Türkei: Erdogan-Regime instrumentalisiert Anschlag von Istanbul

Martin Suchanek, Infomail 1204, 15. November 2022

Das Erdogan-Regime in der Türkei handelt rasch, wenn es darum geht, einen Anschlag auf Zivilpersonen politischen Gegner:innen in die Schuhe zu schieben.

Am 13. November waren infolge einer Bombenexplosion in der Istanbuler Einkaufsstraße Istiklal 6 Personen getötet und 81 weitere verletzt worden. Doch fast so schnell, wie die Nachricht über den Anschlag auf unschuldige Zivilist:innen um die Welt ging, macht die türkische Regierung auch schon die Schuldigen aus.

Wurde am Beginn noch gemutmaßt, ob es sich um Anhänger:innen der Gülen-Bewegung oder der PKK (Kurdische Arbeiter:innenpartei) handele, so steht das Ergebnis für Innenminister Süleyman Soylu nunmehr fest: Eine Syrerin mit Verbindungen zur kurdischen Miliz YPG soll es gewesen sein, die in Nordsyrien ausgebildet wurde und ihre Befehle aus Kobanê erhalten hätte.

Beweise wurden erst gar keine vorgelegt – ganz abgesehen davon, wie wenig vertrauenswürdig diese aus der Hand des türkischen Regimes auch aussehen sollen. Es gibt  keine Indizien dafür, dass der Anschlag von der PKK verübt wurde. Es fragt sich vielmehr, warum sie eigentlich unschuldige Menschen im Zentrum von Istanbul in die Luft sprengen sollte? Welchen politischen Sinn macht das für die türkische und syrische kurdische Bewegung, die die wenigen verbliebenen demokratischen Rechte in der Türkei zu verteidigen trachtet und sich der offenen Aggression der Türkei gegen Rojava erwehren muss?

In ersten Erklärungen PKK und YPG jede Beteiligung am Anschlag dementiert und diesen verurteilt. So heißt es in einer über die Nachrichtenagentur Firatnews veröffentlichten Erklärung: „Unser Volk und die demokratische Öffentlichkeit wissen genau, dass wir nichts mit diesem Vorfall zu tun haben, dass wir nicht direkt auf Zivilisten zielen und dass wir Aktionen nicht akzeptieren, die auf Zivilisten abzielen.“

Auch wenn man der politischen Strategie und Programmatik der PKK und YPG kritisch gegenübersteht, so gibt es gute Gründe, die Erklärung für stichhaltig zu betrachten. So veröffentlichen nationale Befreiungsbewegungen normalerweise Bekennerschreiben zu den Anschlägen, die sie selbst verüben. Schließlich wollen sie, dass die Öffentlichkeit weiß, warum und wozu sie eine solche Aktion verübt haben. Doch nichts dergleichen. Stattdessen verurteilen diese Organisationen den Anschlag. Allein dies kann schon als Beleg dafür gelten, dass PKK und YPG nicht für das Attentat von Istanbul verantwortlich sind, sondern es ihnen vielmehr untergeschoben werden soll. Dies wird umso klarer, wenn wir uns nach dem politischen Ziel der Aktion fragen.

Warum sollten PKK oder YPG einen Anschlag planen, von dem sie wissen, dass er von Erdogan sowohl innen- wie außenpolitisch gegen die kurdische Bewegung und ihre Organisationen ausgeschlachtet werden wird? Warum sollten sie einen Anschlag planen, mit dem Erdogan von der wirtschaftlichen Krise in der Türkei ablenken und die Unzufriedenheit mit nationalistischer Hetze gegen die Kurd:innen kanalisieren kann? Warum sollten sie ihm angesichts schlechter Umfragewerte für die Parlamentswahlen im Juni 2023 die Chance bieten, auf die nationalistisch Karte zu setzen, um die Anhänger:innen der AKP und ihrer Koalitionspartner zurückzuholen? Warum sollten sie einen Anschlag verüben, der als Vorwand zum militärischen „Vergeltungsschlag“ gegen Rojava genutzt werden kann? Kurzum, warum sollten PKK und YPG reaktionäre Aktionen durchführen, die ausschließlich den Zielen der türkischen Regierung dienen?

Derweil versucht die Regierung in Ankara, die Situation für sich zu nutzen. Die von der türkischen Rundregulierungsfunkbehörde RTÜK verhängte vorläufige Nachrichtensperre für die Medien und erschwerte Erreichbarkeit von Twitter und Co. sind dabei nur erste Schritte, um die öffentliche Meinung staatlich gelenkt zu manipulieren. So durften nach dem Anschlag nur Interviews mit Minister:innen ausgestrahlt werden.

Politisch wird das Regime den Anschlag zu einer nächsten Runde im Kampf gegen die kurdische Bewegung und ihre Organisationen in der Türkei und womöglich zu einem Militärschlag oder gar Vorstoß in Rojava nutzen. All das natürlich im Zeichen des Kampfes gegen den „Terrorismus“ der Kurd:innen – und diesmal womöglich mit westlicher Unterstützung. In jedem Fall wird die Türkei ihre Forderungen nach Auslieferung kurdischer politischer Flüchtlinge aus Schweden als Preis für dessen NATO-Mitgliedschaft forcierten. Während der türkische Innenminister Soylu den USA eine politischer Verantwortung für den Anschlag vorwirft, erklärte Karine Jean-Pierre, die Pressesprecherin von US-Präsident Biden: „Wir stehen im Kampf gegen Terrorismus Seite an Seite mit unserem NATO-Verbündeten Türkei.“ Annalena Baerbock und Olaf Scholz werden in dieser Situation Erdogan sicher keine Steine in den Weg legen, sollte er den Befehl zu Angriffen auf Rojava geben.

Umso wichtiger ist es, dass wir unsere Solidarität mit dem kurdischen Volk zum Ausdruck bringen. Unsere Anteilnahme gilt den 6 Opfern von Istanbul und den 81 Verletzten. Doch nicht minder deutlich müssen wir uns gegen das durchsichtige und reaktionäre Spiel des Erdogan-Regimes wenden, den Tod unschuldiger Zivilist:innen zur antikurdischen Hetze, zur Rechtfertigung von Repression und eines möglichen Militärschlages gegen Rojava zu missbrauchen.




Erklärung zum Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas

Internationales Sekretariat, Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1150, 23. Mai 2021

Der zwischen Israel und der Hamas vereinbarte Waffenstillstand stellt einen Sieg für die dritte palästinensische Intifada in allen ihren Komponenten dar – den heldenhaften Widerstand der Bevölkerung von Gaza und den Aufstand der Jugend auf den Straßen der Westbank und Israels selbst.

Ebenso markiert es das Scheitern von Netanjahus Taktik, eine neue Koalitionsregierung zusammenzuschustern und eine weitere Wahl zu vermeiden, ganz zu schweigen von den anhängigen Verfahren vor den Gerichten.

Die große Welle der Solidarität von pro-palästinensischen Kräften in den USA, in Europa und in der gesamten palästinensischen Diaspora hat eine wichtige Rolle dabei gespielt, Israel zu zwingen, seine mörderischen Bombardements zu stoppen. Die positive Konsequenz des Waffenstillstands, wenn er hält, ist, dass Israels Vorstoß, Ostjerusalem ethnisch zu säubern und seine Siedlungen im Westjordanland zu legalisieren, schwieriger fortzuführen und kostspieliger wird, wenn er versucht werden sollte.

Netanjahu hat also wenig Erfolge mit den Angriffen erzielt, trotz all seiner Behauptungen, die Tunnel-Infrastruktur der Hamas zerstört und viele ihrer FührerInnen ermordet zu haben. Stattdessen hat er die palästinensischen Massen, besonders die Jugend, in einer Weise geeint, wie man es seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat. Was die Hamas betrifft, so hat sie ihr Prestige gegenüber Abbas und der Palästinensischen Autonomiebehörde (PNA) mächtig gesteigert und sich selbst neue MärtyrerInnen beschert.

Natürlich war der Sieg nicht in erster Linie ein militärischer. Wie hätte er auch sein sollen angesichts des ungerechten Kräfteverhältnisses? Aber angesichts einer so mächtigen Militärmaschinerie ist das Überleben mit weitgehend intakten Kräften schon ein Sieg an sich. Die wahren SiegerInnen sind jedoch die Massen, die jungen Menschen, die auf den Straßen in allen Teilen des historischen Palästina Leib und Leben riskieren. Es ist diese weitgehend unbenannte, aber militante Massenaktion, die den Schlüssel zur Befreiung Palästinas „from the river tot he sea“ (dt. „vom Fluss bis zum Meer“ ) in der Hand hält. Die gestärkte Position der Hamas ist nicht in erster Linie auf ihre Raketen zurückzuführen – die außer als Beweis für unerschrockenen Widerstand wirkungslos sind –, sondern auf ihre Weigerung, sich an dem Versuch zu beteiligen, die palästinensische Nation zu zerstören.

Im Gegensatz dazu wird es für Mahmoud Abbas und die PNA schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein, sich von der totalen Ohnmacht zu erholen, die sie gezeigt haben. Die jugendlichen und linkeren Kräfte in der Fatah haben jedoch offensichtlich eine wichtige Rolle bei der Initiierung des historischen eintägigen Generalstreiks am 19. Mai gespielt. Die Aussicht auf eine Massenaktion praktisch der gesamten palästinensischen Bevölkerung und die internationale Wirkung des Widerstands sprengten Israels sorgfältig zusammengebasteltes „Terrorismus“narrativ.

Es ist die israelische Führung, die jetzt gespalten ist, wie sich im wiederaufgenommenen Kampf um eine neue Regierung oder eine Wahl mit keinem klaren Ergebnis zeigen wird. Trotz all seiner militärischen Macht und High-Tech-Sektoren bleibt Israel ein Satellitenstaat der USA, und es ist nun klar, dass Biden eine andere Strategie für den Nahen Osten verfolgt als Trump oder sogar Hillary Clinton und Obama.

Veränderungen in den geostrategischen Prioritäten sowie das Erstarken linker Kräfte in den USA und in der Demokratischen Partei, auch im Kongress, erklären, warum Biden sich als unfähig und unwillig erwiesen hat, Israels Aktionen so bedingungslos zu unterstützen, wie es frühere Präsidenten getan haben. Biden führt dies auf seine „stille Diplomatie“ zurück, aber man braucht nicht laut zu schreien, wenn man selbst der Zahlmeister ist.

Biden nähert sich den FührerInnen der europäischen imperialistischen Mächte an, die es als wichtiger ansehen, die regionalen Mächte (Saudi-Arabien und die Golfstaaten, Ägypten und die Türkei) zu beschwichtigen, als jede weitere zionistische Expansion zu unterstützen. Jeder Rückgang der US-Unterstützung wird wahrscheinlich die bereits offensichtlichen Spaltungen innerhalb Israels vertiefen, seine künstliche Klasseneinheit untergraben und dessen Staatsführung immer offener von seinen rassistischen Doktrinen abhängig machen.

Wie weiter?

Wenn die taktischen Errungenschaften der Palästinenser konsolidiert und ausgeweitet und das pro-israelische Kräftegleichgewicht endgültig untergraben werden sollen, müssen die Massenaktionen, die häufig von der Jugend angeführt werden, weitergehen. Durch solche Aktionen, ob Demonstrationen, Unterstützung von Streiks, Verhinderung von Verhaftungen oder Besetzungen von bedrohten Häusern und Gebäuden, kann eine neue Führung generiert werden.

Die Kräfte der Intifada in Israel, im Westjordanland und im Gazastreifen müssen in lokalen Räten, die sich aus den Kämpfen herausbilden, konsolidiert werden, die die alten Führungen in den Hintergrund drängen und all jene ersetzen können, die mit den BesatzerInnen kollaborieren. Eine demokratische Vertretung der palästinensischen Massen muss entstehen und Forderungen formulieren, die seine grundlegenden Interessen zum Ausdruck bringen:

  • Ein sofortiges Ende der Belagerung und Blockade des Gazastreifens auf dem Land-, See- und Luftweg und den Wiederaufbau seiner Straßen, Häuser, Schulen und Krankenhäuser!
  • Ein Ende der militärischen Besetzung und Zerstückelung des Westjordanlandes und der ethnischen Säuberung von Städten und Ortschaften, einschließlich Jerusalems!
  • Das Recht auf Rückkehr für alle Flüchtlinge und ihre Familien, die seit 1948 aus ihren Häusern vertrieben wurden!
  • Ein Ende des Apartheid-Regimes über die palästinensischen Bürger Israels!

Auf internationaler Ebene müssen unterstützende Kräfte gegen die Verbote kämpfen und die falschen Antisemitismusvorwürfe zurückweisen, während sie gleichzeitig alle wirklich antijüdischen und antisemitischen Parolen oder Handlungen verurteilen und bekämpfen müssen. Wie viele progressive Juden und Jüdinnen immer wieder betont, wird der Antisemitismus den Zionismus nur stärken. Ihre eigenen Aufrufe zur Solidarität mit den PalästinenserInnen sind sowohl das beste Gegenmittel gegen Antisemitismus als auch eine Quelle enormer Unterstützung für die Sache der palästinensischen Befreiungsbewegung.

Angesichts des Waffenstillstands wird wahrscheinlich wieder von einem neuen Oslo oder Camp David die Rede sein. Das Schicksal dieser Abkommen durch die aufeinanderfolgenden israelischen Regierungen und unter Mitwirkung der US-Administrationen und europäischen Regierungen, die als unehrliche VermittlerInnen agierten, beweist, dass dies eine Falle wäre.

Die „Zweistaatenlösung“ war nie ein realisierbarer Vorschlag. Wie sollte sie auch, wenn sie davon ausging, dass Israel weiterhin 78 Prozent des Mandatsgebiets Palästinas, mit seinen natürlichen Ressourcen, halten und das Recht auf Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge weiterhin verweigern würde? Eine demokratische Zweistaatenlösung hätte zunächst diese historischen Ungerechtigkeiten korrigieren und dann von beiden betroffenen Völkern demokratisch beschlossen werden müssen. Nur wenn die objektiven und subjektiven Bedingungen für eine solche Lösung gegeben wären, wäre dies möglich. Andernfalls wäre Selbstbestimmung für die eine Nation, deren Verweigerung für die andere gewesen. Solche Bedingungen sind nicht einmal vorstellbar, geschweige denn zu erreichen.

Die „zwei Staaten“ waren nie mehr als ein Phantom, das es den bestehenden Führungen nicht nur Israels, sondern auch der PalästinenserInnen, der angeblich pro-palästinensischen arabischen Staaten und der imperialistischen Mächte, erlaubte, ihre Verhandlungsscharade fortzusetzen, während Israel die Tatsachen vor Ort veränderte.

Heute bedeuten diese Fakten, dass es in Wirklichkeit nur eine Staatsmacht auf palästinensischem Gebiet gibt, und zwar „vom Fluss bis zum Meer“. Das Ziel des palästinensischen Kampfes sollte es sein, das Apartheid-Staatsregime, das dieses Gebiet kontrolliert, zu stürzen und es durch einen Staat zu ersetzen, der gleiche StaatsbürgerInnenschaft und volle demokratische Rechte für alle seine BürgerInnen anerkennt, einschließlich des Rechts auf Rückkehr. Es sollte ein säkularer Staat sein, in dem keine Religion privilegiert oder diskriminiert wird und in dem die beiden Nationen, aus denen er besteht, gleiche sprachliche und kulturelle Rechte haben.

Dies sind einfach demokratische Rechte, die bereits in dem einen oder anderen Maße von vielen anderen Nationen anerkannt werden, aber um sie gegen den bestehenden zionistischen Staat durchzusetzen, ist ein revolutionärer Kampf erforderlich. In diesem Kampf argumentieren die Mitglieder der Liga für die Fünfte Internationale, dass dabei eine grundlegende Frage gelöst werden muss: die nach dem Eigentum an Grund und Boden und den wirtschaftlichen Ressourcen.

So wie zwei Individuen nicht beide exklusives Privateigentum an einer Sache haben können, können auch nicht zwei Nationen beide exklusives Eigentum an einem Territorium haben. Die einzige fortschrittliche Lösung ist das Gemeineigentum, das heißt die Vergesellschaftung der wichtigsten Bestandteile der Wirtschaft. Deshalb ist unser Programm für Palästina die permanente Revolution, die zweifellos mit dem Kampf für demokratische Rechte, der Intifada, beginnen wird, aber nur durch sozialistische Maßnahmen endgültig erreicht werden kann.

  • Sieg der Intifada – nieder mit dem zionistischen Siedlerstaat!
  • Internationale Solidarität mit dem palästinensischen Kampf!
  • Für einen ArbeiterInnenboykott gegen Israel!



Solidarität mit der Jugend in Sheikh Jarrah! Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand!

Dilara Lorin, Martin Suchanek, Infomail 1149, 11. April 2021

Seit Montag, den 10. Mai, bombardiert die israelische Luftwaffe Gaza. Mindestens 24 Menschen, darunter 9 Kinder, wurden nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums bis zum Morgen des 11. Mai getötet, 109 wurden verletzt. Insgesamt flogen die israelischen Streitkräfte 150 Angriffe.

Die Regierung Netanjahu und die Armeeführung präsentieren und rechtfertigen die Bombardierungen einmal mehr als Akt der Selbstverteidigung – und in ihrem Gefolge auch die westlichen imperialistischen Schutzmächte und Verbündeten Israels. Die Aktion wird als Reaktion auf den Abschuss von über 100 Raketen aus Gaza dargestellt, als Vergeltung auf eine vorhergehende Aktion der Hamas und des palästinensischen Widerstandes, die als „TerroristInnen“, „IslamistInnen“ oder blutrünstige „AntisemitInnen“ diffamiert werden.

