Nein zu den Verschärfungen beim Bürgergeld! Kampf gegen alle Kürzungen!

Stefan Katzer, Neue Internationale 280, Februar 2024

Seitdem das Bundesverfassungsgericht im November vergangenen Jahres die haushaltspolitischen Taschenspielertricks der Ampelkoalition entlarvt hat, stellt sich die Frage, wie die nun fehlenden 60 Milliarden Euro eingespart werden können. Der neueste Vorstoß der Regierung sieht vor, auch Einsparungen beim Bürgergeld vorzunehmen und das Sanktionsregime erneut zu verschärfen.

Zur Erinnerung: Die Ampelkoalition hatte Schulden, die zur Bekämpfung der Coronapandemie aufgenommen wurden, nachträglich umgewidmet und das zur Bekämpfung der Pandemie lockergemachte Geld kurzerhand in den sogenannten Klimatransformationsfonds gepackt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Umbuchung für rechtswidrig erklärt. Da das Geld bereits fest eingeplant war, stellt sich die Frage, woher die Milliarden kommen sollen, die nun im Haushalt fehlen.

Die Antwort der Regierung auf dieses Problem zeichnet sich immer deutlicher ab: Anstatt das fehlende Geld bei denjenigen abzuschöpfen, die in den vergangenen Jahren enorme Gewinn- und Vermögenszuwächse verzeichnen konnten, möchte die Regierung lieber notwendige Investitionen weiter aufschieben, weitere Kürzungen im sozialen Bereich vornehmen und zusätzlich den – im übertragenen Sinne –  nackten Leuten in die Taschen greifen, also das fehlende Geld dort holen, wo ohnehin kaum welches vorhanden ist: bei Erwerbslosen und Geringverdiener:innen, die ihren Lebensunterhalt durch den Bezug von Bürgergeld absichern müssen.

Leere Versprechen und faule Kompromisse

Dabei war mit seiner Einführung seitens der Regierung das Versprechen verknüpft, Erwerbslose künftig nicht mehr unnötig zu drangsalieren. Stattdessen sollten die „Klient:innen“ künftig auf Augenhöhe behandelt und der Fokus auf Weiterbildungen und Qualifizierungsmaßnahmen gelegt werden. Im Zuge der Bürgergeldreform wurden dann aber tatsächlich nur kosmetische Veränderungen am „Hartz 4“-System vorgenommen. So wurde etwa das Schonvermögen erhöht und es wurden Anreize geschaffen, an Weiterbildungen und Qualifizierungsmaßnahmen teilzunehmen. In diesem Zusammenhang werden vom Jobcenter geringfügige Bonus-Beträge ausgezahlt, die für Qualifizierungsmaßnahmen, die nicht auf einen Berufsabschluss zielen, nun wieder gestrichen werden sollen.

Arbeitslosigkeit: eine Frage der Motivation?

Das Problem der Arbeitslosigkeit solchermaßen zu adressieren, heißt in Wahrheit jedoch, es zu verschleiern. Denn das Problem der Arbeitslosigkeit wird letztlich nicht auf seine gesellschaftliche Ursache zurückgeführt – d. i. die steigende organische Zusammensetzung des Kapitals, durch welche immer mehr variables Kapital, lebendige Arbeit aus dem Produktionsprozess verdrängt wird –, sondern auf die Eigenschaften und Einstellungen der Erwerbslosen. Entsprechend dieser falschen, ja verkehrten Problemanalyse fällt auch die Lösungsstrategie der bürgerlichen Parteien aus.

Arbeitslosigkeit wird von ihnen wahlweise als ein Bildungs- oder Motivationsproblem derer behandelt, die in Wirklichkeit deshalb arbeitslos sind, weil die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft dem Kapital keinen Mehrwert verspricht. Ein gesellschaftliches Problem wird so unter der Hand individualisiert und psychologisiert.

Von hier aus ist es dann nur noch ein kleiner Schritt, statt der gesellschaftlichen Ursachen der Arbeitslosigkeit die Arbeitslosen selbst zu bekämpfen. Dabei werden die Erwerbslosen zunächst stigmatisiert. Ihnen wird unterstellt, nicht arbeiten zu wollen. Sie werden als „Asoziale“ hingestellt, die auf Kosten anderer ein angenehmes Leben führen.

In einem zweiten Schritt wird politisches Handeln durch (schwarze) Pädagogik ersetzt. Das Problem der Arbeitslosigkeit soll durch eine nachträgliche Erziehung der Arbeitslosen gelöst werden. Diese sollen durch Überwachung, Beschämung, Demütigung und Bestrafung zum richtigen Verhalten „motiviert“ werden. Die Frage, über die sich die bürgerlichen Parteien dann noch streiten, betrifft letztlich nur noch die nach der richtigen „Erziehungsmethode“: bestrafen oder motivieren, Leistungen kürzen oder Anstrengungen belohnen?

„Arbeitsscheue Arbeitslose“ als Ausbeuter:innen des „hart arbeitenden kleinen Mannes“

Das Klischee der arbeitsscheuen Langzeitarbeitslosen, der sich über die Dummheit derer lustig macht, die noch arbeiten gehen, während sie selbst schlau und vor allem dreist genug ist, andere für sich arbeiten zu lassen, erfüllt in diesem Zusammenhang eine wichtige Funktion. Diese besteht in erster Linie darin, die gesellschaftlichen Ursachen des Problems zu verschleiern und die berechtigte Wut über schlechte Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne seitens der arbeitenden Bevölkerung auf die Erwerbslosen umzulenken.

Dabei wird denjenigen, die einer Lohnarbeit nachgehen und vielleicht auch ein Gefühl dafür haben, dass sie um ihre tatsächliche Leistung (ihre Mehrarbeit) gebracht werden, suggeriert, ihre wahren Ausbeuter:innen seien nicht etwa die von ihrer Mehrarbeit lebende Kapitalist:innen, sondern faulenzende Arbeitslose, die sie von ihrem Lohn mit durchfüttern müssen. Durch diese perfide Verkehrung der tatsächlichen Zusammenhänge können sich diejenigen, die gegen Arbeitslose hetzen, auch noch als Kämpfer:innen für die Interessen „des kleinen Mannes“ inszenieren – und die BILD-Zeitung sich selbst als deren Sprachrohr.

So war es auch im Falle der nun bevorstehenden Verschärfungen beim Bürgergeld. Vorbereitet und begleitet wurde die Verschärfung von einer Kampagne, in der erneut das Zerrbild der „Arbeitsverweiger:innen“ an die Wand gemalt wurde, die sich auf Kosten der hart arbeitenden Bevölkerung ein angenehmes Leben mache.

Und was soll man sagen: Es hat wieder einmal gezündet. Die SPD ist erneut eingeknickt und verspricht nun, hart gegen sogenannte „Totalverweiger:innen“ vorzugehen. Durch verschärfte Sanktionen bei Leistungsberechtigten, die sich „beharrlich verweigern“, eine zumutbare Arbeit aufzunehmen, soll jährlich ein Betrag von 170 Millionen Euro eingespart werden. Zum Vergleich: Allein durch Steuerhinterziehung gehen dem Staat nach Berechnungen der Hans-Böckler-Stiftung jährlich ca. 100 Milliarden (!) Euro verloren. Verschärfungen in diesem Bereich sind jedoch nicht geplant. Den von den nun angedrohten Sanktionen Betroffenen droht dabei die Streichung sämtlicher Bezüge (außer für Miete und Heizung). Die vollständige Sanktionierung soll bis zu zwei Monate andauern können.

Die entsprechende Regelung ist allerdings sehr schwammig formuliert. Sie besagt, dass eine „willentliche“ Weigerung, „eine zumutbare Arbeit aufzunehmen“, vorliegen muss, um die Sanktionsmechanismen auszulösen. Diese Formulierung lässt somit viel Interpretationsspielraum, den besonders eifrige Jobvermittler:innen im Zweifelsfall dazu nutzen können, ungerechtfertigte Sanktionen zu verhängen, unter denen die Betroffenen auch dann leiden werden, wenn sich im Nachhinein herausstellen sollte, dass die verhängten Sanktionen doch nicht angemessen waren. Dies wird aller Voraussicht nach besonders Menschen treffen, die nicht deutsch sprechen oder sich gegenüber Behörden ohnehin hilflos fühlen, also vornehmlich rassistisch Unterdrückte und psychisch belastete Menschen.

Neben der Tatsache, dass die von der Regierung prognostizierten Einsparpotentiale durch die nun anvisierten Kürzungsmaßnahmen völlig übertrieben erscheinen, ist daran vor allem problematisch, dass den Betroffenen damit de facto die notwendigen finanziellen Mittel entzogen werden, mit denen diese ihre Existenz sichern können. Ihnen droht die völlige Verarmung.

In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass ca. zwei Millionen Kinder Bürgergeld beziehen. Sanktionen, die sich gegen ihre Eltern richten, treffen natürlich auch sie. Dabei bekommen sie schon jetzt nicht das, was für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben notwendig wäre. Weitere Kürzungen wären daher vor allem für sie fatal, da sie sich langfristig auf ihre Entwicklung auswirken können.

Rechte und neoliberale Scharfmacher:innen

Davon lassen sich die Scharfmacher:innen von rechts allerdings nicht beeindrucken. Im Gegenteil. Sie befeuern lieber weiterhin die leidliche Debatte um das sogenannte „Lohnabstandsgebot“ und verteufeln in diesem Zusammenhang die letzte Bürgergelderhöhung von 12 % als arbeitsmarktpolitische Generaldummheit. Sie argumentieren dabei, dass die Erhöhung des Bürgergeldes dazu verführe, sich auf Kosten der Allgemeinheit einen faulen Lenz zu machen. Dabei hält die Erhöhung kaum Schritt mit der dramatischen Inflation und ist folglich keine reale. Zugleich „vergessen“ sie gerne, dass die Erhöhung des Bürgergeldes keine gönnerhafte Wohltat ist, die der Staat nach Lust und Laune gewähren kann oder auch nicht. Vielmehr geht es hier um die Existenzsicherung und um einen Rechtsanspruch, der sich aus dem Grundgesetz herleitet.

Ebenso verschweigen sie die Tatsache, dass das von Ihnen hochgehaltene „Lohnabstandsgebot“ auch anders gewahrt werden könnte als durch die Absenkung des Existenzminimus – nämlich durch die Erhöhung der (Mindest-)Löhne. Gegen die Einführung eines Mindestlohns haben sie selbst aber jahrelang gekämpft. Schon alleine daran erkennt man die ganze Heuchelei dieser Parteien und ihrer Führungsfiguren. Aber auch SPD und Grüne spielen das perfide Spielchen mit und drücken nun die Sanktionen durch, die sie zuvor noch als unmenschlich und weitgehend wirkungslos kritisiert haben.

Widerstand aufbauen, Kürzungen bekämpfen!

Umso dringender ist es, dass sich gegen diese Politik auf den Straßen Widerstand formiert. Dabei kommt den Gewerkschaften eine entscheidende Rolle zu. Als Kampforgane der Arbeiter:innenklasse mit Millionen Mitgliedern wären sie dazu in der Lage, den notwendigen Widerstand zu organisieren. Dafür müssen sie aber endlich mit ihrer sozialpartnerschaftlichen Politik brechen und anfangen, entschlossen für die Interessen der gesamten Klasse zu kämpfen. Um dorthin zu gelangen, müssen die Mitglieder Druck aufbauen und die Führung ihrer Gewerkschaften zum Handeln auffordern.

Der Kampf gegen die Verschärfungen beim Bürgergeld muss dabei mit dem gegen die weiteren Einschränkungen im Asylrecht sowie mit dem für höhere Löhne und gegen Entlassungen verbunden werden. Dadurch kann der spalterischen Politik der Herrschenden entgegengearbeitet und die Einheit der Lohnabhängigen erkämpft werden. Der Kampf gegen die geplanten Verschärfungen und Kürzungen kann aber letztlich nur erfolgreich sein, wenn er von Massenmobilisierungen, Streiks und  Besetzungen getragen wird und weitergehende Forderungen umfasst, die letztlich auf die Überwindung des kapitalistischen Ausbeutungssystems zielen.

  • Weg mit allen Bürgergeldgesetzen und Nein zu den geplanten Sanktionen! Für die Kontrolle der Arbeitsagenturen durch Gewerkschaften und Erwerbslosenkomitees anstelle von Ämterwillkür! Allgemeines, uneingeschränktes Recht auf Weiterbildung und Qualifizierung während der Erwerbslosigkeit!
  • Für die sofortige Wiedereinführung der Vermögensteuer! 115 Mrd. Euro jährlich durch progressive Besteuerung!
  • Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Euro/Stunde! Für Arbeitslose, Studierende, RentnerInnen, SchülerInnen ab 16, chronisch Kranke, Schwerstbehinderte und Invalid:innen kämpfen wir für ein monatliches Mindesteinkommen, angepasst an die Inflation ,von 1.100 Euro plus Warmmiete! Die Kontrolle darüber den Gewerkschaften!
  • Streiks und Besetzungen im Kampf gegen Massenentlassungen und Schließungen! Entschädigungslose Verstaatlichung und Fortführung/Umstellung der Produktion solcher Firmen!
  • Für ein Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten unter Kontrolle der Beschäftigten, der Gewerkschaften unter Einbeziehung von Ausschüssen der Lohnabhängigen und aller nicht-ausbeutenden Schichten der Bevölkerung!



SPD und Hartz IV: Krise als Dauerzustand

Tobi Hansen, Infomail 1030, 16. November 2018

Am Ende des „Debatten-Camps“ der SPD vom 10/11. November hüpfte Vorsitzende Andrea Nahles mit anderen um die Wette. So viel „positive“ Energie hatten wir zuletzt selten von der Partei- und Fraktionschefin gesehen. Zuletzt schien mit den Umfragewerten auch der Selbsterhaltungstrieb in den Keller gegangen zu sein. Das Festhalten an der Großen Koalition ruinierte die letzten Wahlchancen, die ritualhafte Beschwörung der „Sacharbeit“ bildete die makabere Begleitmusik zum Siechtum der Partei.

Nach den Landtagswahlen von Bayern und Hessen wurden die Rücktrittsforderungen gegenüber Nahles wie auch dem gesamten Vorstand zahlreicher und lauter. Die „Linke“ mahnte einen Sonderparteitag Anfang 2019 an, um sich sowohl personell wie inhaltlich neu aufzustellen. Wiederholt wurde die Forderung nach dem Ausstieg aus der Großen Koalition (GroKo) erhoben, z. B. durch den Landesverband Schleswig-Holstein. Die „Progressive Soziale Plattform“ um den Abgeordneten Marco Bülow und das „Forum Demokratische Linke 21“ (DL 21) um die Abgeordnete Hilde Mattheis wollen eine Urwahl eines neuen Parteivorstandes, inklusive der/des Vorsitzende/n. Dafür würde sich auch Juso- Vorsitzender Kühnert begeistern, während er weiter Nahles politisch stützt. Kühnert bleibt medial das „Gesicht“ der innerparteilichen Opposition. Dass ihn der bayrische Fraktionschef Horst Arnold als neuen Vorsitzenden vorschlug, erhöhte den Druck auf den angeschlagenen Parteivorstand und die Regierungsmitglieder.

Linksschwenk als Rettung?

Als großen Durchbruch feierten Nahles und Klingbeil beim Debatten-Camp die Diskussionen um Hartz IV und Grundeinkommen. In der bürgerlichen Presse machte Nahles mit dem Satz „Wir werden Hartz IV hinter uns lassen“ Schlagzeilen.

Dies ist gerade für die SPD-Linke ein wichtiges Thema der programmatischen „Erneuerung“, die seit den Auseinandersetzungen um die GroKo versprochen wurde. Zentrale Themen des „Camps“ bildeten die Neuausrichtung des Sozialstaates, die „Vereinbarkeit“ von Umwelt und Wirtschaft wie auch die Perspektive der EU.

Bei der Zukunft der EU wurde deutlich, wie wenig „Linksschwenk“ von der SPD zu erwarten ist. Schon bei der Eröffnung der Veranstaltung machte Nahles „Europa“ zum Schwerpunkt. Sie verlor aber kein Wort zur Austeritätspolitik, zur Massenarbeitslosigkeit in Südeuropa oder zu irgendeiner sozialen Perspektive für die Beschäftigten des Euro-Raumes. Stattdessen wurde im Gleichklang mit Merkel, von der Leyen und Macron der Aufbau einer EU-Armee angepriesen. Diese letzte „große“ Idee der Vertiefung des Bündnisses von deutschem und französischem Imperialismus wird dann auch von der SPD mit den gesteigerten „Unsicherheiten“ der globalen Politik begründet. Inwieweit dabei ein weiterer Militärblock „hilft“, bleibt im Ungefähren, aber diesen „Bruch“ mit NATO und US- Imperialismus kann man zumindest noch als „europäisches Projekt“ verkaufen.

Mit der verordneten Aufbruchstimmung, netten Bildern und bis zu 3000 freiwilligen BesucherInnen des Debatten-Camps versucht sich der SPD-Vorstand ins nächste Jahr zu retten. Der nächste Parteitag soll erst Ende 2019 stattfinden. Um vor allem die internen KritikerInnen ruhigzustellen, sollen die Fragen des Sozialstaates vermehrt, wenn auch ohne Folgen für die Regierungspolitik diskutiert werden. Seit der Einführung von Hartz IV, den „Agendareformen“ hat die SPD nicht nur die Hälfte ihrer Mitglieder verloren, sondern auch ihre Wahlergebnisse halbiert – ein halbherziger, rhetorischer Linksschwenk des Vorstandes soll dieser Entwicklung wohl entgegenwirken.

Sanktionen und Grundsicherung

Die Formulierung von Nahles ist nicht neu. Selbst Arbeitsminister Heil kam schon auf die Idee, dass man „Hartz IV überwinden“ müsse, mindestens einen neuen Namen dafür bräuchte, da dies sonst auf ewig der SPD anhängen würde. Damit reagieren Teile der Führung auch ganz pragmatisch auf Urteile von Sozialgerichten. Diese stellten 14 Jahre nach der Einführung fest, dass die umfangreichen Sanktionen des Hartz-IV-Regimes verfassungswidrig seien und die BRD eine „sanktionsfreie“ Mindestsicherung anbieten müsse. Schließlich führten die Sanktionen bzw. die damit einhergehende soziale Repression dazu, dass sämtliche Geldmittel gestrichen werden können – bis hin zur einer möglichen Obdachlosigkeit der „KlientInnen“. Genau in dieser Frage ergingen die ersten Urteile zugunsten von Menschen, die von Sanktionen betroffen sind. Der Entzug der Wohnung durch den „Sozialstaat“ stünde diesem nämlich nicht zu; dementsprechend seien auch die Sanktionen, die dazu führten, insgesamt „unzulässig“.

