Das Elend von Äquidistanz und Raushalten

Martin Suchanek, Neue Internationale 284, Juli/August 2024

Stell Dir vor, es findet ein genozidaler Krieg statt – und die Mehrzahl der deutschen Linksradikalen beteiligt sich nicht an den Solidaritätsaktionen mit den tausenden zivilen Opfern, den Demonstrationen, die ein Ende des Mordens und dessen willfähriger Unterstützung durch den deutschen Staat fordern. Dieses Verhalten stößt zu Recht auf Unverständnis, Kritik, Empörung.

Dummerweise handelt es sich um keinen hypothetischen Fall. Große Teile, wahrscheinlich die Mehrheit der deutschen „radikalen Linken“ versuchen, sich seit Jahren aus dem Thema Israel/Palästina „rauszuhalten“. Die Interventionistische Linke stand über Jahre beispielhaft und bewusst für eine Haltung, die seit dem 7. Oktober 2023 immer untragbarer wird und die anscheinend selbst in ihren Reihen auf Widerspruch stößt.

So schreibt sie im „Zweiten Statement der IL Berlin zum Krieg in Israel/Palästina“ vom 7. Mai 2024: „Die Nicht-Beteiligung vieler (besonders weiß dominierter) linker Gruppen fällt auf, ihr (schweigendes) Nicht-Verhalten wird zu Recht kritisiert.“

Und im letzten Abschnitt des Textes heißt es: „Nichtstun ist in der aktuellen Situation keine legitime Option, auch wenn wir sie selber zu oft und zu lange gewählt haben. Aktuell gilt es für uns als Linke, vereint mit anderen für das Ende dieses Krieges auf die Straße zu gehen.“

Betrachtet man nur diese Passagen, so könnte man sagen: endlich! Doch so eindeutig und ernst ist es mit dem „vereint mit anderen für das Ende dieses Krieges auf die Straße Gehen“ dann doch nicht. Denn zu den „anderen“, also den real existierenden Kräften der Palästinasolidaritätsbewegungen, sieht ein Teil der IL unüberbrückbare inhaltliche Differenzen, die eine gemeinsame Mobilisierung unmöglich machen. Für andere in der IL gilt das nicht.

„Und so versuchen wir als Organisation, auch hier Unterschiede auszuhalten, um aus unserer Lähmung zu kommen: Während sich ein Teil von uns weiter den Demos anschließen wird, wird ein anderer Teil versuchen, andere Wege und Bündnispartner:innen zu finden.“

Die IL nimmt hier ihre eigene Aussage zurück, dass es aktuell darum gehe, geeint gegen den Krieg auf die Straße zu gehen. Während es zuerst hieß, dass „Nichtstun keine legitime Option wäre“, so ist es wenige Zeilen später doch eine. Man tut eben was anderes, während sich einige „privat“ an den Demos beteiligen. Und um diesen Unterschied „auszuhalten“, verzichten beide Seiten darauf, als IL in Erscheinung zu treten. Das mag den inneren Frieden in der eigenen Organisation sichern – Solidarität mit der Bewegung gegen den Gazakrieg ist es keine.

Die IL positioniert sich politisch weiter zwischen den Stühlen, zwischen Solidaritätsbewegung und deutschem Imperialismus. Diese Haltung, einerseits solidarisch sein zu wollen, andererseits den konkreten Aktionen fernzubleiben, durchzieht von Beginn an den gesamten Text. „Da unser Fernbleiben als Organisation von vielen als Entsolidarisierung erlebt wurde, wollen wir mit diesem Text unsere grundsätzliche Solidarität mit den Anliegen der Proteste ausdrücken und zugleich erklären, warum wir als Gruppe nach wie vor an der Frage gespalten sind, ob wir uns den Aufrufen der Demos anschließen wollen.“

Die IL Berlin lügt sich in die eigene Tasche, wenn sie so tut, als ob „grundsätzliche Solidarität mit den Anliegen der Proteste“ und gleichzeitiges bewusstes Fernbleiben miteinander vereinbar wären. Praktisch handelt es sich um eine Distanzierung, die nicht nur als Entsolidarisierung empfunden wird, sondern auch eine solche direkt hervorbringt und verfestigt. Im Folgenden wollen wir uns jedoch nicht nur mit dieser Feststellung begnügen, sondern der Frage nachgehen, woher die innere Widersprüchlichkeit der IL-Position rührt, die sie und Tausende, wenn nicht Zehntausende andere „Linksradikale“ zum „Raushalten“ und damit faktisch zur Distanzierung von der Solidaritätsbewegung führt.

Wir beziehen uns dabei auf das „Zweite Statement der IL Berlin zum Krieg in Israel/Palästina“, das auch den Anspruch erhebt, zu einer „differenzierten Auseinandersetzung“ mit dem Thema beizutragen.

Charakter des Krieges

Nach ihrem ersten Statement vom Oktober 2023 hat die IL Berlin auch versucht, eine Analyse des Krieges zu erarbeiten. Dabei stellt sie fest: „Doch der Konflikt in Israel/Palästina ist kein symmetrischer. Seit Jahrzehnten etabliert sich in der Region ein Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnis, das viele Menschenrechtsorganisationen als Apartheid bezeichnen.“

In den folgenden Passagen geht die IL Berlin eine Reihe Begriffe durch, die sie für zumindest partiell brauchbar hält, um den Konflikt zu beschreiben und analysieren (Apartheid, Besetzung, Vertreibung, Siedlerkolonialismus) usw.

Das Problem ihrer Bestimmungen besteht jedoch darin, dass es keine politisch-inhaltlichen sind, keine Charakterisierungen, die zu bestimmten politischen Schlussfolgerungen führen, sondern ein räsonierendes Für und Wider. So heißt es zum (Siedler-)Kolonialismus:

„Wir finden, es gibt gute Argumente, besonders in Bezug auf die systematische Besiedlung der Westbank oder die rassistische Unterdrückung dort von (Siedler-)Kolonialismus oder mindestens Elementen davon zu sprechen, und auch dafür, die Strukturen dort mit dem Apartheidsbegriff als spezifische Form der Herrschaft zu beschreiben. Wir sind uns aber uneinig darüber, ob wir die Verwendung dieser Begriffe produktiv finden, weil sie oft weniger als Zustandsbeschreibung, sondern als Kampfbegriffe genutzt und verstanden werden. Die Auseinandersetzung um die Begriffe erschwert es oft, in eine Debatte zu kommen, die Möglichkeiten für gemeinsame Kämpfe gegen die schreckliche Situation der Menschen vor Ort eröffnet.“

Auf den Wert oder auch die Grenzen der Begriffe wird im Beitrag inhaltlich nicht weiter eingegangen (Welches sind z. B. die guten Gründe?), vielmehr endet die ganze Betrachtung damit, dass sich die IL uneinig ist, ob es überhaupt Sinn macht, sie zu verwenden, selbst wenn sie zutreffen. Denn es handle sich um „Kampfbegriffe“. Unglücklicherweise zeichnen sich alle wissenschaftlichen Begriffe des Marxismus nicht nur dadurch aus, dass sie Zusammenfassungen, Erkenntnisformen realer Verhältnisse sind, sondern auch „Kampfbegriffe“. Das ist unvermeidlich, wenn der Marxismus eine revolutionäre Theorie  sein will, deren Zweck darin besteht, den Kampf zur Veränderung der Gesellschaft zu erhellen, die Erfahrungen vergangener Kämpfe zu verallgemeinern und die Politik und Programmatik wissenschaftlich zu fundieren. So gipfelt die marxistische Staatstheorie – jedenfalls lt. Marx und Lenin – in der Schlussfolgerung, dass der bürgerliche Staat in der sozialistischen Revolution nicht übernommen, sondern zerschlagen und durch die Diktatur des Proletariats ersetzt werden muss. Diese aus der Analyse der Revolutionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gewonnene begrifflich-theoretische Erkenntnisse bilden zugleich „politische Kampfbegriffe“, weil sie bestimmte klassenpolitische Schlussfolgerungen darstellen. Als „Kampfbegriffe“ werden diese dabei nicht nur vom Klassengegner, dessen Staat zerschlagen werden soll, aufgefasst, sondern notwendigerweise auch von den reformistischen, antirevolutionären Teilen der Arbeiter:innenbewegung und Linken.

Dass sämtliche Begriffe, die versuchen, den Klassencharakter des Zionismus, die Herrschaft in Palästina, die Vertreibung zu fassen, immer auch Kampfbegriffe sind, stellt keine Besonderheit dar, sondern ergibt sich einfach daraus, dass sie wirkliche Klassen- und Unterdrückungsverhältnisse, wirkliche geschichtliche Bewegungen auf den Punkt zu bringen versuchen.

Die analytischen Betrachtungen der IL versuchen hingegen, genau das zu vermeiden, wozu eine begriffliche Bestimmung für revolutionäre Politik wesentlich ist, nämlich zur Einordnung und Charakterisierung eines bestimmten Konflikts. Nachdem die IL Berlin mehrere Begriffe als (partiell) tauglich durchgegangen ist, wissen wir letztlich noch immer nicht, wie sie die Verhältnisse in Palästina/Israel einschätzt. Vielmehr heißt es:

„Trotzdem halten wir Analysen, welche den Staat Israel allein als koloniale Macht interpretieren, für unzureichend.“ Und weiter nach einer historisch verkürzten Darstellung des Zionismus und dem Verweis auf die Nakba: „Die Geschichte dieser Region ist komplex und sie in einfache, schematische Erzählungen einzufügen, führt zu Verzerrungen. Den einen scheint es heute schwer, Israel als ‚Täter’ zu sehen – sie relativieren die Verbrechen der Armee, beschönigen die Besatzung und markieren alles als antisemitisch, was den Staat ansatzweise kritisiert. Den anderen scheint es unmöglich, die Geschichte der Staatsgründung Israels als Folge des europäischen Antisemitismus und der Shoah zu verstehen. Israel als Schutzraum für viele Jüdinnen und Juden und gleichzeitig als ‚Täter’ – dieser Komplexität müssen wir uns als Linke stellen.“

Statt eine konkrete Bestimmung des Charakters Israels durchzuführen, die auch widersprüchliche Elemente der Genesis des Staats inkludieren soll, bleibt die IL bei einem scheinbar „differenzierten“, in Wirklichkeit aber unverbindlichen „Es gibt diese und jene Seiten“ stehen. Die Frage, warum der von ihr zu Recht als nichtsymmetrischer Krieg bezeichnete gegen Gaza und Westbank ein solcher ist, taucht nicht auf.

In der IL-Analyse fehlt der Bezug darauf, dass der israelische Staat ein Unterdrückerstaat ist, der auf der Vertreibung und Unterdrückung des palästinensischen Volkes basiert. Daher fehlt auch jeder Bezug darauf, dass sich die jüdisch-israelische Nation mit Staatsgründung zu einer herrschenden aufschwung, die palästinensische zu einer unterdrückten geriet. Das wesentliche am Zionismus als Ideologie und Staatsverfassung besteht heute darin, dass er zur Doktrin und Rechtfertigungsideologie genau dieser Unterdrückung wurde.

Natürlich unterscheidet sich dabei die israelische Apartheid durchaus von der südafrikanischen, die auf Überausbeutung schwarzer Lohnarbeit zielte, während die israelische gerade seit der 2. Intifada auf Ersetzung und Marginalisierung palästinensischer Arbeitskraft zielt (insb. was die Bevölkerung Gazas betrifft). Auch der Siedlerkolonialismus hat sich seit 1948 verändert. Der israelische Staat basiert einerseits auf seiner Fortsetzung und Permanenz, andererseits auch auf einer modernen kapitalistischen Wirtschaft und Ausbeutung, die jedoch beide in einem expansiven, zionistischen Staatsprojekt verzahnt sind.

Wir teilen die Forderungen der IL, dass eine revolutionäre Perspektive die eines friedlichen Zusammenlebens der palästinensischen und jüdischen Nation (und aller anderen Nationalitäten) beinhalten muss. Dem steht jedoch als aktuelles Haupthindernis der israelische Staat entgegen. Was die Unterdrückung der Palästinenser:innen betrifft, ist das offenkundig, da er letztlich in seinen Grundfesten erschüttert würde, wenngleich nur bürgerlich-demokratische Rechte für die Palästinenser:innen eingeführt würden, die „radikale Linke“ in anderen Ländern als Selbstverständlichkeit fordern. So gibt es für Palästinenser:innen keine offenen Grenzen nach Israel, denn das würde faktisch ihr Recht auf Rückkehr bedeuten.

Wir ziehen daraus – wie etliche andere in der Solidaritätsbewegung – die Schlussfolgerung, dass nur ein gemeinsamer, binationaler sozialistischer Staat diese demokratischen Rechte (Rückkehr aller Vertriebenen, Zusammenleben beider Nationen, Anerkennung von deren Existenzrecht) friedlich und dauerhaft wird gewährleisten können, weil nur auf Basis des Gemeineigentums eine befriedigende materielle Lösung des Rechts auf Rückkehr und eine Neuverteilung der Ressourcen des Landes möglich sein wird.

In diesem Zusammenhang weisen wir auch die Vorstellung der IL zurück, dass Israel ein Schutzraum für das jüdische Volk gegen den Antisemitismus wäre. Im Gegenteil! Die Bindung der jüdisch-israelischen Arbeiter:innenklasse an den Zionismus kettet sie an einen Unterdrückerstaat und an ihre „eigene“ Bourgeoisie, ganz so wie die Unterstützung des deutschen Imperialismus die deutsche Arbeiter:innenklasse an ihre Bourgeoisie und deren Imperialismus. Um sich selbst zu befreien, muss die jüdische Arbeiter:innenklasse mit dem Zionismus brechen. Daher müssen wir alle antizionistischen, proletarischen und fortschrittlichen Kräfte in Israel stärken. Ein Teil des Bruchs mit dem Zionismus muss dabei notwendigerweise die Solidarität mit den Unterdrückten beinhalten, also dem palästinensischen Volk und dessen Recht auf Selbstbestimmung.

Der 7. Oktober

Das inkludiert auch die Anerkennung seines Widerstandes, selbst wenn wir die Strategie und Politik seiner Führung grundsätzlich ablehnen oder kritisieren mögen. Die Politik der Hamas ist islamistisch und zutiefst reaktionär, die Politik der Fatah nationalistisch und bürgerlich-konservativ. Und wir kritisieren die politische Unterordnung von palästinensischen Linken unter die Hamas bzw. auch unter Bündnisse mit vorgeblich antiimperialistischen Regimen im Nahen Osten (Syrien, Iran). Darin stimmen wir mit der IL überein.

Aber bei aller Forderung nach differenzierter Analyse, bei allen Widersprüchlichkeiten, die den Text durchziehen, stellt für die IL der 7. Oktober ein singuläres Ereignis dar. „Was am 7.10. passiert ist, bewegt sich für uns jedoch weit außerhalb der Grenzen von politisch legitimem Widerstand. Es war ein von Antisemit:innen begangenes Massaker.“

Wir halten das für einseitig und damit falsch. Der Ausbruch aus dem Freiluftgefängnis Gaza war ein legitimer Akt (egal ob man ihn angesichts der zu befürchtenden Reaktion des Staats Israel für richtig hält oder nicht). Wir halten es in einem Krieg ebenso für legitim, militärische Anlagen des Gegners anzugreifen, auf Bomben und Artilleriebeschuss mit Raketen zu antworten. Zugleich haben wir in unseren Stellungnahmen und Texten von Beginn an klargemacht, dass wir die willkürliche Tötung von oder Massaker an israelischen Zivilist:innen ablehnen und verurteilen. Dies könnt ihr gerne nachlesen, z. B. unter „Resolution zum Krieg gegen Gaza“ vom 26. Oktober 2023.

Auch wenn die IL-Stellungnahmen davon schreiben, dass es einen „Kontext“ gibt, der dem 7. Oktober vorangegangen ist, so findet dieser keinen Eingang in Eure Betrachtung.

Doch damit nicht genug. Die IL unterstellt der Solidaritätsbewegung insgesamt ein Schweigen zur Hamas und eine Relativierung des Antisemitismus, obwohl doch viele selbst Gegner:innen der Hamas seien. „Gerade deshalb verstehen wir nicht, warum entsprechende, den 7. Oktober verherrlichende Statements teils nie gelöscht, geschweige denn ihre Veröffentlichung kritisch reflektiert wurde.“

Erstens besteht die Solidaritätsbewegung aus zahlreichen Gruppierungen, die auch unterschiedlich differenzierte Stellungnahmen zum 7. Oktober veröffentlicht haben. Etliche oder vielleicht auch viele davon erkennen die Legitimität eines gewaltsamen Ausbruchs an, die allermeisten verurteilen zugleich Massaker und Angriffe auf die Zivilbevölkerung und erheben öffentlich Kritik daran. Die Erklärung der IL beschäftigt sich interessanterweise erst gar nicht damit, sondern mit nicht näher definierten, den 7. Oktober verherrlichenden Statements.

Zweitens soll offenkundig der Eindruck einer unkritischen Haltung zur Hamas vermittelt werden – und damit auch eine Rechtfertigung dafür, sich selbst an Protesten gegen den Mord an Zehntausenden nicht zu beteiligen.

Alle Teil des „Systems Belagerung“

Im Grunde weiß auch die IL Berlin, dass die meisten Kräfte der Solidaritätsbewegung der Hamas überaus kritisch gegenüberstehen. Sie bringt aber noch ein Argument ins Spiel, nämlich dass diese in Palästina taktische und militärische Absprachen mit der Hamas oder anderen Islamist:innen in Erwägung ziehen würden, was die IL moralisch entrüstet als Tabu linker Politik betrachtet. In Wirklichkeit macht sie es sich hier bloß einfach, weil sie von den Kampfbedingungen palästinensischer Linker wie überhaupt der Bewegung abstrahiert, ja die These auftischt, dass im Grunde die Hamas und ihre Verbündeten (inklusive der palästinensischen Linken) „Teil des Systems Belagerung“ seien.

„Das finden wir falsch, auch weil die Hamas und ihre Verbündeten Teil des Systems Belagerung sind und nicht dessen Gegner. Die Hamas braucht die regelmäßige Eskalation des Konfliktes zum Machterhalt, ähnlich wie die Netanjahu-Regierung. Und selbst wenn sie ein ernsthaftes Interesse an einem Ende der Belagerung hätte, wird es mit ihr keine Befreiung der palästinensischen Bevölkerung geben, sondern nur den Wechsel vom einen repressiven Herrschaftsregime zum anderen.“

Hier finden sich gleich mehrere Verdrehungen. Nicht nur die Hamas, sondern auch deren Verbündete, womit wohl nur die palästinensische Linke gemeint sein kann, werden als Teil des Systems Belagerung denunziert. Hier wird davon abstrahiert, wer es denn überhaupt erst geschaffen hat, wer Gaza seit 2006 abriegelte, bombardierte, dort einmarschiert. Letztlich wird so getan, als seien Besatzungsmacht und Besetzte gleichermaßen schuld, weil sie ja ständig „eskalieren“ würden. Zudem wird davon abstrahiert, dass das System Besatzung auch wesentlich die Handlungsoptionen der Bevölkerung des besetzten, abgeriegelten, einem Freiluftgefängnis ähnlichen Gebietes diktiert, dementsprechend auch die „Eskalation“, also das Zurückschießen zu einer der wenigen Optionen macht, mit denen der Gegner getroffen werden kann. Schließlich ignoriert die IL auch massive Repression gegen andere, zivile Formen des Widerstandes aus Gaza, die selbst blutig niedergeschlagen wurden und somit auch dazu beitrugen, dass der gewaltsame Ausbruch als eine der letzten Optionen erschien.

Die Scheidung zwischen Unterdrückten und Unterdrücker:innen spielt für die IL hier offenkundig keine Rolle. Sie abstrahiert davon, dass, ob wir das wollen oder nicht, die Hamas und ihre Verbündeten einen Teil des palästinensischen Widerstandes verkörpern, die über eine reale Verankerung unter den Massen verfügen, weil sie trotz ihrer sonstigen Fehler oder reaktionären Ausrichtung einen Kampf gegen wirkliche nationale Unterdrückung führen. Dieser Gesichtspunkt, der für das Verständnis der Lage, vor allem aber auch für das Bewusstsein und die Situation des palästinensischen Volkes von grundlegender Bedeutung ist und den jede revolutionäre Politik einbeziehen muss, stellt für die IL ein Buch mit sieben Siegeln dar.

Schlimmer noch: Selbst wenn es doch anders wäre, also der Widerstand ein Interesse an seinem eigenen Sieg hätte, so wäre das erst recht schlecht. Ein Sieg unter Führung der Hamas würde nur die Unterdrücker:innen wechseln, spielte also keine Rolle. Natürlich kann ein solcher unter Führung Hamas (oder auch jeder anderen bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Kraft) zur Schaffung eines neuen Unterdrückerstaates, gewissermaßen unter umgekehrten Vorzeichen führen.

Doch die Tatsache, dass die Hamas heute eine zentrale Kraft ist, bedeutet keineswegs, dass sie das bleiben muss. Ob sie von anderen, fortschrittlichen Kräften abgelöst werden kann, hängt wesentlich davon ab, ob sich diese herausbilden und in der Praxis als führende Kraft des Widerstandes erweisen können. Doch das setzt die Beteiligung am Kampf voraus, ansonsten verdammen sich diese zur Isolierung und überlassen faktisch anderen das politische Terrain.

Grundsätzlich besteht in jedem nationalen Befreiungskampf, in jedem antiimperialistischen oder antikolonialen Kampf, der nicht vom Proletariat geführt und in einer sozialistischen Umwälzung endet, die Möglichkeit, dass die einstigen Unterdrückten zu neuen Unterdrücker:innen werden. Doch diese als Vorwand dafür zu nehmen, dem Kampf selbst den Rücken zu kehren, eine vorgeblich „neutrale“ Position einzunehmen, läuft letztlich auf die Akzeptanz des Bestehenden hinaus, in der utopischen Hoffnung auf eine/n Schlichter:in von außen. Nachdem für die IL die israelische Regierung und die palästinensische Bewegung gleichermaßen reaktionär sind, bleibt nur noch die Hoffnung auf eine/n recht überraschende/n Friedensstifter:in:

„Von der rechten Regierung in Israel kann kein ernstzunehmender Frieden in der Region erwartet werden, genauso wenig wie von der Hamas. Es braucht internationalen Druck und die deutsche Bundesregierung ist in der Position, diesen Druck aufzubauen.“

Diese recht kuriose Formulierung ist letztlich kein Zufall, sondern die logische Konsequenz, wenn sich in Israel/Palästina selbst keine Kräfte finden, die Frieden schaffen können. Dann bleiben nur noch die UNO, die Weltpolizei oder die Bundesregierung.

Nationale Frage und Internationalismus

Eine revolutionäre Strategie hingegen inkludiert auch die Anerkennung eines Widerstandes, selbst wenn wir die Strategie und Politik seiner Führung grundsätzlich ablehnen oder kritisieren mögen. Dass antikoloniale oder antiimperialistische Bewegungen von reaktionären Parteien und Kräften geführt werden, stellt keine Besonderheit Palästinas dar. Im Grunde wurden fast alle diese Kämpfe in den letzten Jahren von kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Kräften geführt. Dies rührt nicht nur daher, dass sie politisch heterogen sind, sondern auch aus unterschiedlichen, teilweise gegensätzlichen Klassen bestehen.

Umgekehrt stellt die nationale Unterdrückung, die Scheidung zwischen unterdrückten und unterdrückenden Nationen, ein grundlegendes Merkmal der imperialistischen Epoche dar. Für Revolutionär:innen kann sich die Frage, wie wir zu diesen Kämpfen und Bewegungen stehen, dabei nicht darauf beschränken, nur mit „emanzipatorischen Strömungen“ solidarisch zu sein. Das liegt zum einen daran, dass auch diese einen bestimmten Klassencharakter tragen, also meist linkskleinbürgerlicher Natur sind, keine sozialistische Perspektive verfolgen und wie z. B. im Fall der kurdischen Bewegung in Rojava vor fragwürdigen Bündnisse mit imperialistischen Kräften wie den USA nicht zurückschrecken. Trotzdem haben wir unsere und auch Ihr als IL Eure Solidarität mit dem Widerstandskampf des kurdischen Volkes nicht ad acta gelegt, als sie z. B. vom türkischen Staat angegriffen wurden. Wohl aber sollte eine solche Unterstützung sich nur auf bestimmte gemeinsame Ziele beschränken, nicht auf die Politik der PYD und anderen kleinbürgerlich-nationalistischen kurdischen Strömungen und Parteien.

Dieselbe Herangehensweise vertreten wir in Palästina. Wir machen unsere Solidarität mit dem Befreiungskampf nicht vom Charakter der aktuellen Führung des palästinensischen Volkes abhängig. Warum? Weil der Kampf gegen Unterdrückung und Besatzung auch legitim ist, wenn die lohnabhängigen und bäuerlichen Massen einer falschen Ideologie, Führung und Politik folgen. Dies trifft im Übrigen auf die meisten antikolonialen und antiimperialistischen Bewegungen zu.

Unsere Aufgabe als revolutionäre Internationalist:innen besteht nicht darin, erst solidarisch zu sein, wenn uns die Kombattant:innen ideologisch „fortschrittlich“ genug erscheinen, sondern wenn sie einen gerechtfertigten Kampf führen. Zugleich versuchen wir, im Rahmen dieser Grundhaltung mit jenen Kräften in Verbindung zu gelangen, die wie wir dafür eintreten, dass die Arbeiter:innenklasse, gestützt auf eine revolutionäre Partei, zur führenden Kraft wird und den Kampf gegen Unterdrückung mit dem gegen kapitalistische Ausbeutung verbindet. Dies wird aber nur möglich sein, wenn sich eine solche Kraft selbst aktiv am Widerstand gegen die aktuelle Hauptform der Unterdrückung beteiligt, wenn auch mit eigenen Methoden und eigener Programmatik. Tut sie das nicht, wird sie zu Recht als passive, den realen Unterdrückungserfahrungen bloß kommentierend gegenüberstehende Gruppierung wahrgenommen und nie in der Lage sein, den Einfluss reaktionärer Kräfte zu brechen.

Die IL und ihre Stellungnahme werfen jedoch diese Fragen erst gar nicht auf. Wie revolutionäre Kräfte in Palästina und Israel agieren sollen, erscheint außerhalb der eigenen Überlegungen. Wir halten dies für einen grundlegenden Mangel nicht nur der IL, sondern eines großen Teils der deutschen Linken und eines verkürzten Solidaritätsbegriffs. Internationale Solidarität erscheint so bloß als Unterstützung/Nichtunterstützung dieses oder jenes Kampfes. Mit wem Solidarität geübt wird, hängt letztlich von der ideologischen Nähe ab. So erscheint die kurdische Bewegung der IL und anderen postautonomen Kräften als „nahe“, gewissermaßen artverwandt. Bei anderen, sicher auch komplexen Kriegen und Konflikten wie in der Ukraine oder Palästina, wo keine Akteurin ähnlich der PYD sichtbar ist, bleibt die Solidarität aus.

Für uns hingegen bedeutet Internationalismus wesentlich den Aufbau einer politisch und programmatisch einheitlichen länderübergreifenden Organisation, einer neuen revolutionären Internationale. Daher stellt für uns die Beschäftigung damit, welche Politik in zentralen Klassenkämpfen, Kriegen, Aufständen etc. einzuschlagen wäre, ein wesentliches Moment revolutionärer Politik dar. Ansonsten bleibt „linksradikale“ Politik letztlich nationalborniert, Internationalismus bloß die Summe verschiedener nationaler Politiken.

Wer sich raushält, den holen die Verhältnisse ein!

Die IL selbst konstatiert in ihre Erklärung, dass sie die gesamte Frage letztlich aus einem vornehmlich nationalen Gesichtspunkt betrachtet. „Lange haben wir uns bewusst dagegen entschieden, eine Position oder Praxis zu Israel/Palästina zu entwickeln. Angesichts der teils absurden Konflikte und Spaltungslinien, zu denen das Thema in der deutschen Linken geführt hat, vielleicht eine zumindest nachvollziehbare Entscheidung. Doch in den letzten Jahren kam es nicht nur wiederholt zu Eskalationen des Krieges, diese hatten auch Konsequenzen in der deutschen Gesellschaft, u. a. steigenden Antisemitismus und eine sich zuspitzende Kriminalisierung der palästinensischen Bewegung (Stichwort BDS-Resolutionen).“

Solange der Krieg zu keinen Konsequenzen in der deutschen Gesellschaft führte, war es anscheinend politisch richtig, sich nicht weiter zu Palästina zu positionieren. Schließlich liegt das weit weg und führt zu Spaltungslinien, die man doch in der IL vermeiden wollte. Stattdessen konzentrierte man sich auf Kampagnenarbeit, die man von einem umstrittenen Befreiungskampf nicht beflecken lassen wollte. Internationale Solidaritätsaktionen organisierte die IL aber zu Rojava, dessen fortschrittlicher Charakter im linken und postautonomen Milieu weitgehend unumstritten war.