Kurzum, der ideologischen Rechtfertigung der zionistischen Regierung wie ihrer westlichen UnterstützerInnen gelten die PalästinenserInnen als AggressorInnen. Die Vergeltungsschläge sollen bloß „verhältnismäßig“ bleiben und, so das stillschweigende Kalkül, nach einigen Tagen verebben.

Verschwiegen wird, worum es im „Konflikt“ eigentlich geht, worin seine Ursachen eigentlich bestehen. Dabei verdeutlicht der Kampf gegen die Räumung palästinensischer Wohnungen und Häuser im Ostjerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah exemplarisch, worum es sich dreht: um die fortgesetzte, systematische Vertreibung und nationale Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung. Ostjerusalem soll die nächste Etappe der Vertreibung und Annexion durch den zionistischen Staat darstellen – eine fortdauernde, die mit der Gründung Israels und dessen Expansion untrennbar verbunden ist.

Sheikh Jarrah

Auch wenn mittlerweile die internationalen Medien voll sind mit Berichten über Sheikh Jarrah, die Zusammenstöße von Polizei, zionistischen, rechten SiedlerInnen und palästinensischen Jugendlichen, so dienen diese wohl eher dem Einschwören auf die israelische und westliche politische Linie denn der Information.

Es wird nicht erwähnt, dass der zionistische Staat seit seiner Gründung unablässig fortfährt, PalästinenserInnen aus ihren Wohnungen und Häusern zu vertreiben und dadurch in die Flucht zu zwingen. Es werden die ultraorthodoxen und rechten Gruppierungen nicht erwähnt, die friedlich Fasten brechende oder protestierende PalästinenserInnen angreifen, sie aus ihren Häusern werfen und tatkräftig von den staatstragenden Parteien hofiert und unterstützt werden. Es wird beim Lob für Israels  Impfkampagne nicht erwähnt, dass in den vom Staat besetzten israelischen Gebieten die Bevölkerung nicht nur keinen Zugang zum Impfstoff erlangt, sondern auch das gesamte Gesundheitssystem permanent vor dem Zusammenbruch steht. PalästinenserInnen sind faktisch Menschen zweiter Klasse. Ihnen werden gleiche bürgerliche Rechte vorenthalten, Westbank und Gaza werden immer mehr von der Außenwelt abgeschottet.

Die rechte Regierung Netanjahu setzt seit Jahren auf einen aggressiveren Kurs der Vertreibung und der Annexion von Land in der Westbank infolge des Siedlungsbaus. Unter der Administration Trump und deren „The Deal of the Century“ wurde Jerusalem offiziell als Hauptstadt Israels anerkannt, eine Einladung an die zionistische Regierung, an Behörden und Gerichte sowie an rechte SiedlerInnen, die Annexion Ostjerusalems voranzutreiben.

Was hat all dies mit Sheikh Jarrah zu tun?

Sheikh Jarrah ist ein Viertel in Ostjerusalem, welches auch nach  1948, der Gründung des israelischen Staates, mehrheitlich von PalästinenserInnen bewohnt war, während im Westen mehrheitlich israelische StaatsbürgerInnen wohnen und PalästinenserInnen diesen Teil der Stadt nicht einfach so betreten dürfen. Diese Aufteilung und das Verbot für die palästinensische Bevölkerung sind Teil einer bewussten Politik, die immer mehr versucht, den Wohnraum und die Existenz von PalästinenserInnen einzuschränken. Zwischen 2004 bis 2016 wurden 685 palästinensische Häuser in Jerusalem zerstört. 2513 Menschen wurden obdachlos.

Heute leben mehr als 700.000 israelische SiedlerInnen in illegalen Siedlungen in Palästina und Ostjerusalem. Aber damit leider nicht genug, denn die Situation um Sheikh Jarrah hat  kein Alleinstellungsmerkmal. Diese Zwangsräumungen der dort seit Jahrhunderten ansässigen PalästinenserInnen hat israelische Tradition und ist tragische Geschichte von mehr als 538 Städten und Dörfern. Den BewohnerInnen dieses Stadtteils droht Vertreibung und die damit einhergehende Flucht – entweder auf „legalem“ Weg, indem israelische Gerichte Ansprüche von SiedlerInnen auf Häuser legitimieren, die seit Jahrzehnten von PalästinenserInnen bewohnt wurden, oder auf „illegalem“, indem der Bau von Häusern und Wohnungen durch SiedlerInnen nachträglich anerkannt wird. Die Besatzungsbehörden planen außerdem den Bau von 200 Siedlungseinheiten auf dem Land und in den Häusern der Bevölkerung von Sheikh Jarrah. Diese Vertreibung ist seit mehr als 40 Jahren ein Teil des israelischen Siedlungsplans, um auf diesen Flächen Siedlungen zu errichten, so wie es im Westjordanland tagtäglich geschieht.

Al-Aqsa, Jerusalem und der Widerstand

Gegen die Räumung palästinensischer Häuser und Wohnungen wehren sich seit Tagen vor allem Jugendliche in Ostjerusalem. Dagegen ging die Polizei mit äußerster Brutalität, mit Blendgranaten und Wasserwerfern vor. Hunderte wurden zum Teil schwer verletzt, um Unrecht und die Ordnung der Herrschenden aufrechtzuerhalten.

Anlässlich des „Jerusalem-Tages“, an dem in Israel die Annexion Ostjerusalems im Zuge des 6-Tage-Krieges von 1967 gefeiert wird, eskalierten rechte SiedlerInnen am 10. Mai bewusst die Lage, indem sie trotz der Spannungen ihren jährlichen reaktionären Fahnenmarsch durchführten. Diesmal wurde aus der gezielten Provokation faktisch ein Angriff auf die Al-Aqsa-Moschee. Diese befindet sich auf der Westseite Jerusalems in der Altstadt und bildet für die Muslime/a eines der 3 wichtigsten Heiligtümer. Tage zuvor schon hingen Plakate an den Wänden der Stadt, welche diese Angriffe seitens rechter SiedlerInnen propagierten und dazu aufriefen, sich daran zu beteiligen.

Während sich ein Teil der PalästinenserInnen noch im Fastenmonat Ramadan befindet, kämpfen diese und andere gegen die Angriffe und Attacken. Es verbreiteten sich Bilder wo in der Al-Aqsa-Moschee Jugendliche Steine sammeln, Barrikaden bauen, um dem angekündigten Angriff entgegenzuwirken, und ein wütender Mob SiedlerInnen an den Türen und Toren der Altstadt rüttelt. Die Situation dauert schon seit mehreren Tagen an und es wurden mehr als 300 PalästinenserInnen verletzt.

Der Angriff auf die Al-Aqsa-Moschee stellt dabei eine gezielte Provokation nicht nur der PalästinenserInnen, sondern aller Muslime/a, ja aller Unterdrückten im Nahen Osten dar.

Dabei wurden bewusst und provokant religiöse Gefühle verletzt. Im Kern geht es aber um keine Glaubensfrage, sondern darum, den national und rassistisch Unterdrückten ihre Ohnmacht, ihre Chancenlosigkeit vorzuführen.

Der Widerstand gegen die Räumungen bildet daher nur einen Aspekt eines größeren Kampfes gegen ein System der Unterdrückung, der Vertreibung, der fortgesetzten Kolonisierung und imperialistischen Ausbeutung. An vorderster Front bei den Demonstrationen und Kämpfen steht dabei oft die palästinensische Jugend.

Flächenbrand

Der Kampf um Sheikh Jarrah und um Al-Aqsa wirkt wie der berühmte Funken, der das Pulverfass zu entzünden droht. In zahlreichen Städten in der Westbank gingen Jugendliche, ArbeiterInnen, Bauern/Bäuerinnen und die verarmten Massen auf die Straße. in Nazareth, Kafr Kana oder Schefar’am brachen in der Nacht vom Montag zum Dienstag lokale Aufstände aus. In Gaza marschieren Hunderte, wenn nicht Tausende, an die von der israelischen Armee hermetisch abgeriegelte und hochmilitarisierte Grenze.

Hamas und verschiedene Gruppen des palästinensischen Widerstandes feuern Raketen auf Israel, wohl wissend um die blutige Antwort von dessen Luftstreitkräften. Doch diese verzweifelten Aktionen in einem asymmetrischen Krieg verdeutlichen auch die Entschlossenheit des palästinensischen Volkes, dessen Würde und Existenz untrennbar mit dem Widerstand gegen die Besatzung verbunden ist.

Dieser Widerstand gegen die Besatzung ist in all seinen Formen legitim. Auch wenn die taktische und strategische Nützlichkeit von Raketenangriffen auf Israel fraglich ist, so unterscheiden wir als RevolutionärInnen klar zwischen der Gewalt der UnterdrückerInnen, des israelischen Staates und seiner Armee, und der Unterdrückten und solidarisieren uns mit dem Widerstand.

Eine neue Intifada liegt in der Luft. Die entscheidende politische Frage ist jedoch, wie sich diese ausweiten, wie sie siegen kann. Die zionistische Vertreibung und Expansion und die offene Unterstützung durch Trump haben schon in den letzten Jahren die PalästinenserInnen in eine immer verzweifeltere Lage gebracht und auch die politische Führungskrise in der Linken und ArbeiterInnenklasse massiv verschärft. Auch wenn die Palästinensische Autonomiebehörde und die Hamas die Bewegung in Ostjerusalem unterstützen, so kollaboriert erstere nach wie vor mit dem zionistischen Staat und jagt einer Verhandlungslösung nach. Auch die Hamas verfügt über keine Strategie zum Sieg und bietet eine reaktionäre, religiöse und keine fortschrittliche, demokratische oder gar sozialistische Perspektive im Interesse der ArbeiterInnenklasse.

Die zentrale Frage besteht daher darin, wie die fortgesetzten Bombardements Israels gestoppt und die lokalen Aufstände der Jugend verbreitert werden können und in diesem Zug auch eine neue, revolutionäre Kraft in Palästina aufgebaut werden kann. Dies ist nicht so sehr eine organisatorische, sondern vor allem eine programmatische Frage.

Um den Widerstand gegen die zionistische Aggression voranzutreiben, braucht es eine neue Intifada, die die Form eines Generalstreiks in den Werkstätten und auf den Feldern sowie der Einstellung jeder Kooperation mit den Institutionen der Besatzungsmacht annimmt. Die Möglichkeiten des rein ökonomischen Drucks in Palästina sind aufgrund der Ersetzung palästinensischer Arbeitskraft in vielen israelischen Unternehmen erschwert, wenn auch nicht unmöglich.

Von entscheidender Bedeutung könnte und müsste die Solidarität der ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten in den Ländern des Nahen Ostens sein, indem sie Israel und seine militärische Maschinerie durch Streiks und Weigerung, Waren zu transportieren oder Finanztransaktionen durchzuführen, unter Druck setzt. Dies könnte in Verbindung mit massenhaften Solidaritätsdemonstrationen auch die reaktionären arabischen Regime in Ägypten und Saudi-Arabien oder die vorgeblichen FreundInnen der PalästinenserInnen wie Erdogan oder Chamenei entlarven und die ArbeiterInnenklasse zur führenden Kraft im Kampf gegen den Zionismus machen.

Dieser Druck kann auch die klassenübergreifende Einheit zwischen Kapital und jüdischer ArbeiterInnenklasse in Israel unterminieren und damit die Perspektive eines gemeinsamen Kampfes von palästinensischer ArbeiterInnenklasse und Bauern-/Bäuerinnenschaft mit der jüdischen ArbeiterInnenklasse gegen Zionismus und für einen gemeinsamen, multinationalen Staat unter Anerkennung des Rückkehrrechts aller PalästinenserInnen eröffnen.

Schließlich müssen die ArbeiterInnenklasse und die Linke in den imperialistischen Ländern selbst in Solidarität mit dem palästinensischen Volk auf die Straße gehen und mit Streik und Boykott von Transporten den Druck auf Israel erhöhen, die Luftangriffe auf Gaza und die Repression in Ostjerusalem einzustellen. Solidaritätskundgebungen und die Unterstützung von Demonstrationen zum Nakba-Tag wären dazu ein erster Schritt.

Die Bombardements seitens Israel, die Belagerung Gazas und die Siedlungsbauten in der Westbank haben auch jede Hoffnung auf die Zwei-Staaten-Lösung begraben. Angesichts der Vertreibung, der Aggression und Unnachgiebigkeit der israelischen Regierungen erweist sie sich nicht nur als reaktionär, sondern schlichtweg auch als komplett illusorisch, als diplomatische Farce. Die einzig mögliche demokratische Lösung besteht in der Zerschlagung des Systems der Apartheid und der rassistischen Grundlage des zionistischen Staates, im Recht auf Rückkehr für alle PalästinenserInnen und in der Errichtung eines binationalen Staates auf der Basis vollständiger rechtlicher Gleichheit aller. Die imperialistischen Staaten wie die USA, Deutschland, Britannien und die EU müssen dazu gezwungen werden, die Kosten für diese Rückkehr und den Aufbau der nötigen Infrastruktur und Wohnungen zu tragen. Damit diese ohne nationalistische Gegensätze erfolgen kann, muss diese demokratische Umwälzung mit einer sozialistischen, mit der Enteignung des Großkapitals und Großgrundbesitzes verbunden werden.

  • Schluss mit der Besatzung! Keine Bomben auf Palästina!
  • Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand!
  • Für einen binationalen Staat, in dem alle StaatsbürgerInnen gleiche Rechte haben unabhängig von ethnischer Herkunft und Religion!
  • Für ein sozialistisches Palästina als Teil Vereinigter Sozialistische Staaten des Nahen und Mittleren Ostens!



Libanon: Kein Ausweg ohne Revolution

Dilara Lorin, Martin Suchanek, Neue Internationale 249, September 2020

Die Explosion im Hafen von Beirut hinterließ ein schier unglaubliches Ausmaß an Zerstörung im ohnedies krisengeschüttelten, faktisch vor dem Staatsbankrott stehenden Libanon. Am 4. August detonierten 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut. Über 180 Menschen wurden getötet, über 6.000 verletzt. Geschätzte 300.000  – über 10 % der EinwohnerInnen der Hauptstadt – sind seither obdachlos.

Die verheerende Katastrophe löste aber auch eine andere, für die Zukunft des Landes noch weit tiefer gehende soziale und politische Explosion aus.

Die Krise des Landes nahm revolutionäre Dimensionen an und trieb den enormen Gegensatz zwischen der Masse der Bevölkerung und der „Elite“ auf die Spitze – zugleich verdeutlichte die Entwicklung des letzten Monates, was fehlt, damit die Krise in eine echte Revolution umschlägt – die Diskrepanz zwischen Ablehnung des politischen und ökonomischen Systems im Land und dem Fehlen einer politischen, programmatischen Alternative auf Seiten der Opposition.

Reaktion auf die Detonationen

Die verhasste politische Elite – ob Präsident, Parlament, Bürokratie, etablierte Parteien, Polizei und Gerichte -, hat ihren letzten, ohnedies kaum noch vorhandenen Kredit bei der Bevölkerung verspielt.

Deren Verzweiflung schlug innerhalb kürzester Zeit in eine neue Welle des Massenprotests um, der Züge eines Aufstandes anzunehmen begann. Schon in den letzten Jahren richteten sich riesige Mobilisierungen gegen die Regierungen, so 2015 die Kampagne „Ihr stinkt“ gegen die fehlende Müllentsorgung Beiruts. Zuletzt drohte im Herbst 2019 eine „Revolution“ der Bevölkerung. Damals hatte eine beabsichtigte Besteuerung von Messenger-Diensten und damit verbundener Online-Telefonie Hunderttausende, wenn nicht Millionen, auf die Straße gebracht und das öffentliche Leben lahmgelegt.

Nun richtete sich der Zorn gegen die gesamte Regierung, den Staatsapparat und eine kleine Schicht von reichen Geschäftsleuten und deren Anhang, die das Land seit Jahren mehr oder minder gemeinschaftlich ausplündern.

Die Bewegung eint in diesem Stadium vor allem eine Forderung: Das gesamte Establishment muss gehen. Parolen wie „Revolution, Revolution“ und „Das Volk will den Sturz der Regierung“ ertönten in der ersten Augusthälfte tagelang auf den Straßen der Hauptstadt.

Die Verhängung eines 14-tägigen Ausnahmezustandes durch die Regierung bewirkte – wie bei vielen mit Urgewalt ausbrechenden, spontanen Massenbewegungen – das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigt hatte. Dass er nirgendwo durchsetzbar war, offenbarte ihre derzeitige Machtlosigkeit, eine fundamentale, wenn auch zeitlich begrenzte Verschiebung des Kräfteverhältnisses.

Wie die täglichen Massendemonstrationen und die Auseinandersetzungen mit der Polizei offenbarten, ließ sich die Bevölkerung nicht mehr einschüchtern. Am 8. August erstürmten  DemonstrantInnen Regierungsgebäude, darunter 4 Ministerien und das World Trade Centre. Anscheinend führten ehemalige Offiziere der Armee die Erstürmungen an – andererseits war es auch die Armee, die die Besetzungen wieder beendete und räumte.

Die Lage im Land nahm Züge eines revolutionären Umsturzes, der ersten Phase einer Revolution an. Die libanesische herrschende Klasse und ihre Regierung waren offenbar nicht mehr Herrinnen der Lage.

Hinzu kommt die extreme ökonomische und soziale Krise, der eigentliche Unterbau einer revolutionären Welle, die sich vor allem an Fragen der Demokratie, der politischen Unterdrückung, der Entrechtung und Korruption, also der Plünderung des Landes durch die Elite entzündet hat.

Faktisch steht der Libanon schon lange vor dem Staatsbankrott. Schon im März 2020 konnte das Land eine fällige Anleihe in der Höhe von 1,2 Milliarden US-Dollar nicht bedienen. Hinzu kommt, dass die Währungspolitik der Regierung, die über Jahre die Lira im Interesse von FinanzspekulantInnen in Beirut an den US-Dollar band, in Trümmern liegt. Diese 1997 eingeführte Bindung musste aufgegeben werden. Seit Beginn 2020 wird das Land von einer Hyperinflation mit monatlichen Abwertungen der Lira von rund 50 % heimgesucht.