So könnten die „Agenda-Reformen“ bzw. deren Weiterführung/Umbenennung eines der entscheidenden Themen der nächsten Zeit werden wie auch für mögliche nächste Bundestagswahlen. Manche SPD-Mitglieder hofften sicher seit dem Debatten-Camp, dass z. B. die Hartz-IV-Sanktionen und das System irgendwie verschwinden und die Partei möglicherweise durch den zuständigen Minister Heil wie auch durch Nahles den „Sozialstaat“ zu Gunsten derjenigen reformieren würde, die ihn brauchen. Ganz praktisch haben Kühnert und der „Parteilinke“ Stegner ihre Ideen zu einer Grundsicherung von sich gegeben, damit können manche Hoffnungen auch gleich begraben werden. Während Kühnert noch spaßige Anreize aus der Freizeitbranche/Industrie der Grundsicherung als Bonbon zusetzen möchte (vielleicht ein Fitness- Programm, Kinogutscheine oder eine Flatrate zur „digitalen Anbindung“), äußerte sich Stegner in der Manier eines Franz Müntefering. In der aktuellen Diskussion hatte Grünen-Chef Habeck ein sanktionsfreies Grundeinkommen in Aussicht gestellt. Stegner konterte dies mit: „Wer arbeiten kann, soll auch arbeiten“ (Spiegel online 14.11.18).

Dies erklärt zum einen, warum die SPD derzeit in den Meinungsumfragen um die Plätze 3 und 4 kämpft und diejenigen, die Hoffnungen in einen Linksschwenk hegen, dies ganz sicher nicht diesem Personal überlassen dürfen.

Wen Hartz IV hinter sich gelassen hat

Stegner schließt mit solchen Formulierungen an Müntefering, Clement, Schröder an, welche eine Massenverarmung organisiert und Millionen in Existenznot, Verzweiflung, Isolation und Dauerarmut getrieben haben. Diejenigen, die „etwas“ hatten, wurden jahrelang geschröpft, mussten ihre Ersparnisse auflösen, bevor sie eine sanktionsreiche Mindestsicherung überhaupt in Anspruch nehmen konnten. Auch dies gehörte immer zu den Milliardenüberschüssen der ARGE: eine Enteignung des Einkommens der Massen. Millionen Alleinerziehende wurden systematisch existenziell schikaniert. Kindergeld wurde mit dem Hartz-IV-Satz „verrechnet“ – von einem Staat, dem die Ernährung eines Kindes am Tag weniger wert ist als die eines Polizeihundes! Nachgewiesen ist auch, dass MigrantInnen besonders oft zu Unrecht drangsaliert wurden.

Wir können nur ahnen, wie viele Menschen dieses System in den Selbstmord bzw. in mögliche „Vorstufen“ sozio-psychischen Elends getrieben hat, inklusive Suchtkrankheiten.

Gearbeitet wurde unter dem Hartz-System für einen Euro pro Stunde, als Ersatz für viele Stunden Arbeit im öffentlichen Dienst – der 1-Euro-Job war Sinnbild des neoliberalen Umbaus unter Schröder/Fischer. Er diente später bei der Austeritätspolitik in Europa als Blaupause für Kürzungen im Sozialbereich.

Stegners Forderung „Wer arbeiten kann, soll auch arbeiten“ wäre auch ein interessanter Ansatz für die Kaste der bürgerlichen PolitikerInnen inklusive ihrer Techno- und BürokratInnen, AdjutantInnen, ClaqueurInnen und MitesserInnen, welche allesamt von den Steuereinnahmen durchgefüttert werden. Fast könnte man meinen, das wäre doch mal ein Thema für die „Linke“ – sei es als Partei oder als „radikales“ Spektrum.

Die Zeiten, in denen Erwerbslose gut organisiert waren, gab es ohnedies selten. Die letzte Massenbewegung gegen Hartz IV haben freilich die Führungen der DGB-Gewerkschaften verraten. Eine aktive Politik für Erwerbslose machten sie weder damals noch heute. Ebenso wenig stellen sie sich Hartz IV entgegen. So bleiben vielerorts nur Initiativen übrig, die entweder im rechtlichen oder sozialen Bereich Beratung/Unterstützung organisieren, quasi Selbsthilfegruppen der Deklassierten, da die Gewerkschaften selbst diese Aufgabe nicht übernehmen. Die andere Seite der Organisierung umfasst dann die AktivistInnen für den utopischen Traum eines bedingungslosen Grundeinkommens. Dort finden sich die Linkspartei in Person von Katja Kipping oder in der Neuauflage dann bei den Grünen und Teilen der SPD-Linken wieder, aber ein Kampf der ArbeiterInnenbewegung gegen Hartz IV findet nicht statt.

Wie weiter?

Der Kampf für die sofortige Abschaffung von Hartz IV (wie auch der anderen Hartz- und Agenda-Gesetze müsste mit dem um einen Mindestlohn von 12,50 netto/Stunde für alle, für ein Mindesteinkommen von 1600,- Euro/Monat für alle Erwerbslosen und RentnerInnen und eine Verkürzung der Arbeitszeit auf 30 Stunden/Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich verbunden werden. Dies wären reale Schritte zur Bekämpfung der Armut.

Für diese Forderungen müsste eine SPD-Linke innerhalb wie außerhalb der Partei eintreten. Dafür sollten sich die Gewerkschaften, die Linkspartei und die „radikale Linke“ stark machen.

Ein Aktionsbündnis um diese Forderungen würde einen realen Bruch mit der Agendapolitik darstellen – und könnte zugleich die Regierung wie die SPD-Rechten und BefürworterInnen der GroKo in die Defensive bringen. Die Frage, wie sehr die „soziale“ Neuausrichtung der SPD nur Gelaber zum Hinhalten der Parteilinken und der Basis bleibt oder einen realen Gehalt erhält, ist vor allem eine praktische. Der Kampf gegen das Hartz-IV-System, für ein Mindesteinkommen und einen Mindestlohn, die zum Leben reichen, muss jetzt aufgenommen werden – und zwar in den Betrieben, in Bündnissen, auf der Straße und gegen die Große Koalition!




Mindestlohn, Mindesteinkommen oder bedingungsloses Grundeinkommen?

Jürgen Roth, Revolutionärer Marxismus 41, Februar 2010

Massenarbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung kennzeichnen die Lage der Lohnabhängigen weltweit. Schon vor der Weltwirtschaftskrise waren Millionen und Abermillionen dauerhaft erwerbslos oder gezwungen, in Teilzeitverhältnissen zu arbeiten, also in Beschäftigungsverhältnissen, welche die Lebenskosten nicht decken.

Diese strukturelle Massenarbeitslosigkeit hat gleichzeitig zu einem massiven Absenken des Lohnniveaus für große Teile des Proletariats geführt, für ein Riesenheer sog. Working poor (arbeitender Armer) geschaffen, die trotz Job (teilweise sogar mehrerer Jobs) ihre eigenen Lebenshaltungskosten und die ihrer Familien kaum bestreiten können.

Zudem wurde die Lage durch drakonische Reformen wie die Hartz-Gesetze massiv verschlechtert. Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und für die Existenzsicherung dieser Schichten sind daher zu Schlüsselfragen für jedes Programm geworden, das eine fortschrittliche Antwort auf die Krise geben will.

Im Folgenden wollen wir uns daher sowohl mit der Antwort der revolutionären Arbeiterbewegung und den Positionen, die wir dazu entwickelt haben, beschäftigen und zugleich (auch unter Arbeitslosen) populäre falsche Antworten wie die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen einer grundlegenden Kritik unterziehen.

Übergangsforderungen gegen Arbeitslosigkeit und Entlassungen

Die trotzkistische Tradition kämpft für: „Gleitende Skala der Arbeitszeit! Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich! Aufteilung der Arbeit auf alle Hände und Köpfe! Für ein Beschäftigungsprogramm gesellschaftlich nützlicher Arbeit unter Arbeiterkontrolle bei vollen Tarifbezügen!“ Formulierungen in diesem Sinne finden wir sowohl in „Trotzkistischen Manifest“ (1) wie in „Vom Widerstand zur Revolution“ (2).

Für die BRD haben wir das in unserem Aktionsprogramm (AP) „Der Kampf für Arbeitermacht“, März 2009) konkretisiert: „30-Stunden-Woche in Ost und West bei vollem Lohnausgleich! Angleichung aller Löhne und der Arbeitszeit im Osten auf Westniveau! Aufteilung der Arbeit auf Alle unter ArbeiterInnenkontrolle! Europaweit koordinierter Kampf zur Verkürzung der Arbeitszeit! Für ein Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten, unter Kontrolle der Beschäftigten, Gewerkschaften und von Komitees der örtlichen Bevölkerung!“ (3)

Wir halten solche Forderungen für zentral; v.a. deshalb, weil sie die Einheit der Arbeiterklasse – der Beschäftigten wie der Arbeitslosen – erleichtert. Im Gegensatz zu anderen Teilforderungen zielen sie in Richtung Aufteilung der Arbeit auf alle Hände und Köpfe, stellen also eine Übergangslosung dar, die auf den Sozialismus zielt und mit der Herrschafts- und Verwertungslogik des Kapitalismus bricht.

Der Produktivitätsfortschritt soll den Lohnabhängigen zu Gute kommen. Ihnen ist schon aus Gründen der eigenen Kampfkraft daran gelegen, die Arbeitslosigkeit und damit eine wichtige Spaltung der Klasse zu beseitigen. In diesem Sinn muss der Kampf gegen Entlassungen und für Wiedereingliederung Entlassener mit dem Ringen um ausreichende Bezahlung für Arbeitslose verbunden werden.

Die notwendige gesellschaftliche Arbeit soll gleichmäßig auf alle arbeitsfähigen Gesellschaftsglieder verteilt werden – einschließlich der ehemaligen Ausbeuter, die in einem Arbeiterstaat erstmals mit der Arbeitspflicht für sich selbst in Berührung kommen.

Um zu bestimmen, was notwendige Arbeit ist, muss das Kapital enteignet werden, das Proletariat zum kollektiven „Unternehmer“ einer Planwirtschaft werden und direkt, über Räte, im Staat herrschen. Eine praktische Schule und notwendige Voraussetzung für den Beginn der Umsetzung der Übergangsforderungen unter kapitalistischem einem Regime ist die Arbeiterkontrolle. Viel wichtiger als die Höhe der Arbeitslosenunterstützung ist der Aufbau von Kontrollorganen, die die Bedürftigkeit festlegen – statt das dem kapitalistischen Staat und seinen Institutionen (ARGE, Sozialamt) zu überlassen – und die Firmen zu Neueinstellungen zwingen können. Dazu muss die Arbeiterklasse in Staat und Betrieb eigene Machtorgane errichten (Fabrikkomitees, Räte usw.).

Eine solche Programmatik zielt auch darauf, den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit in einen Kampf um Arbeiterkontrolle zu überführen. Sie zielt bewusst auf die Schaffung einer Doppelmachtsituation und darauf, sie durch die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates und die Enteignung des Privateigentums an Produktionsmitteln zu lösen. Erst diese Perspektive der Machtergreifung krönt das System von Übergangsforderungen gegen die Massenarbeitslosigkeit und verleiht ihm revolutionäre Sprengkraft.

Das kapitalistische Reproduktionsminimum

Bevor wir uns der Wichtigkeit der Forderung nach einem Mindestlohn und Mindesteinkommen zuwenden, ist es notwendig, einige grundlegende Betrachtungen über das „kapitalistische Reproduktionsminimum“ vorauszuschicken.

Produktive Arbeit ist für das Kapital nur jene, die – außer ihren eigenen Tauschwert zu produzieren und den Wert der Produktionsmittel zu erhalten – ihm auch einen Mehrwert zusetzt. Das einzelne wie das gesellschaftliche Gesamtkapital, welches als Nationalökonomie bzw. Volkswirtschaft an der Oberfläche erscheint, interessiert darum auch nur der kapitalistische Produktionsprozess, in sich dem ausschließlich seine Verwertung, seine Reproduktion vollzieht. Der Reproduktionsprozess der Arbeitskraft als Gebrauchs- und Tauschwert (Hausarbeit, Freizeit) interessiert es dagegen genauso wenig wie die Bewahrung des Gebrauchswertes der Natur.

Die Reproduktion des Tauschwertes der Arbeitskraft erfolgt für das Kapital auch nur im Produktionsprozess und auch nur, insoweit die lebendige Arbeitskraft in diesem den durch sie geschaffenen Neuwert vorschießt. Zusätzlich unterliegt der Tauschwert der Arbeitskraft danach auch noch allen weiteren Unberechenbarkeiten, die dem Kapitalismus inhärent sind. Die reale Kaufkraft des Arbeitsvermögens wird ständig beeinflusst durch Inflation, Gesetzgebung, Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt allgemein sowie durch die Kampfkraft des Proletariats (Tarifverträge), welche bei letzterem die elastischen – Marx nennt sie „historische Komponenten“ – Grenzen ausmachen. Die Reproduktion der TrägerInnen des lebendigen Lohnarbeitsvermögens ist aber noch nicht dann gesichert, wenn ihre Arbeitskraft einen Käufer gefunden hat, weil diese auch den Bocksprüngen des Marktes ausgeliefert sind. Wir können dieses Gesetz beschreiben mit dem Satz: „Die Akkumulation des Kapitals ist die Determinante des Reproduktionsprozesses der Arbeitskraft. Letzterer ist seine abhängige Variable.“

Die Reproduktion der Arbeitskraft als Gebrauchswert ist dem Kapital noch gleichgültiger. Sie muss deshalb notwendig außerhalb des Verwertungsprozesses stattfinden.

Das leisten in hohem Maße die proletarischen Frauen in Haushalt und Familie. Die „Subsistenzproduktion und -reproduktion“ kümmert den Kapitalisten ihn fast noch weniger als den Sklavenhalter das Wohl seiner Sklaven. Das gilt für die Natur, die Subsistenzreproduktion der Frauen und nachwachsenden Generationen der ausgebeuteten Klasse, aber auch für ganze Völker und Kontinente. Die aus ihren Subsistenzverhältnissen Herausgedrängten erscheinen dann als billige Immigrationsarbeitskräfte in den imperialistischen Metropolen. Das dortige Kapital kann sie jederzeit abschieben und stets prekär halten. Ihre „in schwarzer Haut gebrandmarkte“ Arbeitskraft wird daheim wie im „Exil“ ihrer „historisch-moralischen“ Komponente beraubt, weil das Kapital lediglich den Lohn für individuelle Selbstreproduktion bezahlt – ohne die Bedürfnisse der nächsten Arbeitergeneration oder das Verrichten von Hausarbeit im engeren Sinne zu berücksichtigen. Das gilt für Familienzuzug wie für Anrechte auf Anteile auf in den Metropolen erkämpfte indirekte Lohnbestandteile („Sozialversicherung“).

Die Verteidigung seiner Reproduktion ist eine notwendige Voraussetzung, bevor das Proletariat die Produktion unter eigenem Planwirtschaftsregime allein der lebendigen Arbeit zugute kommen lassen kann. Dann gilt nicht mehr: Produktion um der Produktion willen, sondern umgekehrt, die aufgehäufte, tote Arbeit vergangener Generationen in Form der gegenständlichen, materiellen Produktivkräfte dient dazu, das Leben der Gesellschaft zu verbessern. Das ist der einzige Weg, auf dem das Proletariat vorankommen kann, als erste Kraft – nicht Klasse – in der Geschichte nach der Urgesellschaft, die Reproduktion und das Schicksal der ProduzentInnen in den Mittelpunkt zu stellen und als Zweck der Produktion zu setzen.

Der Lohn enthält (außer im Fall von Wander- und Immigrantenarbeit) eine „Familien“komponente. Marx umschreibt diese Gratisproduktivkraft fürs Kapital lapidar als „Gattungstrieb“ der LohnarbeiterInnen. Für das Kapital ist der stetige Nachschub an ausbeutbaren Arbeitskräften wichtig. Die Unwägbarkeiten der Kapitalakkumulation führen aber nicht nur zur Absorption außerhalb seines Verwertungsprozesses hergestellter Produktivkraft in Gestalt des lebendigen Arbeitsvermögens, sondern auch zu dessen wiederholter Repellation, zu ihrem periodischen Ausscheiden aus dem kapitalistischen Arbeitsprozess (Arbeitslosigkeit).

Da der kapitalistische Besitz an Produktionsmitteln auf der stundenweisen Anmietung freier Lohnarbeit beruht und nicht auf dem persönlichen Besitz an der Arbeitsperson wie in der Sklaverei, droht damit der Nachschub an Arbeitskräften zu versiegen, da er sich nur aktiv erhalten kann, wenn er seinen Tauschwert und darüber hinaus Mehrwert produziert. Zusätzlich sucht das Kapital die Schranken des Arbeitstages bis zum Maximum auszudehnen, die Arbeitsbevölkerung auch auf Kinder und Frauen ohne Rücksicht auf deren Reproduktionsmöglichkeiten zu erweitern. Das dem Einzelkapital in der Konkurrenz auferlegte Gebot des Maximalprofits unterminiert so die langfristige Akkumulationsperspektive des gesellschaftlichen Gesamtkapitals.

Seine Klassenherrschaft kann sich schon aus Prinzip – aufgrund der Konkurrenz – nur verstetigen in einer Institution, die außerhalb der Konkurrenz steht, darum eine eigene Gestalt außer- und oberhalb der Gesellschaft annehmen muss, als unpersönliche, sachliche Herrschaft: der bürgerliche Staat!

So wie dieser für die Gleichheit der Konkurrenzbedingungen sorgt, muss er auch bei Strafe des Untergangs der Produktionsweise, auf der er beruht, gebieterisch die permanente Akkumulation des realen Gesamtkapitalisten, der Nationalökonomie, sicherstellen. Dies geht manchmal nicht ohne Eingriffe in die Reproduktionsbedingungen der Einzelkapitale ab. Davon zeugen Arbeitsschutzgesetze wie Arbeitstagsbeschränkungen, Verbote von Kinderarbeit und Mutterschutzrichtlinien, Hygieneauflagen usw., usf.

