Gemeinsam gegen Arbeitsrechtsverletzungen: Arbeiterinnen und Arbeiter von Wolt, Lieferando, Flink sitzen zusammen

Minerwa Tahir, Infomail 1223, 17. Mai 2023

„Zwei Tage nachdem meine sechsmonatige Probezeit am 8. Mai endete, wurde ich am 10. Mai per E-Mail entlassen. Ich brauchte das Geld für meine Studiengebühren.“

Dies ist die Geschichte des 22-jährigen K*, der an der Berlin School of Business Innovation den Master in Finance studiert. Er kam aus Kerala, Indien, nach Deutschland. „Meine Eltern haben mich dabei unterstützt, hierherzukommen, aber was kann ich noch mehr von ihnen verlangen“, sagt er. „Es ist auch für sie schwierig, mich von Indien aus zu unterstützen. Ich habe aus der Not heraus angefangen, bei Flink zu arbeiten, auch, weil mir die Idee gefiel, mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Und jetzt, nach sechs Monaten guter Arbeit, wurde mir ohne Grund gekündigt.“

Versammlung

K* war am Montag, den 15. Mai, bei einer Versammlung der Wolt-Zusteller:innen anwesend. Das Treffen wurde mit dem Ziel organisiert, allen Zusteller:innen, die von Nichtbezahlung, Kündigungen ohne Grund, Entzug grundlegender Arbeitsrechte wie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und anderen Problemen betroffen sind, Rechtsbeistand zu leisten. Martin, ein Rechtsanwalt, war anwesend, um die Beschäftigten aus rechtlicher Sicht zu beraten, da er über Erfahrungen mit Fällen von Lohnabhängigen bei verschiedenen Lebensmittellieferant:innen wie Gorillas, Lieferando, Flink und Wolt verfügt. Andere, die für andere Lebensmittellieferant:innen als Wolt arbeiten oder gearbeitet haben, sowie einige Aktivist:innen waren ebenfalls anwesend.

Laut K* behandelt Flink seine Mitarbeiter:innen seit einigen Monaten auf unfaire Weise. „Flink hat nicht so viel Geld verdient, wie es erwartet hatte, und jetzt wälzen sie die Last ihrer Verluste auf die Beschäftigten ab, indem sie sie entlassen“, sagte er. „Ich verstehe, dass ein Unternehmen das manchmal tun muss, aber das Mindeste, was sie tun können, ist, uns eine 30-tägige Kündigungsfrist einzuräumen.“

Er teilt sich ein Zimmer mit einem anderen Freund, weil die Miete ohnehin schon so schwer bezahlbar ist. Jetzt, da ihm plötzlich gekündigt wurde, macht er sich Sorgen, wie er in diesen prekären Zeiten seine Finanzen regeln soll. „In meinem Vertrag steht, dass man innerhalb der sechsmonatigen Probezeit jederzeit gekündigt werden kann“, sagte er. „Aber mich nur zwei Tage nach Ablauf der Probezeit fristlos zu entlassen, ist geradezu grausam.“

Der Fall von K* ist weder neu noch ein Einzelfall. Eine andere Person, die bei dem Treffen anwesend war, berichtete von einer ähnlichen Erfahrung mit Flink. Inzwischen haben Wolt-Mitarbeiter:innen wie Mohamed nicht einmal einen Arbeitsvertrag. Zusammen mit einem anderen Wolt-Arbeiter hat er im Juli einen Termin für die Anhörung ihrer Fälle vor einem Gericht.

Mohamed sagte, dass der Eigentümer von Mobile World, der die Arbeiter:innen des Fuhrparks von Wolt als Subunternehmer:innen beschäftigte und ihnen Löhne im Wert von 3.000 Euro nicht zahlte, jetzt neue Leute einstellt. „Es gibt eine Anzeige auf Ebay unter Alis Namen“, sagte er. „Diesmal sind es aber nur Autofahrer:innen, die er einstellt.“

Arbeiter:innen von Lieferando, Wolt und Flink diskutierten ähnliche Probleme. Einige beschwerten sich darüber, dass sie für ihre erste Bestellung überhaupt und auch für die erste nach einer Pause nicht für die gefahrenen Kilometer entschädigt werden. R* sprach darüber, dass Wolt von ihm erwartet, dass er nachts zu ungewöhnlichen Zeiten arbeitet, obwohl er einen „flexiblen“ Vertrag gewählt hat, um sich um sein Kind zu kümmern.

Es wurde auch über die Bildung (und die damit verbundenen Schwierigkeiten) eines Betriebsrats für die Wolt-Beschäftigten diskutiert, da die Lieferando-Beschäftigten bereits einen haben. Schließlich wurde beschlossen, eine weitere Protestaktion zu organisieren, um Druck und Bewusstsein zu schaffen. Beim nächsten Treffen am 22. Mai sollen die Aktionspläne konkretisiert werden.

Solidarität

Die Gruppe Arbeiter:innenmacht erklärt ihre volle Solidarität mit allen Zusteller:innen, die für ihre Rechte kämpfen. Ihr Kampf ist gerecht und mehr denn je absolut notwendig. Die Lebensmittellieferant:innen sind sich der begrenzten Möglichkeiten bewusst, die auf migrantische Student:innen aus südasiatischen Ländern aufgrund von Sprachbarrieren existieren. Die meisten dieser Studierenden kommen aus nicht sehr wohlhabenden Verhältnissen und müssen als Lieferfahrer:innen arbeiten, um über die Runden zu kommen.

Internationale Lebensmittellieferant:innen nutzen ihre prekäre Lage aus und halten sich dabei nicht einmal an die deutschen arbeitsrechtlichen Vorschriften. Das liegt daran, dass die meisten Migrant:innen ihre Rechte nicht kennen und viele, die sie kennen, Angst haben, das Unternehmen zu verklagen. Nicht wenige haben mit ihrem Studium und mehreren Gelegenheitsjobs kaum Zeit, sich kollektiv zu organisieren. Das stille Leiden der Mehrheit hat dazu geführt, dass sich diese blutsaugenden Unternehmen zu einem Monster entwickelt haben, das völlig ungestraft agiert.

Die Auslieferung von Lebensmitteln ist ein fester Bestandteil des Lebens in Deutschland, was zeigt, wie wichtig diese Lohnabhängigen heute sind. Jeden Tag sieht man Hunderte dieser jungen Männer und Frauen, die sich auf unseren Straßen mit dem Fahrrad fortbewegen. Wir rufen alle Lohnabhängigen und Gewerkschaften auf, die Kämpfe dieser sogenannten informellen Arbeiter:innenklasse zu unterstützen. Der Kapitalismus hat sie zu einer Unterklasse degradiert, und es ist eine Schande, dass die deutschen Behörden dies direkt vor ihrer Nase zugelassen haben.

Wir als Arbeiter:innen sind stärker, wenn wir geeint und organisiert sind. Aber diese Einheit und Organisation wird sich nicht von selbst ergeben. Es ist die Pflicht aller Sozialist:innen und Kommunist:innen, die bereits in Gewerkschaften organisiert sind, das Thema der Solidarisierung mit den Beschäftigten des informellen Sektors aufzugreifen und in ihren bestehenden Gewerkschaften dafür zu streiten. Es ist unsere Pflicht, an den Treffen und Veranstaltungen unserer Klassenbrüder und -schwestern teilzunehmen, um ihnen zu zeigen, dass wir an ihrer Seite stehen. Wir können nie wirklich wissen, wann solche „Ausnahmen“ zur Regel für alle werden könnten. Bereiten wir uns also schon jetzt darauf vor und stellen wir uns auf die richtige Seite der Geschichte.

Auch für die Beschäftigten des informellen Sektors wäre es von Vorteil, sich in der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) zu organisieren, aber auch Teil des klassenkämpferischen Netzwerks der Gewerkschaften, der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) zu werden, das im Januar 2020, kurz vor Beginn der Pandemie, gegründet wurde. Diese ist zwar offiziell „vorbei“, aber unser kollektives Leid ist es noch lange nicht. Deshalb müssen wir uns zusammenschließen und streiken!