Der am 4. August zerstörte Hafen war die wichtigste verbliebene Einnahmequelle des Landes und darüber hinaus essentieller Umschlagplatz für Waren aller Art. Die humanitäre Katastrophe verschärft die wirtschaftliche Lage.

Imperialistische HelferInnen?

Angesichts der politischen Krise versuchen sich die imperialistischen Mächte, allen vor an die einstige Kolonialmacht Frankreich, als Rettung in der Not zu inszenieren. Demagogisch präsentierte sich Macron bei seinem Besuch in Beirut als Kritiker der Elite des Landes, die jetzt „transparent“ und „demokratisch“ handeln müsse. Dabei griff er das berechtigte Misstrauen gegen Regierung und Staatsapparat auf, indem er direkte Verteilung von Medizin, Nahrungsmitteln und anderen Hilfsgütern an die Bevölkerung versprach – ein Versprechen, das im schlimmsten Fall durch eine „humanitäre“ Mission der Armee oder der Fremdenlegion eingelöst werden könnte. Auch Länder wie Russland, China oder selbst die BRD oder die USA unter Trump präsentieren sich jetzt als selbstlose HelferInnen.

In Wirklichkeit verfolgen diese Mächte dabei zwei Ziele. Erstens wollen sie das Land befrieden. Eine Revolution, die das politische System hinwegfegen und darüber hinaus auch als Inspiration für den gesamten Nahen Osten wirken könnte, wollen alle Groß- und Regionalmächte unbedingt verhindern. Indem sie sich als „Freundinnen des Volkes“ präsentieren, versuchen sie letztlich, die Massenbewegung zu beschwichtigen und ins Leere laufen zu lassen. Doch die Bevölkerung sollte nicht vergessen, dass diese Mächte für die Lage selbst eine Hauptverantwortung tragen. Das nach religiösen Gemeinschaften aufgeteilte System des Libanon, das mit Sektierertum und Korruption untrennbar verbunden ist, entsprang nicht zuletzt den Interessen der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Die Großmächte und das globale Finanzkapital plündern das Volk seit Jahrzehnten zusammen mit der einheimischen „Elite“ aus. Nicht zuletzt erweisen sich der Hebel der drückenden Staatsverschuldung des Landes und die Einbindung des Libanon in die internationalen Finanzströme als überaus wirksame Machtinstrumente und als Fessel jeder eigenständigen wirtschaftlichen Entwicklung.

Wenn Mächte wie Frankreich scheinbar selbstlose Hilfe versprechen, so haben sie ihre längerfristigen Geschäftsinteressen ebenso im Blick wie ihre geostrategischen Ziele im Kampf um die Neuordnung des Nahen Ostens. Hier befinden sich der französische Imperialismus und mit ihm die EU in einem erbitterten Kampf mit den USA, China, Russland und verschiedenen Regionalmächten.

Daher präsentieren sich diese zurzeit als Helferinnen in der Not und schickten ganz in diesem Sinn auch Hilfslieferungen, medizinisches Gerät und Personal – und darüber hinaus auch erste bewaffnete Kräfte. So sind gegenwärtig rund 12.000 SoldatInnen im Rahmen der „Friedensmission“ Unifil (United Nations Interim Force in Lebanon) im Land stationiert. Italien entsandte am 22. August weitere 500.

Präsident Aoun und die Parlamentsparteien selbst versuchten nicht ohne Erfolg, der Bewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem die Regierung zurücktrat und Neuwahlen versprach. Doch wann und unter wessen Kontrolle sie stattfinden sollen, bleibt offen. Die ehemalige Regierung und die sie tragenden Parteien spielen dabei wie die gesamte Elite des Landes auf Zeit – und bauen auf die fehlenden Strukturen und politische Schwäche der Opposition. Die alternative Partei Citizens in a State fordert eine Übergangsregierung aus den Reihen der Opposition – genauer aus von diesen Parteien bestimmten unabhängigen ExpertInnen, die 18 (!) Monate mit gesetzgebender Kompetenz regieren und sich dann Neuwahlen stellen soll. Das lehnen natürlich alle traditionellen Parteien ab, die dem eine Regierung der „nationalen Einheit“ entgegensetzen – darauf haben sich jedenfalls die schiitischen Parteien Amal und Hisbollah zusammen mit dem christlichen Free Patriotic Movement von Präsident Michel Aoun geeinigt.

Während die bürgerliche Möchtegern-Oppositionsführung neben und mit dem alten Staatsapparat ein kapitalistisches Reformprogramm durchziehen will, wollen die bestehenden Eliten gemeinsam einen „Neuanfang“ inszenieren. Dabei wissen sie sich – so viel zum Reformeifer – mit Frankreich und den USA, aber auch Saudi-Arabien und dem Iran eins. Selbst eine „ExpertInnenregierung“ übertrifft schon das Maß der Veränderung, das diese „VolksfreundInnen“ im Libanon wirklich dulden wollen.

Ökonomische Lage

Das soll auch nicht weiter verwundern. Diese Staaten sind an der sozialen verzweifelten Lage der Bevölkerung eindeutig mitschuldig – und sie haben auch keine Absicht, diese grundlegend zu verbessern.

Die Krise hat schon vor der Corona-Pandemie zu einer extremen Verelendung geführt. Rund die Hälfte der Bevölkerung lebt heute unter der Armutsgrenze. Besonders betroffen sind davon Millionen Geflüchtete. Das betrifft erstens die mindestens eine halbe Million zählenden PalästinenserInnen, denen vom Zionismus und Imperialismus seit Jahrzehnten das Rückkehrrecht verweigert wird, die aber auch von der libanesischen Regierung massiv diskriminiert werden (Verweigerung der StaatsbürgerInnenschaft, menschenunwürdige Lager, Ausschluss von zahlreichen Berufen). Zweitens flohen seit Beginn des Bürgerkriegs rund 1,5 Millionen Menschen aus Syrien in den Libanon.

Zugleich hat sich in den letzten Jahren auch die Sozialstruktur des Landes – insbesondere Beiruts, wo rund ein Drittel der Bevölkerung lebt – verändert. Lange war die Stadt davon geprägt, dass die religiöse Zugehörigkeit mit dem sozialen Status korrelierte. Die KapitalistInnenklasse und die bürgerlichen Stadtteile waren wesentlich von der christlichen Bevölkerungsgruppe geprägt. Die SchiitInnen bewohnten vorwiegend die ärmeren und verarmten Viertel. In den letzten Jahren hat sich das ein Stück weit verändert. Der Anteil der SchiitInnen und SunnitInnen an der ökonomischen Elite des Landes, z. B. an den 100 Reichsten, nahm zu. Sicherlich ist das auch eine Folge der Integration der Hisbollah in die Staatsführung im Zuge des „Friedensprozesses“ – und damit einer Verbreiterung der herrschenden Schichten. Andererseits kam es auch zu einer gewissen Angleichung der Lebenslagen der muslimischen, christlichen, drusischen ArbeiterInnen.

Vom Kampf gegen die Elite zur Revolution!

Daran wird natürlich eine Regierung der „nationalen Einheit“ ebenso wenig ändern wie die Ernennung einer von jeder Kontrolle durch die Bevölkerung unabhängigen „ExpertInnenregierung“. Selbst wenn eine solche ausschließlich aus integren Menschen bestehen würde – sie würde angesichts der ökonomischen Abhängigkeiten, der Struktur des Staatsapparates, der Organisiertheit der traditionellen Eliten, die Milizen, Militär und Polizei kontrollieren, unverzüglich zu deren Marionette und der der imperialistischer Mächte geraten. Sie wäre den ökonomischen und politischen Diktaten hilflos ausgesetzt.

Die Forderung nach einem Rücktritt der gesamten politischen Elite des Landes, aller Parteien, Regierungsmitglieder, des Präsidenten, aber auch von BeamtInnen, RichterInnen, … – also zentraler Teile des Staatsapparates – kann angesichts der Pseudo-Demokratie, religiös-sektiererischer Aufteilung von Ämtern und Einfluss, der weit verbreiteten Vetternwirtschaft und jahrelangen Ausplünderungen durch das Finanzkapital nicht weiter wundern. Sie erinnert stark an die ersten Phasen praktisch aller Bewegungen der Arabischen Revolutionen.

Zugleich zeigten diese auch, wie eng demokratische mit den sozialen und Klassenfragen zusammenhängen.

Die am 4. August explodierten 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat lagerten schließlich schon seit 6 Jahren im Hafen. Wie Recherchen von Al Jazeera zeigen, waren diese jedoch nicht einfach „vergessen“ worden. Mindestens sechs Mal wandten sich ZollbeamtInnen vergeblich schriftlich an die libanesische Justiz und forderten ein Einschreiten. All das verdeutlicht, dass nicht nur einzelnen Gerichten, sondern dem gesamten Staatsapparat die Lebensinteressen der Bevölkerung völlig egal sind, dass er vielmehr als Mittel zur eigenen Bereicherung und als Beute verstanden wird, um dessen Aufteilung die verschiedenen bürgerlichen Parteien und FührerInnen der religiös-politischen Gruppierungen streiten.

Je mehr das Land in eine ökonomische und soziale Krise schlitterte, umso prekärer, entwürdigender und nutzloser musste sich dieses System für die Masse der Bevölkerung darstellen. Vom Standpunkt der Eliten, ihrer Parteien und deren  Klientele stellt sich jede Verwendung von staatlichen Mitteln für das Gemeinwohl wie z. B. Gesundheitsversorgung, Infrastruktur, Müllentsorgung, Kommunikation, Arbeitslosenunterstützung usw. als Abzug von ihren Pfründen dar. Daher gibt es in Krisenperioden, wenn also die Staatseinnahmen sinken, erst recht nichts zu verteilen für die Masse der Bevölkerung, die verarmt und eigentlich dringend staatliche Unterstützung brauchen würde.

Dies hat nun – wie schon auf geringerem Niveau 2019 – zur Explosion, zur Erhebung der ArbeiterInnenklasse, der städtischen Armut wie auch des KleinbürgerInnentums und der Mittelschichten geführt. Die Not, die Unfähigkeit und Unwilligkeit des Staates, irgendeine nennenswerte reale Hilfe zu leisten, hat außerdem die Bevölkerung dazu gezwungen, selbstorganisierte Strukturen aufzubauen, um Verletzten, obdachlos gewordenen oder hungernden Menschen zu helfen und elementare Formen des täglichen Lebens überhaupt aufrechtzuerhalten. Auch wenn diese Strukturen aus der Not geboren wurden, so können sie auch embryonale Organe der Gegenmacht, alternative Machtzentren zum bestehenden Staatsapparat darstellen.

Dass ehemalige Offiziere die Besetzung von Regierungsgebäuden angeführt haben dürften, deutet darauf hin, dass auch die Kontrolle der Regierung über den Repressionsapparat bröckelt. All das sind untrügliche Zeichen eines enormen revolutionären Potentials.

Doch wie schon die Arabischen Revolutionen steht auch der Libanon vor einem extremen Problem: Der Revolution fehlt eine politische Führung, eine Strategie, ein Programm zur Reorganisation der Gesellschaft, um deren dringendste Probleme zu lösen.

An diesem Problem scheiterten praktisch alle Arabischen Revolutionen des letzten Jahrzehnts. Die Massen der ArbeiterInnen, Bauern/Bäuerinnen, städtischen Armen oder kleinen Selbstständigen verloren die Initiative, obwohl sie den Großteil der Erhebungen getragen hatten, mussten ohnmächtig mit ansehen, wie sich verschiedene Kräfte der Konterrevolution ihrer Bewegung bemächtigten oder diese zerschlugen.

Programm

Daher besteht die Aufgabe sozialistischer, kommunistischer Kräfte darin, die Bewegung vorzutreiben, deren beste KämpferInnen zu organisieren. Doch das erfordert selbst, sich Klarheit über die Aufgaben und das Programm der Revolution zu verschaffen, das den Kampf für demokratische Rechte, für eine Zerschlagung des bestehenden korrupten System mit dem für die Enteignung des Kapitals – des imperialistischen wie libanesischen – und der Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft verbindet.

Um ein solches Programm von Übergangsforderungen zu verbreiten und dafür die ArbeiterInnenklasse und unterdrückten Massen zu gewinnen, bedarf es einer politischen Kraft, einer revolutionären, kommunistischen ArbeiterInnenpartei. Eine solche Kampforganisation zu schaffen, ist das Gebot der Stunde aller proletarischen RevolutionärInnen!

Die Revolution im Libanon und alle RevolutionärInnen im Land bedürfen dabei der Solidarität der internationalen ArbeiterInnenklasse und der Linken auf allen Ebenen – von der Organisierung von Hilfe für die Bevölkerung, politischen Solidaritätskampagnen für die Streichung der Schulden im Kampf darum, dass Hilfslieferungen ohne politische und wirtschaftliche Bedingungen erfolgen. Vor allem aber braucht es auch die möglichst enge Verbindung mit allen Kräften, die im Libanon und in den Ländern des Nahen Ostens aktiv am Aufbau einer revolutionären Bewegung beteiligt sind, die Schaffung einer Solidaritätsbewegung und einer neuen, Fünften Internationale, die im Libanon, im Nahen Osten, weltweit für die sozialistische Revolution kämpft!




Libanon – die Revolution hat begonnen

Dilara Lorin, Martin Suchanek, Infomail 1113, 10. August 2020

Die Explosion im Hafen von Beirut hinterlässt ein schier unglaubliches Ausmaß an Zerstörung im ohnedies krisengeschüttelten, faktisch vor dem Staatsbankrott stehenden Libanon.

Am 4. August detonierten 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut. 154 Menschen wurden getötet, über 5.000 verletzt, geschätzte 300.000  – über 10 % der EinwohnerInnen der Hauptstadt des Landes – sind seither obdachlos.

Die verheerende Katastrophe löste aber auch eine andere, für die Zukunft des Landes noch weit tiefer gehende soziale und politische Explosion aus, eine wahre politische Detonation.

Die Krise des Landes schlägt in eine revolutionäre um. Die verhasste politische Elite, praktisch alle staatlichen und offiziellen Institutionen – ob Präsident, Parlament, Bürokratie, etablierte Parteien, Polizei und Gerichte –, hat ihren letzten, ohnedies kaum noch vorhandenen Kredit bei der Bevölkerung verspielt.

Deren Verzweiflung schlug innerhalb kürzester Zeit in eine neue Welle des Massenprotests um, der Züge eines Aufstandes anzunehmen beginnt. Schon in den letzten Jahren richteten sich riesige Mobilisierungen gegen die Regierungen, so 2015 die Kampagne „Ihr stinkt“, die sich gegen die fehlende Müllentsorgung Beiruts richtete. Zuletzt drohte der Regierung im Herbst 2019 eine „Revolution“ der Bevölkerung. Damals hatte eine beabsichtigte Besteuerung von Messenger-Diensten und damit verbundener Online-Telefonie Hunderttausende, wenn nicht Millionen, auf die Straße gebracht und das öffentliche Leben lahmgelegt.

Nun richtet sich der Zorn gegen die gesamte „Elite“ des Landes, gegen Regierung, Staatsapparat und eine kleine Schicht von reichen Geschäftsleuten und deren Anhang, die das Land seit Jahren mehr oder minder gemeinschaftlich ausplündern.

Die Tragödie im Hafen ließ Trauer, Wut und Hass der Bevölkerung in Aktion umschlagen. Die Bewegung eint in diesem Stadium vor allem eine Forderung – die gesamte „Elite“, das Establishment muss gehen. Parolen wie „Revolution, Revolution“ und „Das Volk will den Sturz der Regierung“ ertönen seit Tagen auf den Straßen der Hauptstadt.

Die Verhängung eines 14-tägigen Ausnahmezustandes durch die Regierung bewirkte – wie bei vielen mit Urgewalt ausbrechenden, spontanen Massenbewegungen – das Gegenteil dessen, was die Herrschenden beabsichtigt hatten. Ein Ausnahmezustand, der nirgendwo durchsetzbar ist, offenbart die Machtlosigkeit der Regierung, eine fundamentale, wenn auch zeitlich begrenzte Verschiebung des Kräfteverhältnisses. Ein solcher Ausnahmezustand trägt eher zur Steigerung der Entschlossenheit der revolutionären Massen bei – und die Ankündigung von Neuwahlen, die offenkundig als reine Beruhigungspille wirken sollen, wird wahrscheinlich eine ähnliche Wirkung haben.

Wie die täglichen Massendemonstrationen und die Auseinandersetzungen mit der Polizei offenbaren, lässt sich die Bevölkerung nicht mehr einschüchtern. Am 8. August erstürmten die DemonstrantInnen Regierungsgebäude, darunter 4 Ministerien und das World Trade Centre. Anscheinend führten ehemalige Offiziere der Armee die Erstürmungen an – andererseits war es auch die Armee, die die Besetzungen wieder beendete und räumte.

Die Lage im Land nimmt Züge eines revolutionären Umsturzes, der ersten Phase einer Revolution an. Die libanesische herrschende Klasse und ihre Regierung sind offenbar nicht mehr HerrInnen der Lage.

Hinzu kommt die extreme ökonomische und soziale Krise, der eigentliche Unterbau einer revolutionären Welle, die sich vor allem an Fragen der Demokratie, der politischen Unterdrückung, der Entrechtung und der Korruption, also der Plünderung des Landes durch die Elite entzündet hat.