Dass solche Gesetze, Richtlinien und Verordnungen oft genug auf Begehr der Lohnarbeiterschaft zustande gekommen sind, bezeugt nicht nur, welche Klasse die weitergehende Menschheitserhaltungsperspektive vertritt, sondern ist auch kein Gegenbeweis für den bürgerlichen Klassencharakter des Staates. Er ist eben der ideelle und ideale Gesamtkapitalist. Und dem „modernen“ Proletariat kann man nicht vorwerfen, dass es ihn auszunutzen, in seinem Rahmen Einfluss zu erlangen versucht. Dieses Bestreben ist vielmehr eine Schule der Gesamtklasse der Lohnarbeitenden für ihren eigenen Zukunftsstaat – allerdings nur, wenn sie das Ziel der Überwindung des Kapitalismus nicht aus den Augen verliert, um den Übergang zum staatsfreien, klassenlosen Kommunismus einzuleiten!

Alle „Infrastrukturmaßnahmen“ des bürgerlichen Staates mögen also einen Kompromiss mit der Klasse der LohnarbeiterInnen inkorporieren, seinen Klassencharakter verletzen sie dadurch nicht. Zu Beginn der modernen Arbeiterbewegung, ja schon in den Anfängen der ursprünglichen Akkumulation, oblag dem Staat die Aufgabe der Produktion von Lohnsklaven aus Vagabunden, Vogelfreien und sonstigen Plebejern. Dies nahm die Form von Zwangsarbeit in Waisen- und Armenhäusern an. Ähnliches widerfuhr dann zu Zeiten der Großen Industrie den aus dem kapitalistischen Arbeitsprozess aussortierten Arbeitslosen, in vorübergehender oder permanenter Form und – v.a. im Falle letzterer – ihren Familien (Lazarusschichten, Pauperismus).

Der bürgerliche Staat sorgte für die unmittelbare Reproduktion der untersten Arbeiterschichten, indem er deren Existenzminimum „garantierte“ und damit auch ihre mögliche zukünftige Verwertbarkeit als LohnarbeiterInnen. Er tat dies unter zwei Bedingungen: der Beschäftigung von Arbeitsfähigen in Staatswerkstätten bzw. Arbeitshäusern zu Staatslöhnen, die auf keinen Fall das Minimallohnniveau der aktiven Arbeiterklasse überschreiten durften; Unterstützungszahlungen für Arbeitsunfähigen(Sieche, Versehrte, Invaliden …) zur Vermeidung von Revolten und Reproduktions„garantie“ für deren Familien„anhang“, insbesondere die nachwachsende Arbeitergeneration. Für deren Höhe gilt das gleiche.

Alle Klassengesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen die Produktion nicht ausschließlich der Reproduktion der unmittelbaren ProduzentInnen dient. Die vorkapitalistischen Klassengesellschaften der asiatischen, antiken und feudalen Produktionsweise beruhten auf außerökonomischem Zwang. Die Abschöpfung des Mehrproduktes fand ihre Schranken im begrenzten Umfang der persönlichen Genüsse der herrschenden Klassen. Erst der Kapitalismus erscheint als unpersönliches, sachliches Verhältnis rein ökonomischen Zwanges für die doppelt freien LohnarbeiterInnen, die über keine Produktionsmittel, sondern nur über ihr lebendiges Arbeitsvermögen verfügen, das sie ans Kapital verkaufen zu müssen. Mittelpunkt des kapitalistischen Produktionsprozesses ist die Akkumulation. Der immanente Zwang, den Mehrwert zu steigern, erfordert sowohl die Steigerung der Produktivität (Methoden des relativen Mehrwerts) wie ständige Angriffe auf das Reproduktionsniveau der ProletarierInnen (Methoden des absoluten Mehrwerts).

Akkumulation heißt Ökonomie der Surplusarbeitszeit, nicht der Arbeitszeit überhaupt, heißt „Produktion um ihrer selbst willen“. Die lebendige Arbeit dient einzig und allein der Verwertung des Kapitals, der aufgehäuften, immer umfangreicher werdenden toten Arbeit, nicht umgekehrt. Der Gegensatz zwischen Produktion und Reproduktion ist gleichsam auf die Spitze des Irrsinns getrieben. Die Regeneration der Arbeitskraft schert das Kapital ebenso wenig wie die der Natur. Die ökologische Katastrophe ist zwangsläufiger Ausdruck dessen. Auf die Spitze getrieben sind allerdings auch Formen gesellschaftlicher Unterdrückung wie die der Frauen oder der Rassismus.

Die zum Zweck der Ausbeutung als Lohnarbeiterinnen notwendige kapitalistische Vergesellschaftung von Teilen der Hausarbeit und Kinderbetreuung stößt daher besonders in Krisenzeiten schnell an ihre Grenzen. An der systematischen Diskriminierung der überwiegend von proletarischen Frauen verrichteten Herstellung von Gebrauchswerten (individuelle Subsistenzproduktion) ändert sie erst recht nichts, erzeugt sie doch keine Tauschwerte. Diese Brandmarkung schlägt sich zudem negativ im Preis der weiblichen Arbeitskraft nieder. Die Lohndifferenzen zwischen männlichen und weiblichen Proletariern sind systematischer Bestandteil dieser Ausbeutungsweise. Das Proletariat muss alle Elemente seiner Reproduktion zum Thema des Klassenkampfes erheben, auch die Haus- und Erziehungsarbeit seiner weiblichen Angehörigen!

So wie es dafür sorgen muss, die sachlichen Produktivkräfte in den Dienst der Reproduktion der kollektiven GesamtarbeiterInnen zu stellen, muss es den Subsistenzbereich vergesellschaften. Erst auf dieser materiellen Grundlage ist es möglich, die besondere Unterdrückung der weiblichen lebendigen Arbeit aufzuheben, indem es sie dadurch gesellschaftlich sichtbar und wichtig macht, ihr endlich die seit den Zeiten der urgesellschaftlichen Epoche verloren gegangene Bedeutung auf höherer Stufenleiter „zurück“ verschafft. Ohne dies ist seine Emanzipation und Aufhebung in der freien Assoziation der direkten ProduzentInnen unmöglich.

Das kommunistische Minimalprogramm in der Frage von Mindestlohn und –einkommen

Das Erstarken der Arbeiterbewegung und insbesondere die Entstehung von Arbeiterparteien schuf die Möglichkeit, mittels Streiks und Einflussnahme auf die parlamentarische Gesetzgebung zu verhindern, dass die bürgerlichen Armengesetze den Lohnkämpfen der aktiv Beschäftigten in den Rücken fallen. Im Deutschen Reich vor dem 1. Weltkrieg wurden durchgesetzt: Arbeitsunfall-, Kranken- und Rentenversicherung. Nach der Novemberrevolution kam die Arbeitslosenversicherung hinzu.

Die SPD und die freien Gewerkschaften unter ihrer Führung (ADGB) folgten dabei dem Prinzip, ein staatlich garantiertes Minimum zu fixieren, damit der aktiven Lohnarbeiterklasse in ihren Kämpfen um Lohnerhöhungen eine Schranke nach unten zu setzen, die Konkurrenz innerhalb der beschäftigten Klasse zu mindern. Das war richtig, erfolgte aber in Form eines verhängnisvollen Klassenkompromisses.

Die sozialdemokratischen Funktionäre gaben ihre selbstverwalteten Kassen auf zugunsten einer „Mitwirkung“ an Bismarcks staatlichem System. Auch wenn die selbstverwalteten Arbeiterkassen nur einer arbeiteraristokratischen, berufsständischen Minderheit der Klasse offen standen und der neue Sozialversicherungszwang für alle abhängig Erwerbstätigen ein Fortschritt war, so beschleunigte die Zustimmung durch Gewerkschaften und SPD zu ihrer Verstaatlichung die Integration der Arbeiterbewegung in das imperialistische System des Deutschen Reichs.

Das verklärte die Unternehmer zu wohlwollenden Gönnern, indem es deren drittelparitätische Lohnanteilszahlungen ins System der Sozialversicherung als „Arbeitgeberzuschüsse“ ausgab. Damit bereitete es die Zustimmung zu den Kriegskrediten im August 1914 vor, die Verschmelzung der Arbeiterführung mit dem wilhelminischen, imperialistischen Obrigkeitsstaat.

Damit wurde auch der Ideologie vom „Sozialstaat“ nach dem 2. Weltkrieg Tür und Tor geöffnet. Die Erhöhung der „Arbeitgeber“anteile auf die Hälfte des so erkämpften indirekten oder Kollektivlohns nach der Währungsreform von 1948 führte erstmals zu deren hälftiger Beteiligung an den Aufsichtsgremien der Sozialversicherungsanstalten. Jetzt konnte sich der BRD-Staat als vermeintlich neutraler Schiedsrichter auch direkt in die Hoheit über die Kassen einmischen, die ursprünglich ein direkter Arbeiterversicherungsfonds waren.

Das tat er auch, um Pläne des Kapitals aus den Sozialversicherungskassen zu alimentieren, die einen wesentlichen Teil an der Reproduktion der Ware Arbeitskraft ausmachen und schon in ihrer Form verschleiern, dass es sich um den gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsfonds der Ware Arbeitskraft handelt (Aufbau Ost, Lastenausgleich…). Das Sozialversicherungswesen wird im Gegenzug nur zu einem geringen Teil vom Staat, aus Steuergeldern finanziert, überwiegend aber aus Beiträgen. Und wer finanziert den Staat, zahlt den Löwenanteil der Steuern? Wo der Staat „allein“ agiert, das ist in seiner alten Rolle als Armengesetzgeber für die pauperisierten Schichten, die bereits aus der Arbeitslosenversicherung herausgefallen sind (ALG II und ihre Vorläufer Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe). Der Umfang dieser Schichten hat sich bedeutend ausgeweitet durch die kürzere Bezugsdauer von ALG I. Gleichzeitig hat sich ihr Lebensstandard drastisch verschlechtert (Hartz IV-Gesetze), was den Niedriglohnsektor erst recht gefördert hat.

Das kommunistische Minimalprogramm für Mindestlohn und Mindesteinkommen innerhalb des Kapitalismus geht von allgemeinen Prinzipien aus: „…Arbeitslosengeld wird nötig zur Sicherung ihres und ihrer Angehörigen Lebensunterhalts. Die Höhe des Arbeitslosengeldes wird demokratisch von der Arbeiterbewegung beschlossen.“ (4) „In jedem Land kämpfen wir für einen gesetzlich garantierten Mindestlohn in einer Höhe, die von der Arbeiterbewegung und nicht von den Herrschenden bestimmt wird (…) Wenn die Kapitalisten keine Arbeit zur Verfügung stellen, fordern wir staatliche Arbeitslosenunterstützung in einer Höhe, die von der Arbeiterbewegung festgelegt werden soll.“ (5) Konkretisiert für Deutschland heißt das: Mindesteinkommen von 1.600 Euro bzw. 1.000 Euro plus Warmmiete für eine Bedarfsgemeinschaft. Diese Forderungen sind im Prinzip von der Erwerbslosenbewegung auf dem Höhepunkt der Mobilisierung gegen Hartz IV 2003/2004 und damit von den fortgeschrittensten Teilen der deutschen Arbeiterbewegung aufgestellt worden – damals bis zu 1.500 Euro.

Die Mindestlohnforderung darf natürlich nicht niedriger ausfallen, sollte aber auch nicht auf höherem Niveau angesiedelt sein. Ein sozusagen proletarisches Lohnabstandsprinzip verwerfen wir ausdrücklich. Der gesetzliche Mindestlohn dient als untere Reproduktionsbasis und mindert die Lohnkonkurrenz in der Arbeiterschaft. Damit liegt er im Interesse der gesamten Klasse, verkörpert ein politisches Ziel. Damit gelingt es den starken, gewerkschaftlich gut organisierten Bereichen, die schwach organisierten Sektoren ins Boot zu holen und sich den Rücken besser frei zu halten, um für Löhne oberhalb des festgezurrten Minimums kämpfen zu können. Umgerechnet auf eine 35-Stundenwoche ergibt das einen Stundenlohn von 11 Euro netto (13,50 brutto bei ca. 20% „Arbeitnehmer“anteil). Die Forderung muss klar zwischen netto und brutto unterscheiden. Außerdem muss das Bruttomindesteinkommen steuerfrei sein, damit das Mindesteinkommen nicht höher als der Nettomindestlohn ausfällt.

Unterschiede zwischen Mindestlohn und Mindesteinkommen

Das Mindesteinkommen soll ab jenem Alter gelten, wenn Menschen in Beschäftigung eintreten können. Das kann in manchen Ländern auch schon im Kindesalter sein, wenn diese in Lohnarbeit gezwungen werden. Für die BRD fordern wir ein Mindesteinkommen ab dem Alter, in dem Jugendliche arbeiten oder als Auszubildende eingestellt werden können, also ab 16.

Wenn SchülerInnen und in Berufsausbildung stehende junge Menschen ein Mindesteinkommen bzw. eine Mindestauszubildendenvergütung in gleicher Höhe bekommen sollen, erkennen wir damit ausdrücklich an, dass individuell im Rahmen der Kleinfamilie erbrachte Leistungen, die der Reproduktion der Ware Arbeitskraft dienen und die der Kapitalismus niemals adäquat indirekt, über den Markt vergesellschaften kann, wenigstens ans Licht der bürgerlichen Öffentlichkeit gezerrt gehören, um auf diesen „Schattensektor“ aufmerksam zu machen. Damit rückt aber auch die Frage der direkten Sozialisierung dieser Reproduktionsarbeiten in den Mittelpunkt (Lernen in selbstbestimmten und voll finanzierten Wohn-, Lebens- und Lerngemeinschaften von Jugendlichen und Lehrenden).

Mit der Forderung nach „Lohn für Hausarbeit“ eines Teils der Feministinnen aus den 1970er Jahren hat unser Herangehen methodisch nichts gemein. Erstens ist Hausarbeit keine Lohnarbeit, sondern schafft Gebrauchswerte für die Reproduktion der Haushaltsmitglieder. Zweitens wollen wir ihren privaten und ineffizienten Charakter gerade abschaffen, sie sozialisieren, um auch mehr frei disponible Zeit gerade für die proletarischen Hausfrauen schaffen, insbesondere aber Frauen, die gleichzeitig Lohnarbeit leisten, entlasten und hier v.a. die Mütter.

Die Sozialisierung der Reproduktionstätigkeit, die der Kapitalismus versteckt (und diskriminiert) wird durch die Forderung nach Mindesteinkommen erleichtert. Ganz allgemein wird die Diktatur des Proletariats, die Übergangsgesellschaft zum Sozialismus, eine Menge an Gütern und Dienstleistungen, die vom gesellschaftlichen Arbeitsaufwand und Gebrauchswert her betrachtet, den Forderungen nach Minimaleinkünften innerhalb des Kapitalismus entspricht, als erstes allen Angehörigen des Arbeiterstaates unentgeltlich zur Verfügung stellen. Damit wird die Grundversorgung der einfachen, durchschnittlichen Gesamtarbeitskraft dekommodifiziert, ihres Warencharakters entkleidet. Genau hier startet die Überwindung des Lohnsystems.

Wenn wir also von einem Mindesteinkommen sprechen, so sprechen wir von einem Mindesteinkommen für all jene, die arbeitslos sind, noch in Ausbildung stehen (z.B. StudentInnen), wegen Krankheit nicht mehr arbeitsfähig sind oder das Rentenalter erreicht haben. Der Terminus „Mindesteinkommen“ steht also für eine Mindesthöhe eines Stipendiums (für SchülerInnen und Studierende), eines Arbeitslosengeldes oder einer Rente (Invaliden- oder Altersrente). Ein solches Konzept unterscheidet sich grundlegend vom „bedingungslosen Grundeinkommen“.

Bürgergeld, Existenzgeld und bedingungsloses Grundeinkommen

Die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle ohne Arbeitszwang und Bedürftigkeitsprüfung (BGE) findet zunehmendes Interesse sowohl in den Medien wie in den sozialen Bewegungen. Götz Werner, Inhaber der Drogeriekette dm, und Prof. Dr. Thomas Straubhaar, Leiter des von der IHK Hamburg mitfinanzierten Hamburger Weltwirtschaftsinstituts HWWI, dürfen sich ausführlich über ihr Projekt auslassen.

Modelle der Rechten …

Thüringens ehemaliger Ministerpräsident Althaus (CDU) und die FDP setzen sich für das Bürgergeld ein. Das „solidarische Bürgergeld“ vertritt Althaus mit Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung. 800 bzw. 400 Euro monatlich soll es betragen und über eine Einkommenssteuer von 50 bzw. 25% finanziert werden, die mit dem Bürgergeld verrechnet wird. Zusätzlich fiele eine Lohnsummensteuer an. Jede/r muss dann allerdings zusehen, wie er/sie für Alter und Krankheit vorsorgt. Die Arbeit„geber“ zahlen keine Sozialversicherungsanteile mehr. Die CDU rechnet allein mit einer „Gesundheitsprämie“ von 200 Euro als Krankenkassenmonatsbeitrag.

Götz Werners Grundeinkommen soll ebenfalls alle Sozialleistungen abdecken und von anfangs 900 auf 1.500 Euro ansteigen – für jede/n! Bezahlt werden soll es allerdings über eine Anhebung der Mehrwertsteuer auf 48%; alle anderen Steuern sollen abgeschafft werden mit dem „Vorteil“ für die Unternehmen, überhaupt keine Steuern mehr bezahlen zu müssen und somit konkurrenzfähiger gegenüber dem Auslandskapital zu werden. Der Wegfall der sog. Lohnnebenkosten trägt ein Übriges dazu bei.

Praktisch alle bürgerlichen VerfechterInnen des BGE oder „Bürgergelds“ (CDU, GRÜNE, Werner) beschränken die Zahlungen auf „deutsche Staatsbürger“. Den hier lebenden Nicht-Deutschen ginge es dann noch dreckiger als heute schon, weil alle Sozialtransfers entfielen.

…und der Linken

Ein Großteil der heutigen Linken favorisiert dagegen das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) ohne Bedürftigkeitsprüfung für ausnahmslos alle Menschen im Staatsgebiet. Auch dessen Höhe in seiner linken Variante scheint mit der unseren auf Augenhöhe.

Triumphierend verweisen diese Linken gleich auch noch darauf, mit dem Wegfall der Bedarfsprüfung erledige sich gleich die ganze „Sozialstaats“bürokratie mit. Ein unfreiwilliger, aber artiger Diener vorm Profitstreben des Kapitals, das gerne an den Kosten des „Sozialstaats“ spart! Außerdem stellt die Höhe des BGE bereits im Vorfeld eine Bedarfsprüfung dar – und zwar pauschal für Alle!

