Sport: zum Beispiel Beckenbauer

Bruno Tesch, Infomail 1241, 9. August 2023

Die Todesnachricht von Franz Beckenbauer verdrängte am 8. Januar 2024 die brisanten politischen Schlagzeilen der Treckerblockaden unerwartet vom Nachrichtenplatz eins. Vor 15 Jahren kannte ihn noch jedes Kind. Inzwischen war seine Jahrzehnte währende mediale Präsenz jäh abgestürzt.

Im Rahmen des Untersuchungsberichts seiner Antikorruptionskommission tauchten Vorwürfe gegen den Deutschen Fußballbund (DFB) über Schmiergeldzahlungen bei Stimmenkauf für die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland 2006 auf. In diesem Zusammenhang schlugen die Vorwürfe gegen den „Kaiser“ wie eine Bombe ein. Der Name Beckenbauers, bislang ein begehrter Werbeträger, verlor seinen Glanz ebenso wie seine Reputation als maßgeblicher DFB-Repräsentant. Er war damals Inbegriff eines unverzichtbaren Zugpferdes des Sports, seine Autorität und Weltgeltung als Sportpersönlichkeit bildeten eine scheinbar sichere Erfolgsgarantie.

V. a. die Sensationspresse hatte ihn zur Ikone hochgeschrieben und jedes seiner Worte als bedeutendes Statement gefeiert. Gelegentliche Kritik aus liberaleren Medien, z. B. an seiner Leugnung von sklavenähnlichen Ausbeutungsverhältnissen bei den Bauten für die Weltmeisterschaft in Katar, konnte ihm noch 2013 nichts wirklich anhaben.

In den letzten zehn Jahren aber wandte sich die Medienwelt brüsk von ihm ab. Vorwürfe der Steuerhinterziehung, Millionenbeträge für ein Ehrenamt kassiert zu haben, standen im Raum. Er, der das Wort eigene Fehler sonst nicht kannte, gestand Verfehlungen nunmehr ein. Die Angriffe gegen ihn konnte er nicht verkraften. Er zog sich weitestgehend aus der Öffentlichkeit zurück und erkrankte in den letzten Lebensjahren. Die „Lichtgestalt des deutschen Fußballs“ trat in den Schatten.

Die Karriere des Franz Beckenbauer weist in seinen Stationen jedoch über ein sportliches Einzelschicksal hinaus und vollzog sich vor dem Hintergrund einer Entwicklung, die namentlich den deutschen Fußballsport kennzeichnete.

Groß geworden in den 1950er und frühen 1960er Jahren in eher proletarischem Milieu erlebte er seinen Aufstieg in einer Zeit des Umbruchs. Der DFB vollzog mit der Einführung einer zentralen obersten Spielklasse, der Bundesliga, 1963 einen längst überfälligen Schritt hinaus aus der provinziellen Enge eines föderal verschachtelten Systems. Dies geschah mit der vordergründigen Absicht, im sportlichen Konkurrenzkampf auf internationaler Ebene nicht zurückzufallen. Diese Maßnahme bewirkte sportpolitisch jedoch auch eine Einschränkung der Verbandshoheit und v. a. stellte sie neuen Hierarchien und Eigenständigkeit auf Vereinsebene die Weichen.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich die Statuten über Spielergehälter und Geschäftsgrundlagen von Vereinen aufweichten. Einem dieser Vereine gehörte auch Franz Beckenbauer an, der als knapp 20-Jähriger mit Bayern München in die Bundesliga einzog. Schnell machte sich bezahlt, einen Klub im Rücken zu haben, der seinen Spielern die besten Annehmlichkeiten in Form von Übungsstätten, sportlicher und medizinischer Betreuung bieten konnte. Franz Beckenbauer trug bald nicht nur den Bayerndress, sondern auch das Trikot der BRD-Auswahl, die er als Kapitän später zu Weltmeisterehren  anführen sollte.

1974 war bereits das Trikotwerbeverbot für Fußballvereine und damit ein weiterer Dominostein auf dem Wege der Durchkapitalisierung des deutschen Fußballs gefallen.

Längst konnten die Vereine ihre Unkosten nicht mehr durch den Erlös aus Stadioneintrittsgeldern für die Spielrunden oder Zuwendungen wohlwollender Mäzen:innen decken, sie mussten andere Einnahmequellen anzapfen. Zunächst wich man auf den Verkauf von Fan-Artikeln aus, doch dies erforderte auch einen erhöhten Personalaufwand.

Feste Werbeverträge mit potenten Geschäftspartner:innen waren gefragt. Neben den Vereinen konnten auch Aktive, falls sie denn sportliche Erfolge und Repräsentanz vorzuweisen hatten, sich auf die Art existenziell arrondieren. Franz Beckenbauer durch Vereinsmeister- und DFB-Auswahltitel war prädestiniert für diese Rolle. Er wäre wahrscheinlich auch Weltfußballer geworden, wenn es diese Auszeichnung denn zu seiner Aktivenzeit bereits gegeben hätte. Im Laufe seiner Karriere generierte er mehr Einnahmen als jeder andere deutsche Fußballer.

Nach dem Ende seiner spielerischen Laufbahn war er eher begleitend tätig und bewegte sich bald in den einflussreichen Kreisen der Arrivierten, auch des Fußballweltverbandes FIFA. Franz Beckenbauer hatte es nicht nötig, sich bspw. im Trainergeschäft zu verbrennen, und dennoch, als die Weltmeisterschaft 1990 anstand, schuf der DFB ihm, der längst nur noch mit dem Beinamen „Kaiser“ apostrophiert wurde, eigens einen in der DFB-Satzung nicht vorgesehenen Posten als „Teamchef“. Er wurde als Macher des Titelgewinns gefeiert, ebenso wie ihm später zugeschrieben wurde, die Weltmeisterschaft 2006 nach Deutschland geholt zu haben.

Beckenbauer signalisierte auch den Umbruch in der öffentlichen Wahrnehmung einer Sportart. Gegründet als Mannschaftssport, der ihm weltweit den proletarischen Massenanhang beschert hat, klafft eine immer größere Dimension zwischen dem Schein des Identifikationsanreizes, dem Zusammenhalt, der Solidarität im Verein, in einer Mann-/Frauschaft und dem Starkult um Einzelpersonen, der ein völlig anderes, aber gleichermaßen Trugbild im Spitzensport vermittelt.

Franz Beckenbauer betrieb zum Schluss mit Vorliebe einen der Nähe zum Proletariat gänzlich unverdächtigen Einzelsport – Golf. Symbolisch steht dies für seinen Werdegang. Als Sohn eines mittleren Postbeamten schaffte er den Aufstieg und den damit verbundenen Ausstieg aus der Lohnarbeiter:innenklasse zum mehrfachen Millionär, zur Lichtgestalt des deutschen Fußballs – ein Aufstiegsversprechen, das heute mehr und mehr abgenützt ist und gerade deshalb täglich anhand kleiner Beckenbauers bei Sport und Spielen wiederholt wird. Noch als Kaiser war Beckenbauer zugleich seine eigene Kopie, Lichtgestalt und deren unfreiwillige Parodie zugleich. Doch trug er als Kunstfigur noch einen gewissen Schein der Einzigartigkeit mit sich. Heute sind die Idole längst zur Massenware geworden. Ihre inszenierte Individualität ist letztlich nur die Erscheinungsform des Immergleichen. Angesichts der immer größer geworden kommerziellen Sportmaschinerie erscheint der verstorbene Beckenbauer, der lange als ihr Vorreiter galt, wie aus der Zeit gefallen, ein bloß noch nostalgisches Überbleibsel einer vergangenen Periode.