Heute fällt der IL dieses „Raushalten“ auf die Füße. Doch statt die eigene Ignoranz und Nationalborniertheit kritisch zu hinterfragen, will sie nachträglich noch Absolution erbitten für eine „vielleicht nachvollziehbare Entscheidung“. Die Bedeutung des palästinensischen Kampfes und die Konfliktlinien in der deutschen Linken verdeutlichen nur, wie notwendig eine Analyse und Positionierung war. Die IL und mit ihr allzu viele deutsche „radikale“ Linke betrachteten hingegen den „Nahostkonflikt“ in erster Linie als Störfaktor für ihre imaginäre Einheit. Selbst heute, wo diese Herangehensweise der IL auf die Füße fällt (was noch das geringste Problem dabei ist), redet die Stellungnahme die Tatsache schön, dass sich die Genoss:innen der IL zu keiner gemeinsamen Haltung zur Solidaritätsbewegung entschließen können, als „Wunsch, zu einfach gezeichneten Dichotomien zu entkommen“, schön.

In Wirklichkeit steht sie für Entsolidarisierung, Sektierertum und Ultimatismus gegenüber einer realen Solidaritätsbewegung, die einer staatlichen Repression und medialer Hetze neuen, dramatischen Ausmaßes ausgesetzt ist. Und die IL führt dabei Ausschlusskriterien für eine (kritische) Unterstützung und Zusammenarbeit an, die ihr bei ihren eigenen Kampagnen und breiten, flexiblen Bündnissen fremd sind. So gab es nie Kritik oder auch nur Bedenken an der Zusammenarbeit mit Grünen, SPD, Linkspartei, den rot-grün-roten Senaten und dem Gewerkschaftsapparat bei DWe. Im Gegenteil, die IL stand nicht nur für taktische Zusammenarbeit bei einer bestimmten Aktion, sondern ihre führenden Aktivist:innen verteidigten auch gleich ihre bürgerlichen und reformistischen Partner:innen gegen jede Kritik.

Das Problem liegt dabei nicht in der taktischen Zusammenarbeit mit reformistischen Parteien. Aber es wirft ein bezeichnendes Licht auf Opportunismus und Sektierertum in der IL. Während man kein Problem in der oft weitgehend kritiklosen Zusammenarbeit mit Parteien sieht, die den deutschen Imperialismus maßgeblich mitverwalten, reichen ein paar angeblich ungelöschte Posts als Vorwand, sich einer Bewegung in Solidarität mit Gaza, mit Zehntausenden Toten zu verweigern.

Es wirkt geradezu zynisch, wenn die IL ihre Erklärung mit den Worten beendet: „Dieser Krieg muss enden, ceasefire now!“ Wer diese Ziele will, muss auch die Mittel wollen, sie zu erreichen. Und das geht nur über die Stärkung, Koordinierung, Verbreiterung der Solidaritätsbewegung. Es gibt keine anderen!




Ukraine: Kampf um „Friedensverhandlungen“

Markus Lehner, Neue Internationale 283, Juni 2024

In den letzten Wochen ist in den festgefahrenen Ukrainekrieg wieder etwas Bewegung gekommen – an mehreren „Fronten“. Einerseits geriet die Ukraine in eine Schwächephase, die vom russischen Militär an mehreren Frontabschnitten ausgenutzt wurde. Zugleich verkündete Putin die Möglichkeit eines längerfristigen Waffenstillstandsabkommens, während andererseits die Ukraine und ihre westlichen Verbündeten auf eine „Friedenskonferenz“ in der Schweiz im Juni setzen. Schließlich machen auch die Hauptschuldner:innen der Ukraine Druck, der das kriegsgebeutelte Land an den Rand der Zahlungsunfähigkeit führen könnte.

Robuster als erwartet

Hintergrund dieser Entwicklungen ist sicherlich, dass sich der russische Imperialismus als robuster erwiesen hat, als seine westlichen Widersacher:innen es wohl erwartet haben. Trotz der Wirtschaftssanktionen gelang der Umbau der Ökonomie auf Kriegswirtschaft. Die Neubesetzung des Verteidigungsministers mit einem Ökonomen ist ein deutliches Zeichen der Stärkung des militärisch-industriellen Komplexes in der russischen Führung. Auch das viel größere Bevölkerungsreservoir der russischen Föderation gegenüber der Ukraine schlägt inzwischen voll durch: Der russischen Seite gelingt es auch ohne eine neue Zwangsmobilisierung, durch wirtschaftliche Anreize genügend neue Soldat:innen in die eigenen Reihen zu bringen (angesichts der immer prekärer werdenden Versorgungslage der „Normalbevölkerung“ in Russland), während die Ukraine in ernsten Personalnöten steckt.

Dies wurde besonders Anfang Mai deutlich, als russische Truppen westlich von Donezk bei Otscheretyne an einem mehrere Kilometer breiten Streifen die Front durchbrachen. Grund war wohl, dass eine ukrainische Brigade es leid war, auf die lange versprochene Ablösung zu warten, und abzog, bevor der Ersatz ankam. Dies war einer der Durchbrüche, die jetzt die Gefahr einer Zangenbewegung auf Pokrowsk und damit den Fall der restlichen Teile der Oblast Donezk heraufbeschworen. Die ukrainische Regierung reagierte mit einer umfassenden und stark repressiven Mobilisierungswelle, um schneller ermüdete Fronttruppen austauschen zu können – was allerdings die Gefahr mit sich bringt, dass schlecht ausgebildete Truppen mit komplizierter westlicher Militärtechnologie sofort ins Gefecht geschickt werden. Zur Personalnot kommt, dass die auf Massenproduktion umgestellte Kriegsproduktion in Russland derzeit z. B. bei Artilleriemunition nicht durch Lieferungen aus dem Westen kompensiert werden kann. Auch wenn insbesondere die aus der Tschechischen Republik hier für teilweisen Ausgleich sorgten, ist die westliche Rüstungsproduktion weit von der Quantität der russischen entfernt.

Das wird jetzt auch durch die Freigabe der US-Hilfsgelder nicht wirklich rasch kompensiert, da die Rüstungsproduktion (außerhalb Tschechiens) noch lange nicht in der notwendigen Weise hochgefahren wurde. Die Diskussion um einzelne Technologien wie das Taurus-System (deutsch-schwedischer Marschflugkörper) lenkt dabei teilweise davon ab, dass der Westen für einen von ihm ausgerüsteten „Sieg der Ukraine“ sehr viel mehr Prozente des BIP auf Kriegsproduktion umstellen müsste.

Vorstöße

Kein Wunder, dass Frankreichs Präsident Macron in dieser angespannten Situation unverblümt den unmittelbaren Einsatz von NATO-Truppen in der Ukraine als kleineres Übel zu verkaufen begann. Militaristen wie der CDU-Abgeordnete Kiesewetter bringen eine direkte NATO-Intervention in Form einer Übernahme der Luftraumverteidigung im Westen der Ukraine ins Spiel, also faktisch die Errichtung einer Flugverbotszone. Würden die Vorschläge Macrons und Kiesewetters angenommen, würden sie zu eine direkten Konfrontation von NATO-Truppen mit Russland führen. Das würde nicht nur den Charakter des Kriegs in der Ukraine selbst ändern, den ganzen Krieg weiter eskalieren und zu einer Veränderung der bisherigen westlichen Strategie führen, die bislang auch immer verhindern wollte, dass es zu einem Krieg zwischen Russland und der NATO kommt.

Fakt ist jedenfalls, dass es noch einige Monate brauchen wird, bis die Ukraine aus ihrer Material- und Personalnot wieder herauskommt und ihre Fronten stabilisieren wird können. Daher nutzt das russische Militär jede Gelegenheit, um weitere Nadelstiche zu setzen. So wurde seit dem 10. Mai eine weitere Front nordöstlich von Charkiw eröffnet, mit Durchbrüchen bei Wowtschansk und Lypzi mit Zielrichtung entlang des Oskilflusses (auch: Oskol). Wie erfolgreich auch immer der Durchbruch war, so hat jedenfalls die Leichtigkeit der Überwindung der angeblichen Befestigungsanlagen dort für Entsetzen gesorgt. Inzwischen sind etliche Vorwürfe, auch der Korruption, rund um die militärisch Verantwortlichen in der Region laut geworden. Weitere größere russische Verbände scheinen auch bei Sudscha nordwestlich von Charkiw aufzumarschieren, und drohen, in die Nachbaroblast Sumy einzumarschieren. Damit ist die ukrainische Militärführung gezwungen, viele ihrer Reservetruppen rund um Charkiw einzusetzen, die damit dringend benötigte Ablösungen an der Front um Donezk unmöglich machen.

„Friedens“diplomatie

Klar, dass Putin diese Situation ausnutzt, um ein „großzügiges“ Friedensangebot in die Welt zu setzen. Laut Veröffentlichungen der Pressestelle des Präsidenten wird der Ukraine angeboten, die Kampfhandlungen beim gegenwärtigen Frontverlauf einzufrieren und Verhandlungen zu beginnen, dies zur Grundlage für einen endgültigen Grenzverlauf zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation zu machen. Nachdem dies, wie zu erwarten war, von der ukrainischen Regierung umgehend abgewiesen wurde, schlug die russische Regierung laut Reuters gleich direkte Verhandlungen mit den USA in diesem Sinne vor.

Die ukrainische Regierung und ihre westlichen Verbündeten setzen stattdessen schon seit längerem auf eine im Juni beginnende Friedenskonferenz am Vierwaldstätter See, zu der die Schweiz laut eigenen Angaben an die 160 Länder eingeladen hat – zu denen die Russische Föderation allerdings nicht gehört. Kalkül der westlichen Diplomatie ist vor allem, die „Gesprächspartner:innen“ Russlands, insbesondere China, Brasilien, Indien und Südafrika zu der Konferenz zu bringen, um so Druck auf Putin aufbauen zu können. Viele westliche Regierungschef:innen fuhren insbesondere nach Peking, um der dortigen Partei- und Staatsführung die Wichtigkeit der Teilnahme zu erklären – und waren dafür wohl auf anderen Gebieten zu Zugeständnissen bereit. Nachdem bei Letzterem dann wohl doch nicht soviel rüberkam (siehe die Entwicklung bei den US-Strafzöllen) kamen in den letzten Tagen eindeutige Absagen von China und Brasilien an den Trip zum Vierwaldstätter See.

Weit entfernt von einer „Lösung“

Dieses diplomatisch-propagandistische Getöse um vorgebliche „Friedensgespräche“ zeigt, wie weit man noch von einer tatsächlichen Lösung entfernt ist. Die Tiefe des Konflikts zwischen den imperialistischen Mächten und der ungebrochene Wille der ukrainischen Bevölkerung, nicht vor der russischen Okkupation einzuknicken, lassen derzeit wohl keinen interimperialistischen Deal zur Befriedung des Konfliktes erwarten. Dies zeigt umso mehr, wie notwendig es ist, dass die Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen in der Region selber zu Akteur:innen werden, um dieser menschenmörderischen Materialschlacht ein Ende zu setzen. Schließlich geht es nicht um „Wiederherstellung völkerrechtlich eindeutiger Grenzen“ oder „Wahrung der russischen Einflusssphäre“ bzw. ähnlich abstrakte Prinzipen wie jetzt angeblich für einen „gerechten Frieden“ – es geht letztlich darum, wie und unter welchen Bedingungen die Mehrheit der Menschen in den umkämpften Gebieten tatsächlich leben will.

Einen Schlüssel für einen wirklichen Frieden hat natürlich das russische Proletariat. Die wachsende Unzufriedenheit mit der miesen Versorgungslage in Russland wie auch die stetig steigende Zahl von Opfern des Krieges wird langsam aber sicher zum Problem für das Putin-Regime. Schon vor dem Krieg hatten wichtige Sektoren der russischen Industrie ein Arbeitskräftemangelproblem. Derzeit fehlen laut Bloomberg allein der russischen Öl- und Gasindustrie über 40.000 Arbeitskräfte, da man selbst in dieser bisher am besten zahlenden Industrie inzwischen weitaus weniger verdient als in der Armee. Streiks waren in den letzten Jahren eher eine Seltenheit, könnten aber angesichts dieser Angebots-Nachfrageschere unausweichlich sein. Wichtig ist daher, dass die 30 Millionen gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen ihre Putin-treuen Führungen durch eine klassenkämpferische Alternative ersetzen. Insbesondere Streiks in der Rüstungsindustrie würden der russischen Militärmaschinerie in der Ukraine rasch Sand ins Getriebe streuen.

In der Ukraine wächst nicht nur die Unzufriedenheit mit wachsendem korrupten Autoritarismus in der politischen und militärischen Führung. Es wird auch deutlich, dass die „Freund:innen“ im Westen besondere Prioritäten in Form ihrer Unterstützung der ukrainischen Regierung verfolgen. So wurde etwa nach einem Bericht des Wallstreet-Journals von Anfang Mai auf einer Konferenz der wichtigsten Gläubiger:innen der Ukraine betont, dass die Geduld von BlackRock, PIMCO etc. mit der Ukraine zu Ende geht, was die Stundung von Zinszahlungen betrifft – man hatte nicht mit einem so langen Krieg gerechnet! Sie verlangen ab nächstem Jahr Zinszahlungen in der Höhe von 500 Millionen US-Dollar jährlich, während die staatlichen Geldgeber:innen (für ihre Steuerzahler:innen) bis 2027 auf Rückzahlungen verzichtet haben. Jenseits von Phantasien um die Beschlagnahme russischen Auslandsvermögens droht ein ukrainischer Staatsbankrott. Wie die ukrainische Wirtschaft dies bewältigen soll, ist klar – wofür hat man denn das Arbeitsrecht de facto abgeschafft und die ukrainische Landwirtschaft zum Dumping-Eldorado des globalen Agrobusiness umgewandelt? In den letzten Jahren und vor allem während des Kriegs haben ukrainische Agrarkonzerne wie die Kernel Holding, vor allem aber westliche Multis wie Bayer/Monsanto, DuPont und Cargill begonnen, die Landwirtschaft und Agrarflächen zu übernehmen – vor allem auf Kosten der Rund 8 Millionen Kleinbäuerinnen und -bauern. Der Ukrainekrieg wird von den Herrschenden des „demokratischen Westens“ vor allem zur eigenen Bereicherung genutzt. Ebenso dient er als Vorwand für Hochrüstung und Militarisierung in den NATO-Ländern, während die Ukraine weiterhin nur mit dem Nötigsten versorgt wird, um nicht unter den russischen Militärschlägen zusammenzubrechen.

Unabhängigkeitskampf in Arbeiter:innenhand!

Es ist an der Zeit, dass die Arbeiter:innenklasse in der Ukraine selbst die Führung des Kampfs um eine wirkliche Unabhängigkeit der Ukraine – sowohl vom russischen wie vom westlichen Imperialismus – übernimmt, also eine wirksame Verteidigung gegen russische Angriffe mit dem Kampf um soziale Rechte, Schuldenstreichung und Enteignung aller imperialistischen Investments verbindet. Auch wenn wir das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung und die Beschaffung der dafür nötigen Mittel anerkennen, so müssen Revolutionär:innen in der Ukraine und im Westen vor den Illusionen warnen, dass die gegenwärtige militärische Unterstützung der NATO-Staaten wirklich der Unabhängigkeit dient. Vielmehr sind diese Lieferungen mit der Bedingung der Sicherung der eigenen Einfluss- und Ausbeutungssphäre verknüpft und letztlich nicht auf wirkliche Selbstbestimmung für die gesamte Ukraine ausgerichtet, sondern sollen dem Westen Beute bringen. Ob diese Rechnung aufgeht oder die ukrainischen Massen diese durchkreuzen, hängt letztlich davon ab, ob es der Arbeiter:innenklasse gelingt, eine eigene revolutionäre Partei aufzubauen, die den Kampf gegen die russische Okkupation mit dem für eine sozialistische Ukraine verknüpft.

Ein solcher wirklicher Unabhängigkeitskampf in Europa kann nie und nimmer bei Fortbestehen der NATO – dieses Bollwerks für westliche Investorensicherheit – gelingen. Die Zerschlagung der NATO zusammen mit der imperialistischen russischen Militärmaschinerie ist vielmehr die Voraussetzung für einen Frieden, der letztlich nur in Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas von Dauer sein kann.

Dies mag heute utopisch erscheinen – es ist aber realistisch im Vergleich zu „Friedensverhandlungen“, die jetzt von offizieller Seite her vorgeführt werden und auf Dauer kein Ende des Gemetzels hervorbringen werden – sondern nur einen Zustand, der die Voraussetzung für einen nächsten Krieg darstellt.




Massenbewegung zwingt Regierung in Jammu und Kaschmir zum Rückzug

Imran Javed, Neue Internationale 283, Juni 2024

Die seit einem Jahr andauernde Bewegung im pakistanisch verwalteten Jammu und Kaschmir, eine Fortsetzung des Jahrzehnte währenden Kampfes gegen die Brutalität, Unterdrückung, Gewalt und Verhaftungen, zwang die herrschende Klasse zum Einlenken.  Am 13. Mai gab die pakistanische Regierung den Hauptforderungen der Protestbewegung nach und kündigte die sofortige Bereitstellung von 23 Milliarden Rupien (82.712.002 US-Dollar) für Asad Jammu und Kaschmir, den von Pakistan kontrollierten Teil Kaschmirs, an.

Die Regierung gewährte einen subventionierten Preis von 1.100 Rupien pro 40 Kilogramm Mehl und einen Zuschuss zu den Strompreisen. Außerdem gab sie auch einer Reihe anderer Forderungen nach, die im Mai 2023 erhoben worden waren, als die Bewegung aufgrund der massiven Preiserhöhungen, die die Arbeiter:innen und Bäuer:innen, aber auch das städtische Kleinbürgertum und die Mittelschicht trafen, begann. Ein Jahr lang dauerte die Massenbewegung an, beginnend mit Sitzstreiks und Boykottaktionen gegen die Stromrechnungen. Monatelang hatten sich sowohl die Regional- als auch die Zentralregierung geweigert, die Forderungen der Bewegung zu erfüllen, aber es war die Entschlossenheit, die Ausbreitung und die Radikalisierung des Kampfes, die sie schließlich zum Einlenken zwangen.

Massenkampf

Diese Radikalisierung war seit Herbst letzten Jahres zu beobachten. Im September 2023 fanden in allen größeren Städten des so genannten Asad Kaschmir Proteste mit Tausenden von Demonstrant:innen statt, und Händlerverbände, Transportunternehmen und Rechtsanwält:innen traten in den Streik. Auch für den 5. Februar 2024 wurde zum Streik aufgerufen, dem die Arbeiter:innen, aber auch die Händler in den Städten folgten.

Monatelang antworteten die Regierungen mit Repression und Gewalt. Letztlich scheiterten jedoch alle diese Taktiken angesichts einer Bewegung von Millionen von Menschen. Monatelang hatte die Regierung versucht, die Bewegung zu zerstören, indem sie den Verhandlungsprozess in die Länge zog. Doch die Empörung und Entschlossenheit der Massen wurde nur noch stärker, trotz der schwachen Strategie der Führung des Joint Awami Action Committee (JAAC), das stark von Teilen der Händler beeinflusst und geführt wurde. Die Führer:innen des Komitees waren zwar oft kleine Händler, Teile des Kleinbürgertums oder kleinere Kapitalist:innen, aber sie haben ihre Verbindungen zu den größeren Händlern nie gelöst.

Doch trotz der Bemühungen der Führung, eine Einigung auf der Grundlage einer unvollständigen Akzeptanz der Forderungen der Bewegung zu erzielen, konnten sie die Bewegung das ganze Jahr über nicht beenden. Sie wurde sogar noch stärker, weil Millionen mobilisiert wurden und der Druck auf die Führung enorm zunahm. Nach Ansicht des bekannten progressiven, nationalistischen Führers Tawqir Gilani ist der Erfolg der Volksbewegung eher dem Kampf und der Leidenschaft des Volkes zu verdanken als irgendeiner Führung oder Partei.

Auch die Führung des Joint Awami Action Committee hatte nicht mit einer derart spektakulären Bewegung gerechnet. Angesichts der öffentlichen Begeisterung für die Entscheidung, einen Langen Marsch zu organisieren, waren die Machthaber des so genannten Asad Kaschmir so erschrocken, dass sie Anfang Mai die pakistanische Regierung um eine Intervention baten. Diese Nachricht erzürnte die Öffentlichkeit, und am 6. Mai kam es in ganz Kaschmir zu Protesten gegen diese Entscheidung.

Die Tage im Mai

Anfang Mai 2024 dehnte sich die Bewegung auf einen weiteren Höhepunkt in ganz Kaschmir aus. Das Joint Awami Action Committee rief für Samstag, den 11. Mai, zu einem „Langen Marsch“ aus allen Teilen des Staates in die Hauptstadt von Jammu und Kaschmir auf. Diese allgemeine Massenmobilisierung legte das Land lahm.

Der Aufruf selbst war auch eine Reaktion auf die massiv verstärkte Repression. In der Nacht vom 8. auf den 9. Mai führte die Polizei in den drei Bezirken von Mirpur Razzien durch, und die Anführer:innen der Aktivist:innen wurden verhaftet. In Dadyal, Nikyal, Tatta Pani und anderen Städten begannen ein „Schließungsstreik“ und Proteste gegen diese Verhaftungen. Die Polizei beschoss die Demonstrant:innen in Dadyal mit Tränengas, wodurch viele  verletzt und mehr als ein Dutzend Schülerinnen der Government High School aufgrund des Tränengasbeschusses bewusstlos wurden.

Doch die Menschen wehrten sich. Mehrere Polizeibeamt:innen, darunter der stellvertretende Polizeipräsident, wurden ebenfalls verletzt, ein Auto des pakistanischen Geheimdienstes (ISI) wurde in Brand gesetzt. In der Stadt Dadyal kam es den ganzen Tag über zu Zusammenstößen zwischen Demonstrant:innen und der Polizei. Diese Serie von Verhaftungen weitete sich auf ganz Kaschmir aus, und eine große Zahl von Studentenführer:innen, Geschäftsleuten und politischen Mitarbeiter:innen wurde festgenommen.

Als Reaktion darauf setzte die Regierung zusätzliche Polizei und Grenztruppen ein. Die JAAC reagierte auf die Zusammenstöße, indem sie die Schließung ihrer Geschäfte ankündigte und für den 11. Mai zu einem Streik aufrief. Die Menschen wehrten sich mit Stöcken und Schlagstöcken gegen die Polizei und Sicherheitskräfte.

Am 12. Mai wurden 1.300 Rangers, paramilitärische, den US-Rangers nachempfundene Repressionskräfte, gegen die Bewegung eingesetzt. Drei Jugendliche wurden erschossen, Hunderte wurden verletzt. Dies war der letzte Versuch, die Bewegung mit Gewalt zu zerschlagen. Der Widerstand der Massen zwang die Rangers zum Rückzug. Die einjährige Bewegung führte zu Sitzstreiks und setzte den Kampf durch Streiks und öffentliche Kundgebungen fort, bis sie sich über ganz Kaschmir ausbreitete. Seit die Bewegung gegen die Stromrechnungen im Mai 2023 in Poonch begann, hatte sie sich nicht nur auf alle größeren Städte und Gemeinden, sondern auch die Dörfer ausgebreitet.

Die Führer:innen des Joint Awami Action Committee kündigten für Freitag, den 10. Mai, ab 12 Uhr mittags einen kompletten Streik in ganz Kaschmir an und erklärten, dass der Streik auf unbestimmte Zeit fortgesetzt werde und während dieser Zeit auch Proteste in verschiedenen Städten stattfinden sollten. Die Führer:innen riefen die Bevölkerung auf, sich auf einen entschlossenen Kampf vorzubereiten. Es fanden Sitzungen der studentischen Aktionsausschüsse statt, in denen beschlossen wurde, gemäß dem Beschluss des Joint Awami Action Committee eine führende Rolle bei der Organisation des Schließungsstreiks zu übernehmen. Alle Bezirksanwaltskammern, einschließlich der Anwaltskammer des Obersten Gerichtshofs, kündigten ebenfalls ihre volle Unterstützung an. Der Streik wurde fortgesetzt, bis der lange Marsch Muzaffarabad erreichte und die Forderungen akzeptiert wurden.

Ab Freitag, dem 10. Mai, wurde das normale Leben in allen kleinen und großen Städten in Kaschmir vollständig eingestellt und der Verkehr auf allen Straßen, die Jammu und Kaschmir mit Pakistan verbinden, unterbrochen. Tausende nahmen an Protestkundgebungen in verschiedenen Städten teil, protestierten und riefen Slogans gegen die staatliche Unterdrückung. Am 11. Mai begann der lange Marsch wie geplant. Als dieser lange Marsch Rawalakot erreichte, befanden sich zu diesem Zeitpunkt nach vorsichtigen Schätzungen Hunderttausende Demonstrant:innen darunter. Die Teilnehmer, die sich aus anderen Bezirken anschlossen, veränderten den Charakter des Langen Marsches. Es handelt sich um den größten Volksaufstand in der Geschichte des so genannten Asad Kaschmir.

Die Regierung macht einen Rückzieher

Aus Angst, die Bewegung könnte sich noch weiter ausbreiten und zu einer Doppelherrschaft in der Provinz führen, billigte der Premierminister am Abend des 13. Mai die beiden Hauptforderungen der Bewegung.

Diese Bewegung forderte die steuerfreie Lieferung von Strom zu den Produktionskosten der Mangla-Talsperre, die Lieferung von Mehl zu den Preisen von Gilgit-Baltistan (Sonderterritorium unter Bundesverwaltung und Teil Kaschmirs) und ein Ende der Privilegien der herrschenden Elite. Aufgrund des Ausmaßes und der Militanz dieser Bewegung wurde der Strompreis auf 3 bis 6 Rupien pro Einheit für Haushalts- und 10 bis 15 Rupien pro Einheit für gewerbliche Kund:innen festgesetzt, und es wurde beschlossen, die Mehlpreise um 1.100 Rupien pro 40 kg zu senken. Außerdem wurde beschlossen, die Rechnungen in einfachen Raten einzutreiben, mit Erleichterungen für Rechnungen, die 10 Monate lang boykottiert worden waren, und es wurde eine Mitteilung zur Einsetzung einer Justizkommission herausgegeben, um die Privilegien der herrschenden Elite zu beenden.

Haltung der herrschenden Klasse

Alle regierungsfreundlichen Parteien, einschließlich der PPP, haben diesen Kampf als Ergebnis einer Einmischung von außen bezeichnet. Die herrschende Klasse bezeichnete ihn auch als eine Verschwörung Indiens und versuchte, die Bewegung auf verschiedene Weise zu diskreditieren, um die Menschen von ihr zu entfremden.

Diese Bewegung und die Reaktion der herrschenden Klasse haben die Realität der Souveränität des so genannten Asad Kaschmir schonungslos offengelegt, d. h., dass die pakistanische Regierung in allen Fragen eine entscheidende Rolle spielt, und sie haben die nationale Unterdrückung Kaschmirs deutlich gemacht. Sie machte auch deutlich, dass die Regierung durch einen Massenkampf besiegt und ihre Forderungen durchgesetzt werden können, egal wie viel Druck der IWF ausübt, und dass ab einem bestimmten Stadium die Angst vor einer Revolution alles verändert.

Diese Bewegung machte auch deutlich, dass die Institutionen des Staates die Hüterinnen des Kapitals und der imperialistischen Interessen sind und nicht der brennenden Bedürfnisse des Volkes und das Parlament nicht die Masse des Volkes vertritt, sondern den Interessen des Kapitals Vorrang einräumt. All dies wurde von den Massen selbst bewerkstelligt. Die Arbeiter:innen, Bäuer:innen, Studierenden haben in den Kämpfen des letzten Jahres viel gelernt. Sie haben in vielen Städten und sogar auf dem Lande Aktionsräte gegründet. Vor allem die studentischen Aktionskomitees übernahmen eine führende Rolle in der Organisation des Kampfes, was zu einem ersten Erfolg führte. Dieser Sieg hat den Massen viel Selbstvertrauen verliehen. Die Tradition dieses Kampfes wird sich in ganz Pakistan ausbreiten. Es besteht die Notwendigkeit und die Möglichkeit, die Kaschmir-Lektionen landesweit zu verbreiten, weil die Menschen hier die Inflation und die teure Elektrizität satt haben und immer wieder beginnen, dagegen zu kämpfen.