* Namen zum Schutz der Identitäten verborgen.




Arbeitsmigrant:innen aus Indien und Pakistan schließen sich in Berlin gegen Wolt zusammen

Minerwa Tahir, Infomail 1219, 5. April 2023

Habt ihr kürzlich in einem Restaurant Essen bestellt, weil ihr das kalte, regnerische Wetter in Berlin satt hattet? Dann solltet ihr wissen, dass die Leute, die euch das Essen an die Haustür gebracht haben, möglicherweise seit Monaten nicht mehr bezahlt werden.

Die Zusteller:innen von Wolt organisierten am 5. April eine Protestaktion gegen die monatelange Nichtbezahlung der Löhne. Die Aktion begann an der U-Bahn Karl-Marx-Straße, gefolgt von einer Fahrradrallye zur Wolt-Zentrale, wo die betroffenen Beschäftigten Reden hielten. Insgesamt nahmen 50 Personen teil, obwohl die Wolt-Geschäftsführung angeblich strafrechtliche Konsequenzen gegen die Teilnahme der Beschäftigten angedroht hatte.

Lage der Arbeiter:innen

Die meisten Arbeiter:innen sprachen über die Schwierigkeiten, mit denen sie als Migrant:innen konfrontiert sind, die Student:innen sind und Teilzeit in diesen prekären informellen Jobs arbeiten. Mohamed, der den Protest anführte, war mit seiner Frau anwesend. Beide stammten aus Pakistan. „Ich bin Student und die meisten Wolt-Arbeiter sind es auch“, sagte er. „Wie sollen wir Miete und Rechnungen bezahlen, wenn das Unternehmen, für das wir arbeiten, uns monatelang nicht bezahlt?“

Die Demonstration machte nicht nur auf die wirtschaftlichen Nöte aufmerksam, sondern war auch eine glänzende Demonstration der Einheit und Solidarität unter den aus Indien und Pakistan stammenden migrantischen Arbeiter:innen. Offensichtlich lassen die von den Regierungen im eigenen Land aufrechterhaltenen Animositäten schnell nach, wenn alle südasiatischen Arbeiter:innen in einem fremden Land als „braunhäutige Migrant:innen“ behandelt werden. Interessant war auch, dass die Arbeiter:innen die Manager:innen mit pakistanischem und indischem Hintergrund anprangerten, die sich weigerten, auch nur herauszukommen, um sich ihre Forderungen anzuhören, und die man dabei beobachten konnte, wie sie die Demonstrant:innen von ihren Glasfenstern aus ignorierten.

Einige Mitarbeiter:innen des Lieferdienstes Lieferando waren ebenfalls anwesend, um sich mit den Protestierenden zu solidarisieren. „Ihr habt etwas Besseres verdient. Euer Kampf ist unser Kampf“, sagte ein Lieferando-Beschäftigter, der auch in der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) organisiert war. Solidaritätsbekundungen gab es auch von jungen Migrant:innen aus Indien und Pakistan.

Gegen Ende der Demonstration waren die Protestierenden zu Recht verärgert über die Apathie der Wolt-Geschäftsführung, die sich weigerte, auch nur zu einem Gespräch mit den Arbeiter:innen herauszukommen. Sie versprachen, dass darauf eine härtere Aktion folgen werde. „Wenn ich bei -7° C rausgehen kann, um euer Essen auszuliefern, dann könnt ihr sicher sein, dass ich keine Skrupel haben werde, tagelang in der Kälte zu sitzen, um meinen Forderungen Gehör zu verschaffen, selbst wenn ich in einen Hungerstreik treten muss“, sagte Sami.

Subunternehmen

Die Gruppe Arbeiter:innenmacht unterstützt voll und ganz die Aktion und die Forderungen der protestierenden Arbeiterinnen und Arbeiter, zu denen die Zahlung der fälligen Löhne und die Beendigung des Systems der Untervergabe gehören. Seit September letzten Jahres beschäftigt Wolt Arbeit„nehmer“:innen über Subunternehmer:innen. Einer von ihnen ist Mobile World. Durch diese Art der Beschäftigung kann Wolt keine Verantwortung für die Verletzung von Arbeitsrechten geltend machen, da das Unternehmen behauptet, es habe den/die Subunternehmer:in bezahlt. Die Arbeiter:innen bestehen jedoch zu Recht darauf, dass die Verantwortung bei Wolt liegt, da sie im Namen des Unternehmens arbeiten und Gewinne erwirtschaften, die es einstreicht. Diese verabscheuungswürdige Beschäftigungsmethode ermöglicht es den Unternehmen auch, ihren Arbeiter:innen keine Sozialleistungen zu gewähren und zuweilen nicht einmal den Mindestlohn zu zahlen. Das ist Krieg gegen die Zusteller:innen! Erschwerend kommt hinzu, dass die meisten der Menschen, die diese prekären und schlecht bezahlten Jobs annehmen, Migrant:innen sind, entweder Student:innen oder Asylbewerber:innen ohne Papiere. Der/Die Auftragnehmer:in ist sich ihrer prekären Bedingungen bewusst, was es ihm/ihr ermöglicht, aus der Arbeiter:innenklasse diese informelle Unterklasse zu schaffen. Wir fordern:

  • Wolt muss alle nicht gezahlten Löhne und Gehälter jetzt direkt an die Beschäftigten auszahlen!

  • Verbot der Auslagerung des Einstellungsprozesses an Auftragnehmer.

  • Mindestlohn von 15 Euro pro Stunde für jede/n Arbeiter:in!

Wir rufen auch alle Arbeiter:innen in Wolt auf, sich in der Gewerkschaft NGG und dem Klassenkampfnetzwerk VKG zu organisieren. Gemeinsam, als gewerkschaftlich organisierte Klasse, können wir uns die Arbeitsbedingungen sichern, die wir verdienen, indem wir die Dinge selbst in die Hand nehmen, anstatt an die Bosse zu appellieren. Um dies zu gewährleisten, müssen wir aktiv darauf hinarbeiten, dass die Führung der Gewerkschaften gegenüber den Mitgliedern rechenschaftspflichtig und an die demokratischen Beschlüsse der Mitglieder gebunden ist, und die Führungen gewählt werden, abwählbar sind und einen Arbeiter:innenlohn erhalten. Der Aufbau einer solchen Gewerkschaft im ganzen Land ist der wichtigste Schritt zur Überwindung der Unterschiede zwischen den Bedingungen der einheimischen und der migrantischen Lohnabhängigen und zu ihrer Vereinigung zu einer revolutionären Klasse. Alle Macht den Arbeiter:innen!




UK und Irland: Stoppt Rassismus und Bigotterie!

Dave Stockton, Infomail 1215, 1. März 2023

Rechtspopulistische und faschistische Gruppen starten im gesamten Vereinigten Königreich und in der Republik Irland eine breit angelegte Offensive, bei der sie Rassismus gegen Migrant:innen und Bigotterie gegen Transsexuelle als ihre Visitenkarte abgeben. Die Entscheidung der Regierungen, ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen und gleichzeitig – zumindest im Falle Großbritanniens – diejenigen zu verteufeln, die den Ärmelkanal in wackeligen Booten überqueren, bietet einen fruchtbaren Boden für die Hassprediger:innen.

In Zeiten zunehmender wirtschaftlicher Not in strukturschwachen Gebieten, die sowohl von den regierenden Torys als auch von der Labour-Partei lange Zeit vernachlässigt wurden, bringen die Regierungen diejenigen, die es hierher geschafft haben, in heruntergekommenen Hotels unter, oft in Badeorten, wo sie unter erbärmlichen Bedingungen eingepfercht sind, weit weg von Freund:innen oder Unterstützungsnetzen der eigenen Community.

