Sofortige Aufhebung des Patentschutzes – Corona-Impfstoff für alle!

Katharina Wagner, Infomail 1150, 18. Mai 2021

Wer in den letzten Wochen Nachrichten hörte oder die Zeitung aufschlug, dürfte überrascht gewesen sein. Denn nach wochenlangen Diskussionen über den herrschenden Impfnationalismus forderte plötzlich auch Joe Biden das zumindest vorübergehende Aussetzen des Patentschutzes, um die weltweite Versorgung mit Impfstoffen gegen COVID-19 und damit ein Beherrschen der Corona-Pandemie zu gewährleisten.

Unter Druck von progressiven DemokratInnen und BefürworterInnen des öffentlichen Gesundheitswesens, vor allem wegen der derzeit katastrophalen Zuspitzung der Pandemie in Indien, sah sich der US-Präsident zu einer geänderten Stellungnahme gezwungen. Natürlich nicht ohne zu ergänzen, dass er nach wie vor die bereits verfügbaren Impfstoffe zunächst für die eigene Bevölkerung einsetzen werde.

Weltweite Forderung

Die Forderung nach Aussetzung der Patente wird seitens der WHO und vielen Ländern des globalen Südens seit langem geäußert, um die Produktion von Impfstoffen weltweit ohne Zahlung von Lizenzgebühren zu ermöglichen. Bereits im Oktober 2020 wurde durch Brasilien und Indien ein Antrag an die Welthandelsorganisation (WTO) eingereicht, der die Aussetzung von mehreren Punkten des TRIPS-Abkommens vorsieht. Dieser wird mittlerweile von über 100 Ländern unterstützt. Hierbei geht es um die Aussetzung bestimmter Aspekte bezüglich des Recht sauf geistiges Eigentum in Bezug auf Vakzine, Heilmittel und medizinische Ausrüstung im Zusammenhang mit COVID-19. Ein solcher Antrag muss aber von den Mitgliedsstaaten einstimmig angenommen werden und scheiterte bisher am Veto der USA und der EU.

Warum die Forderung nach Aufhebung der Patente für Vakzine nicht von der Hand zu weisen ist, zeigen die Zahlen der bisherigen globale Impfstoffverteilung. Afrikanische Staaten, deren Anteil an der Weltbevölkerung rund 16 % der Gesamtbevölkerung ausmacht, wurden bisher nur mit 2 % der verfügbaren Impfstoffmenge beliefert. Dem gegenüber sollen bis zu 70 % der verfügbaren Vakzine an die Industriestaaten gehen. Und dass sich die ärmeren Länder dieser Welt nicht alleine auf das COVAX-Programm der WHO verlassen dürfen, ist nicht erst seit dem starken Anstieg der Infektionszahlen in Indien deutlich geworden, welcher zu drastischen Reduzierungen der für das Programm bestimmten Impfdosen geführt hat. Die dort hergestellten Dosen des AstraZeneca-Impfstoffes werden nun dringend für die eigene Bevölkerung benötigt und fehlen somit außerhalb Indiens.

Die Forderung nach Aussetzung des Patentrechts für Impfstoffe wird sogar von der Bevölkerung der imperialistischen Länder befürwortet. Rund 70 % der Befragten in G7-Staaten sind laut einer Meinungsumfrage für die Aussetzung des Patentrechts, um die globale Pandemie schnellstmöglich zu beenden. Schließlich müsste jedem klar sein, dass die Pandemie nur global überwunden werden kann. Vor allem in Regionen mit geringer Impfquote ist biologisch betrachtet die Wahrscheinlichkeit von weiteren Mutationsvarianten deutlich erhöht, und somit wird auch die Wirksamkeit der Impfstoffe aufs Spiel gesetzt.

Lautstarke Kritik und Erklärungsversuche

Vor allem aus der EU kommt großer Vorbehalt gegen diesen Antrag. Bundeskanzlerin Merkel hat sich bereits mehrmals eindeutig gegen die Aufhebung des Patentschutzes ausgesprochen. Aus Kritikerkreisen ist zudem zu hören, dass nicht der bestehende Patentschutz, sondern vor allem die fehlenden Produktionskapazitäten, Fachkenntnisse und die Beschaffung von Rohstoffen die größten Hindernisse seien.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die EU bei einer Aufhebung des Patentschutzes vor allem Wettbewerbsvorteile für die Volksrepublik China befürchtet. Denn diese könne im Gegensatz zu vielen halbkolonialen Ländern die dann zugänglichen Informationen viel schneller für eigene Impfstoffproduktionen nutzen.

Im Folgenden wollen wir die Entwände gegen eine Aufhebung des Patentschutzes näher betrachten. Tatsächlich handelt es sich bei der Herstellung von mRNA-Impfstoffen um ein völlig neuartiges Verfahren, und nur wenige Pharma- beziehungsweise Biotechfirmen verfügen derzeit tatsächlich über das notwendige Fachwissen, um diese Impfstoffe in hoher Qualität herzustellen. Dies liegt aber in erster Linie an dem sehr restriktiven Vorgehen der Biotechfirmen BioNTech, Moderna sowie CureVac, welche ihre jeweiligen KooperationspartnerInnen meist nur mit einzelnen Schritten innerhalb des Herstellungs- oder Abfüllungsprozesses beauftragen, um die Produktionsmengen zu erhöhen. Hierbei werden aber lediglich die zwingend erforderlichen Informationen weitergeleitet. Ein vollständiger Wissenstransfer findet nicht statt.

Im Oktober 2020 gab es von der US-amerikanischen Biotechfirma Moderna sogar das Angebot, den Patentschutz für ihr mRNA-Vakzin nicht durchsetzen zu wollen, damals vermutlich hauptsächlich aus Imagegründen, und das geistige Eigentum erst nach Ende der Pandemie lizenzieren zu wollen. Auch die Mainzer Firma BioNTech hat kürzlich angekündigt, ihre Patente kurzfristig aussetzen und bis zum Ende der Pandemie den Patentschutz juristisch nicht durchsetzen zu wollen.

Allerdings wird ein Ende der Pandemie von der WHO festgelegt, und da in zahlreichen Industrieländern schon ein gewaltiger Impffortschritt und niedrige Inzidenzzahlen erzielt werden konnten, könnte dieses „Ende“ vielleicht früher als erwartet verkündet werden, während sich die Pandemie in den halbkolonialen Ländern mit voller Wucht weiter ausbreitet.

Ob die jeweilige Zeitspanne dann ausreichend ist, um in diesen Ländern die erforderlichen Produktionskapazitäten aufbauen und Fachpersonal bereitstellen zu können, bleibt fraglich. Daher ist die Forderung nach Aufhebung des Patentschutzes notwendig, aber nicht ausreichend. Ebenso wichtig ist die Forderung nach einem umfassenden Technologie- und Wissenstransfer sowie nach Bereitstellung von personellen und finanziellen Ressourcen, um die weltweiten Produktionskapazitäten für diese Art von Impfstoff stark auszuweiten.

Allerdings ist dies ohne Zugang zum Wissen und zur Erfahrung der jeweiligen Unternehmen kaum denkbar. Es bräuchte daher staatliche Zwangsmaßnahmen, um einen Transfer dieses Wissens und eine umfassende Kooperation zu erzwingen. Ein weiteres Mittel, welches schon jetzt eingesetzt werden könnte, wäre die Vergabe von Lizenzen an andere, auch internationale Pharmafirmen. Firmen aus Dänemark, Bangladesch sowie Indonesien und Südafrika hatten sich bisher vergeblich bemüht, in die Impfstoffherstellung einzusteigen. Doch bisher wurden selbst diese Schritte unter Berufung auf den Patentschutz vor allem von den USA und der EU blockiert. Die rechtliche Möglichkeit der Zwangslizenzierung wird aufgrund des enormen Drucks seitens der Pharmabranche von den bürgerlichen Regierungen natürlich auch nicht genutzt.

Nicht nur bei der Patentfrage, sondern auf allen Ebenen erweist sich das Profitinteresse der großen Kapitale als entscheidendes Hindernis für eine effektive, international koordinierte Pandemiebekämpfung.

Zahlreiche Initiativen weltweit

Derzeit gibt es international zahlreiche Initiativen von NGOs, Sozial- und Gesundheitsverbänden sowie Gewerkschaften, welche eine Aussetzung des Patentschutzes fordern. Neben der Partei DIE LINKE, welche bereits im Januar diesen Jahres einen entsprechenden Antrag zur Freigabe der Patente im deutschen Bundestag einreichte, stellen sich auch zahlreiche linke Gruppen wie marx21 oder die Interventionistische Linke (IL) eindeutig hinter diese Forderung.

Im Kampf für das weltweite Recht auf Gesundheit und freien Zugang zu Impfstoffen sind transnationale, breite Bündnisse wie bspw. die Bewegung #ZeroCovid unbedingt notwendig. Zwar fehlt diesen losen Bündnissen oft noch ein „politischer Hebel“. Dennoch ist es gelungen, diese Forderung zu verbreitern und somit zumindest einen Ansatzpunkt für einen gemeinsame Kampf zu finden. Um allerdings global einen gerechten Zugang zu Impfstoffen durchzusetzen, reicht allein die Forderung nach einer Aussetzung des Patentrechtes nicht aus, vielmehr muss die weitreichendere Forderung nach vollständiger Enteignung der Pharmakonzerne sowie des gesamten Gesundheitssektors auf die Tagesordnung gesetzt werden.

Denn es herrscht ja nicht nur eine ungleiche Verteilung von Impfstoffen, sondern auch von Arzneimitteln und medizinischer Ausrüstung, von finanziellen Ressourcen und Produktionskapazitäten insgesamt. Und eines ist im Zuge der Pandemie sehr deutlich geworden: Innerhalb einer kapitalistischen Marktwirtschaft handelt es sich dabei in erster Linie nicht um „öffentliche Güter“, sondern zunächst einmal um Waren, mit denen Profit erwirtschaftet werden kann. Eine weitere, und bereits angesprochene Forderung ist der notwendige Technologietransfer. Dieser kann freilich nicht den einzelnen EigentümerInnen und dem Management überlassen werden. Die Aufhebung von Patenten und der öffentliche Zugang zu Know-how und Forschungsergebnissen muss vielmehr durch die ArbeiterInnenklasse erzwungen und deren Kontrollorgane überwacht werden. Nur so kann ein zügiger Ausbau von Produktionskapazitäten medizinisch notwendiger Güter weltweit und eine Versorgung sichergestellt sowie die Abhängigkeit halbkolonialer Länder von Industriestaaten abgebaut werden.

Perspektive

Wir als Gruppe ArbeiterInnenmacht unterstützen die oben genannten Forderungen ausdrücklich, allerdings wurde bisher nicht deutlich genug dargestellt, wie die Umsetzung dieser Forderungen praktisch tatsächlich erreicht werden kann. Zwar spricht die IL auch davon, dass der „Druck der Straße“ jetzt notwendig sei und wir nicht müde werden dürfen „gegen die Unternehmensinteressen wie auch gegen die Macht der Herrschenden das Recht auf Gesundheit zu verteidigen und ihre Warenförmigkeit anzugreifen“. Wer dieses „Wir“ aber eigentlich verkörpert, wird leider nicht näher erläutert.

Anders als die IL gehen wir davon aus, dass die Lohnabhängigen zur führenden Kraft in den Bündnissen, bestehend aus Gewerkschaften, NGOs sowie Teilen des KleinbürgerInnentums, werden müssen. Aus unserer Sicht kann dies nur durch einen solidarischen Kampf der gesamten ArbeiterInnenklasse und ihrer jeweiligen Organisationen, allen voran den Gewerkschaften, gelingen – einen Kampf, der nicht nur auf Demonstrationen setzt, sondern auch durch Streiks und betrieblich Aktionen das Gewicht der ArbeiterInnenklasse in die Waagschale wirft.

Ebenso ist eine Vernetzung mit anderen sozialen Kämpfen notwendig. Um die Gewerkschaften stärker in den Kampf für das Recht auf Gesundheitsschutz und eine globale Gesundheitsversorgung einzubeziehen, muss gegen die herrschende Gewerkschaftsbürokratie und die „Sozialpartnerschaft“ vorgegangen werden. Dazu ist der Aufbau einer oppositionellen, klassenkämpferischen Basisbewegung unerlässlich. Auch die Forderung nach Enteignung der Pharmakonzerne und des Gesundheitssektors allein ist nicht ausreichend. Sie müssen nicht nur enteignet, sondern danach unter Kontrolle der ArbeiterInnenklasse gestellt werden. Denn nur so wird es uns gelingen, den dringend benötigten Wissens- und Technologietransfer zu organisieren und den weltweiten Ausbau von Produktionskapazitäten für Impfstoffe, Medikamente und medizinische Ausrüstung massiv voranzutreiben.

Weder die kapitalistische Pharmaindustrie noch bürgerliche Regierungen haben ein wirkliches Interesse daran. Lediglich für die gesamte internationale ArbeiterInnenklasse besteht ein objektives Interesse an einer gerechten Gesundheitsversorgung weltweit. Daher dürfen wir die Bekämpfung dieser Pandemie weder den bürgerlichen Regierungen noch den KapitalistInnen überlassen und treten für folgende Forderungen ein:

  • Koordination aller Forschungen und Entwicklungsbemühungen statt Wettbewerb um den schnellsten Profit: sofortige Aufhebung des Patentschutzes, welcher nur die Monopolprofite der Konzerne schützt! Bildung einer internationalen Kommission, gewählt aus SpezialistInnen, welche die Forschungsteams in den verschiedenen Bereichen koordiniert!
  • Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses und Offenlegung aller Forschungsergebnisse staatlicher wie privater Institute.!Internationale Koordinierung der Impfstoffentwicklung sowie kostenloser Zugang zu sicheren Impfstoffen für alle Menschen weltweit!
  • Aufhebung aller Exportstopps für Vakzine, dringend benötigte Rohstoffe einschließlich Verpackungsmaterial sowie medizinische und technische Ausrüstung, um eine globale Impfstoffproduktion sowie -versorgung sicherzustellen!
  • Massiver Ausbau der globalen Produktionskapazitäten für die Impfstoff- und Arzneimittelherstellung, Technologie- und Wissenstransfer, um weltweit sichere Impfstoffe mit höchster Qualität herstellen zu können, bezahlt durch eine massive Besteuerung derer, die in der Pandemie noch reicher wurden!
  • Entschädigungslose (Wieder-) Verstaatlichung der privatisierten Teile des Gesundheitswesens, der pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie, um die Ressourcen zu bündeln und unter demokratische Kontrolle der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften zu stellen!
  • Für eine frei zugängliche, globale Gesundheitsversorgung, die sich nach den tatsächlichen Bedürfnissen und nicht an Profiten orientiert!



100 Jahre Teilung Irlands – ein „Karneval der Reaktion“

Bernie McAdam, Infomail 1149, 14. Mai 2021

James Connolly, der große irische Sozialist, sagte richtig voraus, dass die Folge der Teilung Irlands ein „Karneval der Reaktion sowohl im Norden als auch im Süden“ sein würde. Wie zur Bestätigung seiner Aussage wurde der diesjährige hundertste Jahrestag mit Angriffen eines protestantischen Mobs auf die ironisch benannte Friedenslinie in Belfast gefeiert. Obwohl sich heute fast die Hälfte der Bevölkerung mit einem vereinten Irland identifiziert und nichts zu feiern hat, haben LoyalistInnen damit gedroht, das Karfreitagsabkommen zu ignorieren und zu versuchen, durch nationalistische Gebiete zu marschieren, was unterstreicht, dass „Nordirland“ einem großen Teil seiner Bevölkerung nichts als Unterdrückung und Repression geboten hat.

Nationale Revolution

Die Gründung von „Nordirland“ fand vor dem Hintergrund einer nationalen Revolution in Irland, Großbritanniens ältester Kolonie, zwischen 1916 und 1923 statt. Beim Osteraufstand von 1916 wurde die irische Republik ausgerufen und Dublin sechs Tage lang gehalten, bevor die RebellInnen kapitulierten. Sie genossen zwar nicht die Unterstützung der Mehrheit der Stadtbevölkerung, aber nach der anschließenden Hinrichtung von 16 AnführerInnen des Aufstands im Gefängnis von Kilmainham (Stadtteil Dublins) wandte sich die Mehrheit der irischen Bevölkerung entschieden gegen die britische Herrschaft. Zu den AnführerInnen, die sich dem Erschießungskommando stellten, gehörte auch James Connolly, der verwundet und an einen Stuhl gefesselt wurde. Patriotische britische Labour-Abgeordnete bejubelten die Bekanntgabe der Hinrichtungen im Unterhaus.

Die britischen Parlamentswahlen von 1918 sicherten der republikanischen Partei Sinn Fein eine überwältigende Mehrheit der irischen Sitze. Deren Mitglieder traten 1919 prompt als souveränes irisches Parlament, das erste Dail Eireann, zusammen. Dieses wurde von Großbritannien für illegal erklärt. Bald folgten die ersten Schüsse in einem Guerillakrieg, als sich die Irisch Republikanische Armee (IRA), die Schutzeinheit des Dail, mit britischen Truppen und der Polizei anlegte.

Parallel zum Unabhängigkeitskrieg und mit ihm verbunden war die Massenaktion der irischen ArbeiterInnen. Ein Generalstreik wehrte 1918 erfolgreich den Versuch Großbritanniens ab, die Wehrpflicht in Irland einzuführen. Ein weiterer im Jahr 1920 wurde für die Freilassung von über hundert republikanischen Gefangenen ausgerufen, die aus Protest gegen ihre Internierung in den Hungerstreik getreten waren. „Sowjets“ wurden in Irland zu einem populären Ausdruck für Aktionskomitees der ArbeiterInnenklasse mit dem Limerick-Rat und über hundert weiteren „Sowjets“, die von Streikkomitees bis hin zu Genossenschaften reichten.

Dies zeigte das enorme Potenzial der irischen ArbeiterInnenklasse, die Führung in der nationalen Revolution gegen die britische Herrschaft zu übernehmen. Eine entschlossene Führung durch irische ArbeiterInnen an der Seite von Kleinbauern, -bäuerinnen und LandarbeiterInnen hätte in ganz Irland Räte aufbauen können, die von einer ArbeiterInnenmiliz auf dem Weg zu einer ArbeiterInnenrepublik verteidigt worden wären.