Der Erfolg dieser Bewegung hat den politischen Status quo gebrochen, eine große Zahl von politischen Aktivist:innen hat sich dem Kampf angeschlossen. Doch trotz dieses Erfolges suchen die Regierung und staatlichen Kräfte nach Möglichkeiten, gegen die Menschen in Kaschmir zurückzuschlagen.

Wir müssen auch anerkennen, dass innerhalb der Bewegung die Führung der Händler des Joint Awami Action Committee (JAAC) eine Herausforderung von unten erfahren hat, durch lokale Aktionskomitees, embryonale Räte. Andererseits wurden diese lokalen, eher linken und aus der Arbeiter:innenklasse stammenden Komitees nie koordiniert und brachen somit nicht die Kontrolle und Führung des JAAC, das das Abkommen mit der Regierung im Namen der Bewegung unterzeichnete.

Während die Klassendifferenzierung innerhalb der Massen im Laufe des Jahres sichtbarer wurde und sich weiterentwickelte und die Arbeiter:innenklasse und Studierenden entscheidend für die lokale und massenhafte Mobilisierung waren, haben sie keine eigene Kraft entwickelt, die die Führung der Händler hätte herausfordern und ersetzen können, d. h. eine Partei der Arbeiter:innenklasse.

Dies wird jedoch eine entscheidende Aufgabe für die nächste Periode darstellen. Nur unter Führung durch die Arbeiter:innenklasse werden die Kämpfe gegen die Preiserhöhungen und die von den Regierungen und dem IWF auferlegten Kürzungen weitergehen können. Es ist ganz klar, dass die kleinbürgerlichen und bürgerlichen Händler nicht so weit gehen werden, da sie selbst an das System des Privateigentums gebunden sind.

Trotz des großartigen Kampfes der Bewegung und der Anwesenheit von fortschrittlichen und nationalistischen Arbeiter:innen und Parteien in ihr war das Fehlen einer revolutionären Partei in der Bewegung deutlich zu spüren. Was getan werden muss, ist, ein revolutionäres Programm für die Zukunft des Kampfes in Jammu und Kaschmir und in Pakistan vorzulegen, das die Hegemonie des Kapitals ablehnt und den Kampf für soziale und demokratische Forderungen mit dem für eine sozialistische Gesellschaft und Revolution verbindet.

Die Aktionskomitees, die in diesem Kampf entstanden sind, zeigen das Potenzial, Kampforgane zu schaffen, die die Massen, die Arbeiter:innen, Bäuer:innen, Student:innen und alle Unterdrückten im Kampf gegen die staatliche Unterdrückung vereinen können. Sie haben die Macht, Aktionen und Selbstverteidigung zu organisieren, die den bestehenden bürgerlichen Staat lähmen können. Diese können, wenn sie auf demokratischer Grundlage entwickelt, verallgemeinert und zentralisiert werden, zu Organen einer Arbeiter:innen- und Bäuern:innenregierung geraten, die sich auf Räte und bewaffnete Organe der Massen stützt. Aber für eine solche Strategie ist eine bewusste politische Kraft, eine revolutionäre Partei erforderlich, eine Partei, die die entschlossensten und politisch fortgeschrittensten Arbeiter:innen und Jugendlichen in Kaschmir und ganz Pakistan vereinen muss.




Taiwan: Bedrohung von außen und innen

Oda Lux, Neue Internationale 283, Juni 2024

Taiwan ist eine relativ junge Demokratie. Die ersten freien Wahlen gab es 1996. Davor beherrschte eine rigide Militärdiktatur unter Tschiang Kai-schek und seinem Nachfolger das Land. Heute gilt es als liberal, weltoffen, demokratisch und auch im Bereich Queerrechte hat es anderen asiatischen Ländern einiges voraus. Proteste gibt es nicht besonders häufig, schon gar nicht so groß, dass sie es in westliche Medien schaffen. Doch nun sind Zehntausende auf den Straßen – warum?

Neue Regierung – neue Politik?

Nach der Wahl von Lai Ching-te im Januar gab es im Mai die Vereidigung. Er löste seine Parteikollegin Tsai Ing-wen ab. Seine Demokratische Fortschrittspartei, die DPP, stellt sich offener gegen China als die Vorgängerin und bedient vor allem die Interessen des taiwanesischen Kleinbürger:innentums. Doch die DPP verlor die Mehrheit im Parlament, die Oppositionsparteien Kuomintang (Nationale Volkspartei Chinas; KMT) und Taiwanesische Volkspartei (TPP) verfügen dort gemeinsam über eine Mehrheit. Damit versuchen sie, an der Regierung Lais, die man nun wirklich nicht als Speerspitze der Progressivität ansehen kann, vorbeizuregieren.

Die KMT ist das offensichtliche Überbleibsel des Erbes Tschiang Kai-scheks sowie der Militärdiktatur. Auch das nationalistische Erbe, die Idee, dass es wieder ein einheitliches China, wohlgemerkt nach den Vorstellungen der KMT, die bei der Staatsgründung der VR China nach Taiwan floh, geben mag, erhält sie mit am Leben. Die TPP hingegen gilt als populistisch.

Am Abend des 22. Mai gingen rund 80.000 Menschen in Taipeh auf die Straße, um gegen die geplante Parlamentsreform von KMT und TTP zu protestieren.

Bei dem Gesetzesentwurf geht es u. a. um die Handlungsmacht des Präsidenten, die eingeschränkt werden soll. Er ist nicht nur inhaltlich, sondern auch in seinen praktischen Auswirkungen interessant. Geht der Entwurf durch, wären die Machtbefugnisse von Präsident und Regierung massiv eingeschränkt.

Das wäre jetzt nicht so schlimm. Doch zugleich und vor allem beschneidet der Gesetzentwurf die Rechte der Mitglieder des Parlaments, die nicht der Mehrheit angehören, massiv.

Die Dauer parlamentarischer Debatten, für Lesungen und die Diskussion von Gesetzesentwürfen würde auf ein Minimum zu reduziert, so dass diese ohne Zeit für Änderungen und öffentliche Mobilisierung im Eiltempo durchgesetzt werden können. Kritiker:innen sehen zu Recht die freie Rede im Parlament bedroht und damit auch die Rechte jeder parlamentarischen Minderheit. Auf den Straßen sieht man daher häufig den Slogan: „Keine Debatte? Dann beendet die Parlamentssitzung!“ Manche Presseberichte gehen sogar so weit, dass der Entwurf als Angriff auf die Verfassung gesehen werden kann. DPP-Abgeordnete behaupten sogar, man würde ihnen den gesamten Text bis zur Abstimmung vorenthalten wollen.

Machtkampf

Zusätzlich vermuten die Demonstrierenden, dass die VR China beim Gesetzentwurf ihre Finger mit im Spiel hat und so versucht wird, die Demokratie von innen zu schwächen. Bedenkt man, dass die DPP pro-US-amerikanisch ist und die anderen beiden eher prochinesisch, ist diese Vermutung nicht ganz abwegig.

Im Parlament gingen Opposition und Regierung aufeinander los, wie wir es im Bundestag wohl selten zu sehen bekommen: Banner, Gewusel, Proteste, die Kundgebungen glichen, und einschreitende Sicherheitskräfte. Abgeordnete und Demonstrierende trugen Sonnenblumen und Spruchhaarbänder, wie sie bei Protesten üblich sind. Die Sonnenblumen erinnern an die Studierendenbewegung, die 2014 das Parlament besetzt hatte. Sie leitete das Ende der alten politischen Ordnung, die vor allem durch die KMT verkörpert wurde, ein.

Der Gesetzentwurf treibt vor allem die Jugend auf die Straße, viele darunter selbst DPP-Wähler:innen, und es kam zur größten Demonstration seit mindestens 10 Jahren. Zwar kennt die heutige Jugend die Zwänge der Militärdiktatur nur aus Erzählungen, dennoch ist laut Berichterstatter:innen vor Ort ihre größte, Angst die erlangten demokratischen Rechte wieder zu verlieren.

Der Machtkampf zwischen DPP einerseits und KMT und TPP andererseits erhält seinen explosiven Charakter und seine Bedeutung vor allem, weil es dabei auch im den geostrategischen Einfluss der VR China und der USA geht.

Drohgebärden vom Festland

Im Kampf um die Neuaufteilung der Welt will die VR China auf das strategisch gut gelegene Taiwan ebenso wenig verzichten wie die USA.

Anders als bei früheren Regierungen und Präsidentschaften ist jedoch an Lai vor allem neu, dass er sich stark von China und dem Chinesisch-Sein distanziert. Besonders jungen Taiwanes:innen gefällt das. Zusätzlich ist es ein Zeichen der Unabhängigkeit. Bis heute erhebt die VR China Ansprüche auf die Insel. Die Bevölkerung Taiwans hingegen hat andere Pläne. Doch ist es ein Kampf David gegen Goliath, wenn man ihn ohne Verbündete kämpfen müsste. Man könnte meinen, dass im Angesicht dieser Entwicklung alte Ideen und Ressentiments jetzt wieder hochkommen und gerade deshalb die KMT so eine wichtige Rolle für die Auslösung der Proteste spielte.

Am 23.5.24, also drei Tage nach Amtsantritt, startete China eine der größten Militäroperationen in taiwanesischen Gewässern (!!!). Bei der Häufigkeit, in der in den letzten Jahren nationale Grenzen der bürgerlichen Ordnung übertreten wurden, erscheint dies keine nennenswerte Nachricht. Jedoch sind Grenzen von Nationalstaaten ein Kernelement bürgerlicher Ordnung. Je öfter man diese missachtet, desto näher rücken Krieg bzw. Annexion.  Und auch die chinesische Rhetorik deutet darauf hin. So seien die Übungen eine „Strafe“ für die Wahl des Separatisten. Gemeint ist Lai. Die andauernden Übungen umkreisen dabei die gesamte Insel.

In Festlandchina erleben wir seit dem Amtsantritt Xi Jinpings eine massiv voranschreitende Aufrüstung und aggressiver vorgetragene imperiale Interessenpolitik. Das Militär ist größer denn je. Und auch in Taiwan bereitet man sich vor. Immer mehr Menschen treten in Wehrsportvereine ein und auch der Staat baut aus. So sieht man in den Straßen Taipehs regelmäßig Hinweisschilder auf den nächst gelegenen Luftschutzbunker. Wohl wissend, dass Taiwan sich allein gegen die chinesische Armee kaum halten kann, dienen diese Maßnahmen wohl eher der Beruhigung der Bevölkerung.

Es ist eine Halbkolonie, die allein vom Wohlwollen Washingtons abhängt. Außerdem baut das Land auf eine hochentwickelte IT-Industrie. Rund 90 Prozent der modernsten Mikrochips werden in Taiwan vom Konzern TSMC hergestellt, die Rohstoffe, Maschinen und notwendigen Chemikalien kommen zu rund 90 % aus den USA, der EU und Japan. Ein Krieg um Taiwan würde nicht nur die USA und die VR China wahrscheinlich in einen globalen militärischen Konflikt zwingen, er würde auch die Produktion in Taiwan zerstören. Doch dieses „Friedenspfand“ muss, ja wird wohl nicht ewig bestehen, investieren doch die USA und China zur Zeit Milliarden in den Aufbau einer eigenen Halbleiterindustrie.

Putschversuche, Law and Order: eine Auswirkung des Rechtsrucks

Das Recht auf und der Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung kümmern letztlich weder die VR China, die das Land einfach für sie sich reklamiert, und die KMT noch die USA.

Marxist:innen verteidigen das Selbstbestimmungsrecht Taiwans, ohne die Politik der bürgerlichen DPP oder den bürgerlichen Nationalismus zu unterstützen, zumal dieser in den letzten Jahren auch reaktionärere Formen annimmt. So kam es bspw. im letzten Jahr zu rassistischen Anfeindungen nach Ausbruch einer Welle des Denguefiebers unter Arbeiter:innen aus Südostasien. Bedenkt man, dass Taiwan auf eben jene Migrant:innen setzt und bisher das taiwanesische Kleinbürger:innentum eine relativ integrative Politik betrieb, die unterschiedliche ethnische, nationale und sprachliche Herkunft anerkannt und sogar im Schulwesen gefördert hat, kann man das als erstes Indiz sehen, dass sich die Stimmung im Land verändert. Im Kriegsfall muss man sich auf die Geschlossenheit der Einwohner:innen verlassen können. Doch wenn das Misstrauen schon so groß ist, dass man einzelne Bevölkerungsgruppen für Krankheiten verantwortlich macht, zeigt sich, dass Sündenböcke jetzt schon gesucht werden.

Seit die Krise von 2008/9 eine Neuaufteilung der Welt eingeleitet hat und sich imperialistische Konkurrenz offen, und auch kriegerisch zeigt, sind wir regelmäßig Zeug:innen von kleinen und größeren Schritten hin zu einem Umbau bürgerlicher Demokratien. Insbesondere der weltweite Rechtsruck hat Personen wie Trump oder Bolsonaro an die Macht gebracht, die alles daran setzen, bürgerliche Demokratien autoritärer zu gestalten oder die Wahlergebnisse nach ihrer Abwahl nicht anzuerkennen – vor Gericht oder auf der Straße. Doch waren sie einmal weg, blieben ihre Politik sowie nationalistische, proautoritäre und rassistische Grundstimmung erhalten. Der taiwanesische Gesetzentwurf steht hierbei nicht allein. Es reiht sich ein in eine weltweite Entwicklung, die auf nationalistischer Law-und-Order-Politik beruht. Unter dem Schein, die Sicherheit und Ordnung zu erhalten, werden demokratische Rechte beschnitten.

Zugleich lehnt die DPP die Angriffe natürlich nicht aus einem uneigennützigen Interesse an „der“ Demokratie an sich ab, sondern weil die Gesetzänderungen auch ihre Macht und die des reaktionären Präsidentenamts einschränken würden.

Demokratische Rechte verteidigen!

Das bedeutet aber nicht, dass der Arbeiter:innenklasse die Sache egal sein kann. Die Angriffe auf demokratische Rechte richten sich immer gegen die Lohnabhängigen. Daher sind insbesondere Gewerkschaften dazu aufgerufen, gegen die Einschränkung selbst bürgerlich-demokratischer Freiheiten zu mobilisieren – und zwar nicht nur auf der Straße, sondern auch mit Streiks. Revolutionär:innen vor Ort müssen zugleich die Bewegung nutzen, um die evidenten Widersprüche aufzuzeigen und zu mobilisieren.

Die taiwanesische Arbeiter:innenklasse braucht eine politische Perspektive. Weder DPP noch KMT oder TPP können Taiwan aus seinem Schlamassel, eine bedrohte und umkämpfte Halbkolonie zu sein, heraushelfen. Doch daran hängt auch die Selbstbestimmung. Während sich die KMT und, wenn auch weniger eindeutig, die TPP an der VR China ausrichten, hängt die DPP an den USA. Als Revolutionär:innen verteidigen wir das Selbstbestimmungsrecht der taiwanischen Bevölkerung. Doch die nationale Selbstbestimmung ist – wie alle demokratischen Fragen – nie unabhängig und isoliert von den Klasseninteressen zu betrachten. Für die verschiedenen Flügel der taiwanesischen Bourgeoisie wie auch bedeutende Teile des Kleinbürger:innentums geht es bei der Selbstbestimmung vor allem um ihre Kapital- bzw. Geschäftsinteressen. Für die Arbeiter:innenklasse geht es hingegen darum, das Selbstbestimmungsrecht mit der Frage der sozialistischen Umwälzung zu verbinden, so dass die Massen auch wirklich über ihr eigenes Land bestimmen können.

Doch fast ebenso wichtig wie für die Arbeiter:innen Taiwans ist dieser Kampf für jene Chinas und der USA. Sie müssen dessen Selbstbestimmungsrecht unterstützen, indem sie sich auch in ihren Ländern gegen Aufrüstung und Imperialismus wenden und ihren Kampf mit dem in halbkolonialen Ländern verbünden. Das Beispiel Taiwans zeigt, dass nur, wenn wir das imperialistische System weltweit zerschlagen, halbkoloniale Länder endlich Unabhängigkeit erlangen und wir gemeinsam für eine sozialistische Zukunft kämpfen, der Konflikt gelöst werden kann. Nur wenn sich die Arbeiter:innen Chinas und der USA gegen die Politik ihrer Regierungen stellen, die Taiwan nur allzu gern als Halbkolonie halten oder sich einverleiben wollen, kann die nationale Selbstbestimmung erlangt werden. Und nur auf dieser Basis wird eine dauerhafte internationale Kampfgemeinschaft zwischen den Arbeiter:innenklassen aller Länder möglich sein.

Eine solche Perspektive gilt es, in die Bewegung zu tragen. Sie stellt eine politische Alternative zu allen bürgerlichen Parteien dar. Damit sie Wirklichkeit werden kann, müssen die politisch bewusstesten Lohnabängigen und die Jugend für sie gewonnen werden mit dem Ziel des Aufbaus einer neuen, revolutionären Arbeiter:innenpartei.




Der Krieg in der Ukraine zwei Jahre nach der russischen Invasion

Gemeinsame Erklärung der Internationalen Sozialistischen Liga (ISL), der Internationalen Trotzkistischen Oposition (ITO) und der Liga für die Fünfte Internationale (L5I), 27. April 2024, Infomail 1253, 4. Mai 2024

Am 24. Februar jährte sich der russische Einmarsch in die Ukraine zum zweiten Mal. Er forderte Tausende von Todesopfern, Millionen von Vertriebenen und ein verheerendes Ausmaß an Zerstörung von Infrastruktur und Wohnraum.

Putins Ziel, große Teile der Ukraine zu erobern und ein moskautreues Marionettenregime zu installieren, scheiterte. Im ersten Jahr des Krieges wurden die russischen Truppen zurückgedrängt und stießen auf ukrainischen Widerstand.

Die Auseinandersetzung entwickelte sich zu einem Stellungskrieg. Das russische Militär festigte seine Linien im Donbass und in Luhansk, wo die Invasor:innen in Zusammenarbeit mit großrussischen nationalistischen Milizen einen großen Teil der ukrainischen Bevölkerung vertrieben und die Regionen der Russischen Föderation einverleibt haben. Russland besetzte auch Teile der Regionen Saporischschja und Cherson.

Trotz der massiven westlichen Sanktionen und der militärischen und wirtschaftlichen Unterstützung der Ukraine durch einen Teil der NATO-Länder konnte Russland – mit Unterstützung Chinas – nicht nur seine Wirtschaft reorganisieren, sondern auch seine Position militärisch festigen.

Die NATO dehnte sich nach Osten aus, alle Mächte erhöhten ihre Militärausgaben massiv, und diese Art von Neuem Kalten Krieg zwischen imperialistischen Mächten trat in eine neue Phase des Konflikts ein. Gleichzeitig rückten die inneren Spaltungen im westlichen Lager stärker in den Vordergrund, und die ursprüngliche Strategie – die Ukraine so weit aufzurüsten, dass sie der russischen Invasion widerstehen konnte, aber eine offene Konfrontation zwischen der NATO und Russland zu vermeiden – stieß an ihre Grenzen.

Nach zwei Jahren kann der Krieg zu drei möglichen Entwicklungen führen. Erstens, aber unwahrscheinlich, werden die NATO und der Westen ihr Engagement verstärken und offen in der Ukraine intervenieren – eine Konfrontation, die den Charakter des gesamten Krieges verändern würde, aber auch die Gefahr eines Weltkrieges birgt. Zweitens: Der Krieg geht als Stellungskrieg weiter – mit massiven materiellen Kosten, aber ohne große Bewegungen an der Front. Drittens, ein vom Imperialismus erzwungener Frieden – ob in Form einer Feuerpause, eines Waffenstillstands oder von „Verhandlungen“ – mit dem Ziel, den Konflikt einzufrieren. Alle diese drei Entwicklungen würden auf Kosten der Arbeiter:innenklasse und der Volksmassen in der Ukraine, aber auch in Russland und im Westen gehen.

Dagegen müssen Revolutionär:innen für eine gerechte und demokratische Lösung des Krieges eintreten: Russland raus aus der Ukraine, die NATO raus aus Osteuropa und Selbstbestimmung für die Krim und die Donbass-Regionen. Dies muss mit der längerfristigen Perspektive einer unabhängigen sozialistischen Ukraine verbunden werden, denn nichts anderes kann einen gerechten und dauerhaften Frieden bringen.

Der Charakter des Krieges

Der Krieg verbindet zwei Prozesse. Einerseits die Invasion einer imperialistischen Macht in ein halbkoloniales oder nicht-imperialistisches Land, das sie historisch unterdrückt hat, und der gerechte Widerstand des ukrainischen Volkes zur Verteidigung seiner Selbstbestimmung und Souveränität. Andererseits eine konzentrierte Verschärfung des zwischenimperialistischen Kampfes zwischen der NATO und Russland, die versuchen, ihre jeweiligen imperialistischen Interessen auf Kosten des Lebens der ukrainischen und russischen Werktätigen durchzusetzen.

Der westliche Imperialismus ist seit der Auflösung der UdSSR in Osteuropa auf dem Vormarsch und hat es geschafft, seinen politischen Einfluss in der Ukraine seit 2014 zu stärken, als die USA, Großbritannien und die EU offen nationalistische, prowestliche und rechtsextreme Kräfte bei der Machtübernahme unterstützten. Die unterzeichnenden Organisationen werden weiter die unterschiedliche Charakterisierung des Maidan und des Widerstand der russischen und russischsprachigen Bevölkerung gegen ihn diskutieren. Zugleich sind wir uns einig, dass der Konflikt durch die westliche Dominanz über die Ukraine und die Übernahme der Kontrolle über die Ostukraine durch Russland nach 2014 verschärft wurde. Der daraus resultierende Konflikt hat Tausende von Menschenleben gekostet.

Im Jahr 2022 war das Motiv für Putins Invasion der Versuch, die Ukraine wieder unter die imperialistische Kontrolle Moskaus zu bringen. Die NATO und Russland verfolgen in der Ukraine das gleiche Ziel: das Land und seine Bevölkerung ihren jeweiligen imperialistischen Interessen zu unterwerfen. Die ukrainische Bourgeoisie hat mehrheitlich beschlossen, die Seiten zu wechseln und die Ausbeutung der Arbeiter:innen und Bäuer:innen  in ihrem eigenen Interesse und dem ihrer imperialistischen Unterstützer :innen fortzusetzen.

Der Großteil der ukrainischen Bourgeoisie leistete keinen Widerstand gegen die russische Invasion. In den ersten Tagen der Aggression floh eine große Zahl zentraler und regionaler Beamter und Beamtinnen aus dem Land oder kollaborierte mit den russischen Besatzer:innen. Die NATO-Mächte boten Selenskyj Asyl an, um eine „ukrainische Exilregierung“ zu bilden.

Die ukrainische arbeitende Bevölkerung nahm die Verteidigung ihres Landes selbst in die Hand und organisierte in vielen Städten und Regionen „territoriale Verteidigungskräfte“ an der Basis. Zu dieser enormen Unterstützung der ukrainischen Arbeiter:innen für den Widerstand gegen die Invasor:innen kommt noch hinzu, dass sich die ukrainische Armee im Vergleich zu 2014 in einem wesentlich besseren Zustand befand. Die westlichen Imperialist:innen hatten diese Armee so ausgerüstet und umorganisiert, dass ein effektiver Widerstand durch hochmotivierte Soldat:innen möglich war. Die ukrainische Armee hielt stand, und Selenskyj setzte sich an die Spitze der Kriegsanstrengungen. Aber das ukrainische Volk hat trotz und nicht dank der lokalen Bourgeoisie verhindert, dass die russischen Streitkräfte Kiew erreichten.

Andererseits hat die ukrainische Arbeiter:innenklasse, obwohl sie sich am Volkswiderstand beteiligte, keine eigene politische Position gegen die der ukrainischen Bourgeoisie entwickelt.

Seit 2014 hat der westliche Imperialismus die Ukraine in ein vom westeuropäischen und US-Imperialismus dominiertes Land verwandelt, einschließlich massiver militärischer Unterstützung. Nachdem der ukrainische Widerstand gezeigt hatte, dass Putin keinen leichten Sieg erringen würde, kalkulierte der westliche Imperialismus seine Chancen schnell neu und beschleunigte die ohnehin schon massive wirtschaftliche und militärische Unterstützung der Ukraine noch weiter.

Ihre Politik, an der er bis heute festhält, besteht jedoch darin, seine Unterstützung mit dem Ziel zu regulieren, Putin zu zermürben, so dass er den Krieg nicht gewinnen kann, ohne dass die Ukraine einen entscheidenden Sieg über den Eindringling erringen kann. Die imperialistischen Westmächte befürchten, dass ein Überschreiten dieser Strategie zu einem zwischenimperialistischen Krieg zwischen Russland und der NATO führen könnte.

Außerdem würde ein solcher Sieg von Millionen von Ukrainer:innen zu Recht als ihr eigener interpretiert werden, auch wenn der Westen ihn ebenfalls ausnutzen könnte. Und die Destabilisierung in Russland und ganz Osteuropa, die dies auslösen würde, könnte sich in eine Richtung entwickeln, die der vom westlichen Imperialismus angestrebten völlig entgegengesetzt ist und die Arbeiter:innen zum unabhängigen Kampf motiviert.

Präsident Selenskyj und die ukrainische Bourgeoisie haben den Krieg genutzt, um ihre gesamte Agenda gegen die ukrainischen Arbeiter:innenschaft voranzutreiben. In den letzten zwei Jahren hat die Regierung elementare Arbeits-, Gewerkschafts- und demokratische Rechte abgeschafft und eine brutale neoliberale Austeritätspolitik umgesetzt. Gleichzeitig wurde auch die erbärmliche Korruption der Bourgeoisie und ihrer politischen Kaste aufgedeckt, die sogar die Armee und die humanitäre Hilfe bestohlen haben.

Die weltweite Linke war angesichts des Krieges in der Ukraine leider gespalten. Ein beträchtlicher Teil von ihr nahm eine „parteiische“ Position im Lager des russischen Angreifers ein und stellte ihn auf die eine oder andere Weise als das kleinere Übel im Vergleich zum westlichen Imperialismus dar. Ein anderer charakterisierte den Krieg als einen rein zwischenimperialistischen Konflikt und vertrat einen falschen „Defätismus“, der sie in Wirklichkeit in das Lager des Eindringlings stellte. Ein dritter Teil der globalen Linken ging über die Unterstützung der berechtigten Selbstverteidigung der Ukraine hinaus und unterstützte die Politik der NATO oder forderte ihre Regierungen auf, dies zu tun.

Sollte ein offener Krieg zwischen den in der Ukraine intervenierenden imperialistischen Blöcken ausbrechen, würde der Kampf des ukrainischen Volkes für seine Selbstbestimmung auf eine andere Ebene verlagert. Das Ziel würde nicht verschwinden, aber es müsste durch den revolutionären Kampf gegen den imperialistischen Krieg gelöst werden.

Doch das ist derzeit nicht der Fall und wird es wohl auch in nächster Zeit nicht sein. Im Krieg um die Ukraine haben wir es nicht mit einem offenen Krieg zwischen Russland und den NATO-Staaten zu tun, auch wenn die Westmächte, allen voran die USA, einen großen Einfluss auf den Verlauf und die Ziele des Krieges ausüben. Für die Ukraine und ihre Arbeiter:innen und Bäuer:innen ist der Krieg jedoch nach wie vor in erster Linie ein Krieg der Selbstverteidigung gegen einen eindringenden Unterdrückerstaat. Außerhalb der Ukraine nimmt der Konflikt zwischen Russland und der NATO einen reaktionären Charakter an, dem sich Sozialist:innen entgegenstellen müssen.

Die unterzeichnenden Organisationen treten für eine prinzipielle revolutionäre Politik ein. Wir bekräftigen, dass keine imperialistische Macht fortschrittlich oder ein geringeres Übel darstellt als eine andere. Der US-Imperialismus und der von ihm angeführte Block sind immer noch die führenden Mächte der Welt. Aber Russland ist selbst eine globale imperialistische Macht und der wichtigste Unterdrückungsfaktor in der Ukraine.