Esteban Volkov (1926 – 2023)

Per-Olof Mattson, Infomail 1226, 21. Juni

Am Freitag, dem 16. Juni 2023, verstarb Esteban Volkov. Er war der Enkel des russischen Revolutionärs Leo Trotzki und das einzige Mitglied seiner Familie, das den stalinistischen Terror überlebte, abgesehen von Trotzkis zweiter Frau Natalja. Beim ersten Attentat auf Trotzki in Mexiko am 24. Mai 1940, das von dem Künstler David Alfaro Siqueiros geleitet wurde, wurde er selbst von den Kugeln der Attentäter getroffen.

Seine Mutter war Trotzkis Tochter aus erster Ehe, Sinaida, und sein Vater hieß Platon Iwanowitsch Wolkow, beide aktiv in der Linken Opposition. Dieser wurde 1928 zur Verbannung verurteilt, und beide Eltern fielen dem Stalinismus zum Opfer. 1926 kam Esteban als Wsewolod Platonowitsch Wolkow in Jalta, Ukraine, zur Welt. Später änderte er in Mexiko seinen Vornamen in Esteban. Im Alter von fünf Jahren verließen er und seine Mutter Moskau, um sich Trotzki auf der Insel Prinkipo in der Türkei anzuschließen. Im Jahr 1932 zog er mit seiner Mutter nach Berlin. Sie war an Tuberkulose erkrankt und nahm sich aus Verzweiflung das Leben. Anschließend verbrachte Esteban anderthalb Jahre in einer Montessori-Schule in Wien. Auf Trotzkis Bitte hin hatten ihn Anhänger:innen Wilhelm Reichs dort aufgenommen.

Sein Onkel Leo Sedow, ein wichtiger Führer der Opposition in Westeuropa und der Sowjetunion, nahm ihn 1934 zu sich und brachte ihn nach Paris. Als Leo Sedow 1938 ebenfalls unter mysteriösen Umständen starb, musste Trotzki einen langwierigen Rechtsweg beschreiten, um seinen Enkel zu ihm und Natalja nach Mexiko zu holen. Der damals 13-jährige „Sewa“ war der einzige Überlebende von Trotzkis Familie. Im August 1939 kam er nach einem langwierigen Gerichtsverfahren endlich an.

Er war 14 Jahre alt, als sein Großvater ermordet wurde. Sein Enkel kam gerade nach Hause, als Trotzki tödlich verwundet am Boden lag. Die Wachen hinderten ihn daran, sich ihm zu nähern. Trotzki hatte sie angewiesen, Sewa nicht durchzulassen: „Das Kind darf das nicht sehen“.

Nach dem Tod seines Großvaters, der im Spätsommer 1940 von einem stalinistischen Agenten ermordet wurde, blieb er im mexikanischen Exil. Bis 1962, als Trotzkis Frau Natalja in Paris starb, hielt er engen Kontakt zu ihr. Er ließ sich zum Chemiker ausbilden und war in seinem Beruf sehr angesehen. Er heiratete und hinterließ vier Töchter. Esteban, oder Sewa (Wsewolod), wie sein russischer Spitzname lautete, widmete sein Erwachsenenleben der Pflege und Verteidigung von Trotzkis Lebenswerk. Er verwandelte das Haus in Coyoacán in ein Museum, und als der Stalinismus in der Sowjetunion während der Gorbatschow-Ära ins Wanken geriet, trat er häufig in verschiedenen Zusammenhängen auf und forderte die Rehabilitierung seines Großvaters.

Eine seiner letzten Bemühungen, das Andenken an seinen Großvater zu bewahren, war die Petition, die er schrieb, um die russische Serie über Trotzki zu verurteilen und korrigieren, die Netflix vor einigen Jahren ausstrahlte. Die Petition wurde von einer großen Anzahl von Historiker:innen und anderen unterzeichnet.

Esteban Volkovs Bemühungen um die Verteidigung Trotzkis und des Trotzkismus sollten von all jenen gewürdigt werden, die sich als revolutionäre Sozialist:innen verstehen, und von all jenen, die sich der Lügenmaschine des Stalinismus widersetzen. Ein langes Leben ist zu Ende gegangen, ein Leben, das nicht vergeblich war und dessen wir uns mit Dankbarkeit erinnern.




Nachruf auf Marcus Vickers

Internationales Sekretariat der Liga für die 5. Internationale, Infomail 1211, 19. Januar 2023

Mit großer Trauer haben wir vom Tod unseres Genossen Marcus Vickers nach langem Kampf gegen den Krebs erfahren. Marcus war ein Gründungsmitglied von Workers Power USA und seit etwa fünfzehn Jahren ein unermüdlicher Aktivist für die Liga. Als Aktivist der Arbeiter:innenklasse und Musiker in Nashville, Tennessee, war er im Labor Council der Stadt und bei den Democratic Socialists of America aktiv. Als führendes Mitglied von WPUS schrieb er häufig für deren Website und für die der Liga für die Fünfte Internationale unter dem Namen Marcus Otono.

Er leistete einen wichtigen Beitrag zu den Onlinetreffen der US-Sektion. Bei diesen Treffen zeigte Marcus immer das größte Einfühlungsvermögen, ermutigte die jungen Genoss:innen und bemühte sich um ihre Teilnahme. Selbst bei Meinungsverschiedenheiten in taktischen Fragen war er immer der Erste, der die Entscheidung umsetzte, und zwar in vorbildlicher Weise.

Er war und blieb durch und durch ein Internationalist, Antirassist und Antisexist. In seinen letzten Lebensjahren leistete er einen wichtigen Beitrag zur Ausarbeitung des Aktionsprogramms der Liga für die USA, das wir in Kürze veröffentlichen und nun seinem Andenken widmen werden.

Unser aufrichtiges Beileid gilt Marcus‘ Familie und Freund:innen sowie seinen Genossinnen und Genossen in WPUS, die seine Gaben, seinen Optimismus und seinen Sinn für Humor sehr vermissen werden.

 Lieber Genosse, du wirst in den warmen Erinnerungen all derer weiterleben, die mit dir zusammengearbeitet haben, und in den Ideen und der Arbeit, die du zum Aufbau der Liga für die Fünfte Internationale und der Arbeiter:innenbewegung beigetragen hast. Wir verabschieden uns von Dir ganzen Herzens.




Michael Gorbatschow – eine tragische Figur der Weltgeschichte

Martin Suchanek, Infomail 1197, 1. September 2022

Im Alter von 91 Jahren verstarb Michael Gorbatschow am 30. August in Moskau – der letzte Staatspräsident der Sowjetunion und Parteichef der KPdSU.