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen forderte im Mai 1998 ein dynamisiertes, unpfändbares Existenzgeld von monatlich 1.500 DM plus tatsächliche Wohnkosten bis zu durchschnittlich 500 DM monatlich für eine Einzelperson. (6)

BildungsbürgerInnen wie Sascha Liebermann und die Gruppe ‚Freiheit statt Vollbeschäftigung‘ locken das Kapital mit Versprechen, dass das BGE seine Beschäftigten ansporne, hoch motiviert und freiwillig dessen Rendite zu steigern. Katja Kipping (DIE LINKE) favorisiert einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,60 Euro/Stunde in Verbindung mit einem Grundeinkommen. VertreterInnen des „Runden Tischs der Erwerbslosen- und Sozialhilfeorganisationen“ bzw. des „Netzwerk Grundeinkommen“ konnten die Forderung im Aufruf zur bundesweiten Demonstration am 3.6.2006 in Berlin teilweise unterbringen. Dieser verlangt quasi als Übergangsforderung zum BGE für alle im ersten Schritt die Erhöhung des ALG II für alle Erwerbslosen auf 500 Euro plus volle Kosten der Unterkunft. Der Arbeitskreis von ATTAC „Genug für alle“ unterstützt die Forderung nach einem BGE; sein Mitglied Werner Rätz sitzt auch im „Netzwerk Grundeinkommen“.

Zwischen Realpolitik und Utopie

Diese Linken verknüpfen die Existenzgeldforderung aber auch mit dem Anspruch einer Überwindung klassischer Sozialpolitik:

„An vier Punkten unterscheidet sich der utopische Charakter des Existenzgeldes von herkömmlichen sozialpolitischen Mindestsicherungskonzepten:

– in der Anspruchshöhe des Existenzgeldes (wirkliche Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum, statt Teilhabe am Existenzminimum),

– in der Entkoppelung des Existenzgeldes vom Zwang zur Lohnarbeit

– in der Infragestellung der herrschenden Arbeitsbegrifflichkeit und

– in der Kritik an der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung.“ (7)

Auch wenn es in der Linken Vorbehalte gegen die Finanzierung des BGE über die Mehrwertsteuer gibt, so grassieren doch unter ihren BefürworterInnen des Modells die ärgsten Flausen: das BGE beseitige jede Arbeitspflicht. Schließlich finanziere der Staat es aus Steuern. Wer aber finanziert den Staat und erzeugt das Steueraufkommen? In kleinbürgerlichen Nischen abseits jeden Gedankens an Produktion kann man auf solche Flausen kommen, nicht aber als MarxistIn!

Die Frauengruppe „Glanz der Metropole“ kritisierte die Existenzgeldforderung durchaus richtig: „Sie wirkt auf der einen Seite wie eine realpolitische Forderung, die alte Modelle nach einer Umverteilung von Reichtum, nach gleichem Lohn für alle usw. gar nicht mehr berücksichtigt. Auf der anderen Seite verbreitet sie einen Hauch von Utopie, der in der Vorstellung von Lohnarbeitsverweigerung liegt. Dieser quasi sozialrevolutionären Seite wollen wir zuerst nachgehen.

Die Idee, es könnte mit einem halbwegs sicheren finanziellen Hintergrund auch ein anderes Leben entstehen, erinnert einige von uns an die 80er Jahre, als die Kritik am Lohnarbeitsmodell politische Kultur einer deutschen (autonomen) Linken war. Die Verweigerung von Lohnarbeit schien das Versprechen eines gemeinschaftlich organisierten, mit Sozi und Arbeitslosenhilfe finanzierten, selbstbestimmten Lebens und politischen Agierens mit sich zu bringen.“ (8)

Man muss Wildcats Strategie des kollektiven Kampfs gegen die Arbeit nicht teilen, wohl aber die Kritik dieser ursprünglichen Autonomen (Operaisten) an ihren Politzöglingen. Sie haut in die gleiche Kerbe:

„Mit dem Scheitern der proletarischen Kämpfe in den 70er Jahren war die Strategie des kollektiven Kampfs gegen die Arbeit durch das individuelle Verhalten und die Lebensweise der Verweigerung der Arbeit ersetzt worden (…) Die Ablehnung regelmäßiger Lohnarbeit wurde zu einem verbreiteten Lebensgefühl in diesen Bewegungen, aber es gab keine Verbindungslinien mehr zum Kampf gegen die Arbeit in der Produktion, „Autonom“ wurde zu einem Ausdruck der Abtrennung von den Konflikten in der Ausbeutung.“ (9)

Wie steht es um die Entkoppelung vom Lohnarbeitszwang, wie um die Kritik an der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung?

„Was die Arbeit zu Hause angeht, gibt es für die meisten ArbeiterInnen gar keine Koppelung von Arbeit und Lohn und hat es sie auch noch nie gegeben (…) es ginge darum, „unsichtbare“ Arbeit sichtbar zu machen, anstatt sie als Nicht-Arbeit (…) zu interpretieren (…) mit dem Abbau sozialstaatlicher Mechanismen wird heute sogar von einer zusätzlichen Reprivatisierung der Hausarbeit durch Abbau von Kindergärten und Pflegediensten gesprochen (…) weisen wir darauf hin, dass es eine patriarchale Modernisierung in Bezug auf Hausarbeit gibt. Ein zunehmender Teil der Hausarbeit wird unterbezahlt von Hausangestellten (…) geleistet.“ (10)

Was ist vom Ausstieg aus der Lohnarbeit in eine selbstbestimmte Subsistenz-lebensweise zu halten?

„Wenn heute auf „informelle Ökonomie“ und „Subsistenzproduktion“ als Ansatz für emanzipative Gesellschaftsveränderung gesetzt wird, muss berücksichtigt werden, dass diese Formen im Zuge der kapitalistischen Restrukturierung derzeit ohnehin massiv durchgesetzt werden (…) die internationalen Konkurrenzen zwischen unterschiedlichen Lohnabhängigengruppen werden härter und die Spaltung zwischen (…) Normalarbeit und den entformalisierten Bereichen prekärer und „deregulierter“ Beschäftigung wächst.“ (11)

Abschaffung des Arbeitszwangs?

Auch die Abschaffung jeden Arbeitszwangs ist eine kleinbürgerliche, reaktionäre Utopie. Selbst die kommunistische Gesellschaft wird ihren Stoffwechsel mit der Natur nur unter Verausgabung von Arbeit verrichten können. Auf diesen Stoffwechsel kann keine menschliche Gesellschaft bei Strafe ihres Untergangs verzichten. Der kommunistische Zukunftsmensch wird vielleicht diesen Rest an Arbeitspflicht zum Zwecke des Überlebens der Gattung als (immer weiter abnehmenden) Zwang empfinden. Gleichzeitig wächst die freie Zeit jenseits des Kampfs ums unmittelbare Leben für Alle, die Beschäftigung mit sich selbst, mit der Entfaltung der menschlichen Kreativität etc. Diese Arbeit wird dann zum ersten Bedürfnis.

Nur in Klassengesellschaften ist der Arbeitszwang aufgehoben – für die Herrschenden! Darum wird endlich erstmals nach der Epoche der Urgesellschaft im Arbeiter- (und Bauern-)staat der Arbeitszwang auf alle Gesellschaftsglieder ausgedehnt – einschließlich der ehemaligen Ausbeuter!

Im Kapitalismus existiert ein Zwang zur Lohnarbeit für alle, die über kein Kapital oder Produktionsmittel verfügen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten – in der BRD sind das über 90%! Dieser Zwang wirkt indirekt, ist doch der Lohnsklave frei, seine Arbeitskraft stundenweise zu vermieten – er steht (im Gegensatz zu antiken Sklaven und Fronbauern) in keinem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis zu seinem Ausbeuter. Weil er allerdings doppelt frei ist – nämlich auch von Eigentum an Produktionsmitteln – ist diese spezifische Freiheit nicht nur mit Arbeitszwang vereinbar, sondern geradezu prägend für dessen Ausübung.

Dass Erwerbslose – und Beschäftigte – sich gegen staatlichen Zwang wehren (Ein-Euro-Jobs, untertarifliche Bezahlung, unterqualifizierte Arbeitsverhältnisse, Leiharbeit, Eingliederungsvereinbarungen, sinnlose Bewerbungen, Vorstellungs-gespräche und Trainingsmaßnahmen), ist zunächst absolut berechtigt.

Den AnhängerInnen des BGE geht es jedoch um die Beseitigung jeder Arbeitspflicht. Mit Verweis auf den Staat scheint denn auch das Thema, wer den Unterhalt für die Fordernden übernimmt, abgehakt. Die Gelder für die Erwerbslosen sind aber nur zum geringen Teil Staatsausgaben, sondern v.a. Lohnbestandteile, die in Form von Lohn-. Verbrauchssteuern und Sozialversicherungsbeiträgen aufgebracht werden. Die Gesamtkosten der Arbeitslosigkeit gehören zu den Gesamtreproduktionskosten der Ware Arbeitskraft; darum schlagen sie beim Kapital, dem eigentlichen Verursacher der Erwerbslosigkeit, auch als „Lohnneben- bzw. Arbeitskosten“ zu Buche. Das nicht zu erkennen, bedeutet auf das ideologische Geschwätz vom „Sozialstaat“ hereinzufallen.

Dabei hat der bürgerliche Staat „nur“ den solidarischen Erwerbstätigen die Verwendung ihrer Lohnbestandteile aus der Hand genommen, sie also enteignet. Dies steigert die Dank der Form des Arbeitslohnes eh schon vorhandenen Illusionen der Lohnsklaven; nicht nur, dass der Arbeitslohn als Äquivalent für die geleistete Arbeit erscheint, die Lohnnebenkosten erscheinen als Geschenk vom Unternehmer, der damit zum Sozialpartner mutiert. Und der bürgerliche Klassenstaat kann sich als neutrale Instanz in dieser heiligen Dreifaltigkeit darstellen sowie als Sozialstaat, der ab und an mit einem Obolus die Defizite der Sozialversicherungen deckt – sich allerdings auch aus diesem Füllhorn gelegentlich nimmt, um seine Defizite zu decken bzw. kapitalistische Unternehmen zu subventionieren. Von den Werktätigen eine bedingungslose Verpflichtung zu verlangen, seine Schulden zu finanzieren, weil er so sozial sei, erleichtert nicht die notwendige Kampfeinheit des Proletariats, sondern erschwert sie!

Des weiteren müssen „zwei gängige Vorstellungen“ kritisiert werden: „Sozialleistungen seien arbeitsfreies Einkommen und dies sei möglich, weil der Sozialstaat von der Arbeiterbewegung „erkämpft“ worden sei. Historisch betrachtet war der Sozialstaat“ zuallererst ein Bollwerk gegen die revolutionäre Drohung. Mit dem Ausdruck „soziale Frage“ wurde der Klassenantagonismus begrifflich entschärft und seine prinzipielle Lösbarkeit durch Sozialreform unterstellt. Ein staatlicher Schutz sollte garantieren, dass die ProletarierInnen ihre Arbeitskraft dauerhaft zur Verfügung stellen – ohne zu revoltieren (…) Zunächst hatten die ProletarierInnen tatsächlich kein „Vaterland“ – mit dem Anspruch auf soziale Leistungen „ihres“ Staates (…) Mit der Herausbildung des „Sozialstaats“ war es wichtig, zwei verschiedene Prinzipien gegenüberzustellen: Versicherung und Fürsorge. Damit wurde eine scharfe Trennlinie zwischen „Paupern“ und „Arbeitern“ gezogen. Die Konstruktion der Sozialversicherung war von Vollbeschäftigung und nur konjunkturellen Beschäftigungskrisen ausgegangen; die extrem diskriminierend gestaltete Sozialhilfe war nicht für die massenhafte Absicherung bei Arbeitslosigkeit vorgesehen.“ (12)

Die Kombilohnfalle

Die idealistische Herangehensweise der GrundeinkommensanhängerInnen setzt sich fort, wenn die Gefahr ignoriert wird, dass das BGE zu einer erheblichen Ausweitung von Kombilöhnen führen wird und damit zu einer drastischen Lohnsenkung. Schon der frühere Präsident des DIHT, Stihl, bezeichnete bereits 1997 den Kombilohn als „trojanisches Pferd, das wir bei den Gewerkschaften und den Sozialpolitikern aufstellen (…) Wir können nicht auf einen Schlag das gesamte Sozialniveau absenken, ohne dass die Sozialpolitiker (…) aufschreien“. (13)

Natürlich wirkt die Staatszahlung BGE wie eine Lohnsubvention und führt damit zu drastischen Lohnsenkungen. Das ist ja auch der Grund, warum die Werners und Straubhaars dafür eintreten! Die „linken“ BGE-Idealisten nehmen das aber offensichtlich in Kauf, weil sie u.a. der Einbildung verfallen, das Geld falle wie im Märchen von den Sterntalern vom Himmel an den irdischen Staat und von dort aus an sie. Dass damit auch die Finanzierungsbasis des BGE untergraben wird und ihre Illusionen von Einkommen, die von Lohnarbeit entkoppelt sind, auf sie zurückfallen werden, weil damit auch das BGE immer geringer ausfallen muss, ist eine weitere Lektion des Kapitals für KleinbürgerInnen.

Das BGE stärkt also nicht die Position der Erwerbstätigen, wie seine „linken“ BefürworterInnen behaupten, sondern schwächt sie. Es schwächt die noch vorhandene Kollektivmacht der Gewerkschaften und führt auch zur Senkung der Lohnbestandteile, die für die nächste Arbeitergeneration vorgesehen sind, durch „Staatsknete“ für Kinder und Jugendliche sowie zum Wegfall jeglicher Lohnnebenkosten (Rente, Gesundheits-, Arbeitslosenversicherungen).

Außerdem ist schon die Behauptung falsch, dass es auf jede Bedürftigkeitsprüfung verzichte. Die findet natürlich allein dadurch statt, wie viel Prozent des Arbeitseinkommens zur Finanzierung des BGE herangezogen werden kann und durch die Festlegung seiner Höhe. Einige AnhängerInnen fordern weitere Bedürftigkeitsprüfungen indirekt, indem sie von „angemessener“ Warmmiete oder BGE erst ab 18 Jahren sprechen.

Richtigerweise merkt der Revolutionär Sozialistischer Bund (RSB) kritisch zu dieser Position an: „Von Seiten der Rechten zielt das BGE ganz eindeutig auf die flächendeckende Einführung des Kombilohns und die Zerschlagung der Sozialsysteme. Götz Werner spricht offen aus, welche Zukunft er dann für die Gewerkschaften sähe: Sie wären dann „überflüssig, denn keiner müsse ja mehr seine Arbeitskraft verkaufen.“ (14)

Menschenrecht BGE?

Was die Arbeiterklasse braucht, ist Solidarität zwischen Beschäftigten, Arbeitslosen und Gewerkschaften. Das BGE schwächt aber die Kollektivmacht der Gewerkschaften. Stärken tut es den Glauben an höhere Mächte, an Chimären wie die Sozialstaatsideologie, an das individuelle „Menschenrecht“ auf arbeitsfreies Einkommen. MarxistInnen wissen: das Recht kann nie höher stehen als der wirtschaftliche Gesellschaftsunterbau! Die Menschenrechte enthalten keine Sozialparagrafen. Sie verkörpern kein zeitloses, über den Klassen stehendes Universalrecht, sondern den von jeder persönlichen Abhängigkeit von der mittelalterlicher Autokratie befreiten durchschnittlichen Besitzbürger. Die waren 1776 in der US-amerikanischen Verfassung sehr wohl mit der „Negersklaverei“, in der Großen Französischen Revolution mit der Aberkennung der Rechte der Besitzlosen wie in Britannien mit der Verweigerung des Wahlrechts für das Proletariat vereinbar. Demokratische und soziale Errungenschaften musste sich die Arbeiterbewegung selbst erkämpfen. Gleichzeitig mit der bürgerlichen Menschenrechtsideologie entstand nicht zufällig auch die des Rassismus, wo unveränderliche anatomische Merkmale zur Aberkennung der Menschenrechte herangezogen wurden – eben weil Kolonialvölker nicht als Menschen galten.

Das Vertrauen auf höhere Wesen, auf Menschenrechte für die Armen wird in den Liedzeilen der „Internationale“ bereits als leere Worte denunziert. Im Kapitalismus kann das „Menschen“recht“ auf Arbeit wie auf ein Einkommen ohne Arbeitszwang außer für eine winzige, privilegierte Minderheit nur heißen: die „Freiheit“ und das „Recht“, seine Arbeitskraft verkaufen zu dürfen!

Mittels der scheinbar universellen Menschenrechte begründen Rätz u.a. die Zahlung des BGE an alle Menschen – einschließlich der VertreterInnen des Kapitals, der Merkels wie der Hundts. „Es geht (…) zuallererst um einen solidarischen Umgang miteinander“. (15) Bedingungslose, uneingeschränkte deutsche IdealistInnen wie Rätz & Co. verkennen den Klassencharakter der bürgerlichen Menschenrechte völlig.

Was wir brauchen, ist Solidarität unter beschäftigten wie arbeitslosen Lohnabhängigen, keine „neue“, menschenrechtliche Verklärung der Sozialpartner-schaft mit dem Unternehmertum. Rätz argumentiert ähnlich den Gewerkschaftsvor-ständen, wenn die den Sozialabbau zuerst mit dem Argument ablehnen, weil damit die Binnennachfrage und der Kapitalprofit sinken würden.

BGE: Hoffnung für Arbeitslose?

Im ganzen Land haben Arbeitslosenvereine, Organisationen oder Gliederungen der Gewerkschaften Forderungen nach dem Grundeinkommen übernommen – ob nun Existenzgeld, Bürgergeld oder BGE genannt. Dies ist Ausdruck der sozialen und finanziellen Verhältnisse der Arbeitslosen, die staatlich verordnete Armut durch die Hartz-Gesetze hat politische Spuren hinterlassen. Die Ausweglosigkeit von Ein-Euro-Arbeitszwang, Bedürftigkeitsprüfung und Zwangsumzügen nähren Illusionen und Hoffnungen in eine andere soziale Absicherung der Arbeitslosen. Alle Forderungen, die ein „Mehr“ an Mitteln und Rechten versprechen, werden daher von den Betroffenen dankend angenommen.

Besonders die Langzeitarbeitslosen haben die Hoffnung auf eine Lohnarbeit verloren, Jahre von „Qualifizierung“ und Bewerbungszwang mit gleichzeitigem sozialen Abstieg haben das politische Bewusstsein der Armen und Arbeitslosen geprägt. Rätz und Co. nutzen die Mischung aus Verzweiflung und Hoffnung auf jede nur irgend mögliche Verbesserung, so dass etliche Arbeitslose diesen Versprechungen auf den Leim gehen. Mit der Übernahme dieser Forderungen können die Arbeitslosen aber nicht den politischen Kampf für die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse führen, mit diesen Forderungen verschärfen sie nur die vorhandene Spaltung von Beschäftigten und Arbeitslosen.