Wir verteidigen den Widerstand des ukrainischen Volkes, sein Recht, diesen Kampf mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln fortzusetzen, und sein Recht auf Selbstbestimmung und Souveränität. Gleichzeitig rufen wir das ukrainische Volk auf, Selenskyj und der NATO, die, wie sie bewiesen haben, das ukrainische Volk nur ausbeuten und unterdrücken wollen, kein Vertrauen zu schenken und keine politische Unterstützung zu gewähren.

Die russische Invasion in der Ukraine ließ es zu, dass sich die NATO neu formieren und ausweiten konnte. Sie ermöglichte es den USA, eine führende Rolle in dem Block wieder einzunehmen, die zuvor ins Wanken geraten war, und die Invasion half Selenskyj, sein reaktionäres neoliberales Programm voranzutreiben. Je länger sich der Krieg hinzieht und je länger es dauert die Invasion zurückzuschlagen, desto mehr wird die Abhängigkeit der ukrainischen Regierung vom westlichen Imperialismus anwachsen und umso mehr wird Selenskyj in der Lage sein, sein reaktionäres Programm zu verfolgen.

Die Arbeiter:innenklasse verfolgt kein Interesse an einem Zermürbungskrieg, muss aber auch einen „Frieden“, der ihr von den imperialistischen Mächten aufgenötigt wird, zurückweisen.

Revolutionäre Marxist:innen sollten die Beendigung des Krieges auf gerechter und demokratischer Grundlage befürworten: Russland raus aus der Ukraine, nein zum kalten Krieg zwischen imperialistischen Mächten und Selbstbestimmung für die Bevölkerungen der Krim und des Donbass. Dies mit der längerfristigen Perspektive einer unabhängigen sozialistischen Ukraine, und nichts weniger als das kann einen gerechten und dauerhaften Frieden bringen.

  • Russische Truppen raus aus der Ukraine, für die Niederlage der russischen imperialistischen Invasion!

  • Unterstützung für die gerechtfertigten Kriegsziele des ukrainischen Widerstands und Anerkennung der ukrainischen Souveränität!

  • Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung für die Krim und den Donbass!

  • Nein zu den westlichen Kriegszielen: Keine Plünderung der ukrainischen Wirtschaft durch imperialistisches Kapital! Streichung der ukrainischen Schulden! Nein zur Ausweitung der NATO! Auflösung der NATO! Gegen die Militarisierung ganz Europas!

  • Für eine unabhängige sozialistische Ukraine!

  • Für eine sozialistische Revolution in Russland!

  • Für ein sozialistisches Europa!

Internationale Sozialistische Liga (ISL)

Internationale Trotzkistische Opposition (ITO)

Liga für die Fünfte Internationale (L5I)




Vom Widerstand zur Befreiung. Wie kommen wir zu einem sozialistischen Palästina?

Jaqueline Katherina Singh, Vom Widerstand zur Befreiung. Für ein säkulares, demokratisches, sozialistisches Palästina, April 2024

Frieden. In Sicherheit zu leben, ohne dass Städte zerbombt werden. Sich frei bewegen zu können, ohne Kontrollen. Eine Möglichkeit zurückzukehren. Die Olivenbäume, die niedergebrannt wurden, wieder pflanzen zu können. Davon träumen viele. Doch was heißt das praktisch und wie kommen wir dahin? Wir wollen im Folgenden erläutern und erklären, was wir meinen, wenn wir für ein freies, säkulares und sozialistisches Palästina eintreten.

Es würde bedeuten, dass alle Bewohner:innen – egal welcher Religion oder Nation, unabhängig von Hautfarbe, Herkunft, sexueller Orientierung oder Geschlecht nicht nur neben-, sondern miteinander leben können. Praktisch würde es bedeuten, dass an Schulen alle Sprachen angeboten würden – ob Hebräisch, Arabisch oder Jiddisch. Und dieses Angebot hört nicht dort auf, sondern erstreckt sich auf alle staatlichen Institutionen und kulturellen Räume. Es würde bedeuten, dass Palästinenser:innen und arabische Israelis nicht von höherer Arbeitslosigkeit betroffen sind, sondern die Arbeit auf alle aufgeteilt wird. Es würde bedeuten, dass in Betrieben und öffentlichen Einrichtungen Quotierungen eingeführt werden, sodass alle Zugang zu allen Berufen und Bereichen haben und systematische Verarmung verhindert wird. Es würde bedeuten, dass das Rückkehrrecht auch für alle Palästinenser:innen gilt und die Siedler:innenkolonien aufgelöst werden. Dass die Bereiche, die in Schutt und Asche gelegt worden sind, wieder aufgebaut werden und Wasser, Elektrizität, Wärme, Lebensmittel sowie medizinische Versorgung nicht mehr Mangelware sind, sondern nach Bedarf für alle verfügbar – unter Kontrolle der Nutzenden und Arbeitenden.

Im Grunde handelt es sich dabei v. a. um grundlegende demokratische Rechte. Doch die Geschichte von über 75 Jahren Vertreibung und Besatzung seit Gründung des Staates Israel zeigt, dass diese durch Reformen oder die illusionäre Zweistaatenlösung nicht verwirklichbar sind. Dies gilt umso mehr angesichts eines Vernichtungskrieges gegen die Bevölkerung Gazas, einer Bodenoffensive, der bisher rund 40.000 Menschen – in der Mehrzahl Zivilist:innen – zum Opfer gefallen sind. Daher scheint selbst die Verwirklichung von demokratischen Rechten als eine unfassbar weit entfernte Utopie.

Der Grund dafür liegt darin, dass die Verweigerung ebendieser in die imperialistische Ordnung des Nahen Ostens, wie sie nach 1945 etabliert wurde, in den zionistischen Staat von Beginn an eingeschrieben ist. Eine demokratische Lösung des sog. Nahostkonflikts ist unmöglich, solange Israel als rassistischer Staat existiert. Der Ausschluss und die Vertreibung der Palästinenser:innen sind in seine Existenzweise eingeschrieben. Daher kann er auch nicht reformiert, sondern muss revolutionär zerschlagen und durch einen binationalen sozialistischen Staat ersetzt werden.

Wir müssen dabei streng zwischen dem zionistischen Staat Israel und dem jüdischen Volk unterscheiden. Die Existenz einer jüdischen Nation in Palästina, d. h. die Berechtigung von Millionen Juden und Jüdinnen, dort zu leben, ist unleugbar und daher auch von Sozialist:innen zu verteidigen. Genauso rückschrittlich ist jedoch auch die Erwartung, dass die Palästinenser:innen als Staatsbürger:innen zweiter Klasse (wenn überhaupt) existieren müssen und sich unterzuordnen zu haben.

Im Folgenden werden uns daher damit beschäftigen, welche Strategie nötig ist, um den heutigen Kampf gegen den völkermörderischen Krieg mit dem für ein sozialistisches Palästina zu verbinden, und wie diese untrennbar mit dem Kampf gegen Zionismus und Imperialismus in der gesamten Region und in den imperialistischen Ländern zusammenhängt.

Grundannahmen

Dabei ist es vollkommen klar, dass im Hier und Jetzt der Kampf für einen sofortigen Waffenstillstand, den Rückzug der israelischen Arme und Öffnung der Grenzen für Hilfslieferungen ohne jegliche Kontrollen und Bedingungen durch die Besatzungsmacht im Vordergrund aller Bemühungen stehen muss. Denn die Bomben fordern hier und jetzt ihre Opfer, während gleichzeitig mehr Land in der Westbank annektiert wurde und sich mehr Palästinenser:innen in israelischer Haft befinden als je zuvor. Die Lage scheint manchen aussichtslos, vor allem, da die israelische Offensive in aller Härte mehr als 7 Monate andauert. Doch wir glauben, dass es wichtig ist, nicht nur über eine (dauerhafte) Waffenruhe zu reden. Denn letzten Endes verschafft diese zwar Milderung, aber sie wird nicht die Unterdrückung und Gewalt beenden, der die palästinensische Bevölkerung ausgesetzt ist. Das heißt nicht, dass man nicht auch für direkte Verbesserungen kämpft – einen sofortigen Rückzug der israelischen Truppen beispielsweise.

Zeitgleich braucht es jedoch darüber hinaus eine Debatte darüber, was ein freies Palästina ist – und wie wir dahin kommen. Deswegen halten wir es für notwendig, dass wir über Taktiken und Strategien diskutieren und versuchen, aus der Vergangenheit zu lernen – um eine Einstaatenlösung mit Rückkehrrecht für die Vertriebenen möglich zu machen. Bevor wir zu konkreten Forderungen und Vorschlägen für die aktuelle Solidaritätsbewegung kommen, wollen wir ein paar Grundannahmen festhalten:

1. These: Der palästinensische Befreiungskampf ist ein internationalistischer. Weder können die aktuelle Situation drastisch verändert noch ein eigener Staat allein aus Palästina oder Israel heraus selbst erkämpft werden.

Es ist klar: Ohne den jahrzehntlangen heroischen Widerstandskampf der palästinensischen Massen wäre der „Konflikt“ längst reaktionär befriedet worden. Daher ist Solidarität mit ihm Voraussetzung für jeden Internationalismus, auch wenn dies keineswegs bedeutet, die Politik der palästinensischen Führungen zu unterstützen. Angesichts der militärischen Übermacht, dem Andauern des Konfliktes und dem aktuellen Kräfteverhältnis vor Ort wird deutlich, dass selbst der entschlossenste Widerstand alleine nicht ausreicht. Da der israelische Staat seitens der USA, Deutschlands und anderer imperialistischer Mächte gestützt wird, braucht es massiven Druck, der nur seitens der internationalen Arbeiter:innenklasse erbracht werden kann. Ob Massenproteste, Solidaritätsstreiks und/oder Boykotte: Die Palette der Möglichkeit ist vielfältig.
Dabei muss auch deutlich werden, dass Solidarität keine Einbahnstraße ist. Ob nun beim Kampf in Syrien gegen Assad, in Rojava gegen Erdogan oder in Kaschmir gegen die indische Besatzung – Solidarität mit diesen Bewegungen ist nicht nur eine moralische Frage, sondern ein zentraler, notwendiger Schritt um das Gelingen der jeweiligen Befreiungskämpfe zu sichern.

2. These: Der Kampf für ein freies Palästina kann nur erfolgreich sein, wenn er sich gegen die imperialistische Machtinteressen richtet – und gegen die (ausländische wie einheimische) Bourgeoisie.

Die Geschichte hat bereits gezeigt, dass eine Zweistaatenlösung nicht möglich ist. Stetiger Kampf um Land sowie Ressourcen sorgt nicht nur für Vertreibung, sondern auch dafür, dass der Zugang zu gewissen Ressourcen für einen Teil limitiert bleiben muss, solange diese Verteilung unter kapitalistischen Verhältnisse stattfindet. So wie zwei Individuen nicht beide zur selben Zeit über exklusives Privateigentum an etwas Gleichem verfügen können, können auch nicht zwei Völker exklusives Eigentum an einem Territorium besitzen. Ebenso kann ein bürgerliches, kapitalistisches Palästina nur möglich sein, wenn sich eine imperialistische Macht dazu entscheidet, als Schutzmacht zu fungieren. Das bedeutet nicht nur Abhängigkeit und Ungewissheit, sondern Ausbeutung der palästinensischen Bevölkerung durch diese – sowie die nationale Kapitalist:innenklasse. Dass das keine Alternative sein kann, zeigen schon jetzt die Auswüchse der Korruption unter PNA (Palästinensische Autonomiebehörde)- und Hamas-Verwaltung.

Die einzige fortschrittliche Lösung ist deshalb das Gemeineigentum, also die Vergesellschaftung der wichtigsten Bestandteile der Wirtschaft. Das heißt: Wenn das Ziel ist, dass vorhandene Ressourcen in der Region unter allen, die dort leben, gleichmäßig aufgeteilt werden sollen, dann bedarf es einer Einstaatenlösung, bei der Produktionsmittel und Boden verstaatlicht werden und unter Kontrolle der Arbeiter:innen und Bäuerinnen/Bauern stehen. Der Kampf gegen Besatzung, Zionismus und Imperialismus muss also immer aktiv verbunden werden mit dem gegen Ausbeutung. Daraus resultiert, dass der Kampf für ein befreites Palästina einer für ein sozialistisches, für einen binationalen Arbeiter:innenstaat sein sollte – vor Ort und international.

3. These: Keine Befreiung ohne Revolution

Weder Besatzungsmacht noch Kapitalist:innen werden ihre Position friedfertig aufgeben. Das ist dem Großteil der sich im Widerstand befindenden Kräfte klar. Die Taktik des Guerillakriegs baut auf langfristigen Auseinandersetzungen mit einer militärischen Übermacht auf. Doch während die militärischen Anstrengungen vor Ort dafür sorgen können, die Kosten der Besatzung in die Höhe zu treiben – sie alleine können das Morden und systematische Unterdrückung nicht stoppen und limitieren gleichzeitig die eigenen Mittel des Widerstandes.
Statt darauf zu hoffen, dass andere arabische Staaten oder der Iran sich in den Krieg hineinziehen lassen, braucht es vielmehr den Aufbau einer internationalistischen Arbeiter:innenbewegung – die sich auch in ihrem eigenen Interesse aktiv dazu entscheidet, in den Konflikt einzugreifen.

Darüber hinaus hat die 1. Intifada gezeigt, dass Massenproteste der gesamten Bevölkerung das Mittel sind, am effektivsten den zionistischen Staat und seine scheinbare Allmacht erschüttern zu können. Angesichts des Landraubs im Westjordanland, der bewaffneten Siedler:innen, die willkürlich die palästinensischen Bewohner:innen drangsalieren und vertreiben, bedarf es einer revolutionären Massenbewegung, die in einem Massenaufstand mündet. Die Erfahrung zeigt dabei, dass alle großen Bewegungen wie Massenstreiks, Blockaden usw. bewaffneter Selbstverteidigungsorgane bedürfen, um sich gegen die israelische Armee und rassistische und faschistische bewaffnete Siedler:innen zur Wehr setzen zu können.

Eine revolutionäre Bewegung in Palästina und in den umliegenden arabischen Staaten ist zugleich auch entscheidend, um die klassenübergreifende Einheit im zionistischen Staat aufzubrechen. Je stärker der Kampf gegen die imperialistische Ordnung und Besetzung, umso eher werden Teil der jüdischen Arbeiter:innenklasse in Israel ihr Vertrauen in den rassistischen Staat verlieren und für den Bruch mit dem Zionismus gewonnen werden. Dann hat die Stunde der Revolution geschlagen.

4. These: Eine revolutionäre Partei und Internationale sind notwendig

Um den gemeinsamen Kampf in den verschiedenen Bereichen koordiniert führen zu können, braucht es mehr als Bewegungen, Bündnisse, Kampagnen. Es braucht eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei und Internationale – in Palästina und weltweit. Eine revolutionäre Partei in Palästina würde sich dabei vor allem auf die palästinensischen Lohnabhängigen

stützen müssen. Sie müsste zugleich die antizionistischen Teile der jüdischen Intelligenz und der Arbeiter:innenklasse organisieren, enge Verbindungen zu revolutionären Parteien in den arabischen Staaten und auf der gesamten Welt aufbauen, um den Kampf zu koordinieren.

1. Widerstand und Befreiungskampf in Palästina

Im gegenwärtigen Krieg, gegen den Angriff auf Gaza unterstützen wir den bewaffneten palästinensischen Widerstand. Je länger sich dieser der IDF entgegenstellen kann, desto höher wird der politische und materielle Preis für den Angriff und die Invasion.

Der Ausbruch der von der Hamas geführten Kräfte aus Gaza verkörperte selbst einen legitimen Akt im nationalen Befreiungskampf. Unterdrückte haben das Recht, aus einem Territorium auszubrechen, in dem sie vom unterdrückenden Staat über Jahre inhaftiert werden, ihre Versorgung von diesem blockiert und rationiert wird, ein großer Teil der Bevölkerung zur Arbeitslosigkeit verurteilt ist, wo immer wieder Infrastruktur, Wohnungen, Sozial- und Gesundheitseinrichtungen zerstört werden.

Es ist im Kampf gegen nationale Unterdrückung natürlich legitim, die militärischen Institutionen und Einheiten der unterdrückenden Macht anzugreifen, auf Raketenbeschuss mit Raketen zu antworten. In allen Kriegen sind zivile Opfer unvermeidlich, obwohl mutwillige Grausamkeit gegenüber Zivilist:innen nicht nur den Opfern schadet, sondern als Rechtfertigung für die weitaus größere Grausamkeit der Unterdrücker:innen erscheint.

In Wirklichkeit ist auch nicht die Hamas Verursacherin solch Blutvergießens und Schreckens. Es ist vielmehr der zionistische Staat Israel, der auf der rassistischen, kolonialistischen Vertreibung der Palästinenser:innen basiert. Auf dieser Basis ist jede demokratische und fortschrittliche Lösung unmöglich. Solange dieser herrscht, Palästina kontrolliert, Gaza und die Westbank als innere Kolonien „verwaltet“, die Bevölkerung permanent vertreibt, enteignet, ghettoisiert, kann es keinen Frieden und keine Gerechtigkeit geben.

Letztlich wird Gaza auch nicht von der Hamas oder irgendeiner anderen dort aktiven politischen Kraft beherrscht, sondern vom israelischen Staat – ganz so wie Gefängnisse nicht von den Gefangenen kontrolliert werden, selbst wenn sie sich innerhalb der Gefängnismauern „frei“ bewegen dürfen.

Als revolutionäre Marxist:innen stehen wir in entschiedener Feindschaft zur Strategie und Politik der Hamas (wie aller islamistischen Kräfte) und ihrem politischen Regime. Ebenso lehnen wir die willkürliche Tötung von oder Massaker an israelischen Zivilist:innen ab. Diese erleichtern es Zionismus und Imperialismus offenkundig, ihren Großangriff auf Gaza auch in den Augen vieler Arbeiter:innen als „Selbstverteidigung“ hinzustellen.

Es greift darüber hinaus viel zu kurz, willkürliche Tötungen von Zivilist:innen nur der Hamas oder dem Islamismus anzulasten. Sie sind auch Ausdruck der viel umfassenderen, Jahrzehnte andauernden Unterdrückung, der täglichen Erfahrung des Elends, Hungers, der Entmenschlichung in Gaza durch die israelische Abriegelung. Aus der nationalen Unterdrückung erwächst der Hass auf den Staat der Unterdrücker:innen und alle, die diesen mittragen oder offen unterstützen – und dazu gehört auch die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung und Arbeiter:innenklasse.

Der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands und die Kritik an politisch falschen oder kontraproduktiven Aktionsformen dürfen keineswegs zu einer Abwendung vom Kampf gegen die Unterdrückung führen. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und Unterdrücker:innen unterscheiden. Nur wenn die revolutionäre Linke und die Arbeiter:innenklasse den Kampf um nationale Befreiung gegen den Zionismus und „demokratischen“ Imperialismus unterstützen, werden sie in der Lage sein, eine politische Alternative zu islamistischen Kräften aufzubauen. Nur so werden sie eine revolutionäre Partei bilden können, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem um eine sozialistische Revolution verbindet.

Dies beinhaltet notwendig auch die Beteiligung am Befreiungskampf und militärisch koordinierte gemeinsame Aktionen. Es inkludiert eine Politik der antiimperialistischen Einheitsfront mit allen Kräften des Widerstandes. In der Westbank und Israel unterstützen wir Solidaritätsaktionen mit der Bevölkerung Gazas. Wir unterstützen Massenprotest und Streiks gegen die Besatzung. Wir verurteilen und bekämpfen die weiter erfolgenden Angriffe und Morde an Palästinenser:innen durch die israelischen Sicherheitskräfte und bewaffnete Siedler:innen.

Wir verurteilen insbesondere auch den Einsatz von Kräften der PNA gegen Protestierende und jede Kollaboration mit der Besatzung. Diese reaktionären Angriffe auf die eigene Bevölkerung müssen enden, die Kräfte der PNA müssen mit ihrer Rolle als Hilfspolizei des Zionismus brechen. Sie und ihre Waffen müssen Aktionsausschüssen des palästinensischen Widerstandes unterstellt werden. Eine neue Massenintifada ist angesagt.

Doch in Palästina ist nicht nur ein gemeinsamer Kampf nötig. Die Führungen des Befreiungskampfes verfügen selbst über keine Strategie, die eine revolutionäre Lösung bringen kann. Hamas und Islamischer Dschihad sind kleinbürgerlich-reaktionäre, islamistische Kräfte, wobei Erstere nicht nur aufgrund ihrer militärischen Fähigkeiten, sondern auch aufgrund ihrer Wohlfahrtsprogramme eine Massenbasis besitzt. Beide Organisationen verfolgen das reaktionäre Ziel einer Theokratie in Palästina, beide verbinden Antizionismus mit Antisemitismus. Beide betrachten nicht die Arbeiter:innenklasse als führende Klasse im Befreiungskampf, sondern ordnen diese und ihre Klasseninteressen jenen des Kleinbürger:innentums und der Bourgeoisie unter dem Deckmantel „islamischer Einheit“ unter. Es ist daher auch kein Zufall, dass ihre wirklichen internationalen Verbündeten und Unterstützer:innen nicht die arabischen Massen, sondern reaktionäre islamistische Regime wie die im Iran, in Katar und Saudi-Arabien oder Bewegungen wie die Hisbollah sind.

Die palästinensische Linke (PFLP und DFLP) ordnet sich faktisch der Führung der Hamas politisch unter – ganz so, wie sie sich zu Zeiten der PLO der Fatah untergeordnet hatte. Die „Ablehnungsfront“ gegen das Osloer Abkommen, die die palästinensische Linke mit Hamas, Dschihad und anderen Gruppen gebildet hat, ist kein bloß zeitweiliges militärisches Abkommen, keine Form der antiimperialistischen Einheitsfront, sondern im Grunde ein strategisches Bündnis, das einer Unterordnung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse gleichkommt.

Den bürgerlichen Programmen und der Etappentheorie, die die palästinensische Linke vertritt, stellen wir ein Programm der permanenten Revolution entgegen. Wir treten für einen gemeinsamen, binationalen, sozialistischen Staat in Palästina ein, der Palästinenser:innen wie Juden und Jüdinnen gleiche Rechte gewährt, der allen vertriebenen Palästinenser:innen das Rückkehrrecht garantiert und auf der Basis des Gemeineigentums an Land und großen Produktionsmitteln in der Lage ist, die Ansprüche zweier Nationen gerecht und demokratisch zu regeln. Ein solcher Kampf wird nicht durch Reformen erreicht werden können, sondern nur durch den revolutionären Sturz des zionistischen Staates.

In Israel und Palästina treten wir auch für die möglichst enge Einheit im Kampf mit den antizionistischen Kräften der israelischen Linken und Arbeiter:innenbewegung ein. Nur wenn die Arbeiter:innenklasse mit dem Zionismus bricht, kann sie sich auch selbst befreien. Dabei verfolgen wir auch eine Politik, jeden Bruch, jede Spaltung im zionistischen Lager auszunutzen, zu vertiefen und im besten Fall Lohnabhängige vom Zionismus zu brechen.

Uns ist jedoch bewusst, dass die israelischen Lohnabhängigen über Jahrzehnte nicht nur an der Unterdrückung, Vertreibung und Überausbeutung der palästinensischen Massen teilhatten, sondern dass der Labourzionismus wie auch die „liberalen“ Zionist:innen selbst aktiv an der Vertreibung und Unterdrückung beteiligt waren und sind.

So wichtig und richtig es ist, Spaltungen und Brüche im zionistischen Lager auszunutzen und zu befördern, so dürfen wir uns keinen Illusionen über die Tiefe der Bindung der israelischen Arbeiter:innen an den Zionismus hingeben. Wir müssen uns vielmehr darüber klar sein, dass deren Masse wahrscheinlich erst unter dem Eindruck einer tiefen Krise des zionistischen kolonialistischen Projekts für einen Bruch mit dem Zionismus gewonnen werden kann. Daher ist die Stärke des palästinensischen Befreiungskampfes selbst ein zentraler Motor, um überhaupt Risse im Zionismus zu vertiefen. Die antizionistische Linke in Israel hegt daher jedes Interesse am Erfolg des palästinensischen Befreiungskampfes und muss diesen bedingungslos unterstützen. Die jüdisch-israelische Arbeiter:innenklasse wird sich – wie jede Klasse, die den Kolonialismus ihrer „eigenen“ Bourgeoisie unterstützt – nur befreien können, wenn sie mit diesem bricht und das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes anerkennt.

2. Die Arbeiter:innenklasse im Nahen Osten

Eine zentrale Rolle im Kampf für die Befreiung Palästinas kommt den umliegenden Nachbarländern zu. Schon allein die Millionen palästinensischen Geflüchteten und die zentrale Rolle der Geflüchtetencamps in Jordanien oder im Libanon für den palästinensischen Befreiungskampf zeigen, dass dieser eng mit dem Schicksal der umliegenden Länder verbunden ist. So gab es im Zuge des Vergeltungsschlags Israels gegen die palästinensische Bevölkerung Gazas massive Protestwellen in den umliegenden Ländern. Im Irak, Iran, in Ägypten, Syrien und Jordanien sind Hunderttausende in Solidarität mit den Palästinenser:innen auf die Straße gegangen. Diese Proteste stellen Ansatzpunkte dar, die Arbeiter:innenklasse für revolutionäre Forderungen zu gewinnen.

a) Solidarität mit Palästina heißt Kampf dem Imperialismus!

Gleichzeitig hegen viele die Hoffnung, dass die dort Herrschenden Palästina befreien werden. Doch solchen Illusionen müssen wir entschieden entgegentreten. Weder Nasser oder Chomeini haben Palästina befreit, noch werden es El-Sisi oder Erdogan tun. Ihre Solidarität ist nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Sie zeigen sich vermeintlich an der Seite des palästinensischen Befreiungskampfes, um die eigene Bevölkerung zu besänftigen. Sie sind weder gewillt, in größerem Umfang palästinensische Geflüchtete aufzunehmen, noch eine wirkliche Konfrontation mit den imperialistischen Schutzmächten Israels zu suchen. Ihre zeitweilige zumindest verbale Konfrontation mit Israel liegt mehr in ihrer Konkurrenz um die Gunst der imperialistischen Länder begründet.

Außer den Huthis im Jemen hat kein Staat wirkliche Angriffe auf die imperialistische Präsenz unternommen. Doch nicht einmal zu einer Verurteilung der Angriffe auf den Jemen und die Huthis können sich sie meisten arabischen Regime durchringen. Ägypten könnte, wenn es denn wollte und bereit zur Konfrontation mit den USA und der EU wäre, den Suezkanal für den internationalen Warenverkehr sperren und so einen massiven wirtschaftlichen Druck auf die imperialistischen Staaten ausüben. Doch statt dessen bringt man sich lieber als „Vermittler“ und Verbündeter ins Geschäft.

Sie verraten den palästinensischen Befreiungskampf, sobald ihrer eigenen Stellung als Herrschende oder ihren wirtschaftlichen Beziehungen zu den imperialistischen Ländern Gefahr droht, denn ein wirklich befreites, sozialistisches Palästina würde selbstverständlich auch ihr eigenes Ende bedeuten. Daher ist es nicht verwunderlich, dass neben Ägypten und Jordanien in den letzten Jahren auch weitere Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain die Beziehungen zu Israel normalisiert und es international anerkannt haben. Das heißt: Wir können wir uns im Kampf nur auf Organisationen der Arbeiter:innenklasse verlassen, welche die heuchlerische Solidarität der Herrschenden aufdecken muss.

Deswegen ist ein wichtiger Punkt, den Einfluss imperialistischer Kräfte wie USA, EU, Russland und China auf die Region zurückzudrängen. Während die US-Invasionen der Vergangenheit die heutige Realität maßgeblich prägen, so muss man auch gegen „das kleinere Übel“ kämpfen, wie den russischen Imperialismus, der das Assadregime stützt. Die Praxis zeigt: Russland und China vertreten ihre eigenen imperialistischen Interessen, auch ihre Solidarität mit Palästina kommt über reine Lippenbekenntnisse, um Handelsbeziehungen aufzubessern, nicht hinaus.

  • Stopp aller Wirtschaftsbeziehungen mit, aller Waffenlieferungen an Israel!