Putins Beileidsbekundung

Auch wenn Gorbatschow und Putin wenig Sympathie füreinander hegten, so weiß der Präsident des „neuen“, kapitalistischen und imperialistischen Russland nur zu gut, dass es weitaus klüger ist, den politischen Nachlass des Verstorbenen selbst auszuschlachten, als ihn den westlichen Staaten zu überlassen.

So bezeichnete Putin bekanntermaßen die Auflösung der Sowjetunion 2014 als „gesamtnationale Tragödie von gewaltigen Ausmaßen“ und 2015 „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Dabei meinte er nicht die Wiedereinführung des Kapitalismus, wohl aber den Verlust ganzer Staaten und Nationen, deren Unabhängigkeit und Selbstbestimmung den imperialen großrussischen Ambitionen im Wege stehen. Die reaktionäre, nationalistische Kritik hindert Putin freilich nicht, den Toten nachträglich vorsichtig zu würdigen. In einem Beileidstelegramm heißt es, der Verstorbene hätte  „großen Einfluss auf den Lauf der Weltgeschichte“ gehabt und das Land „durch komplexe, dramatische Veränderungen, große außenpolitische, wirtschaftliche und soziale Herausforderungen geführt“.

Putin weiß, dass Gorbatschow politisch schon längst, genauer seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und Jelzins Machtübernahme, keine Rolle mehr spielte. Die Trauerreden, Nachrufe, Beileidstelegramme und Statements westlicher wie östlicher Politiker:innen drehen sich vor allem darum, die historische Rolle des Verstorbenen für sich zu vereinnahmen, sein „Vermächtnis“ noch einmal für sich zu reklamieren und auszuschlachten.

Nur in diesem Kalkül machen Putins wohlwollende Worte gegenüber einem Mann Sinn, dem er eigentlich eine negative Rolle zuschreibt. Warum aber sollte er die „Würdigung“, also die Vereinnahmung Gorbatschows einem Joe Biden oder Boris Johnson, einem Olaf Scholz oder Emmanuel Macron überlassen? Lieber bringt die russische Administration die Sanktionspolitiker:innen des Westens in die Verlegenheit, Gorbatschows Begräbnis fernzubleiben oder nach Russland zu reisen und womöglich Seit an Seit mit Putin dem Toten die letzte Ehre zu erweisen.

Westliche Trauer – nicht minder zynisch

Nicht minder zynisch fällt freilich die westliche Trauer aus. Joe Biden spricht von einem „Visionär“, Emmanuel Macron von einem „Mann des Friedens“. Olaf Scholz streicht einmal mehr Gorbatschows Verdienste um die Vereinigung Deutschlands heraus. Für seine Bemühungen um Reformen der Sowjetunion, das Ende des Kalten Krieges und einen friedlichen Systemwechsel in Osteuropa, den Abzug der Roten Armee wurde Gorbatschow mit dem Friedensnobelpreis gewürdigt.

Das gleicht dem Trostpreis eines Verlierers. Der Zusammenbruch des Ostblocks und der Sowjetunion sowie die Restauration des Kapitalismus markieren einen Wendepunkt der Geschichte. Der Kalte Krieg war zugunsten der USA und ihrer westlichen Verbündeten entscheiden, eine neue historische Periode begann.

Die Würdigungen eines George Bush sen., einer Margaret Thatcher, eines François Mitterrand und Helmut Kohl für „unseren“ Gorbatschow waren wenig mehr als Festreden der Sieger:innen für den Besiegten.

Gorbatschow mag an seine eigenen „Visionen“ von einem geeinten „Haus Europa“, von einer globalen Ordnung auf „Augenhöhe“, von einer Demilitarisierung Europas geglaubt haben. Im realen Leben entpuppten sie sich als utopische Konzepte. Gorbatschows „Friedenpolitik“ war nur die letzte Strophe des Liedes von der „friedlichen Koexistenz“, einer Politik, die immer schon von den Klasseninteressen der imperialistischen Bourgeoisie abstrahierte.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion, der vergleichsweise friedliche Übergang zum Kapitalismus, die Entstehung einer neuen, zu einem beträchtlichen Teil aus der alten Staatsbürokratie geborenen Klasse von Privateigentümer:innen inklusive einer neuen russischen Oligarchie und die Auflösung des Warschauer Pakets spielten alle dem Westen in die Karten.

Das US-amerikanische und europäische, allen voran das deutsche Kapital, erschlossen in wenigen Jahren neue, halbkoloniale Ausbeutungsgebiete in Osteuropa sowie einen Zugang zum russischen Markt. Die NATO, wiewohl deren Expansion 1991 noch offiziell ausgeschlossen wurde, schob sich langsam, aber umso sicherer gegen Osten. Und die kapitalistische Wiedervereinigung formte Deutschland zur ökonomisch führenden imperialistischen Macht Europas, die seither ihre eigenen Machtansprüche weltweit anmeldet.

Keine Frage, ohne Gorbatschow wäre das Ende des Kalten Krieges wahrscheinlich anders verlaufen, hätte der weitgehend friedliche, gewaltfreie Übergang zum Kapitalismus womöglich gewaltsamere Formen angenommen.

Kämpfe wie jene um die baltischen Republiken, vor allem aber der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan, der blutige Aufstand gegen das Ceaușescu-Regime oder der verunglückte Janajew-Putsch 1991 verdeutlichen, dass auch in der ehemaligen Sowjetunion bzw. in der von ihr kontrollierten Einflusssphäre ein anderer Gang der Geschichte möglich gewesen wäre.

Die grundlegenden Entwicklungslinien hätte das jedoch nicht geändert. Selbst eine erfolgreiche Niederschlagung von antibürokratischen Massenbewegungen hätte keineswegs eine Rückkehr zum „alten“, krisengeschütteten wirtschaftlichen und politisch maroden System der bürokratischen Arbeiter:innenstaaten bedeutet, wie ein Blick nach China nahelegt. Dort zerschlug die Bürokratie die von der Arbeiter:innenklasse und der Intelligenz getragene Bewegung am Tian’anmen-Platz im Juni 1989. Tausende fielen diesem Massaker zum Opfer. Doch nicht der „Sozialismus“ wurde gerettet, sondern der Restauration des Kapitalismus wurde unter Beibehaltung des politischen Monopols der KP der Weg geebnet.

Gorbatschow und die Krise der Sowjetunion

So wenig wie Gorbatschows Rolle beim Zusammenbruch der Sowjetunion vernachlässigt werden kann, so wenig darf sie überhöht werden. Der letzte Staatschef der Sowjetunion war nicht Treibender, sondern Getriebener.

Gorbatschow wurde 1985 Generalsekretär der KPdSU vor dem Hintergrund einer tiefen, strukturellen ökonomischen Krise und einer langjährigen Stagnation der Gesellschaft. Unter Breschnew fiel das Land, damals immerhin die zweitgrößte Ökonomie der Welt, wirtschaftlich und technologisch immer mehr zurück. Das unter Reagan forcierte Wettrüsten kostete die Sowjetunion immer größere Teile ihre gesamten Ressourcen. Zugleich stagnierte der Lebensstandard der Lohnabhängigen, die in der Sowjetunion und Osteuropa unter einem Mangel an Konsumgütern litten.

