaler Regierung

Jonathan Frühling, Infomail 1249, 23. März 2024

Seit ca. 100 Tagen ist Javier Milei nun in Argentinien an der Macht. Er war am 10. Dezember als Präsident Argentiniens vereidigt worden, um die Wirtschaftskrise zu lösen. Seine Mittel dafür sind neoliberale Maßnahmen, die weltweit ihresgleichen suchen.

Angriff mit der Kettensäge

Nur wenige Tage nach Amtsantritt am 10. Dezember trat die neue Regierung mit einem Dekret der Notwendigkeit und Dringlichkeit (DNU) hervor, welches ca. 350 Gesetze sofort abgeschafft oder verändert hat. Milei hat, durchaus treffend, die Motorsäge als Symbol seiner Angriffe gewählt, indem er ankündigte, alle Errungenschaften der Arbeiter:innenbewegung abzusägen.

Die Inflation explodiert unter Milei

Die Inflation ist in den drei Monaten seiner Amtszeit schon massiv gestiegen – genau um ungefähr 100 % auf 250 % pro Jahr. Grund dafür war u. a. eine 50%ige Abwertung der Währung gegenüber dem US-Dollar. Außerdem wurden Subventionen für den öffentlichen Verkehr, Gas, Strom und Wasser gekürzt. Noch dazu kam, dass eine Preisbindung für Medikamente und Produkte des täglichen Bedarfs aufgehoben wurde. Die Konzerne haben das genutzt, diese sofort extrem zu verteuern. Die Inflation trifft zwar auch die großen Unternehmen, aber natürlich weitaus weniger als die große Masse der Bevölkerung. Ihre Preise sind es ja, die steigen, so dass sie die erhöhten Kosten zu einem beträchtlichen Teil an die Käufer:innen weitergeben, besonders bei lebensnotwendigen Gütern. Dasselbe passiert, wenn Subventionen wegfallen.

Durch die Abwertung der Währung wird außerdem der Warenexport begünstigt. Die Großgrundbesitzer:innen, deren Erzeugnisse 60 % des Exports ausmachen, freut’s. Importe hingegen – vor allem Fahrzeuge, Erdölerzeugnisse, Maschinen und elektronische Geräte – werden jedoch teurer und heizen die Inflation so weiter an.

Angriff auf demokratische Rechte: das Protokoll Bullrich

Die Ministerin für Innere Sicherheit, Bullrich, hat bereits einen heftigen Angriff aufs Demonstrationsrecht gestartet. Demonstrationen dürfen nicht mehr den Verkehr stören, was dem Staat faktisch die Möglichkeit gibt, kleine Demos zu schikanieren und große aufzulösen. Wie sollen Tausende oder sogar Hunderttausende Demonstrant:innen auf den Bürgersteigen durch die Stadt marschieren!? Bei kleinen Demos wurde das Gesetz bereits angewendet. Auch werden massenhafte anlasslose Kontrollen in öffentlichen Verkehrsmitteln autorisiert.

Abbau staatlicher Leistungen

Direkt nach seiner Amtsübernahme wurden das Kultur- und das Frauen- und Geschlechterministerium aufgelöst. Durch Streichung von Infrastrukturprojekten fallen zehntausende Arbeitsplätze im Bausektor weg. Auch viele andere Ministerien wurden zusammengelegt und umstrukturiert, wobei tausende Staatsbedienstete entlassen wurden. Die Regierung prüft laufend tausende von Verträgen und wird so in Zukunft weitere Menschen entlassen. Besonders trifft es auch die sozialen Bereiche. Z. B. wurden bereits unzählige Sozialarbeiter:innen, die sich für Jugendliche engagieren, gefeuert. Mitte März hat es die staatliche Medienorganisation getroffen.

Zusammen genommen wurden so bis Januar die größten Haushaltskürzungen der Geschichte des Landes beschlossen, wie die Regierung stolz verkündete. Im Vergleich zum Januar 2023 wurden die öffentlichen Investitionen um 75 % gekürzt, die Sozialausgaben um 59 %, die Transferleistungen an die Provinzen um 53 %, die Renten um 32 %, die Personalausgaben um 18 %, die Familienzulagen um 17 % und die Ausgaben für Universitäten um 16 %! Das Land schreibt im Februar erstmal wieder schwarze Zahlen. Es wird also der Bevölkerung das weggenommen, um es den internationalen Gläubiger:innen in den Rachen zu stecken.

Die Rückkehr des Hungers

Die Anzahl der Menschen, die auf Suppenküchen und Tafeln angewiesen sind, hat sich in den letzten Monaten drastisch erhöht. Laut Aljazeera nehmen 10 Millionen die Angebote der ca. 38.000 lokalen Tafeln an. Das ist fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung! Grund dafür ist, dass sich die Armutsquote seit der Amtsübernahme von Milei von 40 % auf 57 % erhöht hat. Es herrschen also bereits Zustände wie während der Krise 2001 – 2003. Das hinderte die Regierung nicht, die Staatshilfen für Suppenküchen kurzerhand zu streichen. Argentinien steuert damit direkt auf eine Hungerkrise zu.

Die Hilfeleistenden bemühen sich weiterzumachen, aber zum Teil erodiert die Solidarität angesichts der Krise: Privatpersonen und vor allem Geschäfte, die vorher an die Tafeln gespendet haben, können sich das einfach nicht mehr leisten. Tatsächlich hat es auch schon die ersten Hungerproteste vor dem neugeschaffenen Humankapitalministerium gegeben. Die Situation wird sich bereits in den nächsten Monaten extrem verschärfen. Ausgewachsene Hungerrevolten sind damit schon sehr bald eine Möglichkeit.

Die Regierung schwächelt

Glücklicherweise wurde zumindest das sogenannte Omnibusgesetz vom Parlament abgelehnt. Es enthielt alle Gesetze, die nicht durch ein DNU durchgedrückt werden konnten. Um die Schwere der Angriffe klarzumachen, sollen hier einige Punkte genannt werden: Finanzierung der Unis nach Anzahl der Absolvent:innen, Schließung der meisten staatlichen Kulturorganisationen, faktisch der meisten öffentlichen Bibliotheken, Freigebung indigener Waldschutzgebiete für Bergbauaktivitäten, Privatisierung aller restlichen 41 staatlichen Unternehmen (u. a.  Transportunternehmen, Wasser-, Strom- und Gasversorger), die Festlegung der Renten durch die Regierung am Parlament vorbei. Die Regierung versucht nun aber natürlich, die Gesetze einzeln und/oder in veränderter Form durch das Parlament zu schleusen.

Eine weitere Schwächung ist der ewige Streit mit Mileis Vizepräsidentin Victoria Villarruel. Sie hat sich von Beginn an vom kompromisslosen Kurs Mileis abgegrenzt und auf Verhandlungen mit dem Parlament gesetzt. Das war vielleicht auch ein Grund, warum dieser sie nicht mit einem hohen Posten (z. B. dem Innenministerium) ausgestattet hat. Zuletzt ist der Streit wieder eskaliert, als öffentlich wurde, dass sie sich mit dem Expräsidenten Macri getroffen hatte, um an Milei vorbei politische Alternativen zu seinem Vorgehen zu besprechen. Außerdem hat sie die Abstimmung des DNU im Senat angesetzt, was Milei hinauszögern wollte. Das führte prompt zu einer Abstimmungsniederlage für Milei, da das DNU im Senat abgelehnt wurde. Jetzt steht bald die Abstimmung im Unterhaus an, wo die Mehrheitsverhältnisse für ihn jedoch günstiger sind.

Zudem hat Milei weiter Unterstützung verloren, als er Zahlungen des Staates an die Provinzen strich. Diese haben sich deshalb gegen ihn aufgelehnt und gedroht, Gas- und Öllieferungen in den Norden einzustellen. Am 1. März verkündete die Regierung, dass die Provinzen ihr Geld erhalten würden, wenn sie ihre Gesetzesvorhaben im Kongress unterstützen. Details sollen bis Ende Mai unterschriftsreif sein. Der Ausgang dieses Schachzuges ist jedoch keineswegs gewiss. Umgekehrt zeigt sich daran jedoch auch, dass von den „oppositionellen“ Eliten und unzufriedenen Anhänger:innen Mileis allenfalls ein Schacher um einzelne Maßnahmen seiner Regierungspolitik zu erwarten ist, so dass sie ihre Sonderinteressen absichern. Letztlich steht die herrschende Klasse Argentiniens jedoch noch immer hinter dem Generalangriff auf die Arbeiter:innenklasse. Sie will jedoch dabei eigene Pfründe gesichert wissen und ein „Mitspracherecht“ bei den Maßnahmen.

Und die Arbeiter:innenbewegung?

Am 24. Januar Januar fand ein Generalstreik in Argentinien statt, welcher 1,5 – 2 Millionen Menschen auf die Straße brachte. Es war der erste seit 2019 und eine erste Machtdemonstration der Gewerkschaften. Danach hieß es jedoch: nach Hause! An den Protesten vor dem Parlament zur Abstimmung des Omnibusgesetzes beteiligte sich nur die radikale Linke. Besonders tat sich dabei das Bündnis aus vier trotzkistischen Gruppen mit dem Namen FIT-U hervor. Doch die maximal 10.000 – 20.000 Menschen, die sich während der zwei Tage an den Kundgebungen beteiligt haben, sind einfach zu wenig. Das ermutigte die Polizei wohl auch am Ende des zweiten Tages, als nur noch ca. 1.500 Menschen vor dem Parlament waren, mit Motorrädern in die Menge zu fahren und die friedlichen Demonstrant:innen wahllos mit Gummischrot zu beschießen, wobei viele verletzt wurden. Das ist aber wohl nur ein Vorgeschmack auf die Repression, die die Regierung entfesseln wird, wenn sich die unterdrückten Klassen weiter wehren werden.

Die peronistischen Organisationen glänzten gleich ganz mit Abwesenheit. Und das bei einer solchen Schärfe der Angriffe! Die Ablehnung des Omnibusgesetzes im Senat gibt ihnen jetzt noch einen Vorwand, nicht auf die Straße zu gehen. Bis Ende März 2024 sind keine weiteren Streiktage geplant, gibt es von Seiten der Gewerkschaften keinen Aktionsplan gegen die Hungerkrise, Inflation, Entlassungen und die weiteren gesetzlichen Verschärfungen.

Anscheinend hoffen die Führer:innen der peronistischen Partei, dass sie nach Milei sowieso wieder an die Regierung kommen (mit dem Vorteil, dass die bis dahin betriebene Austeritätspolitik nicht auf ihre Kappe geht). Und sie hoffen, mit der Rücknahme einiger Gesetze ggf. sogar wieder das Vertrauen der Massen gewinnen. Doch das Leben hat sich bereits jetzt für die Menschen drastisch verändert. Ein „irgendwie weiter so“ kann es für die in Armut und Elend Getriebenen nicht geben!

Klar ist, dass es keine Hoffnung auf Populismus in Gestalt der Peronist:Innen geben darf. Der Peronismus hat das Land erst in die Krise geführt, in der es sich heute befindet. Auch der peronistische Präsidentschaftskandidat Massa hat eine straffe Austeritätspolitik im Wahlkampf angekündigt und die peronistische Vorgängerregierung hat unter Präsident Fernández und Massa als Wirtschaftsminister die Sparpolitik Macris einfach fortgesetzt. Letztlich dienen sie genauso den herrschenden Klassen, nur eben auf eine etwas andere Art und Weise als Milei. Sie haben lange Zeit die korporatistische Einbeziehung und Ruhigstellung der Lohnabhängigen über die Gewerkschaften und der Arbeitslosen über die Einbindung der Arbeitslosenorganisationen in die Verteilung von Hilfsgeldern bewerkstelligt.

Das Pulver des Populismus ist jedoch angesichts der historischen ökonomischen Krise verschossen. Das Konzept des Ausgleichs zwischen den Klassen hat abgewirtschaftet. Dennoch hegen viele noch Illusionen in die peronistische Partei Partido Justicialista oder sehen diese zumindest als das kleinere Übel an. Diese Illusionen können jedoch nicht nur durch Propaganda, Enthüllung und Denunziation enthüllt werden, es braucht auch eine aktive Politik gegenüber den peronistisch dominierten Gewerkschaften und der Partei- und Wähler:innenbasis, zum Aufbau einer Einheitsfront gegen die Angriffe.

Es beginnt zu brodeln …

Bereits jetzt sind die Auswirkungen der von Milei verordneten Schocktherapie enorm. In den nächsten Monaten werden sie sich weiter zuspitzen, besonders wenn die Regierung ihre Angriffe fortsetzt. Sicherlich wird das die Möglichkeit zu größeren Protesten eröffnen, wenn es Organisationen gibt, die den Weg dafür weisen. Es regt sich nämlich schon jetzt Widerstand über den Generalstreik am 24. Januar hinaus. Lehrer:innen in sieben Provinzen sind am 26. Februar in dem Streik getreten. Am 4. März gab es einen weiteren Streiktag. Grund dafür sind Gehaltskürzungen für Schullehrer:innen und eine faktische Kürzung des Universitätsbudgets um 50 %. Auch Eisenbahn- sowie Krankenhausarbeiter:innen im öffentlichen wie in privaten Krankenhäusern sind in den Ausstand getreten. Es beginnt offensichtlich in der Arbeiter:innenklasse zu brodeln. Das hat den Gewerkschaftsdachverband endlich bewogen, über einen neuen Generalstreik „nachzudenken“, bislang ohne jeden konkreten Termin oder Mobilisierungsplan. Auch die Beliebtheitswerte Mileis waren schon 2 Monate nach seiner Amtsübernahme um 15 % auf mittlerweile unter 50 % gefallen.

In Buenos Aires haben sich in einigen Vierteln Stadtteilversammlungen gebildet, die Nachbarschaftshilfe leisten, zusammen diskutieren und zu Demos mobilisieren. Das sind Keimzellen richtiger Stadtteilkomitees, die neben der, aus der Not geborenen Übernahme von Hilfeleistungen, die Bevölkerung in basisdemokratischen Strukturen fest organisieren könnten.

Kampf um die Gewerkschaften

Die Gewerkschaftsführung organisiert momentan nur begrenzte Aktionen einzelner Sektoren oder halbtägige Generalstreiks. Das hat zwar im Januar eine gewisse Mobilisierungsfähigkeit gezeigt und war insofern ein Fortschritt. Aber die Streiks dürfen nicht zu einem Ritual verkommen, welches dazu dient, dass die Menschen ihrem Ärger Luft machen können, damit sie danach brav an die Werkbank oder ins Büro zurückkehren. Das ist nämlich momentan die Taktik der bürokratischen Gewerkschaftsführung.

In Wirklichkeit können und sollen die begrenzten und Teilstreiks zwar genutzt werden, um Erfahrungen zu machen und die Bewegung auszuweiten. Aber das allein wird nicht reichen, um die Angriffe der Regierung zurückzuschlagen. Dafür braucht es aber die Macht der großen Gewerkschaften. Ohne deren Kampfkraft wird es keinen Erfolg geben. Es stellt sich also vor allem die Frage, wie sie wieder in Instrumente der Arbeiter:innenklasse verwandelt werden können.

Dazu ist es unerlässlich, die Forderung nach einem unbefristeten Generalstreik, Aktionskonferenzen zu dessen Vorbereitung und einem Kampfplan nicht nur an die Gewerkschaftsbasis, sondern auch ihre Führung zu stellen. Denn der Druck der Ereignisse und der Basis kann die Spitzen zwingen, weiter zu gehen, als sie selbst wollen, und zugleich dazu genutzt werden, um diese Forderungen herum in den Betrieben und Gewerkschaften die Basis zu mobilisieren und Kampfstrukturen aufzubauen, die auch ohne die Bürokratie aktions- und handlungsfähig sind.

Wenn die Arbeiter:innen so das Heft des Handelns selbst in die Hand nehmen, können sie die reformistische Führung oder Teile davon zum Handeln zwingen und zugleich eine organisierte, klassenkämpferische Opposition aufbauen, die der reformistischen Führung der Gewerkschaften die Stirn bietet und diese zu ersetzen vermag.

Wichtig ist dabei, sich an den existierenden Kämpfen aktiv zu beteiligen und andere selbst anzustoßen. Und wie könnte das besser gehen als mit dem Aufbau betrieblicher Aktionskomitees und lokaler Bündnisse, an denen sich linken Organisationen und Parteien, Nachbarschaftsorganisationen, Gewerkschaften usw. beteiligen können, die den Kampf ernsthaft aufnehmen wollen? Das Ziel muss eine Kampfeinheit aller Organisationen der Klasse sein, die eine konstante Bewegung gegen die Regierung aufbaut. Dabei ist es essentiell, dass solche Strukturen nicht nur in den Betrieben und auf lokaler Ebene bestehen, sondern sie landesweit zentralisiert werden und so auch die Führung eines Generalstreiks übernehmen können. Das Gebot der Stunde ist eine Arbeiter:inneneinheitsfront!

Sozialismus und Generalstreik

Um siegreich zu sein, braucht es auch eine sozialistische Perspektive, die eine Politik über die Abwehr der Angriffe hinaus bieten kann. Das würde den Menschen wieder Hoffnung geben und sie zum Kampf motivieren. Glücklicherweise gibt es in Argentinien in Form der trotzkistischen Wahlplattform FIT-U eine radikale Linke, die stärker ist als in fast jedem anderen Land. Sie erhält bei den Wahlen rund 3 Prozent und zwischen einer halben und einer Million Stimmen. Sie repräsentiert damit eine wichtige Minderheit der Arbeiter:innenklasse.