  • Für die Offenlegung aller wirtschaftlichen und militärischen Abkommen sowie aller Geheimverträge mit Israel!

  • Für die Schließung der Militärbasen der USA und ihrer Verbündeten in der Türkei und im gesamten arabischen Raum!

  • Streiks, Blockaden und Arbeiter:innenboykott, um effektive Sanktionen gegen Israel durchzusetzen und strategische Versorgungsgüter für seine imperialistischen Unterstützer:innen zu blockieren.

b) Solidarität mit Palästina heißt Sturz der eigenen Regime!

Es muss der Zusammenhang aktiv dargestellt werden zwischen dem Leid der palästinensischen Bevölkerung und dem Elend vor Ort. Nicht nur, dass die Regierungen sich weigern, ernsthafte Maßnahmen im Interesse der Palästinenser:innen zu tätigen, sie tragen die Vorherrschaft und Ausbeutung seitens der imperialistischen Mächte aktiv mit – und sorgen so für eine Verelendung der Bevölkerung vor Ort. Doch wie? Ansatzpunkte für den Kampf können beispielsweise die Verschlechterung der Lebensqualität vor Ort und die aktuell sehr hohe Inflationsrate sein. Arbeiter:innen müssen in Protesten Forderungen, wie die gleitende Anpassung der Löhne an die Inflation, aufwerfen und diese mit Streiks durchsetzen.

Die Solidaritätsproteste müssen genutzt werden, aus der aktuellen Defensive zu kommen, die beispielsweise die Militärdiktaturen mit sich gebracht haben. Das schreibt sich leichter als getan, schließlich agieren Revolutionär:innen und Linke vor Ort unter halb- oder illegalen Umständen. Aber gleichzeitig bieten eben diese Proteste, die Möglichkeit, die Organisierungsarbeit wieder aufzunehmen.

Die gemeinsame Organisierung mit palästinensischen Geflüchteten erhöht die Kampfkraft. Diese muss mit der Forderung nach gleichen Löhnen und demokratischen Rechten für alle verbunden werden. Revolutionär:innen müssen dabei für die Öffnung der Grenzen zu Gaza und der Westbank kämpfen und eine Verbindung zum palästinensischen Befreiungskampf suchen.

  • Gegen Inflation! Für eine gleitende Lohnskala: 1 % Lohnzuwachs bei jedem Prozent Anstieg der Lebenshaltungskosten! Wahl von Vertreter:innen aus Betrieben, Elendsvierteln, Arbeiter:innenorganisationen, Frauen, Kleinhändler:innen und Verbraucher:innen zur Ermittlung eines Lebenshaltungskostenindexes für die Arbeiter:innen! Renten/Pensionen müssen gegen Inflation indexiert und vom Staat garantiert werden und dürfen nicht dem Auf und Ab der Aktienbörsen überlassen bleiben!

  • Kein Vertrauen in den kapitalistischen Staat und seinen Unterdrückungsapparat:

  • Abschaffung aller undemokratischen Elemente in kapitalistischen Verfassungen: Weg mit Monarchien, zweiten Kammern, Exekutivpräsident:innen, ungewählten Gerichten und Notstandsgesetzen!

c) Aus Fehlern lernen: Für einen zweiten Arabischen Frühling!

Dabei kann es jedoch nicht stehenbleiben. Es braucht das Aufflammen eines zweiten Arabischen Frühlings, in welchem sich die Arbeiter:innen in den umliegenden Ländern gegen ihre eigenen Unterdrücker:innen organisieren und die Bourgeoisie als herrschende Klasse stürzen. Das heißt auch, aus den existierenden Erfahrungen Lehren zu ziehen.

Nicht nur der Erfolg des palästinensischen Befreiungskampfs ist in großem Maße davon abhängig, ob es das Proletariat der umliegenden Länder schafft, den Klassenkonflikt zuzuspitzen, eigene demokratische Organe aufzubauen, Industrien unter ihre Kontrolle zu stellen, das Kapital zu enteignen und die Macht zu übernehmen. Auch die eigenen Despot:innen aus ihren Machtpositionen zu jagen, hängt davon ab. Es ist  zentral, dass Arbeiter:innenstrukturen auf eine Doppelmachtsituation hinarbeiten und schließlich die Macht erkämpfen, damit die Aufstände nicht wieder in Militärputschen enden. Dabei müssen Revolutionär:innen die Verbindung der palästinensischen Befreiung mit dem Kampf der Arbeiter:innenklasse in den Nachbarländern aufzeigen und für Solidaritätsstreiks, also politische Streiks eintreten. Hier wird schnell deutlich, dass es nicht nur den Aufbau von Arbeiter:innenräten in den Fabriken braucht, sondern auch demokratische Selbstverteidigungsmilizen, um die Kämpfe zu verteidigen. Denn die Herrschenden werden weder massenhafte Aufstände noch Generalstreiks zur Umsetzung politischer Forderungen, geschweige denn den Aufbau von Arbeiter:innenräten in den Fabriken freiwillig dulden. Damit massenhafte Aufstände und revolutionäre Situationen nicht im Sande verlaufen oder durch konterrevolutionäre Bewegungen zunichtegemacht werden, braucht es die Kampfkraft der internationalen Arbeiter:innenklasse. Das heißt, auch wir in den imperialistischen Ländern müssen in Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand auf die Straße gehen und den Klassenkampf vor Ort zuspitzen.

  • Für die organisierte Selbstverteidigung von Arbeiter:innen, nationalen Minderheiten und Jugendlichen! Enteignung des Großkapitals unter Arbeiter:innenkontrolle!

  • Für Regierungen der Arbeiter:innen und Bäuer:innen, die sich auf Räte und Milizen stützen und die Wirtschaft auf Grundlage demokratischer Planung reorganisieren. Für die permanente Revolution in Palästina und im Nahen Osten! Für revolutionär-kommunistische Parteien als Teil einer wiedergegründeten Internationale!

3. Die Arbeiter:innenklasse im Westen

Ob Belgien, Italien oder die Niederlande: Welche positive Rolle die Arbeiter:innenklasse in den westlichen Zentren spielen kann, haben bereits einige Vertreter:innen gezeigt. Sie sind dem Aufruf der palästinensischen Gewerkschaften nicht nur mit warmen Worten begegnet, sondern mit Taten. Doch wie kann die Kriegstreiberei insgesamt gestoppt werden?

a) Schluss mit der Komplizenschaft: Stoppt die Waffenlieferungen und Unterstützung der Kriegsindustrie!

Der westlichen Arbeiter:innenklasse kommt insofern eine Schlüsselrolle zu, als diese Staaten auch die wichtigsten wirtschaftlichen und militärischen Unterstützer und Verbündeten Israels sind. Gewerkschaften sollen ihre Mitglieder dazu aufrufen, Waffenlieferungen an Israel zu blockieren. Lohnabhängige in aller Welt sollten den gesamten Handel mit Israel auf dem Land-, See- und Luftweg boykottieren. Versuche, solche Aktionen oder Kundgebungen zur Unterstützung Palästinas als antisemitisch zu bezeichnen, müssen zurückgewiesen und entlarvt werden. In diesen Staaten kämpfen wir gegen jede weitere militärische, finanzielle und ökonomische Unterstützung des zionistischen Staates und seiner Angriffsmaschinerie.

Gegen Repression und für mehr Druck ist es zentral, dass die bestehenden Bewegungen sich koordinieren und gemeinsame Aktionen, Forderungen und Slogans hervorbringen. Dabei stellen Blockaden seitens der Arbeiter:innenklasse ein Mittel dar. Es braucht aber eine politische Kampagne, die das Verbot jeglicher Waffenexporte und Unterstützung des Krieges in finanzieller Form fordert. Statt Waffen braucht es medizinische Soforthilfe, statt finanzieller Unterstützung der israelischen Kriegsindustrie Mittel zur sofortigen Versorgung der Bevölkerung und zum Wiederaufbau Gazas – unter Kontrolle der Palästinenser:innen selbst, nicht durch irgendwelche NGOs oder Statthalterregime.

  • Schluss mit Komplizenschaft: Für den sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen nach und finanzieller Unterstützung an Israel! Rückzug aller entsandten Streitkräfte aus dem Nahen Osten und von der Mittelmeerküste! Für die Offenlegung aller Verträge!

  • Massive finanzielle Hilfe und Unterstützung ohne Auflagen für den Wiederaufbau der Infrastruktur, des Gesundheits- und Bildungssystems, einschließlich eines Impfprogramms, in Gaza und im Westjordanland, bezahlt von den imperialistischen Mächten!

b) Schluss mit Repression und antimuslimischer Hetze!

Eine weitere Aufgabe bildet der Kampf gegen massive rassistische antipalästinensische und antimuslimische Hetze, die seit Oktober massiv zugenommen haben. Sie versuchen dabei nicht nur, den Widerstand der Palästinenser:innen zu diskreditieren, sondern helfen auch dem weiteren Erstarken von rechten Kräften in den westlichen Staaten. Das heißt: Wir müssen der Hetze und Kriegstreiberei, der offiziellen „öffentlichen“ Meinung, der sich fast alle politischen Parteien der „Mitte“ – Konservative, Liberale, Grüne, Sozialdemokratie – wie auch jene der extremen Rechten, aber selbst die meisten linksreformistischen Organisationen und die Führungen der Gewerkschaften anschließen, entschlossen entgegentreten. Nur so – wenn wir Solidarität mit Palästina und den Kampf gegen Chauvinismus und Rassismus der Führungen der Arbeiter:innenbewegung miteinander verbinden – kann und wird es möglich sein, eine gemeinsame Solidaritätsbewegung für Palästina aufzubauen, die sich auf die Migrant:innen und auf die fortschrittlichen und internationalistischen Teile der Arbeiter:innenklasse stützt. Ebenso müssen wir gegen die Kriminalisierung der Solidaritätsbewegung mit Palästina einstehen. Wir fordern die Entkriminalisierung aller palästinensischen Organisationen und Vereine und die Streichung der sog. Antiterrorlisten der EU und USA.

  • Volle demokratische Rechte für alle palästinensischen politischen Organisationen und Vereine! Abschaffung aller sogenannten Antiterrorlisten der USA, EU oder anderer Mächte!
  • Hände weg von der BDS-Kampagne und allen anderen Solidaritätskampagnen für Palästina!
  • Für offene Grenzen, sichere Fluchtwege und Staatsbürger:innenrechte für alle!

Revolutionäre Organisation ist notwendig

Der Aufbau einer Massenbewegung, die sich vernetzt und koordiniert, ist mehr als notwendig. Aber um Generalstreiks, Enteignung und die Zerschlagung bürgerlicher Staaten durchzusetzen, braucht es Kräfte innerhalb der Bewegung, die dafür argumentieren und bereit sind, den Kampf aktiv zuzuspitzen. Dies entsteht nicht aus reiner Spontanität. Die historischen Kämpfe der Arbeiter:innenklasse haben gezeigt, dass diese aus sich heraus eher reformistisches Bewusstsein tragen, sich demnach im Kampf spontan eher innerhalb der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse bewegen. Das Verständnis für die Notwendigkeit der Zerschlagung des Kapitalismus geht darüber hinaus und muss daher von außen in die Arbeiter:innenklasse hineingetragen werden. Dafür brauchen wir ein revolutionäres Programm, das eine dialektisch-materialistische Analyse der gesellschaftlichen Entwicklungen beinhaltet, vergangene und aktuelle Kräfteverhältnisse in den Blick nimmt und daraus entsprechende Strategien und Taktiken entwickelt. Forderungen und Grundannahmen dafür haben wir versucht zu skizzieren. Sie sollen uns Revolutionär:innen als gemeinsame Handlungsgrundlage dienen und als Vermittlung zwischen revolutionärer Theorie und Praxis fungieren. Wichtig dabei ist, dass sie an die spezifischen Situationen der verschiedenen internationalen Kämpfe angepasst werden und an den jeweiligen Gegebenheiten ansetzen. Sie müssen ein System von Übergangsforderungen darstellen, das die Brücke schlagen kann von Minimalforderungen, die theoretisch schon im Kapitalismus umgesetzt werden könnten, über die Grenzen kapitalistischer Herrschaft hinweg und dadurch die soziale Macht von der einen Klasse in die Hände der anderen überführen.

Für uns ist der palästinensische Befreiungskampf kein Selbstzweck. Das stetige Morden, die anhaltende brutale Unterdrückung mögen zeitweilig die Hoffnung rauben, aber die Geschichte ist nicht zu Ende geschrieben. Der Kampf für ein befreites, sozialistisches Palästina ist notwendig für alle Palästinenser:innen, die dort leben, für alle Palästinenser:innen, die zurückkehren wollen – und für all jene, die durch die Fesseln des Imperialismus erdrückt werden.




Die strategische Krise der palästinensischen Linken

Martin Suchanek, Vom Widerstand zur Befreiung. Für ein säkulares, demokratisches, sozialistisches Palästina, Arbeiter:innenmacht-Broschüre, April 2024

Seit Jahrzehnten bildet die palästinensische Linke eine zentrale Kraft des Befreiungskampfs gegen die zionistische Vertreibung, die Kolonisierung und imperialistische Ordnung. Ihren Höhepunkt erlebte sie in den 1960er und 1970er Jahren; auch in der ersten Intifada 1987 – 1993 spielte sie eine bedeutende, teilweise führende Rolle.

Doch seither ging ihr Einfluss unter den palästinensischen Massen zurück. Die Krise praktisch aller organisierten Strömungen ist seit Jahrzehnten unleugbar. Die Faktoren für diesen Niedergang sind vielfältig.

Etliche Gruppierungen der palästinensischen Linken passten sich Anfang der 1990er Jahre der PLO-Führung an und unterstützten mehr oder weniger das Osloer Abkommen mit Israel. Im Gegenzug erhielten sie einen, wenn auch kleineren, Anteil an den Pfründen der Autonomiebehörde. Politisch diskreditierten sich aber, weil sie letztlich zu politischen Helfershelfer:innen eben dieser Behörde und ihrer Politik verkamen.

Andere Organisationen des Widerstandes – vor allem die PFLP und auch die Mehrheit der DFLP – lehnten das reaktionäre Osloabkommen, das zu einer Befriedung unter Anerkennung des Siedlerkolonialismus und eines schon 1993 kaum lebensfähigen Palästinenserstaates hätte führen sollen, zu Recht von Beginn an ab. Ihre Kritik am Ausverkauf an Imperialismus und Zionismus sollte sich innerhalb nur weniger Jahre als historisch und politisch richtig erweisen. Dennoch verloren auch diese Strömungen an Einfluss.

Zweifellos waren diese konsequent antizionistischen Teile der palästinensischen Linken wie auch oppositionelle Kräfte um die Fatah viel stärker der Repression durch die Besatzungstruppen ausgeliefert (und zeitweise auch durch die Autonomiebehörde). Doch dies erklärt letztlich nicht, warum beispielsweise PFLP und DFLP nicht vom immer offensichtlicheren Scheitern der Politik der PLO-Mehrheit und der Fatah profitieren konnten, sondern selbst durch den Antagonismus zwischen Fatah und Hamas an den politischen Rand des Geschehens gedrückt wurden.

Hinzu kam auch, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion große Teile der palästinensischen Linken in eine ideologische Konfusion stürzte, teilweise auch in eine finanzielle Krise. Neben der UdSSR brachen „antiwestliche“ reaktionäre arabische Regime , die bisher einen gewissen Schutz für die palästinensische Linke darstellten (und an die sich diese opportunistisch angepasst hatte), entweder zusammen oder vollzogen einen mehr oder weniger spektakulären Kurswechsel, um so ihre Haut zu retten. Selbst Syrien, das der einzige konstante Rückzugspunkt für die Auslandsführungen der palästinensischen Linken blieb, vollzog eine Wende zur USA und unterstützte diese 1991 im ersten Irakkrieg mit rund 17.000 Soldat:innen.

Diese Faktoren stellen eine wichtige, aber letztlich nicht die entscheidende Ursache für die Krise der palästinensischen Linken dar. Zweifellos spielte eine wichtige Rolle für diese, dass sie sich als unfähig erwies, ihre Strategie und Politik den veränderten Bedingungen des Befreiungskampfes nach der ersten Intifada anzupassen. Diese vollzog sie eher empirisch-taktisch, nicht jedoch, indem sie ihre eigentliche politische Strategie, die in den 1960er Jahren entwickelt worden war, selbst auf den Prüfstand stellte.

Das betrifft insbesondere auf die PFLP zu, auf deren Strategie, Taktik und Programmatik wir uns im folgenden Artikel aus mehreren Gründen konzentrieren werden. Erstens war sie über Jahrzehnte die größte und in vieler Hinsicht maßgebliche Organisation der palästinensischen Linken, die für einen konsequenten Kampf gegen die zionistische Besatzung und für die Befreiung ganz Palästinas mit revolutionären Mitteln eintrat.

Zweitens – und damit verbunden – entwickelte sie eine eigene Konzeption der Revolution in Palästina. Das 1969 auf ihrem zweiten Kongress angenommene Dokument „Strategy for the Liberation of Palestine“[i] legt umfassend ihre Analyse und politischen Schlussfolgerungen dar. Eine kritische Beschäftigung und Bewertung ist für Revolutionär:innen unerlässlich, die zur Ausarbeitung einer revolutionären Strategie und Programmatik für den Befreiungskampf beitragen wollen. Das Dokument legt eine Linie und Einschätzung nicht nur für die Vergangenheit fest, sondern die PFLP verweist in der Einleitung zur Veröffentlichung des Textes im Jahr 2017 selbst darauf, dass „dieses Dokument die grundlegenden Auffassungen und Analysen der PFLP in Bezug auf die Kolonialisierung Palästinas, die Kräfte der Revolution und die gegen das palästinensische Volk gerichteten Kräfte darlegt.“[ii]

Auch wenn seit 1969 viele wichtige Veränderungen stattgefunden haben, hält die Organisation fest: „ … die hier dargelegte grundlegende Analyse bleibt der leitende politische Rahmen für einen linken, revolutionären Ansatz zur Befreiung Palästinas – ein Ansatz, den wir als grundlegend notwendig betrachten, um den Sieg und die Befreiung in Palästina zu erreichen.“[iii]

Von der Nakba zur Dominanz des panarabischen Nationalismus

Bevor wir uns diesem Dokument und der Politik der PFLP zuwenden, wollen wir kurz verschiedene Stadien des Befreiungskampfes seit der Nakba (Katastrophe) 1948 bis zur Gründung der PFLP skizzieren, um so den Hintergrund für die Entwicklung der palästinensischen Linken darzulegen. Nach einer Behandlung dieses Dokumentes werden wir uns mit der weiteren Entwicklung des Kampfes und der Politik der PFLP beschäftigen.

Die Gründung Israel geht bekanntlich mit der Vertreibung von rund 750.000 bis 800.000 Palästinenser:innen, mehr als der Hälfe des Volkes zu diesem Zeitpunkt, einher. Diese Katastrophe stellt nicht nur eine historische Niederlage dar und ein zentrales Ereignis für die Etablierung einer neuen, imperialistischen Ordnung des Nahen Ostens. Die schmachvolle Niederlage der arabischen Staaten und ihrer militärischen Kräfte, der Arabischen Legion, warf auch die Frage nach deren Ursachen auf. Insbesondere an der Universität von Beirut entwickelte und vertiefte das eine kritische Diskussion, der zufolge man auch als Ursachen für die Niederlage die Schwächen der arabischen Staaten und ihrer Führungen in den Blick nehmen müsse.

Die Uneinheit und Zersplitterung des Nahen Ostens in zahlreiche arabische Staaten sowie deren ökonomische und soziale Rückständigkeit wären verantwortlich für die Niederlage. Notwendig wären Einheit und Modernisierung der arabischen Gesellschaften. Auch wenn diese Punkte auf die Klassenbasis der jeweiligen Regime verweisen, so waren die Diskurse unter den arabischen Intellektuellen der 1950er Jahre im Grunde von einem radikalen bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Nationalismus bestimmt.

Zugleich jedoch verschoben sich die Verhältnisse in den arabischen Staaten selbst mit dem Erstarken des panarabischen Nationalismus. 1952 bringt der Putsch der „Freien Offiziere“ in Ägypten Nasser an die Macht. Er verbreitert über eine Landreform seine soziale Basis über Schichten der Intelligenz, der Offizierskaste und der Mittelschichten hinaus und etabliert ein bonapartistisches Regime.

Im Kampf gegen den britischen Imperialismus um die Kontrolle des Suezkanals nähert sich der Nasserismus stärker der Sowjetunion an. Der Bau des Assuanstaudamms, die Verstaatlichung des Suezkanals und weitere staatskapitalistische Reformen spitzen den Konflikt mit dem Imperialismus zu.

In der Suezkrise 1956 – 1957 geht Ägypten als Sieger gegen Britannien, Frankreich und Israel hervor, die von den USA nicht unterstützt wurden, weil diese eine Großkonfrontation mit Sowjetunion vermeiden wollte. Dieser politische Erfolg steigert das Prestige des Nasserismus enorm. Der panarabische Nationalismus ergreift Syrien, den Irak und andere Länder und wird zu einer mächtigen politisch-ideologischen Strömung. Zugleich vertieft sich auch die Spaltung des arabischen Lagers, wo die Golfmonarchien stramm aufseiten der USA stehen.

BdAN und Fatah

In dieser Phase werden zwei für den palästinensischen Befreiungskampf wesentliche Organisationen gegründet. Um das Jahr 1952 formierte sich der Bund der Arabischen Nationalist:innen (BdAN), der vor allem in Jordanien stark anwuchs und rasch in anderen Staaten Ableger gründete. Der BdAN war zu Beginn eine bürgerlich-nationalistische Organisation, die sich jedoch unter dem Einfluss des Nasserismus nach links bewegte und von Beginn an eine Form der Etappentheorie der Revolution vertrat. In den späten 1950er Jahren und im Laufe der 1960er Jahre entwickelte er sich unter dem Einfluss von jüngeren Militanten wie George Habasch und Nayef Hawatmeh nach links, hin zum „Marxismus-Leninismus“, wenn auch in stalinistischer und maoistischer Prägung.

Die andere Organisation, die schon ab 1965 eine führende Rolle in der PLO übernehmen sollte, war Fatah, die 1957 in Kuwait gegründet worden war. Anders als der Panarabismus, der die palästinensische Revolution als Teil der gesamten arabischen Revolution begriff, vertrat Fatah früh das Primat des Kampfes um Palästina. Dieser sollte sich auf die eigene Nation konzentrieren und sich aus den inneren Kämpfen aller arabischen Staaten heraushalten (so wie diese im Gegenzug aus den politischen Auseinandersetzungen der Palästinenser:innen). Politisch war Fatah eine bürgerlich-nationalistische Befreiungsorganisation, die jedoch von Beginn an alle möglichen ideologischen Strömungen einschloss (inklusive solcher, die sich als marxistisch betrachteten). Sie setzte früher als andere auf den Guerillakrieg gegen den zionistischen Staat, was ihr enormes Prestige unter der palästinensischen Jugend einbrachte, einen massiven Zulauf an Kämpfer:innen und politische Unterstützung. Der Heroismus der Fatahkämpfer:innen bei der Schlacht um Karame am 21. März 1968 führte endgültig dazu, dass sich die Gruppierung  als populärste und stärkste Kraft im Widerstand etablierte, so dass sie 1968 die Führung der PLO übernehmen konnte.

Die Niederlage der arabischen Staaten im Sechstagekrieg 1967 markierte einen weiteren politischen Wendepunkt. Israel besetzte die Golanhöhen, die Westbank und die Halbinsel Sinai. Das stellte jedoch nicht nur militärisch, sondern vor allem politisch eine vernichtende Niederlage für Panarabismus und Nasserismus dar. Auch wenn die Allianz aus Ägypten, Syrien und anderen arabischen Staaten 1973 im Jom-Kippur-Krieg anfängliche Erfolge erzielen konnte, so drängte die israelischen Armee die syrischen Streitkräfte wieder zurück und konnte den Vormarsch ägyptischer Truppen stoppen. Dies erlaubte im Gegensatz zu 1967 eine „ehrenvolle“ Aufnahme von Verhandlungen über einen Waffenstillstand und ebnete letztlich den Weg für einen Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten und die Rückgabe Sinais.

Die Niederlage im Sechstagekrieg führte auch dazu, dass der BdAN unter den Palästinenser:innen gegenüber der Fatah politisch weit ins Hintertreffen geriet. Die Gründung der PFLP 1968 (u. a. aus Teilen des BdAN) war eine Reaktion sowohl auf das Scheitern Ägyptens und Syriens wie auch auf die politische Dominanz von Fatah.

Bevor wir uns jedoch deren Strategie im Detail zuwenden, wollen wir mit unserer Skizze des Befreiungskampfes fortfahren.

Guerillakampf als Hauptform

Die späten 1960er Jahre und die 1970er Jahre waren von der Dominanz des Guerillakampfes bestimmt. Auch wenn einzelne Gruppierungen wie die 1982 aus der jordanischen KP hervorgegangene Palästinensische Kommunistische Partei (heute Palästinensische Volkspartei) immer den bewaffneten Kampf ablehnten, so fristeten diese ein reformistisches Dasein, zumal die israelische Besatzung und Militärherrschaft den legalen und damit auch gewerkschaftlichen Spielraum in den besetzten Gebieten extrem einschränkten, da alle palästinensischen Organisationen verboten waren.

Doch die Konzentration auf den Guerillakampf hatte für die Befreiungsbewegung wie die Linke weitreichende Folgen. Erstens bildet faktisch nur die Bevölkerung in den Flüchtlingslagern außerhalb der von Israel kontrollierten Gebiete – und das hieß nach dem verlorenen Sechstagekrieg auch außerhalb von Westbank und Gaza – das Rekrutierungsfeld für den Widerstand, die im Kampf aktive Basis. Die Guerillastrategie führte zudem bei allen – Fatah wie Linken – zu einer weiteren Verengung der eigentlich kämpfenden Kräfte, nämlich auf jene, die sich für die Guerilla, also für einen professionellen bewaffneten Kampf, rekrutieren ließen.

Die „restliche“ Bevölkerung, also die große Mehrheit der vertriebenen oder unter Besatzung lebenden Arbeiter:innen und Bäuer:innen fungierte letztlich als passive Unterstützer:innen des Kampfes, die ihm bloß materiell, moralisch und politisch Hilfe leisten konnten.

Auch wenn Leninist:innen keine Kampfform per se ausschließen, wie Lenin selbst in „Der Partisanenkrieg“[iv] darlegt, so muss dieser immer nur als eine letztlich untergeordnete Form im Zusammenspiel mit anderen Formen des Klassenkampfes begriffen werden.

Die bürgerliche Führung um Arafat wie auch die palästinensische Linke erklärten sie jedoch – durchaus auch aufgrund einer berechtigten Abgrenzung zum Legalismus und Mechanismus der meisten stalinistischen KPen im arabischen Raum – zur Hauptform des Kampfes um Befreiung. Die Überlegenheit der „marxistisch-leninistischen“ Partei würde sich demzufolge daran erweisen, dass sie den Guerillakampf entschiedener und entschlossener als bürgerliche oder kleinbürgerliche Kräfte führen würde und daher zur Führung der Revolution berufen sei.

Dies führt auch dazu, dass neben den Guerillakampf, also bewaffneten Angriffen auf israelische Einheiten aus angrenzenden Staaten (vor allem Libanon, Syrien und bis zum schwarzen September Jordanien), bei der palästinensischen Linken vor allem am Beginn der 1970er Jahre der individuelle Terrorismus als Kampfform trat, mit allen schon von Lenin und Trotzki kategorisch kritisierten Folgen. Eine bestand darin, dass bis in die 1980er Jahre die Organisierungsarbeit in den besetzten Gebieten vernachlässigt wurde, obwohl es auch dort immer wieder zu Massenprotesten gegen die Siedlungspolitik, Steuererhöhung, Raub von Land und Ressourcen (v. a. Wasser) kam. Doch diese hätte andere Kampfmethoden erfordert als die Fokussierung auf die Rekrutierung für kleine, illegale Guerillaeinheiten.

Analyse und Strategie der PFLP

Das Grundproblem der palästinensischen Linken bestand darin, dass sie ironischer Weise mit der Fatah einig war bezüglich des Charakters der Revolution, nämlich dass diese eine national-demokratische wäre. Daher könne ihr Ziel nur in der Errichtung eines einheitlichen, demokratischen Staates Palästina bestehen. Dieser würde durch ein Bündnis aus Arbeiter:innenklasse, Bäuer:innenschaft und Kleinbürger:innentum erreicht werden, als dessen politische Repräsentation die PLO-Führung betrachtet wurde.