Vor diesem Hintergrund wurde das System einer starren bürokratischen Planwirtschaft und der umfassenden, tief in die Gesellschaft eindringenden politischen Diktatur über die Arbeiter:innenklasse immer unhaltbarer. Der ökonomische Niedergang verringerte die Möglichkeiten zur sozialen Befriedigung der Massen. Deren Entfremdung von der „sozialistischen“ Gesellschaft trat viel stärker ins Bewusstsein angesichts eines größer werdenden Gegensatzes zwischen stagnierenden oder schlechter werdenden  Lebensbedingungen der Massen und den Privilegien der Bürokratie.

Diese Lage beförderte auch die politische Unzufriedenheit – sei es der Intelligenz, der Arbeiter:innenklasse oder der unterdrückten Nationen und Nationalitäten, sei es in der Sowjetunion oder in den von ihr kontrollierten Gebieten.

Schließlich entwickelten sich auch die Gegensätze in der herrschenden bürokratischen Kaste selbst. In den KPen und Staatsapparaten bildeten sich zwei politische Flügel – die sog. „Konservativen“ oder „Hardliner:innen“, die starr am bestehenden System festhalten wollten, und die sog. „Reformer:innen“, die diesem durch begrenzte, von oben kontrollierte wirtschaftliche, soziale und auch politische Reformen eine neue Dynamik zu verleihen hofften.

Anders als in den kapitalistischen Ländern, wo die freie Konkurrenz und der damit verbundene Zwang, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, für die Steigerung der Arbeitsproduktivität, Disziplin und „Motivation“ der Lohnabhängigen quasi automatisch sorgt, fehlte in den bürokratischen Planwirtschaften dieser Hebel weitgehend. Im Gegensatz zur Stalinära, wo die Arbeitsdisziplin despotisch durchgesetzt wurde, herrschte in der Sowjetunion oder auch Osteuropa der 1970er und 1980er Jahre eine weitgehende soziale Sicherheit vor mit Vollbeschäftigung, Wohnungen und garantierter Gesundheits- und Altersvorsorge.

Andererseits sorgte die zunehmende Entfremdung der Arbeiter:innen von der bürokratischen Planwirtschaft, von „ihren“ Staaten dafür, dass ihr Antrieb zur Verbesserung und Fortentwicklung des ökonomischen und sozialen Systems längst erloschen war. Wo dies noch nicht der Fall war, lief er sich im bürokratischen Getriebe tot.

Um diese Stagnation zu durchbrechen, war es aufgrund der technologischen Entwicklung und der gestiegenen Anforderungen an die Qualifikation der Arbeitskraft ökonomisch faktisch unmöglich, zu den Methoden der Stalinzeit zurückzukehren. Gesellschaftlich und sozial hätten sie womöglich das System noch mehr destabilisiert – und dessen war sich auch die Bürokratie bewusst.

Daher entflammte innerhalb dieser Kaste der Konflikt um die Frage, welche und wie weit gehende ökonomische soziale und politische Reformen durchgeführt bzw. zugelassen werden sollten. Ein Hin und Her kennzeichnete schon die Auseinandersetzungen vor Gorbatschow und die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität war auch mehr oder minder unstrittig. Keineswegs galt dies jedoch bezüglich politischer Reformen.

Als Gorbatschow 1985 Generalsekretär wurde, markierte dies eine Kräfteverschiebung zugunsten des Reformlagers in der Sowjetunion und im Ostblock. „Perestroika“ (Umbau) und „Glasnost“ (Offenheit) wurden zu den Schlagworten, Kampfbegriffen, um die Veränderungen der Gesellschaft voranzutreiben.

Dabei stellten beide von Beginn an keine klar umrissenen Konzepte dar, sondern eine Reihe von Reformmaßnahmen, die selbst im Laufe der Jahre modifiziert wurden und auf Veränderungen in der Gesellschaft eine Antwort zu geben versuchten.

Grundsätzlich zielte die Perestroika darauf, marktwirtschaftliche Mechanismen und Konkurrenz im Rahmen der Planwirtschaft zu deren Belebung einzusetzen, darunter einzelbetriebliche Kostenrechnung, Formen des Leistungslohns, Ausweitung der privatwirtschaftlichen Tätigkeit und begrenztes Wirken von Joint Ventures. Glasnost bezog sich vor allem auf die öffentliche und politische Ebene und sah eine begrenzte Lockerung der Rede-, Meinungs- und Pressefreiheit vor.

Hinzu kam ein neuer außenpolitischer Kurs der Abrüstung und Entspannung. 1989 zog die Sowjetunion ihre Truppen aus Afghanistan zurück. Für Europa wurde eine neue Friedensordnung, ein „gemeinsames Haus“ propagiert.

Glasnost und Perestroika kamen jedoch wie die gesamte Politik Gorbatschows (und des gesamten Flügels der Bürokratie, auf den er sich stützte) von Beginn an einer Quadratur des Kreises gleich. Einerseits sollte die Gesellschaft geöffnet, andererseits jedoch die Herrschaft der Bürokratie und deren System der Planung beibehalten werden.

Diese Konzeption war im engen Wortsinn utopisch. Die Politik Gorbatschows löste nicht die inneren Widersprüche des Systems, dessen Krise ihn zum Generalsekretär gemacht hatte, sondern spitzte sie vielmehr weiter zu.

Und zwar auf allen Ebenen. Die ökonomischen Reformen belebten die Wirtschaft nicht, sondern verstärkten den Gegensatz zwischen den Elementen der bürokratischen Planung und der Marktwirtschaft. Sie verbesserten die Lage der Massen nicht, schufen aber zugleich eine Schicht von Manager:innen, Bürokrat:innen, neuen Eigentümer:innen, die Appetit auf mehr, auf die Restauration des Kapitalismus entwickelte.

Die begrenzten Elemente der Presse- und Meinungsfreiheit stießen ihrerseits auf Schritt und Tritt auf die Schranken des Systems, an die Grenzen der bürokratischen Diktatur und der führenden Rolle der Partei. Ähnlich wie die Perestroika schuf aber auch Glasnost die Forderung nach mehr Freiheit, nach mehr demokratischen Rechten, wenn auch über eine ganze Zeit im politischen Windschatten des Reformflügels. So entstand die scheinbar paradoxe Situation, dass der Generalsekretär der KPdSU, also der oberste und mächtigste Exponent der Bürokratie, Mitte bis Ende der 1980er Jahre zum Hoffnungsträger und zur Symbolfigur antibürokratischer Massenstimmungen und -bewegungen geriet. „Gorbi“  mutierte zur Identifikationsfigur und zugleich zum Schrecken mancher besonders reformunwilliger Bürokrat:innen.

Politisch glich Gorbatschow freilich Goethes Zauberlehrling. Die Geister, die er rief, wurde er nicht los – und anders als im Werk des großen Dichters rettete ihn auch kein mächtiger Zauberer.

Der scheinbar mächtige Führer der KPdSU und Sowjetunion erwies sich als tragische, geschichtlich ohnmächtige Figur. Das von ihm verfolgte Ziel einer reformierten, mit Glasnost und Perestroika aufpolierten Sowjetunion, eines reformierten degenerierten Arbeiter:innenstaates erwies sich als reinste Utopie, die die Interessen keiner einzigen gesellschaftlichen Kraft des alten wie des neuen, entstehenden kapitalistischen Systems befriedigen konnte.