Ein Guerillakrieg allein war wahrscheinlich nicht genug, um die BritInnen zu vertreiben, angesichts der Knappheit an Waffen und Munition und der ungleichmäßigen Stärke der IRA-Einheiten, so dass der Druck für Verhandlungen stark wurde. Dennoch erkannte auch die britische Regierung, dass sie den größten Teil Irlands nicht länger direkt regieren konnte. Home Rule (eine eigene Regierung), gegen die die britischen Tories und Sir Edward Carsons „Ulster“-UnionistInnen mit bewaffnetem Widerstand gedroht hatten, wurde plötzlich für zwei Teile einer geteilten Insel zugestanden.

Konterrevolution

Am 3. Mai 1921 trat der Government of Ireland Act (1920) (Regierungsgesetz für Irland) in Kraft. Dieses „Teilungsgesetz“ sah zwei getrennte, vermeintlich eigene Gerichtsbarkeiten in Irland vor, die jedoch beide der britischen Regierung  und der Krone unterstellt und immer noch Teil des britischen Empire waren. Im Nordosten der Insel sollte das „Nordirland“, das sechs der neun Grafschaften der historischen Provinz Ulster umfasste, ein eigenes Parlament wählen. In ähnlicher Weise war beabsichtigt, für die verbleibenden südlichen 26 Grafschaften ein „eigenes Parlament“ einzurichten.

Die Wahlen fanden am 24. Mai  1921 statt. Im Norden wurden 40 unionistische KandidatInnen und 12 NationalistInnen bzw. RepublikanerInnen gewählt. In den 26 Grafschaften wurden keine Wahlen abgehalten, da 124 irisch-republikanische (Sinn Fein) KandidatInnen ohne GegenkandidatInnen mit 4 unabhängigen UnionistInnen vom Trinity College, Dublin, wiedergewählt wurden. Das südliche Home-Rule-Parlament kam nie zustande, da Sinn Fein gegen das Teilungsgesetz war und weiterhin ihre VertreterInnen in den Dail Eireann schickte.

Nach jahrzehntelanger Feindseligkeit der UnionistInnen gegenüber einer eigenen Regierung für Irland überzeugte die revolutionäre Welle von 1916 bis 1921 sie schließlich, zumindest die in den sechs Grafschaften, dass die Aufrechterhaltung ihrer Vorherrschaft über KatholikInnen und NationalistInnen in Irland als Ganzes eine verlorene Sache war. Die IndustriekapitalistInnen und GroßgrundbesitzerInnen von Ulster, deren überwältigende Abhängigkeit vom britischen Markt längst feststand, gaben sich mit einer territorialen Enklave mit einer eingebauten protestantischen Mehrheit, einem dezentralisierten Parlament, einer schwer bewaffneten, sektiererischen Polizei und den berüchtigten Spezialeinheiten zufrieden, einer neuen reaktionären Miliz, die auf Einheiten der Ulster Volunteer Force, UVF (Freiwilligentruppe), basierte.

Kein Wunder also, dass die Wahl in den sechs Grafschaften von weit verbreiteter Gewalt gegen KatholikInnen und den Wahlkampf der Sinn Fein begleitet wurde. Im Jahr zuvor war es auch zu der empörenden Vertreibung von 7.000, hauptsächlich katholischen, WerftarbeiterInnen von ihren Arbeitsplätzen in Belfast gekommen, darunter etwa 2.000 „verrottete Prods“, also protestantische GewerkschafterInnen und SozialistInnen. Die Vertreibungen breiteten sich in der gesamten Maschinenbauindustrie aus, als loyalistische protestantische ArbeiterInnen auf Edward Carsons (unionistischer Politiker) aufrührerische Anti-Sinn-Fein-Rhetorik reagierten.

Trotz des Wahlsiegs von Sinn Fein hatte das Teilungsgesetz durch die Bildung einer Regierung in den sechs Grafschaften vollendete Tatsachen geschaffen, und Winston Churchill rühmte sich: „Von diesem Moment an wurde die Position von Ulster unangreifbar“. In der Tat. Das war eine gute Voraussetzung für die britische Regierung, im Juni Sinn Fein Verhandlungen anzubieten. Im Wissen um die militärische Schwäche der IRA und im Bewusstsein des Vertrauens der nördlichen UnionistInnen in ihre etablierte Macht stimmte diese zu.

Es folgte ein Waffenstillstand und Ende 1921 wurde ein anglo-irischer Vertrag vereinbart. Anfang 1922 wurde der Vertrag von der britischen Regierung und einigen der Sinn-Fein-AnführerInnen unterzeichnet. Seine Bestimmungen waren weit entfernt von einer separaten Republik. Die GouverneurInnen des neuen Freistaates mussten einen Eid auf den König ablegen. Er würde dann den Status eines Dominions als Mitglied des britischen Commonwealth erlangen, wobei Großbritannien seine Marinestützpunkte im Süden behalten würde. Was den Norden anbelangt, so war die Übertragung von Befugnissen an die dezentralisierte Regierung bereits im Gange, und das Versprechen, eine Grenzkommission einzusetzen, kam nie zustande.

Der britische Premierminister, der gerissene David Lloyd George, drohte mit einem „schrecklichen und sofortigen Krieg“, falls der Vertrag nicht angenommen würde. Der Vertrag wurde von einer Minderheit der Sinn-Fein-Führung, einschließlich Éamon de Valera, und 9 von 15 Abteilungen der IRA verurteilt. Aber der Dail Eireann akzeptierte den Vertrag mit 64 zu 57 Stimmen. Die südliche Bourgeoisie mit dem Rückhalt der katholischen Kirche stellte sich hinter den Vertrag. Der darauf folgende Bürgerkrieg im Süden sah die Niederlage der vertragsfeindlichen IRA, da Großbritannien schnell die neue Armee des Freistaats bewaffnete. Bis 1923 war die Konterrevolution abgeschlossen, und der irische Freistaat konsolidierte sich zu einem klerikalen und arbeiterInnenfeindlichen Vasallen des britischen Imperialismus, genau wie Connolly es vorhergesagt hatte.

Der Nordstaat

Im Norden wurde der Charakter des neuen Staates perfekt vom ersten Premierminister Nordirlands, Lord Craigavon, zusammengefasst, der ihn anerkennend „ein protestantisches Parlament und einen protestantischen Staat“ nannte. Allerdings war etwa ein Drittel der Bevölkerung katholisch, und durch skandalöse Wahlkreiseinteilung wurde ihnen jedes Fünkchen politischer Macht vorenthalten. Für eine Gemeinschaft, die in gemischten Gebieten bösartige Pogrome mit dem Verlust von Häusern, Arbeitsplätzen und Leben erlebt hatte, war dieser Staat ein Gefängnis.

Der Sonderermächtigungsgesetz, das 1922 im neuen Nordparlament verabschiedet worden war, war als Notmaßnahme während der schlimmsten Gewalt in Belfast gedacht. Er wurde schließlich zu einem dauerhaften Gesetz und wurde von Südafrikas Apartheid-Premierminister B. J. Vorster in den 1960er Jahren bewundert. Es beinhaltete die Todesstrafe für einige Schusswaffen- und Sprengstoffdelikte und Auspeitschung und Gefängnis für andere. Seine wirksamste Macht war die Internierung, die die unbefristete Inhaftierung aller Personen bedeuten konnte, die verdächtigt wurden, eine Bedrohung darzustellen, ohne dass ein Geschworenenprozess durchgeführt wurde.

So wurde für diejenigen, die sich als Iren und Irinnen identifizierten, hauptsächlich KatholikInnen, die systematische Diskriminierung in allen Lebensbereichen institutionalisiert. Besonders deutlich wurde dies bei Wohnungen und Arbeitsplätzen. Die willkürliche Wahlkreisfestlegung der Kommunalverwaltung durch die UnionistInnen sorgte dafür, dass der Bau und die Zuteilung von Sozialwohnungen und sowie Tausenden von Arbeitsplätzen an ProtestantInnen ging. Derry war das deutlichste Beispiel dafür. 1966 wurde die Körperschaft von den UnionistInnen kontrolliert, obwohl die erwachsene Bevölkerung aus 20.102 KatholikInnen und nur 10.274 ProtestantInnen bestand.

Da Hausbesitz eine Voraussetzung für Kommunalwahlrecht war, wirkte sich dies massiv gegen KatholikInnen aus, daher der Ruf der BürgerInnenrechtsbewegung nach „Eine Person, eine Stimme“. SteuerzahlerInnen stimmten ab, aber nicht UntermieterInnen, und FirmenchefInnen erhielten zusätzliches Stimmrecht. Die Diskriminierung war in der verarbeitenden Industrie genauso heftig, wenn nicht noch schlimmer. Im Jahr 1970 beschäftigte die Werft von Harland und Wolff nur 400 KatholikInnen von 10.000 Beschäftigten. Ähnlich winzige katholische Minderheiten gab es bei Mackie’s und Sirocco Engineering Works. Die Vertreibungen aus den Werften der 1920er Jahre wurden nie wieder gutgemacht und bestimmten die Szene für die kommenden Jahre. 1972 war die katholische männliche Arbeitslosigkeit in Belfast doppelt so hoch wie der Gesamtdurchschnitt, was zu einer höheren Auswanderungsrate führte.

Antiunionistische Massenrevolte

Die sektiererischen Widersprüche im Herzen des Nordstaates explodierten schließlich 1968 mit der Geburt der nordirischen Bürgerrechtsbewegung NICRA. Inspiriert von der zeitgenössischen US-BürgerInnenrechtsbewegung unter der Führung von Martin Luther King, sammelte sich die Masse der katholisch-nationalistischen Bevölkerung hinter den Forderungen, die Diskriminierung und Schikanen durch den Staat zu beenden. Der Marsch am 5. Oktober in Derry wurde von der Royal Ulster Constabulary (britische Polizei in Irland) brutal angegriffen und die Krise vertiefte sich.

Je mehr Märsche stattfanden, desto mehr wurden sie von TotschlägerInnen der loyalistischen Banden und staatlichen Kräften bedroht. Als 1969 ein groß angelegter Einsatz der britischen Polizeitruppe in der Bogside-Siedlung in Derry begann, vertrieben NationalistInnen die Polizei mit Benzinbomben und Ziegelsteinen, was den Innenminister der Labour-Partei, Jim Callaghan, dazu veranlasste, britische reguläre Truppen zu schicken. Neben der Schlacht von Bogside kam es auch in Belfast zu schweren Zusammenstößen, als LoyalistInnen, oft unterstützt von Polizeieinheiten, versuchten, katholische Familien zu vertreiben.

Der anfängliche „Sandwiches und Tee“-Willkommensgruß für die Truppen als Beschützerinnen vor dem loyalistischen Mob verflüchtigte sich bald, als alle Reformen ausblieben und es in der Folge zu Straßenkämpfen zwischen britischen Truppen und NationalistInnen kam. Als die Forderungen der NICRA vom unionistischen Staat und seinen britischen UnterstützerInnen ignoriert wurden, begannen die NationalistInnen, sich anderweitig, auf direkte Aktionen, zu orientieren, um ihre Interessen durchzusetzen.

Die Pogrome in katholischen Gebieten warfen die Frage der Selbstverteidigung auf und bestätigten den KatholikInnen, dass sie sich nicht auf den Schutz des Staates verlassen konnten. Dies erklärt das Wachstum der BürgerInnenverteidigungskomitees und den Aufstieg der Provisorischen IRA. Ein Kampf um die Reform des Staates war zu einem Kampf zur „Zerschlagung des nordirischen Parlaments Stormont“ und zur Beseitigung der Grenze übergegangen. Die britische Herrschaft war nun als zentrales Problem erkannt. Ohne diese konnte die Grenze zwischen Nord und Süd abgeschafft werden.

Das Ballymurphy-Massaker 1971 in Westbelfast und die Ermordung von 14 DemonstrantInnen in Derry am Blutsonntag 1972 durch das Fallschirmjägerregiment hatten den bewaffneten Kampf gegen Großbritannien eskalieren lassen und die ganze katholische Gemeinschaft entfremdet. Das Gemetzel in Derry geschah unter einer Tory-Regierung, aber von der Labour Party kam kein Protest. Die parlamentarische Labour-Partei stimmte sogar dafür, den Widgery-Bericht zum Blutsonntag zu akzeptieren, der die britische Armee für unschuldig erklärte, ein Urteil, das erst viele Jahre später, 2010, durch die Saville-Untersuchung gekippt wurde.

Das erste Jahr der Massenrevolte wich einer bewaffneten republikanischen Guerillakampagne, die nach dreißig Jahren nicht in der Lage war, die BritInnen aus dem Norden zu vertreiben. Der politische Flügel dieser Bewegung, Sinn Fein, plädierte schließlich für Frieden und einen Deal, und das Karfreitagsabkommen, GFA (Good Friday Agreement), wurde 1998 geschlossen. Das Markenzeichen dieses Abkommens war eine dezentralisierte nordirische quasi-parlamentarische Körperschaft, die nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wurde, und eine Regierung mit Machtteilung zwischen protestantischen und katholischen Kräften. Sinn Fein gab seinen militanten Widerstand gegen den Staat auf. Sie legte ihre Waffen ab, erkannte die umbenannte Polizei an, deren katholische Zusammensetzung erhöht wurde, und akzeptierte ein Veto der UnionistInnen gegen ein vereinigtes Irland.

Unionismus in der Krise

Jetzt, 23 Jahre nach dem Abkommen, kämpft das GFA damit zu funktionieren. Es wurde für drei Jahre ausgesetzt, ist aber jetzt gerade wieder am Laufen. Das SektiererInnentum der pro-britischen ProtestInnen ist so weit verbreitet wie eh und je, die „Friedensmauern“ sind immer noch vorhanden und werden angegriffen. Die Teilung der Macht ist eine Farce, der eine sektiererische Verteilung von Geldern gegenübersteht, um die wichtigsten politischen Parteien und Gemeindegruppen ruhig zu halten. Es ist auch bequem für die Londoner Regierung, die Verantwortung für die Umsetzung der Sparpolitik zu übertragen. Die Exekutive hat den Vorsitz über die am meisten benachteiligte Region Großbritanniens.

Die Krise des Unionismus ist tiefgreifend. Nach einem Jahrhundert verfügen die LoyalistInnen nun über weniger als die Hälfte der Stimmen der Bevölkerung. Die materiellen Privilegien der protestantischen ArbeiterInnenaristokratie wurden mit dem Niedergang der verarbeitenden Industrie und dem Abbau der eklatanten Diskriminierung von KatholikInnen massiv ausgehöhlt. Vor allem die Auswirkungen des Brexit haben viele davon überzeugt, dass ein vereinigtes Irland eine klare reale Möglichkeit ist.

Der Brexit hat gezeigt, wie nutzlos eine Grenze auf der irischen Insel ist. Als beide Teile Irlands in der Europäischen Union waren, förderte eine „unsichtbare Grenze“ den reibungslosen Handel. Die Probleme der Handelshemnisse und der Bürokratie werden nun zunehmen. Die Pro-EU-Mehrheit beim Referendum deutete auf eine gewisse Unterstützung der UnionistInnen und der Wirtschaft hin, was teilweise das Wachstum der bürgerlichen Allianzpartei erklärt.

Obwohl die DUP den Brexit unterstützte, war sie gezwungen, gegen eine harte Grenze zu wettern, da dies zu einem wirtschaftlichen Chaos führen würde. Aber sie hat nie damit gerechnet, durch Boris Johnsons Nordirland-Protokoll, das eine Wirtschaftsgrenze entlang der Irischen See schafft, die den Handel mit Britannien beeinträchtigen würde, über den Tisch gezogen zu werden. Also wäre jetzt eine harte Landgrenze für die DUP (Demokratisch Unionistische Partei) und ihre loyalistischen KollaborateurInnen vorzuziehen. Wie üblich wurde die orange Karte gespielt und die Angst vor einem vereinigten Irland durch Anzetteln von Unruhen auf den Straßen geschürt.

Loyalistische Mobilisierungen nehmen immer wieder isolierte nationalistische Gebiete aufs Korn. Der Übergriff an der Schnittstelle Lanark Way Anfang April wurde von nationalistischen Jugendlichen zurückgeschlagen. Wenn in den nächsten Monaten die Marschsaison der loyalistischen  AnhängerInnen beginnt und sie ankündigen, dass sie sich nicht an die Entscheidungen der Paradekommission halten werden, die einige ihrer Marschrouten eingeschränkt hat, könnte die Frage der Verteidigung der nationalistischen Gebiete erneut kritisch werden. Organisierte Verteidigungstrupps, die sich die Militanz der Jugend zunutze machen können, müssen sowohl gegen Übergriffe der LoyalistInnen als auch der Polizei aufgestellt werden.

Der Unionismus ist jedoch von tiefen Spaltungen zerrissen. Die bisher relativ geringe Zahl loyalistischer RandaliererInnen auf den Straßen zeigt seine Schwäche. Sie stehen einer Tory-Regierung gegenüber, die sich mehr davor fürchtet, Biden, die EU und die irische Regierung zu verärgern als sie. Zweifellos werden die Tories versuchen, die UnionistInnen zu beschwichtigen und einen kosmetischen Deal über das Protokoll zusammenzuflicken, da jede Rückkehr einer harten Landgrenze noch schädlicher wäre.

Für eine ArbeiterInnenrepublik

Nach einem „Karneval der Reaktion“, der ein Jahrhundert andauert, taumelt Großbritanniens Gefängnisstaat weiterhin von einer Krise in die nächste. Währenddessen ist in der Republik die skandalumwitterte katholische Kirche gezwungen, ihre kulturelle Vorherrschaft aufzugeben, indem sie den sukzessiven Bewegungen für Frauen- und LGBTQ-Rechte nachgibt. Der britische Imperialismus, der für die Erschaffung dieses kleinen Monsters zur Spaltung der ArbeiterInnenklasse im Norden verantwortlich ist, schaut mit zunehmender Irritation und Unverständnis auf seine „loyalistischen“ UnterstützerInnen.