In ihrem zentralen Dokument „Strategy for the Liberation of Palestine“ (1969) hält die PFLP zu Recht fest, dass Revolutionär:innen ein klares Verständnis des Charakters der Revolution, der verschiedenen Klassen, ihrer Ziele, Feind:innen, Verbündeten brauchen und dies selbst nur auf Basis des wissenschaftlichen Sozialismus, einer revolutionären Theorie möglich ist.

Dieser Anspruch stellt zweifellos einen richtigen Ausgangspunkt dar, der die PFLP (wie auch andere „traditionelle“ Organisationen der palästinensischen Linken) wohltuend von aktuellen, „postmarxistischen“ oder postmodern inspirierten letztlich kleinbürgerlichen politischen Strömungen unterscheidet. Wir teilen auch grundsätzlich die Position, dass jede Revolution, will sie erfolgreich sein, einer revolutionären politischen Führung, einer Partei bedarf, die auf dieser Grundlage handelt (und natürlich diese Konzeption im Lichte der Erfahrung des Klassenkampfes selbst immer wieder einer Prüfung unterzieht).

Doch der Marxismus der PFLP – und damit auch ihre Strategie, ihr Programm und ihre Vorstellung von revolutionärer Partei – ist wie der des Großteils der palästinensischen Linken vom Stalinismus und besonders auch vom Maoismus geprägt.

Etappentheorie

Von diesen übernimmt sie die Etappentheorie der Revolution, der zufolge sich die palästinensische im national-demokratischen Stadium befände. Dabei polemisiert die PFLP zwar gegen die falsche Auffassung, dass der nationale Befreiungskampf kein Klassenkampf sei, aber sie hält daran fest, dass die aktuelle Phase keine sozialistische sei.

„Die Behauptung, wir befänden uns in einer Phase der nationalen Befreiung und nicht der sozialistischen Revolution, bezieht sich auf die Frage, welche Klassen in den Kampf verwickelt sind, welche von ihnen für und welche gegen die Revolution in jeder ihrer Phasen sind, beseitigt aber nicht die Klassenfrage oder die Frage nach dem Klassenkampf.

Nationale Befreiungskämpfe sind auch Klassenkämpfe. Sie sind Kämpfe zwischen dem Kolonialismus und der feudalen und kapitalistischen Klasse, deren Interessen mit denen der Kolonialisten verbunden sind, auf der einen Seite und den anderen Klassen des Volkes, die den größten Teil der Nation repräsentieren, auf der anderen Seite.“[v]

Und weiter: „Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unsere Klassensicht auf die Kräfte der palästinensischen Revolution den besonderen Charakter der Klassensituation in unterentwickelten Gesellschaften und die Tatsache, dass unser Kampf ein Kampf der nationalen Befreiung ist, sowie den besonderen Charakter der zionistischen Gefahr berücksichtigen muss.“[vi]

Die Aufgabe der revolutionären Kräfte bestünde daher darin, den nationalen Befreiungskampf ins Zentrum zu stellen. Diese Etappe muss zuerst abgeschlossen werden, um dann zur sozialistischen Revolution voranzuschreiten.

Für die PFLP bedeutet dies jedoch keinesfalls, dass alle Klassen gleichermaßen für die Revolution kämpfen oder deren Rückgrat stellen. Die Arbeiter:innenklasse ist für sie die letztlich revolutionäre Klasse. Aber im Stadium der nationalen Revolution sind ihre Interessen deckungsgleich mit jenen der Bäuer:innenschaft. Daher tauchen in ihrer strategischen Orientierung auch immer Arbeiter:innen und Bäuerinnen und Bauern, die Klasse der Lohnabhängigen und von Land besitzenden oder landlosen Kleineigentümer:innen an Produktionsmitteln als die zentrale Kraft der Revolution auf. In den Worten der PFLP:

„Das Material der palästinensischen Revolution, ihre Hauptstütze und ihre grundlegenden Kräfte sind die Arbeiter und Bauern. Diese Klassen bilden die Mehrheit des palästinensischen Volkes und füllen physisch alle Lager, Dörfer und armen Stadtviertel.

Hier liegen die Kräfte der Revolution … die Kräfte der Veränderung.“[vii]

Der PFLP ist also sehr wohl bewusst, dass es sich bei Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern um zwei verschiedene Klassen mit unterschiedlichen Klasseninteressen handelt. Allein in der demokratischen Etappe der Revolution treten diese nicht hervor. Folglich ist die revolutionären Kraft der Befreiung, als die sich die PFLP selbst vorstellt, auch keine Organisation oder Partei der Arbeiter:innenklasse, sondern eine revolutionäre  Arbeiter:innen- und Bäuer:innenpartei.

Diese Sicht wird von Anhänger:innen der Etappentheorie bis heute verteidigt, indem sie einen qualitativen Unterschied des Charakters und der Aufgaben der Revolution in den entwickelten kapitalistischen (imperialistischen) Ländern und der halbkolonialen oder kolonisierten Welt behaupten. So Samar Al-Saleh in ihrer Verteidigung der PFLP-Strategy unter dem Titel „The Palestinian Left Will Not Be Hijacked – A Critique of Palestine: A Socialist Introduction“[viii]: „Der verstorbene marxistisch-leninistische Philosoph Domenico Losurdo relativiert die in nationalen Befreiungskämpfen verfolgte frontale Strategie, indem er schreibt: ‚Während das Proletariat der Träger des emanzipatorischen Prozesses ist, der die Ketten der kapitalistischen Herrschaft sprengt, ist das Bündnis, das erforderlich ist, um die Fesseln der nationalen Unterdrückung zu sprengen, breiter angelegt.’“[ix]

Mit dieser und ähnlichen Formulierungen ist keineswegs nur gemeint, dass die Arbeiter:innenklasse versuchen muss, möglich breite Schichten des ländlichen und städtischen Kleinbürger:innentums als führende revolutionären Kraft für sich zu gewinnen. Vielmehr geht es um eine strategische Allianz der „revolutionären Klassen“ mit allen Kräften, die sich dem Kolonialismus und Imperialismus entgegenstellen. Dies umfasst vor allem das städtische Kleinbürger:innentum und die Mittelschichten, aber ggf. auch jene Teile der kapitalistischen Klasse, deren Interessen nicht mit denen der Kolonialist:innen/Imperialist:innen verbunden sind.

Am deutlichsten wird das, wenn wir uns die Frage stellen, welche Produktionsweise, welche Klasse unter einem Regime herrschen würde, das eine solche nationale Revolution an die Macht bringt. Es kann nur eine kapitalistische Produktionsweise sein. Auch wenn das Personal eines solchen Regimes weitgehend aus dem Kleinbürger:Innentum, den Mittelschichten käme, so würde es doch eine Herrschaftsform des Kapitals, nicht der Arbeiter:innen darstellen. Dazu müsste es nämlich über die bloß demokratische Revolution hinausgehen, das Kapital enteignen, für Schlüsselsektoren der Ökonomie eine demokratische Planwirtschaft errichten usw.

Es ist dies keine Seltenheit in der Geschichte der bürgerlichen Revolutionen, dass ihre entschlossensten Vorkämpfer:innen nur aus einer Minderheit der bürgerlichen Klasse stammten und sich oft aus dem Kleinbürger:innentum (v. a. aus der Intelligenz) rekrutierten. Einmal an der Macht müssen sie aber zwangsläufig ein bürgerliches Regime – in welcher politischen Form (Bonapartismus, Demokratie, Theokratie …) errichten –, weil eine kleinbürgerliche Produktionsweise nie die vorherrschende sein kann.

Diese Frage des Klassencharakters des Regimes, das eine Revolution hervorbringen wird, bleibt bei der PFLP jedoch entweder vage oder wird ganz im Sinne der Etappentheorie so beantwortet, dass der Kampf um eine sozialistische Umwälzung erst nach erfolgreicher antikolonialer oder nationaler Revolution in den Vordergrund treten kann.

Daher braucht es auch keine gesonderte Arbeiter:innenpartei, sondern die Volksfront kann sich auf zwei Klassen mit verschiedenen Interessen stützen. Die revolutionäre Partei, die jetzt gebildet werden soll, ist selbst eine klassenübergreifende, weil die unterschiedlichen Interessen von Arbeiter:innenklasse und Bäuer:innenschaft in der demokratischen Revolution keine entscheidende Rolle spielten.

Auch wenn die Ideologie der PFLP ein Stück weit an die falsche Vorstellung vom Charakter der Russischen Revolution 1905 als demokratischer Revolution anknüpft, so fällt sie weit hinter diesen frühen Bolschewismus zurück. Dieser hatte immer jeden Versuch entschieden bekämpft, eine gemeinsame Partei der Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern zu schaffen, sondern diesen vielmehr als Aufgabe des Klassenstandpunkts in der demokratischen Revolution kritisiert. Eine solche klassenübergreifende Partei wäre nämlich nur möglich, wenn die Arbeiter:innenklasse die Verfolgung ihrer eigenen spezifischen Klasseninteressen – sowohl ihrer unmittelbaren ökonomischen wie vor allem ihrer historischen, langfristigen – hinanstellt. Und da die Vertreter:innen der Bourgeoisie, aber auch des Kleinbürger:innentums, mögen sie ansonsten auch noch so borniert und kurzsichtig sein, über einen verlässlichen Klasseninstinkt bezüglich der Eigentumsfrage verfügen, werden sie von den Vertreter:innen des Proletariats nicht nur verbale Versicherungen, sondern auch Taten einfordern, die beweisen, dass sie keine radikale Arbeiter:innenpolitik betreiben.

Eine gemeinsame Partei von Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern stellt also notwendigerweise eine Fessel für das Proletariat dar – aber sie erscheint nicht als solche, wenn man Revolution gegen Zionismus und Imperialismus im Sinne der Etappentheorie begreift. In Wirklichkeit muss sie wie die gesamte Etappentheorie jedoch zur politischen Unterordnung des Proletariats führen und dazu, dass dieses nicht zur hegemonialen Kraft im Befreiungskampf werden kann.

Strategische und taktische Bündnisse

Ganz im Sinne der Etappentheorie befürwortet die PFLP ein strategisches Bündnis mit dem Kleinbürger:innentum. „Strategy for the Liberation of Palestine“ analysiert nicht nur Arbeiter:innenklasse und Bäuer:innenschaft, sondern auch die anderen Klassen der palästinensischen Gesellschaft:

Die Bourgeoisie stellt nicht nur einen sehr kleinen Teil der palästinensischen Nation dar (0,5 – 1 % der Gemeinschaft), sondern lebt auch unter ganz anderen Bedingungen. Auch wenn einzelne von ihnen den bewaffneten Kampf unterstützen mögen, so hat die Bourgeoisie, die vorwiegend im Exil und dort auch nicht in den Flüchtlingslagern lebt, zum größten Teil ihren Frieden mit dem Zionismus, Imperialismus und mit reaktionären Regimen gemacht. So sei z. B. die palästinensische Bourgeoisie in Jordanien, wie die PFLP in späteren Analysen durchaus treffend hervorhebt, zu einem untergeordneten Teil der dortigen Kapitalist:innenklasse geworden.

Faktisch, so die PFLP, könne die palästinensische Bourgeoisie für die Revolution abgeschrieben werden.

Anders das Kleinbürger:innentum. Dieses stelle wie in anderen Halbkolonien eine recht große, heterogene Klasse dar: Kleinunternehmer:innen, Handwerker:innen, Studierende, Lehrer:innen, Anwält:innen, Ingenieur:innen, Mediziner:innen und viele andere Vertreter:innen der „gebildeten Schichten“.

Auch wenn es unter gänzlich anderen, privilegierten Bedingungen als die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern lebe, so stelle es trotz seiner Schwankungen einen strategischen Verbündeten in der Revolution dar.

Die Fatah repräsentiert bis zu den Osloer Verträgen dieses kämpfende, wenn auch schwankende Kleinbürger:innentum, die PLO die gemeinsame Befreiungsfront oder Organisation. Das Verhältnis zur PLO-Führung gestaltete sich für die PFLP allerdings auch vor dem Osloabkommen immer wieder konflikthaft, bis hin zur Formierung eigener „linker“ Bündnisse, um Druck auf sie auszuüben (z. B. die Nationale Rettungsfront in den 1980er Jahren). Aber der Kampf um die Einheit der PLO bildete immer eine Konstante der PFLP-Politik, der verhindern sollte, dass die schwankende Fatah ins Feindeslager überläuft oder zu viele Zugeständnisse macht. So machte George Habasch 1985 in einem Interview deutlich, dass es gegenüber rechten Kräften in der PLO darum gehe, diese auf Kurs zu halten:

„Kurz gesagt, wir verlassen uns auf die historische und strategische Allianz der Revolution.“[x] Und im selben Interview: „In dieser Hinsicht gehen wir von der starken Überzeugung in die Notwendigkeit aus, dass die PLO zu ihrer nationalen Linie zurückkehrt, so dass sie ein Rahmen für die Einheit des palästinensischen Volkes bleibt und als deren einziger legitimer Repräsentant agiert.“[xi]

Diese Einheit bedeutet aber, selbst wenn sie durchgesetzt wird, nur die auf Basis des Programms der PLO und ihrer führenden Organisation. Für die Fatah bedeutet Einheit immer auch offen die Einheit aller Klassen der palästinensischen Nation. Ideologisiert wurde dies zeitweise auch durch die Vorstellung, dass Nakba und israelische Besatzung auch alle Klassenunterschiede nivelliert hätten. Diese Sicht bildet letztlich nur den ideellen Kitt dafür, dass Fatah – und damit der von ihr dominierten PLO – immer ein bürgerliches, kapitalistisches, demokratisches Palästina vorschwebt, also eines, in dem die palästinensische Bourgeoisie herrschen würde.

Wenn die PFLP davon spricht, dass die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern die führende Kräfte der Revolution wären, so heißt das nur, dass sie die nationale Befreiung konsequent führen, am entschiedensten kämpfen würden, während die Bourgeoisie im Voraus verrät und kleinbürgerliche Kräfte schwanken. Das heißt, die Frage, welche Klasse, die Revolution führen soll, beschränkt sich auf die, welche am entschiedensten den Kampf für ein bürgerlich-demokratisches Palästina vonantreibt. Auf sozioökonomischem Gebiet, hinsichtlich der Gesellschaftsordnung erkennt die PFLP im Voraus die Unvermeidlichkeit eines kapitalistischen Entwicklungsstadiums Palästinas nach der Revolution an. Das heißt aber, es für unvermeidlich zu halten, dass die Revolution die Kapitalist:innenklassen an die Macht bringt und den Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern eine untergeordnete Stellung als ausgebeutete Klasse zuweist.

Dies ist das unvermeidliche Resultat jeder Etappentheorie – zumal wenn man an ihr, wie die PFLP, sehr konsequent festhält.

Guerillastrategie, Nationalismus und internationale Politik

Für die PFLP stellt bis zur ersten Intifada der bewaffnete Kampf, genauer der Guerillakampf, das entscheidende, strategische Mittel gegen Zionismus und Imperialismus dar. Bis Ende der 1980er Jahre befindet sie sich darin, wenn auch mit einer anderen theoretischen Begründung, in grundsätzlicher Übereinstimmung mit der PLO-Charta und der Fatah.

Für die PFLP bildeten im Unterschied zur Fatah jedoch die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern die zentrale Kraft des bewaffneten Kampfes, genauer die Fedajin in den Flüchtlingslagern in Jordanien (bis Anfang der 1970er Jahre), in Syrien und im Libanon.

Die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern in Israel bzw. in den besetzten Gebieten bildeten bis zur 1. Intifada keine zentrale Kraft der Revolution. Die israelische Militärherrschaft (und nach dem Schwarzen September 1970 die jordanische Armee) verunmöglichten dort faktisch den Guerillakampf, so dass der Fokus auf die Rekrutierung auf Libanon und Syrien lag, wo die PFLP eine reale Basis aufbauen konnte. Als zweitgrößte Fraktion in der PLO hatte sie außerdem auch immer einen gewissen ideologisch-politischen Einfluss unter den Palästinenser:innen sowohl in den besetzten Gebieten wie in der Diaspora.

Da die PFLP (und auch die meisten anderen Strömungen der palästinensischen Linken) keine andere Zielsetzung der palästinensischen Revolution in ihrer national-demokratischen Etappe verfolgen als die Fatah, konnte sie sich nur auf dem Gebiet des bewaffneten Kampfes als die eigentlich zur Führung des Volkes berufene Kraft erweisen.

Das stellte sich jedoch von Beginn an als Unmöglichkeit heraus. Die Fatah hatte den Guerillakampf früher als BdAN und PFLP begonnen. Sie verfügte über größere finanzielle Mittel zur Ausbildung und Bewaffnung der Guerilla und nach der Schlacht um Karame über eine enormes Prestige.

Die PFLP – und andere Organisationen – versuchten das, durch eine Wende zum individuellen Terrorismus (den allerdings auch die PLO selbst mit professionelleren Mitteln vollzog), zu Anschlägen und Entführungen auszugleichen. Diese bis ca. 1972 dauernde Wende zeitigte zwar alle Nachteile des individuellen Terrorismus, brachte die PFLP (wie andere Organisationen, die weit länger an dieser Kampfmethode festhielten und diese komplett fetischisierten) in ihrer Konkurrenz zur Fatah nicht weiter.

Vielmehr erwies sich in den 1970er und 1980er Jahren die Guerillastrategie faktisch immer mehr als Sackgasse. Es wurde immer klarer, dass die Befreiung Palästinas durch einen noch so aufopfernden Guerillakampf, der sich auf die Rekrut:innen aus den Lagern stützte, Israel zwar in Aufregung versetzen, aber keineswegs den Zionismus stürzen konnte. Hinzu kam, dass die arabischen Regime nach 1967 militärisch eine Katastrophe erlitten und nach 1973 mehr und mehr dazu übergingen, ihren Frieden mit Israel zu machen.

Vor allem aber zeigte die Guerillastrategie von Beginn an ihre Grenzen hinsichtlich der aktiven Basis der Revolution. Letztlich kämpfen in der Guerilla nur jene, die sich für ein Leben als professionelle, bewaffneten Kämpfer:innen entscheiden bzw. dafür rekrutiert werden. Die Masse der Arbeiter:innen, des städtischen und ländlichen Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten sind an der proklamierten (oder auch faktischen) Hauptform des Kampfes nicht beteiligt, sondern vielmehr in die Rolle von passiven Unterstützer:innen gedrängt.

Hier liegt auch der entscheidende Unterschied zur leninistischen Position zum Partisanenkampf oder zur Guerilla. Wie Lenin zeigt, kann diese vom Marxismus unter bestimmten Bedingungen als eine Kampfform nicht ausgeschlossen werden, ja sogar einen Aufschwung von Massenaktionen (z. B. der Bäuerinnen und Bauern) signalisieren. Aber seine Rolle muss vor dem Hintergrund der Gesamtbewegung des Klassenkampfes verstanden werden, als letztlich untergeordnetes Moment.

Die Erhebung des Guerillakampfes zum strategischen Hauptmittel hingegen reflektiert im Grunde den Klassencharakter der führenden Kräfte des palästinensischen Befreiungskampfes der 1960er bis 1980er Jahre – des revolutionären kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Nationalismus. Die Fatah steht für den bürgerlichen, die PFLP für den radikal-kleinbürgerlichen Flügel der Bewegung.

Nationalismus und Marxismus

Dies drückt sich auch im Verhältnis der PFLP zum Nationalismus aus. Für sie besteht kein Widerspruch zwischen Marxismus und Nationalismus. Oder in George Habaschs Worten: „Ich sehe keinen Widerspruch darin, ein arabischer Nationalist und ein echter Sozialist zu sein.“[xii]

Dies ist keine zufällige Differenz zur marxistischen Position, wie sie z. B. Lenin in „Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage“ betont:

„Der Marxismus ist unvereinbar mit dem Nationalismus, mag dieser noch so ‚gerecht’, ‚sauber’, verfeinert und zivilisiert sein. Der Marxismus setzt an die Stelle jeglichen Nationalismus den Internationalismus, (…)“[xiii]

Gerade weil der Nationalismus untrennbar mit der bürgerlichen Gesellschaft verbunden ist, muss der Marxismus ihn als grundlegendes Phänomen verstehen und begreifen. Dazu gehört auch das Begreifen des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen und die Unterstützung des berechtigen Kampfes gegen nationale Unterdrückung. Nur durch das konsequente Vertreten dieser bürgerlich-demokratischen Forderung kann das Programm der sozialistischen Revolution – Verschmelzung der Nationen zu eine höheren Einheit – dereinst Realität werden. Um diesem Ziel den Weg zu bereiten, muss die Arbeiter:innenklasse bedingungslos das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nation anerkennen, daher muss ihre Arbeiter:innenklasse diese Forderung in ihr Programm aufnehmen, ja unter bestimmten Bedingungen um die Führung kämpfen, versuchen, selbst zur hegemonialen Kraft zu werden. Doch genau deshalb dürfen die Revolutionär:innen der unterdrückten Nation selbst niemals auf den Standpunkt des Nationalismus herabsinken, wie Lenin betont: „Kampf gegen jede nationale Unterdrückung – unbedingt ja. Kampf für jede nationale Entwicklung, für die ‚nationale Kultur’ schlechthin – unbedingt nein.“[xiv]

Im Grunde reflektiert die falsche Auffassung von Habasch und der PFLP zur Nation ihre Vorstellung vom demokratischen Charakter der Revolution und strategischen Bündnis mit der Fatah in Form der PLO.

Internationale Strategie?

Doch damit nicht genug, die PFLP verfolgt von Beginn an auch eine problematische internationale Strategie. Dabei kritisiert sie zu Recht die Weigerung der Fatah, die untrennbare Verbindung des palästinensischen Befreiungskampfs mit der antiimperialistischen Revolution in den arabischen Staaten anzuerkennen. Dies führe dazu, dass die Führung um Arafat immer wieder nach falschen Verbündeten im imperialistischen Lage suche und eine opportunistische Politik der „Nichteinmischung“ gegenüber den reaktionären arabischen Regimen betrieben hat, wie z. B. Saudi-Arabien oder Ägypten unter Sadat.

Dem hält die PFLP ein Bündnis der „revolutionären Kräfte“ im globalen Maßstab entgegen. Doch wer sind diese? Die Arbeiter:innenklasse, die armen Bäuerinnen und Bauern weltweit? Nein. Vielmehr spricht „The Strategy for the Liberation of Palestine“ von der VR China, der UdSSR, Kuba und den anderen „sozialististischen Staaten“, also bürokratisch degenerierten Arbeiter:innenstaaten. Auch wenn der PFLP natürlich bewusst ist, dass die UdSSR die Gründung Israels noch vor den westlichen Staaten anerkannte und keinesfalls immer konsequent handelte, so wird sie letztlich nicht nur als Verbündete, sondern als die führende Kraft im Kampf der „revolutionären Kräfte“ bezeichnet.[xv]

Neben den „sozialistischen Staaten“ gehörten dazu auch sog. progressive, antiimperialistische oder patriotische arabische Regime – vor allem Ägypten unter Nasser, Nordjemen und Syrien. Mit dem Zusammenbruch des Stalinismus, der Volksrepublik Jemen und dem Überlaufen Ägyptens ins US-Lager, blieb über die Jahre nur Syrien als enger Verbündeter übrig, dem die PFLP unter Assad auch während der syrischen Revolution treu blieb. Hinzu kommt heute außerdem der Iran.

Im gesamten geostrategischen Denken der PFLP, im Kampf im Weltmaßstab stehen einander letztlich nicht zwei Klassen, nicht Bourgeoisie und Proletariat, gegenüber, sondern zwei „Lager“. Auch wenn die PFLP häufig vom Internationalismus spricht, so unterscheidet sich ihre Politik grundlegend vom proletarischem Internationalismus. Dieser geht nämlich vom Klassenkampf als internationalem aus – und damit von der Einheit der Arbeiter:innenklasse. Natürlich ist diese nie spontan gegeben – und kann es auch gar nicht sein – sondern sie muss vielmehr durch die bewusste Tat, das bewusste, theoretisch und programmatisch geleitete Eingreifen von Revolutionär:innen errungen werden, indem aus durchaus vorhandenen spontanen Tendenzen eine bewusste Bewegung wird. Deren höchster und für die internationale Revolution auch unerlässlicher Ausdruck ist die revolutionäre Arbeiter:inneninternationale – nicht eine Sammlung von nationalrevolutionären Bewegungen und staatskapitalistischen, bonapartistischen Regimen!

Diese stellt das direkte Gegenteil einer Arbeiter:inneninternationale dar, was sich besonders tragisch zeigt, wenn sich Arbeiter:innenklasse und Bauern-/Bäuerinnenschaft dieser Länder gegen deren angeblich „progressiven“ Regime erheben. Die PFLP steht dann vor der Frage, sich entweder gegen die vorgeblich antiimperialistischen Regime zu wenden – oder diese und damit die konterrevolutionäre Unterdrückung der Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern zu unterstützen.

Ihre eigene strategische Konzeption verweist genau in diese Richtung. Die Anpassung an die bonapartischen, kapitalistischen Regime zieht sich daher wie ein roter Faden durch die Geschichte der PFLP. Sie folgt logisch aus einer falschen Analyse und Strategie, der Etappentheorie.

Die 1. Intifada

Doch mehr noch als alles andere hat im Grunde der bisherige Höhepunkt des Kampfes der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten und in Israel die Politik der PFLP wie aller palästinensischen Organisationen auf den Prüfstand gestellt.

Die 1. Intifada brach Ende 1987 aus, nachdem die israelischen Streitkräfte vier Jugendliche im Flüchtlingslager Dschabaliya in Gaza ermordet hatten. Zweifellos trug sie – wie alle Massenerhebungen – Züge eines spontanen Aufstandes, einer Massenrevolution, die alle Beteiligten in ihrem Umfang überraschte.

Doch es wäre eine verkürzte Analyse, die Intifada als Ausdruck „reiner Spontaneität“ zu begreifen. Erstens erschütterten seit 1967 immer wieder massive Aufstände, Streiks von Arbeiter:innen und Ladenbesitzer:innen die Westbank und Gaza. Zweitens wandte sich die Befreiungsbewegung schon vor der Intifada stärker der Bevölkerung in diesen Gebieten zu, auch weil die Guerillastrategie faktisch an ihre Grenzen stieß. Die  hatte als erste verstärkt illegale und halblegale Arbeit unter den Massen begonnen. Doch auch die PLO-Organisationen (Fatah, PFLP, DFPL) wandten sich dieser Arbeit schon vor der Intifada stärker zu.[xvi]

„Spätestens 1987 existierte überall in den besetzten Gebieten ein ganzes Netzwerk lokaler Organisationen, die in ihrer Gesamtheit eine komplette Infrastruktur bildeten: Gewerkschaften, Studentenbewegung, Frauenkomitees, medizinische Hilfskomitees etc. Alle PLO-Organisationen waren beteiligt. In der Frauen- und Arbeiterbewegung waren DFLP, PFLP und  führend, während Fatah ihren Schwerpunkt eindeutig auf die Shabiba-Bewegung (eine Jugendbewegung) gelegt hatte. Offensichtlich gab es 1987 kaum ein Dorf, Lager oder Stadtviertel, wo die Shabiba nicht vertreten war.“[xvii]

Sowohl die Fatah als auch PFLP, DFLP und  genossen eine massive Unterstützung unter der aufständischen Bevölkerung. Deren Kader wurden von Beginn als deren Führung anerkannt. Im Januar 1988 bildeten diese vier Organisationen die „Vereinigte Nationale Führung der Intifada“ (VNFI), die in den folgenden Jahren die koordinierende, leitende Rolle übernahm.

Allerdings hatten die in den besetzten Gebieten arbeitenden Kräfte der PFLP (wie auch der DFLP, tw. auch der Fatah) einen weit größeren Spielraum gegenüber ihren Exilführungen. Auch die VNFI darf man sich keineswegs als „von außen“, also der PLO-Führung komplett gesteuert vorstellen. Die erste Intifada und die vorbereitende Organisationsarbeit brachten nicht nur Massenorganisationen hervor, sondern auch eine Führung der Bewegung, die zwar mit viel Respekt auf die Exilführungen blickte, aber auch einen gewissen Grad an Unabhängigkeit besaß.