Kein Wunder also, dass Gorbatschows Stern noch schneller unterging, als er aufgestiegen war. Er wurde faktisch zum Vorbereiter der Restauration des Kapitalismus, zum Vordringen der westlichen imperialistischen Staaten und – seines eigenen Sturzes.

1991 versuchten die konservativen Schichten der Bürokratie, mit einem halbherzigen Putsch noch einmal das Rad der Geschichte in der Sowjetunion zurückzudrehen – und scheiterten kläglich. Doch mit ihnen wurde auch Gorbatschow faktisch entmachtet. Die offen restaurationistischen Kräfte der Bürokratie um Jelzin und Sobtschak ergriffen die Initiative, mobilisierten die Massen gegen den Putsch und offenbarten damit zugleich die Ohnmacht Gorbatschows. Am 25. Dezember trat er als Präsident der Sowjetunion ab und damit faktisch von der geschichtlichen Bühne.

Seither wandelt Gorbatschow als mehr oder minder dekoratives Relikt der Geschichte durch die Welt. Als Vorsitzender der nach ihm benannten Stiftung kommentierte er weiter das Weltgeschehen und versuchte sich in der russischen Zivilgesellschaft. Politisch verstand er sich als Sozialdemokrat, kritisierte die innerrussischen Verhältnisse, aber auch den Westen und dessen „Machtarroganz“ und -politik und George W. Bush und Co.

Im Grunde bewegte sich seine ganze Kritik auf der Oberfläche gesellschaftlicher Erscheinungsformen. „Arroganz“, Machtpolitik, also subjektive politische Ausrichtungen und Charakterzüge von Herrschenden stellten für ihn den eigentlichen Kern der politischen Probleme unserer Zeit dar, ob im Westen oder in Russland. Die grundlegenden Widersprüche zwischen den imperialistischen Mächte, der Kampf um die Neuaufteilung der Welt erwuchs für ihn nicht aus den Krisen des Kapitalismus, ja diese objektiven Entwicklungen stellten für ihn letztlich nebensächliche Faktoren dar, die durch guten (Verhandlungs-)Willen aus der Welt zu räumen gewesen wären.

Selbst hier entpuppt sich Gorbatschow noch als tragische Figur, die den Illusionen einer längst vergangenen Zeit nachhing und bis zum Ende von einem idealistischen Verständnis von Gesellschaft und Geschichte geprägt war.

Mythologisierung

Allerdings war Gorbatschow schon zu Lebzeiten von verschiedenen Seiten zur Projektionsfläche ihrer eigenen Sicht der Geschichte geworden.

Für die westlichen Mächte und die demokratische Öffentlichkeit war er der „gute“ Sowjetführer, denn schließlich trug er zur Niederlage des „Kommunismus“ und zum Sieg im Kalten Krieg bei. Nach 1991 schien es außerdem, dass in Russland nicht nur der Kapitalismus wieder Einzug halten würde, sondern es auch ökonomisch und politisch vom Westen dominiert werden könnte. Mit der Stabilisierung des Putin-Regimes sind die Hoffnungen verflogen.

Die posthume Würdigung Gorbatschows soll gewissermaßen auch die Vorstellung am Leben halten, dass ein prowestlicher russischer Führer möglich sei. Und nebenbei wird das klägliche Scheitern Gorbatschows in Russland auch noch uminterpretiert. Die Verhältnisse und die Schwäche der bürgerlichen Demokratie dort sollen partout nicht auf die Krise der Sowjetgesellschaft und die katastrophalen sozialen und politischen Auswirkungen der kapitalistischen Restauration zurückgeführt werden. Vielmehr wird der russischen Nation eine Neigung zum Autoritarismus und zur Diktatur unterstellt, eine „Unreife“ in Sachen Demokratie, der Gorbatschow und Co. zum Opfer gefallen wären. Daher erscheint der Verstorbene als seltener Glücksfall, den es zugunsten von Demokratie und Marktwirtschaft auszunutzen galt, solange er Einfluss ausübte.

Doch auch Teile der Linken nutzen Gorbatschow bis heute als Projektionsfläche eines verqueren Geschichtsbildes. Ihnen zufolge wären uns der Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks, der gesamte Sieg des Westens im Kalten Krieg erspart geblieben, wenn Gorbatschow den Pfad von Glasnost und Perestroika nicht beschritten oder wenigstens die Staaten Osteuropas oder ehemalige Sowjetrepubliken nicht in die Unabhängigkeit entlassen hätte. Dieser Sicht zufolge verkörperten Gorbatschow und sein Aufstieg nicht Ausdruck einer tiefen Todeskrise des Stalinismus, sondern deren Ursache. Die Krise der Sowjetgesellschaft, der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Restauration des Kapitalismus werden so zum weltgeschichtlichen Verrat eines großen, bösen Mannes und noch böserer westlicher Hintermänner. An idealistischer Geschichtsverdrehung stehen sie damit ironischer Weise den westlichen (und auch russischen) Ideolog:innen wenig nach.

Arbeiter:innenklasse

Bemerkenswert und bezeichnend an den verschiedenen posthumen Würdigungen und Nachrufen, sei es von offizieller russischer Seite, westlichen Politiker:innen oder selbst stalinistischen Kräften, bleibt, dass die Arbeiter:innenklasse als gesellschaftliche Kraft nicht vorkommt. Die Lohnabhängigen treten entweder als Unterstützer:innen und zunehmend undankbare Versorgungsobjekte der Bürokratie auf oder als bloße Fußtruppe von Reformer:innen und der westlichen Demokratie.

Diese Sicht verkürzt nicht nur die reale geschichtliche Entwicklung, sondern verkennt auch das Potential der Umbrüche, die sich 1989 zu einer historischen politischen Krise der bürokratischen Herrschaft bündelten.

Die Entwicklung, die Gorbatschow seit 1985 mit den Mitteln bürokratischer Reformen von oben unter Kontrolle zu kriegen versuchte, führte auch zu einer Belebung und einem Erwachen der Arbeiter:innenklasse. In der Sowjetunion entstand Ende der 1980er Jahre eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung, zum Beispiel unter den Bergarbeiter:innen. Die antibürokratischen Bewegungen stützten sich 1989 sozial auf Massenunterstützung in der Arbeiter:innenklasse und in einigen Ländern bildeten sich auch betriebliche Organisationen der Klasse. Hinzu kamen politische Differenzierungs- und Gärungsprozesse innerhalb der von der Bürokratie kontrollierten Massenorganisationen wie den Gewerkschaften, teilweise auch in der Staatspartei.

Aber aufgrund der Zerstörung des Bewusstseins der Arbeiter:innenklasse nach Jahrzehnten der bürokratischen Diktatur und der damit eng verbundenen Entfremdung der Lohnabhängigen von „ihrem“ Staat und „ihrer“ Wirtschaft, also aufgrund der Ausprägung der Führungskrise des Proletariats in den damaligen degenerierten Arbeiter:innenstaaten, dominierten zuerst kleinbürgerliche und bald offen bürgerliche Kräfte die Bewegung.