Doch die FIT-U ist selbst bislang nur ein Wahlbündnis von vier trotzkistischen Organisationen, keine Partei. Als effektive Einheit existiert sie nur im Wahlkampf und bei gemeinsamen Demonstrationen (was jedoch auch ohne die FIT-U organisiert werden könnte). Militante Arbeiter:innen und Jugendliche, die die FIT-U wählen, können ihr nicht beitreten. Die FIT-U selbst verfügt über keine Basisstrukturen. Eine Beteiligung ist für bislang Unorganisierte, die nach einem revolutionären Ausweg suchen, nur möglich durch den Eintritt in eine ihrer vier Mitgliederorganisationen, was letztlich zu einer Stagnation der FIT-U bei den Wahlen der letzten Jahre führte.

Vor allem aber versagt die FIT-U zur Zeit darin, ihre Möglichkeiten zu nutzen, um das Kernproblem der argentinischen Arbeiter:innenklasse aufzugreifen – das Fehlen einer revolutionären Partei der Arbeiter:innenklasse.

Eine solche könnte und müsste ideologisch und organisatorisch die Führung in den Kämpfen übernehmen, damit die Regierung gestürzt werden kann. Dafür muss sie jedoch ihre eigene Zersplitterung überwinden und die organisatorische Einheit suchen. Zweifellos trennen die verschiedene Teile der FIT-U wichtige programmatische Differenzen, doch diese müssen im Hier und Jetzt angegangen werden. Der beste Weg, das zu tun, wäre eine breite und öffentliche Diskussion über ein Aktionsprogramm gegen die Angriffe, für den Generalstreik und die Errichtung einer Arbeiter:innenregierung, die sich auf Räte und Arbeiter:innenmilizen stützt. Ein solches Programm ist unerlässlich, denn ein wirklicher Generalstreik wird in Argentinien unwillkürlich die Machtfrage aufwerfen – und auf diese muss eine revolutionäre Partei eine klare Antwort geben können.




Polen vor der Wahl

Markus Lehner, Infomail 1233, 6. Oktober 2023

Die Parlamentswahlen am 15. Oktober in Polen werden allgemein als Schicksalswahl bezeichnet. Nicht dass es wie 1989 um grundlegende Fragen der Eigentumsverhältnisse ginge, aber ein dritter Wahlerfolg der rechtsnationalistischen PiS (Partei für Recht und Gerechtigkeit) würde die schon bestehenden autoritären Tendenzen verschärfen, wenn nicht für längere Zeit unumkehrbar machen.

Bilanz der PiS

Die PiS-Regierungen schafften es in den letzten Jahren, wesentliche Merkmale liberaler Demokratie zu unterhöhlen. Bekannt sind vor allem die Justizreform (direkter politischer Einfluss auf die Ernennung von Richter:innen) und die Kontrolle über die öffentlichen Medien. Beides entscheidend, um die nationalkonservative „Wende“ durchzusetzen, die sich z. B. in einer de facto Abschaffung des Rechts auf Abtreibung, von Rechten von LGBTIAQ-Menschen, von nationalen Minderheiten und Geflüchteten etc. ausdrückt. Sie beinhaltet auch eine weitere Stärkung der gesellschaftlichen Rolle der besonders konservativen katholischen Kirche in Polen. Bezeichnend ist die jüngste Episode um die Enthüllung eines Privatsenders über Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche, die vom ehemaligen Papst Johannes Paul II. als Erzbischof von Krakau gedeckt worden waren. Diese Enthüllungen führten zu reaktionären Massendemonstrationen gegen diesen „Angriff auf das Andenken des Heiligen“ und darauffolgend zu einer Gesetzesinitiative der PiS-Regierung, die solche Angriffe auf den Geheiligten unter Strafe stellt (wie auch schon früher Veröffentlichungen über polnische Beteiligungen an der Verfolgung der Jüd:innen im Zweiten Weltkrieg gesetzlich mit schweren Strafen verbunden wurden).

Diese eindeutig reaktionäre Charakteristik der PiS hat allerdings sozialpolitisch eine Kehrseite: Die oppositionelle PO (Bürgerplattform) unter dem damaligen Ministerpräsidenten (2007 – 2014) Donald Tusk zeichnete sich durch besonders neoliberale Angriffe auf soziale Bedingungen von Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen aus, z. B. Erhöhung des Renteneintrittsalters, Verschlechterung von Gewerkschaftsrechten, Streichung von Sozialleistungen, radikale Privatisierungen. Dies führte nicht nur zu einer weiteren Verschlechterung der sozialen Lage vieler Rentner:innen und der Verschlechterung des Zugangs zum Gesundheitssystem, sondern auch zu wachsenden sozialen Protesten gegen die PO-Regierung.

Die Situation der polnischen Arbeiter:innenklasse war seit der Wende 1989 durch das Problem der Spaltung der Gewerkschaftsbewegung geprägt (heute gibt es drei mittelgroße Gewerkschaftsverbände bei einem niedrigen Organisationsgrad von 12 %). Die großen Illusionen in „Solidarnosc“ als gewerkschaftliche und politische Kraft (mit über 10 Millionen Mitgliedern bei ihrer Gründung und rund 2 Millionen im Jahr 1989) zerbrachen schnell in der Periode der Schocktherapie. Während sie in den frühen 2000er Jahren als politische Gruppierung in der Bedeutungslosigkeit versank, ist sie als NSZZ Solidarnosc (Unabhängige selbstverwaltete Gewerkschaft Solidarität) heute eher eine typisch „christliche Gewerkschaft“ und mit 600.000 Mitgliedern auf das Niveau der ehemaligen Staatsgewerkschaft OPZZ (Bundesweiter Gewerkschaftsbund) gesunken, die der Linken nahesteht und zumeist in Arbeitskämpfen radikaler auftritt. Der dritte Verband FZZ (Gewerkschaftsforum) versteht sich als „neutrale“ Gewerkschaft zwischen den beiden Blöcken. Gegen die Tusk-Regierung waren sich allerdings alle Gewerkschaften erstmals einig und mobilisierten auch erfolgreich, was zum Sturz der neoliberalen PO-Regierung 2015 beigetragen hat. Allerdings ist es seitdem mit ihrer Einheit auch wieder vorbei, nachdem Solidarnosc offensiv die PiS unterstützt. Dies ist auch verbunden damit, dass die PiS einige Forderungen der Gewerkschaft aufgegriffen hat, insbesondere was das Zurückdrehen der Rentenreform betrifft, aber auch den Ausbau bestimmter Sozialleistungen, z. B. Das 500+-Kindergeld, das im gegenwärtigen Wahlkampf auf 900+ auszudehnen versprochen wird (ein Zloty entspricht zurzeit 0,22 Euro).

Polens Wirtschaft bis zur Pandemie

Diese Politik der „sozialen Wohltaten“ für „echte Pol:innen“ war möglich geworden durch die zeitweise günstige wirtschaftliche Entwicklung seit etwa 2005. Selbst während der „Großen Rezession“ gab es in Polen positive Wachstumszahlen, anders als in den meisten anderen europäischen Ländern. Diese Entwicklung basierte auf erhöhten Ausbeutungsraten der polnischen Arbeiter:innenklasse (längere Arbeitszeiten, niedriges Lohnniveau, geringe betriebliche Rechte etc.), einem trotzdem gewichtigen Binnenmarkt, günstigen Energiekosten (Kohle und Öl auch aus Russland!) und einem Anschluss an die Lieferketten insbesondere der deutschen Industrie. Das kräftige Wirtschaftswachstum über mehr als ein Jahrzehnt schien Polen auf ein Niveau mit den großen westeuropäischen Ökonomien zu führen.

Die sozialen Zugeständnisse der PiS-Regierung seit 2015 und die weiterhin günstige wirtschaftliche Entwicklung stärkten sowohl ein neues nationales Selbstbewusstsein im Kleinbürger:innentum, als auch Illusionen vieler Arbeiter:innen in die PiS als „kleineres Übel“ angesichts der Erfahrungen mit der PO und der sozialdemokratischen SLD (Bund der Demokratischen Linken). Die PO führte im Wesentlichen die „Reformen“ der SLD-Regierungen der 2000er Jahre fort. Dies erklärt auch den Erfolg der PiS bei den letzten Wahlen 2019. Damals gewann sie 6 Prozent hinzu und siegte mit 43,6 % klar vor dem Wahlbündnis der PO (27,4 %). Das Linksbündnis Lewica (Linke) konnte sich mit 12,6 % (+1,4 %) leicht verbessern und insgesamt stabilisieren. In diesem Bündnis trat neben der SLD auch erstmals die 2015 gegründete „Razem“ („Gemeinsam“) an. Insgesamt errang die PiS im Rahmen der Fraktion „Vereinigte Rechte“ eine Parlamentsmehrheit und war nicht auf Koalitionspartner:innen, z. B. die rechtsextreme „Konfederacja“ (Konföderation der Freiheit und Unabhängigkeit; 6,8 %), oder eine Allianz mit der Bäuer:innenpartei PSL (8,6 %) angewiesen.

Veränderung der ökonomischen Lage

Inzwischen hat sich die ökonomische Lage wie auch die außenpolitische Situation vollständig gewandelt. Polen wurde spätestens durch die Coronakrise schwer getroffen wie auch von der folgenden Lieferkettenkrise und den weltweiten Inflationstendenzen. Es weist die höchste Inflationsrate in Europa (derzeit bei 12 %) auf, ist weit von einem Wiedererreichen des Vorcoronaniveaus entfernt (das letzte Quartal zeigt sogar einen Einbruch von – 8,5 %). Insgesamt leidet die Ökonomie sowohl unter steigenden Energiekosten seit dem Beginn des Ukrainekriegs als auch unter allgemeinen Transformationsproblemen. Dazu zählen z. B. die Auflagen zum Ausstieg aus der Kohleförderung wie auch der Umbau der Automobilindustrie (einige deutsche Automobilfirmen haben in diesem Jahr Personal in polnischen Werken abgebaut).

Kein Wunder, dass die PiS-Regierung nicht nur zur Justizreform, sondern auch zum EU-Transformationsprogramm mit Brüssel, dem Green Deal, auf Konfrontationskurs steht. Inzwischen haben sich die Strafzahlungen an die EU auf über eine halbe Milliarde Euro angesammelt. Gravierender ist aber die Einbehaltung von 35 Milliarden aus dem Coronawiederaufbaufonds der EU. Polen ist nicht im Euro und muss daher seine Währung durch besonders hohe Zinsen abfangen, auch um ein weiteres Steigen der Inflation zu vermeiden. Dies und das Zurückhalten der billigen EU-Kredite aus dem Fonds führt zu stark verschlechterten Finanzierungsbedingungen, was sich insbesondere im Baubereich und bei der Verschuldung im privaten Sektor stark bemerkbar macht. „Innovative“ Regierungsgeschenke wie „Kreditferien“ (Aussetzen von Ratenzahlungen) tragen ihrerseits nicht zur Bonität des polnischen Finanzsystems bei. Die Regierung steht wirtschaftlich derartig unter Druck, dass sie seit einiger Zeit einen Kompromiss mit der EU in Bezug auf die Justizreform anstrebt, um die Freigabe des Coronafonds zu erreichen. Sie scheitert damit aber an ihren Verbündeten in der rechten Fraktion, insbesondere dem Justizminister. Ergebnis ist weitere nationalistische Propaganda in Bezug auf „deutschen Kolonialismus“, der aus Brüssel betrieben würde. Insbesondere der Führer der oppositionellen PO, der nach seiner Zeit als EU-Ratspräsident (2014 – 2019) nach Polen zurückgekehrte Donald Tusk, wird inzwischen systematisch als „deutsche Marionette“ auch und insbesondere in den Staatsmedien verunglimpft.

Konfrontation PiS-PO

Höhepunkt der Kampagne war sicherlich die Verabschiedung des allgemein als „Lex Tusk“ bezeichneten sogenannten „Antiagentengesetzes“. Dieses sollte vordergründig Menschen, die Agententätigkeit für Russland betrieben hatten, aus Staatsämtern und insbesondere auch Kandidaturen für solche ausschließen. Dabei wurde jedoch in den ersten Entwürfen des Gesetzes „Agententätigkeit“ so weit gefasst, dass auch „nachgiebige Politik“ gegenüber Russland als solche bezeichnet werden konnte – und zufälligerweise wurden vor allem Beispiele von Vereinbarungen mit Russland aus der Regierungszeit von Tusk bzw. seiner Zeit im EU-Rat zitiert. Es war mehr als offensichtlich, dass man ihn – als möglichen Hauptgegner bei den jetzigen Parlamentswahlen – aus dem Rennen nehmen wollte. Für ihn und die PO war dies andererseits eine gelungene Vorlage, um die wachsende Zahl der Menschen, die von den autoritär-reaktionären Wendungen der PiS abgestoßen sind, hinter sich zu versammeln und mehrere Massenkundgebungen zu organisieren. Alleine im Juni waren etwa eine halbe Million Menschen auf der Protestversammlung; die letzte fand jetzt am 1. Oktober statt. Nach Intervention aus Brüssel und auch der US-Regierung musste das Gesetz wesentlich entschärft werden.

Die PiS konterte diese Oppositionsmobilisierungen mit den schon erwähnten Demonstrationen zur Verteidigung von Johannes Paul II. und dem Schüren von Hass gegen Migrant:innen. Dazu kam man auf die „geniale“ Idee, die Wahl am 15. Oktober mit einer Volksabstimmung zu verbinden, bei der man beantworten kann, ob man dafür ist, dass tausende „Illegale“ wie von der EU gefordert in Polen aufgenommen werden müssten. Mit dieser Scheinfrage kann man in den Staatsmedien auf Steuerkosten billige Wahlkampfsendezeit verbraten. Peinlich nur, dass vor Kurzem ein Korruptionsskandal in Bezug auf den Verkauf von EU-Migrationsdokumenten aufflog, an dem führende PiS-Funktionär:innen maßgeblich beteiligt waren. Tatsächlich ist dies auch nur einer von vielen Skandalen, in die die PiS-Partei inzwischen verwickelt ist – so dass auch von dieser Seite her viele in Polen inzwischen die Nase von dieser Partei voll haben.

Trotzdem verfängt sowohl ihre nationalistische wie soziale Demagogie weiterhin – und anhaltend gibt es berechtigte Ablehnung des Wirtschafts- und Sozialprogramms der PO von Donald Tusk. Daher steht die Wahl nach den jüngsten Umfragen weiterhin Spitz auf Knopf. Die PiS wird wohl einige Prozentpunkte verlieren. Umfragen prognostizieren 38 %, womit sie nicht mehr weit entfernt von einer gestärkten PO wäre, deren Wahlbündnis etwa 32 % erwarten kann.

Andere Parteien

Lewica dürfte angesichts der Polarisierung etwas verlieren, aber mit um die 10 % weiterhin sicher im Parlament vertreten sein. Bedenklich sind auch die prognostizierten 10 % der inzwischen immer rechtsextremer auftretenden Konfederacja, die als einzige der aussichtsreichen Parteien für einen Austritt aus der EU wirbt (und damit selbst für die PiS schwer als Koalitionspartnerin infrage kommt). Wahlentscheidend dürfte das Abschneiden des Zentrumsblocks aus PSL und der Polska 2050 (eine Partei des „dritten Lagers“, meist aus ehemaligen PO-Mitgliedern). Sollte er die 8 %-Hürde, die in Polen für Wahlbündnisse besteht, überwinden, hätte die PiS wahrscheinlich verloren. Sollte es das Bündnis jedoch nicht schaffen, könnte die PiS wohl wie bisher weitermachen.

Daher ist es nicht verwunderlich, dass in den letzten Wochen vor allem um die Basis der PSL, die Bäuer:innenschaft gekämpft wird.  Deren Bedeutung lässt sich an der Tatsache ablesen, dass in Polen noch 12 % der Arbeitskräfte im Agrarsektor beschäftigt sind. Insbesondere die Proteste gegen Billiggetreide aus der Ukraine führten offenbar bei der PiS zu Panik, da sie um ihre satte Unterstützung auf dem Land und vor allem im Osten von Polen fürchtete. Prompt begann die polnische Regierung, das EU-Getreideabkommen mit der Ukraine zu torpedieren und sogleich, überhaupt (nicht nur polnische) Waffenlieferungen, wenn auch nur als Verhandlungsfaustpfand, infrage zu stellen. Nichts davon hat wirklich Substanz, zeigt aber, wie leicht in Polen mit den historischen antiukrainischen Ressentiments Politik gemacht werden kann – und wie fragil selbst die „unumstößliche“ Unterstützung Polens für die bedrängte Ukraine ist.

Drohende Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse

Die polnischen Arbeiter:innen wie auch die Millionen ausgebeuteten Ukrainer:innen, die nicht erst seit dem Krieg in Polen als Billigarbeitskräfte eingesetzt werden, haben jedenfalls angesichts der ökonomischen und politischen Lage weder von einer PiS noch einer PO-geführten Regierung irgendetwas anderes als massive Angriffe zu erwarten. Sicherlich würde eine Fortsetzung der PiS-Regierung eine weitere Verstärkung autoritär-reaktionärer Repression bedeuten, der so oder so massive gesellschaftliche Mobilisierung entgegengesetzt werden muss. Beide politischen Lager wären aber angesichts der Verschuldung und der ökonomischen Einbrüche auch zu weiteren Verschlechterungen bei Arbeitsbedingungen und sozialen Leistungen bereit. Wie weit die PiS-Regierung hier gehen kann, hat sie schon beim jüngsten Lehrer:innenstreik gezeigt.