Die ökonomischen Forderungen der Arbeitslosen können nur gemeinsam mit den Gewerkschaften und den Beschäftigten durchgesetzt werden – denn beide haben objektiv gleiche Interessen gegenüber dem Kapital.

Illusionen in ein BGE vertiefen nur die Spaltung innerhalb der Lohnabhängigen. Forderungen nach einer besseren Ausstattung der Arbeitslosen müssen mit Forderungen nach Mindesteinkommen verbunden werden.

Arbeitslose und Arme können keiner neuen „Verteilungsgerechtigkeit“ hinterherlaufen, der bürgerliche Staat kann und will nicht mehr verteilen, dass haben die Hartz-Gesetze gezeigt. Arbeitslose müssen gemeinsam mit den Beschäftigten gegen die kapitalistische Ordnung der Produktionsverhältnisse kämpfen, nur antikapitalistische, kommunistische Produktionsverhältnisse können ein „Recht“ auf Arbeit und Einkommen verwirklichen, dies muss die Forderung der Arbeitslosen sein – Illusionen in den bürgerlichen Staat müssen endgültig begraben werden!

Mit Hilfe von Geld sollen Freiheit vom Arbeitszwang der Lohnarbeit, von Armut und Existenzangst, die Autonomie der Menschenwürde sowie Solidarität und Gerechtigkeit etc. erreicht werden. Geld aber setzt Warenproduktion, Lohnarbeit, Kapitalverwertung und Arbeitszwang voraus. Ein schöner archimedischer Hebel, um die Welt von Kapital und Lohnarbeit irgendwie „alternativ“ aus den Angeln zu heben!

Überwindung der Arbeitsgesellschaft?

Einen vermeintlich schlauen Versuch, die „Arbeitsgesellschaft“ zu überwinden, stellt André Gorz‘ „Auswege aus der Misere“ dar (16). Er unterscheidet fremdbestimmt-abhängige „Lohnarbeit“, „Eigenarbeit“ als Produktion lebensnotwendiger Gebrauchsgüter und Dienstleistungen (Subsistenzarbeit) und „autonome Tätigkeiten“ (der Bereich freier Entfaltung). Gorz will die vom Industriekapitalismus systematisch ausgelöschte Eigenarbeit reaktivieren und so das Ausmaß autonomer Tätigkeit erweitern. Lohnarbeit soll weiter bestehen bleiben, allerdings mit drastisch reduzierter Arbeitszeit. Die gewonnene Freizeit und ein garantiertes Grundeinkommen bilden die Basis für eine „alternative nichtkapitalistische Wirtschaft der Bevölkerung“. Das BGE fungiert hier über die materielle Existenzsicherung hinaus quasi als Kapital für die technisch-materielle Ausgestaltung des „autonomen“ Sektors.

Gorz‘ Strategie basiert auf der grundfalschen Annahme, die Ablösung der „fordistischen Industriegesellschaft“ gehe mit einer Aufhebung der Lohnarbeit schwanger. Bildung und Wissen seien die einzige, „neue“ Form von Kapital. Dieses Humankapital verdränge Lohnarbeit und konstantes Kapital aus der Wertschöpfung. Die Arbeitszeit habe aufgehört, Maß des Tauschwertes zu sein. Zudem verfüge der postfordistische Arbeiter in Person über sein unveräußerliches Humankapital. Folglich spielt sich in seinem Kopf die Überwindung der Arbeitsgesellschaft ganz lautlos ab, weil sie selbst auf dem absteigenden Ast sei und im Postfordismus objektiv auf ihre eigene Aufhebung zusteuere.

Welch „linker“ Irrtum! Konträr zu seinen Grundannahmen weitet sich gerade im „Postfordismus“ weltweit die Lohnarbeit aus, während die Subsistenzproduktion (Kleinbauernschaft, Handwerk) dramatisch unterminiert und das „Humankapital“ aus Bildung und Wissen weniger autonom denn je immer direkter als Lohnarbeit dem immer gewaltiger akkumulierten Fixkapitalmassen subsummiert wird. Gorz‘ Morgenluft witternder Bildungskleinbürger stellt eine Fata Morgana in der Oase Proudhonscher Sozialromantik dar. Die Prognosekraft des Marxismus konnte und muss dieser sowohl im 19. und erst recht im 21. Jahrhundert den gerechtfertigten Garaus machen.

Selbst der windelweiche Linksreformist Joachim Hirsch, der sich mit dem Für und Wider des BGE schwertut, kommt nicht umhin, den Finger in diese Wunde zu legen.

„Das Gorzsche Konzept hat einen eigentümlichen Zwittercharakter. Einerseits lässt er das kapitalistische Produktionsverhältnis bestehen, auf der anderen Seite möchte er einen ökonomischen Sektor schaffen, der nicht nach kapitalistischen Prinzipien funktioniert. Selbst wenn man davon ausgeht, dass auf diese Weise eine schrittweise Überwindung des Kapitalismus innerhalb desselben möglich ist – wogegen einige ernst zu nehmende Argumente sprechen, die schon Marx in seiner Proudhon-Kritik formuliert hat -, setzt dies langwierige und schwierige soziale Auseinandersetzungen und Kämpfe voraus.“ (17)

Der „eigentümliche Zwittercharakter“ liegt denn auch in der Gorzschen Zugehörigkeit zur deklassierten Intelligenz, die – vermeintlich über der Klassengesellschaft stehend – als selbst ernannte „Vordenker“ allerlei abgestandenen Wein in neuen Schläuchen als Zukunftsvisionen unters staunende Volk zu verschütten sich bisweilen bemüßigt fühlt.

BGE als alternatives Gesellschaftsmodell?

Aber: es ist doch genug Geld zum Umverteilen nach unten da, sagen alle BefürworterInnen des BGE. Trotzdem ist die ganze Entwicklung seit Jahrzehnten mit zunehmender Tendenz in die andere Umverteilungsrichtung gegangen.

Wieder diese pfäffische „Kapitalkritik“! Geld steckt nicht im Sparstrumpf, sondern muss sich in der Hand der Reichen, der Banken, Versicherungen und Konzerne vermehren. Erst dann verwertet es sich als Kapital. Dies tut es um so schwerer, je reicher es schon ist (Tendenz zum Fall der Durchschnittsprofitrate). Akkumulation und Verelendung sind kein Widerspruch, sondern bedingen sich gegenseitig. Wer sich um Produktion nicht kümmert, muss natürlich die Verteilung(sgesetze) für das Bestimmende statt das Untergeordnete, Abgeleitete halten. Schon sprießen soziale Flickschuster„konzepte“ von Nehmen und Geben hervor, dass es einem warm ums Herz wird, weil der Kapitalismus als solcher ja friedlich verschont bleibt.

Ja, wenn nur seine Verwertungsgesetze nicht wären! Natürlich konzentriert sich immer mehr Reichtum in immer weniger Händen. Wie auch sonst? Im Gegensatz zu unseren Sozialromantikern, die kopfschüttelnd über die immer weiter klaffende Gerechtigkeitslücke jammern, erkennen MarxistInnen, dass das viele Geld eben nicht als Zahlungs- und Zirkulationsmittel fungiert, sondern als Anlage suchendes Kapital. Deshalb ist es kein Bruch in der ansonsten harmlosen kapitalistischen Logik, sondern seine Essenz, dass Kleinunternehmen zunehmend pleite gehen, dass das Monopolkapital immer dreistere Angriffe auf mühsam erkämpfte proletarische Errungenschaften startet, ja starten muss, um die sinkende Rendite (tendenzieller Fall der Profitrate) aufzufangen, insbesondere für das überschüssige Kapital in Finanzanlagen. Nicht trotzdem, sondern gerade wegen der zunehmende Zwang zur Umverteilung von unten nach oben!

Unsere sozialen „Visionäre“ meinen wirklich, mittels des BGE den Arbeitszwang aus dem Kapitalverhältnis heraus operieren zu können wie eine Geschwulst. Kreativität und Motivation würden gesteigert, das Kapital stünde profitabler als ohne Arbeitszwang da – und es brauche sich bei Rationalisierungen keine Sorgen mehr um entlassene Mitarbeiter zu machen, könne also richtig damit loslegen. Ein Bündnis mit den SachwalterInnen des Kapitals gegen Arbeitszwang ist genauso illusionär wie das für Arbeit. BGE-BefürworterInnen und Gewerkschaftsspitzen sind zwei Seiten der falschen Medaille. Der Abschaffung des Arbeitszwangs stehen nicht in erster Linie die auf Lohnarbeit fixierten Stumpfsinnigen im Weg, die keinen andern Sinn und Inhalt in ihrem Leben finden, wie der „aufgeklärte akademische Sozialtüftler“ meint, sondern das Kapitalverhältnis.

Sätze wie folgende entlarven den Intellektuellendünkel ihres Verfassers:

„Diese Frage dürfte eigentlich nur von denjenigen gestellt werden, für die Arbeit eine widrige Nötigung ist und die deshalb nicht einsehen, warum andere sich ihr entziehen dürfen, wenn sie sich selbst ihr unterwerfen müssen. Diejenigen, für die eine Arbeit Wert hat, die sie als Selbstverwirklichung und Selbstbehauptung ansehen und nutzen können, müssten die Meinung vertreten, dass Lust und Freude am Arbeiten mit Arbeitszwang unvereinbar sind“ (18)

Hier bekommt die Arbeit ohne Tauschwert erst wirklichen Wert „beigemessen“. Die höheren Weihen der „Entsagung“ des Lohnarbeitszwanges geraten im Munde dieses „linken“ Schwätzers zu einem Schlag ins Gesicht für die gesamte lohnabhängige, überwältigende Mehrheit der Bevölkerung.

Sozialer Kapitalismus?

Auch wenn linke VertreterInnen des BGE im Unterschied zur Mehrheit das BGE durch höhere direkte Steuern – allerdings einschließlich der Lohnsteuer – und nur durch eine leicht erhöhte indirekte Umsatzsteuer finanzieren wollen, geht ihnen vor lauter Sorge um die Menschenrechte verloren, dass die steigende Arbeitslosigkeit vom Kapital selbst verursacht wird und schon deshalb nicht „von allen Menschen“ finanziert werden darf.

Das BGE-Modell setzt den „Entwurf“ eines sozialen Kapitals an die Stelle des wirklichen. Die Sphäre der Produktion, in der der Mehrwert erst entsteht, tritt ganz hinter die Verteilung zurück. Es reiht sich ein in die Riege von Bischöfen, Gewerkschaftsführern und Linkspartei-VorständlerInnen, die dem Kapital schon lange klarmachen möchten, dass es sich soziale Wohltaten zu seinem eigenen langfristigen Nutzen auch leisten möge – und könne. Es missbraucht die Sehnsucht nach einer Gesellschaft ohne Armut und Arbeitszwang, weil es sie auf dem Boden der Kapitalverwertung befriedigen will.

Kapitalismus? Gewiss, aber ohne seine Folgen! Die Vorstellungen hinter dem Konzept BGE haben bei allen graduellen Unterschieden einen gemeinsamen Charakter: wie das BGE keine selbstständige wirtschaftliche Basis hat, so auch immer weniger die kleinbürgerlichen, nichtausbeuterischen WarenproduzentInnen. Die Bedingungslosigkeit der Zahlung soll nicht nur vor Lohnarbeit, sondern auch vor den untragbaren Risiken des Verkaufs von Waren und Dienstleistungen schützen. Der Arbeitsbegriff wird auf Nischen, Randbereiche und Privatleben ausgedehnt. Zufrieden, wenigstens an dem im Wesentlichen in riesigen Konzernen erwirtschafteten Reichtum teilzuhaben, ohne den sie gar nicht existieren könnten – denn auf diese Beteiligung reduziert sich das „andere Gesellschaftsmodell“ schließlich – konzedieren sie die Möglichkeit sozialer, gerechter Kapitalverwertung und eines Sozialstaats.

Allen diesen „linken“ Illusionen liegt der Glaube an soziale Gerechtigkeit, an eine im Grunde vernünftige Produktionsweise zugrunde, deren Ursachen und Triebfedern man nicht in Frage stellen möchte, aber deren Konsequenzen einem doch zuweilen Angst und Schrecken einjagen. Die Arbeiterbewegung ist gut beraten, auf den Klassenkampf zu setzen statt auf eine weitere „höhere“ Form von Sozialromantik, eine „neue“ menschenrechtliche Verklärung der Sozialpartnerschaft. Die einigende Form all dieser Forderungen ist schließlich nichts weiter als ein einziger Appell an „Einsicht und Vernunft“ derer da oben zu einem höheren Zweck: der Erhaltung des sozialen Friedens zwischen den Klassen. Das ist die ultima Ratio der kleinbürgerlichen Mittelposition zwischen Kapital und Lohnarbeit, die scheinbar über und neben dem Ausbeutungsverhältnis schwebt.

Ein besonders perfides Beispiel für die „innovativen“ Gedankengänge der BGE-BefürworterInnen ist die Idee des postfordistischen Sozialpakts:

„Die Neudefinition eines neuen postfordistischen Sozialpakts (…) Das Bürgereinkommen ist also die modernste Form, die mit dem aktuellen flexiblen Akkumulationsregime kompatibel ist, möglich durch einen Eingriff in die Wiederverteilung der Einnahmen aus der immateriellen Produktivität, die heute in offiziellen Statistiken verschwinden, aber jenen Reichtum produzieren, der etwa für die internationale Finanzspekulation benutzt wird und Ursprung der modernsten Formen gesellschaftlichen Ausschlusses ist (…) ein Beispiel für radikalen Reformismus, weil er sich der Logik widersetzt, die der Einkommenspolitik innewohnt wie auch der gewerkschaftlichen Konzertierung und der Flexibilisierung und Prekarisierung des Arbeitsmarktes und die kompatibel ist mit den Notwendigkeiten der kurzzeitigen Profitabilität von Unternehmen (…) Das Bürgereinkommen ist Gegenmacht zur Versklavung durch die Arbeit (…) Denen, die sich den Produktionshierarchien nicht unterwerfen, Geld zukommen zu lassen – und damit Kaufkraft – bedeutet, monetäre Formen von Gegenmacht zu entwickeln.“ (19)

Die „immaterielle Produktivität“ dieser Erklärung ist gleich Null, kurz: (post)autonomer geistiger Tiefflug! Ließ Gorz den Kapitalismus am versiegenden Mehrwert verrecken und ein neues „immaterielles Kapital“ in „Bildung und Wissen“ des Bildungskleinbürgers seinen Platz einnehmen, so legt Fumagalli eine „kreative“ Neuschöpfung des Wertgesetzes vor: den offiziellen Statistiken entzogene immaterielle Produktivität, die aber als der Finanzspekulation dienlicher Reichtum leibhaftige Wiederauferstehung feiert. Das ist fast biblisch, Herr Wirtschaftsexperte und Sozialpaktingenieur!

„Die meisten linken VertreterInnen des BGE sind nicht nur auf einen individuellen Ausweg aus der Lohnarbeit aus. Sie lehnen es rundweg ab, die Teilung der Gesellschaft in antagonistische Klassen als Ausgangspunkt aller Überlegungen zu machen. Wer die Klassengesellschaft zu einem sekundären Merkmal macht und statt dessen die „Arbeitsgesellschaft“ als den Kern des Übels betrachtet, der wird naturwüchsig keinen Zugang zu den Erwerbstätigen finden, die sich in dieser Gesellschaft abrackern müssen (…) Da das Kapital kein Interesse an der Ausschaltung der Konkurrenz unter den Lohnabhängigen hat, ist es vollkommen undenkbar, dass es eine gesellschaftliche Lösung akzeptieren würde, nach der allen Menschen eine ausreichende Grundsicherung zuteil wird, die es ihnen erlaubt, ohne Arbeit am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen (…) Den Reichtum beim Kapital zu holen, also mindestens die Profite anzugreifen, steht ausdrücklich nicht auf dem Programm der Verfechter des BGE, auch nicht bei den Linken. Schließlich wollen sie mit ihren Modellrechnungen nachweisen, dass das BGE ‚finanzierbar ist‘ und sie wollen auch das Kapital davon überzeugen, dass dies eine gute Lösung sei.“ (20)

Diese Sätze des RSB sprechen für sich. Dass die BGE-VerfechterInnen sich wohl keinen Zugang zu den Erwerbstätigen verschaffen werden ist deshalb nur gut!

Eine richtige Kritik am BGE

Unsere Kritik am BGE kann sich in vielen Punkten auf eine Broschüre von Rainer Roth stützen, die das Thema ausführlich beleuchtet (21). Roth unterstützt als Alternative zum BGE u.a. die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich, 10 Euro Mindeststundenlohn und ein ausreichendes garantiertes Mindesteinkommen für alle Erwerbslosen ohne Bedürftigkeitsprüfung fordert. Er entdeckt allerdings einen Widerspruch zwischen der Mindestlohnforderung und der nach ausreichendem garantierten Mindesteinkommen. Letztere mache zuviel Zugeständnisse an das BGE wegen des Verzichts auf die Bedürfnisprüfung (s.o.). Mit ähnlicher Logik wehrt er sich gegen Forderungen wie nach 1.000 Euro garantierter Mindestunterstützung. Das „Rhein-Main-Bündnis gegen Sozialabbau und Billiglöhne“ hält demgegenüber 500 Euro ALG II plus Warmmiete gemäß Mietspiegel wenn schon nicht für ausreichend, so doch für logisch wegen des einzuhaltenden Abstandsgebotes zum Mindestlohn. Es müsse einen Anreiz zur Arbeitsaufnahme geben, außerdem hätten Erwerbstätige höhere Werbungskosten. Da widerspricht es sich ein bisschen selbst:

„In diesem Sinne kennt das Arbeitslosengeld I ebenfalls keine Bedürftigkeitsprüfung. Ein solches Arbeitslosengeld müsste allen Erwerbslosen für die gesamte Dauer der Arbeitslosigkeit gezahlt werden“ (22)

Eben! Warum soll z.B. das ALG I einer Anästhesiekrankenpflegefachkraft nicht höher sein als der monatliche Mindestlohn? Warum soll dieser höher als ALG II sein? Das Lohnabstandsgebot ist auch Schlachtruf der Aktionäre. Warum? Weil sie durch Kürzungen bei Sozialbezügen leichter das Lohnniveau senken können! Nichts spricht außerdem gegen tarifliche Mindestlöhne, die über dem gesetzlichen Mindestlohn liegen – neben anderen Gründen auch ein Anreiz, sich gewerkschaftlich zu organisieren.