Es ist an der Zeit, diesen Staat und die dazugehörige Grenze abzuschaffen. Aber es wäre unklug, sich auf eine Grenzabstimmung zu verlassen, wie Sinn Fein und andere es tun, um diese Aufgabe zu erledigen. Obwohl dies vollständig in der Zuständigkeit der britischen Regierung liegt, hat der britische Premierminister Johnson, der mit den Forderungen der Schottischen Nationalistischen Partei nach einem Unabhängigkeitsreferendum konfrontiert ist, gewarnt, dass es für eine „sehr, sehr lange Zeit“ keine Abstimmung geben wird.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass sich die irischen ArbeiterInnen in den bevorstehenden Kämpfen auf ihre eigene Stärke verlassen, gegen den Orangestaat nicht weniger als im Süden. Die ArbeiterInnen sehen sich einer drohenden wirtschaftlichen Verwüstung durch den Brexit und die Pandemie sowie einer verschärften Unterdrückung gegenüber, und das gilt für beide Seiten der „Friedensmauern“.

Die Einheit der ArbeiterInnenklasse muss geschmiedet werden, um Lebensstandard und Arbeitsplätze rund um ein kämpferisches Aktionsprogramm zu verteidigen. Es gibt viel mehr, was die ArbeiterInnen eint, als was sie trennt. Gegen jeden Arbeitsplatzverlust und jede Kürzung muss mit Solidaritätsaktionen Widerstand geleistet werden, und die Basis muss ihre Gewerkschaften aufrütteln, damit die FührerInnen innerhalb der Gewerkschaft und durch demokratische Versammlungen am Arbeitsplatz zur Aktion gezwungen und zur Rechenschaft gezogen werden können. Aktionen der ArbeiterInnenklasse sind der Schlüssel zum Widerstand gegen die Angriffe, die von jeder DUP/Sinn Fein-Exekutive auf Befehl aus Westminster kommen werden.

Das Erbe des britischen Imperialismus in Irland zeigt jedoch, dass gemeinsame wirtschaftliche Interessen allein die Einheit der ArbeiterInnenklasse nicht fördern können. Klassenbewusstsein entspringt nicht spontan oder automatisch aus wirtschaftlichem Kampf. Es ist unaufrichtig zu glauben, dass das Ignorieren der Politik der Diskriminierung und der nationalen Unterdrückung es leichter machen wird, ArbeiterInnen zu vereinen. Die pro-imperialistische Ideologie der protestantischen ArbeiterInnen ist ein Hindernis für die Fortsetzung des Klassenkampfes gegen den Kapitalismus und eine Waffe in den Händen reaktionärer LoyalistInnen.

Es gibt ein tiefes Unbehagen innerhalb der protestantischen und unionistischen Gemeinschaft angesichts der Möglichkeit, ihre britische Identität in einem vereinigten Irland zu verlieren. Wir müssen sie darauf hinweisen, dass die britische Regierung, wenn sie es will, ihre Bedenken ignorieren und auf sie einhämmern wird, wie sie es mit der nationalistischen Gemeinschaft getan hat. Wenn deine sogenannten besten Verbündeten sich wenig um dich kümmern, ist es an der Zeit, neu über deine potenziellen Klassenverbündeten nachzudenken.

In der Tat, wenn man für den Schutz seiner wirtschaftlichen Interessen kämpft, kann man die gleiche Antwort von den kapitalistischen Regierungen im Norden und Süden erwarten. Deshalb brauchen wir Einigkeit über die konfessionelle Kluft hinweg, um so besser einen mächtigeren Kampf gegen die Bosse organisieren zu können. Es ist besser, sich mit den ArbeiterInnen in ganz Irland und Britannien zusammenzutun und für eine Gesellschaft zu kämpfen, die der ArbeiterInnenklasse gehört und von ihr kontrolliert wird, eine ArbeiterInnenrepublik in Irland, verbunden mit schottischen, walisischen und englischen ArbeiterInnen, die alle Teil der Sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa sind.




Profitmacherei mit den Vakzinen: Impfstoffnationalismus bekämpfen!

Katharina Wagner, infomail 1142, 10. März 2021

„Es ist nicht richtig, dass jüngere, gesündere Erwachsene in reichen Ländern vor dem Gesundheitspersonal und älteren Menschen in ärmeren Ländern geimpft werden“.

Mit diesen Worten kritisierte Tedros Adhanom Ghebreyesus, der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im britischen Guardian die derzeitige Situation in Bezug auf den Zugang zu Impfstoffen gegen COVID-19 und bezeichnete sie als katastrophales, moralisches Versagen. Die Monopolisierung von Impfstoffen und die Kontrolle über deren Vergabe durch die großen, reichen Nationen und die Konzerne aus diesen Ländern kennzeichnen wesentlich die Lage bei der Bekämpfung des Virus. Der faktische Ausschluss von Milliarden Menschen von den Vakinzen spiegelt die hierarchische, ausbeuterische imperialistische Weltordnung wider – und setzt sie den gesundheitlichen und sozialen Folgen der Pandemie aus.

Ungleicher Zugang zu Impfstoffen

Dabei hatten mache imperialistische Institutionen wie z. B. die EU noch im Frühjahr 2020 verkündet, dass alle den gleichen, fairen Zugang zu den Impfstoffen erhalten sollten. Doch was kümmert die bürgerliche Politik ihr Geschwätz von gestern?

In der Tat haben sich die reichsten Industriestaaten große Teile des zur Verfügung stehenden Impfstoffes gesichert. Laut Informationen des Duke Global Health Innovation Centers (Stand 25. Januar 2021) übersteigen die Bestellmengen für Impfstoffe, welche sich reichere Länder frühzeitig durch Verträge sichern konnten, die jeweiligen Einwohnerzahlen um ein Vielfaches. So hat sich beispielsweise Kanada neun Impfdosen je EinwohnerIn gesichert, die EU liegt immerhin noch bei knapp vier Impfdosen pro EinwohnerIn. Für die ärmeren, halbkolonialen Länder dieser Welt bleibt nur ein kümmerlicher Rest übrig. Länder der afrikanischen Union oder Lateinamerikas konnten bislang nur Bestellungen in Höhe von je einer Impfdosis für rund die Hälfte ihrer Bevölkerung bestätigen.

Um dem etwas entgegenzusetzen, wurde im April 2020 die Initiative COVID-19 Vaccines Access (COVAX) durch Zusammenarbeit der europäischen Kommission, Frankreich und der WHO gegründet. Sie soll ärmeren Ländern einen faireren Zugang zu Impfstoffen ermöglichen und wird inzwischen von 2/3 aller Länder unterstützt, kauft den Impfstoff aber bei ausschließlich bei westlichen HerstellerInnen. So bekam Ghana mit seinen 30 Mio. EinwohnerInnen als erstes Land dieser Welt Mitte Februar die ersten 600.000 Impfdosen von Oxford-AstraZeneca, als nächstes sollte die Elfenbeinküste Impfdosen über COVAX erhalten (https://www.theguardian.com/society/2021/jan/18/who-just-25-covid-vaccine-doses-administered-in-low-income-countries).

Das Ziel dieser Initiative ist die Bereitstellung von 2 Milliarden Impfdosen bis Ende 2021. Die geförderten Länder sollen damit die Möglichkeit bekommen, langfristig sage und schreibe bis zu 20 % ihrer Bevölkerung zu impfen, bevorzugt ältere Menschen sowie Personal im Gesundheitswesen – natürlich nur unter der Voraussetzung, dass auch genügend Impfstoffe zur Verfügung stehen. Kleine Erinnerung an dieser Stelle: Um das Virus überhaupt dauerhaft in Schach halten und die Pandemie überwinden zu können, wäre laut Robert Koch-Institut (RKI) eine Impfquote von 70 % erforderlich.

Tatsächlich wurden von den angepeilten 2 Milliarden Dosen bislang nur Verträge über eine Liefermenge von 1,1 Milliarden abgeschlossen, dies entspricht weniger als der Hälfte der Gesamtliefermenge für die USA, Europa und Großbritannien zusammen. Im Vergleich dazu sollen bis Ende 2021 in Deutschland alle BürgerInnen ein Impfangebot erhalten haben.

In den Verhandlungen mit halbkolonialen Ländern wie Argentinien oder Peru drücken Konzerne wie Pfizer außerdem günstige Konditionen durch, wie ein Beitrag „Pfizer – Held und Profiteur der Pandemie“ zeigt. Erstens bestehen sie darauf, dass sie für Folgekosten etwaiger Nebenwirkungen nicht in Haftung genommen werden können. Zweitens fordern sie wie etwa in den Verträgen mit Peru, dass sie für etwaige Zahlungsausfälle durch die Privatisierung von Staatseigentum entschädigt werden. Von Argentinien forderte der Konzern, der auch im Ölgeschäft tätig ist, außerdem, dass Umweltgesetze, die Fracking in den Gletscherregionen des Landes beschränken, aufgehoben werden. Obwohl der Pfizer-Impfstoff ursprünglich auch an der argentinischen Bevölkerung erprobt wurde, bezieht das Land bislang russischen.

So weit die Lage bezüglich der westlichen Mächte. Demgegenüber haben China, Russland und Indien unabhängig von der COVAX-Initiative bereits umfängliche Lieferungen an ärmere Länder gestartet und Millionen Dosen eigener Vakzinen wie „Sputnik V“ (Russland; eigentlich Gam-COVID-Vac) oder Cansino (China) exportiert. Verträge mit gut 80 Ländern laufen seitens Chinas, darunter auch europäischer wie zum Beispiel Ungarn. 53 Länder bekommen nach chinesischen Eigenangaben den Stoff gar als Spende.

Ursachen für Impfnationalismus

Die Ursachen für globalen Impfnationalismus sind vielfältig und liegen zum einen natürlich an der zu geringen Verfügbarkeit derzeitiger Impfstoffe gegen COVID-19. Neben den bereits viel diskutierten mRNA-Impfstoffen von Pfizer/BioNTech sowie Moderna sind weitere wie etwa der vektorbasierte Impfstoff von Oxford-AstraZeneca erhältlich. Derzeit sind 5 in verschiedenen Ländern/Regionen zugelassen, weitere werden in den nächsten Wochen/Monaten folgen. Doch auch wenn durch Kooperationen mit anderen Pharmafirmen Produktionskapazitäten stark ausgebaut werden konnten, reicht die derzeitige Produktionsmenge bei weitem nicht aus, um die erforderliche weltweite Impfquote von 70 % in absehbarer Zeit zu erreichen.

Eine Lösung zur mittelfristigen Vergrößerung der Produktionskapazitäten könnte die Vergabe von Herstellungslizenzen an andere Pharmafirmen sein. Dies wird allerdings sowohl von den bisherigen ImpfstoffproduzentInnen als auch von den jeweiligen Regierungen derzeit mit Verweis auf das Patentrecht abgelehnt, obwohl dies teilweise rein rechtlich sogar erzwingbar wäre. Das harmlos klingende Recht auf „geistiges Eigentum“ verhindert einen umfassenden Austausch von Wissen, welcher genutzt werden könnte, um weltweit zusätzliche Produktionsstätten für die Erzeugung von Impfstoffen aufzubauen und die verschiedenen Vakzinen zu optimieren. Die Kapitalinteressen von AnlegerInnen und InvestorInnen stehen vor gemeinschaftlichen Interessen wie dem Gesundheitsschutz.

Eine weitere, sehr entscheidende Ursache für Impfnationalismus liegt im privatwirtschaftlichen Charakter der ImpfstoffproduzentInen selbst. Reiche Länder, die es sich leisten können, mehr für Impfstoffe zu bezahlen, werden von den privatwirtschaftlichen Produktionsfirmen bei Bestellungen häufig bevorzugt. Israel beispielsweise bot dem Impfstoffproduzenten Pfizer/BioNTech an, im Verhältnis zur EU den doppelten Preis pro Impfdosis zu bezahlen. Ärmere Länder erhalten dagegen häufig nicht einmal die Möglichkeit für Direktbestellungen. So äußerte sich beispielsweise bereits Oxford-AstraZeneca dahingehend, dass eine direkte Belieferung von afrikanischen Staaten seitens des Herstellers derzeit nicht angedacht sei.

Des Weiteren spielen unterschiedliche Zulassungsregularien in den einzelnen Ländern eine nicht unerhebliche Rolle. In vielen Staaten wie beispielsweise Großbritannien können die ImpfstoffherstellerInnen für ihre Produkte eine sogenannte Notfallzulassung beantragen. Diese beinhaltet keinerlei Haftungsverpflichtungen bei später auftretenden Impfschäden und erfordert darüber hinaus weniger Daten, die im Vorfeld den Zulassungsbehörden zur Verfügung gestellt werden müssen. In vielen anderen Ländern oder Regionen ist dies rechtlich jedoch nicht vorgesehen. Diese Tatsache könnte eine wesentliche Rolle gespielt haben, als es Anfang des Jahres in der EU zu erheblichen Lieferengpässen bei Impfstoffen gekommen ist. Oxford-AstraZeneca hatte damals bekannt gegeben, die zugesicherte Liefermenge für die EU um mehr als 50 % reduzieren zu müssen, gleichzeitig aber Impfstoff nach Großbritannien exportiert. Als Folge dessen wurde nun ein Exportverbot für den Impfstoff von Oxford-AstraZeneca durch Italien ausgesprochen, da dieser teilweise dort abgefüllt wird.

Während imperialistische Staaten also in diesem Konkurrenzkampf zu Zwangsmaßnahmen durchaus fähig sind und zugleich vor allem die Profitinteressen „ihrer“ Pharmakonzerne schützen, verfügt die Masse der halbkolonialen Ländern über diese Möglichkeiten nicht.

Die Verteilung der Impfstoffe findet nicht unabhängig von der Weltlage statt. Dies zeigt sich nicht nur an ihrer Aufteilung zwischen imperialistischen und halbkolonialen Ländern. Vor allem das Vorpreschen von Russland, China und Indien muss als Versuch gesehen werden, ihre eigenen Machtansprüche und Einflusssphären in der Welt auszubauen. Umgekehrt verfolgt die Strategie der westlichen Staaten wie Deutschland oder Kanada das Ziel, die eigene Wirtschaft wieder umfänglich laufen lassen und auf dem Weltmarkt Konkurrenzvorteile erlangen zu können, wenn die eigene Bevölkerung durchgeimpft ist.

Impfnationalismus stoppen!

Impfstoffnationalismus konnte bereits im Jahre 2009 bezüglich der Erkrankung H1N1 (besser bekannt als Schweinegrippe) beobachtet werden. Schon damals wurden recht schnell hoch wirksame Impfstoffe entwickelt und der weltweite Vorrat in kurzer Zeit fast vollständig von den reicheren Industriestaaten aufgekauft. Zum Glück wurde das damalige Virus mit der Zeit weniger virulent und aufgrund erhöhter Produktionskapazitäten konnte der Impfstoff schon nach kurzer Zeit in die saisonale Grippeschutzimpfung integriert werden. Bei der jetzigen Pandemie kann davon derzeit aber leider aufgrund zahlreicher neuer Mutationen nicht ausgegangen werden.

Aufgrund globaler Vernetzung der wohlhabenden Volkswirtschaften mit diversen HandelspartnerInnen aus Ländern mit mittlerem oder niedrigem Einkommen drohen wirtschaftliche Folgen auch für reichere Industriestaaten. Bezüglich der nun herrschenden Pandemie warnt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) daher vor Einbußen von rund 7,58 Billionen Euro für die Weltwirtschaft, sollten Länder mit niedrigem Einkommen weiterhin bei der Verteilung von Impfstoffen benachteiligt werden.

Halbkoloniale Länder mit niedrigem Einkommen sind daher neben starken gesundheitlichen Gefahren für die gesamte Bevölkerung auch durch eine Zunahme von extremer Armut bedroht. Bei einer sehr hohen Virusmenge innerhalb einer Gesellschaft erhöht sich zudem die Gefahr für das Auftauchen neuartiger Mutationen, welche teilweise deutlich ansteckender und gefährlicher sein können. Häufig reagiert das Immunsystem auf solche Mutationen nicht wie auf das ursprüngliche Virus, was den Schutz durch bisherige Impfstoffe minimiert.

Impfnationalismus wie wie seine Begleiterscheinung Impfstoffimperialismus sind zwar extrem kurzsichtig, aber auch extrem profitabel für die Konzerne mit faktischer Monopolstellung auf dem Weltmarkt. Solange sie ihr Eigentum, ihre Patente und damit ihre marktbeherrschende Stellung behaupten können, verfügen sie über eine Quelle der Bereicherung, die ihnen über Jahre Milliardenprofite garantiert.

Die Pandemie stellt also in doppelter Hinsicht ein globales Phänomen dar – sowohl, was ihre Bekämpfung im Rahmen von Gesundheitsschutzes und sozialer Sicherheit der Massen als auch, was die Gesellschaftsordnung betrifft, in der Produktion und Handel mit Impfstoffen vor allem zur Bereicherung weniger dienen. Diese Probleme können nur international, als Teil des globalen Klassenkampfes gelöst werden. Daher halten wir folgende Forderungen für notwendig:

  • Koordination aller Forschungen und Entwicklungsbemühungen statt Wettbewerb um den schnellsten Profit: In rund dreißig Jahren Forschung zu HIV haben wir gesehen, dass einerseits jede Firma versucht, ihre Forschung und Entwicklung geheim zu halten, deshalb wurde viel (auch öffentliches) Geld in parallele Forschung gesteckt. Deshalb muss die Forschung und Entwicklung von Impfstoffen und Arzneimitteln der Kontrolle von Privatfirmen, einzelnen Ländern oder Blöcken entrissen werden. Die Patente, die nur die Monopolprofite der Konzerne schützen, müssen aufgehoben werden, alle Untersuchungen und Ergebnisse müssen öffentlich im Netz verfügbar sein. Eine internationale Kommission, gewählt aus SpezialistInnen, soll die Forschungsteams in den verschiedenen Bereichen koordinieren.
  • Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses und Offenlegung aller Forschungsergebnisse staatlicher wie privater Institute. Internationale Koordinierung der Impfstoffentwicklung sowie kostenloser Zugang zu sicheren Impfstoffen für alle Menschen weltweit.
  • Massiver Ausbau der Produktionskapazitäten für die Impfstoff- und Arzneimittelherstellung, bezahlt durch eine massive Besteuerung derer, die in der Pandemie noch reicher wurden.
  • Entschädigungslose (Wieder-) Verstaatlichung der privatisierten Teile des Gesundheitswesens, der pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie, um die Ressourcen zu bündeln und unter demokratische Kontrolle der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften zu stellen.
  • Kostenlose Gesundheitsversorgung für alle – die Kosten dafür müssen aus der Besteuerung von großen Vermögen sowie Gewinnen getragen werden.
  • Ausbau des Gesundheitswesens, Ankurbelung der Produktion von Mitteln zur Bekämpfung der Pandemie (Test-Kits, Desinfektionsmittel, Atemschutz, Impfstoffe … ), sachliche Information der Bevölkerung, Einstellung von medizinischem Personal und HelferInnen unter Kontrolle der Gewerkschaften und der Beschäftigten. Massiver Ausbau der Intensivmedizin.