Faktisch steht der Libanon schon lange vor dem Staatsbankrott. Schon im März 2020 konnte das Land eine fällige Anleihe in der Höhe von 1,2 Milliarden US-Dollar nicht bedienen. Hinzu kommt, dass die Währungspolitik der Regierung, die über Jahre die Lira im Interesse von FinanzspekulantInnen in Beirut an den US-Dollar band, in Trümmern liegt. Die 1997 eingeführt Bindung an den Dollar musste aufgegeben werden. Seit Beginn 2020 wird das Land von einer Hyperinflation mit monatlichen Abwertungen der Lira von rund 50 % heimgesucht.

Der am 4. August zerstörte Hafen war die wichtigste verbliebene Einnahmequelle des Landes und darüber hinaus essentieller Umschlagplatz für Waren aller Art. Die humanitäre Katastrophe verschärft also die wirtschaftliche Lage zusätzlich.

Imperialistische HelferInnen?

Angesichts der politischen Krise versuchen sich die imperialistischen Mächte, allen vor die einstige Kolonialmacht Frankreich, als Rettung in der Not zu inszenieren. Demagogisch präsentierte sich Macron bei seinem Besuch in Beirut als Kritiker der Elite des Landes, die jetzt „transparent“ und „demokratisch“ handeln müsse. Demagogisch griff er dabei das berechtigte Misstrauen gegen Regierung und Staatsapparat auf, indem er einen nicht näher definierten Mechanismus zur direkten Verteilung von Medizin, Nahrungsmitteln und anderen Hilfsgütern an die Bevölkerung versprach – ein Versprechen, das im schlimmsten Fall durch eine „humanitäre“ Mission der Armee oder der Fremdenlegion eingelöst werden könnte. Auch Länder wie Russland, China oder selbst die BRD oder die USA unter Trump präsentieren sich jetzt als selbstlose HelferInnen.

In Wirklichkeit verfolgen diese Mächte dabei zwei Ziele. Erstens wollen sie das Land befrieden. Eine Revolution, die das politische System hinwegfegen und darüber hinaus auch als Inspiration für den gesamten Nahen Osten wirken könnte, wollen alle Groß- und Regionalmächte unbedingt verhindern. Indem sie sich als „Freundinnen des Volkes“ präsentieren, versuchen sie letztlich, die Massenbewegung zu beschwichtigen und ins Leere laufen zu lassen. Doch die Bevölkerung sollte nicht vergessen, dass diese Mächte für die Lage selbst eine Hauptverantwortung tragen. Das nach religiösen Gemeinschaften aufgeteilte System des Libanon, das mit Sektierertum und Korruption untrennbar verbunden ist, entsprang nicht zuletzt den Interessen der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Die Großmächte und das globale Finanzkapital – nicht bloß, ja nicht einmal in erster Linie die einheimlichen Eliten – plündern das Volk seit Jahrzehnten aus. Nicht zuletzt erweisen sich der Hebel der drückenden Staatsverschuldung des Landes und die Einbindung des Libanon in die internationalen Finanzströme als überaus wirksame Machtinstrumente und als Fessel jeder eigenständigen wirtschaftlichen Entwicklung.

Wenn Mächte wie Frankreich jetzt scheinbar selbstlose Hilfe versprechen, so haben sie ihre längerfristigen Geschäftsinteressen ebenso im Blick wie ihre geostrategischen Ziele im Kampf um die Neuordnung des Nahen Ostens. Hier befindet sich der französische Imperialismus und mit ihm die EU in einem erbitterten Kampf mit den USA, China, Russland und verschiedenen Regionalmächten.

Ökonomische Lage

Diese Staaten sind an der sozialen verzweifelten Lage der Bevölkerung eindeutig mitschuldig – und sie haben auch keine Absicht, diese grundlegend zu verbessern.

Die Krise hat schon vor der Corona-Pandemie zu einer extremen Verelendung geführt. Rund die Hälfte der Bevölkerung lebt heute unter der Armutsgrenze. Besonders betroffen sind davon Millionen Geflüchtete. Das betrifft erstens die mindestens eine halbe Million zählenden PalästinenserInnen, denen vom Zionismus und Imperialismus seit Jahrzehnten das Rückkehrrecht verweigert wird, die aber auch von der libanesischen Regierung massiv diskriminiert werden (Verweigerung der StaatsbürgerInnenschaft; menschenunwürdige Lager, Ausschluss von zahlreichen Berufen). Zweitens flohen seit Beginn des Bürgerkriegs rund 1,5 Millionen Menschen aus Syrien in den Libanon, darunter etwas die Hälfte Kinder und Jugendliche.

Zugleich hat sich in den letzten Jahren auch die Sozialstruktur des Landes – insbesondere Beiruts, wo rund ein Drittel der Bevölkerung lebt – verändert. Lange war die Stadt davon geprägt, dass die religiöse Zugehörigkeit mit dem sozialen Status korrelierte. Die KapitalistInnenklasse und die bürgerlichen Stadtteile waren wesentlich von der christlichen Bevölkerungsgruppe geprägt. Die SchiitInnen bewohnten vorwiegend die ärmeren und verarmten Viertel. In den letzten Jahren hat sich das ein Stück weit verändert. Der Anteil der SchiitInnen und SunnitInnen an der ökonomischen Elite des Landes, z. B. an den 100 Reichsten des Landes, nahm zu. Sicherlich ist das auch eine Folge der Integration der Hisbollah in die Staatsführung im Zuge des „Friedensprozesses“ – und damit einer Verbreiterung der herrschenden Schichten. Die Hisbollah entwickelte sich in den letzten Jahren zu einem integralen Bestandteil der Elite des Landes, wie sich auch an ihrer strategischen Allianz mit dem Präsidenten Aoun erkennen lässt.

Die andere Seite dieser veränderten Zusammensetzung der Elite und des Herrschaftssystems besteht darin, dass es auch zu einer gewissen Angleichung der Lebenslagen der muslimischen, christlichen, drusischen ArbeiterInnen kam.

Vom Kampf gegen die Elite zur Revolution!

Die Forderung nach einem Rücktritt der gesamten politischen Elite des Landes, aller Parteien, Regierungsmitglieder, des Präsidenten, aber auch von BeamtInnen, RichterInnen, … – also zentraler Teile des Staatsapparates – kann angesichts der Pseudo-Demokratie, religiös-sektiererischer Aufteilung von Ämtern und Einfluss, der weit verbreiteten Vetternwirtschaft und jahrelangen Ausplünderungen durch das Finanzkapital nicht weiter wundern. Sie erinnert stark an die ersten Phasen praktisch aller Bewegungen der Arabischen Revolutionen.

Zugleich zeigt die Entwicklung auch, wie eng demokratische Fragen – nicht nur im Libanon – mit den sozialen und Klassenfragen zusammenhängen.

Wir wollen das im Folgenden kurz verdeutlichen. Die am 4. August explodierten 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat lagerten schon seit 6 Jahren im Hafen. Wie Recherchen von Al Jazeera zeigen, waren diese jedoch nicht einfach „vergessen“ worden. Mindestens sechs Mal wandten sich ZollbeamtInnen schriftlich an die libanesische Justiz und forderten ein Einschreiten, ebenso oft wurden ihre Eingaben ignoriert. All das verdeutlicht, dass nicht nur einzelnen Gerichten, sondern dem gesamten Staatsapparat die Lebensinteressen der Bevölkerung völlig egal sind, dass er vielmehr als Mittel zur eigenen Bereicherung und als Beute verstanden wird, um dessen Aufteilung die verschiedenen bürgerlichen Parteien und FührerInnen der religiös-politischen Gruppierungen streiten.

Je mehr das Land in eine ökonomische und soziale Krise schlitterte, umso prekärer, entwürdigender und nutzloser musste sich dieses System für die Masse der Bevölkerung darstellen. Vom Standpunkt der Eliten, ihrer Parteien und  Klientel stellt sich jede Verwendung von staatlichen Mitteln für das Gemeinwohl wie z. B. Gesundheitsversorgung, Infrastruktur, Müllentsorgung, Kommunikation, Arbeitslosenunterstützung usw. als Abzug von Pfründen dar, die ihnen zufallen sollten. Daher gibt es in Krisenperioden, wenn also die Staatseinnahmen sinken, erst recht nichts zu verteilen für die Masse der Bevölkerung, die verarmt und eigentlich dringend staatliche Unterstützung brauchen würde.

Dies hat nun – wie schon auf geringerem Niveau 2019 – zur Explosion, zur Erhebung der ArbeiterInnenklasse, der städtischen Armut wie auch des KleinbürgerInnentums und der Mittelschichten geführt. Die Not, die Unfähigkeit und Unwilligkeit des Staates, irgendeine nennenswerte reale Hilfe zu leisten, hat außerdem die Bevölkerung dazu gezwungen, selbstorganisierte Strukturen aufzubauen, um Verletzten, obdachlos gewordenen oder hungernden Menschen zu helfen und elementare Formen des täglichen Lebens überhaupt aufrechtzuerhalten. Auch wenn diese Strukturen aus der Not geboren wurden, so stellen sie auch embryonale Organe der Gegenmacht, alternative Machtzentren zum bestehenden Staatsapparat dar.

Dass ehemalige Offiziere die Besetzung von Regierungsgebäuden angeführt haben dürften, deutet darauf hin, dass auch die Kontrolle der Regierung über den Repressionsapparat bröckelt. All das sind untrügliche Zeichen einer beginnenden revolutionären Entwicklung.

Doch wie schon die Arabischen Revolutionen steht auch der Libanon vor einem extremen Problem – der Revolution fehlt eine politische Führung, eine Strategie, ein Programm zur Reorganisation der Gesellschaft, um deren dringendste Probleme zu lösen.

Die Bewegung wirft zwar die Machtfrage auf, in dem sie den Rücktritt oder die Absetzung der gesamten „Elite“, ein Ende von deren Korruption, Bereicherung und faktischer Straffreiheit fordert – aber sie hat keine Vorstellung, wodurch sie zu ersetzen wäre, welches politische und soziale System an die Stelle des bestehenden treten soll. Logischerweise bleiben damit auch die Ziele einer „Revolution“ unklar.

An diesem Problem scheiterten praktisch alle Arabischen Revolutionen des letzten Jahrzehnts. Die Massen der ArbeiterInnen, Bauern/Bäuerinnen, städtischen Armen oder kleinen Selbstständigen verloren die Initiative, obwohl sie den Großteil der Erhebungen getragen hatten, mussten ohnmächtig mit ansehen, wie sich verschiedene Kräfte der Konterrevolution ihrer Bewegung bemächtigten oder diese zerschlugen. Dies droht auch im Libanon.

Programm

Daher besteht die Aufgabe sozialistischer, kommunistischer Kräfte darin, die Bewegung vorzutreiben, deren beste KämpferInnen zu organisieren. Doch das erfordert selbst, sich Klarheit über die Aufgaben und das Programm der Revolution zu verschaffen. Wir können ein solches an dieser Stelle nicht detailliert vorlegen, wohl aber einige Schlüsselforderungen.

  • Offenlegung aller Dokumente zur Explosion des Hafens; Bildung von Untersuchungsausschüssen; Aburteilung der Verantwortlichen durch von der Bevölkerung gewählte, öffentliche Tribunale; Entschädigung der Angehörigen aller Getöteten, der Verwundeten und der Menschen, die ihre Wohnungen verloren haben!
  • Sicherung des Überlebens der Bevölkerung durch Beschlagnahme der großen Vermögen und Unternehmen! Verteilung der Hilfslieferungen, von Nahrungsmitteln und Medizin unter Kontrolle von Komitees und Räten in Stadtteilen, Betrieben, auf dem Land! Diese Aufgabe darf nicht der Regierung und ihrem Apparat oder imperialistischen Staaten überlassen werden. HelferInnen humanitärer Organisationen sollen unter Kontrolle solcher Komitees und Räte agieren.
  • Aufstellen eines Notplans zur Versorgung der Bevölkerung, Sicherung von kostenloser Zuteilung lebensnotwendiger Güter an die Bedürftigen. Das erfordert u. a. die Streichung der Auslandsschulden, die entschädigungslose Eineignung aller Banken, Finanzinstitutionen, Großbetriebe libanesischer wie ausländischer KapitalistInnen sowie der Privatvermögen der Superreichen unter ArbeiterInnenkontrolle, die Zusammenfassung der Finanzinstitutionen zu einer Zentralbank zur Stabilisierung der Lira, die Festlegung von Mindestlöhnen und Renten, die die Lebenshaltungskosten decken.
  • Rücknahme des Ausnahmezustandes und von Sonderbefugnissen der Armeeführung, Freilassung aller Gefangenen und Festgenommenen! Bildung von Selbstverteidigungskomitees der Bewegung und von ArbeiterInnenmilizen in den Stadtteilen und Betrieben! Die SoldatInnen müssen aufgerufen werden, auf die Seite der Bewegung überzugehen, SoldatInnenräte zu bilden, ArbeiterInnen- und Selbstverteidigungsmilizen zu bewaffnen und diese als AusbilderInnen zu unterstützen!
  • Abschaffung aller religiösen, sektiererischen Gesetze und politischen Restriktionen! Volle Einbeziehung der Frauen sowie der syrischen und palästinensischen Flüchtlinge in die Bewegung und den Kampf für die libanesische Revolution, einschließlich voller Wahl- und StaatsbürgerInnenrechte für die Flüchtlinge!
  • Bildung von Räten und Aktionsausschüssen in allen Betrieben, Wohnvierteln, in Stadt und Land, um die Bewegung zu führen, über deren Aktionen und Ausrichtung zu entscheiden! Diese Organe sollen von den EinwohnerInnen der Wohnviertel oder den Beschäftigten in den Betrieben gewählt, diesen rechenschaftspflichtig und von ihnen abwählbar sein. Sie müssen auf städtischer, regionaler und landesweiter Ebene zu einem Rätekongress zusammengefasst werden, der provisorisch die Regierungsgewalt übernimmt.
  • Nieder mit Regierung und Präsident! Nein zu Neuwahlen unter Kontrolle des Staatsapparates! Nein zu jeder imperialistischen militärischen oder polizeilichen „Hilfs“intervention unter französischer oder sonstiger Führung!
  • Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung unter Kontrolle der Massenbewegung, von Stadtteil- und Betriebskomitees, die den Wahlprozess, die Zulassung der KandidatInnen, den Zugang zu den Medien usw. kontrollieren!
  • Eine solche Versammlung muss die großen demokratischen, politischen und gesellschaftlichen Fragen der Neuorganisation des Landes debattieren. Gerade weil der Wunsch nach Demokratie eine solche wichtige Frage darstellt, können und müssen die Versammlung, ihre Einberufung und Kontrolle zu einem Mittel werden, die Massen davon zu überzeugen, dass eine erfolgreiche, konsequente Revolution die Macht in die Hände einer Räteregierung legen muss, die sich auf direkt demokratische Räte der ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen, der städtischen Armut und der unteren Schichten des KleinbürgerInnentums stützt.
  • Eine solche Regierung muss, um die Aufgaben der Revolution zu erfüllen, den korrupten, bürgerlichen Staatsapparat hinwegfegen und durch Räte, betriebliche und kommunale Selbstverwaltungs- und Machtorgane sowie durch SoldatInnenräte und ArbeiterInnenmilizen ersetzen! Sie muss die herrschende Klasse und die imperialistischen Konzerne und AnlegerInnen enteignen und die Wirtschaft auf Basis demokratischer Planung reorganisieren.

Um ein solches Programm von Übergangsforderungen zu verbreiten und dafür die ArbeiterInnenklasse und unterdrückten Massen zu gewinnen, bedarf es einer politischen Kraft, einer revolutionären, kommunistischen ArbeiterInnenpartei. Eine solche Kampforganisation zu schaffen, ist das Gebot der Stunde aller proletarischen RevolutionärInnen!

Die Revolution im Libanon und alle RevolutionärInnen im Land bedürfen dabei der Solidarität der internationalen ArbeiterInnenklasse und der Linken auf allen Ebenen – von der Organisierung von Hilfe für die Bevölkerung, politischen Solidaritätskampagnen für die Streichung der Schulden im Kampf darum, dass Hilfslieferungen ohne politische und wirtschaftliche Bedingungen erfolgen. Vor allem aber braucht es auch die möglichst enge Verbindung mit allen Kräften, die im Libanon und in den Ländern des Nahen Ostens aktiv am Aufbau einer revolutionären Bewegung beteiligt sind, die Schaffung einer Solidaritätsbewegung und einer neuen, Fünften Internationale, die im Libanon, im Nahen Osten, weltweit für die sozialistische Revolution kämpft!




Israels Annexionspolitik: Für die sozialistische Einstaatenlösung!

Robert Teller, Neue Internationale 248, Juli/August 2020

Israels neue Netanjahu-Gantz-Regierung, bestehend aus den zwei großen rechten Parteien Likud und „Blau-Weiß“, hatte angekündigt, zum 1. Juli formell die Annexion des Jordantals und der Siedlungen in der Westbank zu vollziehen. Die Annexion besetzter Territorien verletzt elementare Grundsätze des internationalen Rechts ebenso wie die Oslo-Vereinbarungen von 1993. Die Voraussetzung für diesen Schritt sind einerseits die „Erlaubnis“ des US-Imperialismus, die mit Trumps „Deal of the Century“ erteilt wurde, und andererseits die Einigung zwischen Likud und der Partei „Blau-Weiß“, eine Einheitsregierung zu bilden.

Die Annexion des Jordantals und der Siedlungen war das zentrale Wahlversprechen, mit dem Netanjahu angetreten war. Die ein Jahr lang andauernde Pattsituation zwischen Likud und „Blau-Weiß“ wurde nun in Anbetracht der COVID-19-Pandemie durch eine reaktionäre Einheitsregierung beider Kontrahenten aufgelöst. Diese soll nun vollenden, was bislang nur durch den Hauptstreitpunkt zwischen beiden Parteien – die zahlreichen gegen Netanjahu anhängigen Korruptionsverfahren – verzögert worden war. Bis zum 1. Juli war nicht klar, ob die Annexion tatsächlich formell erklärt wird, ob sie auf einen Teil der Gebiete aus Trumps „Deal“ begrenzt oder verschoben wird.