Insofern erscheint das reformistische Wahlbündnis Lewica als einzige Alternative und insbesondere Razem als einzig sichtbare linke Kraft in den größeren Mobilisierungen. Schon im Februar hatten sich 5 größere Gruppierungen für ein erneutes gemeinsames Antreten als „Nowa Lewica“ (Neue Linke) zusammengefunden: die SLD, Wiosna („Frühling“), die PPS (Polnische Sozialistische Partei), Unia Pracy (Arbeitsunion) und Razem. Razem ist international durch eine stärker jugendliche Basis und Verbindungen in Deutschland etwa zur IL oder zur Linkspartei bekannt. International war sie lange Zeit im Rahmen der „Progressiven Internationale“ von Varoufakis und Sanders aktiv. Aus letzterer trat sie allerdings nach Beginn des Ukrainekrieges wegen der mangelhaften Solidarisierung mit der vom russischen Imperialismus überfallenen Ukraine aus. Razem hatte (stärker noch als die anderen genannten Organisationen) eine wichtige Rolle in den gesellschaftlichen Mobilisierungen gegen die reaktionäre PiS-Politik gespielt, insbesondere in den radikaleren Protesten der Frauenbewegung (v. a. zum Abtreibungsrecht), den Kämpfen um LGBTIAQ-Rechte, aber auch bei Protesten rund um die wachsenden Sektoren prekärer Beschäftigung (was man auch in Deutschland jüngst bei denen der LKW-Fahrer in ihrem Kampf gegen Lohnraub wahrnehmen konnte).

Lewica

Lewicas Wahlprogramm fokussiert sicherlich auf richtige Themen: Gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit auf eine 35-Stundenwoche, gleitende Inflationsanpassung von Renten und Sozialleistungen, Anpassung der Gehälter der öffentlich Beschäftigten, Abschaffung der Bestimmungen, die prekäre Beschäftigungsverhältnisse ermöglichen, sowie der reaktionären Beschränkungen von Abtreibungen, Rückgängigmachung der Justizreform, Abschaffung der Sonderrechte der katholischen Kirche und vieles mehr. Razem stellt zwar einige der Spitzenkandidat:innen wie Adrian Zandberg und Magdalena Biejat, ist aber ansonsten vor allem weiterhin als „Bewegungspartei“ in den verschiedenen Protesten aktiv. Wahlkampf wird nur als „Lewica“ betrieben.

So richtig viele dieser Forderungen sind, so undeutlich werden die verschiedenen Strömungen darin, wie diese umgesetzt werden können angesichts der Machtverhältnisse nicht nur in Parlament und den politischen Strukturen. Nicht nur der polnische Kapitalismus wird zunehmend aggressiver, auch verschiedene Rechtsorganisationen unterhalten immer militantere Milizen, die nicht nur gegen Minderheiten und Migrant:innen verstärkt mit Gewalt vorgehen. Auch Streiks werden mit bewaffneten Streikbruchorganisationen bekämpft (wie auch jüngst auf deutschen Autobahnraststätten gegen LKW-Fahrer zu sehen war). Angesichts der Schwäche der polnischen Gewerkschaftsbewegung (nur die OPZZ unterstützt offen die Lewica-Forderungen) braucht es eine entschlossene und breite Mobilisierung der Arbeiter:innen, Jugendlichen und der armen Landbevölkerung, um jede einzelne dieser Forderungen auch konsequent durchzukämpfen und die Bewegung gegen die Widerstände der Rechten und des Kapitals zu schützen.

Richtigerweise werden die Verteidigung demokratischer Rechte und insbesondere des Abtreibungsrechtes und von LGBTIAQ-Rechten in den Vordergrund gestellt und andererseits die Wirtschaftspolitik der PO angeprangert. Zugleich wird offen eine Möglichkeit der Koalition mit diesen Neoliberalen angedeutet und völlig offengelassen, was dann mit den Forderungen geschehen soll.

In Bezug auf den Ukrainekrieg gibt es eine eindeutige Stellungnahme gegen die imperialistische Aggression Russlands. Angesichts der Millionen ukrainischer Arbeiter:innen im eigenen Land kann man sich auch die Ignoranz eines Teils der westeuropäischen Linken gegenüber den Opfern des russischen Imperialismus nicht leisten. Razem (und Lewica insgesamt) unterstützen jedoch nicht nur das Recht auf Selbstverteidigung der Ukrainer:innen.

Razem kritisiert zwar richtigerweise die NATO als imperialistisches Militärbündnis. Aber die Vorstellung, die NATO sei in diesem Konflikt „ein notwendiges Übel“, ist im besten Fall naiv zu nennen. Auch wenn diese derzeit nicht direkt interveniert, so stellt ihr Eingreifen in den Krieg keinen zu vernachlässigenden Neben-, sondern vielmehr einen bestimmenden Faktor im Krieg dar. Das Eingreifen der westlichen imperialistischen Mächte und ihrer Militärallianz sowie der Wirtschaftskrieg gegen Russland werden durch deren geostrategische und ökonomische Interessen motiviert, nicht durch die Sorge um „Demokratie“ und „Selbstbestimmung“. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sie daran arbeiten, die halbkoloniale Abhängigkeit der Ukraine zu festigen, diesmal also durch EU- und US-Imperialismus. Mit den ukrainischen Arbeiter:innen auch in Polen sollte vielmehr gemeinsam dafür gekämpft werden, dass die Ukraine die Mittel zu ihrer Verteidigung ohne westliche Diktate und Bedingungen erhält und die ukrainischen Lohnabhängigen darin unterstützt werden, eine eigene, vom reaktionären Zelenskyj-Regime und vom ukrainischen Nationalismus unabhängige Arbeiter:innenpartei aufzubauen.

Kritische Unterstützung für Lewica

Auch wenn wir also in Polen keine Partei sehen, die mit ausreichender Verankerung für ein revolutionäres Programm der Arbeiter:innenklasse zur Wahl antritt, so ist es sicherlich so, dass Lewica (und insbesondere Razem darin) tatsächlich diejenigen Teile der Arbeiter:innenklasse und der Jugend hinter sich vereinigen, die den kommenden Angriffen auf demokratische und soziale Rechte aktiv und teilweise auch militant entgegentreten wollen. Natürlich müssen wir angesichts der Erfahrungen insbesondere mit der SLD vor Illusionen in dieses reformistische Wahlbündnis warnen. Insbesondere geht es darum, jegliche Koalition mit den zwei bürgerlichen Hauptparteien aufs Schärfste zu bekämpfen (auch die Razem-Führung redet mehr oder weniger deutlich von möglichen Koalitionen). Andererseits werden eine Wahlenthaltung und ein weiterer Sieg der Rechten die Dynamik der Abwehrkämpfe in keinem Fall verbessern. Auch wenn Lewica bei den Wahlen nur 10 % erringen wird, so werden die kämpferischsten Teile der Arbeiter:innenbewegung, der linken Jugend und die politisch fortschrittlichsten Teile der Frauen- und LGBTIAQ-Aktivist:innen beim Urnengang dieser Partei ihre Stimme geben. Es ist auch klar, dass sich unter diesen Schichten auch jene Arbeiter:innen und Jugendliche befinden, die am ehesten für den Aufbau einer revolutionären Alternative zum Reformismus gewonnen werden können.

Eine kritische Wahlunterstützung für Lewica sollte dazu genutzt werden, Kräfte für weitere Mobilisierungen zu gewinnen und vor allem in den unterstützenden Gewerkschaften für die Vorbereitung betrieblicher und gewerkschaftlicher Abwehrkämpfe zu werben und diese zu verstärken. Bei einer entsprechenden Vertiefung und Radikalisierung solcher Kämpfe kann dies vorangetrieben werden bis zur Frage der Bildung einer auf Organe des Kampfes gegründeten Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung. Eine solche Perspektive muss zugleich damit verbunden werden, den Bruch mit den verräterischen Bürokratien innerhalb von Lewica und der OPZZ voranzutreiben – und gleichzeitig den Kampf für die Bildung einer neuen revolutionären Arbeiter:innenpartei in Polen zu führen.




Peru: Die Massen verstärken den Widerstand gegen die Machthaber:innen

KD Tait, Infomail 1213, 13. Februar 2023

Peru ist in eine tiefe Krise gestürzt, nachdem der linke Präsident Pedro Castillo am 7. Dezember durch einen Staatsstreich des Parlaments (Kongress) abgesetzt worden war.

Bereits seit sechs Wochen protestieren und blockieren Arbeiter:innen sowie Bäuerinnen und Bauern im ganzen Land und fordern die aktuelle „Präsidentin“ Dina Boluarte – Castillos ehemalige Stellvertreterin – dazu auf, Neuwahlen und die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung anzuordnen.

Die Reaktion der Regierung bestand darin zu versuchen, die Bewegung in Blut zu ertränken. Mehr als 50 Menschen wurden bisher getötet, darunter vor allem Mitglieder der bäuerlichen Selbstverteidigungsgruppen, der so genannten rondas campesinas, aber auch Unbeteiligte, wurden von der skrupellosen Polizei erschossen, die die Bevölkerung durch Terror zur Aufgabe zwingen will.

Zusammenstöße und Proteste

Am Mittwoch, den 18. Januar 2023, wurden die 35-jährige Sonia Aguilar und der 60-jährige Salomon Valenzuela nach einem friedlichen Protest in der südlichen Provinzhauptstadt Macusani von Scharfschütz:innen der Polizei erschossen. Diese kaltblütigen Morde haben die örtliche Bevölkerung derart aufgebracht, dass sie das Justizgebäude und die Polizeistation niederbrannte und die Polizei aus der Stadt vertrieb.

Dies ist nur einer von vielen vergleichbaren Vorfällen, die die Zustimmung zu den Protesten verstärken, die bisher am stärksten von den indigenen Aymara und Quechua im ländlichen Süden und in den Hochebenen der Anden getragen wurden, welche ihrerseits 2021 in großer Zahl für Castillo gestimmt haben.

Am 19. Januar kam es jedoch zu einer Ausweitung der Proteste, als die Campesinos ihren Kampf im Rahmen eines landesweiten Generalstreiks, der von den wichtigsten Bauernorganisationen und dem Gewerkschaftsverband CGTP unterstützt wurde, auf die Straßen der Hauptstadt Lima brachten.

Diese Demonstration wurde in Anlehnung an die Proteste aus dem Jahr 2000, die die neoliberale Fujimori-Regierung zu Fall brachten, als „Kundgebung der 4 Suyos“ bezeichnet. Ab Montagabend versammelten sich Zehntausende Bäuerinnen/Bauern und Arbeiter:innen in Lima, wo sie solidarisch von Anwohner:innen empfangen und in Universitätsgebäuden untergebracht wurden.

Die Regierung Boluarte, die von der politischen, juristischen und militärischen Elite des Landes unterstützt wird, hatte zuvor den Ausnahmezustand verhängt, Blockaden an den Hauptzufahrten zur Hauptstadt errichtet und ein Aufgebot von 12.000 militarisierten Polizist:innen, ausgerüstet mit Gewehren, Tränengas und gepanzerten Fahrzeugen, zusammengezogen.

All dies konnte die Delegationen aus den Provinzen jedoch nicht abschrecken, denen sich bei der Demonstration eine große Zahl von Arbeiter:innen und Jugendlichen aus der Hauptstadt anschloss. Ein Versuch, zum Kongress zu marschieren, wurde durch Polizeibarrikaden und Tränengas verhindert. Die Demonstration wurde von der Polizei angegriffen und artete in eine Schlägerei aus, bei der sich die Demonstrant:innen mit selbstgebauten Schilden verteidigten.

Der Aktionstag wurde darüber hinaus im ganzen Land begangen, mit Massenprotesten in vielen regionalen Hauptstädten. Im Süden des Landes wurden Versuche, die örtlichen Flughäfen zu besetzen, mit Schüssen beantwortet: Dabei wurde in der zweitgrößten Stadt der Region Arequipa der 30-jährige Jhancarlo Condori Arcana durch einen Bauchschuss getötet.

Am späten Abend des 19. Januar hielt Boluarte eine Fernsehansprache, in der sie die Proteste als einen Versuch von Gesetzesbrecher:innen bezeichnete, Unruhe zu stiften und die Macht an sich zu reißen. Sie erklärte, ihre Regierung bleibe „fest und geschlossener als je zuvor“. Als Reaktion auf das weitere Erstarken der Opposition weitete sie aber den Ausnahmezustand auf drei weitere Regionen aus und stellte damit fast ein Viertel des Landes unter Kriegsrecht.

Ein Putsch der herrschenden Klasse

Peru befindet sich seit dem Ende des Rohstoffbooms im Jahr 2014 in einer tiefgreifenden sozialen und politischen Krise. Das Land ist der zweitgrößte Kupferproduzent der Welt und ein bedeutender Lieferant von wichtigen Mineralien wie Gold, Zinn und Zink sowie von Gas. Allerdings ist seine Landwirtschaft stark von Getreide- und Düngemittellieferungen abhängig, die durch den Krieg zwischen Russland und der Ukraine und die von den USA verhängten internationalen Sanktionen unterbrochen wurden.

Die akute Wirtschaftskrise wurde bereits durch die Coronapandemie weiter verschärft. Der Anteil der im informellen Sektor beschäftigten Bevölkerung stieg fast über Nacht von 75 % auf 90 %. Das überforderte Gesundheitssystem brach faktisch zusammen, so dass Peru die weltweit höchste Coronatodesrate pro Kopf aufwies. Der Mangel an lebenswichtigen Gütern, der in den von der indigenen Bevölkerung bewohnten ländlichen Gebieten bereits gravierend war, breitete sich auf die Armenviertel der Großstädte aus.

Die großen Parteien gerieten zunehmend in Verruf, wurden von Korruptionsvorwürfen erschüttert, lösten und stellten sich bei jedem Amtsenthebungsverfahren und jeder Parlamentsauflösung neu auf.

Vor diesem Hintergrund wurde Pedro Castillo, ein Lehrer und Gewerkschaftsführer, im Juli 2021 gewählt, wobei er Keiko Fujimori, die Kandidatin der Oligarchen und multinationalen Bergbauunternehmen, knapp besiegte. Seine Wahl bedeutete eine Revolte der indigenen und städtischen Armen gegen die neoliberale Politik, die die ländlichen Gebiete weiter verarmt und die Mittel- und Oberschicht bereichert hat.

Castillos Anziehungskraft beruhte weitgehend auf seinem Ruf als unbestechlicher Außenseiter und Kämpfer für die Interessen der Armen, den er sich als Anführer des Lehrerstreiks 2017 erworben hatte. Sein politisches Programm war vage. Es beschränkte sich darauf, eine neue Verfassung vorzuschlagen, den Bergbausektor zu verstaatlichen und dies mit einem konservativen, gesellschaftspolitischen Programm zu verbinden, das sich u. a. gegen die Liberalisierung des Abtreibungsrechts, die gleichgeschlechtliche Ehe, die Abschaffung der Privilegien der katholischen Kirche aussprach.

In der Verfassung von 1993 ist das neoliberale Modell verankert, mit dem die riesigen natürlichen Ressourcen Perus von ausländischem Kapital und seinen peruanischen Agent:innen geplündert wurden. Reformen waren bereits früher vorgeschlagen worden, aber nie zustande gekommen. Trotz dieses zaghaften Programms und der schwachen, von einer Koalition abhängigen Partei waren die peruanischen Eliten, die Oligarch:innen, die Grundbesitzer:innen, der Unternehmerverband und ihre ausländischen Agent:innen entschlossen, nicht das Risiko einzugehen, dass Castillos Anhänger:innen seine Wahl als Signal verstehen könnten, sich das zu nehmen, was ihnen rechtmäßig gehört. Er musste mit allen Mitteln verschwinden.

Nachdem es der Oligarchie mit ihrer hysterischen antikommunistischen Kampagne nicht gelungen war, die Wahl Castillos zu verhindern, griffen sie auf die Methoden rechter Möchtegerndiktatoren wie Donald Trump und Jair Bolsonaro zurück: Sie prangerten die Wahl als Fälschung an, ungeachtet von Beweisen.

Die Anhänger:innen der rechten Parteien, die sich überwiegend aus spanischsprachigen Mittelschichten aus Lima und den Küstenstädten zusammensetzen, Nachfahr:innen der alten Siedlerelite, veranstalteten eine Reihe gewaltsamer Kundgebungen, bei denen das Konquistadorenkreuz und der Hitlergruß ihre rassistische Angst vor einer Übernahme des „europäischen“ Peru durch kommunistische „Indianer:innen“ zum Ausdruck brachten.

Das Scheitern der „Rosa Welle“

Von Anfang an war Castillo ein Gefangener der peruanischen Kapitalist:innen und ihrer Justiz, Polizei und ihres Militärs. In 16 Monaten ernannte er fünf verschiedene Kabinette, ernannte 80 Minister:innen, überstand zwei Amtsenthebungsverfahren und verließ seine Partei Perú Libre (Freies Peru).

Seine immer weiter nach rechts gerückten Ernennungen, darunter auch vom IWF vorgeschlagene „Expert:innen“, führten zu immer neuen Vorwürfen der Vetternwirtschaft und Korruption. Sein Versuch, sich die Gunst Washingtons zu sichern, indem er gemeinsam mit anderen Präsidenten der links-populistischen „Rosa Welle“ wie Gabriel Boric in Chile und Gustavo Petro in Kolumbien die venezolanische Regierung als „undemokratisch“ anprangerte, unterstrich nur seine Schwäche und Abhängigkeit vom Imperialismus.