Nur so kann es gelingen, eine weltweite Impfquote von über 70 % schnellstmöglich zu erreichen und die globale Pandemie effektiv zu bekämpfen.




Selbstbestimmung und der Krieg in Bergkarabach

Marcel Rajecky, Infomail 1126, 23. November 2020

Der Krieg in Bergkarabach könnte sich dem Ende nähern, nachdem Armenien, das zur Verteidigung des von ArmenierInnen bewohnten Staates mobilisiert hatte, und Aserbaidschan am 9. November ein Abkommen unterzeichnet hatten. Die Kämpfe begannen Ende September und führten zu Tausenden von zivilen und militärischen Opfern, zur Vertreibung von bis zu 90.000 Menschen und drohten ständig, zu einem Krieg regionaler und sogar imperialistischer Mächte zu eskalieren.

Während das Abkommen vorgibt, diesen jahrzehntelangen Streit endgültig beizulegen, ist es wahrscheinlicher, dass es die Tür zu einer neuen Phase des Krieges ganz öffnet. Karabachs Bewegung für Selbstbestimmung wird mit diesem Abkommen sicherlich nicht verschwinden, ebenso wenig wie die konkurrierenden und wechselnden regionalen und imperialistischen Mächte mit Interessen in dieser kritischen Region.

Darüber hinaus werden die Krisen, mit denen der Kapitalismus in Armenien und Aserbaidschan konfrontiert ist, nicht verschwinden. Während sich die Proteste der ArmenierInnen gegen die Kapitulation ihrer herrschenden Klasse leicht in allgemeine Proteste gegen die Regierung verwandeln könnten, ist ein ähnliches Erwachen der ArbeiterInnenklasse in Aserbaidschan ebenso wahrscheinlich, da sie erkennen wird, dass die Eroberung von Karabach ihr keine Arbeitsplätze, gerechte Löhne oder anständige öffentliche Dienstleistungen bieten kann.

Reaktionärer Krieg und repressiver Frieden

Am 27. September drangen aserbaidschanische Truppen in die Republik Arzach (bis 2017: Republik Bergkarabach) ein, den abtrünnigen Kleinstaat, der sich in einem Krieg zwischen 1988 und 1994 größtenteils auf dem Territorium der ehemaligen Republik Bergkarabach gebildet hatte. Die aserbeidschanische Seite rechtfertigte ihre Invasion mit der Behauptung, es befreie die Territorien, die gemeinhin als die „sieben Bezirke“ bezeichnet werden. Dabei handelt es sich um die ehemals mehrheitlich von AserbaidschanerInnen bewohnten Gebiete, die nicht zur ehemaligen Republik Bergkarabach gehörten, aber in diesem Krieg erobert wurden. Die Regierung in Baku behauptete, damit solle die Wiederansiedlung von Hunderttausenden vertriebener Aseris ermöglicht werden.

In Wirklichkeit konzentrierte sich die Invasion jedoch fast ausschließlich auf die Gebiete des ehemaligen Bergkarabachs, die nie eine aserbaidschanische Mehrheit hatten und seit ihrer Abtretung an Aserbaidschan durch Stalin wiederholt ihren Wunsch nach Unabhängigkeit geäußert haben.

Stepanakert, die Hauptstadt von Arzach, stand fast ununterbrochen unter Feuer, was zur Evakuierung der 50.000 EinwohnerInnen führte. Währenddessen begannen die aserbaidschanischen Streitkräfte ihre Invasion, beschossen und eroberten schließlich die großen Städte im Süden und im hohen Norden des Territoriums, wobei sie von Israel bereitgestellte Drohnen und Streumunition einsetzten und auf ihrem Vormarsch Hinrichtungen im Fernsehen zeigten.

Nachdem Aserbaidschan Schuschi, die zweitgrößte Stadt von Arzach, die strategisch günstig in den Hügeln nur neun Kilometer von der Hauptstadt entfernt liegt, erobert hatte, blieb Armenien keine andere Wahl, als sich zu ergeben. Als Gegenleistung für Aserbaidschans Versprechen, Stepanakert nicht einzunehmen, stimmte Armenien zu, einen Transportkorridor durch sein Territorium zuzulassen, der Aserbaidschan mit seiner Exklave Nachitschewan verbindet. Aserbaidschan wird nicht nur die sieben Bezirke in Besitz nehmen, deren armenische EinwohnerInnen nicht mit einer Rückkehr rechnen sollen, sondern darf auch alle von ihm eroberten Gebiete in Bergkarabach behalten, einschließlich der armenischen Städte Schuschi, Hadrut und Talisch.

Imperialistische Interessen

Das nun gültige Friedensabkommen wurde von Russland vermittelt und stellt weitgehend das von Moskau gewünschte Ergebnis dar, indem es seine Interessen auf beiden Seiten des Konflikts sorgfältig gegeneinander abwägt. Einerseits hatte es Armenien geholfen, den vorangegangenen Krieg zu gewinnen, und seitdem ist das Land für Moskau wirtschaftlich und militärisch von entscheidender Bedeutung geworden. Russland kontrolliert ganz oder teilweise Armeniens Telekommunikation, Bankwesen, Energie, Gas, Metallproduktion und Eisenbahnen; es betreibt auch eine Militärbasis im Land.

Inzwischen ist Aserbaidschan seit dem Ende des Krieges zu einem ebenso wichtigen „Partner“ geworden. Es hat Russland während der Tschetschenienkriege geholfen, und die beiden Länder pflegen eine umfassende handelspolitische und militärische Zusammenarbeit. Russland war daher bestrebt, den Krieg so bald wie möglich zu beenden. Seine vertraglichen Verpflichtungen gegenüber Armenien erstreckten sich nicht auf Karabach, und es verhielt sich während der Invasion Aserbaidschans neutral, unter der klaren Bedingung, dass der Feldzug nicht über die Grenze nach Armenien führen durfte.

Seine Beziehungen zu beiden Ländern ermöglichten es Russland nicht nur, die Verhandlungen zu erleichtern, sondern auch seine eigenen Interessen durchzusetzen. Die 2.000 SoldatInnen starken russischen Einheiten, die in Bergkarabach stationiert werden sollen, sind angeblich „Friedenstruppen“, aber ihre tatsächliche Rolle wird darin bestehen, den Widerstand der verbleibenden ArmenierInnen gegen Aserbaidschan  polizeilich zu überwachen und in dieser kritischen Region Druck auf die Türkei und die USA auszuüben.

Die Türkei vertrat eine ganz andere Position, indem sie aktiv einen aserbaidschanischen Sieg forderte und sie über ihre Vertretungen in Syrien mit Waffen und mehreren tausend KämpferInnen unterstützte. Die Forderung, eigene „Friedenstruppen“ in Karabach zu behalten, wurde jedoch von Russland abgelehnt. Während die Vereinigten Staaten von Amerika während des Krieges ein Vakuum für die Türkei und Russland hinterlassen haben, droht die Stationierung russischer Truppen die Lage völlig zu verändern. Washington hat umfangreiche Interessen in Aserbaidschan, insbesondere an einem Handels-, Glasfaser- und militärischen Luftraumkorridor, der knapp über das Territorium hinausgeht, auf dem russische Truppen stationiert werden sollen. Während die Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan vorerst beigelegt sind, besteht weiterhin die Möglichkeit, dass die Region zum Schauplatz künftiger  Konfrontationen zwischen imperialistischen Mächten wird.

Wie geht es weiter mit Karabach?

Abgesehen von den Manövern der regionalen und imperialistischen Länder hat der Kampf um die Selbstbestimmung des Volkes von Bergkarabach eine große Niederlage erlitten. Nur wenige ArmenierInnen aus Karabach oder den sieben Bezirken werden in ihre Heimat zurückkehren, und viele sind zu Flüchtlingen in Armenien und darüber hinaus geworden. Inzwischen sind die Grenzen der Republik Bergkarabach auf einen Bruchteil derer des ehemaligen Territoriums reduziert worden, und das neu besetzte Gebiet soll in Aserbaidschan integriert werden.

Die Massenbewegung, die Karabach im 20. Jahrhundert erfasste, ist weitgehend untätig geblieben, seit sie ihr Ziel der faktischen Unabhängigkeit erreicht hat. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass diese Bewegung in Opposition sowohl zu den russischen Truppen als auch zum aserbaidschanischen Staat wieder auftauchen wird.

Dies wird ebenso wahrscheinlich mit Mobilisierungen für eine Ablehnung des Abkommens beginnen, eine Forderung, die SozialistInnen unterstützen würden. Daneben müssen sie für das Selbstbestimmungsrecht von Arzach eintreten und gleichzeitig das Rückkehrrecht der in früheren Konflikten vertriebenen AserbaidschanerInnen anerkennen.

Keiner der Kriege im Kaukasus hat eine der komplexen nationalen Fragen der Region „gelöst“. Sie haben lediglich die Vorherrschaft der kapitalistischen Klassen über nationale Minderheiten verstärkt und gleichzeitig die anhaltende Verarmung der Region im Namen des Profits überwacht.

Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, müssen SozialistInnen für den Aufbau von ArbeiterInnenparteien kämpfen, die zwar die demokratischen Rechte der Nationalitäten der Region verteidigen, aber dem Programm der permanenten Revolution verpflichtet sind, in dem die ArbeiterInnenklasse, indem sie die Macht für sich selbst übernimmt, die Produktivkräfte der Region durch Gesellschaftseigentum und demokratische Planung entwickeln wird.




Kundgebungen von „Querdenken 711“ in Stuttgart: Rechten RattenfängerInnen nicht auf den Leim gehen!

Karl Kloß, Infomail 1104, 18. Mai, 2020

Seit ein paar Wochen finden regelmäßig mittwochs und samstags in Stuttgart Kundgebungen unter dem Motto „Querdenken 711 – Wir für das Grundgesetz“ statt. Bei den Versammlungen, bei denen das Grundgesetz gefeiert wird, will man sich gegen die angebliche „Corona-Diktatur“ zur Wehr setzen und die eigene „bedrohte Freiheit“ verteidigen.

Zusammensetzung der Kundgebungen

Sicherlich sind nicht alle, die sich an den „Querdenken“-Demos beteiligen, automatisch rechte SpinnerInnen und VerschwörungstheoretikerInnen. Etliche mögen an diesen Kundgebungen teilnehmen, weil die VeranstalterInnen sich bewusst „überparteilich“ geben und man sich positiv wie eingangs erwähnt auf das Grundgesetz bezieht.

Diese betonen außerdem, dass sie für „alle Meinungen“ offen sind, was im Klartext heißt, dass Rechte dort ebenfalls willkommen sind und auch einen wichtigen Teil der Mobilisierung darstellen. Auch nur etwas genauer betrachtet, entpuppt sich das natürlich als wohlfeile, gebetsmühlenartige Phrase der VeranstalterInnen. Das erkennt man u. a. daran, dass etwa der Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen, der den rechten YouTube-Kanal „KenFM“ betreibt, nicht nur über ein breites Mobilisierungspotential verfügt, sondern mittlerweile auch zu einer Art öffentlicher Repräsentanz der „überparteilichen“ Veranstaltungen geworden ist. Auch andere Fakten belegen, dass hinter der vorgeblich weltanschaulich neutralen Fassade ein rechter Kern steckt. So stellen auch in Stuttgart Nazis einen Teil der OrdnerInnen und laufen mit T-Shirts des „Nationalen Widerstands“ rum. Das Organisationsteams fordert außerdem wegen angeblich verzerrter Berichterstattung durch ARD, ZDF und „Die Zeit“ von allen JournalistInnen das Ausfüllen und Unterzeichnen einer eigenen Erklärung als Voraussetzung für Interviews oder Pressegespräche – ironischer Weise mit dem Zusatz versehen, dass „Zensur nicht stattfinde“.

Längst ist die Bewegung auch über die Grenzen Stuttgarts hinaus bekannt geworden. So kann man inzwischen auch TeilnehmerInnen aus anderen Bundesländern wie etwa NRW dort antreffen. Auch in anderen Städten Deutschlands mobilisiert ein Spektrum vorwiegend aus rechten Kräften zu ähnlichen Kundgebungen. Teilweise stellen sich diese wie etwa in Chemnitz direkt an die Spitze der Bewegung, teilweise laufen auch bürgerliche PolitikerInnen wie etwa der kurzzeitige thüringische FDP-Ministerpräsident Kemmerich an der Spitze von Demozügen mit.

Illusionen

Die TeilnehmerInnen beschwören zwar gern „Grundgesetz“, Demokratie und Freiheit – aber nur, solange es sich um die deutscher BürgerInnen handelt.

Die OrganisatorInnen des Protests hatten keine Bedenken, als das verfassungsmäßige Asylrecht beschnitten wurde, die Grenzen für Geflüchtete geschlossen wurden oder der Staat etwa mit polizeistaatlichen Methoden gegen die G20-Proteste vorging. Auch die Verschärfung der Polizeiaufgabengesetze, die sehr weitreichende Einschnitte in grundsätzliche Freiheiten wie die  Versammlungs- oder Bewegungsfreiheit vorsehen und ein recht großes Repertoire an Willkürmaßnahmen wie Ingewahrsamnahmen auf Grundlage einer abstrakten „GefährderInnenbeurteilung“ sowie eine massive Aufrüstung der verschiedenen Polizeieinheiten beinhalten, ist ihnen keine Silbe wert.

Ihre „bedrohten Freiheiten“ bestehen eher darin, sich darüber zu beschweren, wie ungerecht es doch wäre, wenn man im Sommerurlaub dieses Jahr nicht nach Mallorca fliegen könne. An den oben genannten Maßnahmen kann man also recht deutlich zusammenfassen, dass die Staatsgewalt eben nicht „vom ganzen Volke“ ausgeht, sondern dass diese lediglich dazu dient, die Profitinteressen einer kleinen Minderheit vor den Interessen und den Bedürfnissen der Massen zu schützen und diese zu verteidigen.

Wenn die OrganisatorInnen darauf beharren, dass die BRD „demokratisch und sozial“ zu sein und „alle Staatsgewalt vom Volke“ auszugehen habe, so offenbaren sie damit nicht nur Illusionen.

Wie sozial die BRD ist, sieht man spätestens dann, wenn 10 Millionen ArbeiterInnen in Kurzarbeit geschickt und weitere Millionen LeiharbeiterInnen, WerksvertragsarbeiterInnen und andere prekär Beschäftigte abgemeldet bzw. direkt entlassen werden. Diese stehen vom einen Tag auf den anderen ohne Arbeit da und müssen Hartz IV beantragen. Dass die BRD demokratisch verfasst ist, sagt nicht wirklich viel mehr aus, als dass der kapitalistische Staat in bürgerlich-demokratischer Form sein Funktionen ausübt. An der Herrschaft der kapitalistischen Klasse ändert das nichts. Die bürgerliche Demokratie stellt vielmehr eine durchaus angemessene politische Herrschaftsform dar.

Zweifellos stellt es aber auch eine Errungenschaft dar, dass wir unseren Kampf auf Basis demokratischer politischer Rechte führen können. Neben Versammlungsrecht und Meinungsfreiheit sind dies Bewegungs-, Reise-, Presse- und Religionsfreiheit sowie ein allgemeines Wahlrecht – aber selbst diese Rechte werden aktuell nicht nur weiter eingeschränkt, sie sind selbst schon lange auf deutsche oder EU-BürgerInnen beschränkt, wurden nur in langwierigen Kämpfen errungen und enden im Kapitalismus oft genug an den Werkstoren.

Der Klassencharakter der Demokratie interessiert die „QuerdenkerInnen“ freilich nicht. Unter Demokratie verstehen sie eigentlich die Marktwirtschaft, wie sie sich der/die KleinunternehmerIn wünscht. Unter Freiheit wird vor allem die Freiheit des Gewerbes, zum Kauf und Verkauf von Waren des/r zum Schmied seines/ihres Glücks erhobenen „freien BürgerIn“ verstanden. Kein Zufall also, dass die Kritik am „Corona-Regime“ nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie gegen die Einschränkung demokratischer Rechte richtig, sondern gegen Zwangsmaßnahmen wie die Schließung von Betrieben, Schulen, Unis, das Abstandsgebot oder das Tragen von Schutzmasken. Hinzu kommt die Legendenbildung von einer angeblich drohenden Impfpflicht – sprich, den Kern der ganzen rechten Mobilisierungen bildet die Relativierung oder gar Leugnung der echten Gefahren, die mit der Pandemie einhergehen.

Daher steht im Zentrum der rechten Mobilisierung ironischerweise auch die Forderung nach rascher, gesellschaftlich unkontrollierter Wiederöffnung der Geschäfte, der Kneipen, Schulen und Betriebe – eine Forderung, die mit Vehemenz vom Kapital erhoben wird und der die Regierung zur Zeit mehr und mehr nachkommt.

Nationaler Schulterschluss

Die Regierung setzt im Namen der Pandemieeindämmung auch politische demokratische Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit und das Demonstrationsrecht aus. Diese Maßnahmen und die Politik des nationalen Schulterschlusses mussten RevolutionärInnen, musste die ArbeiterInnenbewegung immer kategorisch ablehnen. Warum?

Weil uns alle der Lockdown nur scheinbar gleichmacht. Während das deutsche Kapital ungeachtet des Gesundheitsrisikos für die ArbeiterInnen die Produktion wieder hochfahren darf und wird, bleiben für uns alle Grenzen, Sportplätze und Kitas geschlossen. Wir haben keine Kontrolle über die Maßnahmen, die von der Regierung verhängt werden und erst recht nicht über die im Betrieb. Wir wollen wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung von COVID-19 nicht unter der Maßgabe der Profitinteressen des Kapitals, sondern des Infektionsschutzes und unserer alltäglichen Bedürfnisse! Die Frage, wo, wie und wann wir Betriebe, Kultur- und Sporteinrichtungen wieder öffnen können, ohne dabei hohe Gesundheitsrisiken einzugehen, darf nicht dem Kapital und der Regierung überlassen werden. Doch aktuell sehen wir einen „nationalen Schulterschluss“ von Regierung, Unternehmerverbänden und Gewerkschaften. Tarifrunden in der Metall- und Elektroindustrie und im Nahverkehr wurden kampflos beendet bzw. verschoben, DGB, SPD und im Grundsatz auch große Teile der Linkspartei tragen die Politik der Regierung mit. Das Kapital nutzt diesen Schulterschluss, um Belegschaften mit Zustimmung der Gewerkschaften und Betriebsräte in Kurzarbeit zu schicken, was Lohneinbußen und die Abwälzung der Lohnkosten auf die Arbeitslosenversicherung bedeutet.