Dort hetzen die rassistischen Gruppen die Einheimischen auf, diese vermeintlichen Zufluchtsorte für Demonstrationen und Schlimmeres anzusteuern, und finden ein Publikum, das zwar noch nicht groß ist, aber wächst und gefährlich ist. Die antirassistische Kampagne „Hope not Hate“ weist in ihrem Bericht 2023 darauf hin:

„Die Proteste und Aktionen gegen Migrant:innen vor deren Unterkünften und Hotels haben sich im vergangenen Jahr verdoppelt. In der Zwischenzeit gab es eine Reihe von Aktionen zur Störung oder Absage von Buchveranstaltungen der Drag Queen Story Hour, die sich gegen Transrechte und die LGBTIA+-Community richteten.“

Die Tory-Boulevardblätter wie die Daily Mail mit ihrer Propaganda über eine Invasion von Bootsflüchtlingen oder Lehrer:innen, die versuchen, das Geschlecht „unserer“ Kinder zu ändern, haben den Boden bereitet, um diese Verbreitung reaktionärer Aktivitäten zu schüren. Daher rühren auch die Slogans auf diesen Demonstrationen, die Boote zu stoppen oder die „Pädos“ zu bekämpfen.

Die einwanderungsfeindliche Innenministerin Suella Braverman, die zunächst vorschlug, die Marine zu veranlassen, die Boote zurück in französische Gewässer zu „schieben“ und dann diejenigen, die die Überfahrt überleben, auf alten Kreuzfahrtschiffen festzuhalten, versucht immer noch, die Gerichte dazu zu bringen, die Menschen nach Ruanda abschieben zu lassen.

Warnung aus Merseyside

Das bedrohlichste Ereignis war der große Aufruhr am 11. Februar vor dem Suites Hotel in Knowsley, Merseyside, wo sich eine große Menschenmenge, darunter viele Einheimische, versammelte und rassistische Parolen rief. Die Aufregung wurde durch Behauptungen im Internet angeheizt, eine fünfzehnjährige Schülerin sei von einem Mann aus dem Hotel belästigt worden. Diese Behauptungen haben sich inzwischen als unbegründet erwiesen. Jemand aus dem Mob hatte eine Benzinbombe mitgebracht, offensichtlich in der Absicht, ein Pogrom zu veranstalten. Ein Polizeiauto geriet zur Zielscheibe.

Weitere Angriffe auf Hotels, in denen Migrant:innen untergebracht sind, fanden in Long Eaton (Derbyshire) bei Nottingham und Newquay in Cornwall statt. Hunderte nahmen an einer Demonstration in Skegness (Lincolnshire) teil. Rechtsextreme Gruppen wie Patriotic Alternative und Britain First haben in diesen Gebieten Flugblätter über „Luxushotels für Migrant:innen“ verteilt, während „unsere Leute“ obdachlos sind.

Das gemeinsame Muster ist die bewusste Entscheidung der Regierung für unwirtliche Orte für Menschen, die in ihren Heimatländern unter Kriegstraumata leiden, was durch lange Verzögerungen bei der Bearbeitung ihrer Asylanträge noch verstärkt wird. Dies geht auf Theresa Mays Politik der „feindlichen Umgebung“ zurück, als sie Innenministerin war (2010 – 2016).

Auch in der irischen Republik finden seit November landesweit antimigrantische Mobilisierungen unter dem Motto „Irland ist voll“ statt. Im Jahr 2022 gab es 307 solcher Proteste, 2023 waren es bereits 64. Bei der letzten Demonstration in Dublin gingen mehr als 2.000 Demonstrant:innen auf die Straße, wobei der Schwerpunkt auf einem Gebäude lag, das zu einem Wohnheim für Migrant:innen umgebaut worden war und in dem sich Woche für Woche Hunderte von Menschen versammelten. Im Dezember weiteten sich die Demonstrationen auf andere Gebiete aus: die Vororte Dublins Drimnagh, Finglas und Ballymun sowie Fermoy (Cork).

Auch in Schottland kam es in der dritten Woche in Folge zu Zusammenstößen zwischen Demonstrant:innen vor einem Hotel in Renfrewshire (bei Glasgow) wegen Plänen zur Unterbringung von Asylbewerber:innen. Mitglieder der Patriotic Alternative versammeln sich jeden Sonntag vor dem Muthu Glasgow River Hotel in Erskine (nahe Glasgow), um gegen die geplante Unterbringung von 200 Asylbewerber:innen zu protestieren.

Weitere Ziele der Rechten bilden die fortschrittlichen Vorschriften zur Geschlechtsanerkennung und transkulturelle Veranstaltungen. Transphobie war das Thema der jüngsten Veranstaltungen in London vor der Tate Modern-Kunstgalerie, und vor kurzem versuchten ein Dutzend Rechtsextremist:innen der Gruppe Turning Point, eine Drag Queen Storytelling-Veranstaltung im The Honor Oak Pub in Lewisham (London) zu verhindern, wurden aber von 200 Gegendemonstrant:innen empfangen.

Runter von unseren Straßen

Glücklicherweise haben sich in vielen dieser Fälle lokale Antirassist:innen, oft von der Organisation Stand Up to Racism, schnell mobilisiert und dazu beigetragen, mögliche gewalttätige Übergriffe zu verhindern. Obwohl die Polizei in Knowsley eingegriffen hat, können wir es nicht ihr überlassen, denn sie wird immer das „Recht auf friedlichen Protest“ der Faschist:innen verteidigen. Es ist klar, dass die neuen Antiprotestgesetze, die sich gegen diejenigen richten, die gegen die Umweltzerstörung durch den Kapitalismus protestieren, in erster Linie gegen Antirassist:innen und nicht gegen Faschist:innen eingesetzt werden.

Es ist die Pflicht der Arbeiter:innenbewegung, unsere Brüder und Schwestern zu verteidigen, die vor Umweltzerstörung, Armut, Verfolgung und Krieg fliehen. Wir müssen sagen: Öffnet die Grenzen für diejenigen, die vor Kriegen, Naturkatastrophen und wirtschaftlicher Not Zuflucht suchen!

Wir müssen uns auch dafür einsetzen, dass Asylbewerber:innen eine angemessene Unterkunft in Städten zur Verfügung gestellt wird, in denen es Gemeinschaften aus ihren Herkunftsländern gibt und in denen Gewerkschaften, Labourstadträte und sozialistische Gruppen sie willkommen heißen und ihnen bei der Verfolgung ihrer Ansprüche mit Rechtsberatung helfen können. Wir müssen die Beschränkungen bekämpfen, die ihnen das Recht auf Arbeit oder den Nachzug ihrer Familienangehörigen verwehren.

Sozialist:innen müssen dem rechtsextremen Hass in all seinen Formen, einschließlich der Transphobie, unbeirrt entgegentreten. Wo immer möglich, müssen wir diese rassistischen und transphoben Mobs von unseren Straßen vertreiben und sicherstellen, dass alle naiven Einheimischen, die sich ihnen anschließen, eine unangenehme Erfahrung machen, und die Faschist:innen, die sie wütend machen, in die Flucht schlagen.

Workers Power wird sich für eine große Beteiligung an den Demonstrationen am 18. März in London einsetzen. Auch in Glasgow und Cardiff wird es im Rahmen des weltweiten Tages der antirassistischen Proteste Demonstrationen geben. Angesichts der bösartigen Antimigrationspolitik vieler EU-Staaten, insbesondere der neuen extrem rechten italienischen Regierung unter Giorgia Meloni, und der Tragödie des Schiffsunglücks in Italien, bei dem 63 Flüchtlinge, darunter auch Kinder, ums Leben kamen, ist ein internationales Vorgehen dringend erforderlich.