Hinzu kam, dass sich in der ersten Intifada auch Komitees in verschiedenen Bereichen bildeten, die Aktionen koordinierten, aber auch die Versorgung der Bevölkerung während der Generalstreiks und Ausstände sicherstellen sollten und so embryonale alternative staatliche Strukturen darstellten. Die Illegalisierung aller dieser Strukturen durch die israelische Besetzung im August 1988 stellte zweifellos einen bedeutenden Schlag gegen diese dar.

Im Grunde trug die Intifada alle Kennzeichen einer revolutionären Situation, sie war ein revolutionärer Massenaufstand. Doch es zeigten sich zugleich auch die politischen Schwächen der palästinensischen Linken.

Auch wenn PFLP (und DFLP) in den besetzten Gebieten wichtige Organisationsarbeit geleistet hatte, so widersprach die Intifada dem Revolutionsschema dieser Organisationen, die die Guerilla zur Hauptform des Kampfes erklärt hatten. Im Gegensatz dazu stellte die Intifada eine Bewegung dar, die alle Schichten der Bevölkerung – und auch die palästinensischen Arbeiter:innen in Israel – im Kampf vereinte. Diese Tatsache erkannte im Nachhinein auch die PFLP-Führung selbst.

„Was den bewaffneten Kampf betrifft, so hat die PFLP ihn bis zur Intifada befürwortet. Beim bewaffneten Kampf sind es die Fedajin, die kämpfen, aber bei der Intifada ist es das ganze palästinensische Volk – Kinder, Frauen, Künstler, alle. Mit der Intifada hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass es möglich ist, in einem Teil Palästinas Freiheit und Unabhängigkeit zu erreichen.“[xviii]

Habasch bringt hier eigentlich eine der realen Grenzen der Guerillastrategie – die Verengung der Basis der Kämpfenden – auf den Punkt. Aber er und die PFLP bleiben beim Konstatieren der Fakten und einer Einstellung des Guerillakampfes stehen. Sie unterziehen jedoch die Gesamtstrategie der Organisation keiner kritischen Überprüfung und verzichten daher auf eine wirkliche Neubestimmung ihre Politik bis heute.

Verschärft wird dieses Problem durch das Festhalten an der Etappentheorie durch alle Strömungen der stalinistisch geprägten palästinensischen Linken hindurch, egal ob sie nun den bewaffneten Kampf führten oder nicht. In der Intifada treten deren politisch entwaffnende Konsequenzen besonders deutlich hervor. Die Bewegung eint ein Ziel, das Ende der israelischen Besetzung von Gaza, Westbank und Ostjerusalem.

Doch dieses wirft nicht nur die Frage auf, in welchem Verhältnis es zur Befreiung ganz Palästinas steht, sondern auch, welche Klasse in diesen befreiten Gebieten die Macht übernimmt, sollte der Abzug der zionistischen Besatzung erzwungen werden. Für die Fatah war die Frage immer klar. Es würde sich um ein bürgerliches Regime handeln und die Fatah hat auch seit Beginn der 1980er Jahre das besitzende Kleinbürger:innentum und die Kleinbourgeoisie aus den besetzten Gebieten erfolgreich für sich gewonnen.

Hinsichtlich des Klassencharakters des Regimes eines zukünftigen Palästina hatten PFLP, DFLP und  der Fatah jedoch nichts entgegenzusetzen, erklärten sie doch selbst, dass sich die Revolution zuerst auf die Lösung der nationalen Frage zu konzentrieren hätte, der alle anderen untergeordnet wären.

Daher verabsäumte es die palästinensische Linke, obwohl sie über Massenrückhalt und eine gut organisierte Bewegung verfügte, eine eigenständige Klassenpolitik in der Intifada zu verfolgen. Damit das Proletariat nämlich zur führenden Klasse werden kann, hätte es seine spezifischen Klasseninteressen offen verfolgen und vor allem darauf vorbereitet werden müssen, die Machtfrage in seinem Sinne durch die Errichtung einer revolutionären Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung zu lösen. Ob diese in ganz Palästina oder zuerst nur in einzelnen Teilen möglich ist, ist dabei eine Frage des Kräfteverhältnisses, ebenso, wie prekär eine solche Form angesichts der Besatzung auch hätte sein mögen.

Doch die palästinensische Linke lehnte bewusst die direkte Verbindung des Kampfes um nationale Befreiung mit dem für ein sozialistisches Palästina ab, hielt an der Etappentheorie fest, statt sich ein Programm der permanenten Revolution zu eigen zu machen.

Diese führte auch mit dazu, dass sie schlecht auf den historischen Verrat der PLO-Führung unter Arafat vorbereitet war. Die  unterstützte das Osloer Abkommen, die DFLP spaltete sich entlang diese Frage. Die PFLP lehnte es korrekterweise von Beginn ab. Aber sie verfolgte selbst auch keine alternative politische Zielsetzung.

Das Osloer Abkommen und seine Folgen

So endet die erste Intifada schließlich im politischen Ausverkauf. Das erste Osloer Abkommen wurde 1993 vom damaligen PLO-Außenminister Abbas (nicht von der PLO selbst) ratifiziert. Es enthält die allgemeine, aber unkonkrete Vereinbarung, dass die Palästinenser:innen Westjordanland und Gaza als Staat übertragen kriegen sollten im Gegenzug für die Anerkennung Israels. Der Status Jerusalems blieb ungeklärt und die Frage der Rückkehr der Vertriebenen sowie der Siedlungen im Westjordanland sollte bei zukünftigen Verhandlungen geklärt werden.

1995 folgte das zweite Osloer Abkommen, dem zufolge das Westjordanland in verschiedene Stufen der „Autonomie“ aufgeteilt wird, ins sog. A-Gebiet unter Kontrolle der palästinensischen Autonomiebehörde, in B-Gebiete mit geteilter Kontrolle und C-Gebiete, die weiter direkt von der israelischen Besatzung kontrolliert werden.

Das Abkommen erwies sich schon in den 1990er Jahren als politisches Desaster. Die zionistische Rechte machte mit der Ermordung Rabins deutlich, dass sie selbst einen von Israel abhängigen, selbstständig nicht überlebensfähigen Reststaat Palästina nicht akzeptieren will. Die zionistische Regierung deckte den Siedlungsbau und Landraub weiter. Allein bis 2000 entstanden rund 200.000 weitere Siedlungen in der Westbank.

Von 2000 bis 2005 folgte als Reaktion auf diese Entwicklung und Provokationen durch Sharon die 2. Intifada, die jedoch ohne sichtbares Resultat für die Palästinenser:innen endete. Am Aufstand beteiligen sich PFLP, DFLP, der linke Flügel der Fatah (al-Aqsa-Märtyrerbrigaden) sowie Hamas und Islamischer Dschihad, die Fatahmehrheit und die Autonomiebehörde hingegen nicht. Faktisch gerieten sie zu einem verlängerten Arm der Besatzung und des Imperialismus.

Vom strategischen Bündnis mit Fatah zum Bündnis mit Hamas

Doch die Jahre brachten auch eine massive Verschiebung des Kräfteverhältnisses unter den Palästinenser:innen mit sich, wie die Wahlen 2006 deutlich machten. Die islamistische Hamas erringt dort eine Mehrheit von 74 der 132 Sitze, Fatah 45. Die palästinensische Linke erleidet ebenfalls eine Niederlage, die PFLP erhält 3 Sitze (4,2 % der Stimmen), das Bündnis aus DFLP, PVP (Palästinensische Volkspartei; ehemals: PKP) und FIDA (Palästinensische Demokratische Union) 2 Sitze.

Die Linke wird in der Polarisierung zwischen Fatah und Hamas faktisch an den Rand gedrängt – und das ändert sich auch nach 2006, nach der faktischen Spaltung zwischen Westbank und Gaza nicht. Die Hamas gelangt aber zur führenden Kraft des nationalen Widerstandes.

Auf diese Entwicklung reagiert die PFLP (und im Grund auch die DFLP) durch eine Neuadjustierung der Etappentheorie und eines strategischen Bündnisses mit dem „Kleinbürger:innentum“. Während die Fatah weitgehend für den Befreiungskampf ausfällt (auch wenn die PFLP weiter in der Fatah-geführten PLO bleibt), tritt nun die Hamas als strategische Partnerin ins Rampenlicht. Seit über einem Jahrzehnt befindet sich die PFLP in einem, wie sie es selbst nennt, „strategischen Bündnis“ mit der Hamas.

Die palästinensische Linke (PFLP und DFLP) ordnet sich faktisch der Führung der Hamas politisch unter – ganz so, wie sie sich zu Zeiten der PLO der Fatah untergeordnet hatte. Die „Ablehnungsfront“ gegen das Osloer Abkommen, die die palästinensische Linke mit Hamas, Dschihad und anderen Gruppen gebildet hat, ist kein bloß zeitweiliges militärisches Abkommen, sondern im Grunde ein strategisches Bündnis, das einer Unterordnung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse gleichkommt.

Die Ablehnungsfront ist dabei keineswegs nur auf Organisationen in Palästina beschränkt. Sie erstreckt sich auch seit Jahren auf ein Bündnis mit den „antiimperialistischen“ Regimen in Damaskus und Teheran. Darin wird das islamistische Regime zu einem verlässlichen Verbündeten im Befreiungskampf verklärt, z. B. bei einem Treffen von PFLP und Hamas mit Vertreter:innen des Iran im Jahr 2017:

„Während viele Länder der Region versuchen, ihre Beziehungen zum zionistischen Regime zu normalisieren, ist der Iran der Vorkämpfer im Kampf gegen Israel und für die Befreiung Palästinas.“[xix]

Die PFLP und die DFPL bilden seit Jahren mit Iran, Syrien, Hamas und libanesischer Hisbollah die sog. „Achse des Widerstandes“. Am Beginn der syrischen Revolution bröckelte diese, da sich die Hamas auf die Seite der Aufständischen gegen Assad stellte. Nicht so die palästinensische Linke, sie hielt ihren Verbündeten die Treue und denunzierte die syrische Revolution als zionististische Verschwörung.

„Die linken und nationalistischen Strömungen der palästinensischen politischen Elite – wie die Demokratische Front für die Befreiung Palästinas (DFLP) und die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) – hielten an ihrer Unterstützung für Damaskus fest und erklärten, die syrische Revolution sei eine zionistische Verschwörung.“[xx]

Dementsprechend begrüßte die PFLP auch die Eroberung Aleppos durch die Truppen des Assadregimes als „bedeutenden Sieg“. Gegenüber The New Arab erklärte das Mitglied des PFLP-Politbüros, Kayed al-Ghoul, die Position seiner Organisation folgendermaßen: „Syrien zu unterstützen und die Ereignisse in Aleppo und anderen Städten als Teil einer Verschwörung zur Zersplitterung des syrischen Staates zu betrachten.“[xxi]

Diese Position stellt ohne Zweifel einen, wenn nicht den politischen Tiefpunkt der Politik der PFLP dar. Die willfährige Unterstützung der syrischen Konterrevolution folgt jedoch nicht nur einer obskuren Verschwörungstheorie, sondern auch der reaktionären Logik, die globale Auseinandersetzung als Kampf von „Lagern“ und nicht als internationalen Klassenkampf zu begreifen.

So wichtig und notwendig es daher ist, sich mit den Kämpfer:innen der PFLP und der gesamten Befreiungsbewegung gegen den zionistischen Staat zu solidarisieren und gegen ihre Kriminalisierung zu kämpfen, so unabdingbar ist aber auch eine marxistische, revolutionäre Kritik ihrer politischen Analyse, ihrer Programmatik, ihrer Strategie und Taktik. Nur ein Bruch mit der Etappentheorie und eine Politik, die sich auf Theorie und Programm der permanenten Revolution stützt, kann einen Ausweg weisen aus der Führungskrise der palästinensischen Arbeiter:innenklasse.


Endnoten

[i] PFLP, The Strategy for the Liberation of Palestine, Foreign Language Press, 1917, Utrecht, ISBN 9781545142660

[ii] Ebenda, S. 7

[iii] Ebenda, S. 10

[iv] Lenin, Der Partisanenkrieg, in: LW 11, Seite S. 202 – 213

[v] Strategy, S. 44

[vi] Ebenda, S. 45

[vii] Ebenda, S. 47

[viii] https://viewpointmag.com/2021/12/11/the-palestinian-left-will-not-be-hijacked-a-critique-of-palestine-a-socialist-introduction/

[ix] Ebenda

[x] George Habasch: The Future of the Palestinian National Movement, in: Journal of Palestine Studies, 14. Mai, 1985, S. 6

[xi] Ebenda, S. 8

[xii] Taking Stock, Interview with George Habasch, in Journal of Palestine Studies XXVIII, no.1 (Autumn 1998), S. 92

[xiii] Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, in: Lenin, Werke, Bd. 20, S. 19

[xiv] Ebenda, S. 20

[xv] George Habasch: The Future of the Palestinian National Movement, in: Journal of Palestine Studies, 14. Mai, 1985, S. 5

[xvi] Siehe dazu auch Helga Baumgarten, Befreiung in den Staat. Palästinensische Nationalbewegung seit 1948, Frankfurt/Main 1991, S. 270 – 310

[xvii] Ebenda, S. 289

[xviii] Taking Stock, Interview with George Habasch, in Journal of Palestine Studies XXVIII, no.1 (Autumn 1998), S. 93

[xix] https://en.irna.ir/news/82617068/Hamas-PFLP-thank-Iran-for-supporting-Palestinian-cause

[xx] https://www.aljazeera.com/opinions/2018/10/20/how-do-palestinians-see-the-syrian-war

[xxi] https://www.newarab.com/opinion/divisions-exposed-pro-hizballah-leftist-palestinians-hail-assads-victory




Zum Missbrauch der IHRA-Definition von Antisemitismus

Dave Stockton / Markus Lehner, Vom Widerstand zur Befreiung. Für ein säkulares, demokratisches, sozialistisches Palästina, Arbeiter:innenmacht-Broschüre, April 2024

Die Definition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) wurde 2016 eingeführt und in mehreren europäischen und nordamerikanischen Staaten verwendet, um propalästinensische Aktivist:innen, einschließlich der wachsenden Zahl antizionistischer Jüdinnen und Juden, als „Antisemit:innen“ zu diffamieren. Sie wurde eingesetzt, um die freie Meinungsäußerung über das Wesen und die Handlungen des Staates Israel zu unterdrücken. Sie wurde auch benutzt, um propalästinensische Redner:innen und Veranstaltungen auf dem Universitätsgelände zu verbieten, darunter auch Proteste gegen Israels aktuelle Verbrechen in Gaza und den anderen besetzten Gebieten.

Grund dafür sind einfach die wachsenden Proteste gegen Aktionen des israelischen Staates innerhalb der Länder, deren Regierungen diesen seit Langem mit Waffen unterstützen und ihn auch wirtschaftlich stark fördern. Ein wichtiger Faktor für diesen Wandel sind die wiederholten Angriffe Israels auf den Gazastreifen von 2006 bis heute, die Ausweitung der Siedlungen im Westjordanland und in Ostjerusalem. Ein subjektiver Faktor ist jedoch das Aufkommen der Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung (BDS). Sie wurde im Juli 2005 von Omar Barghouti und Ramy Shaath und einer Vielzahl von palästinensischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und NGOs gegründet. Sie hat sich international ausgebreitet und mit der wachsenden Zahl jüdischer antizionistischer Gruppen sowie mit den älteren Palästinasolidaritätsbewegungen verbunden.

BDS mobilisiert mit dem Argument, dass es sich bei Israel um einen Apartheidstaat handelt, der mit Südafrika vor dem Untergang der weißen Herrschaft vergleichbar ist, weil es sich in seiner Verfassung zum Staat nur von Juden/Jüdinnen und zur Verkörperung nur ihres Selbstbestimmungsrechts erklärt hat. Darüber hinaus rechtfertigen das Fehlen gleicher Bürgerrechte und die Sicherheitsmauer (die BDS als „Apartheidmauer“ bezeichnet hat) tatsächlich Vergleiche mit Südafrika, obwohl es natürlich wichtige Unterschiede gibt (Südafrika musste z. B. die Arbeitskraft der schwarzen Mehrheit nutzen und konnte sie nicht verdrängen).

BDS setzt sich nicht nur für den Boykott von Unternehmen ein, die Waffen liefern und wirtschaftliche Unterstützung für die Siedlungsprojekte im Westjordanland leisten, sondern auch für das Rückkehrrecht der sechs Millionen Flüchtlinge in der weltweiten Diaspora und der Binnenvertriebenen in den besetzten Gebieten.

Obwohl BDS eine Bewegung ist, die auf der utopischen Idee basiert, dass friedliche Proteste und das Aufzeigen von Parallelen zur südafrikanischen Apartheid zu einem grundsätzlichen Wandel führen werden, wird Israels Anspruch, der einzige demokratische Staat im Nahen Osten zu sein, dadurch angegriffen. Damit wurde ein gewisser Rechtfertigungsdruck erzeugt und zumindest die Frage einer Zweistaatenregelung wieder auf den Tisch gebracht. Die Behauptung verschiedener Regierungen und Parlamente, BDS sei antisemitisch, ist lächerlich – es sei denn, Antisemitismus wird neu definiert als Kritik am israelischen Staat und Schaden, den dieser den Palästinenser:innen sowohl innerhalb seiner Grenzen als auch den Millionen darüber hinaus vertriebenen zufügt.

Was Israel mehr fürchtet als jede tatsächliche oder wahrscheinliche Beeinträchtigung, die ihm durch die BDS-Aktivitäten entsteht, ist die Bewegung der öffentlichen Meinung, insbesondere in den westlichen imperialistischen Staaten, die Israel sponsern und schützen, Resolutionen im UN-Sicherheitsrat blockieren und seine Kriege und die Räumung palästinensischen Landes entschuldigen. Daher hat es einen Gegenangriff gestartet, indem es Aktivist:innen, die sich mit Palästina solidarisieren, pauschal des Antisemitismus bezichtigt. Dabei hat sich die Förderung einer Theorie des „neuen Antisemitismus“, in Gestalt der IHRA-Definition und ihr beigefügten sogenannten Beispiele, als nützliche Waffe erwiesen.

Antisemitismus und Antizionismus

Revolutionäre Sozialist:innen haben schon immer alle Ausdrucksformen des Jüdinnen- und Judenhasses angeprangert, alle Stereotypen über ihre angebliche Macht und ihren Reichtum, die Kontrolle der Medien, des Rechts usw. sowie Verschwörungstheorien (Protokolle der Weisen von Zion) und die Leugnung des Holocausts. Der Kampf gegen diese giftige Hetze ist ein zentraler Bestandteil unseres antirassistischen Programms und der Herausbildung des revolutionären Bewusstseins der Arbeiter:innenklasse.

Revolutionär:innen haben den Holocaust nie heruntergespielt, geschweige denn geleugnet, seine schreckliche Natur und die Tatsache, dass er aufgrund des vorsätzlichen Ziels des Nationalsozialismus, alle europäischen Juden und Jüdinnen auszurotten, eine besondere Bedeutung trägt – durch die systematische industrielle Massentötung, der sechs Millionen jüdischstämmige Menschen zum Opfer gefallen sind. Aber es ist deshalb keine „Relativierung“, wenn man feststellt, dass Völkermord nicht nur an Juden und Jüdinnen verübt wird – es gibt und gab auch andere Völkermordversuche in der Neuzeit. Auf jeden Fall schmälert dies nicht die enorme Bedeutung des Holocausts, denn es macht ihn nicht weniger relevant, sondern mehr. Er zeigt, wohin die Dämonisierung vieler rassisch, national und geschlechtlich definierter Gruppen führen kann. Diese Sensibilisierung hat zu Recht Sympathie und Unterstützung für das jüdische Volk und diese anderen Betroffenen geweckt.

Der Antisemitismus spielt in der rechten und faschistischen Ideologie nach wie vor eine besonders wichtige Rolle, da er eine falsche „antikapitalistische“ Ideologie liefert, um die klassenunbewussten Schichten der Arbeiter:innenklasse und des Kleinbürger:innentums zu mobilisieren und ihre Wut von der Kapitalist:innenklasse abzulenken.

Der Aufstieg der extremen Rechten in Europa, den USA und in vielen anderen Ländern der Welt in den letzten Jahrzehnten ist ein Produkt der tiefen Krisenbedingungen des modernen Kapitalismus und der Zunahme der Rivalitäten nicht nur zwischen den imperialistischen Großmächten (USA, EU, China, Russland usw.), sondern auch zwischen aufstrebenden regionalen Mächten (Indien, Iran, Türkei, Saudi-Arabien usw.). Die Nazis und ihr Holocaust waren auch das Ergebnis solcher Bedingungen (mit Zuspitzung in den1930er Jahren) und des Versagens der Arbeiter:innenbewegung, sie aufzuhalten und zu besiegen und eine sozialistische Revolution herbeizuführen.

Heute ist der Übergang vom rassistischen Rechtspopulismus zum offenen Faschismus eine reale Möglichkeit und obwohl viele dieser Kräfte heute Israel unterstützen, haben einige (z. B. Viktor Orbáns Ungarn) bereits prominente jüdische Persönlichkeiten wie George Soros im Visier. Kampagnen gegen echten Antisemitismus sind für die Erziehung neuer Generationen gegen alle Formen von Rassenvorurteilen und -hass unerlässlich. Aber ihn mit der Opposition gegen Israels eigene völkermörderische Aktionen in Gaza zu verwechseln, wird bei dieser Aufgabe nicht helfen.

Eine wichtige Rolle bei der Verwirrung der Opposition gegen Israel und seine rassistische Politik und Aktionen besteht darin, neu zu definieren, was Antisemitismus bedeutet. Dazu hat die Theorie des so genannten „neuen“ Antisemitismus beigetragen. Irwin Cotler, kanadischer Rechtsprofessor und ehemaliger Justizminister in der liberalen Regierung Paul Martins von 2003 – 2006, definiert ihn so:

„Mit einem Wort: Der klassische Antisemitismus ist die Diskriminierung, die Verweigerung oder der Angriff auf das Recht der Juden, als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft zu leben, in der sie leben. Der neue Antisemitismus ist die Diskriminierung, die Verweigerung oder der Angriff auf das Recht des jüdischen Volkes, als gleichberechtigtes Mitglied der Familie der Nationen zu leben, mit Israel als dem anvisierten ,kollektiven Juden unter den Nationen’.“

Dieser Wandel kann nur echten Hass gegen Juden und Jüdinnen mit der Ablehnung der Handlungen des israelischen Staates verwechseln.

Die IHRA-Definition

Die sogenannte Arbeitsdefinition des Antisemitismus, die 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA-Definition) verabschiedet und von der Europäischen Union und der Europäischen Kommission angenommen wurde, übernimmt diesen Paradigmenwechsel von der Feindseligkeit gegenüber Juden und Jüdinnen aufgrund imaginärer Verbrechen zu der gegenüber Israel aufgrund realer. Ihre Kerndefinition lautet:

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegen Juden äußern kann. Rhetorische und physische Manifestationen des Antisemitismus richten sich gegen jüdische oder nichtjüdische Personen und/oder deren Eigentum, gegen jüdische Gemeinschaftseinrichtungen und religiöse Einrichtungen.“

Viele haben eingewandt, dass dies eine wortreiche Erweiterung einer reinen Wörterbuchdefinition ist, nämlich dass Antisemitismus verbal oder physisch zum Ausdruck gebrachter Hass auf Juden und Jüdinnen ist.

Wenn man dies bedenkt, wird klar, dass drei der elf „Beispiele“, die der IHRA-Definition beigefügt sind und von denen sieben den Staat Israel erwähnen, einen ganz anderen Zweck verfolgen, nämlich die Kritik an diesem Staat zu minimieren und den Einsatz für die Rechte der Palästinenser:innen zu behindern. Das siebte dieser Beispiele für Antisemitismus lautet: 

„dem jüdischen Volk das Recht auf Selbstbestimmung abzusprechen, z. B. durch die Behauptung, die Existenz eines Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen“.

Damit wird das „Recht“ der zionistischen Bewegung und des von ihr 1948 mit Waffengewalt geschaffenen Staates auf „Selbstbestimmung“ als unanfechtbar akzeptiert, ohne dass dieses Recht der arabischsprachigen Bevölkerung Palästinas, die bis dahin die Mehrheit bildete, anerkannt wird. Das Selbstbestimmungsrecht war ihnen seit 1917 von den britischen Besatzer:innen verweigert worden, und diese Verweigerung wurde und wird vom israelischen Staat weiterhin aufrechterhalten.

Auch wenn die vor den Schrecken des Holocausts nach Palästina ausgewanderten Menschen jedes Recht auf ein geschütztes und selbstbestimmtes Leben hatten, so wurde aus dem Projekt der Gründung eines neuen Staates auf dem Territorium des ehemaligen Mandatsgebietes gleichzeitig ein neokoloniales Gebilde, das sich für die imperialistischen Großmächte als wichtiges Element ihrer postkolonialen Beherrschung der wichtigen „Nahostregion“ eignete – unter völliger Missachtung der arabischen Bevölkerungen ebendieser im Allgemeinen und in Palästina im Speziellen. Die völlige Entkopplung der „Selbstbestimmung des jüdischen Volkes“ in der Region Palästina vom Kontext der postkolonialen Geschichte und Realität der Region führt zu einer völlig aberwitzigen, ahistorischen Neudefinition des Antisemitismus als Rechtfertigungsideologie für eine Form des postkolonialen Neoimperialismus.

Das zehnte Beispiel ist definiert als „Vergleiche der gegenwärtigen israelischen Politik mit der der Nazis“. Da es nicht unüblich ist, die Unterdrückung und unmenschlichen Handlungen verschiedener Staaten, einschließlich der oben genannten, mit den Nazis zu vergleichen, gibt es keinen Grund, Israel von einer solchen Kritik auszuschließen, insbesondere nach den letzten sechs Monaten.

Auch wenn man wie wir die spezielle historische Bedeutung des Holocausts anerkennt – so ist er vor allem eines: Kennzeichen der Tiefe der Krise der „westlichen Moderne“. Die Verbrechen des Kolonialismus und ihre Fortführung in den brutalen Repressionsakten der postkolonialen Weltordnung gehören jedoch zu den Grundlagen der „westlichen Moderne“ – zur Absicherung der ökonomischen, politischen und militärischen Ordnung, die zugunsten der privilegierten Schichten und Klassen in den imperialistischen Zentren erfolgt. Die Verbrechen, die beides hervorbringt, sind alle systembedingt grausam und müssen in solcher Weise auch benannt werden können.

Die achte ist ein Beispiel dafür, dass „mit zweierlei Maß gemessen wird, indem von Israel ein Verhalten verlangt wird, das von keiner anderen demokratischen Nation erwartet oder verlangt wird“.

Die Behauptung einer selektiven Kritik an Israel ist wirklich lächerlich, da die meisten Kritiker:innen der Handlungen Israels, und vor allem die extreme Linke, nicht nur Staaten wie Putins Russland für seine völkermörderischen Handlungen (in Tschetschenien) kritisiert haben, sondern auch Großbritannien und die USA für ihre schrecklichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Irak, ganz zu schweigen von Vietnam, Frankreichs Massaker in Algerien und Großbritanniens Wüten in Kenia, im Jemen usw. All diesen Fällen liegt dasselbe zugrunde – Imperialismus.

Außerdem kann Israel in seiner jetzigen Konstruktion als rein jüdischer Staat angesichts einer Masse davon Ausgeschlossener im eigenen, im besetzten Land und in der palästinensischen Diaspora Lebender keine „demokratische Nation“ sein. In welcher Form auch immer das Zusammenleben von jüdischen und palästinensischen Menschen in Zukunft vernünftig geregelt werden kann – in seiner jetzigen Form ist Israel ein in seinem Kern rassistisches Konstrukt, das Juden/Jüdinnen wie Palästinenser:innen keine wirklich sichere und gemeinsame Perspektive bietet.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Gründe für die Verleumdung und Verfolgung der Verteidiger:innen des arabischen Teils der Bevölkerung Palästinas aus der Sicht Israels ganz einfach darin liegen, die Vollendung ihrer Zerstörung als nationale Gemeinschaft „vom Fluss bis zum Meer“ zu erreichen.  Die Arbeiter:innenklasse, die antiimperialistische und demokratische Bewegung weltweit sowie die Standhaftigkeit ihres Volkes werden dies niemals zulassen.