Kampfmaßnahmen

Das Kapital wird auch die Situation nutzen, um Überkapazitäten abzubauen, d. h. ArbeiterInnen arbeitslos zu machen. Die „nationale Einheit“ wird das Kapital nicht von diesen Angriffen abhalten, aber sie wird unseren Widerstand dagegen schwächen, wenn wir ihr nicht ein klassenkämpferisches Programm entgegenstellen! Deshalb ist es dringend notwendig, im Kampf gegen die Aushebelung demokratischer Rechte und rechte PopulistInnen für folgende Ziele zu kämpfen:

  • Kostenlose Gesundheitsversorgung für alle! Verstaatlichung des Gesundheitswesens unter ArbeiterInnenkontrolle!
  • Massive Investitionen in Impfstoffforschung und Test- und Rückverfolgungssysteme, finanziert durch Besteuerung von Unternehmen und großen Vermögen!
  • Einstellung aller nicht lebensnotwendigen Arbeiten! Was wesentlich ist oder nicht, muss von der ArbeiterInnenklasse und der Bevölkerung bestimmt werden.
  • 100 % Lohnfortzahlung durch die Unternehmen statt Kurzarbeit! Nein zu allen Entlassungen, für Mindestlohn und -rente zur Deckung der Lebenshaltungskosten!
  • Öffnung aller Grenzen für MigrantInnen und Flüchtlinge! Volle StaatsbürgerInnenrechte, Wohnung, Arbeit oder Sozialleistungen für alle!
  • Für einen weltumspannenden Plan zur Bekämpfung der Pandemie, des Hungers und der Armut im globalen Süden! Erlass aller Schulden der halbkolonialen Länder! Die ImperialistInnen sollen die Kosten durch Enteignung ihres Vermögens und Kapitals bezahlen, ohne Entschädigung und unter ArbeiterInnenkontrolle!
  • Nein zur Einschränkung der demokratischen Rechte! Bekämpft alle Angriffe auf die ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsrechte, hebt alle gewerkschaftsfeindlichen Gesetze und alle Einschränkungen des Demonstrations-, Protest- und Streikrechts auf!



Die EU – das nächste Corona-Opfer?

Markus Lehner, Neue Internationale 246, Mai 2020

Seit Beginn der Corona-Krise schien es so, als seien die EU-Regularien nur noch Schall und Rauch: Grenzschließungen, Verschuldung für Rettungspakete, Unternehmensstützungen, Beschaffung von medizinischen Gütern und Schutzkleidung etc. – alles wurde rein nach Gutdünken der einzelnen Staaten durchgeführt, ohne die EU-Institutionen auch nur zu fragen, und oft in Konkurrenz zueinander. Dies trifft allerdings nicht zu auf eine Einrichtung mit Adresse in Frankfurt: die Europäische Zentralbank (EZB).

Widersprüche und Gemeinsamkeiten

Als im März neben dem Zusammenbruch der Gesundheitssysteme auch der allgemeine Finanzcrash drohte, griff die EZB in Kooperation mit der US-Zentralbank durch Billionen schwere Stützungskäufe von Staats- und Unternehmensanleihen sofort ein. Schneller noch als in der Euro-Krise von 2010-12 verhinderte die EZB so die Ausweitung der Krise zu einem Währungs- und Finanzdesaster im Euroraum. Was immer die politischen Maßnahmen derzeit an Auseinanderdriften in Europa anzeigen – die gemeinsame Währungspolitik (auch die Nicht-Euro-Länder der EU sind praktisch an die EZB gefesselt) und ihre Wirkungsweise in der Krise weisen auf das Weiterbestehen des Zwangs zum Zusammenwirken hin.

Diese Widersprüchlichkeit kommt nicht zuletzt in dem immer heftiger werdenden Gerangel um die Bewältigung der kommenden Wirtschaftskrise im EU-Raum zum Ausdruck. Allein in der Euro-Zone wird dieses Jahr mit einem Einbruch von über 10 % des BIP gegenüber dem Vorjahr gerechnet. So unterschiedlich die Länder auch betroffen sind – man denke nur an die katastrophale Lage in Spanien und Italien mit monatelangem Lockdown -, so sehr trifft der wirtschaftliche Einbruch alle EU-Staaten. Was Absatzmärkte, Produktionsketten, Dienstleistungen, Investitionsbewegungen betrifft, sind auch die großen „nordischen“ Kapitale stark von einem Wiederanlaufen aller EU-Ökonomien abhängig.

Italien gehört neben Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und Schweden zu den Ländern mit den größten Vermögen und Kapitalen in der EU. Insbesondere Norditalien ist Endpunkt vieler Produktionsketten und Sitz großer Dienstleistungs- und Bankenkonzerne. Letzteres gilt auch für Spanien. Beide Länder wiesen schon vor der Krise enorme Verschuldungsprobleme auf. Italien allein sitzt auf einem Schuldenberg von 2,5 Billionen Euro mit einer 135 %-Staatsverschuldungsquote gemessen am BIP. Auch Spanien steht mit 97 % am oberen Ende der Verschuldung. Das Stocken der Produktion in den Zentren und das Ausbleiben von Geldflüssen von ArbeitsmigrantInnen trifft aber auch die osteuropäischen EU-Ökonomien schwer, wie auch viele andere Länder den enormen Rückgang des Tourismus (wahrscheinlich für das ganze Jahr) fühlen werden (z. B. Griechenland). Während alle diese Länder gerade ihre Corona-Sonderpolitik betreiben, rufen sie gleichzeitig nach den ökonomischen Rettungsringen der EU. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?

Nationalstaaten, internationale Kooperation und Imperialismus

Friedrich Engels bemerkte in „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ (MEW 19, S. 189-228), dass die Widersprüche von vergesellschaftender Tendenz und privater Aneignung (die sich auch in einer immer stärker werdenden Konzentration und Internationalisierung der Kapitale ausdrücken) speziell in Krisenzeiten dem kapitalistischen Staat eine spezielle Rolle zuteilen: „Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten“ (MEW 19, S. 222) und agiert so als „ideeller Gesamtkapitalist“.

Längst ist das Kapital der ursprünglichen Form dieses ideellen Gesamtkapitalisten, der Form des Nationalstaates, entwachsen. Gleichzeitig hat es sich aufgrund der ungleichen ökonomischen Entwicklung als unmöglich erwiesen, über die Nationalstaaten hinausgehende staatliche Vereinigungen hervorzubringen, die über Teilaspekte und -kompromisse hinausgehen. In der Ära des Monopol- und Finanzkapitals ist die einzige übernationale Form der Regelung der gemeinsamen weltweiten „allgemeinen äußeren Bedingungen“ der Imperialismus: die weltweite Dominanz einiger großer Kapital- und Militärmächte, die mal mehr miteinander kooperieren, mal mehr gegeneinander konkurrieren.

In der Globalisierungsperiode ist die Konkurrenz zwischen den großen Kapitalen um Marktanteile und politische Kontrolle über wichtige Regionen enorm angestiegen – nicht zuletzt aufgrund des Auftretens neuer Mächte wie China und Russland, aber auch durch die Risse in der US-Hegemonie. Das EU-Projekt ist gerade in dieser Situation als Bündnis großer europäischer Kapitalinteressen entstanden, die ansonsten in der Weltmarkt- und Weltmachtkonkurrenz unterzugehen drohten. Die EU-Verträge dienten der Schaffung eines geschützten Wirtschaftsraumes, der einheitliche Handels- und Investitionsbedingungen, insbesondere für die großen Kapitale schaffen sollte. Insofern ist die EU ein Bündnis imperialistischer Staaten, das auch seine eigene halbkoloniale Peripherie teilweise mit einbezieht. Mit den „Freizügigkeitsregelungen“ und der gemeinsamen Währungspolitik wurden dabei inzwischen tatsächlich die Profitabilitätsbedingungen stark angeglichen. Die Verflechtungen der Märkte für Waren und Dienstleistungen wie auch der Produktionsprozesse sind daher so weit gediehen, dass selbst Britannien mit all seinen Sonderwegen mit dem Brexit enorme Probleme mit der Entflechtung hat.

Zerstrittenheit über die Krisenlasten

Andererseits gehört zum EU-Kompromiss, dass die wichtigen Einzelstaaten auf einer Eigenständigkeit in wichtigen Politikfeldern bestanden: nicht nur in der Sicherheits-, sondern auch in der Wirtschafts- und Fiskalpolitik. Nicht nur in internationalen Konflikten oder in der Migrationsfrage ist die EU daher zutiefst handlungsunfähig und zerstritten. Insbesondere in wirtschaftlichen Krisenzeiten bricht der Widerspruch von gemeinsamem Wirtschafts- und Währungsraum auf der einen Seite und der Frage von Haushaltspolitik und Schuldenmanagement auf der anderen Seite mit großer Schärfe aus. Schon in der letzten Euro-Krise mussten sich hochverschuldete Euro-Länder zu immer schlechteren Zinsen und Kreditbedingungen refinanzieren, während die „Nordländer“ das Geld auf den Kapitalmärkten quasi nachgeschmissen bekamen. Schon damals wurde der Vorschlag gemeinsamer europäischer Anleihen als Ausgleichsmechanismus dafür abgelehnt.

Die FinanzministerInnen Deutschlands, der Niederlande und anderer „Sparländer“ gerierten sich als KämpferInnen gegen eine „Transferunion“, in der angeblich „reformunwillige“ Südländer (insbesondere Griechenland) von den Ländern mit „ordentlicher Finanzpolitik“ ausgehalten würden. Wie heute auch waren aber die Südländer nicht selbstverschuldet in die Krise geraten. Die Finanzmarktderegulierungen (auch der EU) hatten ihnen in der Finanzkrise eine Bankenkrise beschert, an der auch die großen „Nord“-Kapitale stark beteiligt waren. Die schließlich beschlossenen „Rettungspakete“ waren dann eine Transformation dieser Bankenkrise in eine Staatsschuldenkrise, an der diese Länder bis heute leiden. Denn der Hauptmechanismus, der ESM („Europäischer Stabilisierungsmechanismus“) verband die Refinanzierung dieser Schulden mit enormen Auflagen, was Einsparungen, Steuerpolitik, „Rentenreformen“ und Ausverkauf von bisher geschützten Bereichen betraf.

Es ist daher kein Wunder, dass mit der jetzigen schweren Krise der Streit um Euroanleihen, umbenannt in „Coronabonds“, neu ausgebrochen ist. Unter Führung von Frankreich wurde diesmal der Konflikt mit den Sparmeisterländern mit harten Bandagen geführt. Immerhin geht es nicht nur um einen ökonomischen Konflikt. Inzwischen sitzen den meisten Regierungen euroskeptische PopulistInnen im Nacken, die jede Gelegenheit von „Diktaten aus Brüssel“ dazu nutzen, ihre Art von Pseudo-Opposition zu betreiben. Insbesondere in Italien war Salvini, als er noch in der Regierung war, ein Meister darin, sich als Anti-Brüssel-Held zu inszenieren – womit er mit dem Gewicht der italienischen Ökonomie weitaus mehr Aussichten hatte als die Tsipras-Regierung mit Griechenland zuvor. Die jetzige Regierung Conte steht angesichts der Schwere der Krise und der harschen Reaktion der Nordländer nun unter dem Druck einer starken EU-Ablehnung in der Bevölkerung, die Salvini wieder an die Regierung bringen könnte. Macron und die französische Bourgeoisie brauchen nach dem Brexit Länder wie Italien und Spanien unbedingt als Gegengewicht zur deutschen Vorherrschaft – und streben sowieso eine weitergehende Fiskalunion an.

Auch die wackelige niederländische Regierung unter dem „liberalen“ Premier Rutte steht unter starkem Druck der eurokritischen RechtspopulistInnen vor den Wahlen nächstes Jahr. Als Führungskraft der „Hansegruppe“ (nordeuropäische Länder, die sich als „liberale“ MusterschülerInnen sehen) fiel es daher Anfang April dem niederländischen Finanzminister Hoekstra zu, den Gegenspieler zu Macron/Conte/Sánchez zu spielen. Nach der Telefonkonferenz vom 9. April, auf der Hoekstra 36 Stunden lang jegliche Form von Eurobonds ablehnte, verkündeten einige EU-PolitikerInnen schon das mögliche Ende der EU. Portugals Ministerpräsident erwog sogar den Ausschluss der Niederlande aus der Euro-Gruppe.

Zwei Lager vor dem Hintergrund einer neuen Euro-Krise

Dabei waren die realen Positionen scheinbar gar nicht so weit auseinander. Die Notfallfonds der Europäischen Investitionsbank (EIB) für angeschlagene Unternehmen von 200 Milliarden und der EU-Kommission von 100 Milliarden für KurzarbeiterInnengeld („Sure“) waren unumstritten. Es ging letztlich darum, dass sich alle Staaten bis zu 2 % ihres BIP für ihre unmittelbaren Finanznöte in der Corona-Krise über den ESM ausleihen können sollten. Hoekstra wollte dem nur zustimmen, wenn damit auch die altbekannten Auflagen des ESM, was „Reformpolitik“ betrifft, unterschrieben würden – also die Haushaltspolitik der betroffenen Länder praktisch unter Kontrolle der EU-SparkommissarInnen gestellt würde.

Angesichts der Situation in Italien konnte dies nur als ungeheure Provokation aufgefasst werden, die den Gipfel insgesamt zum Platzen brachte. Dies führte die EU damit tatsächlich an den Rand einer schweren Krise. Für was wäre sie noch zu gebrauchen, wenn sie nicht eines ihrer zentralen Mitglieder vor dem finanziellen und politischen Kollaps bewahren kann, andererseits aber das rechts-autoritäre Orbán-Regime problemlos weiterfinanziert wird, weil es sich an die finanzpolitischen Regeln hält?

Damit kam es am 23. April zu einer weiteren „Entscheidungsschlacht“ per Videoschaltung. Als typischer weiterer EU-Kompromiss erschien nunmehr eine Art europäischer Marshallplan, ein Corona-Wiederaufbauprogramm finanziert aus dem EU-Haushalt. Da es sich dabei um ein Programm in der Größenordnung von 1 bis 1,5 Billionen Euro handelt, ist das natürlich nichts, was direkt aus dem Haushalt finanziert, – sondern nur über Kapitalaufnahme auf „den Märkten“ aufgebracht werden kann. Natürlich handelt es sich daher (wie schon bei den Maßnahmen der EZB) eigentlich wieder um eine Form der Gemeinschaftsschulden, nur, dass anders als bei den Eurobonds nicht die Einzelstaaten, sondern die EU als Ganzes in die Haftung ginge. Ironischerweise würde so die EU tatsächlich ein großer Player auf dem Gebiet der Fiskalpolitik werden (bisher ist die Agrarpolitik der größte Haushaltsbereich).

Damit ist klar, dass der alte Konflikt in neuer Form auftreten musste: um die Bedingungen des Zugangs zum Wiederaufbaufonds. Angesichts der schon vor der Krise verzweifelten Schuldenlage verlangt die Macron/Conte/Sánchez-Front, dass die Mittel als Zuwendungen („Investitionen“) fließen, während Hoekstra/Scholz darauf bestehen, dass es um Kredite (also weitere Verschuldung) geht. Auch diesbezüglich waren die Fronten so verhärtet, dass es weiterhin keine Einigung gibt. Nunmehr soll die EU-Kommission einen Kompromiss mit einem Mix aus Investitionen und Krediten finden.

Schreckgespenst EU-Kapitalismus …

Die Lösung der Zwickmühle zwischen Verschuldung, Rettung von Betrieben und langfristiger Neuausrichtung von Industrien ist natürlich schwer, wenn man von der „Unantastbarkeit“ des Privateigentums ausgeht – dieses also nur durch den Bankrott enteignet. Für SozialistInnen ist die Antwort einfacher: Streichung aller Schulden, EU-weite Verstaatlichung maroder Betriebe unter ArbeiterInnenkontrolle und Entwicklung eines Planes zur sozial und ökologisch gerechten Umgestaltung der europäischen Industrien.

Angesichts der Dimension der zu erwartenden Krise ist diese Verschärfung der Widersprüche in der EU eine Vorbereitung auf Heftigeres. Einerseits wirken die ökonomischen Zwänge zum Erhalt der Wirtschafts- und Währungsunion weiterhin dahin, dass das EU-Schiff durch immer neue Kompromisse auf stürmischer See zusammengeflickt wird. Dabei kann die EU während der Krise sogar zu weiteren Schritten Richtung Fiskalunion stolpern. Genauso möglich ist aber auch, dass sich der politische Streit und der weitere Aufstieg des Anti-EU-Populismus zu einer Zerfallskrise der EU aufschaukeln.

Für SozialistInnen ist klar, dass die EU insgesamt ein imperialistisches Projekt vor allem im Interesse der großen EU-Kapitale ist. Auch die jetzigen „Rettungspakete“ werden aus den Kapitalzuflüssen nicht zuletzt auch aufgrund der Weltmarktstellung der EU und des Euro finanziert. Leidtragende gerade in Krisenzeiten sind damit vor allem halbkoloniale Regionen – und denjenigen, die dann logischerweise aufgrund der angerichteten Situation zur Flucht gezwungen sind, wird dann auch noch das „demokratische“ EU-Grenzregime der „Festung Europa“ entgegengehalten. Diese EU verteidigen wir in keiner Weise – sie muss überwunden werden!