Übergangsforderungen

Als zweiter Kritikpunkt an Roth müssen wir die Unterbewertung des Potenzials der 30-Stundenwoche anbringen. Er unterstützt sie mit dem richtigen Argument, dass sie die Einheit der Arbeiterklasse erleichtere, also unter Beschäftigten wie Erwerbslosen. Aber sie ist im Gegensatz zu o.a. Teilforderungen auch eine Losung, die auf eine Umverteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit verweist, in Richtung der Übergangslosung nach Aufteilung der Arbeit auf Alle, die die Logik im Sozialismus vorwegnimmt: der Produktivitätsfortschritt soll der lebendigen Arbeit zu Gute kommen. Der arbeitenden Klasse ist daran gelegen, schon aus Gründen der Kampfkraft die Arbeitslosigkeit zu beseitigen, in diesem Sinn nimmt sie gleich den Kampf gegen Entlassungen auf, um sich in zweiter Linie um ausreichende Bezahlung für das trotz dessen existierende Arbeitslosenheer einzusetzen. Die notwendige gesellschaftliche Arbeit soll gleichmäßig auf alle arbeitsfähigen Gesellschaftsglieder verteilt werden einschließlich der ehemaligen Ausbeuter, die erstmals mit der Arbeitspflicht für sich selbst in Berührung kommen sollen.

Um zu bestimmen, was notwendige Arbeit ist, muss das Kapital enteignet werden, das Proletariat zum kollektiven Unternehmer der Planwirtschaft werden und im Staat herrschen. Die praktische Schule wie auch notwendige Voraussetzung für den Beginn der Umsetzung der Übergangsforderungen unter kapitalistischem Regime ist die Arbeiterkontrolle. Viel wichtiger als die Höhe der Arbeitslosenunterstützung ist der Aufbau von Kontrollorganen, die die Bedürftigkeit festlegen – nicht der kapitalistische Staat – und die Firmen überhaupt zu Neueinstellungen zwingen können. Damit greifen sie aber in das ureigenste Recht der Besitzer ein. Diese Logik führt dazu, unweigerlich eine Doppelmacht in Staat und Betrieb errichten müssen, bevor sie an die Entmachtung der Kapitalisten und die Zerschlagung ihres Staatsapparates gehen können. Diese Perspektive der Machtergreifung fehlt allerdings bei Roth; die Übergangsforderung ist bei ihm syndikalistisch verkürzt.

Dieses strategische Moment der Arbeiterkontrolle fehlt auch im Kapitel „Unsere Forderungen: 12/30/1.500!“ (23) ebenso wie die Verknüpfung mit der Machteroberung der lohnarbeitenden Klasse. Somit verkommt es zu einem Programm von Teil- und nicht von Übergangsforderungen. Selbst die Parole „Für die sofortige Einführung der 30-h-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich!“ (24)

Was soll ferner die Formulierung nach „Verbot von Massenentlassungen. Dabei appellieren wir nicht an den ‚Gesetzgeber‘, sondern wollen dazu beitragen, dass ein großer öffentlicher Druck entsteht, der weitere Entlassungen verhindert“. (25)

Wenn man eine Verbotslosung aufstellt, warum soll sie sich dann nicht an den Gesetzgeber richten? An wen sonst? An die Massenbewegung? Verstehe, wer will!

Bankrotte Betriebe, die gesellschaftlich nützliche Güter oder Leistungen herstellen, will der RSB nicht entschädigungslos verstaatlichen und unter Arbeiterkontrolle weiterführen, sondern ohne Kapitalisten und gegebenenfalls mit staatlichen Zuschüssen. Der Unterschied der Verstaatlichung zum Betriebsteilhabermodell liegt in der Möglichkeit der Ausschaltung der Konkurrenz im ersteren Fall, der besseren Übergangsmöglichkeit zur Planwirtschaft. Zahlreiche übernommene Betriebsinseln sind im Meer der kapitalistischen Marktwirtschaft zwangsläufig zum Untergang verdammt.

Im Unterschied zu den BGB-AnhängerInnen, aber auch zu den Schwächen ihrer KritikerInnen haben wir unsere Antwort eingebettet in ein revolutionäres Aktionsprogramm, wenn wir fordern:

“30-Stunden-Woche und 4-Tage-Woche in Ost und West bei vollem Lohnausgleich! Angleichung aller Löhne und der Arbeitszeit im Osten ans Westniveau! Aufteilung der Arbeit auf Alle unter Arbeiterkontrolle! Europaweit koordinierter Kampf zur Verkürzung der Arbeitszeit! Für ein Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten, unter Kontrolle der Beschäftigten, Gewerkschaften und von Komitees der örtlichen Bevölkerung!“ (26)

In diesem Sinne gilt es, innerhalb der Gewerkschaften und der Arbeitslosenverbände für einen gemeinsamen Kampf und eine gemeinsame Strategie der innerhalb und außerhalb des Lohnarbeitsprozesses befindlichen Teile der Arbeiterklasse einzutreten.

Anmerkungen und Fußnoten

(1) Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale (LRKI), Das Trotzkistische Manifest, Wien 1989, S. 30

(2) Liga für die Fünfte Internationale (L5I), Vom Widerstand zur Revolution, Berlin 2003, S. 38

(3) Der Kampf für Arbeitermacht, Programm der Gruppe Arbeitermacht, Berlin 2009, S. 13

(4) L5I, Vom Widerstand zur Revolution, S. 38

(5) LRKI, Das Trotzkistische Manifest, S. 29/30

(6) BAG-SHI: Thesen zum Existenzgeld, in: Hans-Peter Krebs/Harald Rein (Hrsg.), Existenzgeld – Kontroversen und Positionen, Münster, 2000, S. 137

(7) BAG-Erwerbslose: Wir fordern ein Existenzgeld für alle Menschen, a.a.O., S. 123

(8) Frauengruppe Glanz der Metropole: Strategie der Arbeitsverweigerung – Existenzgeldforderung klammert Rolle der Hausarbeit aus, a.a.O., S. 101

(9) Wildcat: Die Perspektiven des Klassenkampfs liegen jenseits einer Reform des Sozialstaats, a.a.O., S. 106 f.

(10) Frauengruppe Glanz der Metropole, a.a.O., S. 103 ff.

(11) Joachim Hirsch: Zukunft der Arbeitsgesellschaft, a.a.O., S. 158

(12) Wildcat, a.a.O., S. 107 ff.

(13) WIRTSCHAFTSWOCHE 2.10.1997, S. 30

(14) Revolutionär Sozialistischer Bund/IV. Internationale: Solidarität statt Spaltung – Unsere Kritik am „Bedingungslosen Grundeinkommen“, Mannheim, 2008, S. 12

(15) Rätz u.a.: Grundeinkommen bedingungslos, Attac Basis Texte 17, Hamburg 2005, S. 54

(16) André Gorz, Auswege aus der Misere, in: Krebs/Rein, Existenzgeld, a.a.O., S. 170 ff.

(17) Joachim Hirsch, a.a.O., S. 168

(18) André Gorz, a.a.O., S. 178

(19) Andrea Fumagalli: Die Grundsicherungsdebatte in Italien, in: Krebs/Rein, a.a.O., S. 243 f.

(20) RSB, a.a.O., S. 12

(21) Rainer Roth, Zur Kritik des BGE, Frankfurt/M., 2006

(22) a.a.O., S. 9

(23) RSB, Solidarität statt Spaltung, a.a.O., S. 18 f.

(24) RSB, a.a.O., S. 19

(25) ebd.., S. 16

(26) Gruppe Arbeitermacht, Der Kampf für Arbeitermacht, S. 13




Globale soziale Rechte oder sozialistische Revolution?

Gerald Waidhofer, Revolutionärer Marxismus 37, Juni 2007

In Zeiten einer beschleunigt sich öffnenden sozialen Schere, in denen das Geld sich immer mehr dorthin bewegt, wo schon viel Geld ist und sich von dort zurückzieht, wo bereits sehr wenig ist, greift die politische Inspiration auch vermehrt um sich. In der Vielfalt der daraus entstehenden Konzepte zur Korrektur der sozialen Schieflage fällt eine spezielle Strömung durch ihre besonders fundamental sich darstellende Form auf. In unterschiedlicher Weise tritt sie ein für globale soziale Rechte.

Bekannt wurden dabei vor allem drei: das Recht auf gesicherte materielle Existenz (wie es in der hiesigen Debatte als Forderung nach „garantiertem und bedingungslosen Grundeinkommen“ firmiert), jene nach Bewegungsfreiheit über staatliche Grenzen und das Recht auf Aneignung.

Wir werden uns im Folgenden v.a. mit ersterem beschäftigen. Wie auch bei den anderen „Rechten“ stoßen hier verschiedene Theoriestränge aufeinander, die bei den VertreterInnen der verschiedenen Konzepte munter vermischt und mehr oder weniger beliebig kombiniert werden.

Ein Teil der Begründung für die Forderung nach „sozialen Rechten,“ zumal auf garantiertes Einkommen, bezieht sich auf die „Krise der Arbeitsgesellschaft.“ Bezug nehmend auf liberale Autoren wie Rifkin oder Reformisten wie Gorz wird unterstellt, dass die technische Entwicklung nicht nur zu immer höherer Produktivität führt, sondern auch gefolgert, dass eine Wiederherstellung der Vollbeschäftigung objektiv unmöglich sei und daher ein größer werdender Teil der Gesellschaft über ein „Grundeinkommen“ oder „Existenzgeld“ abgesichert werden müsste.

Diese Argumentation stieß und stößt besonders bei Erwerbslosenverbänden auf offene Ohren. So formulierte „Bundesarbeitsgemeinschaft unabhängiger Erwerbsloseninitiativen“ die Forderung nach Existenzgeld schon in den 80er Jahren. Heute wird die Losung nach einem „bedingungslosen Grundeinkommen“ von einem beachtlichen Teil der „sozialen Bewegungen“ als zentrale Forderung begriffen.

Zweitens wurde die Forderung nach „sozialen Rechten“ schon früh von Strömungen vertreten, die sich aus dem Operaismus entwickelten. In der BRD waren das Gruppen wie Fels, die darin eine Forderung erblickten, „die der Klassenstruktur des Post-Fordismus“ gerecht werde und die ein neu zusammengesetztes Proletariat „in konkreten politischen Kämpfen“ konstituieren könne (FelS-Sozial-AG, Für Existenzgeld und eine radikale Arbeitszeitverkürzung, S. 39, in: Krebs/Rhein, Existenzgeld).

Diese post-operaistische Linie gab sich zu Beginn dieses Jahrhunderts ein globales Manifest – „Empire“ von Hardt/Negri. Dort wird das „neue Proletariat“ „aufgehoben“ in der Multitude. Die drei globalen Rechte werden zur vereinheitlichenden Dynamik disparater, spontaner Kämpfe.

Entscheidend ist jedoch – und hier liegt auch die Brücke zu den offen liberalen und reformistischen Anhängern der Forderung nach „sozialen Rechten“ -, dass, anders als das alte Proletariat, die Multitude im Empire keine politische Macht mehr zu erkämpfen brauche, um eine neue gesellschaftliche Produktionsweise erst zu schaffen. Sie braucht nicht die herrschende Klasse zu enteignen und die Produktionsinstrumente unter ihrer bewusste Kontrolle zu bringen, also die Staatsmacht erobern, um überhaupt erst eine sozialistische Transformation der Ökonomie in Gang bringen.

Die Multitude stellt für Negri/Hardt oder für Autoren wie Holloway schon eine neue, entstehende Produktionsweise dar. Hier schließt sich der Zusammenhang zu den „radikaleren“ Forderungen nach Grundeinkommen und anderen „globalen Rechten.“

Um diese Behauptung weiter zu stützen, wird die Entwicklung des Lohnarbeitsverhältnisses, die immer stärkere Trennung des Arbeiters von den Produktionsmitteln negiert und das direkte Gegenteil behauptet.

„Die Menge benutzt nicht nur Maschinen zur Produktion, sondern wird auch selbst zu einer Art Maschine, da die Produktionsmittel immer stärker in die Köpfe und Körper der Menge integriert sind. In diesem Zusammenhang bedeutet Wiederaneignung, freien Zugang zu und Kontrolle über Wissen, Information, Kommunikation und Affekte zu haben – denn dies sind einige der wichtigsten biopolitischen Produktionsmittel. Doch die Tatsache allein, dass diese Produktionsmittel in der Menge selbst zu finden sind, bedeutet nicht, dass die sie auch kontrolliert. Eher lässt das die Entfremdung davon noch niederträchtiger und verletzender erscheinen. Das Recht auf Wiederaneingung ist somit in Wahrheit das Recht der Menge auf Selbstkontrolle und Eigenproduktion (Negri/Hardt, Empire, S. 413).“

Die Multitude muss also, um sich zu befreien, die Produktionsmittel dem Kapital gar nicht mehr entreißen, denn – so die allerdings recht obskure – Vorstellung, sie würde sie ja zunehmend ohnehin schon besitzen, sie müsse sich nur die Kontrolle, wenn man so will, das Recht auf Eigentum erstreiten.

Es ist daher kein Wunder, dass beide Stränge dieser Theoreme in einem gemeinsamen Wiederaufleben der „Menschenrechte“ als universell selig machendes Heilmittel aller Klassen zusammengehen. Die „Grundrechte“ sind dann auch nichts als neu formulierte bürgerliche Rechte.

Beispiel Mindesteinkommen

Besonders in den Vordergrund drängte sich zuletzt die Auseinandersetzung um ein bedingungsloses Grundeinkommen. So wird auf der Homepage der ATTAC AG Globale Soziale Rechte aus Berlin, die sich in Verbindung zu allen sozialen Kämpfen weltweit verstehen möchte, folgende Kurzdefinition für globale soziale Rechte vorgestellt: Sie „beinhalten das Recht auf angemessenen Lebensstandard, das bedeutet den Zugang zu Nahrung, Bekleidung und Unterkunft; das Recht auf physische und psychische Gesundheit; das Recht auf Bildung und das Recht auf Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Diese Rechte sollen für jeden Menschen gelten, unabhängig von Geschlecht, Alter, Hautfarbe, Staatszugehörigkeit oder Leistungsfähigkeit. Rechte zu fordern heißt in aller erster Linie Bedürfnisse zu legitimieren (www.globale-soziale-rechte.org)“.

Attac und andere werfen hier die Frage auf, warum denn kein „angemessener Lebensstandard“ verwirklicht wird, warum die diversen „Rechte“ fortlaufend verletzt, eingeschränkt und weiter beschnitten werden, obwohl doch immer mehr Güter geschaffen werden. Und wie so viele andere, vermischt attac dann diese Frage mit der Vorstellung, dass immer größere Anhäufung von Geld und Vermögen in den Händen von immer weniger Leuten schon mit immer mehr Reichtum gleichzusetzen sei.

Ab lassen wir diesen Kurzschluss beiseite. Entscheidend ist für attac und andere, zwar Fragen aufwerfen, sogleich aber die entscheidenden gesellschaftlichen Ursachen – die kapitalistische Produktionsweise selbst – nicht weiter in Betracht ziehen und schon gar nicht die aktuelle Entwicklungsperiode des Kapitalismus, die durch Überakkumulation und verschärfte strukturelle Krisenmomente gekennzeichnet ist.

Statt dessen gipfelt die Betrachtung auch in der bei vielen anderen, auch „radikaleren“ Linken beliebten Vorstellung: „Rechte zu fordern, heißt in aller erster Linie Bedürfnisse zu legitimieren.“

Kling radikal, ist es aber ganz und gar nicht. Ob ein „Bedürfnis“ als legitim gilt – und ob es in der bürgerlichen Gesellschaft durchgesetzt wird, sind zwei verschiedene Fragen.

Das Bedürfnis des Kapitalisten, die Arbeitskraft möglichst billig zu kaufen ist auf dem Boden verallgemeinerter Warenproduktion ebenso „legitim“ wie das der Arbeiterklasse, den Preis der Ware Arbeitskraft möglichst hoch zu halten.

Diese Betrachtung ist schon deshalb nahe legend, weil die diversen von attac in Spiel gebrachten „Rechte“ oft nichts anderes sind als Teile der Reproduktionskosten der Arbeiterklasse – oder was sonst ist der „angemessene Lebensstandard“ als eine verklausulierter und ideologisierter Ausdruck für den Wert resp. Preis der Ware Arbeitskraft?

Entschieden wird dieser Kampf nicht durch „Legitimation“ bestimmter Bedürfnisse, sondern durch die Stärke, Organisiertheit, das Bewusstsein usw. im Klassenkampf. Die der Durchsetzung politischer und sozialer Rechte ist daher ganz generell eine Frage der Macht – und nicht der „Anerkennung“ ihrer „Legitimität.

Es ist eine Frage der Macht, weil hinter den verschiedenen Bedürfnissen gegensätzlich Klasseninteressen stehen, über den Durchsetzung der Kampf entscheidet, gerade weil sie beide als, wenn auch widerstreitende Rechtsansprüche legitim sind.

Marx führt diesen Sacherhalt bei der Untersuchung über den Kampf um die Länge des Arbeitstages im Kapital aus:

Denn: „Von ganz elastischen Schranken abgesehen, ergibt sich aus der Natur des Warentausches selbst keine Grenze des Arbeitstages, also keine Grenze der Mehrarbeit. Der Kapitalist behauptet sein Recht als Käufer, wenn er den Arbeitstag so lang als möglich macht und womöglich aus einem Arbeitstag zwei zu machen sucht. Andererseits schließt die spezifische Natur der verkauften Ware eine Schranke ihres Konsums durch den Käufer ein, und der Arbeiter behauptet sein Recht als Verkäufer, wenn er den Arbeitstag auf eine bestimmte Normalgröße beschränken will. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt (Marx, Kapital Bd. 1, S. 249).”

Genau dieser Konsequenz versuchen die IdeologInnen der „sozialen Grundrechte“ aus dem Weg zu gehen. Statt die Gegensätzlichkeit bestimmter „Rechte“ und Bedürfnisse anzuerkennen und daraus die klassenpolitischen Schlussfolgerungen zu ziehen, soll vielmehr der bürgerlichen Öffentlichkeit „genutzt“ werden, um der herrschenden Klasse vorzurechnen, dass doch auch die Bedürfnisse der Unterdrückten „legitim“ wären.