Kommunalwahlen  in der Türkei – Erdoğan wird abgestraft

Dilara Lorin, Infomail 1250, 5. April 2024

Die Kommunalwahlen in der Türkei vom 31. März endeten mit einem Sieg der CHP als stärkste Kraft, während die AKP eine Niederlage hinnehmen musste. Von insgesamt 81 Bürgermeisterämtern errangen die CHP 31 und die AKP 24. Die CHP gewann auch in den fünf größten Städten des Landes, darunter Istanbul, Ankara und Izmir. Nach Wahlerfolgen in diesen Städten äußerte Erdoğan einst: „Wer Istanbul und Ankara gewinnt, hat das Land in der Hand.“ Heute, einige Kommunalwahlperioden später, hat sich die Situation jedoch geändert und der „Große Mann am Bosporus“ hat an Macht verloren. Dabei kommt der Erfolg der CHP für viele Menschen unerwartet.

Nur wenige Monate, nachdem Erdoğan am 28. Mai zum Präsidenten des Landes gewählt wurde, scheint seine Popularität zu schwanken und das Volk scheint ihn und die aktuelle Politik abzustrafen. Insbesondere der wiederholte Erfolg von Ekrem İmamoğlu (CHP) in Istanbul, mit einem größeren prozentualen Abstand als davor, hat die Unbesiegbarkeit der AKP erschüttert.

Unmut in der Bevölkerung

Die wirtschaftliche Lage hat sich in den letzten Jahren kaum erholt. Die Coronapandemie, das Erdbeben vom 6. Februar im letzten Jahr, die globale Wirtschaftskrise und der Einbruch der Baubranche in der Türkei sowie die fatale Wirtschaftspolitik und Instabilität Erdoğans haben dazu beigetragen. Im Februar belief sich die Inflationsrate auf 67 %. Grundnahrungsmittel sind für einen Großteil der Arbeiter:innen kaum noch erschwinglich.

Die anhaltend schlechte Wirtschaftslage in der Türkei trifft insbesondere die Mittelschicht und führt zu einer verstärkten Prekarisierung von Arbeiter:innen und Arbeitslosen. Während des Wahlkampfes spricht Erdoğan in seinen Reden von einer starken Wirtschaft und einer positiven Zukunftsaussicht. Allerdings wird bei genauerer Betrachtung der Zahlen eine Tendenz immer deutlicher: Die Armut nimmt mit jedem Monat zu. Der aktuelle Mindestlohn von 17.000 TL (487 Euro) liegt bereits unter der Armutsgrenze von 20.098 TL für eine vierköpfige Familie. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ein/e Alleinverdiener:in aufgrund der seit fünf Jahren steigenden Kosten für Nahrungsmittel nicht mehr in der Lage ist, eine Familie zu ernähren.

Der Anteil der Menschen, die unter der Hungers- und Armutsschwelle leben müssen, ist im März, im Monat der Kommunalwahlen, um 5,9 % bzw. 11 % angestiegen. Dabei stellt die Hungerschwelle die Minimumausgaben für Lebensmittel einer vierköpfigen Familie dar, wenn diese sich ausgewogen ernähren soll; die Armutsschwelle ist eine Kennzahl, welche die Minimalausgaben einer vierköpfigen Familie beschreibt. Diese alarmierende Nachricht wurde im März von der Konföderation der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes Birlesik Kamu-is Konfederasyonu veröffentlicht. Eine wichtige Wählerbasis für Erdoğan und die AKP waren unter anderem auch Rentner:innen, deren Lage sich ebenfalls verschlechtert hat. Laut der Gewerkschaft DISK liegt die Durchschnittsrente bei einem Sechstel im Vergleich zu den Renten in den zentraleuropäischen Ländern. Im Vergleich zum Mindestlohn war die Rente in der Türkei im Jahr 2002 noch um 22 % höher. Im Jahr 2023 lag sie jedoch etwa 26 % darunter.

Aber auch die Konkurrenz von rechtskonservativer Seite führte zur Niederlage der AKP. Die Yeniden Refah Partisi (Neue Wohlfahrtspartei), die in der Vergangenheit vor allem den religiösen Teil der Bevölkerung, der sich aufgrund der wirtschaftlichen Misere zunehmend von der AKP abwandte, für sich gewinnen konnte, erhielt 6 % der Stimmen und gewann die Wahlen in den Städten Yozgat und Sanliurfa. Dabei war die Yeniden Refah Partisi bei den Präsidentschaftswahlen noch Teil von Erdoğans „Volksallianz“, entschied sich bei diesen Wahlen jedoch, eigene Kandidat:innen aufzustellen, nachdem in Gesprächen mit der AKP anscheinend keine Kompromisse gefunden wurden. Auch Kandidat:innen, die aus der AKP ausgetreten sind oder auf deren Listen keinen Platz erhalten haben, lassen sich auf denen der YRP wiederfinden. Somit ist es nicht verwunderlich, dass enttäuschte Wähler:innen der AKP zur YRP übergehen, wenn sie nicht die CHP wählen. Dabei ist es auch die YRP gewesen, die unter anderem im Parlament die AKP und ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel anprangerte und dadurch auch viele Stimmen gewann, die sich aus islamischer Hinsicht mit dem palästinensischen Volk solidarisieren.

DEM – ein Jubelschrei der Kurd:innen wird laut

Die DEM-Partei (Die Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie), welche vor Dezember 2023 noch HEDEP (Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker), davor HDP (Demokratische Partei der Völker) hieß, gewann vor allem in den kurdischen Provinzen. Dabei konnten in 10 Bezirken Bürgermeisterämter geholt werden, wobei sie dadurch zur viertstärksten Kraft des Landes wurde. In über 65 Landkreisen, Bezirken und Gemeinden konnte sich DEM als die stärkste Kraft etablieren. Eine große Freude breitete sich vor allem in den kurdischen Gebieten über den Sieg aus, der trotz erzwungener Umbenennung der Partei, starker Repressionen, Haftstrafen, Einschüchterungen und Verbotsverfahren zu einer Stärkung und Ausweitung der Stimmen für sie geführt hat.

In Manisa, Mersin und Izmir sowie in vielen Bezirken Istanbuls und anderen Orten hat die DEM-Partei keine Kandidat:innen aufgestellt, nachdem Gespräche mit der CHP bezüglich der Wahl geführt wurden. Diese Orte sind vor allem diejenigen, in denen die CHP stärker vertreten ist. Die Politik der „kleinen Helferin“ ist für die DEM-Partei fatal, da sie der CHP in diesen Gebieten ihre Wähler:innenschaft überlässt. Es war schließlich auch die CHP, die die AKP bei der Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten unterstützte, um viele von ihnen, einschließlich des Co-Parteivorsitzenden Selahattin Demirtas, ins Gefängnis zu brachte.

Ein Wolf im Schafspelz: CHP

Die Liste der Unterstützung der Unterdrückung des kurdischen Volkes seitens der CHP ist lang und geht weit in die Geschichte der Türkei zurück. Aufgrund ihrer nationalistischen und bürgerlichen Ausrichtung kann diese Partei keineswegs als progressiv eingestuft werden.

Obwohl es verständlich ist, dass viele Menschen und Arbeiter:innen in der Nacht vom 31.03. auf den 01.04.2024 auf den Straßen waren und die Niederlage der AKP gefeiert haben, so sollte der Sieg der CHP für linke und revolutionäre Kräfte kein Grund zur Freude sein. Die CHP ist bereits bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 durch rassistische und hetzerische Kommentare und Forderungen gegenüber geflüchteten Menschen und Asylbewerber:innen aufgefallen, wobei sie Erdoğan mit der Forderung nach sofortiger Ausweisung von drei Millionen Menschen sogar rechts zu überholen versucht hat.

Im Wahlprogramm für die Kommunalwahlen 2024 wird unter anderem festgehalten, dass Maßnahmen zur Förderung der Rückkehr von Geflüchteten und Asylbewerber:innen in enger Zusammenarbeit mit „zuverlässigen“ NGOs vorangetrieben werden sollen. Die Stimmungsmache zeigt Folgen: Täglich werden Geflüchtete auf der Straße angegriffen, und diese Taten enden tragischerweise oft in Mord. Die indirekte Wahlunterstützung in einigen Orten, welche die DEM-Partei als linke Opposition der CHP geleistet hat, indem sie keine eigenen Kandidat:innen aufstellen ließ, ist zu kritisieren und zeigt selbst den kleinbürgerlichen Charakter der Politik der DEM.

Aktuelle Erhebungen in Wan und anderen Städten – ein erster Erfolg

Im Vergleich zu den Kommunalwahlen 2019, bei denen die HDP 65 Kommunen gewinnen konnte, konnte sich die DEM behaupten. Nach den Erfolgen vor 5 Jahren wurden jedoch in 48 Kommunen die Bürgermeister:innen von der Regierung abgesetzt und durch AKP-nahe Verwalter:innen ersetzt und dadurch staatlich zwangsverwaltet.

Auch in diesem Jahr wurde der Erfolg der DEM-Partei in den kurdischen Provinzen schon am 2. April seitens der Regierung in Frage gestellt. Schon während der Wahl wurden Wahlbetrug und Wahlfälschung angewandt. Dabei berichtete die DEM noch am selben Tag, dass bis zu 46.000 Staatbedienstete – darunter vor allem Polizist:innen und Soldat:innen – in den kurdischen Gebieten ihre Stimme abgegeben hatten, obwohl diese nicht aus diesen Orten stammen, sondern dahin transferiert wurden, um die Stimmabgabe zu Gunsten der Regierung zu beeinflussen.

Am Morgen des 2. April folgte dann der erste Schlag der Regierung gegen die DEM. In Wan (türkisch: Van) wurde nicht dem gewählten DEM-Politiker Abdullah Zeydan (55 %), sondern dem AKP-Kandidaten Abdulahat Arvas, welcher lediglich 25 % der Stimmen für sich gewinnen konnte, die Ernennungsurkunde überreicht. Zeydan wurden auf Anordnung der türkischen Regierung die Bürgerrechte entzogen, die er erst im vergangenen Jahr wiedererlangt hatte, nachdem er 2016 als HDP-Abgeordneter verhaftet worden war und fünf Jahre im Gefängnis verbracht hatte. Wan ist die Provinz, in der die DEM in allen Bezirken die Mehrheit errungen hat, was noch deutlicher macht, dass seit diesem bürokratischen und undemokratischen Akt der AKP die Menschen auf die Straße gehen, um dagegen zu protestieren.

Die DEM-Partei rief richtigerweise kurzerhand zu Protesten auf und erklärte in ihrer Pressemitteilung, dass Respekt vor den Wähler:innen eingefordert werden soll. Der Co-Vorsitzende der DEM-Partei erklärte in einer Ansprache in Wan: „Wan ist das Herz Kurdistans und die Menschen in Wan haben zu Newroz, bei den Wahlen und heute hier auf diesem Platz deutlich gemacht, dass die Forderung der Kurdinnen und Kurden nach Freiheit und Demokratie nicht mit Gewalt und Zwangsverwaltung unterdrückt werden kann. Seit zwei Wahlperioden werden unsere Rathäuser von Treuhänder:innen zwangsverwaltet und jetzt soll ein weiteres Mal der Willen der Bevölkerung mit einem politischen und juristischen Komplott ausgeschaltet werden. Das werden wir nicht zulassen. Dieser Putsch wird keinen Erfolg haben, wenn wir trotz Repression, Knüppeln und Tränengas weiter zusammenhalten. Wir werden die von uns gewonnenen 14 Rathäuser in der Provinz Wan verteidigen.“ Am selben Tag fand eine Sondersitzung des Vorstands der Partei statt, welcher auch der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrıkulu beiwohnte. Straßenbarrikaden wurden errichtet und Tausende Menschen folgten diesem Aufruf. Die Geschäfte in Wan blieben größtenteils geschlossen. Der Staat reagiert mit massiver Gewalt und Repression und stürmt das Parteigebäude der DEM. Doch der Protest weitete sich rasch aus: Weitere Städte, darunter Colemêrg (türkisch: Hakkari), Gever (Yüksekova) und Amed (Diyarbakir) schlossen sich dem Ausstand an.

Die Ausweitung der Proteste und der Druck, den sie auf die Regierung ausübten, hatten Erfolg: Noch am Mittwoch, dem 3. April, entschied der Hohe Wahlausschuss, welche zuvor den Kandidaten der AKP zugelassen hatte, über den Einspruch der Partei DEM und beschloss, den Wahlsieger Zeydan anzuerkennen.

Ein Funke ist entfacht

Die Proteste zeigen, dass sich das kurdische Volk seiner Stärke in diesem Land bewusst ist. Sie zeigen aber auch die Schwäche der AKP und ihren mangelnden Rückhalt in der Bevölkerung. Denn als die Regierung 2016 nach den Kommunalwahlen in den mehrheitlich kurdischen Kommunen die Bürgermeister:innen absetzte und durch eigene Kandidat:innen zwangsverwalten ließ, brachen ebenfalls starke Proteste aus, die jedoch blutig niedergeschlagen wurden. Über die Städte des stärksten Widerstandes wurden Ausgangssperren verhängt, Journalist:innen der Zutritt verweigert und mehr als 200 Menschen ermordet. Der Versuch, den gewählten Bürgermeister der DEM in Wan abzusetzen, ist daher ein Versuch der Demonstration der Unterdrückung und Repressionsmaschinerie. Dass dies innerhalb eines Tages wieder zurückgenommen wurde, zeigt aber auch die Angst vor einer Ausweitung der Proteste und davor, dass der Funke des Aufbegehrens weitere Gebiete erfassen und sich auch über ganz Kurdistan ausbreiten könnte. Dabei sollten die Proteste nicht stehenbleiben, denn die nächsten Wahlen sind erst in 4 Jahren. In der Zwischenzeit kann der Staat trotzdem seine repressiven und unterdrückerischen Handlungen ausüben. Denn eines muss klar sein: kein Vertrauen in staatliche Strukturen!

Die DEM-Partei kann dabei eine tragende Rolle einnehmen und hat als Massenpartei auch die Aufgabe, die aktuellen Proteste auszuweiten. Aufgabe von reformistischen, aber auch radikalen kleinbürgerlichen Parteien ist es dabei nicht, lediglich in Parlamenten und anderen Gremien Sitzplätze zu gewinnen, sondern den Raum der Wahl zu nutzen, um Bewegungen und Forderungen publik zu machen. Sie muss Vorreiterin der aktuellen Proteste sein und diese weiter über das ganze Land ausweiten.

Dabei muss sie aber vor allem versuchen, die Unterstützung der türkischen, progressiven Teile der Arbeiter:innenklasse wieder für sich zu gewinnen, denn die Unterstützung der kurdischen Bevölkerung hat in den letzten Wahlen stagniert. Gegen die Krisen, die Armut und Unterdrückung müssen Gewerkschaften unter Druck gesetzt werden, um landesweit für ein Sofortprogramm gegen die Preissteigerungen, für einen Mindestlohn und Mindestrenten, die die Lebenshaltung decken, und für eine automatische Anpassung dieser an die Inflation zu kämpfen. Dies muss von Ausschüssen der Gewerkschaften und Lohnabhängigen kontrolliert werden.

Um dieses Ziel umzusetzen, sind politische Massenstreiks (bis hin zum Generalstreik) sowie massive Demonstrationen notwendig, die von lokalen Aktionskomitees organisiert und kontrolliert werden. Gegen die Repression und Provokationen durch Staat und Rechte müssen Selbstverteidigungsorgane gebildet werden.

Es kann letztendlich nur eine starke Bewegung der Unterdrückten und Arbeiter:innen gegen die zukünftigen  Komplotte der Regierung, die Wirtschaftskrise, Unterdrückung und Armut vorgehen. Um solch eine Bewegung aufzubauen, welche auch in den wirtschaftlich stärkeren Städten im Westen des Landes die Arbeiter:innen und Unterdrückten für sich gewinnt, müssen die DEM und andere linke Parteien und Organisationen anfangen, vermehrt Basisstrukturen in den Städten, an Unis und in Betrieben aufzubauen. Auch die Basis der CHP muss angesprochen werden, um die Politik der Partei zu entlarven, welche mittels Rassismus versucht, die Bevölkerung zu spalten, und deren nationalistische Ausrichtung keine Lösungen bieten kann. Vor allem aber müssen die Gewerkschaften in den Kampf gezogen werden – ihnen kommt eine Schlüsselrolle bei einer wirklichen Konfrontation mit der Regierung zu.

Es braucht außerdem Selbstverteidigungseinheiten der Unterdrückten- und Arbeiter:innen, die die Parteigebäude, Rathäuser etc., die von der DEM gewonnen wurden, gegen Repression verteidigen. Die Türkei sitzt schon lange auf einem absteigenden Ast und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Bevölkerung den Druck von Armut, Hunger und Rassismus nicht mehr aushalten kann. Aufflammende Bewegungen gegen die Regierung dürfen aber keine Hoffnung in die CHP vorheucheln und müssen die Unterdrückten des Landes mit den Arbeiter:innen vereinen. Dies kann letztlich nur eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei auf Grundlage eines revolutionären Programms vorantreiben.




Der Kampf der Belutsch:innen gegen staatliche Morde und Ausbeutung

Minerwa Tahir, Gruppe Arbeiter:innemacht, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Ihr Land ist besetzt und Militärkontrollpunkte kontrollieren ihre Bewegungsfreiheit. Das Land ist reich an Gas, Mineralien und Öl, aber ihre Ressourcen werden ohne Entschädigung geplündert. Ihnen werden die grundlegenden sozialen und demokratischen Rechte vorenthalten. Sie werden häufig als „Terrorist:innen“ gebrandmarkt und entmenschlicht. Ähnlich wie die Palästinenser:innen sind die Belutsch:innen nicht länger bereit, ihr gewaltvolles Schicksal hinzunehmen.

Das Volk der Belutsch:innen lebt in der Region Belutschistan, die zwischen Pakistan und Iran aufgeteilt ist. Dies ist die Provinz mit der größten Fläche und der kleinsten Bevölkerung. Sie grenzt an den Iran und Afghanistan. In der Region gibt es seit Langem eine Aufstandsbewegung, die von Separatist:innen angeführt wird, die die Unabhängigkeit von Pakistan fordern. Andere Teile der nationalen Bewegung fordern eine größere Autonomie und/oder mehr Rechte innerhalb des pakistanischen Staatsgefüges.

Die jüngste Auseinandersetzung zwischen Belutsch:innen und pakistanischem Staat wurde durch die Ermordung des 24-jährigen Balach Mola Bakhsh und dreier weiterer Personen am 23. Oktober 2023 in der Stadt Turbat im Distrikt Kech in Belutschistan ausgelöst. Es kam zu einer Welle von Protesten, da die Belutsch:innen den Staat dafür anklagen, dass Bakhsh ein weiteres Opfer außergerichtlicher Tötungen sei. Die Proteste gipfelten in dem „Langen Marsch der Belutsch:innen“, eines über 1.000 Meilen durchgeführten Protestmarsches, der von Familienangehörigen, Freund:innen und anderen Aktivist:innen zu Fuß unternommen wurde. Während dessen gesamter Dauer führten die pakistanischen Behörden eine Desinformationskampagne gegen die Demonstrant:innen und setzten sie wiederholt Einschüchterungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen aus.

Hintergrund

Am 23. November 2023 meldete die pakistanische Abteilung für Terrorismusbekämpfung (CTD), dass sie in einer geheimdienstlichen Operation vier „Terrorist:innen“ getötet habe. Einer von ihnen wurde als Bakhsh identifiziert, nachdem die Leichen der örtlichen Polizei übergeben worden waren. Unterdessen begann die Familie von Bakhsh mit dem Leichnam eine Sitzdemonstration. Sie berichteten, dass Bakhsh vor einem Monat von der CTD verhaftet und dem örtlichen Gericht vorgeführt worden war, das ihn für 10 Tage in Polizeigewahrsam nahm.

Die Demonstrant:innen forderten die Verhaftung der CTD-Beamt:innen und die Einsetzung einer gerichtlichen Kommission zur Untersuchung der Morde. Nach Angaben der Familie wurden alle vier Opfer in Gewahrsam getötet. Ein Richter am Gericht von Turbat hatte die örtliche Polizei daraufhin sogar angewiesen, eine Anzeige gegen den für die Morde verantwortlichen Beamten zu erstatten. Doch das verläuft seither im Sand.

BLM: Langer Marsch der Belutsch:innen

Der Lange Marsch der Belutsch:innen (BLM) begann am 6. Dezember 2023, wird vom Baloch Yakjehti Committee (Baloch-Solidaritätskomitee) organisiert und von unbewaffneten Frauen und Kindern aus Belutschistan angeführt, die auf ihrem Weg von dort nach Islamabad schweren Repressionen und Kriminalisierung ausgesetzt waren. Diese Frauen haben jahrzehntelang unter Schmerzen und Ängsten gelitten, denn ihre Väter, Ehemänner, Brüder und Söhne sind „gewaltsam verschwunden“. Das gewaltsame Verschwindenlassen ist eine jahrzehntelange Praxis, gegen die die Belutsch:innen immer wieder protestieren. Männer werden Berichten zufolge von staatlichen Behörden wegen Terrorismusverdachts festgenommen und „verschwinden“ dann. Am 16. Januar 2024 berichtete die Untersuchungskommission für gewaltsames Verschwindenlassen, dass sie seit 2011 insgesamt 10.078 Fälle registriert hat, davon 3.485 in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa und 2.752 in Belutschistan.

Zu den Forderungen der BLM gehörten nicht nur Gerechtigkeit für die vier Opfer der Morde vom Oktober, sondern auch ein Ende der barbarischen und undemokratischen Praktiken des Verschwindenlassens und Tötens.

Am 17. Dezember wurden 20 belutschische Demonstrant:innen verhaftet, als der lange Marsch über Dera Ghazi Khan in die Provinz Punjab (Pandschab) zu gelangen versuchte.

Als die unbewaffneten Demonstrant:innen in der Nähe von Islamabad ankamen, ging die Polizei mit brutaler Gewalt gegen sie vor, unter anderem mit Tränengas, Schlagstöcken und Wasserwerfern. Um ihnen den Weg nach Islamabad zu versperren, errichtete die Polizei Barrikaden rund um die Hauptstadt, schlug und verhaftete eine Reihe von Teilnehmer:innen. Gegen ältere Menschen und Minderjährige wurde brutale Gewalt angewandt, während Frauen von Männern in Uniform weggezerrt wurden.

Belutschische Frauen führen internationale Solidarität an

Der von Frauen angeführte Protest der Belutsch:innen musste aufgrund verschiedener Faktoren, die von extremer Kälte bis hin zu schweren staatlichen Repressionen reichten, abgebrochen werden. Dennoch bedeutet das nicht auf ein Ende der Bewegung hin. Es scheint vielmehr der Beginn der nächsten Phase der Bewegung zu sein, d. h. einer, die die Unterdrückten der Region zusammenführt. Am 21. Januar 2024 organisierte das Baloch Yakjehti Committee trotz aller staatlichen Hindernisse die erste Internationale Konferenz der Unterdrückten in Islamabad. Diese wurde mit dem Ziel organisiert, die Unterdrückten der Region zu vereinen und den „Völkermord an den Belutsch:innen“ aufzuklären. Dies ist natürlich eine positive Entwicklung, die der Bewegung gegen nationale Unterdrückung helfen wird, aus ihrer Isolation auszubrechen und Teil einer internationalen Solidaritätsbewegung zu werden.

Der pakistanische Staat behauptet, die Vorwürfe über einen Völkermord an den Belutsch:innen seien übertrieben. Die Menschenrechtsaktivistin Mahrang Baloch verwies jedoch auf die Einrichtung eines Friedhofs mit unbekannten verstümmelten Leichen, auf Kinder, die auf der Straße nach ihren Vätern suchen, auf kollektive Tötungen und Massengräber als Beweis für den Ernst der Lage und forderte die internationale Gemeinschaft auf, diese Gräueltaten als eine Form des Völkermords anzuerkennen. Im Jahr 2014 wurden beispielsweise im Bezirk Khuzdar Massengräber gefunden.

Frauen wie Mahrang sind sich bewusst, dass sie nicht allein leiden. Auf der Internationalen Konferenz für unterdrückte Völker in Islamabad erhob sie ihre Stimme nicht nur gegen den  „Völkermord an den Belutsch:innen“, sondern auch gegen die Herausforderungen, mit denen Hazara, Sindhi, Muhajir, Paschtun:innen, Schiit:innen, Hindi, Christ:innen und andere unterdrückte Nationalitäten, aber auch religiöse Minderheiten in Pakistan zu kämpfen haben.

Das anhaltende Massaker an den Palästinenser:innen und die darauffolgende internationale Solidaritätsbewegung haben auch dazu geführt, dass es zumindest in einigen Staaten schwerer wird, die eigenen Gräueltaten zu vertuschen.

Es wird dabei von entscheidender Bedeutung sein, ob es gelingt, die Ignoranz vieler Pakistaner:innen gegenüber dem Leiden der Belutsch:innen zu brechen. Das scheint jedenfalls ein Stück weit gelungen zu sein, was sich daran zeigt, dass die Mainstreammedien über den von Frauen geführten BLM berichtet haben wie nie zuvor.

Wir sehen, dass die Lehren, die die Bewegung der Belutsch:innen gegen die nationale Unterdrückung aus ihren Erfahrungen mit verschiedenen politischen Strömungen gezogen hat, ihnen mehr und mehr bewusst gemacht haben, dass ihre Befreiung mit der anderer unterdrückter Nationen zusammenhängt, einschließlich derer, die unter der indischen Besatzung in Dschammu und Kaschmir unter ähnlicher Unterdrückung leiden.

Wir solidarisieren uns klar mit dem Volk von Belutschistan in seinem Kampf gegen die nationale Unterdrückung. Das Volk der Belutsch:innen hat ebenso wie die Palästinenser:innen und die Kaschmiris das Recht auf Selbstbestimmung. Wir stehen an ihrer Seite, so wie wir an der Seite der Palästinenser:innen, der Kurd:innen, der Iraner:innen, der Afghan:innen, der Armenier:innen, der Kaschmiris, der Dalits und der Rom:nja und Sinti:zze stehen. Wir rufen die Arbeiter:innen und Unterdrückten der Welt auf, sich die Sache der Belutsch:innen zu eigen zu machen. Schließlich ist niemand von uns frei, solange wir nicht alle frei sind.

Letztendlich besteht die Bedeutung des BLM und der oft von Frauen geführten neu entstehenden Massenbewegung auch darin, dass der Kampf gegen nationale Unterdrückung selbst einer politischen und strategischen Neuausrichtung bedarf. Historisch ist er stark vom Gueriallismus und von einer Etappentheorie der Befreiung geprägt, derzufolge das strategische Ziel des Kampfes die Errichtung bürgerlich-demokratischer Verhältnisse – entweder in Form eines eigenen Staates oder von mehr demokratischen Rechten für die Provinz im Rahmen des pakistanischen Staates – sein solle. In beiden Fällen wären jedoch die kapitalistischen Eigentums- und Ausbeutungsverhältnisse davon nicht berührt.

Genau darin liegt eine entscheidende Schwäche der bisherigen Bewegung. In Wirklichkeit ist die Unterdrückung der Belutsch:innen eng mit Kapitalismus und Imperialismus verbunden. Belutschistan ist reich an Rohstoffen, die von der pakistanischen und imperialistischen Bourgeoisie ausgebeutet werden. Es hat eine wichtige geostrategische und wirtschaftliche Bedeutung für die „Neue Seidenstraße“ Chinas (CPEC). Dies sind nur einige Beispiele dafür. Nur die Arbeiter:innenklasse ist in der Lage, eine Perspektive zu weisen, wie der Kampf gegen nationale Unterdrückung mit dem gegen die Ausbeutung der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen verbunden werden kann – in Belutschistan und ganz Pakistan. Nur eine Einheitsfront aller Organisationen unterdrückter Ethnien und Arbeiter:innen kann den pakistanischen Staat effektiv unter Druck setzen und ihn zwingen, das Morden zu stoppen. Die Nation der Belutsch:innen muss mithilfe demokratischer Rechte in der Lage sein, selbst über ihr Schicksal zu entscheiden. Die führende Rolle von Frauen bei der Organisierung, Durchführung und öffentlichen Vertretung des BLM verweist darüber hinaus darauf, dass diese nicht nur eine führenden Rolle im Kampf für nationale Befreiung und sozialistische Umwälzung, sondern auch für den Kampf gegen das Patriarchat spielen können und werden.