Dies wurde durch seine Zustimmung zu einer neuen US-Militärmission auf peruanischem Boden zur Ausbildung der Armee und der Polizei des Landes noch verstärkt: eine auf Jahrzehnte angelegte Maßnahme, die die Kontrolle der USA über einen repressiven Sicherheitsapparat zementiert, auf den man sich bei der Verteidigung der Interessen des US-Imperialismus und seiner Verbündeten in der Region verlassen kann.

Anstatt seine Anhänger:innen zu mobilisieren, um den Widerstand der Oligarchie durch die Besetzung und Enteignung ihres Eigentums zu brechen, versuchte Castillo, die Kräfte zu beschwichtigen, die sich für seinen Sturz einsetzen. Im November bat er die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), eine Abteilung des US-Außenministeriums, die für ihre Beteiligung an von der CIA organisierten Staatsstreichen berüchtigt ist, ihn gegen „eine neue Art von Staatsstreich“ zu verteidigen.

Ihre Antwort vom 1. Dezember, in der sie zu einem „politischen Waffenstillstand“ aufrief und davor warnte, dass die Aktionen beider Fraktionen „den demokratischen Institutionalismus“ Perus gefährdeten, wurde von allen Seiten als Weigerung gewertet, Castillo zu unterstützen, und gleichzeitig als Signal, dass man sich seinem Sturz nicht widersetzen würde.

Am 7. Dezember, angesichts seiner Lähmung und eines dritten Amtsenthebungsverfahrens gegen ihn, handelte Castillo mit unwahrscheinlicher Entschlossenheit, aber seiner charakteristischen Naivität: Er verhängte den Ausnahmezustand, um per Dekret bis zu Neuwahlen zu regieren. Doch ohne die Unterstützung von Armee und Polizei war Castillos 18. Brumaire ein Fiasko, das in einer Gefängniszelle endete, nachdem die Präsidentengarde, die ihn zu seinem Asyl in der mexikanischen Botschaft eskortieren sollte, ihn stattdessen im Polizeipräsidium ablieferte.

Castillos schmachvolles Ende beweist drei Dinge:

Erstens, dass die neue sogenannte „Rosa Welle“ der Linkspopulist:innen ebenso wenig willens oder fähig ist, notwendige Maßnahmen zu ergreifen, um ihre Länder von imperialistischen Plünderungen zu befreien, wie ihre Vorgänger:innen.

Zweitens, dass der US-Imperialismus und seine lokalen Agent:innen in der Zeit drastischen wirtschaftlichen Abschwungs und zwischenimperialistischer Rivalität immer brutalere Mittel zur Unterdrückung der steigenden Flut von Kämpfen vorbereiten, die diese „pinken Linken“ vorerst auf die Chefsessel gebracht haben.

Drittens: Wenn die Arbeiter:innen, die Armen in den Städten und auf dem Lande, nicht mit dem Populismus brechen und ihre eigenen, bewussten politischen und kämpferischen Organisationen aufbauen, werden sie in die Vernichtung geführt, da demokratische Methoden von den aktuellen Machthaber:innen des Kontinents aufgegeben werden.

Sackgasse

Peru wird heute von einer Koalition aus Machthaber:innen regiert, die vordergründig zwar von Castillos ehemaliger Stellvertreterin Dina Boluarte angeführt wird, in Wirklichkeit aber von den rechtsextremen Fujimoristas, den Konzernmedien und der Nationalen Vereinigung für Bergbau, Erdöl und Energie (Sociedad Nacional de Minería, Petróleo y Energía; kurz: SNMPE) gesteuert wird, auf deren Unterstützung sie angewiesen ist.

Trotz der weit verbreiteten Unzufriedenheit mit Castillo zum Zeitpunkt seiner Verhaftung – Forderungen nach seiner Freilassung sind nicht mit solchen nach seiner Rückkehr an die Macht verbunden – erkennen die Armen auf dem Land und in der Stadt, insbesondere in den indigenen Gebieten, den eigentlichen Charakter der Ereignisse: Ein vom Volk gewählter Präsident, der sabotiert und in eine ohnmächtige Marionette der Oligarch:innen und Konzerne verwandelt wurde, ist abgesetzt worden, um Platz für die Rückkehr der verhassten Fujimoristas und Faschist:innen zu machen, die sich der Verteidigung der Profite des Monopolkapitals verschrieben haben, indem sie die Verarmung der Indigenen, der Arbeiter:innen und der Armen verschlimmern.

In jeder Hinsicht folgen die herrschende Klasse und ihre CIA-Berater:innen dem Drehbuch, das während des Putsches gegen den bolivianischen Präsidenten Evo Morales im Jahr 2019 ausgearbeitet wurde – der selbst beschuldigt wird, in Peru den „Separatismus“ zu schüren –, was einen klaren Angriff auf die von ihnen verachtete indigene Bevölkerung darstellt.

Auf Betreiben der Bergbauunternehmen, die am 20. Januar die Rückkehr zur „Rechtsstaatlichkeit, zum Prinzip der Autorität und der Regeln in einem Umfeld des sozialen Friedens“ forderten, hat die Regierung das Kriegsrecht auf weite Teile des Landes ausgedehnt und Polizeikräfte eingesetzt, die Dutzende unbewaffnete Demonstrant:innen massakrierten. Hunderte von Menschen wurden verhaftet. Bei der jüngsten Razzia wurden mehr als 200 Personen in der Universität San Marcos in Lima verhaftet, wo sich Student:innen und Demonstrant:innen aus dem Landesinneren versammelt hatten.

Die mörderische Repression hat es jedoch nicht geschafft, die Opposition zu unterdrücken, und die diskreditierten etablierten Parteien können keine Unterstützung der Bevölkerung für eine neue Regierung erreichen. Die „demokratische“ Lockvogeltaktik, Castillo durch einen gefügigeren Abgeordneten zu ersetzen, hat die Massen nicht täuschen können. Boluarte sah sich bereits gezwungen, vorgezogene Neuwahlen anzukündigen – allerdings erst für 2024.

Neuwahlen zum jetzigen Zeitpunkt hingegen würden der Rebellion einen unzulässigen moralischen und politischen Sieg bescheren. Auch die Forderungen der Bewegung nach einer verfassunggebenden Versammlung sind einem großen Teil der herrschenden Elite ein Dorn im Auge, die sich auf die „Wirtschaftsklauseln“ der Verfassung stützt, um ihren Raubzug zu legalisieren.

Gleichzeitig ist der Widerstand, obwohl er mit jedem Massaker an Größe zunimmt, heterogen und unkoordiniert. Die Führer:innen des größten Gewerkschaftsverbandes CGTP haben sich durch den Druck der Bewegung gezwungen gesehen, deren Forderungen nach Wahlen aufzugreifen und an den Aktionstagen zu Streiks aufzurufen, aber ihre Perspektive sind vorgezogene Wahlen, um die Situation zu entschärfen.

Vom Widerstand zur Revolution

Die Forderungen der Bewegung sind klar: die Absetzung der putschistischen Regierung, die Auflösung des Parlaments und Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung.

Aber die Institutionen der peruanischen „Demokratie“ sind die der Wirtschaftsdiktatur der Oligarchie. Zuzulassen, dass dieses oder ein neu gewähltes Parlament den Widerstand in eine bürgerliche verfassunggebende Versammlung lenkt, die von den offiziellen Institutionen organisiert wird, wäre ein fataler Fehler, der es dem Feind ermöglicht, sich neu zu formieren und für eine neue Offensive aufzurüsten.

Eine solche „legale“ verfassunggebende Versammlung, die unter den Bajonetten der Armee und der Propaganda der Konzernmedien inszeniert wird, wird niemals in die Eigentumsrechte und die militärische Gewalt des Regimes von 1993 eingreifen dürfen. Was wir jetzt brauchen, ist ein Kampfplan, um den Widerstand der Regierung, der Unternehmer:innen und der Sicherheitskräfte zu brechen.

Nach wochenlangem Zögern hat der mit mehr als 800.000 Mitgliedern größte Gewerkschaftsverband CGTP (Allgemeiner Dachverband peruanischer Arbeiter:innen) endlich zu einem unbefristeten, landesweiten Generalstreik aufgerufen, der am 9. Februar beginnen soll. Er fordert unter anderem den Rücktritt von Dina Boluarte als Präsidentin, eine Übergangsregierung, vorgezogene allgemeine Wahlen, ein Referendum über die Verfassung und ein Ende der Tötung protestierender Bürger:innen. Bei dem gewaltsamen Vorgehen der Polizei gegen die Demonstration vom 4. Februar in Lima wurden Dutzende Menschen verwundet.

Dennoch kann auf die Führung der CGTP kein Verlass sein. Da sie vor allem die Beschäftigten des öffentlichen Sektors vertritt, muss der Streik auf die Beschäftigten im Bergbau, in der Erdöl-, Gas- und Stahlindustrie ausgedehnt werden, wenn er die Räder des Profits zum Stillstand bringen soll. Er muss unter der Leitung einer nationalen Koordination stehen, die aus Vertreter:innen der kämpfenden Organisationen der Arbeiter:innen, Bäuer:innen und indigenen Massen gewählt wird. Kurz gesagt, die dringende Aufgabe besteht darin, eine Führung aufzubauen, die mit der Perspektive und der Strategie der Revolution gegen die Ausbeuter:innen und ihr System bewaffnet ist.

Die gesamte Logik des Kampfes zum Sturz des Boluarte-Regimes weist jetzt auf die Vorbereitung der Aufstandsbewegung hin, um eine Regierung der Arbeiter:innen, Bäuer:innen und Indigenen zu installieren, die den Volksmassen verantwortlich ist und von einer Arbeiter:innenmiliz gegen die Konterrevolution verteidigt wird.

Nur unter einer solchen Kontrolle wäre es möglich, eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen, die die Autorität und Fähigkeit besäße, das gesamte reaktionäre Gebäude der Oligarchenverfassung hinwegzufegen, indem sie die politische und soziale Macht in die Hände von Räten und einer Volksmiliz legt. Dies wiederum würde den Weg für eine sozialistische Revolution nicht nur in Peru, sondern auf dem gesamten Kontinent ebnen.




Britannien: Alle auf die Straße am 1. Februar!

Workers Power, Neue Internationale 271, Februar 2023

Die Arbeiter:innenklasse sieht sich dem schwersten Angriff auf ihren Lebensstandard seit der Einführung der Kürzungsmaßnahmen nach der Finanzkrise von 2007/2008 gegenüber.

Die Lohnabhängigen haben darauf mit der größten Streikwelle seit den 1980er Jahren reagiert. Millionen von Beschäftigten im privaten und öffentlichen Sektor haben für Lohnerhöhungen gestreikt, um mit den rasant steigenden Preisen für Lebensmittel, Energie, Mieten und Rechnungen Schritt zu halten.

Die Regierung versteckt sich hinter Lohnprüfungsausschüssen (Gesundheit) oder fadenscheinigen Behauptungen, sie sei nicht die „Arbeitgeberin“ (Verkehr), und blockiert seit Monaten Verhandlungen und Vereinbarungen. Ohne einen Plan zur Bewältigung der Krise des britischen Kapitalismus, die durch jahrelangen Produktivitätsrückgang und die Selbstbeschädigung durch den Brexit noch verschärft wurde, greifen die Tories zu einer Offensive gegen die Gewerkschaften und Arbeitsmigrant:innen, die von der Notwendigkeit angetrieben wird, die populistische Rechte und Mitglieder der Partei zu beschwichtigen.

Es ist diese Schwäche der Regierung, die trotz ihrer großen Mehrheit den Brexit-Extremist:innen im eigenen Lager verpflichtet ist, die entschlossen sind, ihr Projekt der Zerstörung des Sozialstaates und der Zerschlagung der verbleibenden Arbeiter:innen- und Umweltschutzbestimmungen zu vollenden, die sie so gefährlich macht.

Premierminister Sunaks Einladung zu Scheinverhandlungen am 9. Januar, unmittelbar gefolgt von der Ankündigung des Gesetzes über Mindestdienste im Streik, zeigt, dass sie ihrer Überleben mit einer Machtdemonstration gegenüber den Gewerkschaften verknüpft haben. Wir müssen unsere Organisationen in Kampfform bringen, um den Versuch abzuwehren, die Lohnabhängigen durch die Aushöhlung unseres Lebensstandards und streikfeindliche Gesetze, die jede wirksame Gewerkschaftsarbeit verbieten würden, für die Krise bezahlen zu lassen.

Doch trotz der inspirierenden Streikwelle seit letztem Sommer sind viele Gewerkschaften bereits dabei, die Aktion zu demobilisieren, bevor sie nennenswerte Lohnerhöhungen durchsetzen können. Die andere Hälfte, der linke Flügel der Bewegung, hat kaum angefangen oder nur gelegentliche Aktionen organisiert, die keinen Sieg erzwingen können.

Dem TUC-Kongress im Oktober ist es nicht gelungen, ein ernsthaftes Programm für koordinierte Aktionen zu vereinbaren. Dies und der schwache Aufruf zu einem „Aktionstag zur Verteidigung des Streikrechts am 1. Februar“ zeigen, dass die offizielle Führung verzweifelt versucht zu verhindern, dass die sich ausbreitenden Streiks eine Eigendynamik entwickeln, die sie nicht kontrollieren kann.

Wenn sich die Gewerkschaften ungeordnet zurückziehen, nachdem sie nur symbolischen Widerstand geleistet haben – wie 2011/12 während des Rentenkonflikts –, werden wir eine schreckliche Niederlage erleiden, die das beginnende Wachstum der Gewerkschaftsmitgliedschaft und des Kampfgeistes, das sich in unzähligen Streiks und der massenhaften Teilnahme an „Enough is Enough“ (Genug ist genug)-Kundgebungen im ganzen Land zeigt, sicherlich zunichtemachen wird.

Deshalb müssen wir uns jetzt organisieren, um den 1. Februar zum Anfang – und nicht Ende – einer echten Kampagne zu machen, um die Antistreikgesetze zu Fall zu bringen und Lohnerhöhungen zu sichern, die die zweistellige Inflation wirklich ausgleichen. Jede Gewerkschaft mit einem gültigen Aktionsmandat sollte streiken. Aktivist:innen sollten Anträge und offene Briefe von Zweigstellen und Betrieben koordinieren und die Gewerkschaftsvorstände mit Forderungen nach gemeinsamen Kampfmaßnahmen bombardieren. Mittagsdemonstrationen und Kundgebungen, wenn möglich mit Arbeitsniederlegungen, sollten in allen Städten und Gemeinden organisiert werden. Um dies zu gewährleisten, sollten lokale Solidaritätsausschüsse gebildet werden.

Das Ausmaß des Angriffs erfordert eine entsprechende Reaktion. In der Realität bedeutet dies, dass wir darauf vorbereitet und organisiert sein müssen, den undemokratischen Gesetzen zu trotzen, die uns daran hindern, wirksame Maßnahmen zu ergreifen – Massenstreikposten, um Streikbrecher:innen zu stoppen, Betriebsversammlungen und Abstimmungen für Maßnahmen, Solidaritätsstreiks bis hin zu einem Generalstreik.

Schlüsselaufgaben für die Bewegung:

  • Verteidigung des Streikrechts: Alle auf die Straße am 1. Februar!

  • Gemeinsame Streikkomitees in jedem Betrieb!

  • Eine Basisbewegung in den Gewerkschaften!

  • Aktionsräte, um den Widerstand zu vereinen!

  • Zerschlagt die Lohnobergrenze: 15 % für alle!

  • Anpassung der Löhne, Renten und Sozialleistungen an die Inflation!

  • Generalstreik zur Zerschlagung der gewerkschaftsfeindlichen Gesetze!



Britannien: Tod durch tausendfache Kürzungen im Gesundheitswesen

Rebecca Anderson, Infomail 1208, 27. Dezember 2022

Die Winterkrise im britischen Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) ist so akut wie nie zuvor. Die Zahl der Betten, die von Patient:innen belegt sind, die seit mehr als drei Wochen im Krankenhaus liegen, ist die höchste in den letzten fünf Wintern. Neunzehn von zwanzig Betten auf den Stationen in England sind voll ausgelastet. Dies geht einher mit einer Krise des Notfallversorgungssystems. Fast drei von zehn Patient:innen, die mit dem Rettungswagen eingeliefert werden, müssen vor den Krankenhäusern Schlange stehen, die zu voll sind, um sie aufzunehmen – etwa doppelt so viele wie vor der Pandemie.

Plan zur Zerschlagung des NHS

7,2 Millionen Menschen stehen in England auf Wartelisten für Krankenhausbehandlungen – 60 % mehr als vor der Pandemie. In Schottland steht jede/r Siebte auf einer Warteliste, und die Zahl in Wales hat einen neuen Höchststand erreicht. Die Versicherungsfirma Confused.com wirbt derweil damit, eine private Krankenversicherung abzuschließen, um diese Wartelisten zu umgehen. All dies ist Teil eines langfristigen Plans zur Zerschlagung des NHS, zu dem auch gehört, ihm die Mittel zu entziehen, die in Behandlungsgeräte und Gehälter fließen, die eine ausreichende Zahl von Beschäftigten im Gesundheitswesen anziehen können.

Der NHS, um den die Patient:innen in den USA und vielen Teilen Europas einst beneidet wurden, gerät immer mehr ins Hintertreffen und droht zu einer Zweiklassenmedizin mit Privilegien für die Ober- und Mittelschicht und einer marginalen Versorgung für die Arbeiter:innenklasse und die Armen umgewandelt zu werden, ähnlich dem Medicaid-System in den USA.