Wie der Arabische Frühling zeigt, lässt sich dieses Phänomen natürlich nicht nur an der Todeskrise des Stalinismus beobachten. Im Jahr 1989 standen die Sowjetunion und alle Länder Osteuropas vor der historischen Alternative: entweder Sturz der Bürokratie durch die politische Revolution der Arbeiter:innenklasse oder Restauration des Kapitalismus.

Und wie immer, wenn eine Revolution nur halb durchgeführt wird, endet sie in einer ganzen Konterrevolution. Daran ändert auch der Fakt nichts, dass diese eine bürgerlich-demokratische Form annahm. Nachdem Gorbatschow ihr den Weg bereitet hatte, wurde er selbst von ihr hinweggefegt. Am 30. August verstarb dieser Zauberlehrling der Weltgeschichte.

Es gibt keinen Grund, seine konterrevolutionäre Rolle zu beschönigen, aber auch keinen, sie zu überhöhen. Nicht Gorbatschow bildete das eigentliche Problem, sondern die Schwäche der revolutionären Kräfte und Tiefe der Krise der Arbeiter:innenklasse. Letztere manifestierte sich 1989 weitaus stärker als in vorangegangenen Revolutionen und Erhebungen gegen die bürokratische Herrschaft in Osteuropa. So brachten die ungarische Revolution, der Arbeiter:innenaufstand in der DDR oder der Kampf der polnischen Arbeiter:innenklasse klassenbasierte Doppelmachtorgane oder Ansätze in diese Richtung in viel stärkerem Maße hervor als 1989. Dieser Tatsache lagen vor allem zwei miteinander verbundene Ursachen zugrunde. Erstens die viel tiefere innere Krise der bürokratischen Planwirtschaft und damit auch der gesellschaftlichen Basis der Bürokratie, was generell die restaurationistischen Tendenzen schon lange vor 1989 vorbereitet und gestärkt hatte. Zweitens die Entfremdung und Zerstörung von Klassenbewusstsein der Arbeiter:innenklasse, was die spontane Tendenz zur Selbstorganisation und Schaffung eigener klassenspezifischer Organisationen schwächte (auch wenn solche durchaus entstanden).

Hinzu kam aber noch ein Drittes. Weltweit gab es keine revolutionäre Internationale der Arbeiter:innenklasse, die ein kämpfender, politischer Bezugspunkt für die Lohnabhängigen in der Sowjetunion und Osteuropa hätte sein können. Allenfalls existierte sie in Form zersplitterter Kleingruppen, die im Wesentlichen nur propagandistisch in die Ereignisse eingreifen konnten. Diese Führungskrise hat sich seit 1989 eher noch vergrößert. Sie bildet das zentrale Problem nicht nur vor und um 1989, sondern auch in unserer Zeit.




Nachruf auf Genossen Detlef Mühling

Frederik Haber, Infomail 1197, 1. September 2022

Ein halbes Jahrhundert war Detlef aktiver Sozialist und Revolutionär. Am 22. August starb er an einem Herzschlag, von dem er sich nicht mehr erholte. Auch wenn sich unsere Wege in den letzten Jahren trennten, so war der Genosse fast zwei Jahrzehnte in der Gruppe Arbeiter:innenmacht aktiv und zentral am Aufbau der Ortsgruppe in Kassel beteiligt. Mit ihm verscheidet ein engagierter, verlässlicher Kämpfer, der Zeit seines Lebens nach dem revolutionären Weg suchte.

Als Schüler und Student war Detlef im Kommunistischen Arbeiterbund Deutschlands (KABD) aktiv gewesen, aus dem später die MLPD entstand. Detlef war Teil einer Opposition, die als „kleinbürgerlich entartet“ und „trotzkistianisches Pferd“ diffamiert wurde.

In den bewegten 1968er Jahren hatte sich Detlef auch ein Berufsverbot als Lehrer eingefangen. Er beklagte sich nie darüber, auch wenn die fehlende Altersabsicherung ihm Sorgen bereitete. Revolutionär:innen brauchen keine Karriere. Er arbeitete als Freelancer. Als Kopierer und Großformatdrucker eingeführt wurden, spezialisierte er sich darauf, später auf die Digitalisierung von Texten und Zeichnungen.

Ende der achtziger Jahre führte seine Arbeit ihn auch nach Ostberlin: Die SED-Behörden wollten auch Kopierer, aber nicht mit US-kapitalistischen Unternehmen wie Rank Xerox oder Kodak zusammenarbeiten. Detlef fiel dabei allerhand brisantes Material in die Hände: Belege für die enge und freundschaftliche Zusammenarbeit der DDR mit Israel oder dem Apartheidregime in Südafrika.

Die Revolte in der DDR machte ab 1989 deren Veröffentlichung zweitrangig. Detlef suchte nach Wegen, sich mit revolutionären Kräften aus dem Osten zu verbinden, und schloss sich den „Arbeitskreisen für Arbeitnehmerpolitik“ an. Diese waren von der lambertistischen Internationale Sozialistische Arbeiterorganisation (ISA) initiiert worden. Sie hatte die Krise der DDR und des gesamten Ostblocks kommen sehen und auch die Dynamik, die die nationale Frage in Deutschland auslösen würde. Sie hatte mit der Kampagne „Biermann nach Bochum“ aktiv in die Bildung einer sozialistischen Opposition in der DDR eingegriffen, ganz im Sinne Biermanns, damals noch keineswegs der Reaktionär, zu dem er später geworden ist: „Die deutsche Einheit kommt, doch nur im Geiste des Propheten Karl Marx und nur im Klassenkampf der Bauern und Proleten!“

Die ISA, die die politische Revolution im Osten und die soziale Revolution im Westen propagierte, tat dies aber mit demokratisch und ökonomistisch beschränkten Losungen, die weder die Massen noch sie selbst gegen die bürgerlich-demokratische Konterrevolution bewaffneten. So hielt sie bis Mitte der 1990er Jahre an der Perspektive der bevorstehenden deutschen Revolution fest, leugnete die durch die Wiedervereinigung auf kapitalistischer Basis vollzogene Zerstörung des staatlichen Eigentums in der Ex-DDR und redete in den Massen auftretende reaktionäre und nationalistische Tendenzen klein. Mit der Beschönigung des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen war für Detlef eine Grenze überschritten.

Nicht nur für ihn. Gemeinsam mit Mitgliedern, die ihren Austritt mit dem Versuch verbanden, als Gruppe weiterzuarbeiten, fand er in der Folge den Weg zur Gruppe Arbeiter:innenmacht. Diese war damals im Wesentlichen auf Berlin und einzelne Genoss:innen in Norddeutschland beschränkt, konnte jedoch im Gegensatz zur ISA (und anderen) ernsthafte Analysen und programmatische Antworten auf zentrale Fragen des Klassenkampfes liefern.

Wie für viele, von mehreren Aufbauversuchen geprägte Genoss:innen stellte sich auch für ihn die Frage: Sollte er sich noch einmal darauf stürzen? In einer Zeit, wo viele Niederlagen in vielen Ländern mit der historische Niederlage des Zusammenbruchs der Sowjetunion „gekrönt“ worden waren? „Wir sollten es versuchen. Und wenn wir nur unsere Erfahrungen an die nächste Generation weitergeben können,“ lautete seine Antwort auf die Fragen.