Gespaltene Verbündete

Dass der Schritt der formellen Annexion angesichts von weitreichenden Protesten nun vorerst nicht getan wurde, ist einerseits ein gängiges Muster in der israelischen Politik, die ihre Aggressionen nach der Salami-Taktik umsetzt, um das Entfachen spontaner Massenproteste zu vermeiden. Andererseits ist es eine Gefälligkeit Israels gegenüber denjenigen internationalen Verbündeten, die allergrößte Schwierigkeiten haben, ihre Beziehungen zu Israel in Anbetracht des geplanten Raubzuges als legitime Sache darzustellen. Doch die Geschichte beweist einerseits, dass kein verbaler Protest Israel jemals dazu gebracht hat, von der Durchsetzung seiner strategischen Ziele gegenüber den PalästinenserInnen Abstand zu nehmen. Andererseits offenbart sie, dass die westlichen Verbündeten kein Problem an sich mit der Ungerechtigkeit haben, die in der geplanten Annexion liegt, sondern vielmehr mit der öffentlichen Blamage, die diese offensichtliche Verhöhnung des Völkerrechts mit sich bringt.

Außenminister Heiko Maas etwa brachte bei seinem Besuch in Jerusalem seine „ernsthaften und ehrlichen Sorgen, als ein ganz besonderer Freund Israels, über die Konsequenzen eines solchen Schritts zum Ausdruck“ (1). Die Konsequenzen wären nämlich, das Ziel der Zweistaatenlösung, seit 30 Jahren offizielle Position der westlichen Regierungen, als Hirngespinst dastehen zu lassen. Wo kein Grund und Boden mehr übrig ist, da wird es keinen palästinensischen Staat geben. Und da die „Zweistaatenlösung“ durchaus wirksam sowohl bei der Demobilisierung des palästinensischen Widerstands als auch bei der Reinwaschung des Staates Israel als „demokratischer Verbündeter“ im westlichen Diskurs war, ist Sorge verständlich. Es wäre nicht mehr zu leugnen, dass ein Staat, der Territorien annektiert, ohne der dort lebenden Bevölkerung staatsbürgerliche Rechte zu verleihen – oder aber die palästinensische Bevölkerung in isolierten und abgehängten Brachflächen separiert – das Verbrechen der Apartheid begeht.

Während die US-Regierung ihre volle Unterstützung für die Annexion erklärt hat, sind die europäischen Regierungen gespalten. Einige befürworten die Aussetzung des EU-Israel-Assoziierungsabkommens, das Teil als des Oslo-Prozesses abgeschlossen wurde. Einige osteuropäische Länder (u. a. Österreich und Ungarn) lehnen eine solche Maßnahme ab. Folglich kommt eine wirksame, einstimmige Entscheidung der EU-Mitglieder zu dieser Frage nicht zustande.

Kompromissloser Zionismus

Klar ist, dass der Staat Israel faktisch längst die alleinige Souveränität in der gesamten Westbank ausübt. Der Schritt, die Souveränität auch de jure zu erklären, ist also zunächst symbolisch, weil der Inhalt dieser Erklärung längst Realität ist. Aber diese symbolische Aneignung ist auch geeignet, in den Augen des palästinensischen Volkes die Trugbilder, die in den 30 Jahren des Oslo-Prozesses die Debatten beherrscht haben, zu beseitigen, die Zweistaatenlösung als Täuschung zu entlarven und zur Einsicht zurückzukommen, dass die kolonialistische Politik Israels keinen Raum für Kompromisse lässt.

Der israelischen Regierung ist bewusst, dass die eigentliche Gefahr für ihre Pläne weder in der Haltung ihrer internationalen Verbündeten noch der korrupten Autonomiebehörde liegt, sondern im Widerstand der PalästinenserInnen, die eine Annexion niemals akzeptieren werden. Die Regierung und ihre zionistischen UnterstützerInnen weltweit fürchten sich vor einer neuen Intifada, und die BLM-Bewegung weltweit erinnert sie daran, dass staatlicher Rassismus einen unbändigen Zorn verursacht, der sich auch in Palästina erneut Bahn brechen könnte.

Die geplante Annexion könnte das Ende der sorgfältig aufgebauten Arbeitsteilung zwischen Israel und der Autonomiebehörde einleiten. VertreterInnen der Behörde haben angekündigt, aus Protest u. a. ihre „Sicherheitszusammenarbeit“ (d. h. Koordination mit israelischen Sicherheitskräften, Auslieferung von Gefangenen etc.) auszusetzen und regelmäßige Zahlungen an eigene Beschäftigte und BeamtInnen in der Westbank und im Gazastreifen einzustellen. Diese „Drohungen“ – die im Übrigen schon öfters ausgesprochen, aber kaum verwirklicht wurden – beweisen einerseits, dass die Behörde keinerlei Souveränität besitzt, nicht mehr als einen ausführenden Arm der Besatzungsmacht darstellt und ihre Möglichkeiten darauf beschränkt sind, diese Funktion einzustellen – wie Hussein al-Sheikh, Fatah-Mitglied und in der Autonomiebehörde für die Zusammenarbeit mit Israel verantwortlich, ankündigt: „Ich werde mich jeden Tag aus meiner Verantwortung zurückziehen“ (2).

Die Ankündigungen weisen dennoch auf den wichtigen Punkt hin, dass mit der offiziellen Übernahme der Souveränität durch Israel der eigentlichen Funktion der Autonomiebehörde, die palästinensische Bewegung im Zaum zu halten, die Grundlage entzogen wird. Dies könnte einen Neuanfang innerhalb der Bewegung ermöglichen, einer neuen Generation von AktivistInnen den Weg eröffnen, den Betrug, den Fatah, Hamas und andere führende Kräfte der palästinensischen Bewegung organisiert haben, zu beenden und die Bewegung vom falschen Dogma der Zweistaatenlösung zu befreien.

Bankrott der Autonomiebehörde

Der Bankrott der Autonomiebehörde ist das notwendige Resultat der politischen Orientierung auf die Zweistaatenlösung durch die führenden PLO-Fraktionen. Diese Politik hat entscheidend zur Niederlage der zweiten Intifada beigetragen und die palästinensische Bewegung seitdem in einer passiven Agonie zurückgelassen. Eine neue palästinensische Massenbewegung muss der Mitverwaltung der Besatzung eine Absage erteilen und versuchen, alle PalästinenserInnen – ob in den 1948er-Gebieten, in der Westbank, im Gazastreifen oder in den Nachbarländern lebend – einzubeziehen und sie für das Ziel gewinnen, einen einzigen Staat in ganz Palästina zu erkämpfen. Dieser Staat muss allen BewohnerInnen – ob Juden/Jüdinnen, PalästinenserInnen oder anderen Nationalitäten – die gleichen Rechte gewähren, sowie den Flüchtlingen das Recht auf Rückkehr. Die palästinensische Bourgeoisie ist politisch völlig diskreditiert und wird in diesem Kampf nicht die entscheidende Rolle spielen. Es ist die Aufgabe von RevolutionärInnen, die Jugend, die ArbeiterInnen und Armen für das Ziel der Einstaatenlösung einzunehmen und innerhalb der Bewegung für die Position zu kämpfen, dass ein solcher Staat nur als sozialistischer Hand in Hand mit den Massenbewegungen anderer Länder, als Teil einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens erreicht werden kann. Hierfür ist ein Aktionsprogramm notwendig, das den Kampf für unmittelbare Ziele, gegen die tagtäglichen Schikanen der Besatzung, verbindet mit dem für einen sozialistischen, multi-nationalen Staat Palästina.

InternationalistInnen weltweit müssen in den ArbeiterInnenbewegungen ihrer Länder dafür eintreten, dass diese die Annexionspolitik verurteilen, jede Unterstützung für den Staat Israel beenden, und der palästinensischen Bewegung die Unterstützung zukommen lassen, die nötig und möglich ist.

Endnoten

(1) https://www.timesofisrael.com/in-israel-german-fm-calls-annexation-illegal-but-doesnt-threaten-sanctions/

(2) https://www.nytimes.com/2020/06/08/world/middleeast/palestinian-authority-annexation-israel.html




Iran im Zentrum von Krise und Pandemie

Robert Teller, Neue Internationale 245, April 2020

Schon lange vor Ausbruch der COVID-19-Pandemie war der Iran ein Brennpunkt im Kampf um die politische Hegemonie im Nahen Osten – und steckt zudem inmitten einer Krise, die wiederholt Hunderttausende in den offenen Kampf gegen das Regime getrieben hat. Ausgerechnet hier schlägt die Pandemie am heftigsten zu.

Laut offiziellen Angaben des Regimes wurden bis zum 31. März 44.600 Infizierte im Land nachgewiesen, von denen 2.900 verstorben sind. Eine kanadische wissenschaftliche Untersuchung hingegen schätzte auf Grundlage verfügbarer Daten bereits einen Monat früher, am 25. Februar, die Zahl der Infizierten auf etwa 18.000 (mit großer Unsicherheit). Verschiedene Berichte aus lokalen Krankenhäusern legen nahe, dass in den schwer betroffenen Regionen die tägliche Zahl an Verstorbenen die offiziell gemeldeten Zahlen um ein Mehrfaches übersteigt. Auf Satellitenbildern wurden Massengräber nachgewiesen. Die bürgerliche Oppositionsbewegung der Volksmudschahedin (Modschahedin-e Chalgh) gibt auf Grundlage von Berichten ihres Netzwerkes bis zum 31. März 14.700 Verstorbene an. Es ist keine Spekulation, zu vermuten, dass Iran gemessen an den wirklichen Todesopfern bislang das am schwersten von der Pandemie getroffene Land weltweit ist.

Erste Reaktionen

Bereits im Februar hatte der Ausbruch im Iran bedrohliche Ausmaße angenommen. Doch anstatt Schutzmaßnahmen zu ergreifen, leugnete das Regime den Ausbruch. Ein Lockdown zu diesem Zeitpunkt hätte die Feiern zum Jahrestag der Iranischen Revolution, die eine wichtige Machtdemonstration des Regimes darstellen, gefährdet. Selbst bis zur Parlamentswahl am 21. Februar ergriff das Regime keine Maßnahmen, die Ausbreitung zu kontrollieren. Präsident Rohani bezeichnete die Epidemie als Lüge der USA, die mit dem Ziel verbreitet wird, die iranische Wirtschaft zu schädigen und die IranerInnen von der Stimmabgabe abzuhalten. Ein Sprecher des Parlaments verkündete, dass alle, die „Gerüchte“ über die Epidemie verbreiten, mit ein bis drei Jahren Haft und Peitschenhieben zu bestrafen sind.

Tatsächlich lag die Wahlbeteiligung landesweit bei 42 % – fast 20 % weniger als bei der letzten Wahl – und war damit die geringste Wahlbeteiligung seit der Iranischen Revolution. In Teheran wurde sogar mit nur 26 % der geringste Wert aller Provinzen erreicht. Doch für diejenigen, die sich der Stimme enthielten, war ganz überwiegend nicht die grassierende Coronavirusepidemie ausschlaggebend, sondern der politische Charakter der Wahl, die im Wesentlichen eine Stimmenentscheidung zwischen den Rechten und den Ultrarechten des Mullah-Regimes zuließ. Fast alle Oppositionskräfte hatten zum Wahlboykott aufgerufen.

Sinnbildhaft für die Unfähigkeit des Regimes, auf die Epidemie zu reagieren, stand der stellvertretende Gesundheitsminister Iraj Harirchi, der hustend, fiebernd und mit Schweißperlen im Gesicht vor der Presse verkündete, dass Berichte über einen großen Krankheitsausbruch in der Stadt Ghom Lügen seien. Am darauffolgenden Tag wird bei ihm selbst die Virusinfektion nachgewiesen. Weitere RegierungsvertreterInnen und 23 Parlamentsabgeordnete hatten sich bis Anfang März nachweislich infiziert.

Erst Anfang März reagierte das Regime, indem es Schulen und Universitäten schloss. Seither richtet es regelmäßig Appelle an die Bevölkerung, Vorsichtsmaßnahmen zu beachten, und verurteilt in schärfer werdendem Tonfall das „unverantwortliche Verhalten“ der Massen, die sich den Appellen widersetzen würden. Doch selbst zum persischen Neujahrsfest am 20. März, wenn Millionen IranerInnen gewöhnlich zu ihren Familien reisen, war der öffentliche Verkehr weiter in Betrieb, Industriebetriebe liefen weiter, Märkte und Geschäfte waren weiterhin geöffnet. Erst in der letzten Märzwoche wurden Fernverkehrsverbindungen eingestellt. Einen umfassenden Stopp nicht notwendiger Produktions- und Dienstleistungsbetriebe gibt es bis heute nicht. Zehntausende Gefangene wurden in Anbetracht der Epidemie aus den Gefängnissen entlassen. Politische Häftlinge wurden jedoch bislang trotz gegenteiliger Versprechungen nicht auf freien Fuß gesetzt. Auch die 7.000 Gefangenen der Novemberproteste sitzen bis heute in den Knästen ein und sind damit in akuter gesundheitlicher Gefahr. In Gefängnissen in Saqqez und Schiraz brachen in Anbetracht der Gefahr in den vergangenen Tagen Aufstände aus.

Wirtschaftliche Krise

Der (halb-)staatliche Sektor, insbesondere die Ölförderung samt nachgelagerter petrochemischer Industrie, die Fahrzeugproduktion, die pharmazeutische Industrie und andere sind durch die erneuten US-Sanktionen seit 2018 massiv beschädigt. 2019 schrumpfte die iranische Wirtschaft laut IWF um 9,5 %. Die Ölexporte, die den größten Teil des Staatshaushalts ausmachten, brachen um fast 90 % ein. Angesichts des jüngsten Einbruchs des Ölpreises beantragte des iranische Regime Anfang März einen Kredit von 5 Mrd. US-Dollar beim IWF.

Konsumgüter verteuerten sich 2019 um 31 % (IWF). Die wegbrechenden Staatseinnahmen zwangen das Regime zu sozialen Angriffen wie der Abschaffung von Subventionen. Die Novemberproteste 2019, die Hunderttausende trotz blutiger Repression auf die Straße trieben, waren ein Ausdruck der Radikalität und der Wut, die diese neoliberalen Maßnahmen eines korrupten, theokratischen Regimes hervorrufen‚ aber auch der Verzweiflung des Regimes, das mit blutiger Gewalt reagierte und viele hundert DemonstrantInnen tötete.

Der Grund für die Unfähigkeit, auf die Epidemie angemessen zu reagieren, ist klar: Das iranische Regime steht sowohl ökonomisch als auch politisch mit dem Rücken zur Wand. Präsident Rohani erklärte treffend: „Gesundheit ist für uns ein Prinzip, aber Produktion und die Sicherheit der Gesellschaft ist für uns auch ein Prinzip.“ (29.03.)

Regionalmachtambitionen

Milliarden versickern in den militärischen Interventionen im Irak, in Syrien und im Jemen und in den korrupten Geschäften der iranischen Revolutionsgarden. Das offizielle Verteidigungsbudget liegt bei 16 % des Staatshaushaltes. Nicht berücksichtigt dabei sind weitere Milliarden, die die Revolutionsgarden aus dem Staatshaushalt und aus ihrem Wirtschaftsimperium abzweigen und etwa zur Finanzierung regimetreuer Milizen im Irak verwenden.

Diese Interventionen sind für das Regime einerseits eine politische Lebensversicherung im Angesicht einer drohenden US-Intervention. Sie dienen aber ebenso sehr der Durchsetzung der wirtschaftlichen Interessen eines wichtigen Teils der iranischen Bourgeoisie, der mittels der Revolutionsgarden im Irak wichtige Absatzmärkte für eigene Produkte erschlossen hat und hofft, einen Zugang zum irakischen Ölsektor zu erhalten und beim Wiederaufbau Syriens zum Zuge zu kommen. Ein Lockdown würde nicht nur die Profite der vom internationalen Kapitalmarkt weitgehend abgeschnittenen Bourgeoisie bedrohen, sondern auch die Regionalmachtansprüche des iranischen Regimes.

Widerstand

Vor allem aber ist klar, dass ein umfassender Lockdown, sofern er nicht mit einem massiven staatlichen Nothilfeprogramm verbunden wird, die Lohnabhängigen, die Millionen KleinbürgerInnen, Arbeitslosen und Prekarisierten von heute auf morgen ihrer Lebensbedingungen berauben wird. Die soziale Sprengkraft einer solchen Situation wäre enorm und sie würde den spontanen Widerstand breiter Teile der Bevölkerung herausfordern. Wie bereits im November und nach dem Abschuss der ukrainischen Passagiermaschine Anfang Januar würde eine solche Bewegung sich nicht auf ökonomische Ziele beschränken. Sie würde unmittelbar politischen Charakter annehmen und – wie bereits im November – die reaktionären Militärinterventionen und den korrupten Charakter des iranischen Regimes als Hauptgrund für die Krise anprangern. Die Bewegung könnte sich zudem auf die Massenproteste im Irak beziehen, die ihre Stimme gegen das sektiererische politische System erheben, das vom iranischen Regime dort maßgeblich geformt wurde. Das heißt, das Regime kann zu den drastischen Maßnahmen, die zur Eindämmung der Epidemie nötig wären, nicht greifen, ohne soziale Verwerfungen zu erzeugen, die nicht mehr zu beherrschen wären.