Eine Spielart dieser Linie versucht Charlotte Ullmann, die sich ebenso für ein bedingungsloses Grundeinkommen ausspricht, und dafür im Netzwerk Linke Opposition eintritt (www. Netzwerk-linke-opposition.de).

In ihrer an Rifkin angelegten Argumentation stellt sie fest, dass auf der Grundlage des gegenwärtigen Standes des technologischen Fortschrittes eine neue Bewertung der Arbeit ansteht. Die notwendige Arbeit könne jetzt überwiegend durch Maschinen erledigt werden. Arbeit soll darum nicht mehr erzwungen werden, sondern wie ein Hobby gestaltet werden, denn immerhin sei Arbeit ja eine Art von Spiel. Und die verbleibenden unangenehmen Tätigkeiten könnten entsprechend der Alternative der ‚Öko-Industrie‘ vollzogen werden, die mit moderner Technologie keine krankmachenden Produkte erzeugt. Und für den Handel könnten wir uns am Vorbild von Tauschringen orientieren: „Schneidest Du meine Haare, backe ich Dir ein leckeres Biobrot!“

Um diese Problem zu lösen schlägt sie die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens vor. Damit könnte schließlich auch noch der soziale Friede durch eine gerechtere Verteilung der Ressourcen sichergestellt werden. Als Losung könnte hieraus die Parole zusammengefasst werden: Geld für Frieden.

Solche Bemühungen waren schon immer die Spezialität des Reformismus, der sich umso zweckmäßiger und teurer darstellte, je näher eine revolutionäre Situation kam und je stärker revolutionäre Kräfte waren. Sie sind ein Angebot an die Herrschenden zur Verringerung ihrer Befürchtungen von Klassenauseinandersetzungen und ein Mittel zur Milderung der eigenen Angst vor einer Prekarisierung durch eine garantiertes Einkommen.

Einen anders gelagerten Ansatz vertritt Wolfgang Völker, ein Mitglied der ‚Widersprüche‘-Redaktion. Er plädiert nämlich im Rahmen der Grundrechtediskussion in einer Arbeitsgruppe ‚Soziale Grundrechte‘ für die Einforderung sozialer Rechte anstelle eines Engagements für die Vollbeschäftigung. Die Frage nach der Unbedingtheit der sozialen BürgerInnenrechte ist für ihn das politisch am stärksten umkämpfte Terrain, weil darin die unterschiedliche Konzepte von Gerechtigkeit zum Tragen kommen und sich darüberhinaus auch die verschiedenen Positionierungen zur vorhandenen sozialen Ungleichheit bemerkbar machen (Wolfgang Völker: Soziale Rechte statt Lohnarbeit für alle! oder: warum und für was die Grundrechtediskussion wichtig ist. Aus: express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 11-12/2000 und www.labournet.de/express).

Nachdem er in einer Konzeption sozialer Bürgerrechte in der aktuelleren Diskussion innerhalb der Linken einen zentralen Platz einräumt, fragt er sich, ob dies die Bedeutung des Klassenkonfliktes verringern würde. Er verweist auf die bestehenden Schwierigkeiten mit dem Klassenbegriff und „ahnt“ einen Paradigmenwechsel: vom Klassenbegriff zu sozialen Bürgerrechten.

Anlass dazu sieht er erstens in den seit etwa drei Jahrzehnten stattfindenden Abbaus sozialer Leistungen und die damit einhergehende Verteidigung erworbener sozialer Rechte. Zweitens in der Verstärkung des repressiven Charakters sozialstaatlicher Maßnahmen durch die Einforderung eines ‚Wohlverhaltens‘ als Voraussetzung für den Erhalt dieser Rechte. Inzwischen wuchern ja Zumutbarkeitsregelungen, Arbeitsverpflichtungen, Relativierung bürgerlicher Rechte wie das auf die freie Berufswahl, der Unverletzlichkeit der Wohnung, des Rechtes auf Freizügigkeit u.v.a.m.. Drittens in der zunehmenden Marktorientierung und Ökonomisierung sozialer Arbeit und sozialer Dienstleistungen, die in diesem Bereich die Bedarfsorientierung durch einen Wettbewerb um die niedrigsten Ausgaben ersetzen. Viertens im dadurch erforderlichen Rückgriff auf soziale Bürgerrechte unabhängig von der ‚Lohnarbeitszentriertheit sozialer Sicherungssysteme‘.

In einer Hamburger Konferenz mit dem bezeichnenden Titel ‚Lichter der Großstadt‘ werden schließlich soziale Ansprüche als Grund- und BürgerInnenrecht eingefordert und emanzipatorische Sozialpolitik als Bürgerrechtspolitik verstanden. Damit soll ein individueller Rechtsanspruch für alle Gesellschaftsmitglieder die gesellschaftliche Teilhabe garantieren und verhindert werden, dass Sozialleistungen nur bedingt gelten und soziales Elend privater Wohlfahrt überlassen wird. Gegen die Totalität des Marktes und die Repression des bürgerlichen Staates wird also eine Utopie von sozialen Grund- und BürgerInnenrechten zur Erreichung einer zumindest basalen Gerechtigkeit und Wahrung einer würdigen Existenz gesetzt.

Kurz: weil soziale Leistungen abgebaut, mit mehr repressiven Auflagen verbunden und marktanalog organisiert wurden, soll eine soziale Existenzabsicherung ein Grundrecht werden. Und weil der bürgerliche Staat zwischen Erwerbstätigen und Leistungsempfangenden unterscheidet, solle die ‚Lohnarbeitszentriertheit‘ überwunden werden und ein übergeordneter Bürgerstatus für mehr Gemeinsamkeit sorgen. Mithilfe eines bedingungslosen Grundeinkommens sollen dann nicht nur die sozialen Rechte gesichert, sondern auch die Ausübung ziviler und politischer Rechte ermöglicht werden.

Der hierin stattfindende Kampf gegen den Strohmann ‚Lohnarbeitszentriertheit‘ verweist beinahe selbständig auf das, wovon damit die Aufmerksamkeit abgezogen werden soll: das Problem der Arbeitslosigkeit. Anstelle des Rechtes auf Arbeit wird eine Dezentrierung von der Lohnarbeit empfohlen. Und was als generelles und übergreifendes Konzept vorgestellt wird, mündet schließlich im Wunsch nach einer besseren Gestaltung und Reformierung vorhandener sozialer Sicherung zur Gewährleistung von Garantien für eine menschenwürdige Teilhabe im sozialen und politischen Sinn.

Soweit solche Überlegungen und Vorschläge aus der sogenannten gesellschaftlichen Mitte stammen, ist die hierin sich ausdrückende Orientierungslosigkeit relativ naheliegend. Wer es gewissermaßen nach ‚oben‘ nicht schafft und sich ‚unten‘ nicht zuhause fühlt, versteht sich eben lieber als ‚übergreifend‘.

Es handelt sich jedenfalls um einen Versuch, den bürgerlichen Staat angesichts seiner krisenhaften Entwicklung nach seinen eigenen Ansprüchen zu reformieren. Seine Wirklichkeit solle sich an das anpassen, was er von sich selbst vorgibt, sein zu wollen. Die Schwierigkeit liegt hierbei lediglich darin, dass die Kluft zwischen den Idealen bürgerlicher Rechte und der gesellschaftlichen Wirklichkeit kein zufälliges Missgeschick ist, sondern einen notwendigen Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft darstellt.

Außerdem erwartet die Sozialrechtsbewegung die eingeforderte umfassende soziale Sicherung von genau demselben Staat, dem sie Sozialabbau und zunehmende Repressalien vorwirft. Die Frage, woher die zusätzlichen Staatsausgaben stammen sollen und von wem und wie die dafür erforderlichen staatlichen Einnahmen durchgesetzt werden sollen, bleibt unerwähnt.

Die politische Haltung dieser Bewegung ist deutlich: Mag der bürgerliche Staat ansonsten die Ausbeutung und Unterdrückung der Menschen absichern. An einer bestimmten Grenze, die als existenziell verstanden wird, soll ein Tabubereich errichtet werden, der eine Schutzzone gegenüber den Ansprüchen des Kapitals, den Forderungen des Marktes oder auch den Auflagen des Staates bewahrt. Die Unterschiede in den verschiedenen Konzeptionen dazu bestehen lediglich darin, ob der Schutz als bloße Forderung präsentiert wird, über eine juristische Darstellung präsentiert wird, über einen besonderen moralischen Anspruch verfügt, mit politischen Erfordernissen begründet wird oder etwa mit wirtschaftlichen Berechnungsmodellen ausgestattet erscheint.

Klassencharakter der Menschenrechte

Die ideologisierte Konstruktion „sozialer Rechte“ geht einher mit einer Ablehnung des Klassenkampfes und dem Appell an „die“ Vernunft. Als praktisches Markenzeichen der Sozialrechtsströmung erweist sich, dass sie ihre Bündnisbreite entsprechend der Reichweite ihrer Forderungen versteht. Sie geht schlichtweg von der Annahme aus, dass eine Betroffenheit aller Menschen ein gemeinsames Vorgehen aller Menschen erfordert. So soll ein bestimmtes Ziel über alle Grenzen, Unterschiede und Gegensätze hinweg erreicht werden. Daher wird auch so viel Aufhebens darüber gemacht, dass bestimmte Bedürfnisse oder Rechte als „legitim“ und vernünftig anerkannt würden, denn dann müssten sie doch von allen Klassen der Gesellschaft als solche anerkannt und befürwortet werden.

In grundlegenden Bereichen soll also ein allen Menschen gemeinsames Grundinteresse gegenüber allen gesellschaftlichen Veränderungen geschützt werden. Erst jenseits der tabuisierten Bereiche dürfe etwas zur Ware werden oder eine Auseinandersetzung stattfinden. Eine spezielle Parteilichkeit gilt hierbei als zu eingeschränkte und damit unangemessene Perspektive und ein unmissverständlicher Klassenstandpunkt als Ausdruck einer besonders engstirnigen Weltanschauung. Universell sich verstehende Menschheitsstandpunkte wollen damit die Einseitigkeit eines bloßen Klassenstandpunktes überwinden.

Ein allgemeiner Standpunkt soll also als Ausdruck eines überparteiischen allgemeinen Interesses einen besonderen Standpunkt aufgeben. Die speziellen sozialen Standpunkte und die damit verbundenen Konfrontationen sollen zumindest in den wichtigsten Belangen und grundlegenden Erfordernissen beiseite gelassen werden. Klassenkämpfe sollen sich  begrenzen auf einen Bereich unwichtiger Belange im Rahmen stabiler Entwicklungen. Je bedeutender eine gesellschaftliche Auseinandersetzung wird und je deutlicher sich das Unvermögen der herrschenden Produktionsverhältnisse in der Lösung wesentlicher Problemstellungen offenbart, desto mehr sollen die Ausgebeuteten und Unterdrückten ihren HerrscherInnen bei der Absicherung ihrer Macht beiseite stehen. Die verbleibende Light-Version der Klassenkämpfe soll dann lediglich noch für die restlichen Feineinstellungen sorgen. Ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel, dessen Notwendigkeit sich ja gerade an den wesentlichen Problemen der Menschheit zeigt, soll verhindert werden durch einen Pakt des Proletariats mit der Bourgeoisie.

Eine konkrete Betrachtung des gesellschaftlichen Geschehens zeigt aber rasch, dass die allgemeinen Interessen nicht zwangsläufig alle in derselben Weise interessieren. Zwar erscheinen sie den meisten Menschen tatsächlich als existenziell, aber für eine herrschende Minderheit sind sie keineswegs so unentbehrlich. Diese Minderheit kann sich das allgemein Geforderte schlichtweg problemlos leisten, hat besseren Zugang und bessere Möglichkeiten und kann allgemeine Schwierigkeiten besser kompensieren. Eine Hoffnung auf Unterstützung durch diese greift dadurch erfahrungsgemäß ziemlich ins Leere. Sie nährt vielmehr Illusionen in ein gesamtgesellschaftliches Bündnis, das keine reale Grundlage hat. Bestenfalls entsteht daraus wieder eine Volksfront, welche an die Bourgeoisie zum gemeinsamen Engagement appelliert und ihr dabei verspricht, die Klassenkämpfe entsprechend einzuschränken. Anders ausgedrückt: dem bürgerlichen Regime wird in seiner Krise die Lebensrettung angeboten. So wird aus dem Ruf nach Existenzsicherung der verarmenden Bevölkerung ein zusätzliches Mittel zur Existenzsicherung der bürgerlichen Herrschaft.

Anstatt sich auf ein Versteckspiel hinter allgemeinen Interessen einzulassen, erklärt der Marxismus freimütig seine besondere Parteilichkeit und behauptet dazu auch noch, erst dadurch einen tatsächlich allgemeinen Standpunkt erreichen zu können. Anstatt sich abstrakte Ideale zu konstruieren, leitet er dabei seine Zielvorstellung aus einer Analyse der konkreten Möglichkeiten der gesellschaftlichen Konstellation in der historischen Situation ab.

Der besondere Standpunkt des Marxismus, dem diese allgemeine Relevanz zukommt, ist ein spezieller Klassenstandpunkt. Nur aus den perspektivischen Möglichkeiten der Arbeiterklasse kann eine realistische Parteilichkeit mit dem Potenzial grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen und maximaler Reichweite erwachsen. Dazu stellt sich zunächst die Frage nach dem marxistischen Klassenbegriff.

Klassen und Interessen

Für Marx und Engels entsteht eine Klasse dadurch, dass sich Individuen in einem gemeinsamen Kampf gegen andere Individuen befinden. Der Grund dieses Kampfes liegt in seinem Ausdruck gegensätzlicher gesellschaftlicher Positionen, aus denen sich die Einkommensquelle und die daraus resultierenden Interessen und Gegensätze zu anderen ergeben. Es gibt zwar vielerlei Interessensgegensätze, also etwa auch zwischen Kaufenden und Verkaufenden oder Produzierenden und Konsumierenden, aber zum Klassengegensatz werden gesellschaftliche Gegensätze erst durch ihren Bezug zu den jeweiligen Eigentumsverhältnissen. Erst durch den Gegensatz aus Eigentum und Verfügung über die Produktionsmittel auf der einen Seite und notwendiger Verkauf der Ware Arbeitskraft auf der anderen Seite bilden sich in der bürgerlichen Gesellschaft Klassen. Und erst durch den hierin bestehenden Interessensgegensatz stehen sich gesellschaftliche Gruppierungen als Ausbeutende und Ausgebeutete gegenüber.

Aufgrund der Tendenz zur zunehmenden Verwandlung der Arbeit in Lohnarbeit und der Produktionsmittel in Kapital beschreiben Marx und Engels eine zunehmende Vereinfachung der Klassengegensätze, die sich letztlich als zwei große feindliche Lager gegenüberstehen: der Klasse der Bourgeoisie und der des Proletariats. Engels beschreibt diese beiden Klassen kurz folgendermaßen: „Unter Bourgeoisie wird die Klasse der modernen Kapitalisten verstanden, die Besitzer der gesellschaftlichen Produktionsmittel sind und Lohnarbeit ausnutzen. Unter Proletariat die Klasse der modernen Lohnarbeiter, die, da sie keine eigenen Produktionsmittel besitzen, darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um leben zu können.“ (MEW 4: 462, vgl. 4: 463, 25: 892)

Das Proletariat ist in der Konsequenz nicht nur ohne Eigentum an Produktionsmitteln, sondern seine Arbeit vermittelt ihm auch keinen nationalen Charakter und seine Lebensbedingungen weisen über die bestehende Gesellschaftsform hinaus. Aufgrund dieser Voraussetzungen sprechen Marx und Engels von einer revolutionären Funktion des Proletariats. „Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberstehen, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse.“ (MEW 4: 472, vgl. 1: 390f.)

Dabei gründet sich diese revolutionäre Funktion besonders auf seine gesellschaftliche Möglichkeiten aus der besonderen Position im Produktionsprozess. „Alle früheren Klassen, die sich die Herrschaft eroberten, suchten ihre bisher schon erworbene Lebensstellung zu sichern, indem sie die ganze Gesellschaft den Bedingungen ihres Erwerbs unterwarfen. Die Proletarier können sich die gesellschaftlichen Produktivkräfte nur erobern, indem sie ihre eigene bisherige Aneignungsweise und damit die ganze bisherige Aneignungsweise abschaffen.“ (MEW 4: 472)

Aus den unterschiedlichen objektiven Situationen der Klassen ergeben sich nun verschiedene subjektive Ausdrucksformen mit unterschiedlichen Bezugspunkten und Vorstellungsdimensionen.

Bei allgemein-menschlichen oder gar universell erscheinenden Werten und Zielen stellt sich immer wieder die Frage, wessen Universalanspruch das ist. Es stellt sich nämlich immer wieder heraus, dass hierin lediglich eine Minderheit ihre besonderen Interessen als allgemeine darstellt. Es ist geradezu eine Regel, dass die Ziele der herrschenden Klasse für alle Menschen als bestimmend gelten sollen. So erklärte die französische Bourgeoisie bereits im 18, Jahrhundert ihre Befreiung zur Emanzipation der gesamten Menschheit. Engels bemerkt zur ‚ewigen Vernunft‘ ihrer Philosophen, „daß diese ewige Vernunft in Wirklichkeit nichts andres war als der idealisierte Verstand des eben damals zum Bourgeois sich fortentwickelnden Mittelbürgers.“ (MEW 19: 192, vgl. 200, 2: 641, 20: 239, 581)

Soweit allgemeine Interessen von der Bourgeoisie ausgedrückt werden sollen, erweisen sie sich stets als Verallgemeinerung ihrer besonderen Ansprüche, die in der Praxis regelmäßig die Möglichkeit einer Bereicherung für eine Minderheit verbessern sollen und für die Mehrheit der Menschen einen Mangelzustand festigen. Die bürgerliche Gesellschaft wird eben letztlich repräsentiert durch die Bourgeoisie und deren Interessen sollen gesamtgesellschaftlich bestimmend sein. Über diese Repräsentanz hinaus soll es zum Selbstverständnis des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft gehören, unpolitisch zu sein (Vgl. MEW 1: 369, 2: 130).

Um diesen Minderheitenstandpunkt zu überwinden, ist also ein anderer Klassenstandpunkt erforderlich. Das erfordert einen Standpunkt, welcher der Arbeiterklasse entspricht und die proletarischen Interessen ausdrückt. Im Vergleich mit früheren Klassenkämpfen stellen Marx und Engels fest: „Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl.“ (MEW 4: 472, vgl. Lukács, Georg: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik. Sonderausg., 8. Aufl., Luchterhand, Darmstadt, 1983, 181)

Damit die proletarischen Interessen sich allerdings als wirklich gesamtgesellschaftliche Interessen erweisen, ist es erforderlich, dass „alle Mängel der Gesellschaft in einer andern Klasse konzentriert, dazu muß ein bestimmter Stand der Stand des allgemeinen Anstoßes, die Inkorporation der allgemeinen Schranke sein, dazu muß eine besondre soziale Sphäre für das notorische Verbrechen der ganzen Sozietät gelten, so daß die Befreiung von dieser Sphäre als die allgemeine Selbstbefreiung erscheint.“ (MEW 1: 388)

Es genügt also nicht, den Minderheitenegoismus der Bourgeoisie und die Ansprüche der proletarischen Mehrheit festzustellen, sondern es gilt, die allgemeinen Mängel als Resultat besonderer Interessen zu entlarven und damit die Notwendigkeit der Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erkennen, die diese Mängel verursachen.

Klassenstandpunkt und Ideologie

Dieser Erkenntnis stehen nicht nur materielle Gegebenheiten gegenüber, sondern auch vielfältige ideologische Gegner. Immerhin ist davon auszugehen, dass bestehende Herrschaftsverhältnisse sich nicht bloß auf eine materielle Ausdrucksform beschränken, sondern auch ihre ideologische Entsprechung hervorbringen. „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.“ (MEW 3: 46, vgl. 4: 480)

Indem die Herrschaftsverhältnisse einen gesellschaftlichen Gegensatz darstellen, ist es aber naheliegend, dass die herrschenden Ideologien unterschiedliche materielle Situationen begründen müssen und damit verschiedene materielle Konsequenzen begründen sollen. Zu dieser unterschiedlichen Bedeutung entsprechend des gesellschaftlichen Standpunktes kommt nun noch eine historische Dimension. Da sich die gesellschaftlichen Verhältnisse immer wieder verändern, unterliegen nämlich in entsprechender Weise auch die Ideologien einer Veränderung. Aufgrund des Zusammenhanges zwischen Ideologie und gesellschaftlicher Funktion ergibt sich dann, dass dieselben Ideen in verschiedenen historischen Ausgangspunkten und gesellschaftlichen Situationen ihre Bedeutung und Funktion völlig verändern können.

Etwa das Ziel der Gleichheit wird unter Bedingungen einer Klassengesellschaft an unterschiedlichen sozialen Standpunkten verschieden interpretiert werden und unterschiedliche Umsetzung finden. „Die Proletarier nehmen die Bourgeoisie beim Wort: die Gleichheit soll nicht bloß scheinbar, nicht bloß auf dem Gebiet des Staats, sie soll auch wirklich, auch auf dem gesellschaftlichen, ökonomischen Gebiet durchgeführt werden.“ (MEW 20: 99, vgl. MEW 2: 40 f., 21: 493)

Allerdings ist die allgemeine Gleichheit, welche die Bourgeoisie dem Proletariat zugestehen möchte, vor allem eine Gleichheit in ihrer Ausbeutung. So beschreibt Marx das Bestreben des Kapitals nach einer Angleichung der Exploitationsbedingungen in allen Produktionsbereichen: „Und gleiche Exploitation der Arbeitskraft ist das erste Menschenrecht des Kapitals.“ (MEW 23: 309, vgl. 419)

Auch bedeutet beispielsweise die Einforderung der Freiheit unter Bedingungen der sozialen Ungleichheit bekanntlich Unterdrückung. Was wäre denn etwa eine Freiheit für die Bourgeoisie ohne die Möglichkeit zur Unterdrückung? Die Freiheit des Menschen, die keinen anderen schaden dürfte, wäre die Freiheit eines sozial isolierten Menschen, eines Eremiten. Praktischen Nutzen erhält das Recht auf Freiheit erst durch seinen Bezug auf das Recht auf Privateigentum. Das bürgerliche Eigentumsrecht bildet dadurch gewissermaßen eines der wesentlichsten Rechte der Bourgeoisie, deren Menschenrechte. (Vgl. MEW 1: 364 f., 19: 190)

Nachdem die französische Bourgeoisie 1789 die Freiheit verkündete, erklärte sie bereits 1791 den ArbeiterInnen, dass ihre Koalitionen als ‚verfassungswidrig‘ und als ‚Attentat auf die Freiheit und die Erklärung der Menschenrechte‘ verstanden werden (Vgl. MEW 23: 769 f.).

Die proklamierten Menschenrechte stellen sich für Marx insgesamt als eine ‚Berechtigung des egoistischen, vom Mitmenschen und vom Gemeinwesen abgesonderten Menschen‘ dar, die vom bourgeoisen Menschen als des eigentlichen und wahren Menschen ausgeht. „Keines der sogenannten Menschenrechte geht … über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist.“ (MEW 1: 366)

Bezogen auf die Ebene des Staates anerkennt für Marx und Engels der bürgerliche Staat die Menschenrechte wie der antike Staat die Sklaverei. „Wie nämlich der antike Staat das Sklaventum, so hat der moderne Staat die bürgerliche Gesellschaft zur Naturbasis, sowie den Menschen der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. den unabhängigen, nur durch das Band des Privatinteresses und der bewußtlosen Naturnotwendigkeit mit dem Menschen zusammenhängenden Menschen, den Sklaven der Erwerbsarbeit und seines eignen wie des fremden eigennützigen Bedürfnisses. Der moderne Staat hat diese seine Naturbasis als solche anerkannt in den allgemeinen Menschenrechten.“ (MEW 2: 120)

Während sich beispielsweise Fourier noch damit abmühte, das Fischen, Jagen usw. zu angeborenen Menschenrechten zu erklären, zeigten Marx und Engels ihren Klassencharakter auf. Und indem diese Grundrechte ihre Gültigkeit überwiegend auf die Bourgeoisie beschränken und lediglich in verkümmerter Form auch für das Proletariat gelten, stellen sie einen Gegensatz zum Kommunismus dar, der als Endziel die tatsächliche Befreiung der gesamten Gesellschaft hat.

Parteilichkeit und Bewusstsein

Dass die Sozialrechtsbewegten zu ihren Zielen, deren strategische Konsequenzen und den entsprechenden Methoden gelangen, hängt entscheidend zusammen mit ihrem weltanschaulichen Ausgangspunkt und ihrem gesellschaftlichen Ziel. Ideologische Grundlage, politischer Bezugsrahmen, praktische Umsetzungsmethoden und faktische Perspektive sind schlichtweg bürgerlich. Dabei erscheint ihnen ihre Sichtweise als gründlichste und allgemeinst mögliche Form.

Im Gegensatz zur bürgerlichen Sichtweise kann sich aber tatsächlich nur ein von einem proletarischen Klassenstandpunkt ausgehendes Erkenntnisinteresse weitergehend entfalten. Der Vorzug dieses Standpunktes besteht für den Marxismus bereits darin, dass dieser keine klassenbedingten Einschränkungen in ihren Erkenntnisinteressen hat. Gerade zur Vermeidung einer Einseitigkeit in der Erfassung der Wirklichkeit sehen Marx und Engels einen solchen Standpunkt als erforderlich. Eine Theorie wird also sozusagen dadurch interessant, dass sie bestimmte Interessen vertritt.  „Die ‘Idee’ blamierte sich immer, soweit sie von dem ‘Interesse’ unterschieden war.“ (MEW 2: 85, vgl. 20: 312, Lenin, Wladimir I.: Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie. In: Ders.: Werke, Bd. 14. Übers. d. 4. russ. Ausg., Dietz, Berlin, 1977, 347)

Indem sich Klasseninteressen in den unterschiedlichen Theorien wiederfinden, ist stets eine dementsprechende ideologische Komponente zu berücksichtigen – auch wenn sie sich keineswegs in allen Bereichen mit derselben Wirkung zeigt. In der Regel ergibt sich ihr Einfluss dort besonders stark, wo ihre Interessen in direktester Weise berührt werden, also verständlicherweise vor allem in Theorien zu den verschiedenen Fragen des menschlichen Zusammenlebens, also vor allem den Sozialwissenschaften. Bürgerliche Sozialwissenschaft stellt bestenfalls ein regelrechtes Kunstwerk zur Vermeidung wesentlicher Erkenntnisse dar und kann kaum mehr erforschen, als die unmittelbar beabsichtigten gesellschaftlichen Wirkungen menschlicher Handlungen. Sie ist zwangsläufig ein theoretischer Ausdruck bürgerlich organisierter Gesellschaft. (Vgl. MEW 1: 499, 20: 455, Trotzki, Leo: Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution. Übers. aus d. Engl.. I. Deutscher u.a. (Hrsg.), Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1981, 355 f., 399)

Lukács spitzt die Bedeutung der Parteilichkeit noch weiter zu. Während er vom Standpunkt der Bourgeoisie aufgrund der daraus resultierenden Befürwortung des Kapitalismus‘ aus lediglich ein unhistorisches Begreifen der Wirklichkeit für möglich hält, sieht er die Erkenntnis der eigenen Klassenlage als Handlungsvoraussetzung für das Proletariat als ein existentielles Bedürfnis. Das geeignete Mittel zur Wirklichkeitserkenntnis für den proletarischen Klassenstandpunkt findet er in der materialistischen Dialektik. Mit dieser lässt sich die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit erkennbar machen. Es sind allerdings erst die konkreten Erfahrungen des Klassenkampfes, aus denen eine solche Erkenntnis gesellschaftlicher Totalität resultieren kann. Der Unterschied des Proletariats zu anderen Klassen erweist sich schließlich darin, „dass es bei den Einzelereignissen der Geschichte nicht stehenbleibt, von ihnen nicht bloß getrieben wird, sondern selbst das Wesen der treibenden Kräfte ausmacht und zentral handelnd auf das Zentrum des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses einwirkt.“ (Lukács, Georg: a.a.O., 152, vgl. 67 f., 87, 88 – 90, 201, 267)

Dem in der Regel individuellen Standpunkt bürgerlicher Erkenntnisbildung setzt Lukács folglich die Notwendigkeit eines proletarischen Standpunktes aus der Perspektive der gesamten Klasse entgegen: „Die Totalität des Gegenstandes kann nur dann gesetzt werden, wenn das setzende Subjekt selbst eine Totalität ist; wenn es deshalb, um sich selbst zu denken, den Gegenstand als Totalität zu denken gezwungen ist.“ (Lukács, Georg: a.a.O., 96)

Im Unterschied zur Bourgeoisie, welcher die von ihr entfesselten Mächte als undurchschaubar erscheinen und die ihre gesellschaftsumwälzende Funktion nur unbewusst vollziehen kann, ergibt sich diese Funktion für das Proletariat nur aus einer bewussten, historischen und gesamtgesellschaftlichen Perspektive. „Erst mit dem Auftreten des Proletariats vollendet sich die Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Und sie vollendet sich eben, indem im Klassenstandpunkt des Proletariats der Punkt gefunden ist, von wo aus das Ganze der Gesellschaft sichtbar wird.“ (Lukács, Georg: a.a.O., 87)

Die Wahrheit über die gesellschaftliche Wirklichkeit wird für Lukács damit zu einer ‚siegbringenden Waffe‘ für das Proletariat. Gerade auch „weil das Proletariat sich als Klasse unmöglich befreien kann, ohne die Klassengesellschaft überhaupt abzuschaffen, muß sein Bewußtsein, das letzte Klassenbewußtsein in der Geschichte der Menschheit, einerseits mit der Enthüllung des Wesens der Gesellschaft zusammenfallen, andererseits eine immer innigere Einheit von Theorie und Praxis werden.“ (Lukács, Georg: a.a.O., 154, vgl. 151)

Mit den Worten von Marx: „Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.“ (MEW 1: 391)

Die marxistische Parteilichkeit ist also nicht einfach zu verstehen als eine Konsequenz aus sozialen Erwägungen oder ethischen Prinzipien, sondern vor allem als Ausdruck eines methodisch begründeten Standpunktes und eines vitalen Bedürfnis eines gesamtgesellschaftlichen Interesses. Sie stellt einen Ansatz zur Überwindung willkürlicher Einseitigkeiten und eine Verpflichtung zu umfassender Vielseitigkeit dar. Sie gibt sich nicht zufrieden mit einer bloß aktuellen Einschätzung, bezieht sich nicht bloß auf eine eingeschränkte Auswahl unmittelbarer gesellschaftlicher Gegebenheiten oder eine vordergründigen Beschreibung verschiedener Sachverhalte, sondern bezieht sich auf den historischen Kontext, drängt zu einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive und strebt zur Erkenntnis des Wesens der Gesellschaft. Sie ist die praktische Umsetzung wesentlichsten Elemente der marxistischen Philosophie, die materialistischen Dialektik in ihrer gesellschaftlichen Konsequenz.

Klassenperspektiven

Wenn also Marx und Engels bereits 1850 in entschiedener Weise die Notwendigkeit der Unabhängigkeit von bürgerlichen Einflüssen und der organisatorischen Selbständigkeit der Arbeiter betonen, dann ist das in einem direkten Zusammenhang mit diesem philosophischen Hintergrund zu verstehen. (Vgl. MEW 7: 244 – 249)

Engels beklagt sich darum oftmals über die anstrengenden ‚Einigungsschreier‘ und kritisiert die vermeintliche ‚Unparteilichkeit‘ eines über allen Klassenkämpfen und Klassengegensätzen erhabenen Standpunktes. Obwohl sich bereits zu seiner Zeit jede bürgerliche Partei für eine allgemeine Verbrüderung aller Menschen eintritt, setzte sich bereits damals keine tatsächlich dafür ein. (Vgl. MEW 2: 641, 22: 270, 33: 590, 34: 425)

In krisenhaften Zeiten wird sich die Bourgeoisie zwar verstärkt um eine Ideologie des sozialen Zusammenhalts zur Sicherung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse bemühen, aber sie wird zugleich eine zunehmend repressive Politik umsetzen. Diese widersprüchliche Erscheinung, die den Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft zwischen Schein und Sein ausdrückt, verdeutlicht sich umso mehr, je aktiver sich das Proletariat dazu verhält. Engels schreibt hierzu an Laura Lafargue: „Die Bourgeoisie wird von dem Augenblick an, da ihr ein bewußtes und organisiertes Proletariat entgegentritt, in hoffnungslose Widersprüche verstrickt zwischen ihren liberalen und allgemein demokratischen Bestrebungen hier und den Unterdrückungsmaßnahmen in ihrem Verteidigungskampf gegen das Proletariat dort.“ (MEW 36: 540)

Soweit sich der Klassenkonflikt zwischen Bourgeoisie und Proletariat zuspitzt, stellt sich nun noch die Frage, wie die sich zwischen beiden befindlichen Bevölkerungsteile einzuschätzen sind. Um hierzu keine allzugroßen Illusionen entstehen zu lassen weist Engels darauf hin, dass sich die Mittelschichten im Klassenkampf nicht schlichtweg auf die Seite des Proletariats begeben und spricht sich nicht zuletzt darum gegen einen massenhaften Zulauf aus dem Kleinbürgertum wegen der darin bestehenden bornierten Klassenvorurteile aus. (Vgl. MEW 7: 522, 36: 539 f.)

In diesem Sinne stellen Marx und Engels zu deren demokratischen Partei fest: „Die demokratischen Kleinbürger, weit entfernt, für die revolutionären Proletarier die ganze Gesellschaft umwälzen zu wollen, erstreben eine Änderung der gesellschaftlichen Zustände, wodurch ihnen die bestehende Gesellschaft möglichst erträglich und bequem gemacht wird.“ (MEW 7: 247)

Und was ist hierbei für das Proletariat vorgesehen? „Was die Arbeiter angeht, so steht vor allem fest, daß sie Lohnarbeiter bleiben sollen wie bisher, nur wünschen die demokratischen Kleinbürger den Arbeitern besseren Lohn und eine gesichertere Existenz und hoffen dies durch teilweise Beschäftigung von seiten des Staates und durch Wohltätigkeitsmaßregeln zu erreichen, kurz, sie hoffen die Arbeiter durch mehr oder minder versteckte Almosen zu bestechen und ihre revolutionäre Kraft durch momentane Erträglichmachung ihrer Lage zu brechen.“ (MEW 7: 247)

Im Gegenzug rufen Marx und Engels dazu auf, die Revolution permanent zu machen, bis die besitzenden Klassen von der Herrschaft in weltweitem Maßstab verdrängt sind. „Es kann sich für uns nicht um Veränderung des Privateigentums handeln, sondern nur um seine Vernichtung, nicht um Vertuschung der Klassengegensätze, sondern um Aufhebung der Klassen, nicht um Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um Gründung einer neuen.“ (MEW 7: 248, vgl. 247 f.)

Ähnlich möchte heute die Sozialrechtsströmung zur Erweiterung ihrer Unterstützung und Verbesserung ihrer Durchsetzungsmöglichkeiten eine klassenübergreifende Plattform. Sie bemerkt nicht, dass sie gerade durch diesen übergreifenden Ansatz ihren Handlungsspielraum drastisch einengt. Darüber hinaus muss sie sich selbst zum Tragen ihrer bürgerlichen Scheuklappen verpflichten, die ihr einen proletarischen Klassenstandpunkt als Einengung erscheinen lassen.

Das Problem der globalen sozialen Rechte ist also nicht einfach die Illusion der Durchsetzbarkeit, sondern die damit verbundene aktive Schaffung falschen Bewusstseins, die Ablenkung von den erforderlichen Auseinandersetzungen und die lediglich innerhalb des bürgerlichen Rahmens sich bewegende Strategie mit der entsprechenden Taktik der Bindung der Arbeiterklasse an die Interessen der Bourgeoisie. Um bürgerliches Eigentum nicht durch sozialen Unfrieden zu gefährden, sollen alle angemessen leben dürfen. Und für diese Utopie einer alle grundlegend versorgenden und sozial absichernden bürgerlichen Gesellschaft soll letztlich eine revolutionäre Perspektive für eine sozialistische Gesellschaft vermieden werden.

Die Einforderung globaler sozialer Rechte präsentiert sich schließlich zwar zukunftsorientiert, stellt sich aber klar in die bürgerliche Tradition der Menschenrechte. Diese Tradition ist allerdings weder vorwärtsgerichtet, noch neu. Engels meinte bereits 1886: „Wie ihrerseits die Bourgeoisie im Kampf gegen den Adel die theologische Weltanschauung noch eine Zeitlang aus Überlieferungen mitgeschleppt hatte, so übernahm das Proletariat anfangs vom Gegner die juristische Anschauungsweise und suchte hierin Waffen gegen die Bourgeoisie.“ (MEW 21: 493)