Silvester 2022: Nach den Böllern kommt der Rassismus

Martin Suchanek, Infomail 1209, 5. Dezember 2023

145 Menschen hat die Polizei lt. Tagesschau bundesweit im Zusammenhang mit Silvesterkrawallen festgenommen, rund zwei Drittel entfielen auf Berlin. Diese sollen nicht nur Einsatzkräfte der Polizei, sondern auch der Feuerwehren, teilweise auch Passant:innen gezielt mit Böllern und Feuerwerkskörpern beschossen haben.

Silvesterkrawalle sind nun nichts total Neues in Deutschland – und erst recht nicht zahlreiche Verletzungen, Schlägereien, Unfälle bei den Neujahrsfeiern. Und ebenso wenig neu ist die fast schon alljährliche Debatte um das Verkaufsverbot von Böllern und Feuerwerkskörpern.

Es mag auch gut sein, dass die Zahl der Einsätze der Polizei und auch direkter bewusster Übergriffe und Angriffe auf Beamt:innen in diesem Jahr nach der Coronapandemie nach oben ging. Dass es sich dabei um eine neue Qualität handelt, muss aber in Zweifel gezogen werden. Bevor wir uns jedoch damit beschäftigen, müssen wir darauf eingehen, was wirklich neu ist: das Ausmaß an offen rassistischer Zuschreibung durch die bürgerliche Politik.

Rassismus und Law and Order

Nachdem sich der Rauch der Feuerwerke längst verzogen hat, legen Politiker:innen und sog. Expert:innen nach. CDU-Fraktionsvize Spahn, einst ein Shootingstar seiner Partei, bringt sich mit rassistischen Zuschreibungen und Law-and-Order-Parolen ins Gespräch – und macht auch gleich die Ursachen für eine angeblich neue Qualität von Rowdytum aus: „ungeregelte Migration, gescheiterte Integration und fehlenden Respekt vor dem Staat“. Die Berliner CDU und FDP legen nach:

„Der CDU-Bezirksstadtrat für Soziales in Neukölln, Falko Liecke, wurde der Berliner Zeitung gegenüber deutlicher. In Neukölln sei eine ‚komplette Parallelgesellschaft herangewachsen, die mit unseren Staatsorganen, der Polizei und unserem Bildungssystem nichts zu tun hat’. Die FDP-Bundesabgeordnete Katja Adler sprach auf Twitter von ‚kultureller Überfremdung’. Der innenpolitische Sprecher der Jungen Union NRW, Manuel Ostermann, ging noch weiter. Das Problem seien ‚nicht die Böller, sondern der asoziale Mob, der damit nicht umgehen kann’, schrieb er. Im Gespräch mit der Bild-Zeitung bedauerte er den Mangel deutscher Grenzkontrollen. Der CDU-Abgeordnete Christoph de Vries scheint bisweilen die Rassentheorie für sich wiederentdeckt zu haben: Wollen wir Krawalle in Großstädten bekämpfen, schrieb er auf Twitter, ‚müssen wir auch über die Rolle von Personen, Phänotypus: westasiatisch, dunklerer Hauttyp sprechen’.“ (https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/silvesternacht-die-boeller-debatte-ist-rassistisch-li.303337)

Der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft DPolG im Deutschen Beamtenbund, Rainer Wendt, stößt ins selbe Horn und verweist auf das „Migrantenmilieu“ als Hort mangelnder Staatstreue. Zudem fordern Polizei- und Feuerwehrgewerkschaften stärkere Überwachung und Videocams.

Da fällt es der AfD und wohl auch so manchem Hardcorenazi schwer, sich nach rechts abzusetzen. AfD-Vorsitzende und -Bundessprecherin Alice Weidel versucht es dennoch und wendet sich gegen jede Erleichterung der Einbürgerung: „Ab diesem Jahr werden all die ‚Menschen‘ eingebürgert. Dann können die Medien ohne schlechtes Gewissen schreiben, dass ‚Deutsche‘ Einsatzkräfte attackierten.“ (https://www.belltower.news/rassistische-narrative-nach-silvester-neues-jahr-alte-hetze-144885/)

Laut Weidel und Co. kann es sich beim „Mob“ überhaupt um keine echten Deutschen, allenfalls nur um „Passdeutsche“ gehandelt haben. Selbst von Menschen mag sie nur unter Anführungszeichen sprechen – und setzt so den rassistischen Zuschreibungen von Liberalen und Konservativen noch eins drauf.

Bürgerliche Öffentlichkeit und Expert:innen

Während ein Teil der bürgerlichen Medien vor rassistischen Zuschreibungen warnt, fordern sog. Qualitätsmedien wie die FAZ, dass nicht weiter abgewiegelt werde, wenn es um Gewalt und Migration gehe. So lobt ihr Redakteur Jasper von Altenbockum den „Mut“ von Spahn und NRW-Innenminister Herbert Reul. die entgegen einer angeblichen Relativierungskultur die „Wahrheit“ ausgesprochen hätten. Schelte gibt es für den Berliner Senat, dem „in solchen Situationen die Worte ‚Linksextremisten’ oder ‚Migranten’“ nicht über die Lippen kommen könnten.

Doch nicht nur die bürgerliche Presse verkehrt die Lage so, also würden über Jahre Migrant:innen oder auch „Linksextreme“ diskursiv geschont, also würden jene, die die veröffentlichte Meinung privatkapitalistisch oder staatlich kontrollieren, vor lauter „Gutmenschen“ nicht mehr zu Wort kommen.

In solchen Situationen werden auch vorgebliche Expert:innen wie der Psychologe Ahmad Mansour gern in der Tageschau und anderen Medien zu Rate gezogen. Sie fabulieren dann von einer „puren Lust an Gewalt“, die auf den Straßen ausgelebt würde. Und weiter: „Es hat aber auch mit patriarchalischen Strukturen zu tun, die dazu führen, dass diese Menschen unseren Rechtsstaat, unsere Polizei, unsere Rettungskräfte als etwas Schwaches wahrnehmen, das man attackieren darf.“ (https://www.tagesschau.de/inland/silvester-gewalt-gegen-polizisten-101.html)

Lassen wir einmal beiseite, dass es an „patriarchalen Strukturen“ auch in „deutschen Milieus“ nicht mangelt, so erhebt sich doch die Frage, warum „unsere Polizei“ nur für wenige Stunden zu Silvester als „etwas Schwaches“ wahrgenommen wird, warum beim racial profiling in Neukölln und anderswo migrantische Jugendliche schikaniert, unterdrückt und Opfer von polizeilicher Gewalt werden?

Die These von der „Schwäche“ des Staates stellt die realen Verhältnisse einfach auf den Kopf. In Wirklichkeit leben die Menschen in keiner „Parallelgesellschaft“, sondern am Rand einer Gesellschaft, die sie nur als Marginalisierte, als billige, entrechtete Arbeitskräfte braucht, deren Wohnviertel gentrifiziert werden (auf Berlin-Kreuzberg folgt zur Zeit Neukölln). Nicht mangelnde „Integrationsbemühungen“, sondern systematische Diskriminierung und Verweigerung realer Integration prägen den Alltag. Die „Silvesterkrawalle“ sind kein Zeichen der Machtlosigkeit des Staates, sondern kurzfristige, emeutenhafte Äußerung der realen Machtlosigkeit Jugendlicher.

Verkehrung

Das polizeiliche, konservative, liberale und rassistische Narrativ stellt das faktisch auf den Kopf. Wer auf gesellschaftliche Ursachen auch nur im bürgerlich-demokratischen Sinn verweist, wird von der FAZ und anderen der Relativierung bezichtigt.

Zugleich werden einzelne, aus der Lebenssituation entrechteter und marginalisierter Jugendlicher entstehende gewaltsame Ausbrüche zu einem „kriminellen Migrantenmilieu“ konstruiert, das vorzugsweise vom Islam geprägt sein soll. Kriminalität, Angriffe auf die Polizei werden zur Tat von Migrant:innen.