Die Reaktion des iranischen Regimes auf die Pandemie mag im Vergleich zur Politik der westlichen Industrienationen als unverantwortlich erscheinen. Doch die zugrunde liegende Methode ist die gleiche, die alle bürgerlichen Regierungen verfolgen: Die Folgen der Pandemie sollen die Massen schultern. Hierzulande sind in den vom Lockdown betroffenen Branchen Millionen von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit bedroht, die wirtschaftlichen Kosten der Krise werden auf die Massen abgewälzt. Das iranische Regime dagegen lässt die Pandemiewelle ungebremst übers Land hinweg rollen – nach dem Motto: Wer krank ist, wehrt sich nicht.

Die Pandemie verdeutlicht nicht nur den reaktionären Charakter des iranischen Regimes, das im eigenen Machtinteresse bereitwillig hunderttausende Opfer in Kauf nimmt. Sie verdeutlicht auch, dass der Handlungsspielraum des Regimes dabei gegen null geht. Die einzige realistische Möglichkeit, die sich anbahnende Katastrophe abzuwenden, besteht darin, dem Regime und den mit ihm verbundenen Revolutionsgarden die Kontrolle über die Betriebe zu entreißen und unter Kontrolle der Beschäftigten ein Notprogramm zur Bewältigung der Pandemie umzusetzen. Alle nicht notwendigen Betriebe und Einrichtungen müssen sofort stillgelegt werden, bei Fortzahlung der Löhne – zugleich müssen die Reichtümer der KapitalistInnen, insbesondere im Wirtschaftsimperium der Revolutionsgarden, konfisziert werden, um die Produktion lebenswichtiger Konsumgüter für die Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Arbeitslose und alle, deren Einkommen auf Grund der Pandemie weggebrochen ist, müssen kostenlosen Zugang zu Grundbedarfsgütern erhalten. Das Gesundheitssystem, die pharmazeutische Industrie und die medizinischen Einrichtungen des Militärs, der Revolutionsgarden und der religiösen Organisationen müssen unter Kontrolle der ArbeiterInnen gestellt und mit einem Sofortprogramm aus konfisziertem Vermögen aufgerüstet werden, um die Behandlungskapazitäten zu steigern.

In dieser Situation müssen die politisch bewusstesten und entschlossensten KämpferInnen und mit der ArbeiterInnenklasse verbundene Intellektuelle den Aufbau einer revolutionären, kommunistischen Partei mit dem Kampf gegen Pandemie und Krise verbinden. Eine solche Partei muss sich auf ein Programm von Übergangsforderungen stützen. Sie muss die revolutionäre Perspektive gegen das Mullah-Regime als Teil des Kampfes für eine sozialistische Umwälzung im gesamten Nahen und Mittleren Osten begreifen, eines Kampfes, der sich sowohl gegen die reaktionären Regime aller Art wie die imperialistische Herrschaft über die Region richtet.




Irak: As-Sadr bereitet blutige Konterrevolution vor

Jeremy Dewar, Infomail 1095, 17. März 2020

Die
revolutionäre demokratische Protestbewegung des Irak, die am 1. Oktober 2019
begann, steht vor ihrer bisher größten Bewährungsprobe, da der
Interimspremierminister Mohammed Allawi ankündigen lässt, dass seine Regierung
den Aufstand beenden will.

SchülerInnen und
StudentInnen haben die Bewegung mit einer Welle von Streiks, die zur
Annullierung des gesamten akademischen Jahres zu führen drohte, sowie mit
Besetzungen von Plätzen angeführt, einschließlich des symbolischen Tahrir-Platzes
(„Befreiungsplatz“) in Bagdad. Aber die Bewegung ist in den neun südlichen und
zentralen Provinzen mit schiitischer Mehrheit sowie in anderen Zentren des
Aktivismus in Basra und Nasariya weit verbreitet.

Die Repression
war brutal und blutig. Über 550 DemonstrantInnen (und 13 Sicherheitskräfte)
wurden von Armee und Polizei getötet, unterstützt von Mitgliedern der
schiitischen al-Haschd asch-Scha‘bi-Milizen, der iranisch beeinflussten
Volksmobilisierungseinheiten (PMU). Schätzungsweise 25.000 wurden verletzt.

In jüngerer Zeit
haben die „blauen Hüte“, Mitglieder der Saraya al-Salam-Miliz
(Friedenskompanien, Mahdi-Armee) des schiitischen Klerikers Muqtada as-Sadr,
die die Protestierenden vor den von Iran unterstützten Milizen schützten, bis
sie die Seite wechselten, ebenfalls Protestierende getötet. Insbesondere
wendeten sie sich nach dem gescheiterten Millionen-Menschen-Marsch von as-Sadr
gegen sie, als die DemonstrantInnen ein Restaurant auf dem Tahrir-Platz
eroberten, in dem sich der Radiosender der Bewegung befand.

Psychologie der
Protestierenden

Die Psychologie
der Protestierenden muss im Zusammenhang damit verstanden werden, dass die
Hälfte der 40 Millionen EinwohnerInnen des Irak unter 21 Jahre alt ist. Das
heißt, sie kennen nur die sektiererische Regierung des Irak nach der
US-Invasion. Sie sind ebenso wütend auf den Iran wie auf den US-Imperialismus,
weil sie die Infrastruktur des Landes zerstören, das politische System
korrumpiert und öffentliche Dienstleistungen und Arbeitsplätze vergeudet haben.

Aus diesem Grund
gibt es auch eine starke Voreingenommenheit gegenüber politischen Parteien, da
diese alle in die Korruption verwickelt sind, die ein unvermeidliches
Nebenprodukt des politischen Systems der Machtteilung ist. Dabei teilen sich
sunnitische, schiitische und kurdische Parteiblöcke im Parlament die Beute und
belohnen ihre AnhängerInnen mit Posten und Geld.

Ein
Protestierender erklärte dazu: „Wenn wir einen Führer hätten, dann wäre diese
Bewegung schon vor langer Zeit zu Ende gewesen. Es ist leicht für eine/n
FührerIn, von den Kräften, gegen die er/sie kämpft, kompromittiert oder
kooptiert zu werden“.

Eine andere
Person stellte ihre Ziele so dar: „Heute bedrohen die DemonstrantInnen das
Finanzimperium der Parteien. Das Volk will eine Volksregierung, und das bedroht
die [Parteien] …, da sie dann nicht in der Lage sein werden, [es] zu
berauben“.

Ein weiteres
wichtiges Merkmal der Bewegung ist die herausragende Beteiligung von Frauen. Am
14. Februar, als Antwort auf as-Sadrs Tweet, dass die Protestierenden getrennt
werden sollten, widersetzte sich ein Frauenmarsch ihm mit den Sprechchören:
„Stoppt die Diskriminierung von Frauen, stoppt die Geschlechtertrennung!“

Eine ältere
Anhängerin erklärte die Tiefe des Wandels und sagte, dass diese jüngeren Frauen
„all diese Stammesnormen, die religiöse Fatwa [Rechtsauslegung], die Hegemonie
der männlichen Mentalität gegen sie gebrochen haben. Dies ist eine neue Ära, in
der wir leben“.

Aus all diesen
Gründen, neben der wachsenden Krise und Armut, mit der die neue Generation
konfrontiert ist, bleiben die Protestierenden entschlossen, für ihre
Forderungen zu kämpfen: für Arbeitsplätze und öffentliche Dienstleistungen,
gegen die Korruption der Regierung, für den Rückzug aller ausländischen Mächte
aus dem Irak und für demokratische, freie Wahlen und ein Ende der
sektiererischen Aufteilung der Posten.

Der Aufstieg von
as-Sadr

Der Einfluss von
Muqtada as-Sadr nimmt seit über 15 Jahren stetig zu. Er wurde als Anführer der
Mahdi-Armee bekannt, die es mit den US-amerikanischen und britischen
Invasionstruppen zunächst in Basra und ab 2004 auch weiter entfernt aufnahm.
Nachdem er zunächst versucht hatte, sich mit den sunnitischen GegnerInnen der
US-InvasorInnen zusammenzuschließen, wandte er seine Kräfte in einem
sektiererischen Konflikt, der auf allen Seiten Gräueltaten sah, gegen die
SunnitInnen.

Er befehligt
eine große Zahl irakischer SchiitInnen, zunächst wegen seines verehrten Vaters,
des Großajatollahs Muhammad Sadiq as-Sadr, dessen Widerstand gegen Saddam
Hussein 1999 zu seiner Ermordung führte, aber zunehmend auch wegen seines
eigenen politischen und militärischen Gewichts. Er ist jedoch nicht der
mächtigste Kleriker im Irak.

Großajatollah
Ali as-Sistani, der nur selten politisch interveniert und dann meist auf der
Seite der Protestbewegung steht, ist sein Vorgesetzter. Muqtada studiert jedoch
in Ghom, im Iran, um selbst Ajatollah zu werden. Tatsächlich verlässt er den
Iran in diesen Tagen nur selten; zuletzt wurde er Ende Oktober in Nadschaf
gesehen. Als er von den DemonstrantInnen feindselig empfangen und als Teil des
korrupten Establishments wahrgenommen wurde, kehrte er schnell nach Ghom
zurück.

Ab 2011 nahm er
sowohl über seinen parlamentarischen Block als auch über seiner Bewegung ergebene
Minister an der Regierung teil. Gleichzeitig unterstützte er (seit 2011 spontan
ausgebrochene) Proteste gegen dieselbe Regierung, in der er so etwas wie ein
Königsmacher geworden ist. Im Jahr 2014, als Sistani die IrakerInnen aufrief,
gegen ISIS (heute: Islamischer Staat) zu den Waffen zu greifen, wurde die
Mahdi-Armee als „blaue Hüte“ wiedergeboren.

Die derzeitige
Bewegung hat as-Sadr jedoch Probleme bereitet. Die Jugendlichen haben den
Schutz seiner Saraya al-Salam-Miliz vor der Unterdrückung durch die Regierung
und die vom Iran unterstützten Kräfte unter der Führung von General Qasem
Soleimani, dem Chef der Quds-Truppe des Korps der Islamischen Revolutionsgarden
des Iran, akzeptiert, aber sie haben seine politischen Interventionen und seine
„Charta der Reformrevolution“ nicht begrüßt.

Sadrs Versuch,
die Bewegung durch einen „Millionen-Menschen-Marsch“ im Januar zu
hegemonisieren, wurde weithin als Fehlschlag angesehen. So erklärten
Protestierende: „Dieser Marsch ist anders als das, was die Straße will. Er
unterstützt das gegenwärtige politische System im Land, er ist nicht gegen es“.

Jüngste
Ereignisse, wie der Marsch der Frauen, der as-Sadrs Versuchen, die
Geschlechtertrennung in der Bewegung einzuführen, trotzte, haben bestätigt, dass
sein einst mächtiger Einfluss auf der Straße schwindet. Sogar einer seiner
Kleriker, gefangen zwischen den DemonstrantInnen und den blauen Hüten, rief
aus: „Ich werde den Turban aus Liebe zum Irak und zur Stadt Nasiriya und zu den
RevolutionärInnen abnehmen, und ich bin bei den IrakerInnen“.

Ablehnung des
Ausverkaufs

Die politische
Ermordung von Soleimani und des PMU-Führers Abu Mahdi Al-Muhandis am 3. Januar
auf dem Flughafen von Bagdad hat die politische Landschaft dramatisch
verändert. Sadr ist nicht zuletzt ein gerissener Opportunist und hat dabei die
Gunst des Augenblicks erkannt. Er hatte seine Unterstützung dafür, dass der
Iran eine offensichtliche Rolle in der irakischen Innenpolitik spielt, längst
aufgegeben und bezeichnet sich nun als irakischer Nationalist.

Nun, da der Iran
einen schweren Schlag für seine Ambitionen im Land erlitten und selbst mehrere
Führer durch den Angriff verloren hatte, waren die PMU zu Kompromissen bereit.
Nach dem Rücktritt des provisorischen Premierministers Abd al-Mahdi Ende
Oktober 2019 war der Weg frei für das Wiederauftauchen von Mohammed Allawi,
einem ehemaligen Minister im Kabinett der Regierung von Nuri al-Maliki von 2006
bis 2010.

Zunächst einmal
bot Sadr Anfang Januar eine „vereinigte Widerstandsfront“ mit den vom Iran
unterstützten Milizen an und bildete sie, natürlich unter seiner Führung. Dann
unterstützte er Allawi, der am 1. Februar als Interimspremier die Macht
übernahm.

Gleichzeitig
leitete er geheime Gespräche mit Allawis Vertretern und den Führern der
PMU-Milizen ein; ein Abkommen, das um den 1. Februar in Ghom ausgehandelt
wurde. Es scheint, dass keine iranischen Regierungsvertreter anwesend waren.
Die Nachricht über seinen Inhalt verbreitete sich schnell, nicht zuletzt wegen
der großmäuligen Milizenführer.

Allawi selbst
kündigte am 14. Februar die bevorstehende Bildung einer neuen Regierung an, die
seiner Meinung nach „unabhängig“ und mit „kompetenten und unparteiischen
Leuten, ohne die Intervention irgendeiner politischen Partei“ besetzt sein
würde.

Er hat auch
Arbeitsplätze, ein Ende der Korruption und Neuwahlen versprochen sowie, die
Mörder der DemonstrantInnen vor Gericht zu bringen und alle ausländischen
Streitkräfte vom irakischen Territorium zu entfernen, um die Protestierenden zu
beschwichtigen oder zumindest zu spalten.

Wenn dies das
Zuckerbrot ist, dann liegt die Peitsche buchstäblich in den Händen der blauen
Hüte, die sich „vom Bock zum Gärtner verwandelt“ haben, indem sie sich gegen
ihre ehemaligen Verbündeten wandten und die DemonstrantInnen angriffen, um die
zu vertreiben, die as-Sadr als „Eindringlinge“ und „AnstifterInnen“ bezeichnet.

Die Abmachung
zwischen as-Sadr und Allawi ist ein riesiger Betrug. Ein vom Iran unterstützter
politischer Führer sagte gegenüber der Nachrichtenagentur Middle East Eye:
„[Allawi] ist schwächer als Abd al-Mahdi, und sie wählten ihn gerade deshalb,
weil er schwach ist. Es ist ihm nicht erlaubt, echte Korruptionsakten zu
öffnen, und seine Regierung ist nicht befugt, strategische Entscheidungen zu
treffen, einschließlich der Entfernung ausländischer Truppen aus dem Irak.“

Darüber hinaus
will die Regierung Allawi offenbar die Integration der PMU-Milizen in die
irakische Armee vorantreiben – ein Schritt, der zu Recht die Protestierenden,
die durch ihre Hand Folter, Vergewaltigung und Schlimmeres erlitten haben,
empören wird.

Die
DemonstrantInnen müssen die Bewegung, die kürzlich in ihrem schiitischen
Kernland nachgelassen hat, rasch wieder aufbauen und die Proteste in Mossul,
Falludscha und Ramadi, die sich im vergangenen Herbst erhoben haben, wieder
aufnehmen. Sie sollten auch versuchen, die Gewerkschaften zu einer aktiveren
Unterstützung zu zwingen. Die LehrerInnen haben an der Seite ihrer Schülerinnen
und Schüler einen längeren Streik durchgeführt, aber auch die ÖlarbeiterInnen
müssen zu einem Arbeitskampf bewegt werden.

Jede Spaltung
entlang religiös-sektiererischer Linien wird aufgegriffen, nicht nur vom Iran,
sondern auch von den USA, deren militärische FührerInnen über eine Teilung des
Landes und die Einnahme der Provinz al-Anbar unter ihre Obhut diskutieren.

Es müssen echte
Aktionskomitees aus VertreterInnen der gesamten ArbeiterInnenklasse und der
Jugend gebildet werden, möglicherweise aus den Versammlungen der besetzten
Plätze heraus, und sie müssen national vereint werden.

Trotz des
gerechtfertigten Hasses auf „Führer“ und „politische Parteien“ kann nur eine
vereinte Bewegung, die ihre eigenen AnführerInnen wählt, die reaktionäre
Koalition, mit der sie derzeit konfrontiert ist, besiegen. Aber innerhalb einer
solchen Bewegung muss eine revolutionäre Partei gebildet werden, die in der
Lage ist, die unmittelbaren wirtschaftlichen und demokratischen Forderungen zu
einem Programm zusammenzuschweißen, das auf einen Übergang zum Sozialismus
hinweist.

Es ist
unwahrscheinlich, dass as-Sadr und Allawi in naher Zukunft in der Lage sein
werden, „die Demonstrationen zu beenden“, wie sie gedroht haben. Dennoch
funktioniert die Repression letztendlich, es sei denn, sie wird durch einen
organisierten und entsprechend bewaffneten Widerstand desorientiert,
demoralisiert und besiegt. Das ist die Aufgabe des Tages.




Nahost: Nieder mit dem Trump-Plan zur Zerstörung Palästinas

Marcel Rajecky, Infomail 1094, 11. März 2020

Der Rahmen für
die nächste Phase der zionistischen Machtübernahme in Palästina und der
Enteignung des palästinenischen Volkes wurde der Welt von US-Präsident Donald
Trump als  ein weiterer „Deal des
Jahrhunderts“ verkündet. Sein zynischer Name: „Peace to Prosperity“ (Frieden
für Wohlstand).

Die Vereinigten
Staaten und die anderen BefürworterInnen des Plans stellen ihn als eine Lösung
dar, als Tausch von Land gegen Finanzspritzen. Die palästinensische Führung soll
der Annexion von 30 Prozent der besetzten palästinensischen Gebiete im
Westjordanland zustimmen und Gegenzug ein internationales Investitionspaket von
insgesamt 50 Milliarden US-Dollar erhalten.