Der britische Gesundheitsminister Stephen Paul („Steve“) Barclay beharrt darauf, dass lange Wartelisten und überfüllte Krankenhäuser nicht das Ergebnis von Unterfinanzierung seien. Allerdings betrugen die durchschnittlichen jährlichen Investitionsausgaben im Vereinigten Königreich zwischen 2010 und 2019 5,8 Mrd. Pfund, verglichen mit einem EU-Durchschnitt von 38,8 Mrd. Pfund, was bedeutet, dass Großbritannien über weitaus ältere und weniger gut gewartete Einrichtungen verfügt, und zwar in geringerer Zahl.

Im Rahmen des Sparprogramms der Regierung nach der Rezession von 2007 wurde die Finanzierung des NHS zwischen 2008 und 2018 gekürzt. Jede der aufeinanderfolgenden Regierungen hat behauptet, die Mittel für den Gesundheitssektor zu erhöhen, aber damit das NHS-Budget wirklich gestiegen wäre, müsste es sowohl mit der Inflation als auch mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten. Real sind die Mittel für den NHS heruntergefahren worden. Zwischen 1949/50 und 2016/17 stiegen die Gesundheitsausgaben im Durchschnitt um 3,3 % pro Jahr. Betrachtet man jedoch nur den Zeitraum zwischen 2009/10 und 2016/17, so sinkt dieser Durchschnitt deutlich auf 0,6 % und liegt damit weit unter der Inflationsrate.

Obwohl die Mittel für den NHS während der Pandemie aufgestockt wurden, konnten die Probleme, die bereits durch die chronische Unterfinanzierung entstanden waren, nicht gelöst werden. Der NHS war zu Beginn des Jahres 2020 bereits am Rande der Belastungsgrenze. Er verfügte über 6,6 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner:innen, verglichen mit 29,2 in Deutschland, 12,5 in Italien und 10,6 in Südkorea.

Personalmangel

Derzeit sind 133.400 Stellen unbesetzt, darunter 47.500 Stellen in der Krankenpflege. Der derzeitige Trend bewegt sich dahin, dass immer mehr Stellen frei werden – mehr Pflegepersonal verlässt den Beruf, als neu hinzukommt. Das Royal College of Nursing (Königliche Pflegepersonalausbildungsstätte, RCN) fordert eine über der Inflationsrate liegende Lohnerhöhung nicht nur für die bestehenden Arbeitskräfte, deren Löhne seit Jahren niedrig gehalten werden, sondern auch, um die Personalbeschaffung zu unterstützen.

Ein wichtiger Teil des Plans der Regierung zum Abbau des Covid-Rückstands ist eine verstärkte Werbekampagne im Ausland mit dem Ziel, bis 2021/22 10.000 internationale Arbeitskräfte einzustellen.

Die Behandlung internationalen Pflegepersonals durch den NHS wurde jedoch vom RCN kritisiert. Der Verband setzt sich für eine „ethische internationale Rekrutierung“ ein und verweist auf weit verbreitete Probleme mit hohen Gebühren für die vorzeitige Ausreise in Höhe von bis zu 14.000 Pfund, mit denen Arbeiter:innen unter Druck gesetzt werden, ihre Verträge einzuhalten oder die Gebühren unter Androhung der Abschiebung zurückzuzahlen. Das RCN ist auch besorgt darüber, dass die angeworbenen Arbeitskräfte darüber getäuscht werden, wie einfach es sei, Familienangehörige ins Vereinigte Königreich zu holen, und dass sie, wenn sie entdecken, wie schwierig es ist, sich im britischen Einwanderungssystem zurechtzufinden, bereits in einen Vertrag gebunden sind.

Der NHS hat auch Probleme, das vorhandene Personal zu halten: 16 % der Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen wollen die Branche ganz verlassen, wobei sie Personalmangel, Bezahlung und Arbeitsbelastung als Gründe anführen. Es ist ein Teufelskreis, denn je weniger NHS-Mitarbeiter:innen vorhanden sind, desto größer wird der Druck auf diejenigen, die bleiben. Allein im August 2021 gab es zwei Millionen Fehltage wegen Krankheit, ein Viertel davon wegen psychischer Probleme.

Tod durch tausend Einschnitte

In den 1980er Jahren wollte Margaret Thatcher den NHS vollständig privatisieren, da sie ihn als einen weiteren Teil des „Sozialismus“ betrachtete, den sie unbedingt zerstören wollte. Eine Revolte im Kabinett hielt sie jedoch davon ab, so dass sie den Chef des Supermarktkonzerns Sainsbury, Roy Griffiths, mit der „Reform“ beauftragte. Den Ärzt:innen wurde die Führung in den Krankenhäusern entzogen und sie wurde einer Kaste von hochbezahlten Leuten aus der Privatwirtschaft übergeben, die den Dienst wie ein Unternehmen führen sollten. Ein neoliberaler US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler, Alain Enthoven, riet dazu, die Disziplin des Marktwettbewerbs einzuführen.

Die Verwaltungskosten verdoppelten sich über Nacht. Als die Labour-Partei unter Tony Blair 1997 einen erdrutschartigen Wahlsieg errang, wurde der Marktöffnungsprozess trotz der im Wahlprogramm gemachten Zusagen nicht rückgängig gemacht. Der Schatzkanzler Gordon Brown weitete die Private Finance Initiative (Privatfinanzinitiative, PFI) der Tories sogar noch aus und nutzte sie für den Bau von Krankenhäusern, die damit faktisch in den Besitz des privaten Sektors übergingen.

Als die Tories 2010 an die Regierung zurückkehrten, brachte der Hardliner-Gesundheitsminister Andrew Lansley 2011 das Gesundheits- und Sozialfürsorgegesetz ein, das den NHS in eine völlig neue Phase der Privatisierung führte. Das Gesetz von 2012 öffnete alle NHS-Dienste für Ausschreibungen, offen für konkurrierende private Unternehmen.

Trotz der Empörung unter der Ärzt:innenschaft und dem Pflegepersonal haben private Unternehmen wie Virgin und Circle ihre Warnungen einfach übertönt. Schlimmer noch: Unison, die größte Gewerkschaft des Gesundheitswesens, rief während der gesamten fünf Jahre der Regierung von David Cameron zu keinem einzigen Streik und keiner einzigen Demonstration auf, und die Gesundheitsminister Lansley und Jeremy Hunt setzten die Aufteilung des Dienstes in kleinere regionale Systeme mit der Befugnis zu entscheiden, welche Dienste verfügbar sein werden und wer sie erbringen würde, mühelos fort. Bis 2017 gingen 43 % des Gesamtwerts dieser Verträge an den privaten Sektor. Allein Virgin erhielt den Zuschlag für NHS-Aufträge im Wert von über einer Milliarde Pfund.

Die Kampagnengruppe Keep Our NHS Public (Unser Gesundheitsdienst muss öffentlich bleiben) zeigte auf, dass die aktuelle „Marktreform“, der Long Term Plan (Langfristiger Plan), die Kosten senkt, indem sie den Zugang zur Gesundheitsversorgung einschränkt, die Qualität mindert und profitorientierte Unternehmen wie die US-Giganten McKinsey, UnitedHealth und Kaiser Permanente einbezieht.

Darüber hinaus wird das „Nationale“ aus dem NHS herausgenommen, indem er in lokale Integrierte Versorgungssysteme mit ihren eigenen, streng kontrollierten Budgets aufgeteilt wird, was bedeutet, dass Gebiete mit einem höheren Grad an schlechter Gesundheitsversorgung – Merseyside, Newcastle, Hackney – mit ihren eigenen Problemen fertigwerden müssen. Der NHS England hat bereits 83 Organisationen mit dieser Aufgabe betraut, von denen 76 private Unternehmen sind, 23 mit Sitz in den USA, darunter Centene, Cerner, Deloitte, GE Healthcare, IBM, McKinsey und Optum, der britische Zweig von UnitedHealth.

Der Plan wird dazu führen, dass die Gesundheitsversorgung zu einer weiteren Ware wird, die internationalen Handelsabkommen unterliegt: Der NHS wird zu einem Logo, das auf private Unternehmen aufgeklebt wird. Die Zukunft kann man in den USA besichtigen, wo die Gesundheit eine Ware ist und Menschen, die sich keine Versicherung leisten können, oft ohne Notfallbehandlung sterben und Arztrechnungen Menschen in den Bankrott treiben.

Wer zahlt?

Der NHS benötigt zweifelsohne eine massive Finanzspritze, sowohl um den Bedarf an höheren Gehältern und mehr Personal als auch den Investitionsbedarf für neue Krankenhäuser und Ausrüstung zu decken. Die Gebühren für Medizinstudent:innen- und Pflegeschüler:innen müssen abgeschafft und ein Stipendium in Höhe eines existenzsichernden Lohns wieder eingeführt werden, ebenso wie kostenlose, hochwertige Kinderbetreuung vor Ort, um den Bedürfnissen der Eltern gerecht zu werden. Die Gebühren für die vorzeitige Ausreise internationaler Krankenschwestern und -pfleger sollten abgeschafft werden, ebenso wie die Einwanderungsbestimmungen, die ihnen mit Abschiebung drohen und sie von ihren Familien trennen.

Unsere Antwort muss lauten, dass die Reichen und die Großkonzerne gezwungen werden müssen, für die Krise des NHS zu zahlen, genauso wie sie gezwungen werden müssen, für die Krise der Lebenshaltungskosten und die kommende Rezession zu zahlen.

Grundsätzlich muss das Gesundheitswesen wieder vollständig in öffentliches Eigentum überführt, ohne Entschädigungszahlungen an die Profiteur:innen, und unter der demokratischen Kontrolle von Beschäftigten und Patient:innen betrieben werden. Alle privaten Finanzierungsinitiativen (PFIs) gehören abgeschafft.

Wir müssen auch die Pharmakonzerne und all jene enteignen, die durch die Ausbeutung von Kranken riesige Profite erpressen, und zwar unter der Kontrolle der Arbeiter:innenklasse und ohne einen Pfennig Entschädigung für die Bosse.

Für die Krise des NHS sind Regierungen der Bosse, einschließlich derjenigen von New Labour, maßgeblich verantwortlich. Die Gewerkschaften sollten als Preis für die Finanzierung der nächsten Wahlkampagne von Labour darauf bestehen, dass das Parteiprogramm oben skizzierte Maßnahmen enthält. Deshalb geht es beim aktuellen Streik um mehr als nur Löhne. Es geht um das Überleben des NHS – und der öffentlichen Dienste und der sozialen Sicherung im Allgemeinen.




Britannien: Haushalt der Banken – Raubzug gegen die Armen zugunsten der Reichen

KD Tait, Infomail 1205, 22. November 2022

Finanzminister Jeremy Hunt hat einen neuen Sparhaushalt vorgelegt, der Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen in Höhe von 55 Milliarden Pfund auf den Rücken der Armen und der Arbeiter:innenklasse abwälzt.

Vierter Haushalt

Der vierte Haushalt der regierenden Konservativen Partei in diesem Jahr ist ein Plan zum Schutz der Profite auf Kosten der Einkommen der Lohnabhängigen. Steigende Inflation, Rechnungen, Preise und Steuern treffen die einfachen Leute, während die riesigen unverdienten Gewinne der großen Banken, Energieunternehmen und Konzerne unangetastet bleiben.

Hunt machte fälschlicherweise die „globale Situation“ für eine Krise made in Britain verantwortlich. Der katastrophale Haushalt der abgelösten Premierministerin Liz Truss war nur die jüngste Episode nach 12 Jahren Austerität und Brexit, die dazu geführt haben, dass die Wirtschaft stagniert, die öffentlichen Dienste am Rande des Ruins stehen und die Einkommen der Arbeiter:innen mit der schnellsten Rate seit 70 Jahren sinken.

Das regierungseigene Prognoseinstitut, das OBR, berichtet, dass der Lebensstandard in den nächsten zwei Jahren um 7 % sinken wird. Für ärmere Lohnanhängige wird es noch viel mehr sein. In der Zwischenzeit hat Hunt eine Steuersenkung von 18 Milliarden Pfund für die Banken durchgesetzt.

Das neue Kabinett hofft, sich von Truss zu distanzieren, indem es den Schwellenwert für den Spitzensteuersatz von 150.000 Pfund auf 125.000 Pfund senkt. Doch diese winzige Erhöhung (1.243 Pfund mehr pro Jahr für diejenigen, die 150.000 Pfund verdienen) wird durch die drastischen Steuererhöhungen für die arbeitende Bevölkerung in den Schatten gestellt.

Die so genannten „heimlichen“ Steuererhöhungen, die durch das Einfrieren der Freibeträge und der Einkommensteuer erreicht wurden, werden Millionen von Menschen in höhere Steuersätze treiben. Allein das Einfrieren der Einkommensteuer wird die durchschnittlichen Arbeiter:innen mehr als 600 Pfund pro Jahr kosten.

Die Renten und Sozialleistungen werden entsprechend dem Verbraucher:innenpreisindex (CPI) um 11 % angehoben, anstelle des Einzelhandelspreisindexes (RPI), der derzeit bei etwa 14 % liegt und einen genaueren Indikator für die Lebenshaltungskosten der Arbeiter:innenklasse darstellt. Selbst dies wird die unter der Inflationsrate liegende Erhöhung von 3 % in diesem Jahr nicht ausgleichen – und wird erst im April 2023 in Kraft treten. Millionen von Menschen sind schon jetzt schlechter dran und stehen vor einem harten Winter.

Die Rezession, die laut der Bank of England die längste seit den 1930er Jahren werden wird, dürfte 500.000 Arbeitsplätze vernichten. Was sieht der Haushalt von Hunt dafür vor? Die Unterwerfung von 600.000 Bezieher:innen von Sozialleistungen unter das strafende „Arbeitstraining“- und Sanktionssystem, um sie zu zwingen, schlecht bezahlte, unsichere Jobs anzunehmen.

Die allgemeine 400-Pfund-Zahlung zur Deckung der Energiekosten wird in diesem Winter auslaufen, während gleichzeitig die Obergrenze für den Energiepreis angehoben wird, was den durchschnittlichen Haushalt 900 Pfund pro Jahr zusätzlich kostet. Die Sondersteuer auf Gewinne von Energieunternehmen wird erhöht und bringt 14 Milliarden Pfund ein – eine läppische Summe im Vergleich zu den 15 Milliarden Pfund, die BP und Shell allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres eingestrichen haben.

Wohin fließt all dieses Geld?

Nicht in den öffentlichen Sektor. Die in Schlagzeilen angekündigten Erhöhungen der Gesundheits- und Bildungsbudgets sind absichtlich irreführend. Der Gesundheitssektor wird 3,3 Milliarden Pfund erhalten, verglichen mit den 10 Milliarden Pfund, die er nach Ansicht von Gesundheitswissenschaftler:innen braucht, um nach Jahren der Unterfinanzierung einfach nur stillzustehen, ganz zu schweigen von den Jahren an Unterfinanzierung.

Die Erhöhungen des Bildungshaushalts werden durch Inflation und Lohnerhöhungen aufgefressen. Die Ankündigung, dass die Erhöhung ein Versprechen der Tory-Regierung erfüllt, die Mittel pro Schüler:in auf das Niveau von 2010 zurückzuführen, ist ein deutlicher Hinweis darauf, wie eine Generation junger Menschen geopfert wurde. Die Bildung für über 16-Jährige und Sonderschulbildung setzen ihren unkontrollierten Niedergang fort, ohne dass neue Mittel bereitgestellt werden.

Wie schon 2010 will Hunt so viel Verantwortung wie möglich von der Zentralregierung auf die lokalen Behörden abwälzen, die nun die Gemeindesteuern um 5 % pro Jahr anheben können, wodurch die durchschnittlichen Steuersätze der Kategorie D auf über 2.000 Pfund pro Jahr steigen. Diese horrenden Erhöhungen einer ohnehin schon ungerechten und regressiven Steuer bedeuten, dass die Arbeiter:innen mehr für schlechtere Dienstleistungen zahlen.

Demgegenüber gibt die Regierung heute mehr für den Schuldendienst aus als für irgendeinen anderen öffentlichen Dienst außer dem Gesundheitswesen. Dieses Geld wird an die Banken und Finanziers gezahlt, die die Zinssätze überhaupt erst in die Höhe getrieben haben. Dieser Klassenkampfhaushalt wird mit landesweiten Streiks kollidieren, wenn Beamt:innen ud Verwaltungsangestellte, Krankenhauspersonal und Beschäftigte im Bildungswesen über den Winter für eine Erhöhung der Lebenshaltungskosten kämpfen.

Hunt und sein Premier Sunak wurden nach einer Marktrevolte gegen Liz Truss eingesetzt, die ihrerseits nach einer Parteirevolte gegen Boris Johnson ins Amt gehievt wurde. Die neue Regierung weigerte sich, Wahlen abzuhalten, und weiß, dass sie kein Mandat für einen Haushalt besitzt, dessen einziger Zweck darin besteht, die Hochfinanz zu besänftigen, die das Land im Würgegriff hält.

Die Reaktion auf den hinteren Parlamentsbänken fiel gedämpft aus. Steuererhöhungen und sinkende Lebensstandards werden die Konservative Partei bei den Wahlen 2024 nicht beliebt machen, aber die Wiederherstellung dessen, was die Geldmärkte als „verantwortungsvolle“ Regierung bewerten, hat der Opposition den Boden unter den Füßen weggezogen.