Warum eigentlich sollen Menschen einen Staat und seine Repressionsorgane „respektieren“ und schätzen, der sie bei der streng reglementierten Einreise bürokratisch schikaniert und als Menschen 2. Klasse behandelt? Warum sollen Menschen einen Staat „respektieren“, der Geflüchteten über Jahre einen sicheren Aufenthaltsstatus, einen freien Zugang zum Arbeitsmarkt und gleiche demokratische Rechte verwehrt? Warum sollten Menschen einen Staat „respektieren“, der Immobilienhaie schützt, wenn sie deren Wohnungen räumen? Warum sollen Menschen einen Staat „respektieren“, dessen Beamt:innen in der Regel als verlängerter Arm der Unterdrückung fungieren?

Es ist nichts „Überraschendes“ an solchen gelegentlichen Gewaltausbrüchen. Auch dass diese unter anderem in Berlin-Neukölln und Kreuzberg stattfanden, sollte niemanden verwundern – schließlich sind dies auch Zentren der Verdrängung der Armen. Im Grunde handelt es sich dabei um eine gewaltsame Äußerung von Wut und Frustration Marginalisierter, um einen, wenn auch blinden Ausbruch gesellschaftlicher Ohnmacht. Daher auch deren politisch unbestimmter Charakter, daher auch Angriffe nicht nur auf die Polizei, sondern auch auf Feuerwehren oder sogar einzelne Passant:innen. Sie sind Zeichen von Perspektivlosigkeit sowie einer systematischen rassistischen und damit verbundenen sozialen Marginalisierung eines Teils der Arbeiter:innenklasse und eines entstehenden Subproletariats. Der Hass auf „den Staat“, der selbst ihre Unterdrückung exekutiert und täglich befestigt, ist nicht verwunderlich, ja durchaus nachvollziehbar, auch wenn er politisch ohnmächtig in Erscheinung tritt.

Der Trick der rassistischen, konservativen und polizeilichen Zuschreibung besteht nun gerade darin, diese spezifischen, gewaltsamen Ausbrüche von Wut herzunehmen und als Ausdruck der Kriminalität und Asozialität „integrationsunwilligen“, „kulturfremden“, „islamisch“ und „patriarchal“ geprägten „Migrantenmilieus“ zuzuschreiben.

So wird eine direkte Linie zur Silvesternacht von Köln gezogen, so wird der Jahreswechsel herangezogen, um vorzugsweise jungen, männlichen Migranten Kriminalität zuzuschreiben.

Die Jahresstatistik spricht eine andere Sprache. Lt. einem Lagebericht des Innenministeriums wurden 2021 rund 88.600 Übergriffe auf Polizeibeamt:innen erfasst. „Von den bekannten Tätern seien 84 Prozent männlich und 70 Prozent deutsche Staatsbürger.“ (https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-01/silvester-gewalt-jens-spahn) Von einem besonders hohen migrantischen Anteil an den Angriffen auf Polizist:innen kann also keine Rede sein.

Doch das kümmert nicht weiter. Schließlich geht es bei der aktuellen politischen Diskussion um die Silvesternacht nicht um Fakten, sondern um rassistische Stimmungsmache. Die Verschärfung bestehender Gesetze, die geradezu obligatorische Forderung nach rascherer und härterer Aburteilung der Täter:innen bildet dabei nur einen Teilaspekt.

Nicht minder wichtig ist es, den Verweis auf gesellschaftliche Ursachen der Ausschreitungen und auf den staatlichen Rassismus selbst zu diskreditieren. Beispielhaft dafür schlussfolgert ein Kommentar der FAZ:

„Der Gipfel der Relativierung ist erreicht, wenn nicht die Minderheit der Kriminellen, sondern ‚die Gesellschaft’ verantwortlich gemacht wird. Geht es um Migranten, soll das wohl heißen: Staat und Polizei sind selbst schuld, weil sie nicht genug Willkommenskultur gezeigt haben. Das eigentliche Übel beginnt aber in dem Augenblick, in dem politisch nicht wichtig genommen wird, was im Leben ganzer Stadtteile nicht wichtiger sein könnte. ( …  )

Kriminelle Jugendliche, die ‚ihren’ Kiez in Geiselhaft nehmen, rückt man weder mit Wattebäuschchen noch mit der Schweigespirale zu Leibe. Nichts feuert Respektlosigkeit in diesen Milieus mehr an als ein Opfer, das selbst keine Selbstachtung ausstrahlt. Selbstvertrauen, Durchsetzungsfähigkeit und Stärke zeigen Staat und Parteien aber viel zu wenig. Die Innen- ist in diesem Punkt ein Spiegel der Außenpolitik.“

Hier werden die Verhältnisse im Kiez noch einmal auf den Kopf gestellt, ganz so als würden Menschen, die sich als Billigjobber:innen oder Arbeitslose durchs Leben schlagen müssen, hierzulande mit „Wattebäuschchen“ angefasst. Dafür ereifert sich der FAZ-Autor schon über die Vorstellung, dass Staat und Polizei irgendwie für ihr Handeln, für eine rassistische Migrationspolitik und deren Umsetzung verantwortlich sein sollten. Die Schuldumkehr, die die FAZ beklagt, nimmt sie in Wirklichkeit selbst vor, indem in guter alter konservativer Manier gefordert wird, dass endlich Schluss sein müsse mit der Relativierung von Gewaltausbrüchen, die Migrant:innen und/oder Linksradikalen zugeschrieben werden.

Der Staat wird so zum „Opfer“, das endlich mehr „Selbstachtung“ an den Tag legen müsse, mehr Selbstvertrauen, Durchsetzungsvermögen, Stärke – mit anderen Worten mehr Willkür, und das nicht nur im Inland, sondern auch auf der ganzen Welt. Dort gibt es schließlich noch mehr „kriminelle Ausländer:innen“, die dem deutschen Imperialismus nicht den nötigen Respekt entgegenbringen.

Ohnmacht von Rot-Grün-Rot und das Böllerverbot

SPD und Grüne, aber im Grunde auch die Linkspartei stellen sich natürlich auch hinter „unsere Polizei“. Allzu offenen Rassismus der Marke CDU und Co. wollen sie aber auch nicht an den Tag legen. Daher folgen die üblichen Forderungen nach mehr Überwachung und verbesserter Ausrüstung der Polizei durch SPD und Grüne. Die Berliner Regierende Bürgermeisterin Giffey will außerdem auch einen „runden Tisch“ zur Kriminalitätsbekämpfung einberufen. Die Berliner Linkspartei hält sich mit total einseitiger Polizeilobhudelei etwas zurück.

Dafür setzen SPD, Grüne und Linkspartei umso euphorischer auf die Wunderwaffe „Böllerverbot“. Campact hat nach der „Nacht des Grauens“ auch einen Onlineappell für das Verbot gestartet.

Sicherlich lässt sich über Sinn und Unsinn von Feuerwerken und Böller streiten. Unbestreitbar gehören sie aber auch zu der Neujahrsfeier für breite Teile der Bevölkerung. Die Forderung nach einem Totalverbot trifft nicht nur diese Menschen und gängelt sie noch mehr. Sie zieht auch die Forderung nach Stärkung der polizeilichen Befugnisse und zur Vergrößerung des Personals zur Durchsetzung eines solchen Verbotes nach sich. Sie läuft also, ob gewollt oder nicht, auf eine Stärkung des Gewaltmonopols des bürgerlichen Staates hinaus.

Gegen unverantwortlichen und gefährlichen Umgang mit Feuerwerkskörpern und Böllern braucht es in Wirklichkeit keine Polizei – schließlich provoziert die Präsenz der sog. Sicherheitskräfte oft gerade jene Ausschreitungen, die sie angeblich verhindern soll. Statt der Polizei könnten von der Wohnbevölkerung selbst organisierte Selbstschutzgruppen, die von den verschiedenen Communities getragen werden, dafür sorgen, dass alle friedlich und ohne Polizei feiern können.