Großbritanniens
neuer Premierminister und Trump-Bewunderer, Boris Johnson, hat es als einen
positiven Schritt nach vorn und Außenminister Dominic Raab als einen
„ernsthaften Vorschlag“ begrüßt, der einer „echten und fairen Prüfung“ würdig
ist. In scharfem Gegensatz dazu sagte der scheidende Labour-Führer Jeremy
Corbyn: „Er wird palästinensisches Gebiet annektieren, die illegale israelische
Kolonisierung zementieren, palästinensische BürgerInnen Israels transferieren
und dem palästinensischen Volk seine Grundrechte verweigern.“

In Wirklichkeit beerdigt
der Plan jede Aussicht auf einen palästinensischen Staat innerhalb seiner noch
international anerkannten Grenzen. Stattdessen läuft er auf eine weitere
israelische Landnahme hinaus und stärkt die US-imperialistische Herrschaft über
die angrenzenden Staaten der Region. Er würde auch ein neues politisches
Gebilde mit politischen Funktionen schaffen, die kaum einflussreicher sind als
die eines Gemeinderates, der auf verlogene Weise als palästinensischer „Staat“ verkauft
wird.

Der so genannte
„Deal“, an dessen Verhandlungen kein/e einzige/r VertreterIn des
palästinensischen Volkes teilnehmen durfte, folgte der Anerkennung Jerusalems
als „ungeteilte Hauptstadt Israels“ durch die Vereinigten Staaten. Er folgte
Trumps Versprechen, die Siedlungen innerhalb der Westjordanlandgrenze von 1967
anzuerkennen und der Beendigung der Beiträge seines Landes an die
Flüchtlingsorganisation UNRWA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für
Palästina-Flüchtlinge). Er rühmte sich sogar vor den zoinistischen SprecherInnen
in den USA: „Ich habe die massiven Geldbeträge gestoppt, die wir den
PalästinenserInnen zahlen“, und fügte hinzu, dass er ihnen sagte: „Wir zahlen
erst, wenn sie ein Geschäft eingehen“. Tatsächlich fielen die US-Beiträge von
360 Millionen US-Dollar auf 60 Millionen US-Dollar im Jahr 2018 und auf null
für 2019. Schulen, Krankenhäuser, Arbeitslosenhilfe, alle sind betroffen.

Alle diese
Aktionen machten deutlich, dass Trump fünfzig Jahre lang Resolutionen der
Vereinten Nationen, die von ehemaligen US-Präsidenten akzeptiert wurden, für
null und nichtig erklärte. Kurz gesagt, der „Deal des Jahrhunderts“, so der
israelische Premierminister Benjamin Netanjahu, ist ein Ultimatum: Akzeptieren
Sie es einfach, oder wir werden Sie verhungern lassen und zur Unterwerfung
zwingen. Kein Wunder, dass sogar der Präsident der Palästinensischen
Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, der gefügigste Anführer, dem Israel je
gegenüberstand, sagen musste: „Nein, nein und nochmals nein! Jerusalem steht
nicht zum Verkauf. All unsere Rechte stehen nicht zum Verkauf oder
Tauschhandel.“ In der Zwischenzeit brachen Demonstrationen in Hebron, Ramallah,
Bethlehem und Rafah aus, und andere Städte wurden von Tränengas und Kugeln der
israelischen Streitkräfte heimgesucht. In Gaza wurde die Leiche einer/s von den
israelischen Streitkräften erschossenen PalästinenserIn provokativ von einem
Bulldozer weggeschleppt.

Land

Das auffälligste
Element des Vorschlags betrifft die territorialen Veränderungen, durch die
Israel endlich Gebiete annektieren wird, an denen es ein strategisches
Interesse hat. Die Karte des falsch benannten palästinensischen Staates wäre
ein Archipel aus Landblöcken, die durch israelisches Territorium geteilt und
eingefasst werden, die rechtliche Anerkennung eines Prozesses, der seit über
einem halben Jahrhundert andauert.

Im ersten
Schritt wird das gesamte Jordantal an Israel abgetreten, wodurch die Herrschaft
über das Wasser des Jordans, von dem ein Großteil der palästinensischen
Landwirtschaft abhängt, sowie die Kontrolle über die gesamte Grenze zu
Jordanien konsolidiert wird. Die wichtigste Überlegung der israelischen
herrschenden Klasse ist jedoch die Einkreisung des Westjordanlandes und die
Einrichtung eines östlichen Korridors. Dies ist ein zentrales Anliegen der
israelischen „Sicherheitsinteressen“ und wird von jeder Fraktion der
herrschenden Klasse in Israel, die sich jetzt in ihrem dritten Wahlkampf
innerhalb von 12 Monaten befindet, befürwortet, einschließlich so genannter
„liberaler“ ZionistInnen wie der Weiß- Blau-Allianz von Benny Gantz. Dass ein
solcher Schritt die weitere Vertreibung von weiteren Hunderttausenden
PalästinenserInnen aus ihren Häusern mit sich bringen würde, scheint kaum der
Rede wert.

Darüber hinaus
würde Israel Gebiete erwerben, um den Landstreifen zwischen dem Westjordanland
und dem Mittelmeer, in dem die Mehrheit der israelischen Bevölkerung lebt, zu
erweitern. Die Gebiete an den westlichen Grenzen des Westjordanlandes, in denen
sich die größten illegalen Siedlungen Israels befinden, sollen ebenfalls
annektiert werden. In vielen Fällen werden Siedlungen, die strategisch am Rande
großer palästinensischer Städte wie Hebron errichtet wurden, eingegliedert,
wodurch die BewohnerInnen in diesen Städten eingekreist und die
Bewegungsfreiheit und das tägliche Leben der PalästinenserInnen eingeschränkt
werden.

Am wichtigsten
ist wahrscheinlich, dass der Plan die israelische Annexion von fast ganz
Jerusalem vorschlägt, dem kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Zentrum
des historischen Palästina, das von den israelischen Truppen im Krieg von 1967
eingenommen wurde. Trumps Deal benennt „Ost-Jerusalem“ unehrlich als Hauptstadt
einer zukünftigen palästinensischen Gebietskörperschaft, die angeblich die
langjährige palästinensische Forderung erfüllt, schlägt aber als Standort die
Stadt Kafr ’Aqab vor, eine Stadt mit 10.000 EinwohnerInnen, etwa 12 Kilometer
von der al-Aqsa-Moschee in der Altstadt Jerusalems entfernt.

Der Plan lässt
die Möglichkeit der Übertragung von Gebietsteilen im Staat Israel an die
palästinensische Gemeinschaft offen, aber nur einige davon sind in der
vorgeschlagenen Karte enthalten und unterliegen strengen Bedingungen. So werden
dünn besiedelte Gebiete in der Wüste an-Naqb (Negev, Negeb) an Palästina gehen,
aber nur zur Nutzung als Industriezone, die für ausländisches Kapital offen
ist, deren Zugang von Israel kontrolliert wird, das auch die Straße verwaltet,
die das Gebiet mit dem Gazastreifen verbindet.

Der Plan schlägt
auch vor, dass die palästinensischen Städte und Gemeinden, die sich derzeit im
Staat Israel befinden, in die palästinensische Verwaltungseinheit eingegliedert
werden könnten, obwohl diese auf der vorgeschlagenen Karte nicht eingezeichnet
sind. Ein solcher Schritt wäre weniger eine Konsolidierung der Gebiete mit
palästinensischer Mehrheit als vielmehr die Entfernung der palästinensischen
israelischen BürgerInnen, wodurch ihnen das Wahlrecht bei den israelischen
Wahlen und ihr Reiserecht entzogen würden, während gleichzeitig die ethnische
Homogenität des „jüdischen Staates“ gefestigt würde.

Es muss
festgestellt werden, dass selbst wenn eine zukünftige palästinensische
Territorialeinheit alle diese Gebiete erhalten würde, dies bei weitem keine
gerechte Entschädigung für die israelischen Annexionen wäre. Im besten Fall
würde das vorgeschlagene palästinensische Gebilde 70 Prozent seines derzeitigen
Territoriums oder 16 Prozent des historischen Palästina verwalten. Im Gegenzug
für kaum besiedeltes Land würde es für seine Landwirtschaft lebenswichtiges
Land verlieren, Land, das die nördliche und südliche Hälfte des
Westjordanlandes verbindet, das südlich von Dschenin gegabelt wäre.

Diese
Forderungen nach der Annexion Ost-Jerusalems, des Jordantals und der illegalen
Siedlungen haben alle ihren Ursprung in den extremen Randbereichen der
israelischen Politik. Sie wurden nun von allen großen Parteien übernommen, die
mit Unterstützung der Trump-Administration die nächste israelische Regierung
führen würden.

Palästinensischer
Staat

Neben der
Neuordnung der palästinensischen Gebiete bis hin zur funktionalen
Unregierbarkeit fordert der Vorschlag, dass die PalästinenserInnen extreme
Einschränkungen der politischen Unabhängigkeit ihrer zukünftigen
Gebietskörperschaft akzeptieren und ihnen die grundlegendsten Funktionen eines
souveränen Staates vorenthalten werden.

Erstens wird
Israel ein Veto gegen den Beitritt Palästinas zu einer internationalen
Organisation einlegen. Zwar wird in dem Vorschlag nichts davon genannt, doch
könnte dies vor allem die Vereinten Nationen einschließen, in denen Palästina
noch immer kein Vollmitglied ist. Diese Forderung wirft auch Fragen über die
weitere Mitgliedschaft Palästinas in anderen Organisationen auf. Beispielsweise
könnte seine Zugehörigkeit zu Interpol oder zur Arabischen Liga diesem Veto
unterliegen mit der Begründung, dass es sich bei dem künftigen Kleinstaat um
ein „neuartiges“ politisches Gebilde handelt.

Der
palästinensischen Verwaltungseinheit wird es verboten, jegliche Art von
militärischen Befugnissen zu entwickeln, die über die eine leicht bewaffnete
Polizei hinausgehen. Selbst die defensivste militärische Infrastruktur,
Flugabwehr, Panzerabwehrwaffen und sogar Maschinengewehre sind ausdrücklich
verboten. Das Abkommen schließt auch die Schaffung eines palästinensischen
Geheimdienstes aus. Auch die militärische Zusammenarbeit mit anderen Staaten
soll einem israelischen Veto unterliegen, falls dieses feststellen sollte, dass
etwaige militärische Vereinbarungen eine Bedrohung für seine „Sicherheit“
darstellen.

Das Abkommen
verlangt auch, dass alle Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof
gegen den israelischen Staat eingestellt werden, damit die während der
Besatzung begangenen Verbrechen ungestraft bleiben und zukünftige Verbrechen
straffrei durchgeführt werden können. Dass eine solche Forderung in das
Abkommen aufgenommen wurde, ist ein Beweis für die Dringlichkeit, mit der
Israel die im Dezember vom Internationalen Strafgerichtshof angekündigte
Untersuchung seiner Kriegsverbrechen verhindern will.

In der Tat geht
das Abkommen weiter als die Forderung nach palästinensischer Zusammenarbeit
gegen diese internationale Untersuchung, indem es die Bedingung stellt, dass
Israelis auch nicht nach dem palästinensischen Rechtssystem vor Gericht
gestellt werden können. Dies ist ein Schritt, der der SiedlerInnen-Bevölkerung,
die im palästinensischen Rumpfstaat verbleiben wird, einen Freibrief ausstellt,
deren politischere Elemente Gewalt gegen die PalästinenserInnen verübt haben.
Sie schüchtern die palästinensische Bevölkerung routinemäßig durch die
Zerstörung von Farmen und Häusern unter dem Schutz der Besatzungstruppen ein,
und der Deal wird dies und die Immunität der TäterInnen weiterhin ermöglichen.

Das Abkommen
greift sogar noch weiter in groteske Details künftiger palästinensischer Regierungsführung
ein und stellt Forderungen an die Innenpolitik des künftigen Gebietes. Es
fordert das Ende der Sozialhilfezahlungen an die Familien der von den
BesatzerInnen getöteten Personen, die es als „TerroristInnen“ verleumdet.
Darüber hinaus stellt das Abkommen umfassende Forderungen, das Bildungssystem
des künftigen Staates von jeglichem Material zu säubern, das den Staat Israel
kritisiert.

Neben diesen
Forderungen gibt es eine Reihe von „Sicherheitserwägungen“, die das legale
Recht Israels auf die Kontrolle der palästinensischen Grenzen, des Luftraums
und der Fischerei festlegen. Israel behält sich auch das Recht vor, eine
Militäraktion gegen palästinensisches Gebiet einzuleiten, wenn es den Verdacht
hegt, dass die Führung Teile des Abkommens verletzt. Selbst wenn kein solcher
Verdacht besteht, erlaubt der Vorschlag „minimale Streifzüge“ auf
palästinensisches Gebiet im Namen der Sicherheit.

Ausländisches
Kapital

Das Abkommen ist
nicht nur ein Angriff auf die nationalen Bestrebungen der PalästinenserInnen,
sondern auch ein Schritt zur Verwirklichung der wichtigsten langfristigen Ziele
des Imperialismus in der Region: der Normalisierung der Beziehungen zwischen
seinen arabischen Klientelstaaten und Israel und des vollen, ungehinderten
Zugangs zu den Märkten in den besetzten palästinensischen Gebieten.

Das Abkommen
verspricht ein Investitionspaket von 50 Milliarden US-Dollar, das sich
hauptsächlich auf die Infrastruktur konzentriert. Vorgeschlagen wird, dass die
Investitionen von regionalen Staaten wie Libanon, Jordanien und Ägypten
getätigt werden, wobei ein Großteil der Mittel von den Golfstaaten, den USA und
Europa bereitgestellt wird.

Die
Infrastrukturvorschläge skizzieren den Prozess, durch den alle
palästinensischen Industrien wie Transport, Strom und Wasser für privates
Kapital gesichert und die Gewinne ins Ausland zurückgeführt werden sollen.

Nur sehr wenige
dieser Investitions-„Möglichkeiten“ werden dem palästinensischen Volk greifbare
Vorteile bringen. Das lächerlichste der Infrastrukturprojekte, ein Tunnel, der
das Westjordanland mit dem Gazastreifen verbindet und mit 45 Kilometern
ungefähr so lang wie der Ärmelkanaltunnel wäre, könnte nach israelischem
Ermessen geschlossen werden.

Anstatt den
Lebensstandard der PalästinenserInnen zu erhöhen, zielen viele der
Investitionen darauf ab, die Aneignung von Reichtum aus dem Gebiet zu
erleichtern. Ein beträchtlicher Teil der 57 Milliarden Euro wird zum Beispiel
für die Modernisierung von Häfen innerhalb Israels vorgeschlagen, die laut Plan
von ausländischen InvestorInnen für den Export von Produkten aus Palästina an
internationale KäuferInnen benutzt werden sollen.

Das
Investitionsprogramm hat auch ein deutlich ausplünderndes Element, das die
ersten Schritte in Richtung auf den Besitz von Stein und Marmor des Landes und
die begrenzte Ölversorgung durch ausländisches Kapital vorsieht. Am wichtigsten
wird jedoch die Kontrolle über die der Küste vorgelagerten Erdgasfelder des
Gazastreifens sein, die die palästinensischen Behörden vor zwei Jahren von Shell
erworben haben, vor allem als Folge der Schwierigkeiten, in einem Gebiet zu
operieren, das wiederholt von Israel bombardiert wurde.

Darüber hinaus
ist ein Großteil der Investitionen auf den Tourismus ausgerichtet, eine
Industrie, in der ein „Boom“ schwer vorstellbar ist, solange die Gebiete
weiterhin den willkürlichen militärischen Übergriffen der israelischen Truppen
ausgesetzt sind.

Der Zweck der
Vereinbarung

Die Forderungen,
die der Vorschlag an die palästinensische Führung stellt, sind so ungeheuerlich,
dass es wahrscheinlich ist, dass seine BefürworterInnen von den
PalästinenserInnen erwarten oder sogar wollen, dass sie ihn ablehnen.
Tatsächlich wurden kein/e VertreterInnen der palästinensischen Behörden und nur
wenige PalästinenserInnen überhaupt zu dem Deal konsultiert.

Trumps
Schwiegersohn und angeblicher Verhandlungsführer des Abkommens, Jared Kushner,
machte sehr deutlich, was er unter „Verhandlung“ versteht:

„Sie müssen
aufhören, auf Mythen zu warten, die nie kommen werden, und auf Märchen, die nie
kommen werden. Die Palästinensische Autonomiebehörde würde lieber hingehen und
sich beschweren, als an den Tisch zu kommen und zu verhandeln, was, offen
gesagt, zeigt, dass sie nicht bereit ist, einen Staat zu haben“.

Mit „verhandeln“
ist „bedingungslos kapitulieren“ gemeint, und „Abkommen“ bedeutet „ein Diktat
akzeptieren“. Das Angebot eines Bestechungsgeldes dafür, das zu einem
erheblichen Teil von den umliegenden arabischen Staaten gezahlt würde, ist nur
wegen seiner dreisten Unverschämtheit bemerkenswert.

Der verlogene Charakter
des Abkommens bedeutet jedoch nicht, dass Israel und die USA nicht versuchen
werden, es zu verwirklichen. Schließlich handelt es sich bei den Vorschlägen um
eine Reihe von seit langem bestehenden Ambitionen des israelischen Staates und
seiner Verbündeten, insbesondere in Bezug auf Annexionen, Abrüstung und
Rückführung. In der Tat stellt fast jeder wichtige Vorschlag in dem Abkommen
eine Politik dar, für die die israelische herrschende Klasse seit Jahren
Lobbyarbeit betreibt.

Darüber hinaus
ist es wahrscheinlich, dass viele dieser Vorschläge unabhängig vom Widerstand
der palästinensischen Führung umgesetzt werden. In einem solchen Fall wird
Israel den Deal als diplomatische Tarnung benutzen können, indem es auf seine
Ablehnung durch alle Fraktionen der palästinensischen Führung als Beweis für
ihre „Nicht-Zusammenarbeit“ hinweist. Während Israel seine nun fast
unvermeidlichen Annexionen und die damit einhergehenden fortgesetzten
ethnischen Säuberungen durchführt, wird es zynisch darauf hinweisen, dass der
Deal für die PalästinenserInnen die verpasste „Gelegenheit“ für das darstellt,
was die israelische Regierung unredlich als nachhaltige Lösung auftischt.