Labour

Der Versuch des Vorsitzenden der Labour Partei, Keir Starmer, den Tories die Show zu stehlen, indem er versprach, dass Labour jetzt die Partei des „gesunden Geldes“ sei, hat die Falle gestellt, und Hunts neuer Haushalt, der die meisten Kürzungen auf die Zeit nach den Wahlen 2024 verschiebt, sie ausgelöst.

Die Labour-Partei hat sich verpflichtet, die Bilanzen auszugleichen und sich nach den nächsten Wahlen an die Haushaltsregeln der Tories zu halten. Auf die Frage, was die Alternative der Labour-Partei zu Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen wäre, antwortete die ehemalige Bankerin und derzeitige Schattenfinanzministerin Rachel Reeves, sie wolle „fairere Entscheidungen“ treffen. Wes Streeting, der Schattengesundheitsminister der Labour-Partei, schloss jedoch im letzten Monat aus, die Forderungen des Pflegepersonals nach einer angemessenen Lohnerhöhung zu unterstützen. Die Tories haben die Labour-Partei in die Enge getrieben – und diese hat den elementaren Test der Klassensolidarität nicht bestanden.

Es gibt eine einfache Alternative zur Sparpolitik von Tory und Labour. Großbritannien ist reich, aber ungleich. Diese Regierung schützt den Reichtum der Reichen und lässt die Lohnabhängigen den Preis für wirtschaftliches Chaos, Krieg und Klimawandel zahlen, die wir nicht verursacht haben. Gegen die organisierte Verarmung von Millionen muss die Arbeiter:innenbewegung einen Klassenkampf führen, um den Lebensstandard zu schützen und für eine Antwort der Arbeiter:innen auf die Krise zu kämpfen, die auf der Enteignung des Vermögens der Reichen und der Schaffung einer nachhaltigen, demokratisch geplanten Wirtschaft im Interesse der Menschen und nicht des Profits beruht.

Wir können damit beginnen, eine massive Solidaritätskampagne mit den Streiks der Beschäftigten im Gesundheitswesen, bei Post und Bahn in diesem Winter aufzubauen und in den Gewerkschaften für eskalierende, umfassende Aktionen als schnellsten Weg zum Sieg zu mobilisieren. Um eine klassenweite Einheitsfront aufzubauen, sollten wir in jedem Ort Massenversammlungen einberufen, in denen Arbeiter:innen, Mieter:innen und Arbeitslose zusammenkommen, um zu diskutieren, wie wir auf die Krise reagieren und einen gemeinsamen Aktionsplan vereinbaren können, um den Widerstand zu vereinen.




Schreckgespenst Lohn-Preis-Spirale

Jürgen Roth, Neue Internationale 269, November 2022

Die diesjährigen Tarifverhandlungen gehen mit deutlich höheren Lohnforderungen als in den letzten 2 Jahrzehnten einher. Im krassen Gegensatz dazu tönen die Unternehmer:innen, es gebe wegen der massiven Energiepreissteigerungen nichts zu verteilen und überzogene Lohnforderungen der Beschäftigten könnten Betriebe auf Jahre hinaus zu hohen Preissteigerungen zwingen, was im Extremfall sogar zu einer anhaltenden Stagflation (hohe Inflationsrate bei gleichzeitig geringem Wachstum) führe.

Ihr Argument läuft darauf hinaus, Lohnanstiege seien Ursache wie Motor der Inflation. Bevor wir darauf eingehen, eine kurze Skizze zum aktuellen Ausmaß der Preissteigerungen.

Fakten

In der BRD haben die Verbraucherpreise von Oktober 2021 bis Oktober 2022 von 4,5 % auf 10,4 % zugelegt. Auch weltweit stieg die Inflationsrate von durchschnittlich 3,18 % 2020 und 4,35 % 2021 auf aktuell 7,4 %. In 10 Ländern kann man von einer Hyperinflation sprechen: zwischen 35,6 % (Iran) und 260 % (Sudan). Die Plätze 11 bis 20 belegen Länder mit hoch inflationärer Entwicklung zwischen 16,82 % (Nigeria) und 28,7 % (Sri Lanka). In Europa liegen die Türkei (69,97 %) und zahlreiche osteuropäische und Balkanländer vorn. Die EU weist im Mittel 8,1 % auf, die Eurozone und Deutschland 7,4 %. Für die BRD stammen die Zahlen vom April diesen Jahres. Das bedeutet, der Preisanstieg hat sich seitdem um mehr als 40 % beschleunigt!

Zeitrahmen und Statistik

Schon ein Blick auf die Statistik widerlegt die vulgärökonomische Theorie von der Lohn-Preis-Spirale. Die Inflation in Deutschland betrug im Januar 2021 2,2 %, im September bereits über 4 %. Die allermeisten Tarifrunden zuvor hatten sich mit Abschlüssen knapp unter 2 % zufriedengegeben und beinhalteten somit nichts weiter als Reallohnverluste.

Zudem untertreibt die amtliche Statistik die Preissteigerung für die Lohnabhängigen. Im Warenkorb einer Arbeiter:innenfamilie sind nämlich die Preistreiber überrepräsentiert, also Mieten, Energie, Lebensmittel.

Lohnverzicht und Zurückhaltung haben die Preissteigerungen offenkundig nicht verhindert, wohl aber die Einkommen und Vermögen der Beschäftigten entwertet. Die Thesen, dass Preissteigerungen durch Lohnerhöhungen verursacht würden, ist statistisch falsch, politisch aber für die Herrschenden sehr zweckmäßig, soll sie doch die Arbeiter:innen davon abhalten, für einen vollen Inflationsausgleich zu kämpfen.

Lohn und Warenwert

Der Lohn-Preis-Spirale zufolge müssten eigentlich die Preise der Waren mit der Erhöhung der Löhne steigen. Würde diese Theorie stimmen, wäre allerdings auch erklärungsbedürftig, warum eine Lohnsenkung keineswegs zu fallenden Preisen führt, wie nicht nur die Entwicklung am Wohnungsmarkt seit Jahrzehnten verdeutlicht.

Die Vertreter:innen der Lohn-Preis-Spirale gehen im Grunde davon aus, dass die Preise einer Ware aus den sog. Produktionsfaktoren Kapitalkosten, Löhnen und Gewinnen entstehen würden. Hohe Löhne würden damit automatisch zu höheren Preisen führen, da die Unternehmen ansonsten ja auf ihren Gewinn verzichten müssten. Diese Vorstellung ist jedoch vollkommen oberflächlich, weil sie die Frage ausblendet, wodurch die Preise letztlich bestimmt werden.

Sie verkennt, dass der Wert jeder Ware durch den Wert der Produktionsmittel (Maschinen, Rohstoffe, Gebäude, Energie) und dem Wert gebildet wird, den die Lohnarbeiter:innen diesen im Produktionsprozess zusetzen. Letzterer zerfällt in einen Teil (variables Kapital), den die Arbeiter:innen in Form des Arbeitslohn erhalten, um ihre Reproduktionskosten zu bestreiten, und in einen anderen Teil, den Mehrwert, den sich die Kapitalist:innen aneignen.

Der Wert der Ware ändert sich keineswegs, wenn der Lohn steigt oder fällt. Sinkt er, so erhöht sich der Mehrwert – und damit die Profitmasse – und umgekehrt. Das stört die herrschende Klasse an allen Lohnsteigerungen und die Lohn-Preis-Spirale dient dazu, diesen Zusammenhang zu verschleiern.

Wert und Kapitalstock

In den Wert jeder Ware gehen Lohnkosten und Mehrwert nur anteilig ein. Aufgrund des technischen Fortschritts bildet die menschliche Arbeit jedoch einen immer geringeren Anteil am Gesamtwert des Produktes. Im Kapitalismus nimmt der Wertanteil von konstantem Kapital (Maschinen, Gebäude, Rohstoffe) stetig zu, was sich in einer steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals ausdrückt.

Nebenbei bemerkt ist dies auch die Hauptursache dafür, dass die Zunahme des Mehrwerts (Profit, Gewinn) nicht mehr Schritt halten kann mit der Wertzunahme des konstanten Kapitals. Anders ausgedrückt: Je mehr sich der Kapitalstock aufbläht, desto mehr sinkt die Rate des Profits (Mehrwert geteilt durch Wert des Kapitalvorschusses). Dieser umfasst sowohl Kapitalstock wie Löhne. Oder: Je reicher die Kapitaleigentümer:innen werden, desto größer geraten ihre Verwertungsschwierigkeiten.

Für die aktuelle Inflation heißt das: Nicht nur sind die Löhne in der jüngsten Vergangenheit hinter der Teuerungsrate zurückgeblieben. Der auf sie zurückzuführende Anteil am Gesamtprodukt ist viel niedriger geworden! Ganz deutlich gilt das für den Sektor der fossilen Energieerzeugung, wo die organische Zusammensetzung des Kapitals überdurchschnittlich hoch ist und zudem über den zurzeit teuersten Energielieferanten (Erdgas) auch noch der Strompreis bestimmt wird (Merit-Order-Prinzip der Preisgestaltung an der Strombörse).

Geldmenge und Inflation

Inflation bedeutet deutlich mehr als Preissteigerung, nämlich eine Ausweitung der Geldmenge insgesamt. Diese wird letztlich von der Zentralbank gesteuert. Hier kommen wir zu des Pudels Kern. Dies rührt letztlich von der Großen Rezession 2008/2007 her, wo Zentralbanken und IWF dadurch eine Kernschmelze des Finanzkapitals verhindert haben. Eine Ausweitung des Kreditgeldes geht aber nur solange gut, wie der Konjunkturmotor wieder anspringt und die Profitabilität zur Zufriedenheit des Großkapitals verläuft.

Bricht letztere ein, deckt die laufende Produktion nicht mehr die Schuldentilgung. Unter Bedingungen wie dem Ausfall von Lieferketten während und nach der Coronapandemie sowie geringen Neuinvestitionen in der Industrie kam es zu einem Angebotsschock, weil der Produktionsausstoß die als Nachfrage auftretende aufgeblähte Geldmenge nicht mehr decken konnte. Resultat: Geldentwertung, sprich: Inflation.

Schon in den 1970er, 1980er Jahren und 1993 resultierte die Geldpolitik mit dem Ziel einer Vermeidung des Ausbruchs von Konjunkturkrisen in solchen. Die Inflation markierte also jeweils den Vorboten der kommenden Krise. Viele bürgerliche Volkswirtschaftler:innen trösten sich damit, dass die nächste Rezession ebenso mit dem Gespenst der Inflation aufräumen wird. Doch ist dies trügerisch, weil die Weltwirtschaft vor massiveren Problemen als damals steht. Ein Zeichen dafür ist die zunehmend militärisch ausgetragene Weltmarktkonkurrenz.

Vorübergehender Schock?

Hintergrund deren bildet die ins Ungeheuerliche gestiegene Verschuldung selbst großer Unternehmen, der Staaten und Privathaushalte. Mit Ausnahme der noch florierenden Hightechkonzerne wie Apple, Netflix, Facebook, Google & Co. geht es zunehmend Firmen so dreckig, dass sie aus ihren Profiten kaum noch die Kredite bedienen können (Zombiefirmen).

Viele werden jetzt einwenden: Denen kommt dann doch die Inflation gerade recht, denn sie entwertet ihre Schulden. Dies ist nur bedingt richtig, denn sie verteuert auch aktuelle Kredite aufgrund der Leitzinserhöhungen und damit die Insolvenzgefahr. Die Zentralbanken gehen nämlich zur Zeit zu einer Politik des Quantitative Tightening (QT) über, dem Gegensatz zum vorherigen mehr als 10 Jahre anhaltenden Quantitative Easening (QE). Außerdem sind die größten Kreditgeber:innen auch die heftigsten Profiteur:innen. Konkurrenzfähiges Industrie- wie Finanzkapital fürchtet die Inflation, weil sie ihre Guthaben entwertet und den Transfer von fiktivem Aktienkapital in reale Vermögen behindert.

Das Problem lässt sich also weit bis ins 21. Jahrhundert hinein nur auf viel größerer Stufenleiter lösen. Eine „normale“ Rezession wird nicht reichen, um den überakkumulierten und -bewerteten Kapitalstock der Schwächeren (Zombies) zu vernichten und wieder profitablere eigene Anlagebedingungen zu schaffen (Lösung der fast 50-jährigen Überakkumulationskrise). Und dies kann zunehmend nur auf höherer Ebene der Konkurrenz als der zwischen den Einzelkapitalen gelingen. Die innerstaatliche und Weltmarktkonkurrenz muss zu einer zwischen den Großmächten mutieren.

Vertrauen auf die eigene Kraft statt Illusionen in Hilfsprogramme, Medien und Geldpolitik

Alarmmeldungen zur Teuerung sind also durchaus angesagt. Wenn das Handelsblatt mahnt, Europa müsse sich auf einen anhaltenden Preisanstieg vorbereiten und BILD titelt: „Inflation frisst unsere Löhne auf!“, geht es jedoch nicht um die Interessen der Arbeiter:innen. Vielmehr dreht es sich darum, wie die Zentralbanken auf die seit Jahrzehnten anhaltende Krise des Kapitalismus reagieren sollen. Schon während der Politik des billigen Geldes (QE) und des Aufkaufs fauler Kreditschuldenpapiere ermahnte die EZB ständig Regierungen und Gewerkschaften, sich mit Sozialausgaben und Lohnforderungen zurückzuhalten, um die Konkurrenzfähigkeit „ihrer“ Konzerne auf dem Weltmarkt zu verbessern. Je erfolgreicher diese, desto mehr „freie“ Marktwirtschaft, umso weniger staatliche Eingriffe durch die Notenbanken.

Konservative greifen diesen Gedanken auf. Ihnen kommt die Inflation gelegen, um so große Zugeständnisse von der Arbeiter:innenklasse zu verlangen, damit die EZB ihre Kreditprogramme kürzen kann, um sie nicht aus dem Ruder geraten zu lassen.

Wirtschaftswissenschaftler:innen aus dem postkeynesianischen Lager, darunter auch der Gewerkschaften und des DIW, spielen dagegen die Inflationsgefahr herunter, um der EZB keine Argumente für eine knappere Versorgung der Konzerne mit Geld zu liefern. Beide scheinbar gegensätzlichen Lager eint in Wirklichkeit die grundsätzliche Akzeptanz der kapitalistischen Konkurrenz, nur in Bezug auf Geldpolitik gehen sie auseinander: restriktiv oder expansiv? Wie oben dargestellt, handelt es sich dabei aber um die Wahl zwischen Pest und Cholera.

Teils erkennen auch Postkeynesianer:innen an, dass es sich bei der Lohn-Preis-Spirale um einen Mythos handelt, aber nicht aus prinzipiellen Gründen, sondern weil aktuell schwächer werdende Gewerkschaften ohnedies „den Bogen nicht überspannen“ können (DIW Berlin). Das DIW versteigt sich zum Lob auf die Sozialpartner:innenschaft, die in der BRD dazu geführt habe, dass hohe Löhne und unternehmerischer Erfolg einander bedingten und zu niedrige mangels Endnachfrage die Konjunktur schwächten.

Diese Nachfragetheoretiker:innen dürften schwer erklären können, warum die Unternehmer:innen in der aktuellen Tarifrunde für die Metall- und Elektroindustrie eine Null fordern. Dabei liegt das in der Logik der Sache, fallende Profitraten durch Senkung des Arbeitslohns zu kompensieren. Das DIW sieht darüber hinaus kein Problem darin, die immens gestiegene Staatsschuld noch weiter auszuweiten, als gebe es keinen Zahltag dafür. Das sieht das Finanzkapital ganz anders. Viele bürgerliche Kommentator:innen sehen in der „neuen“ Politik des QT bereits eine Ablösung der Zentralbanken durch die privaten Finanzmärkte. Aber sie sehen nicht, dass der Meister den Zauberlehrling ablöst!

In jedem Fall ist die Arbeiter:innenklasse gut beraten, sich nicht auf das Märchen von der Lohn-Preis-Spiral einzulassen. Stattdessen muss der Kampf um die Durchsetzung der aktuellen Tarifforderungen mit dem für eine gleitende Lohnskala verbunden werden.




Italien: Draghi scheitert, die extreme Rechte im Aufschwung

Dave Stockton, Infomail 1194, 30. Juli 2022

Am 21. Juli trat der italienische Ministerpräsident Mario Draghi zum zweiten Mal innerhalb einer Woche zurück, nachdem wichtige Teile seiner Koalition der nationalen Einheit – die populistische Fünf-Sterne-Bewegung M5S, die rechtsextreme Lega von Matteo Salvini und die Forza Italia von Silvio Berlusconi – es darauf ankommen ließen und ihn auf die Probe gestellt hatten. Präsident Sergio Mattarella löste das Parlament noch am selben Tag auf, und am 25. September sollen Wahlen stattfinden. Die M5S selbst hatte gerade eine große Spaltung erlitten, als Außenminister Luigi Di Maio die Bewegung verließ, um seine eigene Partei mit dem wenig inspirierenden Namen „Gemeinsam für die Zukunft“ zu gründen. Giuseppe Conte, Draghis Vorgänger als Ministerpräsident und Parteivorsitzender, übernimmt die Leitung der Rumpf-M5S.