Andererseits ist die Rückkehr zur Nationalstaatlichkeit ein Rückschritt und keine Alternative. Die erreichte Europäisierung der Produktivkraftentwicklung, die übernationalen Verbindungen auf vielen Ebenen, die kulturellen Vereinigungstendenzen – all das sind auch tatsächliche Fortschritte, die nicht auf dem Altar von Nationalismus, Protektionismus und wahrscheinlich auch neuem Militarismus geopfert werden sollten. Daher muss die kriselnde EU nicht durch ein Weniger, sondern durch ein Mehr an Europa ersetzt werden – etwas wozu die europäischen Bourgeoisien mit ihrer kleinlichen Krämerpolitik nicht in der Lage sind.

… oder Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa?

Trotzki fasste dies schon nach dem Ersten Weltkrieg so zusammen: „Eine mehr oder weniger vollständige wirtschaftliche Vereinigung Europas von oben durch eine Übereinkunft der kapitalistischen Regierungen ist eine Utopie. Weiter als zu Teilkompromissen und zu halben Maßnahmen kann auf diesem Wege die Sache niemals gedeihen. Umso mehr wird eine wirtschaftliche Vereinigung Europas, welche sowohl für die Produzenten als auch die Konsumenten und für die kulturelle Entwicklung überhaupt von großem Vorteil wäre, zu einer revolutionären Aufgabe des europäischen Proletariats in seinem Kampf gegen den imperialistischen Protektionismus und dessen Werkzeug, den Militarismus“ (Trotzki, Friedensprogramm). Die Vereinigten Staaten von Europa werden also erst als ein sozialistisches Projekt Wirklichkeit werden!




Indien: Der Weg, der selten beschritten wird, oder derselbe alte ausgetretene Pfad

Gastbeitrag von Mira Ghalib (Delhi) zur Bewegung gegen das Citizenship (Amendment) Act (CAA; StaatsbürgerInnenschaftsergänzungsgesetz) und das National Register of Citizens (NRC; nationales Melderegister), Infomail 1095, 14. März 2020

Vor mehr als drei Monaten, am 11. Dezember, verabschiedete das indische Parlament das Ergänzungsgesetz zum StaatsbürgerInnenrecht, das Hindus, Sikhs, BuddhistInnen, Jain, ParsInnen und ChristInnen aus Afghanistan, Bangladesch und Pakistan die Möglichkeit gibt, eine StaatsbürgerInnenschaft in Indien zu beantragen. Der Gesetzentwurf wurde am 12. Dezember vom indischen Präsidenten unterzeichnet und sofort in ein Gesetz umgewandelt. Das Gesetz trat am 10. Januar diesen Jahres in Kraft und löste in der indischen Öffentlichkeit bereits vor seinem Inkrafttreten Kontroversen aus. Große, meist friedliche Demonstrationen an den Universitäten und auf öffentlichen Plätzen wurden von den Polizeibehörden gewaltsam unterdrückt, die den Befehlen der indischen Zentralregierung, die von der regierenden Bharatiya Janata Party (BJP; Indische Volkspartei) gebildet wird, gehorsam Folge leisteten.

StaatsbürgerInnengesetz

Die Konstruktion
von illegalen MigrantInnen ist für die indische Rechtsvorstellung nicht neu.
Das CAA ist nur eine weitere Verfassungsänderung des Gesetzes von 1955, das
bereits fünf Mal geändert wurde. Es ist nicht das Ziel dieses Artikels, sich
mit den rechtlichen Verstrickungen eines politischen Konzepts wie der
StaatsbürgerInnenschaft zu befassen. Es gibt bereits reichhaltige Literatur
dazu. Was von bedeutendem Nutzen ist und den Kontext dieses Artikels liefert,
ist die Implikation dieser konstruierten Illegalität mit der Religion. Eine
aufmerksame Lektüre des neuen CAA zeigt, dass es sorgfältig entworfen wurde, um
einen bestimmten Teil der Menschen, nämlich die MuslimInnen, auszuschließen.

Die Einfärbung des Migrations- und Flüchtlingsstatus’ von Menschen in ausgrenzenden Mustern von Religion und kulturellen Überzeugungen ist jüngeren Datums. Dies bedeutet im Wesentlichen, dass die regierende BJP zwar effektiv daran gearbeitet hat, die Vision ihrer Mutterorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS; Nationale Freiwilligenorganisation) von Indien als „Hindu Rashtra“ (1) (Hindu-Nation) zu verwirklichen, dass sie sich jedoch den rechtlichen Anforderungen der indischen Verfassung (2) anpassen und darüber hinaus ein positives Gesicht im internationalen Rampenlicht behalten musste. Als das CAA verabschiedet wurde, um einer exklusiven Kategorie von verfolgten Minderheiten vorgeblich die Beantragung der indischen StaatsbürgerInnenschaft zu ermöglichen, wurde die explizite Agenda der Regierungspartei, eine Hindu-Nation durch legale Mittel zu schaffen, deutlicher. Das Gesetz an sich, wie seine UnterstützerInnen befürworten, bietet Menschen, die in Indien Zuflucht suchen, eine StaatsbürgerInnenschaft an, die in den internationalen Menschenrechtsprinzipien anerkannt ist.

Wenn man jedoch
bedenkt, dass Indien die Rechte der Asylsuchenden auf seinem Boden nie
anerkannt hat und weiterhin nicht die Flüchtlingsstatuskonvention von 1951 und
das Flüchtlingsstatusprotokoll von 1967 unterzeichnet hat, ist das plötzliche
Interesse der Regierungspartei, eine bestimmte Kategorie von Menschen im Land
aufzunehmen, mit Skepsis erfüllt.

Seit 1981
erlaubt Indien dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR),
Staatsangehörigen aus anderen Ländern Asyl zu gewähren. Während die indische
Regierung die beiden größten Flüchtlingsgruppen in Indien, nämlich die aus Sri
Lanka und die TibeterInnen, direkt unterstützt, obliegt dem UNHCR der Rest der
Flüchtlinge und Asylsuchenden aus Afghanistan und Myanmar. Es ist jedoch
unklar, wie die indische Regierung und das UNHCR ihre Aufgaben koordinieren und
auf welche spezifische Art und Weise die Flüchtlinge und Asylsuchenden vom
UNHCR verwaltet werden. Während das UNHCR die Asylsuchenden registriert und
ihnen Flüchtlingskarten aushändigt, stellt die indische Regierung andererseits
Langzeit-/Bleibevisa aus, mit denen Zugang zu grundlegenden Rechten und
Möglichkeiten erhalten werden kann.

Mehrere Studien haben gezeigt, dass Asylsuchende und vom UNHCR anerkannte Flüchtlinge in Indien weiterhin unter erbärmlichen Bedingungen überleben, u. a. weil sie keinen Zugang zu Beschäftigungsmöglichkeiten in der formellen Wirtschaft bekommen. Stattdessen haben sie Zugang zu den vom UNHCR ermöglichten Mindesteinrichtungen wie dem staatlichen Gesundheitssystem, den staatlichen Schulen und dem nationalen Rechtssystem. Während der Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung und zum öffentlichen Bildungswesen in Indien aufgrund der schlechten Infrastruktur erschwert wird, scheint die Inanspruchnahme der Justiz in Indien schwierig zu sein.

Melderegister

Eine
Interpretation des CAA muss daher im Hinblick auf das National Register of
Citizens (NRC) erfolgen. Dieses ist ein staatliches Register für indische
BürgerInnen, das den InderInnen die Last des Nachweises ihrer
StaatsbürgerInnenschaft durch eine begrenzte Liste von Dokumenten auferlegt. Es
gibt weniger Klarheit darüber, um welche Dokumente es sich dabei handelt und
welche Informationen darüber erforderlich sind, wie und wo diese Dokumente
einzureichen sind. Noch weniger ist über die rechtlichen Maßnahmen bekannt, die
es Menschen in ganz Indien ermöglichen, die Ergebnisse der NRC-Handhabung
anzufechten, falls sie als staatenlos eingestuft werden. Das endgültige und
aktualisierte StaatbürgerInnenregister in Assam, einem Bundesstaat in der
nordöstlichen Region Indiens, wurde im August 2019 veröffentlicht und schloss
1,9 Millionen Menschen von 19 Millionen EinwohnerInnen aus. Einige der
Ausgeschlossenen sind bengalische Hindus, eine potenzielle
StammwählerInnenschaft für die BJP. Das Schicksal dieser Menschen ist nach wie
vor unbekannt, da einerseits die Regierung der BJP unter wachsendem Druck
steht, diese Liste abzulehnen, und andererseits die einheimische Bevölkerung
von Assam darauf drängt, dass das Register trotz ihres religiösen Hintergrunds
die Besiedlung ihres Landes durch EinwanderInnen ablehnt.

Der Kampf der
Einheimischen gegen die EinwanderInnen, die in den 1960er Jahren vor allem aus
Ostpakistan (dem heutigen Bangladesch) kamen, hat zu gewalttätigen Angriffen
gegen die MigrantInnen und später zur staatlichen Sanktionierung der
Abschiebezentren im Staat geführt. Am 28. November 2019 waren in Assam sechs
Gefangenenlager in Betrieb, in denen etwa 1.000 Häftlinge, darunter meist
bangladeschischer Herkunft, untergebracht sind (The Hindu, 1.1.2020). Die
Regierung der BJP unter Premierminister Narendra Modi hat seit ihrem Wahlsieg
2014 konsequente Anstrengungen unternommen, um in ganz Indien Haftlager
einzurichten, indem sie große Flächen für den Bau von Gebäuden genehmigt hat.
Darüber hinaus haben die Prozesse an den AusländerInnengerichten an Fahrt gewonnen,
die über den Status der aus dem NRC ausgeschlossenen Personen in Bezug auf
illegale Einwanderung entscheiden und sie bis zu ihrer Abschiebung in
Gewahrsamseinrichtungen schicken können. Zusammen mit dem NRC wird das CAA die
Einbürgerung bestimmter Personen zulassen, aber die indischen MuslimInnen
ausschließen und sie unsicher und staatenlos machen. Die beunruhigende
Möglichkeit ihrer Inhaftierung in den Gefangenenlagern sollte nicht ignoriert
werden.

Und deshalb
protestiert die Bevölkerung

Inquilab
Zindabad (Es lebe die Revolution)-Gesänge sind an den verschiedenen
Protestorten in Indien häufig zu hören. Kochend vor Angst, aber auch mit Mut,
mit Frustration, aber auch mit Hoffnung, mit Wut, aber auch mit Solidarität
sind die Menschen in Indien auf die Straße gegangen, um ihren Dissens gegen die
gegenwärtige Regierung zum Ausdruck zu bringen. Einer der wichtigsten Räume,
die als Plattform für die Menschen entstehen sollen, ist Shaheen Bagh, ein
Viertel in Süddelhi. Shaheen Bagh liegt in der Nähe der Jamia-Millia-Islamia-Universität,
an der im Dezember erstmals StudentInnen von der Polizei in Delhi angegriffen
wurden, weil sie gegen die Gesetzgebung zur StaatsbürgerInnenschaft und
Registrierung protestierten. Shaheen Bagh verkörpert eine politische Dynamik,
die hauptsächlich von Frauen ausgeht. Diese Frauen sind viele, sie sind alt und
jung, und sie sind wütend und unverwüstlich. Während des größten Teils des
bissig kalten Winters in Delhi haben diese Frauen und Männer ausgeharrt, um
ihren Widerstand gegen die menschenfeindlichen Taktiken des von der BJP
geführten indischen Bundesstaates unter Beweis zu stellen. Und sie wurden
bedroht und beschossen.

Seit dem 15.
Dezember, als der Sitzstreik in Shaheen Bagh begann, wurden die
DemonstrantInnen sowohl verbal von den BJP-AnhängerInnen beschimpft, von der
Polizei bedroht und von der Teilnahme an den Protesten ausgeschlossen. Da dies
sowohl die Alten als auch die Jungen nicht davon abhielt, sich den Protesten
anzuschließen, kehrten die amtierenden Regierungen sowohl in der Hauptstadt wie
ihre Verbündeten auf regionalstaatlicher Ebene dazu zurück, bestimmte Reden und
bestimmte Protestierende mit verfassungsmäßigen Mitteln als aufrührerisch zu
belasten. Während die BJP ihre eigenen Parlamentsmitglieder ignoriert hat, die
öffentlich Hassreden gehalten und dazu aufgerufen haben, die „Antinationalen“
zu erschießen (ein Begriff, der von der herrschenden Regierung kategorisch
gegen diejenigen verwendet wird, die sich ihrer Politik widersetzen), wurden
gegen politische AktivistInnen wie Sharjeel Imam, Akhil Gogoi und andere durch
die Anwendung drakonischer Gesetze aus der Kolonialzeit schnelle rechtliche
Schritte eingeleitet. Darüber hinaus haben die Print- und Fernsehmedien in
Indien unter einem Sperrfeuer von Anweisungen des BJP-Büros eine Offensive
gegen die DemonstrantInnen gestartet und kämpfen ständig für die Zersplitterung
der Bewegung. Die wachsende Offensive hat die Bewegung jedoch nicht
aufgehalten, aber die Bedingungen für Straffreiheit bei der Aufstachelung zur
Gewalt gegen die „Anti-NationalistInnen“ geschaffen. Deshalb kann man die
Unverfrorenheit sehen, mit der Mitglieder der Sangh Parivar (einer großen
Gruppe hinduistischer nationalistischer Organisationen in Indien) wiederholt
das Feuer auf die unbewaffneten und gewaltlosen DemonstrantInnen in Shaheen
Bagh eröffnet haben, zuerst glücklicherweise ohne Opfer.

Shaheen Baghs
Einzigartigkeit innerhalb des gegenwärtigen politischen Klimas in Indien ergibt
sich aus seiner vielfältigen Beteiligung. In Shaheen Bagh waren verschiedene
politische Anliegen repräsentiert oder einbezogen – die von Transgender-Personen
Indiens, der Kämpfe der Dalit (Angehörige der untersten Kaste, der „Unberührbaren“),
der indigenen Völker gegen die Vertreibung, der Bewegung zum Klima- und
Ressourcenschutzes, von Minderheitenrechten, von Rechten der Frauen und anderer.
Vor allem aber sind es die muslimischen Frauen aus den unteren Schichten, die
den gewaltlosen Widerstand in Shaheen Bagh aufrechterhalten und eine
Alternative in die politische Vorstellung der Menschen eingebracht haben. Ein
solcher Widerstand hat ähnliche Kämpfe im übrigen Indien hervorgebarcht, durch
das, was liebevoll als Shaheen Bagh von Kalkutta (Kolkata) oder von Mumbai und
anderswo bezeichnet wird. Es scheint, als sei es Shaheen Bagh gelungen, die
Parameter einer Bewegung zu umreißen, die für verschiedene politische
Interessen konstitutiv ist. Das bedeutet auch, dass innerhalb der Bewegung
Differenzen ausgebrochen sind, die zumeist mit der seit langem bestehenden
Kaschmir-Frage zusammenhängen. Fälle, in denen indigene Kaschmiris bei
Protesten nicht zu Wort kommen durften, sowie Verbote, bei den Demonstrationen
„Freies Kaschmir“-Transparente und -Plakate zu tragen, sind gut dokumentiert,
haben aber in den gegenwärtigen politischen Kämpfen weniger Gewicht erhalten.
Dies könnte das wiederherstellen, was einige als Enteignung bereits
marginalisierter Stimmen durch Oberschicht-Hindus oder andere Savarnas
(Angehörige der Hindukasten), die den linken Flügel von politischen und auch
zivilgesellschaftlichen Organisationen dominieren, bezeichnet haben.

Politische Dynamik über die Rhetorik gegen CAA  und NRC hinaus?

Die
Ressentiments gegenüber der regierenden BJP können jenseits ihrer
sektiererischen Politik verortet werden. Ein wirtschaftlicher Abschwung mit
geringer Produktivität, industrieller Stagnation zusammen mit einer hohen
Arbeitslosenquote und sinkenden Nahrungsmittelproduktion können in der
gegenwärtigen Bewegung als Faktoren gelten. Im Geschäftsjahr 2018 lag die
indische Arbeitslosenquote bei 6,1 % (Periodische Arbeitskräfteerhebung
des Nationalen Statistikamtes; NSSO), und das Niveau der Ungleichheit stieg
kontinuierlich. Der sogenannte Ungleichheitsindex Gini von 0,65 Mitte der
1990er Jahre bewegte sich auf ein extremes Niveau von 0,74 in den 2000er Jahren
(laut zehnjährlicher gesamtindischer Schulden- und Investment-Statistik des
NSSO). Darüber hinaus zeigt der Chancel- und Piketty-Bericht 2017 mit dem Titel
„Indische Einkommensungleichheit, 1922-2015: Vom britischen Raj zum
Milliardär-Raj“, dass es seit Mitte der 1980er Jahre einen Umschwung von einer
früheren Vorreform-Periode zu einem neoliberalen Regime mit einem stetigen
Anstieg des Einkommens der oberen 10 Prozent der Reichen gegeben hat. (Raj:
Indien, in engerem Sinne Bezeichnung für das britische Kolonialreich Indien)

Hinzu kommt die
zunehmende Privatisierung in öffentlichen Sektoren wie Telekommunikation,
Luftfahrt, Verteidigung, Eisenbahn und anderen. Die BJP versucht auch,
ausländische Direktinvestitionen in der Kohlebergbauindustrie durch die
Änderung des Minen- und Mineral-Gesetzes für Entwicklung und Regulierung von
1957 und des Kohlebergbaugesetzes (besondere Bestimmungen) 2015 zu ermöglichen.
Dieses sowie die dreisten Versuche der Regierung, die Arbeitsgesetze durch ihre
Kodifizierung einzuschränken und die Zusammenarbeit mit den zentralen
Gewerkschaften durch die Untergrabung dreigliedriger Treffen wie der Indischen
Arbeitskonferenz (die nach 2015 nicht mehr stattfanden) zu unterbinden, sind außerdem
zu nennen.

Es sollte die
LeserInnen daher nicht überraschen, dass der größte Generalstreik in Indien am
8. Januar diesen Jahres mit über 250 Millionen TeilnehmerInnen bereits im
vergangenen Jahr von den zentralen Gewerkschaften als Aufruf zur
„Herausforderung der arbeiterInnen-, volks- und nationalfeindlichen Politik der
Modi-Regierung“ (Pressemitteilung vom 30. September 2019, Parliament Street,
National Open Mass Convention of Workers) erklärt wurde. Der Aufruf zum Streik
erfolgte einige Monate vor der Verabschiedung des CAA im Parlament. Sowohl
Bauern und Bäuerinnen als auch ArbeiterInnen aus Sektoren wie dem Bankwesen,
der Eisenbahn, dem Versicherungswesen, dem Teeanbau, der Rüstungsproduktion,
dem Kohlebergbau und anderen marschierten zusammen mit
UniversitätsstudentInnen, ProfessorInnen und Mitgliedern der Mittelklassen in
den Streik, um ihre Verachtung gegen die korporativ-kommunale Verbindung zum
Ausdruck zu bringen.