Das hat Detlef getan und zwar ziemlich erfolgreich. Er trug zum Aufbau und Wachstum unserer Organisation bei, gewann einige jüngere Genoss:innen und baute eine Ortsgruppe in Kassel auf, ein wesentlicher Beitrag zur flächenmäßigen Verbreiterung der Gruppe. Er war immer gut für eigene Initiativen und Vorschläge.

Darüber hinaus trat er regelmäßig publizistisch in Erscheinung, verfasste zahlreiche Artikel der Neuen Internationale und mehrere ausführliche Beiträge in unserem theoretischen Journal „Revolutionärer Marxismus“ (darunter zur Geschichte der kommunistischen Bewegung und zur Analyse der NATO). Außerdem arbeitete er aktiv an mehreren Broschüren wie z. B. zu den sog. Rentenreformen zu Beginn des neuen Jahrtausends mit.

Es kam trotzdem zum Bruch. Vor acht Jahren verließ Detlef die GAM ohne politische Erklärung oder Abrechnung. Eine solche blieb er trotz mehrmaligen Nachfragens schuldig. Es gab zwar Meinungsverschiedenheiten in taktischen Fragen, aber die gibt es in jeder lebendigen Organisation. Er fühlte sich zuletzt von Jüngeren an den Rand gedrängt und sprach manchmal von „Altersdiskriminierung“. Insgesamt zeigte sich jedoch an dieser Stelle eine gewisse Demoralisierung, die paradoxerweise durch das Wachstum der Gruppe verursacht worden war und die Notwendigkeit, auch Arbeitsweisen älterer Genoss:innen zu ändern.

Später schloss er sich RCIT an. Auch wenn er dies als logischen Schritt rechtfertigte, blieb er bei Treffen zu politischen Gelegenheiten respektvoll, aber auch etwas ausweichend. Politisch war er leider in den letzten Jahren nur noch ein Schatten seiner selbst, was sich nicht zuletzt auch in den wenigen kurzen Texten, die zuletzt von ihm veröffentlicht wurden, ausdrückt.

Vergleichen wir diese mit früheren Zeiten, so drängt sich unwillkürlich die Erinnerung an Detlef in seiner Zeit in einer revolutionären Organisation wieder auf, in der er sich mit Enthusiasmus und Energie auf komplexe Fragestellungen warf, die er in aller Tiefe und Breite sowie Querverbindungen zu untersuchen trachtete. Manches Mal brachte dieses politische Begehren ihn in Schwierigkeiten, seine Erkenntnisse journalistisch auszudrücken, so groß war seine Hartnäckigkeit, den Dingen auf den Grund zu gehen.

Dass sich die politischen Wege von Detlef und der Gruppe Arbeiter:innenmacht trennten, kann nicht die großen Verdienste schmälern, die er sich für den Aufbau unserer Organisation erworben hat. Wir werden die Erinnerung an diese und Detlef immer bewahren. Wir senden seiner Gefährtin und Frau Anita sowie seiner Tochter Anika unsere aufrichtige Anteilnahme am Verlust eines Kämpfers und lieben Freunds.




Nachruf auf Inge Viett

Martin Suchanek, Infomail 1188, 11. Mai 2022

Am 9. Mai starb Inge Viett im Alter von 78 Jahren, eine langjährige Genossin und mutige Kämpferin gegen Kapitalismus und Imperialismus. Alle, die sie kannten, alle, die mit ihr politisch zusammengearbeitet haben, verloren nicht nur eine verlässliche und solidarische Mitstreiterin. Unsere Anteilnahme, unser Mitgefühl gilt ihren Freund:innen und engsten Kampfgenoss:innen.

Mit Inge Viett verstarb eine Aktivistin, mit der wir trotz politischer Differenzen bei wichtigen Mobilisierungen solidarisch und fruchtbar zusammengearbeitet haben – sei es zum revolutionären 1. Mai in Berlin, gegen die Münchner SiKo, gegen den Afghanistankrieg oder den G8-Gipfel in Heiligendamm.

Lebensweg

Mit Inge Viett verstarb aber auch eine Genossin, deren Lebensweg eine biographische Reflexion der (west)deutschen Linken darstellt. In der Rekonstruktionsperiode des westdeutschen Kapitalismus unter Adenauer und Co. groß geworden, durchlebte sie diese Verhältnisse als Pflegekind und Objekt sog. „Jugendfürsorge“. Die miefige, erzkonservative Realität des Nachkriegsdeutschlands erlebte sie von Kindheit an als repressive, entmenschlichende Wirklichkeit, fernab der damaligen und späteren Mythologisierung.

Der Aufbruch der 1968er, die Apo, die Student:innenrevolte, der Kampf gegen den Vietnamkrieg sowie die Eindrücke einer mehrmonatigen Reise nach Nordafrika trieben ihre Politisierung und Radikalisierung und prägten sie nachhaltig.

Sie entschied sich wie etliche der entschlossensten Kämpfer:innen ihrer Generation für den bewaffneten Kampf, für die Bewegung 2. Juni und später für die RAF als Teil eines internationalen antiimperialistischen Befreiungskampfes.

Ihre eigene Entschlossenheit vermochte freilich die inneren Widersprüche, Grenzen und strategischen Fehler des „bewaffneten Kampfes“ nicht zu überwinden. Wie jede Form des „individuellen Terrorismus“ ersetzt diese Strategie die bewusste Aktion der Arbeiter:innenklasse, sowohl die mühsame vorbereitende politische und organisatorische Arbeit wie die zielgerichtete Zusammenfassung ihre Kräfte in der Revolution durch die entschlossene Tat eine verschworenen Gruppe. Auch wenn dies nicht die Intention sein mag, so tritt anstelle der Arbeiter:innenklasse als revolutionäres Subjekt eine Kleingruppe, deren Aktionen das System demaskieren und die Massen elektrisieren sollen.

Diese Strategie war von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Dass aufrechte Revolutionär:innen und keinesfalls, wie die bürgerliche, aber auch reformistische Legendenbildung gern nachträglich darlegt, „Verrückte“ diesen Schritt gingen, muss aus dem historischen Kontext verstanden werden. Nicht nur die offen bürgerlichen Parteien CDU/CSU und FDP, auch die SPD unter Brandt unterstützten den barbarischen imperialistischen Krieg gegen Vietnam, rollten dem Schah und seinen Schlägern den Teppich aus. Die SPD beteiligte sich an der Großen Koalition und stimmte deren Notstandsgesetzen 1968 zu. 1972 verabschiedete das sozialliberale Kabinett den Radikalenerlass, also weitreichende Berufsverbote im öffentlichen Dienst.

Trotz dieser Politik konnte ein Großteil der radikalisierten Studierenden über den vorgeblich linken Reformismus von Jusos und Teilen der SPD erfolgreich über den opportunistischen „Marsch durch die Institutionen“ reintegriert werden. Linkes Selbstbild und (klein)bürgerliche Karriere konnten so ganz nebenbei auch in Einklang gebracht werden.

Der radikale Teil der Apo war von der imperialistischen Politik der Brandt-Regierung und von diesem Opportunismus verständlicherweise abgestoßen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Genoss:innen wie Inge Viett den, wenn auch falschen Schluss zogen, sich dem bewaffneten Kampf als radikaler Alternative anzuschließen, die einen endgültigen Schlussstrich unter jede Kooperation mit dem Feind, mit dem Schweinesystem zog.