Super-Mario des Kapitals

Draghi, ehemals geschäftsführender Direktor der US-Großbank Goldman Sachs, Gouverneur der Bank von Italien und dann von 2011 bis 2019 Präsident der Europäischen Zentralbank, wurde als „Super-Mario“ gelobt, weil er „alles getan hat, was nötig war“, um den Euro vor dem Zusammenbruch zu retten. Er verteilte Milliarden an die Kapitalist:innenklasse und holte sie sich dann über sinkende Reallöhne und gekürzte Sozialprogramme von der Arbeiter:innenklasse zurück. Er hob die Zinssätze an, während die Zentralbanken auf beiden Seiten des Atlantiks sie senkten, und löste damit eine schwere Rezession für Arbeiter:innen und Rentner:innen aus.

Unter seiner Leitung hat die EZB die EU-Regierungen wiederholt erpresst, ihren Völkern „brutale Sparmaßnahmen“ aufzuerlegen. Während einige der brutalsten dieser „Pakete“ Griechenland aufgenötigt wurden, waren seine Absichten für sein Heimatland genauso hart. Ein durchgesickerter Brief, den er mitverfasst und an die italienische Regierung geschickt hatte, enthielt die Bedingungen der EZB für die Hilfe.

Dazu gehörten „eine umfassende Überholung der öffentlichen Verwaltung“, „die vollständige Liberalisierung der lokalen öffentlichen Dienste“, „Privatisierungen in großem Umfang“, „die Senkung der Kosten für öffentliche Bedienstete, wenn nötig durch Lohnkürzungen“, „die Reform des Tarifvertragssystems“, „strengere … Kriterien für die Altersrenten“ und eine „Verfassungsreform zur Verschärfung der Vorschriften für Staatsausgaben“. Oberstes Ziel sei es, „das Vertrauen der Investor:innen wiederherzustellen“.

In diese Zeit fällt der Aufstieg der „Finanzexpert:innen“, der so genannten Technokrat:innen, die immer dann zum Einsatz kamen, wenn die gewählten Vertreter:innen die vom Großkapital geforderte harte Medizin nicht durchsetzen konnten oder es nicht wagten.

Bürgerliche Reaktion

Kein Wunder, dass nicht nur die italienischen Bosse, sondern ihre gesamte Klasse in der Europäischen Union in ihm die sicherste Steuerungshand sahen, um Italien „Reformen“ aufzuzwingen, wie z. B. den Preis für die Auszahlung von 200 Mrd. Euro EU-Hilfen im Rahmen des Pandemieplans „Next Generation EU“ (EU der nächsten Generation). Kein Wunder, dass die solidesten bürgerlichen Zeitungen in Europa ihre Bestürzung über seine Absetzung und ihre Verzweiflung über die italienische politische Klasse und das gesamte Regierungssystem zum Ausdruck brachten.

Die ehrwürdige Turiner Tageszeitung La Stampa zeigte sich erzürnt über das Abstimmungsverhalten der populistischen Parteien:

„Eine Schande! Es gibt kein anderes Wort, um die Art und Weise zu beschreiben, wie die Regierung Draghi im Senat gescheitert ist … Es ist, als ob sich ein Abgrund aufgetan hat, in den zusammen mit der Regierung der nationalen Einheit auch jener große Teil Italiens hineingezogen wird, der bereit war, Opfer zu bringen, um in Europa und in der Welt wieder Glaubwürdigkeit zu erlangen, dank des Vertrauens, das auf allen Ebenen in den Mann gesetzt wurde, der gestern die Bühne verlassen hat.“

Auch der Mailänder Corriere della Sera schreibt:

„Selbst Draghi, der berühmteste Italiener, den wir hatten und den wir hoffentlich bald wieder im Dienste unseres Landes sehen werden, hat den Preis für das unerbittliche Gesetz der nationalen Einheitsregierungen bezahlt. Nämlich, dass sich die Parteien in Italien nicht länger als ein Jahr, höchstens eineinhalb Jahre, an ihre ,allgemeinen’ oder ,sehr allgemeinen’ Vereinbarungen halten.“

Das überschwängliche Lob, das Draghi von den Medien entgegengebracht wird, wird von beißender Satire begleitet, die auf die italienische politische „Casta“ abzielt, wie die Cinque Stelle (M5S) sie nannte, bevor sie selbst an die Futtertröge der Macht kam.

In Wirklichkeit sind die schamlose Korruption der Politiker:innen oder gar die engstirnigen Rivalitäten der Parteien nicht das eigentliche Problem. Und es wird ganz sicher nicht dadurch gelöst, dass man die Macht weiterhin unpolitischen Expert:innen anvertraut.

Hinter dem lärmenden Überbau der Parteien und ihren unaufhörlichen und prinzipienlosen Kämpfen um die Früchte der Ämter verbergen sich die Interessen der Klassen. Trotz ihrer geringen Zahl gibt die Bourgeoisie die Form der wirtschaftlichen und politischen Kurse vor, aber sie ist gezwungen, deren Umsetzung der politischen Kaste zu überlassen. Die Politiker:innen wiederum müssen einen Weg finden, um die Wähler:innen dazu zu bringen, sie in ihr Amt zu wählen, um dies zu tun. Das bedeutet systematisches Lügen und Täuschen im großen Stil.

Absturz der Parteien der „nationalen Einheit“

Obwohl die große Mehrheit der 2018 gewählten Parteien die neoliberale Sparpolitik vorgeblich ablehnte, sahen sich die Wähler:innen im Februar 2021 mit einer Regierung konfrontiert, die von einem der Hauptverantwortlichen für diese Politik geführt wurde. Es besteht kein Zweifel, dass nach dem 25. September oder wann immer eine Rechtskoalition gebildet werden kann, im Wesentlichen die Politik von Draghi übernommen wird, um die „großzügige“ Unterstützung der EZB zu gewinnen. Zu dieser Politik wird Super-Marios uneingeschränkte Unterstützung der NATO-Beteiligung am Krieg in der Ukraine zählen. Obwohl Salvini und Berlusconi in der Vergangenheit vor Putin gekrochen sind, haben sie sich beide letztlichhinter diesen Krieg gestellt.

Der Sturz Draghis ist zum Teil eine Folge dieses gigantischen Betrugs an den Wähler:innen. Die drei Rechts- und Mitte-Rechts-Parteien wurden alle mit dem Versprechen gewählt, den von „Europa“ aufgezwungenen neoliberalen Reformen ein Ende zu setzen. Doch gerade weil sie sich der Koalition der nationalen Einheit angeschlossen haben, sind ihre Umfragewerte eingebrochen, während die der Fratelli d’Italia, deren Vorsitzende Giorgia Meloni sich wohlweislich aus dieser „unpopulären Front“ herausgehalten hat, zu ihren Gunsten sprunghaft angestiegen sind. Jetzt führt sie in den Umfragen mit fast 24 % vor der Demokratischen Partei mit 22 %, der Lega mit 14 %, der M5S mit 11 % und der Forza mit etwa 7 % der Stimmen. (Laut einer Umfrage des SWG-Instituts vom 19. Juli).

Der Sturz Draghis ist zum Teil eine Folge dieses gigantischen Betrugs an den Wähler:innen. Die drei Rechts- und Mitte-Rechts-Parteien wurden alle mit dem Versprechen gewählt, den von „Europa“ aufgezwungenen neoliberalen Reformen ein Ende zu setzen. Doch gerade weil sie sich der Koalition der nationalen Einheit angeschlossen haben, sind ihre Umfragewerte eingebrochen, während die der Fratelli d’Italia (Brüder Italiens), deren Vorsitzende Giorgia Meloni sich wohlweislich aus dieser „unpopulären Front“ herausgehalten hat, zu ihren Gunsten sprunghaft angestiegen sind. Jetzt führt sie in den Umfragen mit fast 24 % vor der Demokratischen Partei mit 22 %, der Lega mit 14 %, der M5S mit 11 % und der Forza mit etwa 7 % der Stimmen. (Laut einer Umfrage des SWG-Meinungsforschungsinstituts vom 19. Juli).

Infolgedessen müssen Italien und die Europäische Union mit einer Regierung rechnen, an deren Spitze ein:e Vertreter:in in der Tradition von Benito Mussolini steht. Nur die Londoner Times (im Besitz des rechtsgerichteten Medienmoguls Rupert Murdoch) sieht diese Aussicht mit Gleichmut.

„Ein Wahlsieg der Brüder Italiens mit ihren neofaschistischen Wurzeln wäre sicherlich ein politischer Schock, aber nicht mehr als frühere Erfolge der Populistinnen Fünf Sterne und Lega. Das Zuckerbrot der großzügigen EU-Gelder und die Peitsche der Volatilität der Anleihemärkte sind starke Anreize für die nächste Regierung, die Reformen von Herrn Draghi fortzusetzen.“

Sie schätzen – wahrscheinlich zu Recht – ein, dass sich die tatsächliche Politik einer rechten Koalition nicht so sehr von der von Draghi unterscheiden wird. Meloni hat sich zu einer starken Befürworterin der Beteiligung der EU und der NATO am Krieg in der Ukraine entwickelt.

Drohende Rezession, Inflation und Angriffe

Vor dem Hintergrund einer drohenden Rezession, der Störung der Weltwirtschaft im kommenden Winter und einer galoppierenden Inflation, da die Zentralbanken die Zinssätze anheben, könnte Italien jedoch, wie der Rest der EU, im kommenden Jahr mit einer schweren Rezessionskrise konfrontiert werden. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bereits bei 8,4 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei 24 Prozent. Darüber hinaus sind 3,4 Millionen Arbeitskräfte prekär beschäftigt. Die Zahl der Armen ist während der Covid-Pandemie auf 5,6 Millionen gestiegen, und die offizielle Inflationsrate steht derzeitig Stand bei 8 Prozent.

Unterdessen nehmen auf lokaler Ebene die Streiks gegen Arbeitsplatzverluste, niedrige Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen zu. Bisher werden sie hauptsächlich von den kleineren „Basis“-Gewerkschaften initiiert. Die Mitglieder von SI Cobas (Sindacato Intercategoriale Cobas) im Logistiksektor, viele von ihnen Einwander:innen, haben sich zur Verteidigung von Arbeitsplätzen und Arbeiter:innenrechten in verschiedenen Lagern und Abteilungen von Logistikriesen organisiert.

Am 19. Juli wurden sechs Mitglieder von SI Cobas und USB (Unione Sindacale di Base) von der Staatsanwaltschaft Piacenza unter Hausarrest gestellt. Ihnen wird vorgeworfen, Streiks organisiert und die Arbeit in den Lagerhäusern multinationaler Logistikunternehmen wie Amazon, Nippon Express, Fedex, TNT und anderen in Piacenza gestört zu haben. Aldo Milani, der nationale Koordinator von SI Cobas, war unter den Inhaftierten.

In ihrer Antwort erklärte die Gewerkschaft:

„Es handelt sich um einen schweren Angriff auf die Gewerkschaftsfreiheit und das Streikrecht, der von einem Teil der Justiz ausgeht, der sich bereits in den vergangenen Jahren durch gewerkschaftsfeindliche Aktionen wie Klagen, Verhaftungen und Aufenthaltsverbote hervorgetan hat. Mit dem Vorwurf der ,Gewalt’ und der ,Erpressung’ wollen sie den Kampf der Arbeiter:innen gegen die Ausbeutung und für die Löhne unterdrücken, und das in einer Zeit, in der die italienischen und internationalen Eigentümer:innen und Spekulant:innen die Löhne rauben, während die Preise um 8 % (10 % für Familien mit niedrigem Einkommen) und mehr gestiegen sind. Ein allgemeiner Kampf zur Verteidigung der Kaufkraft … ist dringend notwendig.“

Italienische linke politische Organisationen, ihre Jugendverbände und andere Gewerkschaften haben in Turin, Rom, Neapel, Genua und Bologna sowie in Piacenza selbst Proteste und Streiks in Solidarität mit den unter Arrest Stehenden organisiert.

Was Italien heute trotz oder gerade wegen der drohenden Rechtsregierung braucht, ist ein heißer Herbst militanter Aktionen gegen die Sparmaßnahmen, die mit EZB-Geldern an Italiens Bosse vergolten werden. Die großen Gewerkschaftsverbände CGIL, CISL und UIL sowie die kämpferischen „Basis“-Gewerkschaften sollten sofort Forderungen nach Lohnerhöhungen stellen, die den Kaufkraftverlust aufgrund der Pandemie und der Inflation vollständig ausgleichen und die Forderung nach einer gleitenden Lohnskala (scala mobile) einschließen – ein Prozent für ein Prozent Anstieg im Lebenshaltungskostenindex für die Arbeiter:innenklasse.

Angesichts der steigenden Kraftstoffpreise müssen die Gewerkschaften auch für die entschädigungslose Verstaatlichung der großen Energiemonopole unter Arbeiter:innenkontrolle kämpfen. Sie sollten fordern, dass kein einziger Euro für das riesige Aufrüstungsprogramm der NATO ausgegeben wird, und das Kriegstreiben blockieren. Stattdessen muss die Arbeiter:innenbewegung massive Investitionen und den Ausbau von Arbeitsplätzen in den Bereichen Gesundheitsversorgung, Bildung, erneuerbare Energien, ja ein ganzes Spektrum von Maßnahmen gegen den Klimawandel und zum Schutz der Umwelt fordern.

Wenn in diesem Herbst eine neue rechte Regierung unter Führung der Fratelli an die Macht kommt, können die italienischen Arbeiter:innen mit einem brutalen neoliberalen Wirtschaftsangriff rechnen, der dem von Draghi geplanten sehr ähnlich ist. Darüber hinaus werden sie aber auch mit der Gewalt einer ermutigten und gestärkten extremen Rechten wie Forza Nuova (Neue Kraft) und CasaPound Italia (benannt nach dem Mussolini-Anhänger und Schriftsteller Ezra Pound) konfrontiert sein, wobei erstere für die Besetzung und Verwüstung des CGIL-Hauptsitzes in Rom im vergangenen Oktober verantwortlich war.

Die gesamte Arbeiter:innenbewegung muss sich gegen solche Angriffe schützen und Gruppen organisieren und ausbilden, die groß genug sind, um diese Aufgabe wirksam zu erfüllen und den neofaschistischen Banden eine harte Lektion zu erteilen. Aber sie muss sich auch vor den staatlichen Kräften schützen, die immer aggressiver werden, wenn sie wissen, dass ihre politischen Herr:innen voll und ganz hinter ihnen stehen.

Vor gut zwei Jahrzehnten hatte Italien die stärkste politische Arbeiter:innenbewegung Europas. Der rechte, klassenkollaborierende Flügel der Bewegung wurde zur bürgerlichen Mitte-Links-Partei, dem Partito Democratico (Demokratische Partei). Zusammen mit dem linken Flügel, Rifondazione Comunista (Partei der Kommunistischen Wiedergründung), verspielten sie diese Stärke, indem sie sich kollaborierenden Regierungen anschlossen oder diese unterstützten, die dann neoliberale Reformen durchführten. Im Jahr 2006 hatte die Rifondazione 41 Abgeordnete, 2008 keine:n mehr. Heute hat sie nur noch 10 – 15.000 Mitglieder. Bei diesem fatalen Kurs der Klassenkollaboration wurden sie von der Bürokratie der großen Gewerkschaftsverbände unterstützt.

Die Aufgabe besteht heute darin, die Kraft, die zu Beginn des Jahrhunderts existierte, sowohl auf betrieblicher als auch auf lokaler Ebene auf der Grundlage der Klassenunabhängigkeit wiederaufzubauen, mit dem Ziel, eine neue revolutionäre kommunistische Partei in Italien als Teil einer neuen revolutionären Arbeiter:innen-Internationale, der Fünften, zu schaffen.




Uniklinken in Nordrhein-Westfalen: 4 Wochen Streik

Jürgen Roth, Neue Internationale 265, Juni 2022

Seit dem 4. Mai befinden sich die Beschäftigten der Universitätskliniken Nordrhein-Westfalen im Streik. Bei der Urabstimmung votierten 98 % für den Vollstreik. Dieser war zunächst bis zum 26. Mai befristet, wurde jedoch erstmal bis zum 2. Juni verlängert.

Die Kampfbereitschaft fiel nicht vom Himmel. Schon am 19. Januar verfassten über 700 Beschäftigte der landeseigenen Universitätskliniken Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster einen Beschluss, der verbindliche Regelungen zur Entlastung aller Arbeitsbereiche, Sicherstellung und Verbesserung der Ausbildungsqualität und ein wirksames Konsequenzenmanagement im Fall ihrer Nichteinhaltung von der Landesregierung forderte. Dieses Ultimatum lief nach 100 Tagen am 1. Mai ab. Der Arbeitskampf nimmt seither härtere Formen an.

Verlauf

Zeitgleich mit dem Warnstreik zum landesweiten Branchentag „Kitas/Ganztag“ für die Tarifauseinandersetzung der Sozial- und Erziehungsdienste in NRW am 4. Mai hatte ver.di auch die Unikliniken zum Streik aufgerufen. 1.900 Beschäftigte nahmen daraufhin mit Beginn der Frühschicht ihre Arbeit nicht auf. Am Samstag, den 7.5.2022, führten sie eine Kundgebung mit anschließender Demonstration zum Landtag durch. In Essen befinden sich seitdem täglich durchschnittlich 250 Kolleg:innen im Ausstand, so dass knapp zwei Drittel der OP-Säle geschlossen werden mussten. Des Weiteren gab es erhebliche Verzögerungen bei terminierten und ambulanten Behandlungen.