Der Ruf nach dem Böllerverbot stärkt hingegen die bürgerliche Polizei. Er erweist sich vor allem als völlig hilflos angesichts der rassistischen Hetze. Lahm fordern zwar Campact und Vertreter:innen von SPD, Grünen und Linkspartei ihre bürgerliche und offen rassistische Konkurrenz dazu auf, die Silvesterausschreitungen nicht zu rassistisch „aufzuladen“ oder zu „missbrauchen“. Doch dieser Appell erweist sich als wirkungslos, wenn die Ursache dieser ohnmächtigen Ausbrüche der Wut nicht thematisiert wird, wenn der Zusammenhang zwischen Zusammenstößen mit der Polizei, Rassismus, Ausbeutung migrantischer Arbeitskraft und Perspektivlosigkeit der Jugend selbst nicht in den Blick genommen wird.

Dies ist jedoch für die reformistischen und linksbürgerlichen Parteien schlechthin unmöglich. Schließlich haben sie selbst jene Politik mitzuverantworten, die Millionen rassistisch diskriminiert, die die Zahl der von Armut bedrohten Menschen in Deutschland auf 13 Millionen steigen ließ. Wer über Jahre der Immobilienlobby zuarbeitet, deren Enteignung bekämpft, den Billiglohnsektor ausweitet, hat auch keine Antworten, die Lage von Millionen in Armutsvierteln zu verbessern. Der ruft allenfalls nach dem Placebo Böllerverbot. Im Kampf gegen Rassismus, Armut und kapitalistische Ausbeutung brauchen wir keine Placeboparteien, wir brauchen Kampforgane und eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei, so dass anstelle der Wut, der Verzweiflung der Kampf der Unterdrückten treten kann.




Minijobs: Der Weg in die Altersarmut wird ausgebaut

Paul Neumann, Infomail 1179, 5. März 2022

SPD und Grüne versprachen in ihren Wahlprogrammen, Minijobs abschaffen. Die Koalitionsvereinbarung verkündet nun das Gegenteil: Minijobs sollen ausgebaut werden. Die Geringfügigkeitsgrenze soll von 450 auf 520 EUR sozialversicherungsfrei angehoben werden. Das freut alleine die Unternehmer:innen und Wohlhabende, werden doch für sie prekäre Arbeitsverhältnisse wie Minijobber:innen und Haushaltshilfen noch lohnender. Für die in Minijobs Beschäftigten sind Entqualifizierung und Altersarmut vorprogrammiert.

Geringfügige Beschäftigung

Mit der Agenda 2010 in den Jahren 2002 – 2004 wurde neben der Schaffung eines Niedriglohnsektors auch die „geringfügige Beschäftigung“ neu geregelt. Seitdem steigt die Zahl der Minijobs kontinuierlich an. 2019 waren ca. 7 Millionen Menschen in einem 450-Euro-Job beschäftigt, d. h. jedes 5. Beschäftigungsverhältnis in Deutschland ist ein prekäres. Nur für ein Drittel stellt der Minijob einen Nebenverdienst dar, aber für zwei Drittel der in diesem Bereich Beschäftigten das alleinige Einkommen. Das ist mit massiven negativen Folgen verbunden: Eine Einzahlung in die Renten- und Sozialkassen findet praktisch nicht statt. Der/Die „Arbeitgeber:in“ kann einen Pauschalbetrag zur Rentenversicherung über die Minijobzentrale einzahlen, was aber lediglich bei 450 EUR Einkommen zu einem Rentenzuwachs in Höhe von 3,64 EUR/mtl. führt, so dass ca. 80 % der Minijobber:innen sich von der Rentenversicherungspflicht befreien lassen.

Ebenso sind sie nicht gegen Arbeitslosigkeit versichert, was in der Corona-Krise für ca. 2 Millionen entlassene Minijobber:innen fatale Folgen hatte. Weder besteht ein Anspruch auf Arbeitslosen- noch Kurzarbeiter:innengeld, so dass sie Leistungen beim Jobcenter beantragen mussten. Darüber hinaus werden ihnen grundlegende Rechte systematisch vorenthalten. Grundsätzlich stehen geringfügig Beschäftigten die gleichen Rechte zu wie Vollzeitbeschäftigten. So haben sie einen Anspruch auf bezahlten Urlaub, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Mutterschutz oder Elternzeit. Die Realität sieht anders aus. Laut einer Studie des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) erhält rund ein Drittel keinen bezahlten Urlaub und fast der Hälfte wird die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall verweigert. Ebenso werden gesetzliche Pausen und Ruhezeiten eher selten eingehalten. Zudem verfügen mehr als die Hälfte über eine Ausbildung in dem Bereich, in dem sie beschäftig sind, werden aber i. d. R. mit Mindest- oder Aushilfslohn abgefertigt.

So ist es kein Wunder, dass eine eigenständige Existenzsicherung mit einem Minijob nicht möglich ist. Die materielle Abhängigkeit, besonders von Frauen, von einem Partner mit Einkommen wird so gefördert. Wer nicht in dieser „glücklichen“ Lage ist, wie viele alleinerziehende Frauen, dem/r bleibt nur der Gang zum Jobcenter. 2020 bezogen mehr als 1 Millionen berufstätige Menschen, als sog. Aufstocker:innen, Leistungen nach SGB II (Hartz IV). Ein Drittel davon ist als Minijobber:in beschäftigt. Durch die rot-grüne Koalition wurde mit der Agenda 2010 faktisch ein Kombilohn zugunsten der Unternehmen geschaffen, der auf Kosten der Lohnabhängigen jährlich mit 10 Milliarden EUR subventioniert wird und zusätzlich den Sozialversicherungen Einnahmeausfälle von über 3 Milliarden EUR beschert.

Wurden jahrelang Minijobs, gerade für Langzeitarbeitslose, also Hartz-IV-Bezieher:innen, als Brücke zurück in den 1. Arbeitsmarkt angepriesen, zeigt die o. g. Studie des IAB, dass das Gegenteil der Fall ist: Minijobs verdrängen im großen Stil reguläre Arbeitsverhältnisse und stellen nur in sehr geringen Umfang eine Brücke in den 1. Arbeitsmarkt dar. Einmal Minijobber:in, immer Minijobber:in ist die Realität. Betroffene verbleiben vielmehr „oft im Niedriglohnsegment und arbeiten in vielen Fällen unterhalb ihres Qualifikationsniveaus“, so die Bilanz des IAB. Allein in Kleinbetrieben sollen lt. IAB 500.000 reguläre Arbeitsplätze durch Minijobs abgebaut worden sein.

Was tun die Gewerkschaften?

Haben die Gewerkschaftsspitzen von 2002 – 2004 unter Rot-Grün aktiv an der Regierungs-/Unternehmer:innenkommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ unter der Leitung des VW-Personalvorstandes Hartz mitgewirkt und die Legalisierung von Minijobs als Nebenerwerb und die Entgrenzung der Tätigkeit von 15 Wochenstunden unterstützt, so ist ihr Verhalten heute ambivalenter. Schließlich haben „hunderttausende Beschäftigte im Gastgewerbe ihren Minijob in der Corona-Krise verloren – ohne jede Absicherung durch Kurzarbeiter- oder Arbeitslosengeld. Minijobs sind eine Falle und dienen oft dazu, Schwarzarbeit zu legitimieren“ (Guido Zeitler, Gewerkschaft NGG). Der DGB fordert, geringfügige Beschäftigung sollte vollständig sozialversicherungspflichtig werden.

Die Konsequenz aus diesen Einsichten, die Organisierung von prekär Beschäftigten voranzutreiben, um für die Abschaffung solcher Arbeitsverhältnisse zu kämpfen, bleibt jedoch aus. Stattdessen setzen die Gewerkschaften auf folgenlose Appelle an die Regierung und fordern staatliche Regulierung. Nach dem Willen des DGB sollen Beschäftigte vom Staat besser über ihre Rechte aufgeklärt und Verstöße gegen den Gleichheitsgrundsatz härter bestraft werden.