Nachdem sie rund ein Jahrzehnt dem bewaffneten Kampf gewidmet hatte, setzte sich Inge Viett 1982 in die DDR ab, wo sie unter neuer, wenn auch wechselnder Identität bis zur Wende arbeitete. Ihr Verhältnis zum „real existierenden Sozialismus“ blieb freilich ein problematisches. So scharf sie die Entfremdung der Arbeiter:innenklasse im westlichen Kapitalismus kritisierte, so blieb ihr Blick auf die DDR, genauer auf die politische Herrschaft der Bürokratie über die Arbeiter:innenklasse verklärt. Die zunehmende Entfremdung der Lohnabhängigen von auf „ihrem“ Staat, den diese in Wahrheit kommandierte und nicht umgekehrt, vermochte sie nicht politisch und begrifflich zu fassen.

Nach dem Mauerfall

Nach der kapitalistischen Wiedervereinigung wurde der deutsche Staat der „Terroristin“ habhaft. Inge Viett wurde im Juni 1990 verhaftet und 1992 zu dreizehn Jahren Haft verurteilt, von denen sie bis Januar 1997 die Hälfe absitzen musste. Die Reststrafe wurde auf Bewährung ausgesetzt.

Anders als einige andere ehemalige Mitglieder der RAF oder der Bewegung 2. Juni distanzierte sich Inge Viett nie öffentlich vom bewaffneten Kampf. Kritisch bemerkte sie aber an, dass dieser eine Unterstützung in tragfähigen Teilen der Bevölkerung voraussetze. Diese Bemerkung versucht zweifellos, ein reales Problem dieser Strategie aufzufangen, jedoch ohne deren grundlegenden, inneren Widerspruch in den Griff zu bekommen.

Die Schwäche des bewaffneten Kampfes oder aller Strategien des individuellen Terrors, wie sie schon der Bolschewismus scharf kritisierte, liegt nicht darin, dass der Kampf auf einer bestimmten Stufe auch bewaffnet geführt werden muss. Wäre dem so, müssten wir auch jede militante Selbstverteidigung von Streiks, jeden Schutz gegen Angriffe von repressiven Kräften, Streikbrecher:innen oder Rechten ablehnen. Im Gegenteil. Wer die Herrschaft des Kapitals brechen will, muss auch die Mittel akzeptieren, die dazu notwendig sind. Die Bewaffnung des Proletariats und das Zerbrechen der bürgerlichen Staatsmaschinerie sind  unerlässliche zentrale Aufgaben jeder sozialistischen, jeder proletarischen Umwälzung.

Aber diese revolutionäre Zuspitzung kann nicht durch die für sich genommen sehr entschlossene, gewaltsame Tat einer kleinen Gruppe herbeigeführt werden. Vielmehr erfordert diese erstens eine massenhafte Eruption der inneren Widersprüche einer Gesellschaft, zweitens eine politische Kraft, eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei, die der unterdrückten Klasse eine Stoßrichtung und Führung zu geben vermag.

Zu dieser Kritik konnte sich Inge Viett nie durchringen, auch wenn sie ihren Kampf, ihren Aktivismus keinesfalls als bloß individuelle Konzeption, sondern immer als Teil eines globalen Befreiungskampfes, des Klassenkampfes verstanden wissen wollte.

Dass sich Inge Viett von ihrer Vergangenheit nicht zum Gefallen der bürgerlichen Öffentlichkeit distanzierte, gereicht ihr zur Ehre und unterscheidet sie wohltuend von den vielen nachträglichen Bekenner:innen und Kronzeug:innen.

Feindbild der Bürgerlichen

Für die bürgerliche Öffentlichkeit, das heißt vor allem für die vom Staat und von privaten Konzernen monopolisierte veröffentlichte Meinung, blieb Inge Viett zeitlebens ein Objekt des Hasses, des Anstoßes, der Verleumdung.

Dabei ging es keineswegs nur darum, ob sie nachträglich Reue empfinde oder sich von ihren Taten distanziere. Im Grunde geht es bei diesen ritualisierten Bekenntnissen niemals nur um eine Abwendung von einzelnen Taten oder Aktionen, sondern immer auch um eine Abkehr von den Zielen. Was nützt der herrschenden Klasse schließlich eine „Terroristin“, die sich kritisch zu einzelnen Taten verhalten mag, sich gleichzeitig jedoch weiter zum Ziel des Kommunismus bekennt und diesen mit revolutionären Mitteln herbeiführen will?

Genau diesen Zielen hat Inge Viett nie abgeschworen – und das machte sie zu einer Persona non grata, einer Aussätzigen im öffentlichen Betrieb. Die bürgerlichen Medien griffen dabei auf eine recht typische, doppelte Form der Diffamierung zurück.

Einerseits überzogen sie Inge Viett mit sarkastischen Bemerkungen, mit Hohn und Beleidigungen, weil sie als „Terroroma“ nicht nur alt, sondern auch aus der Zeit gefallen sei. Die einst gefährliche Verrückte wäre jetzt nur noch eine harmlose Närrin.

Andererseits schien man sich der Sache doch nicht so sicher. Inge Viett wurde zugleich  dämonisiert. Schon wer sich mit ihr auf ein Podium zur Diskussion setzte, geriet in den Geruch, Staatsfeind zu sein. So geschehen bei der damaligen Vorsitzenden der Linkspartei, Gesine Lötzsch, gegen die 2010/11 eine regelrechte Hetzkampagne von Spiegel und Co. gestartet wurde, weil sie vorhatte, mit Inge Viett öffentlich über „Wege zum Kommunismus“ zu diskutieren.

Entgegen den Intentionen ihre Verbreiter:innen tragen freilich beide Formen der Diffamierung ein Moment in sich, das die ganze Übung vom Standpunkt der bestehenden Verhältnisse aus fragwürdig macht – und zwar nicht nur bei Inge Viett, sondern bei allen, die als Kämpfer:innen gegen das bestehende System auf diese doppelte Weise diskreditiert werden sollen.

Stimmt es nämlich, dass es sich im Grunde um harmlose, von der Zeit überholte Figuren handeln würde, stellt sich die Frage, warum diese auch noch dämonisiert werden müssen, also als gefährlicher hingestellt werden, als sie sein sollen. Sind die Dämon:innen vielleicht doch Gefahrenherde, fragt man sich unwillkürlich. Könnte womöglich an einer Kapitalismuskritik, die angeblich längst „überholt“ wäre, doch etwas dran sein?

Dass Inge Viett nie aufgeben hat, sie auch nach ihrer Entlassung als Autorin und Aktivistin gekämpft hat, das vermochte ihr die bürgerliche Gesellschaft nie zu verzeihen. Im Zentrum ihre Kritik stand und steht, was Revolutionär:innen an Inge Viett schätzen: ihre Entschlossenheit, ihren Mut, ihre Standhaftigkeit, ihren Hass auf das kapitalistische System und ihren unbeugsamen Willen. Diese werden für alle, die sie kannten, für alle, die sich mit ihr als antikapitalistische Aktivist:innen beschäftigten, eine Inspiration bleiben. Inge, der Kampf geht weiter!