Zukunft des
Zionismus

Was das Theater
um den Deal enthüllt, ist nicht nur, dass Israel die „Zwei-Staaten-Lösung“
völlig verachtet, sondern dass es endlich einen US-Präsidenten hat, der bereit
ist, die Maske fallen zu lassen und den Plänen Israels sein Siegel der
Zustimmung zu geben. Es wäre ein lebensunfähiger, abhängiger Kleinstaat, dessen
eigentliche Funktion darin bestünde, viele Millionen PalästinenserInnen
einzusperren, aber ihren KerkermeisterInnen eine neue Legitimität innerhalb der
„internationalen Gemeinschaft“ als „vernünftiger“ Staat zu verleihen, der
verhandelt und den PalästinenserInnen „Zugeständnisse“ macht.

Dass Israel sich
weigert, auch nur in Betracht zu ziehen, was den PalästinenserInnen nach
geltendem Völkerrecht zusteht – jeder Zentimeter des Westjordanlandes und des
Gazastreifens, die Rückkehr der vertriebenen palästinensischen Flüchtlinge und
der Rückzug jedes/r israelischen SoldatIn aus der Besetzung ihres Territoriums
–, ist nicht das Ergebnis der besonderen Strategie seiner gegenwärtigen
Regierung, sondern vielmehr der Ideologie der gesamten Bewegung: Zionismus. Ein
Land, das 1948–1949 700.000 Menschen ethnisch gesäubert und nacheinander
insgesamt sieben Millionen Flüchtlinge vertrieben und ausgegrenzt hat, drückt
nicht seine eigene demokratische Selbstbestimmung aus, sondern verweigert einem
anderen Volk die seine und errichtet dabei einen übermächtigen rassistischen Staat.

Während
RechtfertigerInnen für die israelische Staatsgewalt immer noch auf die
Möglichkeit eines palästinensischen Staates an der Seite Israels hinweisen,
untergräbt letzteres diese Möglichkeit immer wieder, indem es das Gebiet eines
solchen Staates durch den illegalen Bau von Siedlungen zerstückelt. Der
rechtliche Rahmen für die israelischen Annexionen besteht seit 1993, als die
Osloer Abkommen unterzeichnet wurden und Israel eine bedeutende Kontrolle über
das Gebiet erhielt, das ihm nun in Trumps Deal in vollem Umfang zugesagt wurde.

Ob der
„Jahrhundertdeal“ mit oder ohne die erzwungene Zustimmung der palästinensischen
Führung voranschreitet, das palästinensische Volk wird ihm Widerstand
entgegensetzen. In diesem Widerstand verdient es die stärkste und
unermüdlichste internationale Solidarität. Im Kampf gegen den Deal müssen wir
gleichzeitig ein Ende der Besatzung palästinensischen Landes, das Recht auf
Rückkehr aller Flüchtlinge und volle Bürgerrechte für die PalästinenserInnen
innerhalb des Staates Israel fordern.

Jetzt, da das
zionistische Regime sowie Trump und Johnson das Projekt eines Apartheidstaates
unterstützt haben, ist es besonders wichtig, dass wir die Forderung nach einem
einzigen Staat „Palästina unterstützen, dessen BürgerInnen, Israelis wie
PalästinenserInnen, gleiche politische Rechte haben sollen. Als SozialistInnen
glauben wir, dass ein solcher Staat die Bedürfnisse aller seiner BürgerInnen am
besten lösen und widersprüchliche nationale Ansprüche befriedigen kann, indem
er auf der Grundlage einer demokratischen Planwirtschaft das gesellschaftliche
Eigentum an Land, Fabriken, Dienstleistungen usw. durchsetzt.

Kurz gesagt, wir
müssen daran arbeiten, die ArbeiterInnen und die Jugend beider Nationen und
Sprachen zu unterstützen, damit sie die Macht in ihre eigenen Hände nehmen und
ein sozialistisches Palästina als Teil der Vereinigten Sozialistischen Staaten
des Nahen Ostens aufbauen.




Hände weg vom Iran! Stoppt die US-Attacken!

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1083, 6. Januar 2020

Die Ermordung
des iranischen Generalmajors Qasem Soleimani in Bagdad auf Befehl von
US-Präsident Donald Trump hat ein gefährliches neues Kapitel für den Nahen und
Mittleren Osten aufgeschlagen. Als Chef der Quds-Einheiten, einer
Unterabteilung der Iranischen Revolutionsgarden (IRGC, Pasdaran), und
strategischer Architekt von Irans ständig wachsendem Netzwerk internationaler
Milizen, Verbündeter und Anlagen war Soleimani nicht nur eine mächtige Figur im
iranischen Regime, sondern auch ein Königsmacher in weiten Teilen des Nahen und
Mittleren Ostens. Mit dieser dreisten Verletzung des internationalen Rechts hat
Trump die gesamte Region, wenn nicht sogar die Welt, an den Rand eines Krieges
gebracht.

Soleimanis
Ermordung war eine ernsthafte Eskalation einer laufenden Konfrontation zwischen
den US-amerikanischen und iranischen Streitkräften. Anfang dieser Woche
beschuldigten die USA Soleimani, einen Einbruchsversuch irakischer Milizen in
die US-Botschaft und den Militärstützpunkt in Bagdad inszeniert zu haben. Der
Angriff auf die Botschaft wurde zwei Tage zuvor durch US-Luftangriffe auf die
vom Iran unterstützte Kata’ib-Hisbollah (Hisbollah-Brigaden) provoziert, bei
denen nach Angaben irakischer Sicherheits- und Milizquellen 25 Kämpfer getötet
und 55 weitere verwundet wurden. Diese Luftangriffe waren wiederum eine
Reaktion auf die Tötung eines amerikanischen Militärbeauftragten durch
Kata’ib-Hisbollah-Raketen.

RegierungsvertreterInnen
und AußenpolitikexpertInnen auf der ganzen Welt sind sich einig in ihrer
Analyse des veränderten Charakters des Angriffs, wobei der ehemalige Chef des
britischen Auslandsgeheimdienstes Sir John Sawers die Tötung Soleimanis als
„Kriegshandlung“ bezeichnet hat. US-Außenminister Mike Pompeo versuchte zu
behaupten, das Attentat sei eine Präventivmaßnahme zum Schutz des unmittelbar
gefährdeten US-Personals gewesen, aber US-Präsident Trumps Aussage auf Twitter
vor dem Angriff war unverblümter: „Der Iran wird für verlorene Leben oder
Schäden in unseren Einrichtungen voll verantwortlich gemacht. Sie werden einen
sehr GROSSEN PREIS bezahlen! Dies ist keine Warnung, es ist eine Drohung.
Frohes neues Jahr!“

Eine gefährliche
Krise

Während nur
wenige BeobachterInnen mit diesem speziellen Angriff gerechnet zu haben
scheinen, eskalieren die Spannungen zwischen den USA und dem Iran seit Jahren,
die sich häufig durch Stellvertreterkonflikte in den Nachbarländern,
einschließlich Irak und Syrien, abspielen. Als drittgrößter Ölexporteur der
OPEC und strategischer politisch-ökonomischer Rivale des von den USA
unterstützten Saudi-Arabien und ihres regionalen Gendarmen Israel hat der Iran
einen blutigen Kampf geführt, um die schwächelnde US-Hegemonie auszunutzen und
sich als expandierende Regionalmacht zu behaupten. Seit über einem Jahrzehnt
hat der Iran seinen Einfluss durch den Aufbau loyaler schiitischer Milizen
ausgebaut, die Assads mörderisches Regime unterstützt und ihre Macht im Irak
konsolidiert haben.

Trump hat
seinerseits deutlich gemacht, dass er den iranischen Einfluss durch eine
aggressivere Außenpolitik zügeln will. Schon bald nach seinem Amtsantritt
kündigte er den von seinem Vorgänger ausgehandelten amerikanisch-iranischen
Nuklearvertrag, der die gegen das iranische Regime verhängten Strafsanktionen
mit dem Versprechen, sein Atomprogramm abzuschaffen, gemildert hatte. Trump
ersetzte den Deal durch noch härtere Sanktionen, forderte andere Länder auf,
dem Beispiel zu folgen, und unterstützte Saudi-Arabien energisch in seinem
Stellvertreterkrieg mit dem Iran im Jemen. Auf die schraubstockartigen
Verschärfung der US-Sanktionen reagierte der Iran schließlich mit Angriffen auf
den internationalen Schiffsverkehr in der Straße von Hormus,
Flugkörperangriffen auf saudische Ölanlagen und schließlich den
Raketenangriffen auf US-Militärstützpunkte, die die Ereignisse auslösten und zu
der aktuellen Krise führten.

Die Behauptung
von Trump und seinen BeamtInnen, dass der Drohnenangriff, der Soleimani tötete,
ein gerechtfertigter Präventivschlag war, ist eine völlig unhaltbare
Entschuldigung für die Provokation. Der Iran hat die Aktion zu Recht als „einen
Akt des internationalen Terrorismus“ verurteilt, und sein oberster Führer
Ajatollah Ali Khamenei (Chamene’i) hat geschworen, in gleicher Weise zu
reagieren. Die meisten ExpertInnen sind sich einig, dass der Iran nicht mit
einem direkten Angriff auf US-Militärstützpunkte oder -schiffe zurückschlagen
wird, sondern sich eher für eine „kalibrierte“ Reaktion wie weitere Angriffe
auf saudische Öleinrichtungen, Blockaden in der Straße von Hormus oder Angriffe
auf Schlüsselanlagen von US-Verbündeten wie Katar oder den Vereinigten
Arabischen Emiraten entscheiden wird. Angesichts der wahrscheinlichen Folgen
ist es nicht im unmittelbaren Interesse des Iran, einen offenen Krieg mit den
USA auszulösen.

Es besteht
jedoch die reale Gefahr, dass die Reaktionen beider Seiten außer Kontrolle
geraten werden. Der Iran steht unter erheblichem Druck, energisch zu reagieren.
Seine angeschlagene Wirtschaft hat eine wachsende inländische Protestbewegung
angeheizt, die ein Ende des korrupten und repressiven Regimes fordert. Auch
Trump muss sich für die Präsidentschaftswahlen Ende diesen Jahres in Stellung
bringen, da die Wolke der Amtsenthebungsanklage über seiner Regierung hängt.
Aggressive US-Verbündete, von Israel bis Saudi-Arabien, ganz zu schweigen von
Trumps eigenem juckenden Abzugsfinger, können den Konflikt auf unvorhersehbare
Weise beeinflussen. Die Weltwirtschaft befindet sich bereits am Rande einer
Rezession. Ihr stagnierender Kern nach 2008 wurde durch Trumps Handelskriege
weiter geschwächt und eine Ölkrise könnte sie über den Rand drängen und eine
globale Wirtschaftskrise auslösen, die den innenpolitischen Druck noch weiter
erhöhen würde. Die Logik der Eskalation hat den Konflikt bisher beherrscht, und
die Spannungen, die ihn im In- und Ausland antreiben, werden dafür sorgen, dass
dies so bleibt. Wie schon 1914 könnten scheinbar geringfügige Aktionen
schließlich die Machtbalance zerstören und einen verheerenden globalen Konflikt
entfachen.

Imperialismus
und Sektierertum

Soleimani war
eine Hauptzielscheibe des US-Imperialismus. Er war der Stratege der Demütigung
Israels im Libanonkrieg 2006 und hat die iranischen Interventionen in Syrien
und im Irak, die den iranischen Einfluss auf Kosten der USA erweitert haben,
angezettelt. Aber kein/e AntiimperialistIn sollte um Soleimani weinen, der das
Blut von Tausenden an seinen Händen hatte. Er spielte eine wesentliche Rolle
bei der Stabilisierung des blutbefleckten Assad-Regimes und stellte Mittel für
das unerbittliche Massaker an pro-demokratischen Bewegungen im Irak und im
Iran, bei dem Hunderttausende getötet wurden, zur Verfügung.

Bei allem Lob
von Trump für die Demokratiebewegung im Iran hat seine Provokation dem
iranischen Regime den perfekten Vorwand gegeben, sie zu unterdrücken und
Massenproteste gegen die USA zu mobilisieren, um seine wackeligen Grundlagen zu
stützen. Die Quds-Truppen von Soleimani sind zweifellos eine reaktionäre Kraft,
ebenso wie die irakischen schiitischen Milizen, und das reaktionäre iranische
Regime versucht, sich als die dominierende Macht im Mittleren Osten zu
etablieren, aber es bleibt ein halbkolonialer Staat, der von einer Kette
regionaler Verbündeter des US-Imperialismus umzingelt ist. Die Hauptangreiferin
in diesem ungleichen Kampf sind die USA, unterstützt von ihren israelischen,
saudischen und anderen reaktionären Verbündeten.

Es war die
US-Besatzung des Irak, die einen beispiellosen Anstieg der sektiererischen
Gewalt anheizte und das korrupte sektiererische Regierungssystem dort
etablierte. Dieses war das Ziel der inspirierenden, Konfessionen übergreifenden
Demokratiebewegung, die in den letzten Wochen auf die Straße ging. Die
Provokation von Trump wird sich negativ auf diese Bewegung auswirken, indem sie
die sektiererischen Spannungen verschärft, das Versinken in einen neuen
Bürgerkrieg möglich macht und die Spannungen mit Israel, das selbst an der
Bombardierung iranischer Militärziele im Iran und in Syrien beteiligt ist, verstärkt.
Die USA haben immer noch über 5.000 SoldatInnen im Irak und haben jetzt über
3.000 weitere entsandt. Donald Trump hat nicht nur deutlich gemacht, dass die
USA sich jeder Entscheidung der irakischen Marionettenregierung widersetzen
würden, die Stationierung der US-Basen im Land zu beenden, sondern hat dem Irak
auch mit drastischen Sanktionen gedroht, sollte es Versuche geben, die
Entfernung seiner US-„UnterstützerInnen“ zu erzwingen.

Wie das Blutbad
in Syrien zeigt, hat die US-Intervention nichts mit Demokratie oder der
Überwindung des Sektierertums in der Region zu tun, ihr einziges Ziel ist die „Stabilität“
ihrer Vorherrschaft, sind also die immensen Profite, die sie dem Nahen und
Mittleren Osten entzieht, und ist geopolitische Macht, die daraus erwächst.
Nachdem sie Terrain an Russland, den Iran und ihre Verbündeten in Syrien
verloren hat, ist sie entschlossen, ihre Macht im Nahen und Mittleren Osten
wieder zu behaupten, indem sie einen „Regimewechsel“ im Iran durch Sanktionen,
Attentate und Drohungen, 52 oder mehr „Ziele“ im Land zu bombardieren,
erzwingt. Zu dieser Strategie gehört auch, den seit Jahrzehnten von ihrer
„Befreierin“ verwüsteten Irak im Grunde genommen zu einem kolonialen Satus
herabzudrücken. Diese regionale Strategie ist selbst Teil des Versuchs
Washingtons, dem wachsenden militärischen und geostrategischen Einfluss der
russischen und chinesischen ImperialistInnen entgegenzuwirken. Während alle
„Großmächte“ einen direkten Zusammenstoß vermeiden wollen, könnten die Angriffe
und die offene Kriegsdrohung gegen den Iran in eine globale Konfrontation
umschlagen.

In dieser
Situation präsentieren sich die europäischen Mächte Deutschland, Frankreich,
Großbritannien und die EU als Kräfte der „Mäßigung“. In einer gemeinsamen
Erklärung vom 5. Januar riefen Merkel, Macron und Johnson alle Seiten zur
„äußersten Zurückhaltung“ auf. „Es ist jetzt entscheidend zu deeskalieren“,
warnten sie. Während dies die USA enttäuschte, sind europäische oder UN-Aufrufe
zur „Zurückhaltung“ auf beiden Seiten nur eine heuchlerische Farce.

Die ArbeiterInnenklasse
und die Antikriegsbewegungen sollten keine Hoffnung oder Vertrauen auf diese
„weicheren“ ImperialistInnen setzen, auch nicht auf China oder Russland, noch
sollten sie die Augen vor dem reaktionären Charakter des iranischen Regimes und
seiner Rolle in Syrien oder im Irak verschließen. Sie müssen jegliche Hoffnung
auf US-demokratische PolitikerInnen wie Elizabeth Warren aufgeben, die sagte,
dass sie „noch“ nicht davon überzeugt sei, dass bewaffnete Angriffe angebracht
seien. Solche „KritikerInnen“ können nur allzu leicht zu den KriegshetzerInnen
von morgen werden.

Es waren die
Antikriegs-Demonstrationen in den USA am Wochenende und die massenhafte
Empörung in der halbkolonialen Welt, die den Weg nach vorne zeigten: Millionen
gegen die US-Aggression zu sammeln, für die Aufhebung der Sanktionen und den
Rückzug aller imperialistischen Truppen und Stützpunkte aus dem Irak und der
gesamten Region jetzt!

Wir rufen alle
Organisationen der ArbeiterInnenklasse, die linken, sozialdemokratischen und Labour-Parteien,
die Gewerkschaften, die linken und antiimperialistischen Organisationen auf,
sich zu vereinen und zu mobilisieren, um die US-Aggression und die Attacken
jetzt zu stoppen!

Wir fordern:

  •  Kein Krieg mit dem Iran!
  • US-, britische Truppen und NATO-Verbände raus aus dem Nahen und Mittleren Osten! Aufhebung der Sanktionen gegen den Iran!
  • Nieder mit der religiös-sektiererischen irakischen Regierung!
  • Sieg für die irakische Revolution!
  • Vorwärts zu den Vereinigten Sozialistischen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens!