Sudan: Ein Jahr Bürger:innenkrieg

Dave Stockton, Infomail 1251, 19. April 2024

Im Sudan wütet nun seit einem Jahr ein verheerender Krieg. Er wurde von den westlichen Medien weitgehend ignoriert und seit dem 7. Oktober durch Israels Genozid in Gaza aus den Schlagzeilen verdrängt. Doch das Leid der sudanesischen Bevölkerung ist mit diesem Konflikt vergleichbar, was die Zahl der Vertriebenen, die Gräueltaten an der Zivilbevölkerung und die drohende Hungersnot angeht. In der Hauptstadt Khartum wurden viele Gebäude zerstört, und in al-Faschir, der Hauptstadt von Schamal Darfur (Nord-Darfur), mussten 40.000 Menschen aus ihren Häusern fliehen, als die Schnellen Eingreiftruppen (RSF) versuchten, die Stadt einzunehmen.

Quellen der Vereinten Nationen sprechen von „Massengräbern, Gruppenvergewaltigungen, wahllosen Angriffen in dichtbesiedelten Gebieten“ und der Vertreibung von 8,1 Millionen der 45 Millionen Einwohner:innen des Sudan, darunter mindestens 1,76 Millionen, die in arme Nachbarländer wie den Tschad geflohen sind. Mindestens 292 Menschen sind an Cholera gestorben, und bis zum 17. Februar 2024 gab es über 10.700 Verdachtsfälle.

Einem in der Zeitschrift The Middle East Eye zitierten Bericht zufolge sind seit Ausbruch der Kämpfe 37 Prozent der sudanesischen Anbauflächen unbewirtschaftet und die Weizenproduktion des Landes ist um 70 Prozent zurückgegangen. Hungersnöte plagen das Land, und obwohl am 15. April auf einer Geber:innenkonferenz in Paris Hilfsgelder in Höhe von 1,7 Milliarden Pfund (knapp 2 Milliarden Euro) zugesagt wurden, wird die Lieferung schwierig, weil die Krieg führenden Kommandeur:innen Vorräte für ihre eigenen Truppen beschlagnahmen.

Wie der Krieg begann

Die Kämpfe nahmen ihren Anfang im April 2023 zwischen den sudanesischen Streitkräften (SAF) unter der Führung von General Abdel Fattah Burhan und seinem Stellvertreter Mohamed Hamdan Dagalo, genannt Hemeti, der die paramilitärische RSF leitet. Seit ihrem Putsch gegen die Zivilregierung von Abdalla Hamdok im Oktober 2021 hatten sie ein Militärregime geführt.

Der Krieg brach in der riesigen Hauptstadt Khartum aus, breitete sich aber schnell auf andere Teile des Sudan aus, darunter Darfur, Port Sudan und im Dezember 2023 auch auf das bis dahin friedliche Projekt Gezira, das landwirtschaftliche Kerngebiet des Landes am Zusammenfluss von Blauem und Weißem Nil.

Sowohl Burhan als auch Dagalo traten während des blutigen Krieges in Darfur zwischen 2003 und 2008, in dem 300.000 Menschen getötet und 2,5 Millionen zu Flüchtlingen wurden, erstmals als militärische Führer in Erscheinung. Dagalo führte die berüchtigten Dschandschawid-Milizen (deutsch: berittene Teufel) an, die einige der schlimmsten Gräueltaten verübten und gleichzeitig durch die Goldminen in Darfur enorm reich wurden.

Doch die beiden Diebe zerstritten sich, angeblich wegen Burhans Versuch, die RSF in Darfur und Khartum unter sein eigenes Kommando zu stellen. Dagao erkannte, dass dies bedeutete,  den Zugang zu den Reichtümern von Darfur, einschließlich Gold, Mineralien, Öl und landwirtschaftlichen Erzeugnissen, abtreten zu müssen.

Ausländische Mächte

Der Zusammenstoß zwischen diesen korrupten Führern war zum Teil darauf zurückzuführen, dass sie um die Unterstützung der rivalisierenden imperialistischen Gruppen warben, die ebenfalls Zugang zu den Reichtümern und der strategischen Lage des Sudan bekommen wollten: der US-Imperialismus und seine europäischen Verbündeten, die sich mit China und Russland messen, sowie die Beteiligung regionaler Mächte wie Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Ägypten und Iran. Sie alle haben sich in den Sudan eingemischt. Nach Angaben der New York Times liefern die VAE heimlich Waffen an die RSF.

Tatsächlich bildet der Sudan selbst nur einen Teil eines Krisenbogens, der sich westlich über die Sahelzone zieht und auch den Tschad, Mali, Burkina Faso und Niger umfasst. In diesen Staaten kam es zu Militärputschen, die die französische Vorherrtschaft massiv schwächte oder gar durch andere ersetzte, oft unter Beteiligung Russlands (militärisch) und Chinas (Finanzen und Handel). Im Osten erstreckt er sich bis zu den Staaten am Roten Meer und Horn von Afrika.

Auch dort sind die Staaten von Konflikten und Rivalitäten geplagt. Äthiopien, Eritrea, Somaliland (Nordwestregion Somalias, völkerrechtlich nicht anerkannt) und Somalia haben alle die Hilfe der superreichen Rentierstaaten der Arabischen Halbinsel angezogen oder gesucht. Außerdem intervenieren die Huthis (Ansar Allah; Helfer:innen Gottes) im Jemen in den Gazakrieg. Diese Staaten liegen strategisch günstig in der Nähe oder an der Straße von Bab al-Mandab, die den Indischen Ozean mit dem Roten Meer und von dort aus mit dem Suezkanal verbindet. Etwa 20 Prozent des weltweiten Containerschiffsverkehrs werden durch diese Meerenge geleitet.

Entscheidende Lektionen

Der aktuelle Bürger:innenkrieg stellt aber vor allem Maße das Ergebnis der Niederlage der demokratischen Revolution im Sudan bzw. ihres Scheiterns dar, die Macht der rivalisierenden sudanesischen Kriegsherr:innen zu brechen und sich auf die Machteroberung der Arbeiter:innenklasse zuzubewegen.

Ende 2018 und bis ins Jahr 2019 hinein verfolgte die Welt mit Bewunderung, wie ein Massenaufstand, an dem sich Student:innen, Arbeiter:innen und Frauen beteiligten, das militärisch-islamistische Parteiregime von Präsident Omar (Umar) al-Baschir herausforderte, der seit dreißig Jahren an der Macht war. Die Proteste wurden von jugendlichen Widerstandsnachbarschaftskomitees auf der Straße organisiert. Im April wurde al-Baschir durch das Militär gestürzt. Am 21. April 2019 kündigte Abdel Fattah Burhan einen Militärischen Übergangsrat an, der „den Aufstand und die Revolution ergänzt“ und versprach, dass er sich „für die Übergabe der Macht an das Volk“ einsetzen würde. Dies war natürlich eine dreiste Lüge.

Der Rest des Jahres war von Massendemonstrationen geprägt, die sich mit Verhandlungen mit den politischen Parteien abwechselten. Im Oktober 2019 wurde eine zivile Regierung unter der Leitung von Abdalla Hamdok eingesetzt. Es war jedoch klar, dass diese immer noch unter der Vormundschaft von Burhan stand. Die unruhige Doppelherrschaft zog sich über zwei Jahre hin, in denen Hamdok seine Unterstützung in der Bevölkerung verspielte, indem er die von den ausländischen Gläubigern des Sudan diktierten Wirtschaftsreformen durchsetzte. Im Januar 2022 trat er schließlich zurück, so dass das Militär bis zur Spaltung zwischen der RSF und der SAF wieder an der Macht war.

In einem vor vier Jahren verfassten Artikel haben wir die Lehren aus den Revolutionen des Arabischen Frühlings gezogen, insbesondere aus der größten von ihnen, der in Ägypten. Da das militärische Oberkommando unter Abd al-Fattah as-Sisi (Abdel Fatah El-Sisi) seine Macht über die Angehörigen der Armee behielt, führte der Putsch gegen den gewählten Präsidenten der Muslimbruderschaft, Mohammed Mursi, zur raschen Wiedereinführung einer Militärdiktatur, die genauso schlimm war wie die von Husni Mubarak (Hosny Mubarak) oder noch strenger.

Wir sagten: „Die sudanesischen Revolutionär:innen werden zweifellos an das Schicksal des Arabischen Frühlings 2011 in Ägypten, Syrien, Jemen und Libyen denken, wo trotz des Mutes der jungen Revolutionär:innen ihrer Bewegung durch eine brutale Rückkehr des alten Regimes zerschlagen wurden. Solange das Oberkommando der Armee, die islamistischen Parteien und die Staatsbürokratie intakt bleiben, selbst wenn ihre derzeitigen Führer:innen zur Seite oder zurücktreten, wird die Gefahr einer Konterrevolution bestehen bleiben. Die einzige Antwort ist eine Revolution, die den ganzen Weg geht, die repressive Macht des Staates zerbricht, der korrupten Kapitalist:innenklasse die Kontrolle über die Wirtschaft entreißt und die Macht in die Hände der arbeitenden Menschen legt.“

Im Sudan ist der brutale Bürger:innenkrieg das Ergebnis einer unvollendeten Revolution, was einmal mehr das Wort des französischen Jakobiners Louis Antoine Saint-Just bestätigt: „Wer die Revolution halb macht, schaufelt nur sein eigenes Grab“. Unter den harten Bedingungen des Bürger:innenkriegs und unabhängig davon, welchen reaktionären Deal die ausländischen Mächte den Kriegsparteien aufzwingen, müssen die sudanesischen Revolutionär:innen die Lehren aus den vergangenen Jahren ziehen und sie in einem Programm und einer Partei verankern.

Zu diesen Lehren gehört nicht nur die enorme Gefahr, das Militär unangetastet zu lassen, d. h., in leninistischen Begriffen, nicht „die bürokratische militärische Staatsmaschine zu zerschlagen“, sondern auch die fatale stalinistische Volksfrontstrategie des Bündnisses des Bündnisses mit und der Unterordnung unter bürgerliche und kleinbürgerliche Kräfte. Die Führung der Arbeiter:innenklasse ist auch bei eine Umwälzung, die als „demokratische“ Revolution beginnt, der einzige Weg, um selbst ihre demokratischen Ziele zu verwirklichen, und um dies zu erreichen, muss die Revolution dauerhaft werden, d. h. zur Errichtung der Macht der Arbeiter:Innenklasse und zu sozialistischen Aufgaben übergehen.




Pakistan: Stoppt den rassistischen Krieg gegen afghanische Flüchtlinge!

Minerwa Tahir, Infomail 1233, 13. Oktober 2023

Am 1. Oktober stellte die pakistanische Regierung schätzungsweise 1,7 Millionen afghanischen Flüchtlingen, von denen viele vor der Verfolgung durch die Taliban geflohen sind, ein Ultimatum, innerhalb eines Monats die Landesgrenzen zu verlassen. Denjenigen, die dies nicht tun würden, drohten Haft und Abschiebung. Bis zum 9. Oktober hatten die Behörden der Provinz Sindh bereits 1.700 Afghan:innen, die sich „illegal“ in Karatschi aufhielten, festgenommen. Die Entscheidung wurde in einer Sitzung des Apex-Komitees (des Nationalen Aktionsplans) unter der Leitung des geschäftsführenden Premierministers Anwar ul Haq Kakar getroffen, an der u. a. der Generalstabschef der Armee, General Asim Munir, Bundesminister:innen und die Ministerpräsident:innen der Provinzen teilnahmen.

Die Regierung beschloss, dass für den Grenzverkehr zwischen Pakistan und Afghanistan Pässe und Visa erforderlich sind und die elektronischen afghanischen Personalausweise, die so genannten E-Tazkiras, nach dem 31. Oktober nicht mehr akzeptiert werden. Nach Ablauf dieser Frist würde eine Operation beginnen, die sich gegen illegale Immobilien und Unternehmen richtet, die Migrant:innen gehören oder in Zusammenarbeit mit pakistanischen Staatsangehörigen betrieben werden. Offensichtlich hat die Regierung die Frist nicht abgewartet und mit Maßnahmen gegen eine bereits vertriebene Bevölkerung begonnen.

Die Lage in Afghanistan

In Afghanistan hat die Übernahme von Kabul durch die Taliban nach dem Abzug der US-geführten Truppen im August 2021 die ohnehin schon große Instabilität und Gewalt im Land noch verstärkt. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks sind mindestens 8,2 Millionen Afghan:innen durch Konflikte, Gewalt und Armut vertrieben worden und haben in 103 verschiedenen Ländern Zuflucht gesucht. Nach Syrer:innen und Ukrainer:innen stellen die Afghan:innen die drittgrößte vertriebene Bevölkerungsgruppe der Welt. Pakistan und der Iran beherbergen derzeit die größte Zahl der Vertriebenen. Im Gegensatz zu den ukrainischen Flüchtlingen ist diese Lebensweise für die afghanischen nicht neu, da ihre Region seit vier Jahrzehnten von Konflikten und Instabilität geprägt ist. Hunger, Auszehrung und Menschenrechtsverletzungen nehmen zu.

Im Jahr 2023 sind 20 Millionen Afghan:innen von akutem Hunger bedroht, wobei 6 Millionen Menschen nur einen Schritt von der Hungersnot entfernt sind. Eine Rekordzahl von 28,3 Millionen Bewohner:innen benötigt im Jahr 2023 humanitäre Hilfe und Schutz, was einen drastischen Anstieg gegenüber 24,4 Millionen im Jahr 2022 und 18,4 Millionen Anfang 2021 darstellt. In Afghanistan hat die Verschuldung zugenommen, sowohl was die Zahl der verschuldeten Personen (82 Prozent aller Haushalte) als auch die Höhe der Schulden (etwa 11 Prozent mehr als im Vorjahr) betrifft. Darüber hinaus hat die fundamentalistische Regierung dafür gesorgt, dass Afghanistan für niemanden mehr eine Heimat ist, der/die seinen/ihren Töchtern das gleiche Leben wie seinen/ihren Söhnen bieten möchte. Erschwerend kommt hinzu, dass Naturkatastrophen ihren Teil zum Elend beigetragen haben. Im Juni 2022 wurden bei dem schwersten Erdbeben, das das Land in den letzten 20 Jahren heimgesucht hat, mindestens 1.000 Menschen getötet und viele weitere verletzt. In diesem Jahr sind bereits über 2.400 Einwohner:innen ums Leben gekommen, und viele weitere sterben noch immer, da der Westen Afghanistans von einem weiteren schweren Erdbeben heimgesucht wurde.

Man würde erwarten, dass die Berichte über die erneut zu Tausenden vertriebenen Afghan:innen die Haltung der pakistanischen Regierung, wenn auch nur vorübergehend, aufweichen würden. Doch nichts davon ist geschehen. Obwohl die Vereinten Nationen das Regime in Islamabad dringend aufforderten, die Risiken einer Zwangsrückführung von Flüchtlingen nach Afghanistan zu bedenken, hielt die pakistanische Regierung an ihrer Entscheidung fest. Während die pakistanischen Beweggründe für sich genommen reaktionär sind, verfolgen die imperialistischen Staaten, die die UNO dominieren, ihre eigenen Ziele, wenn sie Pakistan drängen, die Afghan:innen zu behalten. Schließlich will keines der imperialistischen Zentren afghanische Flüchtlinge aufnehmen, die vor den Folgen eines jahrzehntelangen Krieges fliehen, für den diese Staaten direkt verantwortlich sind.

Die Argumentation der pakistanischen Regierung und die Reaktion der Taliban

Nach den jüngsten Zahlen der Vereinten Nationen sind rund 1,3 Millionen Afghan:innen als Flüchtlinge in Pakistan registriert und weitere 880.000 verfügen über einen legalen Aufenthaltsstatus. Die Regierung behauptet jedoch, dass sich weitere 1,73 Millionen aus dem Nachbarland illegal in Pakistan aufhalten. Nach Angaben des Innenministers der geschäftsführenden Regierung, Sarfraz Bugti, beläuft sich die Zahl der afghanischen Flüchtlinge in Pakistan auf insgesamt 4,4 Millionen. Er erklärte, die Regierung habe die Entscheidung, afghanische Flüchtlinge auszuweisen, angesichts der zunehmenden Angriffe militanter Islamisten getroffen.

Die Ausweisungen sollen in mehreren Phasen erfolgen. „In der ersten Phase werden illegal ansässige Personen, in der zweiten Phase solche mit afghanischer Staatsbürgerschaft und in der dritten Phase mit nachgewiesener Aufenthaltsgenehmigung ausgewiesen“, heißt es in dem Bericht, der hinzufügt, dass diese Ausländer:innen „eine ernsthafte Bedrohung für die Sicherheit Pakistans darstellen“.

Bugti erklärte, dass „das Wohlergehen und die Sicherheit eines/r Pakistaner:in für uns wichtiger sind als jedes andere Land oder dessen Politik. Die erste Entscheidung, die wir getroffen haben, betrifft unsere illegalen Einwanderer:innen, die sich auf illegale Weise in Pakistan aufhalten. Wir haben ihnen eine Frist bis zum 1. November gesetzt, um freiwillig in ihre Länder zurückzukehren, und wenn sie das nicht tun, werden alle Strafverfolgungsbehörden des Staates und der Provinzen sie abschieben.“ Bugti fügte hinzu, dass die Einreise ohne Pass oder Visum in kein anderes Land der Welt erlaubt sei.

Die Regierung teilte außerdem mit, dass eine universelle Notrufnummer und ein Webportal eingerichtet werden, über die Bürger:innen anonym Informationen über illegale Ausweise, illegale Migration und andere illegale Praktiken wie Schmuggel und Horten von Geld weitergeben können. Im Rahmen eines solchen Programms würden auch Belohnungen für diese Denunziation festgelegt werden. Man kann sich gut vorstellen, was für eine rassistische Katastrophe dies in einem Land wäre, in dem die meisten mit hungrigen Mägen schlafen! Es könnte außerdem auch dazu benutzt werden, persönliche Rechnungen zu begleichen.

Bugti behauptete, dass seit Januar 24 Selbstmordattentate verübt wurden, davon 14 von afghanischen Staatsangehörigen, darunter die jüngsten Anschläge auf eine Polizeistation und die dazugehörige Moschee im Distrikt Hangu in Khyber-Pakhtunkhwa, bei denen fünf Menschen getötet wurden, sowie die Explosion in einer Moschee in Peschawar auf einem Hochsicherheitsgelände, auf dem sich u. a. das Hauptquartier der Provinzpolizei und eine Abteilung für Terrorismusbekämpfung befinden, bei der 59 Menschen getötet wurden.

Am nächsten Tag schrieb der Pressesprecher der afghanischen Taliban, Zabiullah Mudschahid, auf X (früher: Twitter), dass Pakistans Verhalten „gegen afghanische Flüchtlinge inakzeptabel“ sei. Er fügte hinzu: „Die pakistanische Seite sollte ihren Plan noch einmal überdenken. Die afghanischen Flüchtlinge sind nicht in die Sicherheitsprobleme Pakistans verwickelt. Bis sie Pakistan freiwillig verlassen, sollte das Land sie tolerieren.“

Auch die Vereinten Nationen stellen sich nicht hinter die pakistanische Regierung. Sie haben angeboten, Pakistan bei der Einrichtung eines Systems zur Überwachung und Erfassung von Personen, die innerhalb seiner Grenzen internationalen Schutz suchen, zu unterstützen und „spezifische Schwachstellen“ zu beseitigen. Inzwischen haben Afghan:innen berichtet, dass sie wahllos verhaftet werden.

Warum jetzt?

Jahrelang hat Pakistan die Taliban als beste Option für Pakistan als Herrscher Afghanistans favorisiert, aber die Beziehungen haben sich in den letzten Jahren abgenutzt. Der Hauptvorwurf des pakistanischen Staates lautet, dass die Islamisten, die den pakistanischen Staat bekämpfen, ihre Operationen von afghanischem Boden aus durchführen, wo ihre Kämpfer ausgebildet und Anschläge in Pakistan geplant werden. Die Taliban bestreiten diese Anschuldigungen und behaupten, dass Pakistans Sicherheitsprobleme hausgemacht sind. Unterdessen hat die Tehrik-i-Taliban Pakistan (Bewegung der pakistanischen Taliban; TTP), eine sunnitische militante Hardlinergruppe, ihren Waffenstillstand mit der pakistanischen Regierung im November letzten Jahres beendet.

Seitdem hat die Gewalt in Pakistan einen ungewöhnlichen Aufschwung erlebt. Tatsache ist, dass alle Akteure in der Region, seien es die Halbkolonien wie Pakistan, Indien, Afghanistan und Iran oder imperialistische Mächte wie die USA, Russland und China, häufig die eine oder andere islamistische oder anderweitig militante Gruppe in der Region unterstützen. Es ist ein offenes Geheimnis, denn die Führer:innen fast aller Länder haben dies zu einem bestimmten Zeitpunkt zugegeben. Das Problem besteht darin, dass a) die gesamte Bevölkerung eines Landes in einen Topf geworfen wird und b) diese Zugehörigkeiten nur zu bestimmten Zeitpunkten zum Problem geraten, nämlich dann, wenn sie lästig werden.

Pakistan wird derzeit von einer geschäftsführenden Regierung verwaltet, die seit August im Amt ist, um die bevorstehenden Wahlen zu überwachen. Aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Instabilität, die in Pakistan herrscht, konnte das Militär in der gegenwärtigen Situation noch mehr Einfluss als üblich ausüben. Das Land befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise und seine Wirtschaft steht kurz vor dem Zusammenbruch. Die Covidpandemie, die Überschwemmungen von 2022, die allgemeine Verschuldung bei den imperialistischen Gendarmen IWF und Weltbank und deren neoliberales Diktat, eine abwertende Währung und ein allgemeiner Anstieg der Inflation, der Arbeitslosigkeit und der Terroranschläge sind alles Faktoren, die die Massen des verarmten Landes in einen Zustand schweren Leidens und Aufruhrs versetzt haben.

Selbst die Mittelschicht kämpft ums Überleben, da Lebens- und Grundnahrungsmittel unerschwinglich und unzugänglich geworden sind. In dieser Situation liegt es im Interesse der herrschenden Klassen, die Massen vom Klassenkampf abzulenken, der der Kern ihres Leidens ist, und sie in eine fremdenfeindliche Kampagne gegen ein leichtes Ziel zu verwickeln. Afghan:innen sind seit langem in der pakistanischen Region präsent. Historisch gesehen gab es während der Kolonialzeit viele Bewegungen auf der Suche nach Arbeit. Aufgrund des imperialistischen Krieges und des damit verbundenen Leids nahm diese Bewegung um ein Vielfaches zu. Pakistan war einer der Hauptakteure im so genannten Krieg gegen den Terror und erhielt zudem massive Finanzmittel von den imperialistischen Mächten. Das Mindeste, was es dann tun sollte, war die Aufnahme von Tausenden, die vor Verfolgung und Krieg flohen. Nach dem 11. September kamen afghanische Flüchtlinge massenhaft nach Pakistan und stützten sich dabei auf ihre verwandtschaftlichen Beziehungen über die poröse, gebirgige Grenze.

Heute leben sie zumeist entweder als Kleinunternehmer:innen – vor allem als Betreiber:innen von Teeläden und als Leiter:innen von Bustransitstrecken neben anderen ähnlichen Berufen – oder als Gelegenheitsarbeiter:innen oder als obdachlose Bettler:innen. Inzwischen hat auch eine Reihe von Angehörigen der Intelligenz in Pakistan Zuflucht gesucht, in der Hoffnung, dass imperialistische Mächte wie das Vereinigte Königreich und Deutschland ihre Versprechen einlösen und ihnen, auf pakistanischem Boden angelangt, Visa gewähren würden. Angesichts der Tatsache, dass Afghan:innen in der Vergangenheit keinen Teil des Großkapitals in Pakistan ausmachten, ist es nicht verwunderlich, dass sie heute der Sündenbock für eine herrschende Klasse sind, die darum kämpft, so zu herrschen, wie sie früher herrschte.

Ein weiterer wichtiger Faktor für die pakistanische Wut gegenüber Afghanistan ist der Transithandel durch Pakistan. Laut der Tageszeitung Dawn „wurde der afghanische Transithandel schon immer von Händler:innen beider Länder zum Schmuggel missbraucht. Berichten zufolge werden Transitladungen oft von den Häfen direkt auf pakistanische Märkte umgeleitet, bevor sie die Grenze überqueren.“ Der Leitartikel fügt hinzu, dass der Wert dieses afghanischen Transithandels von vier Milliarden US-Dollar im Vorjahr auf 6,7 Milliarden in diesem Jahr gestiegen ist und der Wert der im Rahmen der Transitfracht geschmuggelten Güter um 63 Prozent auf 3,7 Milliarden zugenommen hat. Da die pakistanische Wirtschaft am Rande des Zusammenbruchs steht, ist Pakistan natürlich nicht glücklich über die Milliarden, die der afghanische Handel angeblich eingebracht hat.

Der vielleicht wichtigste Grund ist jedoch, dass der pakistanische Staat gehofft hatte, Afghanistan auf der geopolitischen Ebene in seinem Einflussbereich zu halten, und nun die Abschiebung afghanischer Flüchtlinge als Strafmaßnahme gegen seinen widerspenstigen Nachbarn einsetzt, von dem er befürchtet, dass er mit einem Bein in Indiens Boot sitzt. Die wachsende Annäherung Afghanistans an Indien hat in Pakistan einen saueren Beigeschmack hinterlassen. Das von den Taliban beherrschte Afghanistan hat den Kaschmirkonflikt als bilaterale Angelegenheit zwischen Indien und Pakistan bezeichnet und zu den Gräueltaten in dem überwiegend muslimischen Tal geschwiegen. In diesem Jahr lieferte Indien über den iranischen Hafen Tschahbahar am Golf von Oman 20.000 Tonnen Weizen in das eingeschlossene Land, das mit einer extremen Nahrungsmittelkrise zu kämpfen hat, gefolgt von 40.000 Tonnen, die im vergangenen Jahr über die pakistanischen Landwege verschickt wurden. Indien schickte auch medizinische Hilfsgüter nach Afghanistan und hat auch sein diplomatisches Engagement gegenüber der Talibanregierung fortgesetzt und seine Botschaft in Kabul wiedereröffnet. Indien hat in seinem Haushalt 2023-24 25 Millionen US-Dollar für Entwicklungshilfe für Afghanistan vorgesehen, was von den Taliban begrüßt wird.

Es versteht sich von selbst, dass die islamfeindliche Hindutva-Regierung in Delhi eine ausgewogene Nähe zur islamistisch-fundamentalistischen Regierung in Kabul in erster Linie auf der Grundlage regionaler Interessen pflegt. (Dies wird umso deutlicher, wenn man sieht, wie Indien nach der Machtübernahme durch die Taliban nicht nur keine Visa mehr an afghanische Student:innen ausstellt, sondern am 25. August 2021 auch die Visa derjenigen annullierte, die zwar ein Visum erhalten hatten, sich aber nicht in Indien aufhielten.) Bei diesen Interessen geht es nicht nur darum, den Einflussbereich Pakistans auszuschalten, sondern vor allem auch den des weitaus stärkeren Rivalen China. Chinas Botschafter in Kabul, Zhao Xing, wurde im vergangenen Monat von den Taliban sehr herzlich empfangen, und beide Länder haben den gegenseitigen Wunsch nach engeren Beziehungen, vor allem geschäftlichen, geäußert. Dies bedroht Indiens Investitionen in Afghanistan, die es während der Herrschaft der Marionettenregierung von Aschraf Ghani getätigt hatte, was möglicherweise der Grund dafür ist, dass Indien sich so aufführen musste, dass es die Islamophobie beiseiteschob und mit Kabul über Geschäfte sprechen musste.

Dennoch zeigt sich Islamabad nicht begeistert. Es ist sich auch bewusst, dass die Wirtschaft Afghanistans mit seiner international immer noch nicht anerkannten Regierung, den eingefrorenen Vermögenswerten, der hungerähnlichen Situation und der hohen Verschuldung die Last der Rückkehr von einer Million Flüchtlingen nicht tragen könnte. Das zeigt auch die Reaktion des Talibansprechers auf die Entscheidung aus Pakistan.

Was das für afghanische Flüchtlinge bedeutet

Die Schikanen gegenüber afghanischen Flüchtlingen sind in Pakistan nichts Neues, sie tragen jetzt nur einen rechtlichen Deckmantel. Am 20. Juni, dem Weltflüchtlingstag, forderte Amnesty International die pakistanische Regierung auf, die willkürliche Verhaftung und Schikanen gegen afghanische Flüchtlinge und Asylsuchende einzustellen. Nach der Machtübernahme der Taliban floh eine große Zahl von Flüchtlingen nach Pakistan. Angaben von Amnesty International zufolge kamen viele von ihnen mit regulären Visa nach Pakistan, die inzwischen abgelaufen sind (und um sie zu verlängern, müssen sie erneut nach Afghanistan einreisen), und wegen erheblicher Verzögerungen im Registrierungsverfahren sind die meisten nicht im Besitz einer „Registrierungsachweiskarte“, dem Ausweis, der afghanische Flüchtlinge zu einem regulären Aufenthalt in Pakistan berechtigt. Neben der Beteuerung freundschaftlicher nachbarschaftlicher Beziehungen, um seinen Einflussbereich zu erweitern, hat Pakistan diese Flüchtlinge wahrscheinlich auch in der Hoffnung auf internationale Hilfe aufgenommen.

Seit ihrer massenhaften Ankunft im August 2021 sind die Afghan:innen nicht nur Schikanen und willkürlichen Verhaftungen ausgesetzt, sondern auch Erpressung und Arbeitslosigkeit. Ohne Dokumente, mit denen sie ihren Rechtsstatus nachweisen können, ist es für die Behörden leichter, nach oder unter Androhung einer willkürlichen Verhaftung Geld von ihnen zu erpressen. Ebenso führt das Fehlen von Dokumenten dazu, dass sie in schlecht bezahlten prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten müssen, da eine formelle Beschäftigung keine Option ist. Ohne einen Registrierungsnachweis können sie keine Bankkonten einrichten oder ihre SIM-Karten registrieren lassen. Auch Vermieter:innen und Immobilienmakler:innen nutzen das Fehlen eines Nachweises über ihren regulären Status aus.

Die Verlängerung eines abgelaufenen Visums bedeutet, dass die Afghan:innen erneut nach Afghanistan einreisen müssen, um ein neues zu erhalten. Für viele, insbesondere Frauen und geschlechtliche Minderheiten, Journalist:innen, Aktivist:innen, Schiit:innen, Musiker:innen und fortschrittliche Menschen, ist dies keine Option. Daher haben sie sich dafür entschieden, unterzutauchen und in Pakistan ein Leben in prekären Verhältnissen zu führen.

Da Pakistan die Flüchtlingskonvention von 1951 und das dazugehörige Protokoll von 1967 nicht angenommen hat, das laut der in Karatschi ansässigen Anwältin Moniza Kakar „Staaten daran hindert, Menschen zu bestrafen, die illegal in ein Land einreisen“, kann es sich auf das inländische Ausländergesetz von 1946 berufen, um Afghan:innen, die sich illegal in Pakistan aufhalten, zu bestrafen und auszuweisen. Offensichtlich steckt Pakistan immer noch in der Barbarei der Kolonialzeit fest!

In ganz Pakistan, vor allem aber an den Gerichten Sindhs, herrscht die Meinung vor, dass Afghan:innen keine humanitäre Hilfe verdienen, weil sie „Kriminelle“ sind und in „terroristische Aktivitäten“ verwickelt. Dieses rassistische Schema gilt nicht nur für Afghan:innen, auch ihre paschtunischen Cousin:innen werden nicht verschont. Die Motivation für die Ermordung von Naqeebullah Mehsud, die die Pashtun Tahaffuz Movement (Bewegung zum Schutz der Paschtun:innen) ausgelöst hat, war genau dieselbe. Diese rassistische Diskriminierung und Feindseligkeit ist in allen pakistanischen Einrichtungen weit verbreitet – in Krankenhäusern, an Schulen, Hochschulen und Universitäten, am Arbeitsplatz, in den Stadtvierteln, vor Gericht und auf den Polizeistationen.

Deshalb müssen wir gegen alle derartigen Ressentiments ankämpfen. Afghan:innen, die vor der reaktionären Talibanregierung Asyl suchen, haben keinen Grund, sich in Selbstmordwesten in die Luft zu sprengen. Sie sind Opfer von Verfolgung und fliehen aus ihrer Heimat, um Zuflucht und Schutz zu finden. Die Vorstellung, dass sie ihre Heimat nur verlassen haben, um Pakistan bombardieren zu können, ist bizarr. Das Leid der großen Mehrheit der vertriebenen Afghan:innen, die erst durch den imperialistischen Krieg in ihrem Land, dann durch die Taliban und jetzt durch Pakistan und andere Aufnahmeländer bestraft wurden, muss jetzt ein Ende haben. Länder wie Deutschland haben auch nicht gerade eine andere Rolle gespielt. Die Dringlichkeit, die bei der Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge an den Tag gelegt wurde, fehlte eindeutig im Fall der Afghan:innen. Das Verfahren, um Flüchtlinge von dort über Pakistan nach Deutschland zu bringen, war von vornherein so mühsam und kompliziert, wie für Migrant:innen mit muslimischem Hintergrund fast alles ist, was die Einwanderungsbürokratie betrifft. Bei anderen imperialistischen Ländern liegt der Fall nicht viel anders.

Aufgaben und Forderungen

Der pakistanische Staat sieht sich selbst als Fackelträger islamischer Prinzipien und ist gekränkt, wenn Muslim:innen in Palästina oder Indien leiden müssen. Interessant ist jedoch, dass diese Sichtweise nicht auf die große Mehrheit der Muslim:innen in Afghanistan angewandt wird.

Kurz gesagt, die afghanischen Flüchtlinge befinden sich in einem ähnlichen Dilemma wie die Menschen im Gazastreifen heute. Sie können nirgendwo hin. Außerdem will sie kein Land aufnehmen, und die meisten von ihnen können einfach nicht in ihr Heimatland zurückkehren, solange die Taliban an der Macht sind. Die Aufgaben, die sich aus der gegebenen Situation für die Sozialist:innen ergeben, sind daher zweifach. Wir haben nicht nur die Pflicht, das Recht der armen afghanischen Flüchtlingsfamilien zu verteidigen, in den Nachbarländern zu bleiben, d. h. in Pakistan, China, Indien, Iran, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan sowie in Europa, Nordamerika und Australien.

Wir stehen auch vor der Aufgabe, unseren fortschrittlichen Brüdern und Schwestern, insbesondere den mutigen Frauen in Afghanistan, internationale Solidarität und praktische Unterstützung zu gewähren, damit sie das reaktionäre Regime der Taliban stürzen können. Für eine solche Unterstützung ist es notwendig, die Grenzen nicht zu verstärken, sondern abzubauen. Das liegt auch im Interesse der werktätigen Massen in allen Nachbarländern Afghanistans. Der Schlachtruf für die Verwirklichung dieser permanenten Revolution wird lauten: „Sagt es laut, sagt es deutlich, alle Afghan:innen sind hier willkommen“. Die folgenden Forderungen können einen Ausgangspunkt für ein Aktionsprogramm zur Überwindung der gegenwärtigen Situation bilden:

  • Afghan:innen müssen in jedem Land, in dem sie sich aufhalten, die gleichen Bürger:innenrechte erhalten! Nein zur Diskriminierung von Flüchtlingen, die durch imperialistischen Krieg, Hunger und Talibanherrschaft vertrieben wurden!

  • Die europäischen und nordamerikanischen imperialistischen Zentren, die jahrzehntelang direkt in den Krieg in Afghanistan verwickelt waren, haben das Leben und die Infrastruktur in Afghanistan massiv zerstört. Sie müssen jetzt Reparationen zahlen, um das Land wieder aufzubauen!

  • Die imperialistischen Mächte müssen allen Afghan:innen, die in der ganzen Welt vertrieben wurden, sofort die Staatsbürger:innenschaft und gleiche Rechte gewähren! Sie haben es nicht verdient, ein Leben im Elend in halbkolonialen Slums zu führen, nachdem sie durch Kriege vertrieben wurden, die diese Mächte selbst verursacht und von denen sie profitiert haben!

  • Die imperialistischen Mächte, die die afghanischen Reserven eingefroren haben, sind direkt für das Aushungern der afghanischen Massen verantwortlich. Gebt die Reserven der afghanischen Zentralbank jetzt frei!

  • Verschuldung ist eine koloniale Falle. Streicht die Schulden von Afghanistan, Pakistan und allen halbkolonialen Ländern jetzt!



Niger: Putsch legt akute Krise offen

Dave Stockton, Infomail 1229, 8. August 2023

Am 26. Juli verhaftete in Niamey, der Hauptstadt des westafrikanischen Staates Niger, die Präsidentengarde unter der Führung von Brigadegeneral Abdourahamane (Omar) Tchiani Präsident Mohamed Bazoum und setzte ihn ab. Nach kurzem Zögern folgte der Rest der Armee diesem Beispiel.

Staatsstreich

Den Staatsstreich begrüßten zahlreiche Demonstrant:innen, von denen viele von der M62-Allianz (M62: Heilige Union zur Wahrung der Souveränität und der Würde des Volkes) politischer und sozialer Bewegungen organisiert wurden, die sich während der Straßenproteste gegen die Erhöhung der Treibstoffpreise im vergangenen Jahr gebildet hatte. Sie schwenkten nicht nur die Flagge Nigers, sondern auch die der Russischen Föderation und trugen Plakate mit der Aufschrift „Frankreich raus!“ Die Redner:innen forderten, dass die Wagner-Truppen nach Niger kommen sollten, wie sie es in Mali getan haben. Auslöser für den Putsch waren offenbar die Pläne von Präsident Bazoum, die Chefs der Präsidentengarde und der Armee auszutauschen.

Unter den jungen Offizieren der westafrikanischen Streitkräfte gibt es eine Tradition der antikolonialen Politik, die auf Persönlichkeiten wie Thomas Sankara, der Burkina Faso von 1983 – 1987 regierte, oder Jerry Rawlings in Ghana zurückgeht. Sie waren beide von panafrikanistischen Idealen motiviert und von der kubanischen Revolution beeinflusst.

Es ist unwahrscheinlich, dass die heutigen Putschisten durch eine solche Radikalität motiviert sind. Die Vorstellung, dass die Hinwendung zu Wagner oder Putins Russland den Staaten der Region zu Unabhängigkeit oder Entwicklung verhilft, ist in der Tat eine völlige Illusion. Aber das ist auch die Vorstellung, dass Frankreich oder die EU/USA für Demokratie stehen. Sie sind gegen den Putsch, weil Bazoum ihr Mann war.

Kein Wunder also, dass seine größte Hoffnung auf Wiederherstellung seiner Präsidentschaft aus dem Ausland kommt. Frankreich, die ehemalige Kolonialmacht, hat den Staatsstreich sofort verurteilt und jegliche Hilfe für Niger eingestellt. Ein erhebliches wirtschaftliches Druckmittel, da 40 Prozent des nigrischen Staatshaushalts aus ausländischer Hilfe stammen. Emmanuel Macron drohte, dass „jeder Angriff auf Frankreich und seine Interessen nicht geduldet wird“. Seine Verurteilung wurde von der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten unterstützt.

Die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) verhängte Sanktionen, darunter eine Flugverbotszone und Grenzschließungen, und ihr dominierender Staat Nigeria, der 70 Prozent der nigrischen Elektrizität liefert, unterbrach die Stromversorgung, so dass das Land in nächtliche Dunkelheit fiel.

Die Verteidigungsminister der ECOWAS, die in der nigerianischen Hauptstadt Abuja zusammentrafen, drohten mit einer militärischen Intervention, falls Bazoum nicht bis zum 6. August an die Macht zurückkehren würde. Die Frist ist bereits verstrichen, aber bisher gibt es keine Anzeichen für einen Angriff. Als Reaktion auf die Drohungen haben Nigers Nachbarstaaten Mali, Tschad und Burkina Faso jedoch versprochen, dem Land im Falle einer Invasion zu Hilfe zu kommen, wodurch ein umfassender regionaler Krieg droht.

Imperialistische Interessen

Frankreich ist mit 1.500 Soldat:innen in Niger vertreten, die USA mit 1.100. Angeblich sollen sie die nigrischen Streitkräfte ausbilden und bewaffnen, um islamistische Rebellen zu bekämpfen. Brigadier Tchiani hat alle Militärabkommen mit Frankreich aufgekündigt.

Der Grund für die Feindseligkeit gegenüber Frankreich liegt nicht nur in seiner brutalen kolonialen Vergangenheit und auch nicht in den wiederholten militärischen Interventionen in den ehemaligen Kolonien zur „Aufrechterhaltung der Ordnung“ oder zur Rettung französischer Zivilist:innen, sondern in der wirtschaftlichen Ausbeutung der Region und dem Versagen, eine ernsthafte wirtschaftliche Entwicklung herbeizuführen.

Frankreich hat derzeit rund 30 Unternehmen oder Tochtergesellschaften in Niger, darunter das Konglomerat Orano, das die riesige Uranmine im Tamgakgebirgsmassiv betreibt. Niger ist der siebtgrößte Uranproduzent der Welt, und seine Produktion ist seit langem für die französische Atomindustrie, die 68 Prozent des Stroms des Landes produziert, von großer Bedeutung. Das Land verfügt auch über große Lithiumvorkommen, die aufgrund der schnell wachsenden Elektrofahrzeugindustrie immer wertvoller werden.

Trotz oder gerade wegen dieses immensen natürlichen Reichtums und derjenigen, die ihn ausbeuten, rangiert Niger im Index der menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen für 2022 immer noch auf Platz 189 von 191 Ländern. 40 Prozent der Bevölkerung leben in extremer Armut.

Ein Wegfall von Niger wäre ein schwerer Schlag für Frankreich und die USA, Großbritannien und Länder wie Deutschland und Italien, die die französischen Streitkräfte in Afrika im Namen des „Kriegs gegen den Terror“ unterstützt haben. Seit den US-geführten Interventionen in Afghanistan, Irak und Libyen hat sich das Zentrum der islamistischen Guerillabewegungen in die Regionen rund um die Sahara verlagert.

Die Anwesenheit der imperialistischen Truppen hat die Feindseligkeit der Bevölkerung gegenüber Frankreich und seinen Verbündeten neu entfacht, zum einen, weil die versprochene Sicherheit ausblieb, zum anderen, weil französische Unternehmen die Region weiter ausbeuten, wo die Armut zunimmt und der Klimawandel (z. B. Ausweitung der Wüste) die Spannungen zwischen der bäuerlichen und der nomadischen Bevölkerung verschärft hat.

Imperialistische Konkurrenz

Diese Bedingungen haben das Vordringen Russlands in die Region begünstigt, und zwar in Form der russischen Söldnergruppe Wagner, die bereits im benachbarten Mali und in der Zentralafrikanischen Republik operiert, wo sie auch die Goldminen des Landes ausbeutet. Vor dem Ukrainekrieg verfügte Wagner über schätzungsweise 5.000 Operationskräfte in Afrika. Bemerkenswert ist auch, dass der Anführer der Organisation, Jewgeni Prigoschin, den Staatsstreich in Niger sofort begrüßte, während Putin vorsichtig vor einer Militärintervention der ECOWAS warnte.

Niger ist ein besonders schwerer Schlag für Macron. Nachdem er gezwungen war, die gemeinsamen „Antiterror“-Operationen mit den fünf Sahel-Staaten aufzugeben, und nachdem er seine Truppen auf demütigende Weise aus Mali zurückziehen musste, hatte er das Land zum Zentrum einer niedrigschwelligeren Operation bestimmt, die sich auf westafrikanische militärische Vertreter:innen mit französischen „Ausbilder:innen“ stützen sollte. Diese sollte die diskreditierte und verhasste Opération Barkhane (2014 – 2022) ersetzen, an der bis zu 3.500 französische Soldat:innen beteiligt waren. Der stark profranzösische Bazoum sollte der gehorsame Erfüllungsgehilfe dieser Politik sein.

Das gesamte Staatensystem, das früher als „Françafrique“, Frankreichs „Hinterhof“, bezeichnet wurde, ist in den letzten Jahren zusammengebrochen. Frankreichs Banken und Rohstoffkonzerne dominieren jedoch nach wie vor die Wirtschaft dieser Länder. Die westafrikanischen Staaten haben es trotz wiederholter Versuche nicht geschafft, ein gemeinsames, von der französischen Zentralbank unabhängiges Währungssystem zu schaffen. Der CFA-Franc ist nach wie vor die gemeinsame Währung der 14 afrikanischen Länder und dieses System erfordert, dass jedes Land die Hälfte seiner Reserven in Paris hält.

Die Staatsstreiche in Niger und in den umliegenden Staaten sind ein Resultat des halbkolonialen Systems in seiner unverhüllten und ausbeuterischen Form. Aber die Hinwendung zum russischen (oder chinesischen) Imperialismus ist keine Lösung für die Überausbeutung und Plünderung der Region, die Hunderttausende dazu bringt, die Überquerung der Sahara und des Mittelmeers zu riskieren, um Europa zu erreichen. Auch die Militärregime werden sich nicht als resistent gegen Korruption oder Anstiftung dazu durch westliche oder russische Imperialist:innen erweisen.

Die Jugend und die Arbeiter:innenklassen dieser Länder müssen sich über die künstlichen kolonialen Grenzen, über die frankophonen und anglophonen staatlichen Trennlinien hinweg zusammenschließen und dafür kämpfen, die Kontrolle über die enormen Ressourcen dieser Länder zu übernehmen und sie so zu nutzen, dass der Lebensstandard der Bevölkerung massiv angehoben wird. Kurz gesagt, eine wirklich antiimperialistische Revolution muss auch eine sozialistische werden, aber eine, die auf der Demokratie und Herrschaft der Arbeiter:innen in den Städten und auf dem Lande, auf Räten der Arbeiter:innen, Bäuer:innen und der einfachen Soldat:innen und nicht auf ihrem Offizierskorps beruht.




Tragödie und Farce – der „Wagner“-Putsch

Martin Suchanek, Infomail 1226, 26. Juni 2023

Fast so schnell wie der Spuk begonnen hatte, war er auch vorbei. Am 23. Juni verkündete der Chef und Eigentümer der paramilitärischen russischen Gruppe Wagner, Prigoschin, einen „Marsch für Gerechtigkeit“ auf Moskau an. Auch wenn es hieß, dass sich nicht direkt gegen Putin, sondern „nur“ gegen Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow richte, stand ein Putsch im Raum.

Bis zu 25.000 Soldaten mobilisierte die Wagner-Gruppe. Innerhalb weniger Stunden besetzte sie die militärischen Kommandostellen in Rostow/Don, dem Kommandozentrum der Armee im Ukrainekrieg, und rückte auf Moskau vor.

Putin erklärte die Wagner-Truppe zu „Verrätern“ und drohte mit allen erdenklichen Mitteln, um sie zu stoppen und bestrafen. Prigoschin seinerseits kündigte an, alle zu vernichten, die sich einen Söldern in den Weg stellten.

Rund 200 Kilometer vor der Hauptstadt endete der Vormarsch so überraschend, wie er begonnen hatte – mit dem Rückzug der Wagner-Truppen. Vermittelt hatte dieses Ende der Präsident von Belarus, Aljaksandr Lukaschenka. Eine große bewaffnete Konfrontation blieb aus. Die Anklage gegen Prigoschin wurde fallengelassen, die „Aufständischen“ pardoniert. Schließlich hätten sie ja in der Ukraine, in Syrien, Mali und bei sonstigen Schlächtereien „Großes“ für Russland geleistet.

Konflikt im Regime

Der ebenso überraschende wie überraschend abgeblasene Putsch erwischte nicht nur Putin auf dem falschen Fuß. Die gesamte Weltöffentlichkeit spekulierte, immer neue „Nachrichten“, Verlautbarungen, Insider(des)informationen und widerstreitende „Expert:innen“ warten mit ihren Einschätzungen auf. Der amerikanische Geheimdienst sollte schon vorab informiert gewesen sein, heißt es. Andere meinen, auch der russische hätte etwas gewusst. Die einen sprachen von einem Putschversuch, andere meinten, es wäre eher eine inszenierte Auseinandersetzung gewesen. Und wie der Beginn, so gab und gibt auch das Ende des „Marsches für Gerechtigkeit“ Raum zur Spekulation.

Fakt ist, dass die Episode den bisherigen Zenit eines Konfliktes zwischen zwei Flügeln des russischen imperialistischen Militärapparates und Regimes darstellt. Schon seit Monaten hatte Prigoschin den Spitzen der Armee vorgeworfen, in der Ukraine zu versagen, die Lage zu beschönigen, nicht brutal genug vorzugehen und seinen Kämpfern Nachschub vorzuenthalten. Außerdem hätte die Armee die Abzugsrouten von Wagner-Soldaten aus Bachmut vermint. Am 23. Juni beschuldigte Prigoschin das Verteidigungsministerium, einen Angriff auf seine Truppen gestartet zu haben.

Zweifellos zeigt der gesamte Konflikt eine innere Schwäche des russischen Regimes. Der Aufmarsch, die Passivität von Teilen der Armee, der, wenn auch nur zeitweilige, Kontrollverlust über Teile des Landes sind natürlich ein Zeichen der Schwäche für jedes Regime, zumal für ein bonapartistisches, das so sehr auf die „Allmacht“ eines Mannes zugeschnitten ist.

Dazu bedarf es keiner sonderlichen Kenntnisse. Verschärft wird das Problem dadurch, dass der Konflikt nicht gelöst, sondern nur befriedet wurde. Er dürfte zwischen der Armeeführung und der Wagner-Gruppe also weitergehen.

Und auch wenn Putin angeblich schon vor Monaten versucht hatte, ihn durch Vermittlung beizulegen, so darf man nicht vergessen, dass er in mehrfacher Hinsicht selbst eine Ausgeburt des Systems Putin darstellt.

Ursprung und Veränderung der Gruppe Wagner

Der russische Imperialismus hat über Jahre private, paramilitärische, eng mit dem Regime verbundene „Sicherheitskräfte“ aufgebaut. Die Wagner-Gruppe ist sicherlich die bekannteste, aber keineswegs die einzige. Für die Außerpolitik Russlands erfüllten sie über Jahre wichtige Funktionen, erledigten die besonders barbarische Drecksarbeit „privat“, so dass Putin und die Armee für diese „Exzesse“ keine Verantwortung übernehmen, ja sich zur Not sogar davon distanzieren konnten.

Über Jahre agierte u. a. die Wagner-Gruppe am Rande der russischen Legalität. Ironischer Weise war ihr heutiger Intimfeind Gerassimow einer der Inspiratoren ihrer Gründung. Prigoschin selbst bestritt noch bis 2019 irgendwelche Verbindungen zu dieser Organisation.

Die Gruppe Wagner selbst rekrutierte und rekrutiert sich bis heute vornehmlich aus ehemaligen Soldaten und Offizieren der russischen Armee. Auch wenn sie keine offizielle Ideologie hat, so war sie von Beginn an von völkisch-nationalistischen Kräften bis hin zu offenen Faschisten geprägt. Der Name Gruppe Wagner geht auf den ehemaligen Oberstleutnant Dmitri Uktin zurück, der selbst eine Teileinheit der privaten Söldnergruppe Slawisches Korps befehligte und dort den Kampfnamen Wagner führte. Uktin selbst war nicht nur ein Bewunderer des deutschen Komponisten, sondern auch von Adolf Hitler und des Dritten Reiches. Auch wenn die Wagner-Gruppe in ihre Gesamtheit keine faschistische Organisation darstellt, so tummeln sich seit ihrer Gründung russische Rechte darin.

Im Zuge des Ukrainekrieges veränderte sich aber die Größe und Rolle der Söldnertruppe. Es wurden zunehmend auch schlechter ausgebildete Soldaten wie auch Kriminelle in großer Zahl aufgenommen, die oft selbst als Kanonenfutter in der „Truppe“ fungieren. Insgesamt wir die Zahl der Kämpfer im Ukrainekrieg nach unterschiedlichen Quellen auf 30.000 bis 50.000 Mann geschätzt.

Putin als Geburtshelfer

Mit dem rasanten Wachstum veränderte sich zugleich auch die Stellung im System Putin und es steigerte sich auch die Konkurrenz mit dem Militärapparat, der ursprünglich deren Gründung angeregt hatte. Die Verluste im Ukrainekrieg verschärften diese Gegensätze.

Es wäre jedoch verkürzt, diese inneren Widersprüche unter den bewaffneten Kräften des russischen Imperialismus nur als Konflikte zwischen einzelnen Personen oder Institutionen zu betrachten. Das bonapartische Herrschaftssystem Putin hat lange selbst Konflikte und  Konkurrenz unter seinen Gefolgsleuten befeuert. Das funktioniert auch solange, als diese über ein gewisses Maß nicht hinausgehen. Putin kann dann als der „neutrale“, „vernünftige“ Schlichter auftreten und sich so als unersetzlicher Garant für Stabilität nicht nur für seine Gefolgsleute, sondern auch für die Bevölkerung beweisen.

Doch diese Konflikte haben im Ukrainekrieg eine gefährliche Eigendynamik entwickelt, die am 23. Juni für einige aus dem Ruder gelaufen ist und – letztlich entgegen der Intention aller Beteiligten – auch das Herrschaftssystem des russischen Imperialismus als schwach erscheinen ließ.

Dass der Putschversuch unblutig endete, gibt ihm nicht nur einen unfreiwillig komödiantischen Touch. Der Ausgang verdeutlicht auch, dass letztlich alle Beteiligten das System Putin nicht ersetzen, sondern nur ihre Position darin behaupten wollen. Beschädigt wurde es jedoch.

Die Unternehmung der Gruppe Wagner verdeutlicht, dass Teile des bewaffneten Apparates wie auch der wirtschaftlichen Elite auch über Alternativen zu Putin nachzudenken beginnen – inklusive solcher, die einen womöglich noch barbarischeren Kurs verfolgen. Zweitens verweist sie auf eine tief sitzende Unzufriedenheit unter Soldaten an der Front, was für jedes Regime eine Gefahr darstellt. Für den Krieg in der Ukraine bedeutet das keineswegs eine Entspannung von russischer Seite. Kurzfristig ist es durchaus wahrscheinlich, dass die Kriegsanstrengungen des russischen Imperialismus eher noch verstärkt werden, um die eigenen Eroberungen gegen die ukrainischen Gegenangriffe zu halten. Davon hängt heute das Regime Putin noch mehr ab als vor dem „Wagner“-Putsch.




Pakistan: Premierminister Khan gestürzt – die politische Krise geht weiter

Umar Javlad, Infomail 1184, 13. April 2022

Nach wochenlanger politischer Krise und einem Machtkampf zwischen seiner PTI-geführten Regierung und der Opposition endete die Amtszeit von Imran Khan als Premierminister am Samstag, den 9. April. Ein Misstrauensvotum, das von einer parlamentarischen Mehrheit um die traditionellen bürgerlichen Parteien Pakistan Muslim League – Nawaz (PML-N) und Pakistan People’s Party (PPP) durchgesetzt wurde, beendete schließlich die Regierung. 174 Abgeordnete – nur zwei mehr als die erforderliche Mehrheit der 342 Abgeordneten – sorgten für das vorläufige Ende von Khans Regierung.

Am Montag, den 11. April, wurde der PML-N-Vorsitzende Shehbaz Sharif mit denselben 174 Stimmen zum neuen Premierminister gewählt. Die Abgeordneten der PTI boykottierten die Abstimmung und Imran Khan rief zu Mobilisierungen gegen die neue Regierung auf.

Polarisierung

Dies ist ein klares Zeichen dafür, dass die Wahl von Sharif zwar die Frage, wer die Regierung führt, für den Moment klären mag, dass sie aber die Spaltungen und den Machtkampf innerhalb der herrschenden Klasse oder die Polarisierung in der pakistanischen Gesellschaft nicht beenden wird. Das Land befindet sich nicht nur im Zentrum eines Kampfes zwischen den alten, westlichen imperialistischen Mächten, den USA und den europäischen Ländern, und dem neuen chinesischen Imperialismus. Es steuert auch auf eine wirtschaftliche Katastrophe zu. Die Rupie hat während Khans Amtszeit 40 % gegenüber dem US-Dollar verloren.

Ironischer Weise hat die Pandemie dazu beigetragen, eine wirtschaftliche Katastrophe zu vermeiden, da Geld in die Wirtschaft gepumpt und die Rückzahlung von Krediten aufgeschoben wurde. Nun müssen die Bedingungen der chinesischen und Internationalen Währungsfonds-Kredite erfüllt werden, während die Wirtschaft unter Abwertung, Schulden und massiven Preissteigerungen für Benzin und Strom leidet, die vor allem die Armen und die Arbeiter:innenklasse, aber auch die Mittelschichten und die kapitalistische Produktion treffen.

Vor diesem Hintergrund war der Machtkampf zwischen Khan und der Parlamentsopposition drauf und dran, die politischen Institutionen und das Land als Ganzes noch weiter zu destabilisieren.

Nach einer Reihe gewagter Manöver, zu denen auch offene Verstöße gegen die Verfassung des Landes und die Einmischung sowohl des militärischen Oberkommandos als auch des Chefs des Geheimdienstes ISI gehörten, wurde Khans Regierung zumindest formell verfassungsgemäß beendet. Noch vor der Abstimmung trat der Sprecher der Nationalversammlung, Asad Qaiser (PTI), zurück, und das Verfahren wurde an Ayaz Sadiq (PML-N) übergeben.

In den Wochen zuvor hatte Khan versucht, das Misstrauensvotum zu verhindern, und damit eindeutig gegen die Verfassung des Landes verstoßen. In einer Sitzung der Nationalversammlung am 3. April bezeichnete der Justizminister den Misstrauensantrag der Opposition als Teil eines ausländischen Komplotts. Dies wurde vom stellvertretenden Parlamentssprecher Qasim Suri akzeptiert, der den Misstrauensantrag auf dieser Grundlage abwies. In seiner Fernsehansprache an die Nation drückte er seine Freude über das Scheitern der „Verschwörung“ aus und erklärte, er habe den Präsidenten um die Auflösung der Versammlung gebeten, was dieser auch sofort in die Tat umsetzte, indem er Neuwahlen versprach.

Die Art und Weise, wie das Misstrauensvotum niedergeschlagen wurde, zeigt, dass die Widersprüche der herrschenden Klasse nicht auf verfassungsmäßigem Wege gelöst werden können. Das militärische Oberkommando kritisierte Khan offen für seine prorussischen Äußerungen und Angriffe auf die USA. Der Oberste Gerichtshof, eine weitere mächtige staatliche Institution, erklärte die Ablehnung des Misstrauensvotums für verfassungswidrig und forderte die Wiedereinberufung der Nationalversammlung. Das Gleichgewicht der Kräfte verschob sich eindeutig gegen die PTI-Regierung.

Am Tag der Abstimmung im Parlament erhielt Khan „Besuch“ von den Chefs der Armee und des ISI, die ihm klarmachten, dass er nachgeben und seinen Widerstand gegen die Übergabe der Regierungsgewalt im Parlament aufgeben müsse. Dies wurde auch von wichtigen Teilen der Kapitalist:innenklasse unterstützt, die eine „stabile“ Regierung forderten, die die bevorstehende wirtschaftliche Katastrophe bewältigen und den politischen Machtkampf vorerst beenden könnte.

Es ist natürlich höchst fraglich, ob die neue Regierung tatsächlich in der Lage sein wird, eine wachsende Krise zu überwinden. Was die gesamte politische Entwicklung beweist, ist, dass es zunehmend unmöglich ist, das System auf die alte Art und Weise weiterzuführen.

Die Bilanz der Regierung Imran Khans

Mehr als drei Jahre lang basierte die Regierung Imran Khans auf extremer Tyrannei, und die Regierung regierte per Präsidialverordnung und nicht durch das Parlament. Sein Ziel war es, jede Opposition im Namen einer Kampagne gegen „Korruption“ zu zerschlagen. Dieser betrügerische „Kampf“ bildete den populistischen und zunehmend bonapartistischen Deckmantel für eine Politik im Namen der Reichen, wobei Khan eindeutig mehr dem chinesischen Imperialismus als den USA als Garanten für die künftige Entwicklung Pakistans zuneigte. Gleichzeitig musste Pakistan unter seiner Herrschaft das größte IWF-Paket in seiner Geschichte auf sich laden.

Seine Regierung war ganz klar eine Feindin der Arbeiter:innenklasse und der Armen. Mit ihrer Politik lieferte sie die pakistanische Wirtschaft dem chinesischen Kapital und dem IWF aus. Sie führte zur Verarmung von Millionen von Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen und verschaffte gleichzeitig den Kapitalist:innen Milliarden von Rupien. Große kapitalistische Exporteur:innen profitierten während der Pandemie von den staatlichen Hilfspaketen und Exportanreizen. Doch das Ende dieser kurzlebigen Wachstumsblase wird den Arbeiter:innen und den Armen in Stadt und Land das Leben zur Hölle machen. Der Sturm der Inflation hat ihr Leben zerstört. Infolgedessen wurden auch das Kleinbürger:innentum, die Freiberufler:innen und viele, die im informellen Sektor im Zuge der Urbanisierung arbeiten, weitgehend ruiniert.

In den Jahren der Regierung Khan ist die Zahl der Verschwundenen gestiegen und sie werden durch üble Propaganda beschuldigt. Denjenigen, die sich dem Terrorismus und der nationalen Unterdrückung widersetzen, wurde der Zugang zum Rechtswesen verweigert. Sie verloren ihre Arbeitsplätze und waren Gewalt und sogar Mordversuchen ausgesetzt. Gegen die Paschtun:innenschutzbewegung wurde eine bösartige Kampagne geführt, und die Frauen des Auratmarsches wurden der Blasphemie beschuldigt. Die Regierung war nicht bereit, irgendeine Art von Kritik zu dulden, und Imran Khan wollte das bestehende System diktieren. Eine Zeit lang genoss er die volle Unterstützung durch die militärische Führung.

Angesichts einer sich entwickelnden historischen Wirtschaftskrise wurde seine Regierung jedoch für die Bourgeoisie nutzlos und ihre Popularität in der Arbeiter:innenklasse und anderen Schichten sank rapide. Er versuchte, Unterstützung in Russland zu finden, wo Putins Modell eine Alternative zu den Vereinigten Staaten und Europa mit seinen Angriffen auf alle Arten von demokratischen Freiheiten und dem Einsatz von Krieg zur Überwindung seiner Krise bot.

Der Krieg in der Ukraine stellt das Ergebnis der Eskalation der imperialistischen Widersprüche dar und spaltet die Welt erneut in zwei Lager. In der aktuellen Situation zieht es ein großer Teil der herrschenden Klasse aufgrund der Handelsbeziehungen Pakistans und der Abkommen mit dem IWF sowie der Probleme des Chinesisch-Pakistanischen Wirtschaftskorridors (CPEC) vor, sich dem US-Lager anzuschließen. Das Ende der Herrschaft von Imran Khan ist das Ergebnis dieses Widerspruchs, der ihn zu einer Belastung für die herrschende Klasse machte.

Das Scheitern seines Projekts ist auch das der Generäle. Es ist gut, dass eine arbeiter:innen- und armenfeindliche Regierung zu Ende gegangen ist. Aber auch der Opposition darf man nicht trauen, obwohl sie von der Achtung der Demokratie spricht. Sie wird keinen grundlegenden Bruch mit der kapitalistischen und proimperialistischen Politik der Regierung Khan vollziehen. Sie wird versuchen, das Versagen seiner Regierung bei der Bewältigung der Wirtschaftskrise als Vorwand für Sparmaßnahmen, Kürzungen und Privatisierungen zu beschuldigen und die Massen für die Krise zahlen zu lassen. Es ist klar, dass die neue Regierung Massenwiderstand und Streiks gegen soziale Angriffe unterdrücken und angreifen wird. Sie wird demokratische und gewerkschaftliche Rechte abschaffen, wo es nötig ist. Sie wird weiterhin die Rechte von Frauen, nationalen und religiösen Minderheiten beschneiden. Und sie wird sich weiterhin auf einen Staatsapparat stützen, der von der Armee und dem ISI kontrolliert wird. Deshalb dürfen wir uns keinen Illusionen hingeben, dass die neue Regierung demokratische Freiheiten einführen wird.

Diejenigen Liberalen und Linken, die behaupten, die Absetzung Khans und die Wahl der neuen Regierung seien ein Sieg der Demokratie, irren sich. In Wirklichkeit handelte es sich um einen Kampf innerhalb der herrschenden Klasse, bei dem eine Fraktion vorläufig gewonnen hat.

Wohin jetzt?

Imran Khan und seine Partei stellen diese Situation als eine amerikanische Verschwörung dar. Er und seine Anhänger:innen haben Rücktritte aus den Parlamenten und eine Bewegung gegen die neue Regierung angekündigt, obwohl diese noch gar nicht gebildet ist.

Die PTI-Proteste vom 11. April deutlich gemacht, dass Stabilität nicht so schnell möglich ist.

Wichtige Teile der herrschenden Klasse fürchten sich vor dieser Situation, da sich die pakistanische Wirtschaft derzeit in einem Dilemma befindet. Sie glauben, dass die neue Regierung in dieser Situation besser in der Lage sein wird, eine Katastrophe zu verhindern. Sie hoffen, dass es möglich sein wird, bessere Bedingungen mit dem IWF auszuhandeln, so dass die Gewinne dieses Kapitals wiederhergestellt werden können. Aber, wie PML-N-Führer Miftah Ismail sagte, wird die Regierung schwierige Entscheidungen treffen müssen, um diese Krise zu lösen.

Kurzfristig könnte sie versuchen, die Massen durch einige Zugeständnisse wie die von Shehbaz Sharif angekündigte Erhöhung des Mindestlohns auf 25.000 Rupien pro Monat oder die Erhöhung der Renten ziviler und militärischer Beamt:innen um 10 % zu beschwichtigen. Aber das wird zu wenig sein, um auch nur die Einkommensverluste infolge der massiven Inflation der letzten drei Jahre auszugleichen.

Unter diesen Umständen sollten die Linke und Arbeiter:innenbewegung der neuen Regierung jegliche Unterstützung verweigern. Der Kampf für demokratische Freiheiten muss ausgeweitet werden und der demokratische Einsatz muss mit dem Ringen gegen die Wirtschaftskrise und die Angriffe auf die Arbeiter:innen verbunden werden. Ebenso müssen wir gegen die Kampagne der rechtspopulistischen PTI und Imran Khans kämpfen, die Antiamerikanismus und soziale Demagogie mit einer rechten, autoritären Agenda verbinden, die sich gegen die Arbeiter:innenklasse und die sozial Unterdrückten richtet.

Um eine Alternative zur neuen Regierung und ihren Unterstützer:innen sowie zur rechtspopulistischen PTI aufzubauen, müssen die Linke, Gewerkschaften, Frauenbewegung, Student:innen und national Unterdrückten ihre Kräfte für ein Aktionsprogramm um folgende Forderungen bündeln: einen Mindestlohn, der die Lebenshaltungskosten deckt; eine gleitende Skala von Löhnen und Renten; kostenlose soziale Dienste, Bildung und Gesundheit für alle; für Preiskontrollkomitees, die sich dagegen wehren, dass Arbeiter:innen und Arme zahlen müssen; für den Erlass von Schulden und die Enteignung von Großkapital und Finanzinstitutionen, um die Mittel daraus für einen Notfallplan gegen die Krise zu zentralisieren.

Es liegt auf der Hand, dass ein solches Programm, das die Imperialist:innen und die herrschende Klasse Pakistans zur Kasse bittet, auf offene Feindseligkeit und Angriffe seitens aller imperialistischen Mächte, der alten wie der neuen, seitens der neuen Regierung wie der falschen PTI-Opposition stoßen wird. Eine solche Bewegung kann in den Betrieben, in den Arbeiter:innenvierteln, in der Stadt und auf dem Land aufgebaut werden, indem Aktionskomitees gebildet werden, die den Kampf mit Streiks, Streikposten, Massendemonstrationen und durch die Organisation von Selbstverteidigung im Falle eines Angriffs organisieren.

Alle, die ein solches Vorgehen unterstützen, müssen nicht nur die Initiative für eine Einheitsfront für eine Arbeiter:innenantwort auf die Krise ergreifen – sie müssen auch die Initiative ergreifen, um ein politisches Instrument der Arbeiter:innenklasse zu schaffen, eine Arbeiter:innenpartei, die den Kampf gegen die drohende Katastrophe mit dem für eine sozialistische Revolution in Pakistan und darüber hinaus verbindet.




Sudan: Zerschlagung der Junta ist der alleinige Weg zur Freiheit

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1175, 12. Januar 2021

Einmal mehr erleben wir im ganzen Sudan einen massiven revolutionären Aufstand gegen die Militärjunta von General Abdel Fattah al-Burhan und seinem Stellvertreter, Generalleutnant Mohammed Hamdan Daglo (Hemeti), die durch den Staatsstreich vom 25. Oktober an die Macht gekommen ist.

Seit dem 2. Januar ist das Militär seines Feigenblattes als Premierminister, des zivilen Technokraten Abdalla Hamdok, beraubt. Sein Rücktritt erfolgte nach sechs Wochen im Amt, als klar wurde, dass er absolut keine Autorität besaß und die Massendemonstrationen wieder aufflammten, ebenso wie die Repression, die seit Oktober vergangenen Jahres bereits über 60 Tote gefordert hat.

Am 6. Januar füllten Demonstrationen, die von den OrganisatorInnen als „Marsch der Millionen“ bezeichnet wurden, die Straßen der Hauptstadt Khartum und der angrenzenden Städte Omdurman (Umm Durman)  und Ombada sowie Bur Sudan (Port Sudan). Andere Städte im Norden des Landes, Atbara, Ad-Damir (Ed Damer) und Dunqula (Dongola), schlossen sich ebenfalls an. Die DemonstrantInnen zogen durch die Straßen und skandierten „die drei Keins“: Keine Abkommen! Keine Verhandlungen! Keine Kompromisse! (und „Die Macht dem Volke!“). Sie forderten die SoldatInnen auf, in ihre Kasernen zurückzukehren und die Bildung einer vom Volk gewählten, rein zivilen Regierung zuzulassen.

Die Koordination der Widerstandskomitees von Khartum hatte den Republikanischen Palast als Ziel der DemonstrantInnen festgelegt. Die Junta reagierte wie am 19. Dezember und im Oktober 2021 mit harter Repression. Das Regime kappte die Internet- und Telefonnetzwerke in Khartum, blockierte die Nilbrücken mit Schiffscontainern und die Hauptstraßen mit Barrikaden aus Stacheldraht.

Paramilitärs der Schnellen Unterstützungstruppen (RSF) von Hemeti, die ihren Ursprung in den Dschandschawid-Milizen (sinngemäß: Teufel auf Pferden) haben, die in Darfur Völkermord begingen, sowie die Zentrale Reservepolizei und AgentInnen des Allgemeinen Nachrichtendienstes (GIS) setzten Blendgranaten und gefährliche Konzentrationen von Tränengas ein. In Umm Durman und Khartum wurden mindestens drei Tote und Dutzende von Verletzten gemeldet. Krankenhäuser, in denen DemonstrantInnen behandelt wurden, standen unter Beschuss. Dennoch gelang es einigen DemonstrantInnen, zum Republikanischen Palast im Zentrum von Khartum vorzudringen.

Die „demokratischen“ und „autoritären“ imperialistischen Mächte hüllten sich bisher in Schweigen

Auf seinem Online-„Demokratie-Gipfel“ im vergangenen Monat sprachen US-Präsident Joe Biden und sein Außenminister Antony Blinken das Problem der Unterdrückung und Militärdiktatur im Sudan nicht einmal an. Vielmehr hat Washington weiterhin die Legitimität von al-Burhan anerkannt und die MilitärführerInnen sogar gelobt. Blinken unterstützte eifrig die Vereinbarung zwischen dem Militär und Hamdok vom letzten Oktober.

Das Weiße Haus, Regierungssitz der USA, hat sogar angedeutet, dass die Forderungen der DemonstrantInnen nach „keinen Verhandlungen, keiner Partnerschaft und keiner Legitimität für das Militär“ „unrealistisch“ seien. Tatsächlich sind die USA und ihr britischer Staatsgefolge damit beschäftigt, ihre Sudan-Politik an ihre alles andere als demokratischen Verbündeten am Golf auszulagern, wie ihre mit Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten unterzeichnete Erklärung vom 16. Dezember 2021 zeigt, in der das Militärregime sogar für seine Bemühungen gelobt wird. Dies wiederum ist die Belohnung dafür, dass Saudi-Arabien sudanesische Streitkräfte, darunter auch Hemetis RSF-SchlägerInnen, zur Unterstützung seiner Interventionen im blutigen Bürgerkrieg im Jemen eingesetzt hat.

Es überrascht auch nicht, dass der Rivale der westlichen Demokratien, das neue Mitglied der imperialistischen Bande, das „kommunistische“ China, sich ebenfalls über die Verbrechen des sudanesischen Militärs ausschweigt. Seine globale Spezialität stellt die Unterstützung mörderischer Militärjuntas wie in Myanmar sowie die Begehung eigener Verbrechen in Xinjiang und Hongkong dar.

Kurzum, keiner der rivalisierenden Imperialismen, die sich in ihrem „neuen Kalten Krieg“ befinden, hat den KämpferInnen für Freiheit und Sozialismus weltweit etwas zu bieten, wie Putins Russland jetzt in Kasachstan zeigt. Die ArbeiterInnenklasse und die revolutionären Bewegungen in allen Ländern müssen alles tun, um ihre mutigen Klassenschwestern und -brüder im Sudan zu unterstützen.

Die Opposition

Eine Reihe ineinandergreifender demokratischer Bündnisse unterstützt die Massendemonstrationen und zielt darauf ab, das Militärregime durch eine zivile Regierung zu ersetzen. Von Beginn der Bewegung an spielte die Sudanese Professionals Association (SPA) eine wichtige Rolle. Sie wurde Mitte des letzten Jahrzehnts gegründet, als die Opposition gegen al-Baschir wuchs, und bestand im Kern aus drei der größten Freiberufsgruppen des Sudan: dem Zentralkomitee der sudanesischen ÄrztInnen, dem sudanesischen JournalistInnennetzwerk und der Demokratischen JuristInnenvereinigung.

Im Laufe der Entwicklung der Bewegung schlossen sich ihr rund 18 Gewerkschaften an, darunter AkademikerInnen und LehrerInnen, IngenieurInnen und Gesundheitsfachleute. Kurz gesagt, sie repräsentiert eine Kombination aus der radikalen Mittelschicht und ArbeiterInnenorganisationen, die sich gegen al-Baschirs erdrückenden politischen Islamismus und seine völkermörderischen Kriege in Darfur und Südsudan auflehnten.

Es gibt eine „breite Front“, die Kräfte der Freiheit und des Wandels (Forces of Freedom and Change, FFC), der große bürgerliche Parteien wie die National Umma Party (NUP) und die Sudanesische Kongresspartei angehören, aber auch die SPA und die Sudanesische Kommunistische Partei. Diese Konstellation nennen TrotzkistInnen eine Volksfront. Die konservativeren Teile des FFC, wie die NUP, haben Hamdoks Abkommen mit al-Burhan vom November aktiv unterstützt und seinen Rücktritt bedauert. Es liegt auf der Hand, dass diese Kräfte einen weiteren Kompromiss mit den Militärs begrüßen würden.

Siddig Yousef, ein Führer der Kommunistischen Partei (SKP), erklärte dagegen, Hamdoks Rücktritt sei längst überfällig. Die AktivistInnen seiner Partei stellen in der Tat eine ernstzunehmende Kraft der ArbeiterInnenklasse innerhalb der Widerstandskomitees dar, die die Demonstrationen und Streiks organisiert haben, die in den zwei Jahren seit dem Sturz der Diktatur von Umar al-Baschir im Jahr 2019 stattgefunden haben.

Die Parteiführung verfolgt jedoch eine, wie sie es nennt, „Doppelstrategie“, die für den radikaleren Flügel des Stalinismus in vielen halbkolonialen Ländern typisch ist. Während sie sich also für einen Generalstreik einsetzt, ArbeiterInnen- und BäuerInnenkomitees organisierte und kontrollierte, will sie gleichzeitig diese „breite Front“ mit liberalen und patriotischen bürgerlichen Kräften aufbauen. Ihr Plan ist es, radikalere Kräfte einzubinden, denn sie sieht vor, dass die Militärdiktatur durch eine demokratische, d. h. immer noch kapitalistische, Regierung ersetzt wird. Natürlich prangert sie auch den Einfluss der USA, des IWF, des Neoliberalismus usw. an.

Dies zeigt sich in der Antwort von Fathi Alfadl, ihrem Sprecher, auf die Fragen „In welchem Stadium befindet sich Ihrer Meinung nach die sudanesische Revolution? Wie wird sie sich entwickeln?“ in einem Interview auf Facebook. Er antwortete: „Im Moment laufen Gespräche, um die Führung der ,breiten Front’ zu erreichen, die Frauen- und andere zivilgesellschaftliche Organisationen und politische Parteien umfassen kann. Die Führung eines solchen Gremiums wird die vollständige Niederlage des derzeitigen Regimes und die Übernahme der Macht durch das Volk erleichtern.“ (https://www.facebook.com/SudaneseCommunistParty)

In der Tat wird diese Strategie der Klassenkollaboration und Volksfront jede unabhängige Aktion der Massen von ArbeiterInnen, BäuerInnen und Jugendlichen behindern, die nicht nur darauf abzielt, das Militär aus der politischen Macht zu drängen, sondern auch das Oberkommando und die gesamte korrupte Militärkaste und ihre Kontrolle über die einfachen Soldaten zu zerbrechen. Die letzten zwei Jahre im Sudan und davor der Arabische Frühling, vor allem im benachbarten Ägypten, sollten uns lehren, dass ein Putsch nach dem anderen stattfinden wird, wenn diese Kräfte intakt bleiben und die Kontrolle über die Streitkräfte behalten. Demokratie, d. h. die bürgerlich-kapitalistische Demokratie mit der Erlaubnis der Generäle, ist eine reaktionäre Utopie.

In Wirklichkeit wird die einzige Demokratie das sein, was die ArbeiterInnenschaft, die Jugend, die Frauen und die armen BäuerInnen aus den bestehenden Widerstandskomitees und den für einen aufständischen Generalstreik notwendigen Koordinierungsorganisationen schaffen können. Um wirksam zu sein, selbst wenn es nur darum geht, al-Burhan und Hemeti von der Macht zu vertreiben, muss die Bewegung die einfachen SoldatInnen dafür gewinnen, sich gegen die RSF-SchlägerInnen zu wenden, ihre OffizierInnen zu verhaften, die ArbeiterInnen zu bewaffnen und selbst SoldatInnenräte zu bilden.

Die Basis der SKP muss dem Weg Lenins von 1917 folgen und sich für eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung starkmachen, die in Wirklichkeit eine Diktatur des Proletariats im Bündnis mit allen kämpfenden Volkskräften ist. Wenn die sudanesische Revolution hingegen auf halbem Weg stehenbleibt, wird sie das Schicksal der mutigen KämpferInnen in Ägypten erleiden, die am Ende eine Diktatur bekamen, die noch repressiver ist als die von Husni Mubarak.




Äthiopien: Krieg, Massaker und Hungersnot für Millionen

Dave Stockton, Infomail 1169, 13. November 2021

Einem Bericht an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zufolge sind 400.000 Menschen in der äthiopischen Bundesprovinz Tigray von einer regelrechten Hungersnot bedroht und weitere sieben Millionen Personen in Nordäthiopien benötigen dringend Nahrungsmittel, Unterkünfte und medizinische Hilfe. Schätzungsweise 2,2 Millionen Menschen sind aus ihren Häusern geflohen. Die Zahl der Todesopfer ist zwischen den Kriegsparteien heftig umstritten, dürfte aber inzwischen mehrere Tausend betragen. Darunter wird auch von Massakern an unbewaffneten Jugendlichen und Frauen berichtet. Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht, denn die Gräueltaten drohen die Rachegefühle nur noch weiter anheizen.

Trotz des Ausmaßes an Leid werden internationale Hilfsorganisationen wie UNICEF und ÄrztInnen ohne Grenzen durch den jahrelangen Krieg daran gehindert, Hilfsgüter nach Tigray zu schicken; die Regierung hat sogar FahrerInnen dieser Organisationen festgenommen. Dieser „BürgerInnenkrieg“ wird zwischen der Zentralregierung unter der Führung des Premierministers und Friedensnobelpreisträgers Abiy Ahmed Ali auf der einen Seite und der Tigray-Volksbefreiungsfront (TPLF) unter dem Kommando von Debretsion Gebremichael auf der anderen Seite geführt.

Eine große Zahl von Flüchtlingen ist über die Grenze in den Sudan geflohen, in dem sich bereits viele  Menschen befinden, die durch einen internen Krieg und Massaker vertrieben wurden. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat über Vergewaltigungen in großem Stil berichtet, die von beiden Seiten begangen wurden.

Der Krieg begann am 4. November 2020, als die Äthiopischen Nationalen Verteidigungsstreitkräfte (ENDF), einer der größten Militärverbände des afrikanischen Kontinents, einen Großangriff auf Tigray starteten, angeblich als Vergeltung für einen Angriff der TPLF auf ihre nördliche Kommandobasis in der tigrayischen Hauptstadt Mekelle. Ahmed erklärte, wie sich herausstellte zu früh, den Sieg über die TPLF, nachdem seine Streitkräfte die Stadt am 28. November 2020 besetzt hatten.

Eliten und Krieg

Mit 112 Millionen EinwohnerInnen ist Äthiopien, gemessen an der Bevölkerungszahl, der zweitgrößte Staat in Afrika. Die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts (BIP) wird von der Landwirtschaft erwirtschaftet, und zwar in zwei Sektoren: Subsistenzlandwirtschaft auf kleinen Parzellen von bis zu 2,5 Hektar und Anbau von Kaffee und Zuckerrohr für den Exportmarkt.

Die moderne Industrie, hauptsächlich Textilien für den heimischen Markt, trägt nur 10 Prozent zum BIP bei. Vor der Covid-Pandemie und dem Krieg gehörte die Wirtschaft zu den am schnellsten expandierenden in der Region und wuchs nach Angaben der Weltbank in den zehn Jahren bis 2019 um durchschnittlich 10 Prozent pro Jahr. Das Land wurde als „Wirtschaftswunder“ gefeiert, obwohl es gemessen am Pro-Kopf-BIP das drittärmste der Welt war und mehr als 50 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebten. Doch die nationalen und regionalen Eliten des Landes haben dieses „Wunder“ (für einige) zu einem erschütternden Absturz gebracht. Im August erklärte der UN-Generalsekretär António Guterres, die Kämpfe hätten „über eine Milliarde Dollar aus den Kassen des Landes abgezogen“.

Der Krieg ist das Ergebnis langjähriger Rivalitäten zwischen den ethnisch geprägten militärischen und politischen Eliten, die das Land nach dem Sturz des Derg-Militärregimes unter der Führung von Mengistu Haile Mariam im Jahr 1991 regierten (Derg: Koordinationskomitee der Streitkräfte, Polizei und Territorialarmee). Das Derg-Regime, das sich auf junge MilitäroffizierInnen stützte und von einer radikalen StudentInnenbewegung unterstützt wurde, hatte praktisch die gesamte Wirtschaft verstaatlicht und auch die feudalen GroßgrundbesitzerInnen enteignet, die die Bauern und Bäuerinnen ausgebeutet hatten.

Dies veranlasste viele StalinistInnen dazu, es als „sozialistische Revolution“ zu bezeichnen, und selbst einige TrotzkistInnen (wie Ted Grant) begrüßten es als „deformierten ArbeiterInnenstaat“, wie sie es in Birma (Burma; heute: Myanmar) und Syrien getan hatten. In der Tat entwickelten viele der ethnischen Gruppen Äthiopiens ab den 1960er Jahren Guerillabewegungen, die sich als marxistisch-leninistisch definierten, wobei sie sich im Allgemeinen eher von Enver Hoxha aus Albanien als von Peking inspirieren ließen.

Nach dem Sturz des Derg dominierten die TigrayerInnen fast 18 Jahre lang die regierende Koalitionsregierung Äthiopiens, die Äthiopische Revolutionär-Demokratische Volksfront (EPRDF), obwohl sie nur 6 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Dies begann sich 2018 rapide zu ändern, als Abiy Ahmed, ein Angehöriger der größten ethnischen Gruppe, der Oromo, deren Anteil an der Bevölkerung bei etwa 35,5 Prozent liegt, Verfassungsreformen einleitete, die den föderalen Charakter des Staates schwächten und der Zentralregierung erheblich mehr Befugnisse verliehen. Gleichzeitig trieb er die neoliberalen Reformen voran, auf die der Internationale Währungsfonds und die Vereinigten Staaten von Amerika drängten. Für seine Rolle bei der Unterzeichnung eines dauerhaften Friedensabkommens mit dem Nachbarland Eritrea wurde er mit dem Friedensnobelpreis 2019 ausgezeichnet. Damit befindet er sich in einer Reihe mit „VerfechterInnen“ von Frieden und Menschenrechten wie Henry Kissinger, Menachem Begin, Barack Obama und Aung San Suu Kyi.

Vor dem Ausbruch des Krieges, bei dem es sich im Wesentlichen um einen Konflikt zwischen der ehemals herrschenden TPLF und Ahmeds neuer Wohlstandspartei handelt, war es bereits seit Monaten zu Mobilisierungen gekommen. Die TPLF hatte gehofft, einen Tigrayaner zum Premierminister machen zu können, doch als Ahmed gewählt wurde, führte sie Regionalwahlen in Tigray durch. Ahmed weigerte sich daraufhin, diese anzuerkennen, und begann, Kräfte zu mobilisieren, um die „unrechtmäßige“ TPLF-Regierung abzusetzen. Diese Handlungen verstießen eindeutig gegen die Verfassung von 1995, in der Äthiopien zu einem föderalen Staat erklärt wurde, dessen Teile das Recht auf Selbstbestimmung haben, bis hin zur Abspaltung.

In Wirklichkeit wurde dieses demokratische Prinzip nie angewandt. Wäre es verwirklicht worden, hätte der Krieg vielleicht vermieden werden können. Die TPLF war jedoch nicht so sehr an der Unabhängigkeit interessiert, sondern vielmehr an der Wiederherstellung ihrer Vorherrschaft in Addis Abeba. Ebenso bestand Ahmeds Priorität darin, die Kontrolle über Tigray zu erlangen, unabhängig davon, was dessen Bevölkerung dachte oder wofür sie stimmte. Der Krieg ist also ein Produkt der völlig undemokratischen Politik zweier rivalisierender Militäreliten, die darauf aus sind, ihre eigenen Länder auszuplündern und zu diesem Zweck den ethnischen Chauvinismus unter den Völkern zu schüren.

In dem 11-monatigen Krieg kam es auf beiden Seiten zu entsetzlichen Massakern und Vergewaltigungen von Frauen. Zunächst zogen sich die tigrayanischen Streitkräfte aus den Städten zurück und führten einen Guerillakrieg, in dem sie sich rasch zu einer schlagkräftigen Kampftruppe reorganisierten. Im Frühjahr fügten sie den Regierungstruppen schwere Niederlagen zu, die schließlich aus Mekelle und anderen Städten vertrieben wurden. Nachdem die TPLF ein Bündnis mit den Oromo-Befreiungskräften und anderen VerfechterInnen der regionalen Autonomie gegen Ahmeds Zentralisierungsbestrebungen geschlossen hatte, erklärte sie, sie werde einen Vorstoß auf die Hauptstadt Addis Abeba anführen. Die Regierung rief bei großen Demonstrationen in der Metropole zu einer massenhaften Unterstützung der Armee auf, um die TPLF und ihre Verbündeten durch eine Gegenoffensive zurückzuschlagen.

Alternative

Keine der beiden Kriegsparteien kann als fortschrittlich angesehen werden, die gewaltsame Aufrechterhaltung der Einheit Äthiopiens kann nur zu reaktionären Folgen führen. Andererseits hätte eine ethnische Balkanisierung des Landes, wie die Ereignisse in Jugoslawien in den 1990er Jahren gezeigt haben, ebenfalls tiefgreifende reaktionäre Folgen.

Nur wenn die ArbeiterInnen, StudentInnen, BäuerInnen und einfachen SoldatInnen sich gegen ihre kriminellen Führungen auflehnen, sie absetzen und Räte aus gewählten und abwählbaren Delegierten bilden, kann die Einheit des Landes auf einer demokratischen und wirklich föderalen Grundlage erreicht werden. Aber diese Demokratie darf nicht unter militärischer Vormundschaft oder der Vorherrschaft der reichen UnternehmerInnenklasse stehen, die ihrerseits ständig die rivalisierenden Imperialismen (China und die USA) oder die regionalen Mächte (Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate) gegeneinander ausspielt. Ihre Verbündeten werden die ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen des Sudan, Eritreas und Somalias sein.

In der Zwischenzeit müssen SozialistInnen und GewerkschafterInnen auf internationaler Ebene ein sofortiges Ende der Kämpfe und der Grausamkeiten fordern und die Regierungen Europas und der USA dazu zwingen, massive und bedingungslose Nahrungsmittellieferungen und medizinische Hilfe zu leisten.




Stoppt den Putsch im Sudan!

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1168, 26. Oktober 2021

Am Morgen des 25. Oktober kam es in Khartum zu einem Staatsstreich. General Abdel Fattah Abdelrahman Burhan, Vorsitzender des Souveränen Rates, der die Macht zwischen Militär und ZivilistInnen teilt, kündigte die Verhaftung von Premierminister Abdalla Hamdok und seines Kabinetts an. Hamdok, ein Wirtschaftswissenschaftler und ehemaliger hoher UN-Beamter, der 2019 zum technokratischen Premierminister ernannt wurde, befindet sich derzeit an einem unbekannten Ort, nachdem er sich geweigert hatte, den Putschversuch zu unterstützen.

Widerstand

Tausende von DemonstrantInnen gingen sofort auf die Straße, wie bei der Revolution 2019. Sie marschierten, um das Hauptquartier des Militärs in der Hauptstadt zu belagern, wurden aber von den SoldatInnen unter Beschuss genommen. Zur Speerspitze der Konterrevolution gehören die Truppen der Rapid Support Forces (Schnelle Unterstützungskräfte; RSF), einer Einheit, die aus den Milizen hervorgegangen ist, die während des Krieges in Darfur und später während der Revolution 2019 mörderische Verbrechen verübt haben.

Unterdessen rief die Sudanese Professionals Association (Sudanesische Vereinigung der professionellen Berufe; SPA), eine der HauptorganisatorInnen der Revolution 2019, zum Widerstand auf:

„Wir rufen die Massen auf, auf die Straße zu gehen und sie zu besetzen, alle Straßen mit Barrikaden zu sperren, einen allgemeinen Arbeitsstreik durchzuführen und nicht mit den Putschisten zu kooperieren und ihnen mit zivilem Ungehorsam entgegenzutreten.“

Auch die Sudanesische Kommunistische Partei rief die ArbeiterInnen zum Streik und zum massenhaften zivilen Ungehorsam gegen den Putsch auf. Die KP hatte seit einem gescheiterten Putsch am 21. September vor der drohenden Gefahr gewarnt, als sie erklärte: „Wir brauchen ernsthaftere Maßnahmen, um die Säulen des früheren Regimes zu beseitigen, insbesondere in den Streitkräften, dem Sicherheitsdienst und der Polizei.“

Bei dieser Gelegenheit eilten Hemeti (Mohammed Hamdan Dagalo; Vizechef des Militärrates und Oberbefehlshaber der RSF) und Abdel Fattah Burhan in die Kasernen, die damit beschäftigt waren, den Putsch zu unterdrücken, und letzterer beruhigte die Soldaten: „Die Streitkräfte führen den Wandel an und bringen ihn dorthin, wo sie wollen“. Jetzt wissen wir genau, wohin sie wollen.

Die Machtübernahme durch das Militär erfolgte nach einem Putschversuch im September und einer Blockade der Häfen des Landes am Roten Meer, die von Kräften geschürt wurde, die der ehemaligen Diktatur von Umar al-Baschir treu ergeben sind.

Darüber hinaus hatten in den letzten Wochen knüppelschwingende Banden von AnhängerInnen des früheren Regimes mobilisiert und LoyalistInnen unter dem Schutz des Militärs zu einem Sitzstreik aufgerufen, bei dem sie offen einen Staatsstreich forderten. Diese wurden von Zehntausenden von DemonstrantInnen beantwortet, die das Primat ziviler Herrschaft verteidigen wollen, was von der Polizei mit Gewalt beantwortet wurde.

Es ist wahrscheinlich, dass die ominösen Ereignisse der letzten Wochen eine Vorbereitung der Generäle und konterrevolutionären Rebellen auf einen Staatsstreich darstellten. Gleichzeitig geriet die amtierende Regierung unter zunehmenden Druck der Bevölkerung, Schritte in Richtung einer stärkeren zivilen Kontrolle zu unternehmen, verbunden mit Frustrationen über die wirtschaftliche und soziale Leistung des Regimes.

In den Städten kam es zu einer zunehmenden Lebensmittelknappheit, die durch die Zustimmung der Hamdok-Regierung zu Preiserhöhungen bei Treibstoff und anderen lebenswichtigen Gütern, die der IWF als Bedingung für einen Schuldenerlass für den Sudan gestellt hatte, noch verstärkt wurde und zu einer galoppierenden Inflation führte. Aus Angst vor einer fortschrittlichen Lösung der gegenwärtigen Krise durch eine Welle sozialer Mobilisierungen haben sich die Militärs offenbar zum Handeln entschlossen.

Inzwischen haben die EU und die USA den Putsch verurteilt und sich für die Demokratie ausgesprochen. Aber es waren Institutionen unter ihrer Kontrolle, die zu dieser Situation beigetragen haben, sei es durch die Finanzierung der schnellen Eingreiftruppen im Rahmen des Khartum-Prozesses der EU, der darauf abzielt, Flüchtlinge zu stoppen, oder durch die Wirtschaftspolitik des IWF.

Dies zeigt die Gefahr der imperialistischen Mächte als Verbündete im Streben nach Demokratie. Ihre Demokratie fordert immer einen hohen Preis von den ArbeiterInnen und Armen. Ein Drittel der Bevölkerung leidet bereits unter schwerer Nahrungsmittelknappheit. Da die Regierung in ihrem Sinne gehandelt hat, haben die USA und die EU den Staatsstreich in diesem Fall scharf verurteilt. Ein US-Gesandter hatte Hamdok sogar gerade besucht.

Revolutionäre Aufgaben

Die Zukunft der 2019 errungenen begrenzten Demokratie hängt nun von der Macht der ArbeiterInnenklasse und der Jugend ab, um das Land zum Stillstand zu bringen, die einfachen SoldatInnen für sich zu gewinnen und die Revolution, die durch die Vereinbarung mit dem Militär über ein gemeinsames Regime bis zu den Wahlen im Jahr 2023 gestoppt wurde, fortzuführen. Die 2019 gebildeten Widerstandskomitees bestehen weiter und müssen zu Räten gestärkt werden, die alle ArbeiterInnen, Frauen, StudentInnen und SoldatInnen vertreten, die auf die Seite der Massen übergehen. Der Putsch beweist, dass die Teilung der Macht mit den Generälen des alten Regimes eine gefährliche Illusion war und bestätigt den Ausspruch des französischen revolutionären Jakobiners Saint Just: „Wer die Revolution nur halb macht, schaufelt sich sein eigenes Grab“.

Wir haben immer argumentiert, dass jedes stehende Heer – solange es unter dem Kommando der Generäle und des Offizierskorps steht – eine tödliche Waffe gegen das Volk bildet. Eine wesentliche frühe Aufgabe jeder echten Volksrevolution ist es, ihnen die Herrschaft über den Repressionsapparat zu entreißen, die einfachen SoldatInnen vom Kommando der Offiziere zu brechen und sie auf die Seite der Massen, insbesondere der ArbeiterInnen, zu bringen und ein revolutionäre Selbstverteidigungskräfte unter der demokratischen Kontrolle der ArbeiterInnen- und Volksräte zu bilden.

Entscheidend ist, dass der Generalstreik und der Massenwiderstand auf der Straße wirksam sind und die einfachen SoldatInnen sowie die UnteroffizierInnen und niederen Offiziersränge dazu bringen, zum Volk überzulaufen. Die aktuelle Widerstandsbewegung muss sich insbesondere auf die Stärke der revolutionären Frauen und Jugendlichen stützen, die bei der Revolution 2019 eine führende Rolle gespielt haben. Und wenn dies geschieht, darf die Revolution dieses Mal nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Sie darf sich auch nicht mit einer Regierung aus zivilen TechnokratInnen zufrieden geben, die Hand in Hand mit dem IWF, den USA, der EU und den anderen imperialistischen Mächten arbeiten.

Was die gegenwärtige Krise auf soziale, demokratische und nachhaltige Weise lösen kann, ist eine Regierung, die sich voll und ganz der Revolution verschrieben hat, eine Regierung, die sich auf ArbeiterInnen- und Volksräte stützt und in der Lage ist, sozialistische Maßnahmen zu ergreifen, um die dringenden Bedürfnisse der Land- und Stadtbevölkerung zu erfüllen.

In anderen Ländern müssen sich SozialistInnen und GewerkschafterInnen mit den Exil-SudanesInnen zusammentun, um gegen den Putsch zu demonstrieren und Nahrungsmittel- und medizinische Hilfe zur Bekämpfung von COVID und der Wirtschaftskrise sowie ein Ende des Diktats des IWF zu fordern.




Brasilien – ein Pulverfass

Liga Socialista (Brasilien), Neue Internationale 255, Mai 2021

Was wir heute in Brasilien erleben, ist die Fortsetzung des Putsches von 2016, der die Präsidentin Dilma (ArbeiterInnenpartei; PT) stürzte. Es war nicht nur ein Putsch gegen die PT-Regierung, sondern ein gegen die gesamte ArbeiterInnenklasse gerichteter. Gleich nach seinem Amtsantritt versuchte Temer (Brasilianische Demokratische Bewegung; MDB), eine Rentenreform zu verabschieden, aber die Mobilisierung des Volkes stoppte ihn. Temer schaffte es jedoch mit List, die Arbeitsreform durchzusetzen.

Nachwehen des kalten Putsches von 2016

Bei den Wahlen 2018 wurde Lula ohne Beweise verurteilt und rechtswidrig verhaftet. Der STF (Oberster Bundesgerichtshof) gewährte damals keinen Habeas Corpus (Freilassung aus widerrechtlicher Haft) und verbot Lula die Teilnahme am Wahlkampf. Die wichtigsten Parteien der Bourgeoisie wurden bei den Wahlen besiegt und ihr Hauptkandidat, Alckmin (Sozialdemokratische Partei Brasiliens; PSDB), scheiterte vor der zweiten Runde, die zwischen dem Neofaschisten Bolsonaro und dem Kandidaten der ArbeiterInnenpartei, Haddad, ausgefochten wurde. In diesem Moment schloss sich die Bourgeoisie mit ihrem Hass auf die PT der Kampagne von Bolsonaro an, der am Ende gewann.

Aus all diesen Gründen haben wir heute in Brasilien eine Regierung, die die Wissenschaft leugnet, die BeamtInnen zu großen FeindInnen der Nation erklärt, die öffentliche Versammlungen und die Nichtverwendung von Masken fördert. Für Bolsonaro ist Covid nur eine „kleine Grippe“.

Damit hat Brasilien jetzt über 320.000 Covid-Tote erreicht und heute den Rekord von 3.869 Toten pro Tag gebrochen. Das medizinische System bricht in vielen Teilen des Landes zusammen, vor allem in Bezug auf die Intensivstationen, aber auch die pharmazeutische Grundversorgung.

Lula rehabilitiert

Der STF entschied nun in einem außergewöhnlichen Urteil zum „lava jato“-Prozess („Autowäsche“; milliardenschwerer Korruptionsskandal), dass die Gerichtsbarkeit von Curitiba (Bundesstrafgericht, dessen Staatsanwaltschaft Verstöße gegen Rechtshilfeabkommen und illegale Zusammenarbeit mit dem FBI vorgeworfen werden) nicht über die Kompetenz verfügt, in den Fällen gegen Lula zu urteilen. Kurz darauf erließ eine weitere außergewöhnliche und umstrittene Entscheidung des STF, dass Richter Sergio Moro im Verfahren gegen Lula befangen war, und hob damit das Verfahren gegen Lula im „lava jato“ auf.

Mit dieser Entscheidung rehabilitiert der STF die politischen Rechte Lulas. Die Linke erhielt unerwartet Auftrieb, Lula hielt mehrere öffentliche Reden, und die PT-AnhängerInnen schöpften wieder Hoffnung und sehen nun die Möglichkeit einer Kandidatur Lulas im Jahr 2022. Auf der anderen Seite wandte sich ein Teil der Bourgeoisie gegen Bolsonaro und veröffentlichte ein Dokument gegen ihn, das von BänkerInnen, Geschäftsleuten und renommierten ÖkonomInnen unterzeichnet wurde. Diese Gruppe wendet sich an den Kongress und bewirkt, dass der Centrão (der große Sumpf der Mitteparteien im Kongress, die für jede Mehrheit im aktuellen Parlament gewonnen werden müssen), der bis dahin die Regierung unterstützt hatte, beginnt, sich zurückzuziehen.

Bolsonaros politischer Amoklauf

Bolsonaro, in totaler Verwirrung angesichts der Bedrohung durch eine Lula-Kandidatur und unter dem Druck seiner Basis, beginnt, nach allen Seiten zu schießen. Er droht damit, den Belagerungszustand über das Land zu verhängen und ruft die Streitkräfte zur Unterstützung an, droht sogar mit der Schließung von STF und Kongress. Aber er war überrascht, als die Streitkräfte klarstellten, dass sie die Bundesverfassung verteidigen und sich niemals an einer Handlung beteiligten, die diese negieren oder zu einer totalitären Regierung führen würde.

Angesichts dessen kam es zu einem Meutereiversuch der Bolsonaro nahe stehenden Militärpolizei im Bundesstaat Bahia, der von der PT regiert wird. Der Aufstandsversuch, der sich auf andere Bundesstaaten ausweiten sollte, wurde frühzeitig entlarvt und die Polizistkräfte zogen sich zurück. Dies war eine Aktion, die von Abgeordneten aus Bolsonaros Basis gefördert wurde, um GouverneurInnen anzugreifen, die eine Corona-Sperre verhängt haben.

In den Querelen innerhalb der Regierung entband Bolsonaro den Verteidigungsminister Fernando Azevedo von seinem Amt, der mit den Worten abtrat, er wolle „nicht wiederholen, was er im Mai letzten Jahres erlebt hat“, als Bolsonaristas (Bolsonaros AnhängerInnen) auf die Straße gingen, ein militärisches Eingreifen forderten und den STF angriffen.

Der Armeekommandant Edson Pujol wurde ebenfalls entlassen bzw. reichte seinen Rücktritt ein. Die Streitkräfte hatten ein Treffen und zogen alle ihre Kader aus der Regierung zurück. Es ist eine sehr komplizierte Situation mit verschiedenen Interpretationen. Für einige AnalystInnen stellt sie ein Manöver des Centrão dar, um mehr Posten in der Regierung zu erhalten. Es besteht auch die Möglichkeit, dass die Streitkräfte den Sturz von Bolsonaro planen, damit sein Vizepräsident, Ex-General Mourão, die Präsidentschaft übernimmt. Aber in dieser Situation könnte es eine Reaktion von Bolsonaristas geben, hauptsächlich von der Militärpolizei, die zwar Bundesstaatenpolizei ist, sich aber in ganz Brasilien als Anhängerin Bolsonaros zeigt.

Krise mit ungewissem Ausgang

Alles kann passieren, von einer neuen Vereinbarung zwischen den Kräften, die die Regierung Bolsonaro bilden, bis hin zu einer Meuterei der Polizei und einer Konfrontation zwischen Polizei und Streitkräften. Verschlimmert wird die Lage dadurch, dass sich die Armut im Land ausbreitet und die Grundversorgung mit Lebensmitteln in immer mehr Regionen nicht mehr funktioniert. Die Reaktion derjenigen, die von der Krise betroffen sind, kann jeden Moment erfolgen.

Einige wissenschaftliche Untersuchungen berichten, dass es etwa 15 Millionen BrasilianerInnen gibt, die am schwerwiegenden Problem der Fehl- und Unterernährung leiden. In mehreren Großstädten bilden sich riesige Schlangen vor den Stellen, an denen kostenlose Mahlzeiten ausgegeben werden, denn die meisten Armen können mit den kleinen Rationen der Nothilfe nicht überleben.

Da die Linke jedoch keine Richtung vorgibt, schließen sich womöglich viele der Armen  Rechtspopulismus und sogar Faschismus an, die sie davon überzeugen, dass die Wirtschaftskrise im Land von den „KommunistInnen“ (einschließlich rechter GouverneurInnen!) und „Petistas“ (Mitglieder und AnhängerInnen der PT) verursacht wird, die die Menschen an der Arbeit hindern – wegen der „hysterischen Maßnahmen“ (Lockdown) zur Abwehr der Pandemie.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Brasilien ein Pulverfass ist, und es kann sein, dass Bolsonaro selbst die Lunte anzündet. In Streitkräfte und Centrão darf es keine Illusionen geben. Wenn sich die Krise noch weiter zuspitzt, könnte die Bourgeoisie zu irgendeiner Form des Ausnahmezustands oder einer anderen autoritären Form der Krisenpolitik greifen einschließlich eines Putsches der faschistischen Kräfte um Bolsonaro (z. B. in der Militärpolizei und den Milizen). Darauf muss die Linke vorbereitet sein und demokratische Grundrechte verteidigen.

Perspektive

Es muss eine Einheitsfront aufgebaut werden, um einem solchen autoritären Versuch entgegenzutreten und ihn mit einem Generalstreik unter Kontrolle der einfachen Mitglieder der Gewerkschaften und der Organisationen der arbeitenden Armen in den Städten und auf dem Land zu beantworten. Gleichzeitig muss der Kampf gegen die Pandemie und die schwere Wirtschaftskrise kombiniert werden, indem den Bolsonaristas und den korrupten Kräften in Gestalt der bürgerlichen GouverneurInnen die Kontrolle über die Antikrisen- und Antipandemie-Maßnahmen entzogen wird.

Ein solidarischer Lockdown von nicht lebensnotwendigen Teilen der Wirtschaft muss mit der Übernahme der Kontrolle über die Lebensmittelversorgung der Armen und Arbeitslosen und einem Notfallplan für das kollabierende Gesundheitssystem kombiniert werden. Nicht „Lula 2022“, sondern der Kampf für eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung, die die Kontrolle über ein solches Programm übernimmt, ist der Ausweg aus der Pulverfass-Situation!




Myanmar: Der Widerstand gegen den Putsch geht weiter – Solidarität mit den ArbeiterInnen und der Jugend!

Dave Stockton, Infomail 1142, 11. März 2021

Der März eskalierte die Repression durch das Militär Myanmars – die Tatmadaw – gegen völlig friedliche und unbewaffnete DemonstrantInnen massiv. Neben Gummigeschossen und scharfer Munition werden auch Splittergranaten eingesetzt, die einen Kugelhagel ausstoßen, der schwere Verletzungen verursacht.

In der nördlichen Stadt Myitkyina haben Scharfschützen wahllos von Gebäuden entlang der Demonstrationsrouten geschossen. In Yangon (Rangun) und anderen Städten werden bei nächtlichen Razzien Hunderte von Menschen aufgegriffen, die Zahl der Festgenommenen liegt nach den Angaben der Menschenrechtsorganisationen des Landes inzwischen bei weit über tausend.

Ein FunktionärIn der National League for Democracy, NLD, deren Präsidentin Aung San Suu Kyi inhaftiert ist, ist im Gewahrsam gestorben, es ist der zweite innerhalb von zwei Tagen.

Angesichts der immer massiver werdenden Demonstrationen setzt Min Aung Hlaing, der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, zunehmend tödliche Gewalt ein, um den Aufstand niederzuschlagen. Wie Macbeth in Shakespeares Drama denkt er zweifelsohne: „Ich bin einmal so tief in Blut gestiegen / Dass, wollt‘ ich nun im Waten stille stehn / Rückkehr so schwierig wär‘, als durch zu gehn.“

Nach UN-Quellen hat die Zahl der Todesopfer seit dem 1. Februar inzwischen die 50 überschritten. Allein am 28. Februar gab es 18 Tote und über 30 Schwerverletzte. Dann, am 3. März, tötete die paramilitärische Polizei mit Sturmgewehren mindestens 38 Menschen. Das Töten und Verstümmeln fand in Yangon, der größten Stadt und dem Industriezentrum des Landes, in Mandalay und vielen anderen Städten des Landes statt. Aber die Niederschlagung der landesweiten Revolte wird ein weit tieferes Waten im Blut erfordern.

Dennoch hat die massive Zunahme von Tötungen und Massenverhaftungen die Proteste bisher nicht beenden können. Vielmehr haben sie die DemonstrantInnen gezwungen, defensive Maßnahmen zu ergreifen. Während sie immer noch völlig friedlich bleiben, haben junge Leute Reihen von „VerteidigerInnen“ mit Helmen und improvisierten Schilden organisiert und Barrikaden errichtet, um die Durchfahrt von Militärfahrzeugen zu verhindern.

Zunehmende Rolle der ArbeiterInnenklasse

Ein entscheidender Faktor für die Niederschlagung des Putsches ist die zunehmende Rolle, die die ArbeiterInnen bei den Protesten und wiederholten Streiks spielen. Die IndustriearbeiterInnen-Föderation von Myanmar, IWFM, und neun Einzelgewerkschaften riefen am 22. Februar und am 8. März, dem Internationalen Frauenkampftag, zu eintägigen Generalstreiks auf, bei denen Fabriken, Geschäfte, Regierungsbüros, Banken und Eisenbahnen bestreikt wurden. Die Föderation der BekleidungsarbeiterInnen von Myanmar, FGWM, die aus 20 lokalen Gewerkschaften besteht, hat eine wichtige Rolle gespielt. Ihre Fabriken produzieren für internationale Marken wie The North Face und H&M.

EisenbahnerInnen, BekleidungsarbeiterInnen, BeamtInnen, Beschäftigte im Gesundheitswesen und KupferminenarbeiterInnen haben sich wiederholt den Protesten angeschlossen. Streikende ArbeiterInnen der Eisenbahn sind in ihren Wohnanlagen vom Militär belagert worden, welches sie mit Verhaftungen bedrohte. Eine prominente Organisatorin, Moe Sandar Myint, erklärte: „Die ArbeiterInnen sind bereit für diesen Kampf. Wir wissen, dass sich die Situation unter der Militärdiktatur nur verschlechtern wird, deshalb werden wir als Einheit bis zum Ende kämpfen“. Kein Wunder also, dass alle unabhängigen Gewerkschaftsverbände Ende Februar verboten wurden.

Die städtische ArbeiterInnenklasse Myanmars ist seit der Öffnung des Landes für ausländische Investitionen vor zehn Jahren gewachsen, besonders in der größeren Industrieregion Yangon. Die ArbeiterInnen in der Textilindustrie, meist sehr junge Frauen, kommen vom Land und haben mit den patriarchalischen Traditionen, in denen sie aufgewachsen sind, gebrochen. Sie organisierten sich und kämpfen für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne. Jetzt wurden Haftbefehle gegen zwanzig GewerkschaftsführerInnen ausgestellt, darunter die Vizepräsidentin der IWFM, Soe Lay. Ihre Präsidentin, Khang Zar, hat einen Appell an die Menschen in aller Welt gerichtet:

„Durch zivilen Ungehorsam, Proteste und Streiks melden sich die Menschen in Myanmar klar und lautstark zu Wort. Wir brauchen die internationale Gemeinschaft, um das Gleiche zu tun. Wir brauchen Sie, um an unserer Seite zu stehen, damit dieser Putsch zusammenbricht.“

Stellung des Militärs

Es ist jetzt klar, dass die Generäle nicht einfach durch den wiederholten Beweis, dass die Bevölkerung in Myanmars Städten sie hasst und ihre Diktatur ablehnt, von der Macht verdrängt werden. Schließlich hat die Tatmadaw seit 1962 auch niemals wirklich die Macht an eine gewählte zivile Regierung abgetreten. Ihre Geschichte ist geprägt von Korruption, wirtschaftlicher Kontrolle und einem nicht enden wollenden Krieg gegen die ethnischen Minderheiten des Landes (Kachin, Karen, Kayin, Mon, Rohingya usw.), die 32 % der Bevölkerung ausmachen, aber seit langem von der Bamar-Mehrheit unterdrückt werden.

Obwohl es klar ist, dass der Widerstand der jugendlichen DemonstrantInnen nichts an der Mentalität der Generalität geändert hat, die in ihren luxuriösen, mit Teakholz ausgekleideten Villen mit privaten Golfplätzen in Sonderzonen fernab der Städte leben, gibt es Anzeichen von Unzufriedenheit unter der Polizei. Bislang haben sie die Hauptlast der Drecksarbeit der Tatmadaw getragen. Einige haben den Befehl, auf unbewaffnete DemonstrantInnen zu schießen, verweigert und sind ins benachbarte Indien geflohen. In einer gemeinsamen Erklärung an die Polizei im indischen Mizoram erklärten vier OffizierInnen:

„Als die Bewegung des zivilen Ungehorsams an Fahrt aufnahm und in verschiedenen Orten Proteste von Anti-Putsch-DemonstrantInnen stattfanden, wurden wir angewiesen, auf die Protestierenden zu schießen. In einem solchen Szenario besitzen wir nicht den Mut, auf unsere eigenen Leute zu schießen, die friedliche DemonstrantInnen sind.“

Nur wenn die ArbeiterInnenklasse die Wirtschaft zum Stillstand bringen kann und AktivistInnen die Moral der „Ordnungskräfte“ untergraben können, nur wenn die namenlosen VerteidigerInnen sich bewaffnen, kurz, nur wenn die Proteste zu einer Revolution und einem Aufstand entwickelt werden, kann gesiegt werden. Das ist die zentrale Lektion des Arabischen Frühlings vor zehn Jahren.

Imperialistische Heuchelei

US-Präsident Joe Biden hat den Putsch verurteilt und die USA haben begrenzte Sanktionen gegen Mitglieder des militärischen Oberkommandos verhängt. Australien hat die Anwendung von tödlicher Gewalt gegen ZivilistInnen, die ihre Rechte ausüben, verurteilt und sein Verteidigungskooperationsprogramm mit der Tatmadaw ausgesetzt. Der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Josep Borrell, verurteilte ebenfalls die „gewaltsame Unterdrückung friedlicher DemonstrantInnen durch das Militär in Myanmar“ und forderte „eine Rückkehr zur Demokratie“.

Noch im April und November des vergangenen Jahres wurde Min Aung Hlaing in Brüssel von den ChefInnen der NATO gefeiert. Er besuchte auch Deutschland, Österreich und Italien, um Hightech-Waffen und gepanzerte Fahrzeuge für seine Streitkräfte in ihrem Krieg gegen die ethnischen Minderheiten Myanmars zu kaufen. Diese Beziehung kam trotz der Vertreibung von 750.000 Rohingya im Jahr 2017 zustande, die der General gegenüber der NATO-Spitze zu verteidigen wagte. Tatsächlich beläuft sich der Verteidigungshaushalt des Landes bereits auf mehr als das Gesundheits- und Bildungsbudget zusammen. Doch jede Hoffnung, dass die westlichen imperialistischen Demokratien irgendetwas Entscheidendes unternehmen werden, ist vergebens.

Noch unwahrscheinlicher ist ein Wort des Widerstandes seitens des neuen imperialistischen Aufsteigers, dem „kommunistischen China“. Peking ist damit beschäftigt, seine neue Seidenstraße (One Belt, One Road) durch das Land zu bauen, um wichtige Häfen am Indischen Ozean zu erreichen. Diese Route ist von massiver strategischer Bedeutung für China, weil sie es der Schifffahrt und damit dem Handel erlauben würde, die Straße von Malakka zu umgehen, ein Engpass und potentieller „Abschnürungspunkt“ Chinas durch die USA und ihre Verbündeten.

Außerdem ist es unwahrscheinlich, dass ein Regime, das 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tian’anmen-Platz) Tausende seiner eigenen DemonstrantInnen abschlachtete, gegenwärtig einen kulturellen Völkermord an einer Million UigurInnen begeht und gegen den demokratischen Widerstand in Hongkong vorgeht, einen solchen Aufstand in Myanmar auch nur verbal unterstützen wird.

Solidarität

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass SozialistInnen und GewerkschafterInnen in Europa nicht nur ihre Solidarität mit den jungen DemonstrantInnen und ArbeiterInnen in Myanmar zeigen, sondern auch ihre Regierungen zwingen, die Waffenlieferungen an die Tatmadaw einzustellen. GewerkschafterInnen und SozialistInnen auf der ganzen Welt müssen schnell reagieren, indem sie Waren, die aus Myanmar kommen oder für Myanmar bestimmt sind, blockieren. Länder, die Waffen an das Militär in Myanmar liefern, müssen unter Druck gesetzt werden, dies sofort zu beenden. In der Tat müssen alle Verbindungen mit der illegitimen Junta aufgedeckt und gekappt werden.

Wenn es den ArbeiterInnen Myanmars gelingt, die Streiks zu einem Generalstreik auszuweiten, könnte dies zu Spaltungen in der Armee führen, besonders zwischen der Basis und der Offizierskaste. Es sind die SoldatInnen und PolizistInnen, die die Waffen besitzen, und selbst die stärkste Volksbewegung wird immer besiegt werden, wenn sie unbewaffnet bleibt.

Denn letztlich wird die Verwandlung des Massenprotests in eine erfolgreiche Revolution nur dadurch möglich sein, indem die Disziplin der einfachen SoldatInnen aufgebrochen wird und sie auf die Seite des Volkes gezogen werden. Dann wäre es möglich die MörderInnen von der Macht zu vertreiben und sie für ihre Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Um dies zu beschleunigen, sollten Gewerkschaften und sozialistische Organisationen auf der ganzen Welt dringend praktische Schritte unternehmen, um den ArbeiterInnen und der Jugend Myanmars Solidarität entgegenzubringen.