Prabhat Patnaik
bemerkt in seinem Artikel über die „Landkarte eines gescheiterten Staates“,
dass Modis „hartgesottener Neoliberalismus“ (Neoliberalismus ohne menschliches
Gesicht im Gegensatz zur neoliberalen Politik der früheren Vereinigten
Progressiven Allianz) durch den Hindutva-Nationalismus ergänzt wird. Damit
meint der Autor im Wesentlichen, dass eine Allianz zwischen beiden die
Verbreitung des „kommunalistischen Faschismus“ (der sich ideologisch auf
ethnisch-religiöse Gemeinschaften bezieht) ermöglicht. Das erlaubt der
BJP-Regierung die Unterstützung der Bevölkerung, die von nationalistischer
Leidenschaft geprägt ist, für sich zu gewinnen und gleichzeitig von der
anhaltenden Wirtschaftskrise abzulenken und mundtot zu machen. Es gibt viele
Gründe, die für Patnaiks Analyse sprechen, insbesondere weil sie ermöglicht, um
die Verflechtung des Hindutva-Nationalismus mit der neoliberalen Variante in
Indien zu verstehen. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob unsere Vorstellungskraft
für Alternativen von einem einheitlichen Kampf profitieren oder uns auf einen
bereits beschrittenen Weg führen wird.

Die Frage des
Faschismus in Indien ist nicht ohne Kontroversen. Während der indische
Historiker und Ökonom Ramachandra Guha immer wieder davor warnt, den Begriff
Faschismus auf die rechten Bewegungen anzuwenden, merken andere wie der
Historiker Benjamin Zachariah an, dass die ideologischen Verbindungen der Sangh
Parivar zum italienischen Faschismus und zum deutschen Nazismus Raum zum
Nachdenken über ihre Versuche lassen, Indien in einen autoritären Hindu-Staat
zu verwandeln (Chakrabartty, 2020). Zachariah macht einen wichtigen Punkt, der
den Unterschied zwischen einer fast faschistischen Organisation, die nach Macht
strebt, und einer Organisation, die den Staat bereits erobert hat, berührt.

Die Kontrolle
über die Justiz, die Exekutive einschließlich der Polizei, bestimmte Teile der
Streitkräfte sowie die Verwaltung mit einer Mehrheit im Parlament sind
deutliche Anzeichen für die Eroberung des Staates durch die Sangh Parivar.
Hinzu kommt ein offener Angriff auf die Gewerkschaften sowie die
Zivilgesellschaft (durch die Umsetzung des Gesetzes über ausländische Beiträge
[Regulierung]). Die jüngsten staatlich sanktionierten Pogrome gegen arme und
ArbeiterInnenklasse-MuslimInnen in Delhi und Uttar Pradesh sind ein Beleg für
die zunehmende Anwendung und Finanzierung politischer Gewalt durch die Sangh
zur Förderung ihrer Agenda. Selbst die alternative Aam-Aadmi-Partei (Partei der
einfachen Leute) in Delhi unter Arvind Kejriwal, die zuvor wie eine Erholung
von der BJP aussah, hat kläglich versagt, die Angriffe einzudämmen und die
MuslimInnen der Minderheit in Delhi zu schützen.

Es ist daher von
größter Dringlichkeit, dass wir die Zeichen des Faschismus innerhalb der
regierenden BJP und der Organisation Sangh Parivar erkennen und einen
gemeinsamen Kampf gegen diese Unterdrückung aufbauen. Das würde bedeuten, dass
die ArbeiterInnenorganisationen, die Organisationen der Dalit, die
Frauenbewegung und alle anderen unter dem vereinten Widerstand gegen die
indische Variante des religiös-nationalistischen und kapitalistischen Systems
zusammenkommen müssen. Zu Beginn scheint dies keine leichte Aufgabe zu sein,
wenn man die Zersplitterung der linken Gruppen und die von Savarnas dominierte
Führung der kommunistischen Parteien Indiens bedenkt, die seit langem die
SprecherInnen der unterdrückten Gemeinschaften sind. Ein kollektiver Kampf in
Indien wird diese daher gegen alle Formen struktureller Unterdrückung auf
Befehl eines Brahmanen-Patriarchats vereinen müssen, wenn wir die indische
faschistische Bewegung ausmerzen wollen.

Endnoten

(1) Aus der
Missionserklärung von der RSS-Webseite zitiert: http://rss.org./Encyc/2012/10/22/rss-vision-and-mission.html

(2) Am
wichtigsten sind § 14 und § 15, die gebieten, dass der indische Staat
„BürgerInnen nicht aus Gründen von Religion, Rasse, Kaste, Geschlecht,
Geburtsort oder einen davon“ diskriminieren darf. https://www.constitutionofindia.net/constitution_of_india/15/articles/Article%2015

Quellen

Patnaik,
Prabhat: Road Map to a Failed State. Zugriff 5.2.2020.

https://frontline.thehindu.com/cover-story/road-map-to-a-failed-state/article8700545.ece

Sen,
Sumant/Singaravelu, Naresh: „Data | Where are Detention centres in India?“ The
Hindu, 1.1.2020. https://www.thehindu.com/data/data-whre-are-detention-centres-in-india/article30451564.ece




Indien: Modi – Meister der Pogrome

Dave Stockton, Infomail 1093, 4. März 2020

In der Nacht vom
23. Februar waren die MuslimInnen in der indischen Metropole Delhi am ersten
von drei Tagen dem ausgesetzt, was die westlichen Medien als „kommunale Unruhen“
bezeichneten. Währenddessen ergingen sich US-Präsident Donald Trump und der
indische Ministerpräsident Narendra Modi in Ahmedabad, der wirtschaftlich
bedeutendsten Stadt von Modis Heimatstaat Gujarat, in gegenseitiger Bewunderung.

Tatsächlich
handelte es sich um ein Pogrom, das von lokalen und nationalen PolitikerInnen
der Bharatiya Janata Party (BJP; Indische Volkspartei) Modis angezettelt und
von der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS; Nationale Freiwilligenorganisation),
einer faschistischen Organisation, die der BJP angegliedert ist, durchgeführt
wurde.

In dem Pogrom
wurden Moscheen und kleine muslimische Geschäfte verwüstet, Häuser abgefackelt
und ihre BewohnerInnen geschlagen. Mindestens 42 Menschen wurden brutal getötet
und 300 weitere schwer verletzt.

Systematische Hetze

Die Aufhetzung
durch Größen der BJP ist deutlich genug. Einige Wochen zuvor hatte die BJP eine
Kundgebung abgehalten, auf der der Minister für Finanzen und
Unternehmensfragen, Anurag Thakur, diejenigen verurteilte, die gegen das neue
StaatsbürgerInnenschaftsänderungsgesetz protestierten, und erklärte sie zu: „VerräterInnen
des Landes, erschießt sie“. Seitdem wurde auf BJP- Kundgebungen immer wieder
der Sprechchor „Erschießt die VerräterInnen!“ gehört. Das neue Einbürgerungsgesetz
privilegiert die Anträge nicht-muslimischer MigrantInnen auf die indische
StaatsbürgerInnenschaft, eine dreiste Verletzung der säkularen Verfassung
Indiens.

Kurz vor Beginn
der Angriffe vom 23. bis 25. Februar hielt ein BJP-Politiker aus Delhi, Kapil
Mishra, den die Niederlage bei den jüngsten Stadtratswahlen geschmerzt hatte,
eine provozierende Rede gegen die BürgerrechtlerInnen. Neben einem hochrangigen
Polizeibeamten stehend, nahm er die Protestlerinnen aufs Korn, die in Shaheen
Bagh, einem ArbeiterInnenviertel der Hauptstadt mit einer beträchtlichen
muslimischen Bevölkerung, einen friedlichen Sitzstreik veranstalteten. „Entweder
müssen die PolizistInnen sie aus dem Weg räumen“, sagte Mishra, „oder wir
werden die Dinge selbst in die Hand nehmen“. Innerhalb weniger Stunden traf ein
Mob von RSS-AnhängerInnen, der Safranfahnen schwenkte und „Jai Shri Ram“ (Heil
dem Herrn Rama) skandierte, auf dem Gebiet von Shaheen Bagh ein. Die Polizei in
Delhi unter der Leitung von Innenminister Amit Shah stand entweder untätig
daneben oder begleitete die Mobhorden sogar.

Am Dienstag, den
25. Februar, lud Richter S. Muralidhar vom Obersten Gericht Delhis die Polizei
vor, um sie zu rügen, weil sie es versäumt hatten, eine Klage gegen Mishra und
zwei weitere BJP-PolitikerInnen einzureichen. Am nächsten Tag wurde Muralidhar
von Delhi an ein Gericht im Punjab (Pandschab) überstellt, und der Oberste
Gerichtshof Indiens vertagte die Anhörung der Petitionen zur Gewalt. Es ist
klar, dass Modi neben der Zerstörung der halbautonomen Regierung in Indiens
einzigem muslimischen Mehrheitsstaat Kaschmir Indien absichtlich in eine
kommunalistische Richtung lenkt, die nur zu internen und internationalen
Konflikten führen kann.

Modi und Trump

Modi selbst hat
eine lange Geschichte der Aufstachelung zu rassistischer Gewalt. Im Alter von 8
Jahren wurde er für die RSS rekrutiert, die die politische Ideologie der BJP,
Hindutva (Hinduismus), hervorgebracht hat, die den indischen
Minderheitsreligionen gegenüber besonders feindlich eingestellt ist. Im
Vergleich zur hinduistischen Mehrheit, die 79,8 Prozent der Bevölkerung
ausmacht, haben MuslimInnen ein Anteil von 14,2 Prozent, ChristInnen 2,3
Prozent und Sikhs 1,7 Prozent.

Modi wurde im
Februar 2002 berüchtigt, als er, damals Premier von Guajarat, und seine Partei
zu Tagen von gewaltsamen kommunalistischen Unruhen aufriefen, nachdem
moslemische TerroristInnen einen Bus mit hinduistischen PilgerInnen angegriffen
und Reisende getötet hatten. Die FührerInnen seiner BJP und ihre Verbündete,
die religiöse Organisation Vishwa-Hindu, drängten die Hindus offen dazu, „den
MuslimInnen eine Lektion zu erteilen“. Gujarat stand tagelang in Flammen und
tausend MuslimInnen wurden getötet. Modi selbst hielt Brandreden, in denen er
die Opfer verspottete.

Offensichtlich
teilen Modi und Trump die Taktik, Gewaltanwendung gegen Minderheiten anzustacheln,
sowie die Notwendigkeit, ungeheuerliche Schmeicheleien auszuteilen. Während
seines Besuchs legte Trump noch eine Schippe drauf und nannte Modi „einen außergewöhnlichen
Führer, einen großen Verfechter Indiens, einen Mann, der Tag und Nacht für sein
Land arbeitet, und einen Mann, den ich stolz bin, meinen wahren Freund zu
nennen“. Gleichzeitig versicherte er den JournalistInnen, dass er die Morde von
Delhi nicht erwähnt habe. Doch auf einer Pressekonferenz in der Stadt zum
Abschluss seiner Reise, als die Nachricht von dem Pogrom die Medien der Welt
erfüllte, sprang Trump zu Modis Verteidigung bei: „Der Premierminister sagte,
er wolle, dass die Menschen Religionsfreiheit haben“. Und er fuhr fort. „Sie
haben wirklich hart daran gearbeitet.“

Trump hatte
gute, wenn auch zynische Gründe für dieses Schweifwedeln, abgesehen von seinem
Mitgefühl für einen Islamophoben. Er ist hinter etwas her. Er begrüßte die „globale
strategische Partnerschaft zwischen den USA und Indien“, ein Projekt, das das
Land zu einem Verbündeten gegen China machen soll. Dennoch wurden keine
konkreten Schritte in Richtung des „großen“ Handelsabkommens unternommen, das
Trump angestrebt hat. Das würde Indiens 1,38 Mrd. EinwohnerInnen als Markt für
die Plünderung durch US-Unternehmen öffnen. Es liegt auf der Hand, dass es ein
schwieriges Unterfangen ist, die „USA wieder groß zu machen“, während Indien
wirtschaftlich und militärisch zu einer Weltmacht der ersten Division werden
soll.

Gleichzeitig
erlebt Indien tatsächlich eine wirtschaftliche Abkühlung, wobei die
Arbeitslosigkeit vor kurzem einen 45-Jahres-Hochstand erreicht hat und seit
2016 eine Welle von Massenprotesten der ArbeiterInnen, einschließlich eintägiger
Generalstreiks, zu verzeichnen ist. Indem sie den Hindutva-Chauvinismus schüren,
wollen Modi und die BJP/RSS ihre Stoßtruppen gegen den Widerstand nicht nur der
ArbeiterInnenklasse, sondern auch der Frauen- und Jugendbewegungen sowie
nationaler, religiöser und kastenbezogener Minderheiten einsetzen. Ihr Ziel ist
es, die wachsende Wut und Frustration der Bevölkerung abzulenken, die
demokratischen Rechte zu untergraben und die ArbeiterInnenklasse mit reaktionärem
Hass zu vergiften.

Modis
Islamfeindlichkeit und die Bereitschaft der BJP, Pogrome anzustiften und zu
organisieren, haben eine internationale Dimension, insbesondere gegenüber
Pakistan, einem Staat mit muslimischer Verfassung. Imran Khan verurteilte das
Pogrom von Delhi, aber seine wackelige Regierung könnte auch eine Ablenkung von
ihren innenpolitischen Problemen gebrauchen. Ein indisch-pakistanischer Krieg könnte
unabsehbare Folgen haben.

Aus all diesen
Gründen müssen die ausgebeuteten Klassen und unterdrückten Völker auf dem
gesamten Subkontinent dem Gift „religiöser“ und kommunalistischer Konflikte
widerstehen, die nicht das Produkt „alten Hasses“ sind, sondern von
PolitikerInnen erzeugt werden, die bereit sind, die Religion zynisch für
reaktionäre und unmenschliche Zwecke auszubeuten. Die Grundlage für diesen
Widerstand muss die Klassensolidarität sein – internationale
Geschwisterlichkeit.

Es sei darauf
hingewiesen, dass die Proteste gegen das Staatsbürgerschaftsergänzungsgesetz
indische ArbeiterInnen, StudentInnen und FreiberuflerInnen auch über religiös-sektiererische,
kasten- und ethno-sprachliche Grenzen hinweg vereinten. Menschen aus der
ArbeiterInnenklasse haben über diese Spaltungen hinweg auch gegen die Morde in
Delhi protestiert. Es gibt sogar Berichte von hinduistischen NachbarInnen, die ihre
Opfer aufgenommen und vor den SchlägerInnen, die von außerhalb des Bezirks
kamen, geschützt haben.

Offensichtlich
ist sich Modi bewusst, dass die vielfältigen wirtschaftlichen und politischen
Missstände des Landes einen „perfekten Sturm“ des Widerstands auslösen könnten.
Sie könnten sogar zur Schaffung einer vorrevolutionären Situation führen, wenn
die riesige ArbeiterInnenklasse, die sich Anfang Januar 2020 in einem eintägigen
Generalstreik in zweistelliger Millionenstärke erhoben hat, die Führung übernehmen
würde. Auf dem gesamten großen Subkontinent sollten die SozialistInnen ein Ziel
vorantreiben, das Selbstbestimmung und Selbstverwaltung für die verschiedenen Völker
mit der Einheit verbindet, die für die Entwicklung seiner riesigen natürlichen
und menschlichen Ressourcen erforderlich ist, und zwar auf eine Weise, die seine
Umwelt schützt. Dies wären die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Südasien.

Heute zeigen
alle fortschrittlichen Kämpfe und Widerstandsbewegungen gegen
rechtspopulistische DespotInnen auf der ganzen Welt eine tiefgreifende „Führungskrise“,
d. h. das Fehlen oder die Schwäche einer politischen und organisatorischen
Kraft, die den Weg nach vorn weist. All dies weist auf die Notwendigkeit neuer,
revolutionärer ArbeiterInnenparteien in diesen Ländern sowie in den
imperialistischen „Kernländern“ hin, die in einer neuen, einer Fünften
Internationale vereint sind.




Katalonien: Freiheit für die Gefangenen!

Dave Stockton, Infomail 1073, 21. Oktober 2019

Am 14. Oktober
verurteilte der Oberste Gerichtshof von Madrid nach einem viermonatigen Prozess
neun katalanische separatistische AnführerInnen zu 9 bis 13 Jahren Gefängnis
für ihre Rolle in der Unabhängigkeitsbewegung 2017.

Daraufhin
versammelten sich Zehntausende, hauptsächlich junge DemonstrantInnen in den
Stadtzentren Kataloniens, wo sie mit einem Polizeieinsatz konfrontiert wurden,
der sich zu einer dreitägigen Schlacht mit zahlreichen Festnahmen entwickelt
hat.

Die
katalanischen PolitikerInnen hatten bereits zwei Jahre im Gefängnis verbracht,
nachdem der ehemalige Premierminister der Volkspartei (PP) Mariano Rajoy die
paramilitärische Guardia Civil entsandt hatte, um die Unabhängigkeitsbewegung
nach einem Referendum zu unterdrücken, das von Unabhängigkeitsparteien
durchgeführt wurde.

Tatsächlich
sollten Rajoy und seine MinisterInnen im 
Gefängnis sitzen, nicht Oriol Junqueras und seine MitstreiterInnen. Die
drakonischen Urteile sind das Ergebnis des Versäumnisses, das Erbe der
faschistischen Franco-Diktatur aus der spanischen Verfassung zu tilgen,
einschließlich der Strafbefugnisse des Obersten Gerichtshofs, und der
Verweigerung des elementaren demokratischen Rechts der Nationen auf
Selbstbestimmung.