Haushaltshilfen

Deutlich wird dieser staatskorporatistische Umgang des DGB mit der wachsenden prekären Beschäftigung am Beispiel von Minijobs in Privathaushalten. Von den ca. 3,6 Millionen Haushaltshilfen, die in deutschen Haushalten arbeiten, sind ca. 80 % nicht über die Minijobzentrale angemeldet, also illegal beschäftigt. Ein Großteil arbeitet als Pflegekräfte in den Familien.

Besonderer Beliebtheit erfreut sich hier das Modell der „24-Stunden-Pflege“. Das System der 24-Stunden-Pflege alter Menschen in den eigenen vier Wänden funktioniert vor allem, weil Zehntausende schlecht bezahlter ausländischer Pflegekräfte, vorwiegend Frauen aus EU-Osteuropa und der Ukraine, sie betreuen, pflegen und versorgen. Für das deutsche Pflegemodell sind die osteuropäischen Betreuungskräfte mittlerweile systemrelevant. Ohne sie würde das System zusammenbrechen, sie ersparen den Pflegekassen Milliardenbeträge. Dafür schaut der Staat seit Jahren weg und toleriert die durch die Bank prekären Arbeitsbedingen der osteuropäischen Pflegekräfte. Die arbeiten in der Regel unter sehr fragwürdigen Bedingungen: rund um die Uhr, kein Urlaub, wenig Geld (1.300 – 1600 EUR). „Das Bundesarbeitsgericht in Erfurt hat dem Laissez-Faire durch ein Grundsatzurteil nun Grenzen gesetzt. Das höchste deutsche Arbeitsgericht entschied, dass einer Bulgarin, die von einer bulgarischen Agentur vermittelt wurde und die nach eigenen Angaben rund um die Uhr eine über 90 Jahre alte Seniorin in Berlin versorgte, der deutsche Mindestlohn zusteht – auch für Bereitschaftszeiten. Das System der 24-Stunden-Pflege gerät damit ins Wanken.“ (ARD,Tagesschau, 25.06.2021)

Das Grundsatzurteil setzt dieser Praxis nun Grenzen? Oder? Davon ist noch nichts zu sehen und nichts zu erwarten. Danach stehen einer 24- Stunden-Pflegekraft über 9.000 EUR/mtl. zu. Das können sich nur wenige leisten. Zudem ist der Entscheid erstmal ein Einzelurteil für die bulgarische Pflegekraft. Dass nun massenhaft Klagen bei den Arbeitsgerichten eingehen, ist bisher nicht der Fall und auch nicht zu erwarten. Denn auch die meisten migrantischen Pflegekräfte sind auf die Scheißjobs angewiesen, da Besseres nicht zu haben ist – nicht in Deutschland und in ihren Heimatländern schon gar nicht. So schränkt man sich ein, wohnt im Haushalt der Pflegebedürftigen, pflegt, kocht, putzt und kümmert sich 12 Std. am Tag und schläft auf dem Sofa neben dem Pflegefall in Dauerbereitschaft. Für Unterkunft und Verpflegung werden i. d. R. noch einige Hundert EUR angerechnet, sodass oftmals weniger als 1.000 EUR netto an die Familie ins Heimatland geschickt werden können, die dort ihren Lebensunterhalt notdürftig sichern. „Unzulässige Arbeitszeiten, mangelnde Integration und soziale Absicherung, aber auch unklare Qualifikation und Haftung sind nur einige der kritischen Punkte“, so der Forderungskatalog von Andreas Westerfellhaus, des Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung. Die 24-Stunden-Betreuung müsse daher zu einem „Megathema der Politik“ werden. Das Ziel sei weder, funktionierende Pflegesettings zu zerstören noch prekäre Arbeitsbedingungen und fragwürdige rechtliche Konstellationen zu tolerieren.

Das Gesundheitsministerium sieht das offenbar anders. Es gebe keine Pläne, die in Deutschland geltenden Ausnahmen von internationalen Arbeitsschutzvorschriften für 24-Stunden-Pflegekräfte zu ändern, schreibt es. „Bedarf für Änderungen mit Blick auf das von Deutschland ratifizierte Übereinkommen Nr. 189 über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte der internationalen Arbeitsorganisation sieht die Bundesregierung nicht“, heißt es in der Antwort des Ministeriums auf eine Anfrage der Linkspartei. Die Konvention der internationalen Arbeitsorganisation ILO regelt unter anderem die Arbeitszeiten. Davon sind in Deutschland aber Personen ausgenommen, die im Haushalt von Pflegebedürftigen leben. Dazu zählen damit auch Beschäftigte im Rahmen einer 24-Stunden-Pflege.

So bleibt erst einmal alles beim Alten.

Im Konzept des DGB, mit dem schönen Namen „Arbeitsplatz Privathaushalt – Gute Arbeit ist möglich“, steht nicht etwa die Interessenvertretung der meist migrantischen Beschäftigten im Zentrum, sondern die Bezuschussung professioneller Dienstleister:innen zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung im Haushalt. Auch sollen nicht mehr die Vermittlungsagenturen, bei denen die ausländischen Haushaltshilfen rechtlich angestellt sind und die fette Vermittlungsprovisionen kassieren, nach den Plänen des DGB für die Sozialversicherungsbeiträge aufkommen, sondern der Staat. Zudem soll der Zoll bisher unzulässige Kontrollen in Privathaushalten durchführen, um die Schwarzarbeit zu bekämpfen.

Während in Europa und weltweit immer mehr Gewerkschaften prekär Beschäftigte organisieren und diese Schichten der Arbeiter:innenklasse vielerorts schon das Rückgrat der Gewerkschaftsbewegung bilden, um mit konsequenten Arbeitskämpfen für eine Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen zu kämpfen, setzen die deutschen Gewerkschaften auf staatliche Regulierung und Kontrollen statt auf gewerkschaftlichen Kampf mit den Betroffenen.

  • Abschaffung aller nicht sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsmodelle!
  • Keine Beschäftigungsmodelle unterhalb des Mindestlohn im Beschäftigungsland, wie z. B. für Haushaltshilfen, Saisonarbeitskräfte/Erntehelfer:innen, Werk- und ausländische Arbeitsverträge!
  • Aufnahme von allen in Deutschland beschäftigten Ausländer:innen in die Gewerkschaften.



USA: Camp Bliss, ein Höllenlager

Dave Stockton, Infomail 1154, 25. Juni 2021

Mehr als 4.300 Kinder im Teenageralter sind derzeit in einer „Notunterkunft“ auf der Militärbasis Fort Bliss in El Paso, Texas, untergebracht. 12 riesige Zelte sind mit Hunderten von Schlafkojen in unmittelbarer Nähe gepackt. Jüngste Berichte, die von schockierten MitarbeiterInnen verdeckt an BBC-ReporterInnen gegeben und durch Berichte in der El Paso Times bestätigt wurden, offenbaren Bedingungen, die eine absolute Schande für die reichste Demokratie der Welt darstellen und die Realität der westlichen Werte offenbaren.

Unmenschliche Zustände

Das Camp liegt in heißem Wüstengelände, das regelmäßig von Sandstürmen heimgesucht wird, gegen die Zelte nur unzureichend schützen. Ein Mitarbeiter berichtet: „Am Ende des Tages sind wir alle nur noch von Kopf bis Fuß mit Staub bedeckt“.

Neben der gefährlichen Überbelegung, bei der Covid und Influenza grassieren, melden die InsassInnen, dass sie schlecht gekochtes Fleisch bekommen haben, das sie krank gemacht hat. Alle klagen über einen Mangel an sauberer Unterwäsche und lange Wartezeiten auf Duschen und medizinische Versorgung. Das Lager ist von Läusen befallen, aber Entlausungskits sind Mangelware.