Am 9. Mai fuhren Azubis aus 5 Uniklinken nach Aachen, um ihre dortigen Kolleg:innen zu unterstützen. Die Klinikleitung hatte als einzige keine Notdienstvereinbarung mit der Gewerkschaft abgeschlossen, welche regeln soll, wie viele Beschäftigte mindestens auf den Stationen und in den Funktionsabteilungen bleiben, welche Betten und Einheiten geschlossen werden sowie, dass Auszubildende keine Fehltage für den Streik eingetragen bekommen. Dem Aachener Berufsnachwuchs wurde dagegen genau damit gedroht, was zur Folge haben kann, dass Streikteilnehmer:innen nicht zur Abschlussprüfung zugelassen werden!

Am 19. Mai rief ver.di die Azubis zu einem Auszubildendenstreiktag nach Essen auf, um hier nochmal ein deutliches Zeichen des Protests zu setzen. Ein Aufruf an alle Streikenden wäre sicher angemessener gewesen, handelt es sich doch bei den Maßnahmen der Aachener Klinikleitung de facto um einen Angriff aufs Streikrecht für eine bestimmte Personengruppe. Getreu dem Motto, dass eine Attacke auf eine/n Gewerkschafter:in eine auf alle bedeutet, wäre eine geschlossene Manifestation der Ablehnung durch alle nur konsequent!

Zeichen der Solidarität

In einem Aufruf für ärztliche Unterstützung für eine verbindliche Personalbesetzung an den Universitätskliniken in NRW, der auch vom „Verein demokratischer Ärzt*innen (vdää*)“ unterzeichnet ist, drückten über 530 Ärzt:innen und Medizinstudierende am 5. Mai ihre Solidarität mit den Arbeitskampfmaßnahmen aus. Ins selbe Horn tutet auch die „Solidaritäts-Erklärung des Stuttgarter Metallertreff / Zukunftsforum Stuttgarter Gewerkschaften für die streikenden Kolleg*innen in den Unikliniken in NRW“, veröffentlicht am 23. Mai und unterstützt von der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG).

Am 12. Mai beschloss eine Versammlung am Hamburger Uniklinikum Eppendorf (UKE) eine Reihe von Auftaktaktionen, an deren Ende ein Tarifvertrag Entlastung (TVE) stehen soll. So machte eine Gruppe Pflegender vor dem Krankenhaus auf ihre Lage aufmerksam. Sie zeigte sich wenig beeindruckt vom Optimismus der Hamburger Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD), die stolz auf 3.760 Auszubildende im Pflegebereich der Hansestadt verwies. Die Verlautbarung eines ver.di-Sprechers, die Chancen stünden gut für einen niedrigeren Betreuungsschlüssel in der Intensivpflege, hat die Aktivist:innen ebenso wenig von ihrem Protest abgehalten, wie sie einen konsequenten Beitrag im Kampf gegen den Pflegenotstand darstellt. Auch in Bremen regte sich der zuständige Gewerkschaftssekretär mit einem Vorstoß, man müsse auch hier bald für einen TVE mobilisieren. Die Gewerkschaftsbasis vor Ort sollte ihn rasch beim Wort nehmen. Als Zeichen der Solidarität mit dem Kampf in NRW sind auch diese Ereignisse in Hamburg und Bremen allemal zu werten.

Gegenwind

Die aktuelle Streikbewegung war von Beginn an vom Berliner Kampf um Entlastung an den Krankenhäusern inspiriert. Gegenüber dem Berliner Vorbild zeichnet sie sogar zwei Vorzüge aus: Erstens werden Mindestbesetzungsregeln auch für nichtpflegerische Bereiche gefordert. Zweitens ging der Kampf rasch zum Vollstreik über.

In mehreren Artikeln haben wir Vorschläge für Kampfführung und wirksame Kontrolle über ein evtl. erzieltes Ergebnis im Sinne der Stärkung der Selbstorganisierung der Basis hin zur wirksamen Arbeiter:innenkontrolle und zum politischen Streik für eine gesetzliche Pflegepersonalbemessung unterbreitet.

Aktuell bläst den nordrhein-westfälischen Kolleg:innen jedoch anders als in Berlin ein starker Wind entgegen. Auch dort hatte anfänglich der Senat mit Verweis auf die Haltung der kommunalen (VKA) und Landesarbeit„geber“:innenverbände die Unmöglichkeit ihres Unterfangens zu verdeutlichen versucht. Doch die Berliner Streikenden ließen sich von der Drohung, Berlin flöge aus den Verbänden, wenn es sich auf Verhandlungen über einen TVE einlasse, nicht einschüchtern.

In NRW jedoch läuft die Sache anders. Gesundheitsminister Laumann und Ministerpräsident Wüst ließen verlautbaren, ein Tarifvertrag komme auf jeden Fall zustande. Vorher hatten sie den gleichen Taschenspielertrick wie die Berliner Regierenden vorgeführt. Doch jetzt signalisieren sie, ernsthafte Verhandlungen aufnehmen zu wollen. Passiert ist seit dem Ultimatum bisher aber nichts bzgl. eines realen Angebots.

Ver.di kritisiert daran lediglich den langsamen Verhandlungstakt. Die Gewerkschaft entblödet sich aber nicht, den vermeintlichen Sinneswandel der Unternehmer:innenseite festzustellen und zu loben. Mag sein, dass die von den bürgerliche Medien organisierte „öffentliche Meinung“ dafür verantwortlich ist. Nach anfänglichen Sympathien für den Arbeitskampf mehren sich von Tag zu Tag – der Streik geht in die 5. Woche – kritische Stimmen. So schreibt die „Rheinische Post“ von Geiselhaft, in die Patient:innen von den Gewerkschafter:innen genommen würden. Andere Blätter raunen von Zorn und Fassungslosigkeit auf Seiten der Behandlungsbedürftigen.

Es ist notwendig, dagegen eine eigene Öffentlichkeit von unten zu mobilisieren, den Schulterschluss mit Patient:innenvereinigungen zu suchen und klarzumachen, dass die Forderungen der Beschäftigten in jedem Fall auch einen Beitrag zur Verbesserung der Behandlungen leisten würden. Verursacht wird der gesamte Pflegenotstand schließlich eindeutig von den profitorientierten Gesundheitskapitalen und ihren politischen Helfershelfer:innen, die sich jetzt aufführen, als hätten sie Kreide gefressen.

Doch viel wichtiger ist, deren Bauernfängerei zu entlarven und verurteilen. Diese liegt darin, dass die Klinikleitungen als Vorbedingung, um über einen TVE verhandeln zu können, aus dem Arbeit„geber“:innenverband austreten wollen. Dafür muss das NRW-Hochschulgesetz geändert werden. Nach dem Austritt wären die Unikliniken nicht mehr an die Tarifgemeinschaft gebunden. Die anderen, v. a. Entgelt betreffenden Tarifverträge sollen trotz des Austritts weiter gelten. Ver.di-Landesbezirksleiterin Gabriele Schmidt sprach daraufhin in einer Pressemitteilung von ver.di NRW vom 11.5.2022 davon, „dass der politische Wille da ist, den Weg für Tarifverhandlungen freizumachen“. Landesfachbereichsleiterin Katharina Wesenick redete von einem möglichen Einstieg in einen geordneten Ausstieg aus dem Konflikt (WDR, 10.5.2022). Ähnliche Töne finden sich im Artikel „Eine starke Bewegung“ in ver.di publik 3/2022.

Natürlich können Gewerkschaften der Kapitalseite nicht aufzwingen, wie sie sich organisiert. In diesem Sinne hat die Berliner Krankenhausbewegung völlig richtig reagiert, entsprechende Einlassungen des Senats glatt zu ignorieren. Selbst in NRW hat die ver.di-Führung trotz ihrer Schönrednerei den Streik bisher nicht ausgesetzt, sondern verlängert. Doch bleibt zu kritisieren, dass sie einen Ausstieg aus dem Unternehmer:innenverband gutheißt, nur um an den Verhandlungstisch zu kommen. Das ist denn doch des Schlechten, der Sozialpartner:innenschaft, zu viel.

Immerhin verweist sie ihre Mitgliedschaft damit auf den Weg eines immer weiter zersplitterten Häuserkampfes, also schlechterer Bedingungen für ein branchenweites Ergebnis. Notwendig wäre aber folgende Ansage: Diese Taktik stellt nur einen weiteren Spaltungsversuch der organisierten Beschäftigten dar. Folglich werden wir mit verstärkter Kraft den branchen- und bundesweiten Kampf ausweiten bis hin zum politischen Massenstreik für eine gesetzliche Personalbemessung!

Eine solche politische Stoßrichtung müssen wir von der Gewerkschaft einfordern – auf deren Führung verlassen dürfen wir uns nicht. Vielmehr muss diese Ausrichtung auf den Streikversammlungen offen diskutiert und beschlossen sowie Streikleitungen gewählt werden, die diesem Kurs verpflichtet sind.

Welche Perspektive fürs Gesundheitswesen?

Der Kampf gegen die Überlastung des Personals, gegen miese Löhne und Personalnotstand muss, wie die Erfahrung bisheriger Kämpfe zeigt, über die rein betriebliche Ebene hinausgehen. Das Problem ist letztlich ein gesellschaftliches und politisches. Es braucht eine gemeinsame Bewegung aller Krankenhäuser für ein bedarfsgerechtes und menschenwürdiges Gesundheitssystem unter Kontrolle der Beschäftigten.

Die Auseinandersetzung in NRW muss sich bewusster als ihr Berliner Vorbild für die bundesweite Ausdehnung ihres Kampfes einsetzen. Gerade angesichts fehlender Finanzierung des TVE, angesichts anhaltender Profitorientierung des Gesundheitswesens muss auch das Mittel politischer Streiks der gesamten Gewerkschaftsbewegung gegen das DRG-System, Krankenhausschließungen und -privatisierungen und für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen ins Kalkül gezogen werden.

  • Entschädigungslose Enteignung privater und privatisierter Krankenhäuser unter Kontrolle der Beschäftigten und der Gewerkschaften! Entschädigungslose Enteignung der Pharma- und Medizintechnikkonzerne!
  • Für eine gesetzliche Personalbemessung, die den tatsächlichen Bedarf widerspiegelt und die in allen Sektoren, auch der Altenpflege, gilt!
  • Für ein ausreichendes Pflegepersonalgesetz in allen Sektoren, auch der Altenpflege! Personalbedarf für die PatientInnenversorgung, errechnet durch die Beschäftigten sowie PatientInnen und ihre Organisationen selber! Laufende Personalbesetzungs- und Betriebsregelungen unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Weg mit Beitragsbemessungsgrenzen, Befreiungs- und Ausstiegsmöglichkeiten aus der gesetzlichen Krankenversicherung! Für weitere Finanzierung des Plans durch progressive Steuern auf Kapital, Gewinne und Vermögen!
  • Erstellung eines Plans für ein integriertes Gesundheits-, Rettungs-, Kur- und Rehabilitationswesen von unten durch Beschäftigte und Patient:innen unter Hinzuziehung von Expert:innen ihres Vertrauens!
  • Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung, die für diese Forderungen eintritt!



Chile: Boric gewinnt Präsidentschaftswahlen deutlich

Dave Stockton, Infomail 1174, 22. Dezember 2021

Am 19. Dezember 2021 besiegte Gabriel Boric in der zweiten Runde der chilenischen Präsidentschaftswahlen José Antonio Kast und erhielt 55,9 Prozent der Stimmen. Die Wahlbeteiligung war mit 55,6 Prozent die höchste seit Abschaffung der Wahlpflicht im Jahr 2012.

Offensichtlich hat die Drohung eines chilenischen Bolsonaro die fortschrittlichen WählerInnen mobilisiert. Die Wahlbeteiligung lag um 1,2 Millionen höher als im ersten Wahlgang, um den Verfechter einer Diktatur im Stile Pinochets und einer neoliberalen Verarmung zu besiegen. Obwohl die liberale bürgerliche Mitte bei der Wahl zerschlagen wurde, ist die Behauptung der bürgerlichen Medien, es handele sich um einen Kampf zwischen zwei Extremen, falsch. Im Fall von Kast gab es zwar ein Extrem, aber Boric ist in Wirklichkeit ein ziemlich „demokratischer Sozialist“ der Mitte, wenn auch ohne Parteibuch.

Dennoch war es völlig richtig, dass praktisch alle Linken für Boric gestimmt haben. Sie haben nicht nur den Aufstieg eines aggressiven Rechten an die Macht verhindert, sondern sie werden auch Boric selbst an der Regierung auf die Probe stellen. Die Stärkung der Moral und des Vertrauens seiner AnhängerInnen wird die besten Voraussetzungen für die Erneuerung der Massenmobilisierung für fortschrittliche wirtschaftliche und politische Forderungen schaffen, die zweifellos notwendig sein wird.

Lehren der Vergangenheit

Das bedeutet, nicht darauf zu warten, dass Boric über das Tempo der Umsetzung seines Programms entscheidet, und schon gar nicht, die Kompromisse zu akzeptieren, die wir von ihm gegenüber der Rechten anzubieten erwarten können. Es bedeutet, die Bewegung der ArbeiterInnenklasse und Jugend aufzubauen und zu organisieren, die seit 2019 in großer Zahl auf die Straße gegangen ist und die Grundlage für die Abschaffung der Pinochet-Verfassung und die Wahl eines jungen „Linken“ gelegt hat.

ChilenInnen, die sich an die Präsidentschaft von Salvador Allende (3. November 1970 – 11. September 1973), die mit seiner Ermordung endete, und an die Diktatur Pinochets (1973 – 1990) erinnern können, wissen, dass die Wahl einer linken Regierung nicht das Ende der Geschichte oder den Beginn glücklicherer Tage bedeutet.

Diese Diktatur, die Kast regelmäßig lobt, war eine der blutigsten der 1970er Jahre. Mehr als 3.000 namentlich identifizierte Menschen wurden getötet oder verschwanden, rund 37.000 wurden verhaftet und unsäglichen Folterungen und Vergewaltigungen ausgesetzt, und 200.000 mussten ins Exil fliehen. Wie in Francos Spanien und Videlas Argentinien wurden Pinochet und seine MörderInnenriege nie vor Gericht gestellt, und aus demselben Grund unterstützten die Vereinigten Staaten und die westlichen Demokratien diese Regime weiterhin. Im Fall von Pinochet lag dies daran, dass er der erste war, der die neoliberale Politik der „Chicago Boys“ vollständig durchsetzte. Henry Kissinger (98), der Mann hinter dem Staatsstreich von 1973, ist noch am Leben und wird mit Ehrungen überhäuft, darunter dem Friedensnobelpreis.

Keine faulen Kompromisse!

Kasts 44 Prozent der Stimmen zeigen, dass diejenigen, die von der Diktatur profitierten, nicht verschwunden sind. Eine weitere, bleibende Hinterlassenschaft jener Jahre ist ein rechtsgerichteter Militär- und Polizeiapparat, der zweifellos bereit ist, jedes ernsthaft radikale Programm zu blockieren. Obwohl das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr 12 Prozent erreichen soll, nachdem es 2020 um 5,8 Prozent geschrumpft war, weist die OECD darauf hin, dass es sich dabei um einen kurzfristigen Schub durch ein umfangreiches Konjunkturpaket handelt, und erwartet, dass es bis 2023 auf nur 2 Prozent sinken wird. Es besteht kein Zweifel, dass sowohl das chilenische als auch ausländische Kapital bereits planen, wie sie nach der Wahl von Boric jegliche progressive Politik sabotieren können.

Es besteht jedoch die Gefahr, dass Boric den Weg der Annäherung an die AnhängerInnen von Kast beschreitet, um die Kluft zwischen „den“ ChilenInnen zu überwinden überwinden. Der Preis für einen solchen faulen Klassenkompromiss wird darin bestehen, dass er alle radikalen Elemente seines Programms fallen lässt, insbesondere die Besteuerung der reicheren Teile der Bevölkerung, um sinnvolle Sozialreformen zu finanzieren. Dies könnte die Massenbewegungen demoralisieren und demobilisieren, wenn es keine konzertierte Opposition der Gewerkschaften und der Linken gibt.

Sollte er jedoch ernsthafte Reformen anstreben, ist mit Sabotage und Störungen seitens der chilenischen Führungsschicht im Kongress und im Wirtschaftsleben zu rechnen. Die USA und ihre willfährigen internationalen HelferInnen wie der IWF werden Boric der Menschenrechtsverletzungen und der Diktatur beschuldigen. Obwohl Chile über eine relativ fortschrittliche Wirtschaft verfügt und einst als „älteste Demokratie Lateinamerikas“ bezeichnet wurde, bleibt es dennoch eine Halbkolonie, die Sanktionen und Blockaden ausgesetzt sein könnte, sollte es versucht sein, den „bolivarischen“ Weg eines Chávez oder Morales einzuschlagen.

Die chilenische Linke und alle fortschrittlichen und demokratischen Kräfte, die für Boric gestimmt haben, müssen sich erneut auf der Straße und am Arbeitsplatz mobilisieren, ihre eigenen Forderungen erheben und auf alles gefasst sein, was ihre FeindInnen vorbringen. Mehr noch, die junge Linke muss sich auf das radikale, ja revolutionäre Vermächtnis des 20. Jahrhunderts besinnen und sich von den kompromittierenden und pazifistischen Traditionen des „demokratischen Sozialismus“, dem Boric nahesteht, lösen. Die chilenischen KapitalistInnen, bewaffnet mit ihren Militär- und Polizeikräften und, hinter ihnen stehend, der CIA, sind echte TigerInnen, die sich nicht friedlich durch Wahlmandate und bürgerliche Demokratie ihrer Zähne und Krallen berauben lassen.