Die Urteile verstoßen eklatant gegen die Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen und die Europäische
Menschenrechtskonvention, aber die KatalanInnen werden lange darauf warten,
dass entweder diese Organe oder ihre Mitgliedsstaaten die Handlungen des
spanischen Staates verurteilen. Ebenso sollten sie nicht darauf warten, ob die
Fraktion der Progressiven Allianz der SozialdemokratInnen im Europäischen
Parlament (S&D) oder ihre Dachorganisation, die moribunde Sozialistische
Internationale, ihnen zu Hilfe kommt.

Tatsächlich hat
ihre Mitgliedsorganisation, die spanische Sozialistische ArbeiterInnenpartei
PSOE, die Repression begeistert begrüßt. Premierminister Pedro Sánchez sagte
gegenüber ReporterInnen: „Heute endet ein exemplarisches Gerichtsverfahren.
Niemand steht über dem Gesetz. In einer Demokratie wie Spanien wird niemand
wegen seiner Ideen oder seiner Politik vor Gericht gestellt, sondern wegen
strafbaren Verhaltens, wie es das Gesetz vorsieht“. Er versicherte den Medien,
dass seine Regierung der Entscheidung des Gerichts „voll und ganz nachkommen“
werde.

Diese zynische
und kriecherische Aussage entlarvt die linken Referenzen von Sánchez und seiner
Partei als plumpe Täuschung. Sie stellt die Sinnlosigkeit der Hoffnung klar,
dass seine Politik bei der Erhaltung des spanischen Staates als Gefängnis der
Nationen von der Form abweicht, die von den ErbInnen Francos in der Volkspartei
festgelegt wurde.

Um das
verbrecherisches Maß vollzumachen, förderte Sánchez zynisch die Hoffnung auf
eine Verhandlungslösung mit den KatalanInnen, um seine Stimmen bei den letzten
Wahlen zu vermehren und katalanische Parteien in den Cortes (dem Madrider
Parlament) zur Unterstützung seiner Regierung zu bewegen. Aber angesichts der
Wahl, die Integrität des spanischen Staates mit Gewalt zu verteidigen oder
seine Koalition aufrechtzuerhalten, triumphierte die Loyalität zu seinem König
und seinem Land über diese Interessen der WählerInnen, geschweige denn sozialistische
Prinzipien – falls er jemals welche hatte.

Pablo Casado,
der derzeitige Vorsitzende der Volkspartei, lobte den Gerichtshof praktisch mit
denselben Worten wie Sánchez und stellte den Ministerpräsidenten nur darin auf
die Probe, dass er ja nicht den verurteilten FührerInnen eine Amnestie oder
Begnadigung der Regierung anbieten soll. Unterdessen kritisierte der
Generalsekretär der protofaschistischen Vox-Partei, Javier Ortega Smith-Molina,
das Urteil wegen seiner Nachsicht. Die katalanischen FührerInnen hätten wegen
des Verbrechens der gewalttätigen Rebellion zu je 25 Jahren verurteilt werden
sollen.

Die einzige einigermaßen
prinzipientreue Position kam vom Podemos-Vorsitzenden Pablo Iglesias, wenn auch
in einer angesichts des Ernsts der Lage eher zurückhaltenden Sprache. Er sagte,
der Satz „wird in die Geschichte Spaniens als Symbol dafür eingehen, wie man
politische Konflikte in einer Demokratie nicht angeht“. In einer Nachricht auf
Facebook sagte Iglesias, er wolle „seine Unterstützung an die verurteilten
FührerInnen und ihre Familien senden“.

Diese verbale
Solidarität passt zur lauwarmen Unterstützung seiner Partei für die nationalen
demokratischen Rechte. Tatsächlich sollte jedeR DemokratIn, geschweige denn
SozialistIn, der/die im spanischen Staat lebt, die sofortige Freilassung der
verurteilten FührerInnen, die Aufhebung ihrer Beschuldigungen und die
Einstellung aller Anklagen gegen den im Exil lebenden katalanischen Präsidenten
Carles Puigdemont fordern.

Widerstand

Obwohl es die
gemäßigte Basisorganisation, die Katalanische Nationalversammlung (ANC), war,
die am ersten Abend zur Demonstration bei Kerzenlicht aufrief, besetzten noch
in dieser Nacht mehrere tausend Menschen den Flughafen Barcelona. Sie wurden
mit Polizeiprügel und Salven von Gummigeschossen konfrontiert, die mehr als 130
Verletzte forderten und einen jungen Demonstranten das Auge kosteten.

Diese direkte
Aktion und die in den folgenden Tagen wurden von Tsunami Democràtic, einer
neuen Online-Plattform, organisiert. Der Schlüssel zum Erfolg der Bewegung sind
die AktivistInnen der Komitees für die Verteidigung der Republik (CDRs), die
gegründet wurden, um der Annahme einer direkten Herrschaft des spanischen
Staates im Jahr 2017 zu widerstehen, die twitterten: „Es ist an der Zeit, sich
gegen den autoritären Faschismus des spanischen Staates und seiner KomplizInnen
zu erheben. Es ist Zeit für den Volksaufstand.“ In anderen spanischen Städten,
darunter auch in Madrid, kam es zu Solidaritätsaktionen, und am 18. Oktober
wurde in Katalonien ein Generalstreik ausgerufen.

So sehr die
Demonstrierenden auch im Recht sein mögen, es sollte nicht vergessen werden,
dass, obwohl es in den Monaten um das Referendum 2017 riesige Demonstrationen
und direkte Aktionen gab, die Schwäche und Spaltung der nationalistischen
FührerInnen sowie das Fehlen einer wirksamen und beträchtlichen Solidarität aus
ganz Spanien und Europa mit dem Sieg des spanischen Staates endeten. Die
derzeitige Führung des katalanischen Parlaments, die Generalitat, fordert
kläglich Verhandlungen. Diese werden zu nichts führen. Denunziationen von
DemonstrantInnen, die der Polizeigewalt ausgesetzt sind, durch den
katalanischen Präsidenten wird die Madrider Regierung nur ermutigen.

Strategie

Solange die
SeparatistInnen die Frage als Kampf um Unabhängigkeit und nicht um das
demokratische Selbstbestimmungsrecht stellen, erschweren sie die Unterstützung
der rund 50 Prozent der katalanischen Bevölkerung, die sich gegen die
vollständige Unabhängigkeit aussprechen.

Heute verfügt
Katalonien nicht einmal mehr über eine echte Autonomie. Wenn dies der Fall
gewesen wäre, wäre es Madrid nicht möglich gewesen, sein Parlament aufzulösen
und seine FührerInnen wegen der Organisation eines Referendums ins Gefängnis zu
stecken. Alle aufrichtigen spanischen DemokratInnen sollten die Ausweitung
einer echten Autonomie auf alle Nationalitäten Spaniens unterstützen und dafür
kämpfen, auch wenn sie nicht wollen, dass die ArbeiterInnenklasse des Landes in
konkurrierende Staaten aufgeteilt wird. Aber wenn die Mehrheit in einem
Referendum ohne Unterdrückung für die völlige Unabhängigkeit stimmte, dann wäre
es gleichermaßen die Pflicht von DemokratInnen und SozialistInnen in ganz
Spanien und Europa, ihnen bei der Verwirklichung ihrer demokratischen
Entscheidung zu helfen.

Wie im Falle
Schottlands glauben wir jedoch nicht, dass die Schaffung neuer und kleinerer
kapitalistischer Staaten eine der großen sozialen Fragen der ArbeiterInnen
beantworten wird. Tatsächlich wäre jede Versuchung, die große Zahl
spanischsprachiger Menschen und MigrantInnen kulturell oder sprachlich zu
„katalanisieren“, an sich reaktionär.

Als
sozialistische InternationalistInnen setzen wir Illusionen in den bürgerlichen
nationalistischen Separatismus entgegen – den Kampf, die neoliberale und
imperialistische EU in Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa zu
verwandeln, in denen alle Nationen und Nationalitäten ein hohes Maß an
Autonomie und das Recht hätten, eigene separate Einheiten zu bilden, wenn sie
es wollten.

In der
Zwischenzeit sollten die SozialistInnen in den Nachbarstaaten der Europäischen
Union von den Parlaments- und Europaparlaments-Abgeordneten aus Labour- und
sozialistischen Parteien verlangen, dass sie Entschließungen verabschieden, in
denen sie die Entscheidung des Madrider Gerichtshofs verurteilen und die bedingungslose
Freilassung der Gefangenen sowie die sofortige verfassungsmäßige Anerkennung
des Rechts der spanischen Nationen auf Durchführung von
Unabhängigkeitsreferenden fordern, wenn sie dies wünschen.

Eine starke
europäische Solidaritätsbewegung kann den ArbeiterInnen in Spanien helfen, das den
undemokratischen Charakter der Verfassung und den kastilischen Chauvinismus zu
überwinden, der die ArbeiterInnenklasse korrumpiert und schwächt. Das bedeutet,
dass man die Notwendigkeit aufgreifen muss, die spanische Verfassung als
Föderalrepublik neu zu schreiben, eine Aufgabe, die nur durch eine souveräne
verfassunggebende Versammlung erreicht werden kann, die von einer
ArbeiterInnenregierung einberufen und verteidigt wird, die auf Organen der
ArbeiterInnendemokratie basiert und diesen gegenüber rechenschaftspflichtig
ist.

Auf diese Weise
können die notwendigerweise miteinander verbundenen sozialen und demokratischen
revolutionären Aufgaben erfüllt und die Einheit der ArbeiterInnenklasse
erreicht und erhalten werden.




Parlamentswahlen in Israel: Oslo-Abkommen abgewählt

Robert Teller, Neue Internationale 241, Oktober 2019

Die israelischen
Knessetwahlen am 17. September sollten Benjamin Netanjahu mit der Mehrheit
ausstatten, die er bräuchte, um Premierminister zu bleiben. Sie haben aber die
Liste Kachol Lavan (Blau Weiß) des ehemaligen Generalstabschefs Benny Gantz
knapp zur stärksten Kraft gemacht.

Kachol Lavan
erhielt 25,95 % der Stimmen bzw. 33 Sitze in der Knesset, dem israelischen
Parlament. Netanjahus Likud (Zusammenschluss) kam auf 25,10 % (32 Sitze). Selbst
mithilfe verbündeter Parteien verfügt keines der beiden Lager über eine
Abgeordnetenmehrheit.

Gantz,
Befehlshaber der Gaza-Kriege 2012 und 2014, will mit der Person Netanjahu
abrechnen und ist zu einer Koalition mit Likud nur unter der Bedingung bereit,
dass Netanjahu nicht der Regierung angehört. Dieser wurde zwar erneut mit der
Regierungsbildung beauftragt, aber dies ist nutzlos, solange keine Koalition
unter seiner Führung möglich ist.

Wie bei der
vorigen Wahl im April wird ihr Zustandekommen wohl unter anderem an Avigdor
Liebermans Bedingung scheitern, die Befreiung ultraorthodoxer Juden und
Jüdinnen von der Wehrpflicht abzuschaffen. Solange keine Partei ihre
Wahlversprechen bezüglich einer Regierungsbeteiligung revidiert, sind
wiederholte Neuwahlen wahrscheinlich. Mit den Mehrheitsverhältnissen in der
Knesset ist auch Netanjahus Ziel, durch eine Gesetzesänderung Immunität vor
Strafverfolgung zu erhalten, gescheitert.

Keine Illusionen
in Gantz

Die Fehde
zwischen Netanjahu und Gantz kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die
Programme des Likud und der angeblichen Mitte-Links-Parteienliste Kachol Lavan
weitgehend deckungsgleich sind – auch hinsichtlich der israelischen Kontrolle
des Jordantals, des Status Ostjerusalems, der Besatzung der Westbank und der
Ablehnung des Rückkehrrechts. Zusammen vereinigen sie 51 % der Stimmen auf
sich. Weitere 19 % der Stimmen entfallen auf Parteien der religiösen
Ultrarechten, 7 % auf die säkulare, völkische Partei Jisr’ael Beitenu (Unser
Zuhause Israel) von Avigdor Lieberman. Die ehemals mächtige Awoda
(Arbeitspartei) ist mit 5 % für ihre Liste nahe an der Bedeutungslosigkeit. 4 %
erhielt die von der Meretz-Partei (Energie) angeführte Liste. Die Vereinigte
Liste arabischer Parteien bildet mit 11 % der Stimmen immerhin die
drittstärkste Fraktion in der Knesset. 10 ihrer 13 Abgeordneten haben
allerdings ihre Unterstützung für eine Regierung unter Führung von Gantz
erklärt, um einen Premier Netanjahu zu verhindern.

Die
Wahlergebnisse zeigen, wie sehr sich die politischen Verhältnisse nach rechts
verschoben haben. Mehr als drei Viertel der Stimmen entfallen auf rechte bis
rechtsextreme Parteien. Auch wenn der Likud seine führende Rolle in einer
Regierung verlieren sollte, prägen Kernelemente seines Programms die gesamte
politische Landschaft im Staat Israel.

Scheitern der
Zweistaatenlösung

Mit der
Ankündigung, das Jordantal zu annektieren, beerdigt Netanjahu in offenem Bruch
geltender Verträge und internationalen Rechts die sogenannte Zweistaatenlösung.
Natürlich wird den PalästinenserInnen, die 85 % der Bevölkerung des seit 1967
besetzten Jordantals ausmachen, schon längst das Selbstbestimmungsrecht auch
auf diesem Gebiet verwehrt. Das von Netanjahu beanspruchte Territorium besteht
weitestgehend aus C-Gebieten, die nach den Osloer Verträgen unter alleiniger
israelischer Kontrolle stehen. 85 % der Fläche darf von PalästinenserInnen
nicht betreten oder genutzt werden. 46 % des Jordantals ist als militärisches
Sperrgebiet deklariert. Hierunter fallen auch die israelischen Siedlungen.
Faktisch steht es längst unter israelischer Souveränität. Die Annexion wäre der
logische Abschluss der Besatzungspolitik seit 1967 – und ginge zugleich mit
einer weiteren Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung einher.

Die
Zweistaatenlösung diente 25 Jahre lang dem Zweck, das Besatzungsregime in der
Westbank als lediglich vorübergehenden Zustand zu legitimieren. Die Frage, wie
ein demokratischer Staat der Hälfte seiner Bevölkerung demokratische Rechte
verweigern kann, wurde mit Verweis auf den zukünftigen palästinensischen Staat
beantwortet, die Rechtlosigkeit der PalästinenserInnen mit den Umständen der
Besatzung gerechtfertigt. Mit der Annexion der besetzten Gebiete würde der
rassistische Charakter der Staatsverfassung Israels, die einem Teil seiner
Bevölkerung aufgrund seiner ethnischen Herkunft staatsbürgerliche Rechte
verweigert, noch deutlicher geraten und auf ein größeres Territorium und dessen
Bevölkerung ausgeweitet werden. Das Scheitern der Zweistaatenlösung und die
Annexion von Teilen der Westbank wird jeden Zweifel ausräumen, dass der
„demokratische Staat“ in Wirklichkeit ein rassistischer Apartheidstaat ist.

Annexion und
Expansion

Hinzu kommt,
dass eine erfolgreiche Annexion des Jordantals mit großer Wahrscheinlichkeit
nur einen Zwischenschritt zu Einverleibung der gesamten Westbank darstellen
würde. Schon heute trommelt der rechtsextreme Avigdor Lieberman für diese
„Lösung“, deren logisches Ende die Vertreibung und ein (schleichender)
Völkermord wären.

Die sogenannte
Zweistaatenlösung ist damit endgültig ins Reich der Träume verbannt. Mit der
Annexion des Jordantals wäre nicht nur jede Hoffnung auf einen
gleichberechtigten palästinensischen Staat neben Israel der Lächerlichkeit
preisgegeben. Vielmehr wäre auch die zentrale Institution des „Oslo-Systems“,
die Autonomiebehörde, hinfällig, die seit 25 Jahren für die Mitverwaltung der
Westbank als verlängerter Arm der Besatzung zuständig war. Die „Palestinian
Authority“, die aus dem Oslo-Prozess als Insolvenzverwalterin der geläuterten
PLO entstanden ist, hätte ihren Zweck erfüllt. Ihr bliebe noch als letzte
Amtshandlung, den Löffel abzugeben.

Die aggressive
Politik droht unter jeder Regierungskoalition. Sie würde mit einer weiteren
Abriegelung und Aushungerung der Bevölkerung in Gaza einhergehen, das
ökonomisch weniger lukrativ für eine direkte Annexion erscheint, ebenfalls mit
weiterer Aggression gegenüber dem Libanon und Iran – zumal für jedes dieser
reaktionären Vorhaben mit der Unterstützung durch die USA und stillschweigendem
Einvernehmen Saudi-Arabiens gerechnet werden kann.

Insofern ist die
zionistische Rechte in Israel im Begriff, die Karten in Palästina neu zu
mischen. Als erstes wird dabei die Illusion des demokratischen Staates Israel
über den Jordan gehen. Womöglich mit dieser auch die sorgfältig errichteten
Trennlinien zwischen 1948er-PalästinenserInnen einerseits und den BewohnerInnen
Gazas, Ostjerusalems und der Westbank andererseits. Die Pläne der zionistischen
Rechten werden zweifellos auf den erbitterten Widerstand der PalästinenserInnen
stoßen.

Perspektive

Die führenden
palästinensischen Vertretungen und die Fatah-geführte Regierung, die bis heute
an der Illusion der Zweistaatenlösung festhalten, werden zu diesem Widerstand
kaum mehr als nutzlose Appelle an die „Weltgemeinschaft“ und den israelischen
Staat, den „Friedensprozess“ fortzuführen, beitragen (Fatah: Eroberung, Sieg).
Fatah-Premierminister Mohammad Schtajjeh droht schon mal, alle Vereinbarungen
mit Israel, denen dieses sich ohnehin nie verpflichtet gefühlt hat, auszusetzen.

Die einzige
Alternative zum rassistischen Status quo, der zionistischen Einstaatenlösung,
ist ein multinationaler, sozialistischer ArbeiterInnenstaat in ganz Palästina.
Dieser kann nur durch den Sturz der israelischen Bourgeoisie mit Methoden des
Klassenkampfes, durch PalästinenserInnen und fortschrittliche ArbeiterInnen und
Unterdrückte in Israel erreicht werden. Die entschlossene, internationale
Solidarität mit dem Widerstand der PalästinenserInnen stellt ein entscheidendes
Element dar. Sie ist Aufgabe und Verpflichtung aller linken, fortschrittlichen
und demokratischen Kräfte auf der Welt.