Kein Wunder, dass sich viele der jungen Menschen in akuter psychischer Not befinden und viele sich selbst verletzen. Die Kinder werden unter diesen Bedingungen festgehalten, manchmal für mehr als einen Monat. Das Lager wird von privaten Subunternehmen betrieben und es gibt Berichte, dass nicht nur einigen MitarbeiterInnen jegliche Ausbildung fehlt, sondern dass Kinder rassistischen und sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind.

All dies steht im scharfen Kontrast zur Prahlerei der Biden-Administration, dass sie die Kinder aus den schockierenden Lagern der Grenzpatrouillen verlegt und die Vorschriften gelockert habe, die es unbegleiteten Kindern erlauben, zu bereits in den USA lebenden Verwandten zu ziehen, sofern diese gefunden werden können.

Das Ministerium für Gesundheit und Sozialdienste (HHS), das Privatunternehmen beauftragt, um das Lager zu betreiben, erklärt zwar, dass es zur Transparenz verpflichtet sei, aber der BBC wurde der Zugang zum Lager verweigert. Das HHS behauptet auch, dass es „die erforderlichen Standards für die Versorgung der Kinder bereitstellt, wie saubere und komfortable Schlafräume, Mahlzeiten, Toilettenartikel, Wäsche, Bildungs- und Freizeitaktivitäten und Zugang zu medizinischer Versorgung.“ Doch nach einem vierstündigen Besuch des Lagers erklärte die US-Abgeordnete Veronica Escobar (Demokratische Partei El Paso) gegenüber der El Paso Times:

„Als ich in das Zelt der Jungen ging, waren dort buchstäblich Hunderte von Jungen in diesen sehr niedrigen Kojen. Ich denke, so viele Menschen auf einem Fleck zu haben, ist ein Risiko für ihre Gesundheit und ihre Sicherheit. Ich glaube, es macht die Aufsicht und Kontrolle fast unmöglich.“

Und weiter: „Ein anderer Bereich, der mich sehr beunruhigt“, sagte sie, „ist die Tatsache, dass wir Kinder haben, die über einen längeren Zeitraum in dieser Einrichtung waren. Ich habe Kinder getroffen, die seit über 40 Tagen dort waren. Das ist absolut inakzeptabel, und es ist zutiefst alarmierend.“

Camp Bliss ist nur eines von mehr als 200 Unterkünften, die das Ministerium für Gesundheit und Sozialdienste landesweit betreibt, um Kinder vorübergehend unterzubringen, die die Grenze zwischen den USA und Mexiko ohne einen Elternteil oder Erziehungsberechtigten überquert haben.

Während die Kinder in den Lagern leiden, beschuldigen Fox News und die RepublikanerInnen Biden weiterhin, weich gegenüber MigrantInnen zu sein, und verbreiten die rassistische Lüge, dass seine politischen Reformen MenschenschmugglerInnen ermutigen würden, immer mehr unbegleitete Kinder an die Grenze zu bringen.

Ursache

Doch die eigentliche Ursache für die Flucht aus Lateinamerika, dem „Hinterhof“ der USA, sind die endemische Gewalt der militärisch-polizeilichen Regime, die sich gegen ländliche und indigene Gemeinschaften richtet, die kriminellen Banden, die in den Drogenhandel verwickelt sind, und die erdrückende Armut aufgrund jahrhundertelanger kolonialer und imperialistische Ausbeutung. In all diesen Ländern haben US-Konzerne und US-Regierungen eine wichtige Rolle bei der Ausbeutung ihrer Landwirtschaft und der Rohstoffindustrie gespielt, ihre Umwelt verwüstet und die repressiven Regime ihrer Eliten gestützt.

Wo immer Regierungen versucht haben, den miserablen Lebensstandard ihrer Bevölkerung zu heben, wurden sie destabilisiert und sogar militärisch gestürzt. Dieses Tyrannei und Blockade setzte sich sowohl unter Obama als auch unter Trump fort und wird auch unter Biden weitergehen.

Wenn Eltern versuchen, ihre Kinder vor den Drogenbanden oder der korrupten Polizei zu retten und sie zu Verwandten oder FreundInnen schicken, die es in das Land geschafft haben, dessen Freiheitsstatue den Müden, Armen und geknechteten Massen ein würdiges Leben verspricht, finden sich in einer Hölle namens Camp Bliss wieder.

SozialistInnen, GewerkschafterInnen, AntirassistInnen und FeministInnen müssen ihre Anstrengungen verdoppeln, um den grausamen Zuständen an den südlichen Grenzen des Landes ein Ende zu setzen, diese schrecklichen Lager zu schließen und ihren InsassInnen eine anständige und humane Betreuung und Unterbringung zu geben. Sie müssen auch materielle und personelle Unterstützung erhalten, um ihre Angehörigen zu finden. Wir müssen fordern, dass das Land seine Grenzen für alle Flüchtlinge öffnet und eine Politik wie den Krieg gegen Drogen und die Superausbeutung durch seine Riesenkonzerne beendet und die Handels- und Finanzblockaden gegenüber den Ländern stoppt, die versuchen, das die soziale Lage ihrer Bevölkerung zu verbessern.

Sich darauf zu verlassen, dass Biden und die Demokratische Partei so etwas tun, wäre äußerst naiv. Deshalb brauchen die USA eine sozialistische, antikapitalistische Partei der ArbeiterInnenklasse, die als integralen Bestandteil ihres Programms die Rechte der ImmigrantInnen verteidigt und den Menschen in Mittel- und Südamerika die Hand reicht für einen gemeinsamen Kampf gegen den US-Imperialismus.




Solidarität? Verantwortung? Abschiebung! – Der Plan der EU-Kommission für ein neues Asylsystem

Jürgen Roth, Neue Internationale 250, Oktober 2020

Ende 2019 waren 79,5 Millionen Menschen auf der Flucht, so die Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Damit ist ein Rekordhoch erreicht. Allein im letzten Jahr stiegen die Zahlen um 9 Millionen. Mit der Corona-Pandemie dürfte sich die Lage weiter zuspitzen. 45,7 Millionen suchen in ihrem eigenen Land Zuflucht und gelten als Binnenvertriebene. Dazu kommen 26 Millionen in andere Staaten Geflohene und 4,2 Millionen Asylsuchende. Das UNHCR zählte erstmals 3,6 Millionen VenezolanerInnen mit, die ins Ausland geflohen waren, aber keinen Flüchtlingsstatus besitzen.

Die Türkei nahm mit 3,6 Millionen Geflüchteten und 300.000 Asylsuchenden die meisten Menschen auf, gefolgt von Kolumbien, Pakistan, Uganda und Deutschland. Pakistan und Uganda haben im letzten Jahr jeweils 1,4 Millionen aufgenommen. Insgesamt kamen 85 % in sogenannten Entwicklungsländern unter, weniger als 10 % in Europa. In ihre Heimat kehren immer weniger Menschen zurück aufgrund anhaltender Konflikte. In den 1990er Jahren waren es 1,5 Millionen pro Jahr im Durchschnitt, im letzten Jahr waren es 385.000.

Der Kommissionsplan

In der EU leben 513 Millionen BürgerInnen und nur gut 2 Millionen Flüchtende. Letzteres ist also ein Klacks im Vergleich zu o. a. Zahlen. Die EU-Kommission hat Ende September ihren Plan zur Reform des europäischen Asylsystems vorgelegt. Er sieht Asylverfahren an den Außengrenzen, schnellere Abschiebungen und die Ernennung eines/r RückführungskoordinatorIn vor. Bei „hohen Flüchtlingszahlen“ sollen alle Mitgliedsländer zu „Solidarität“ mit den Ankunftsländern verpflichtet werden – sei es über Flüchtlingsaufnahme oder Hilfe bei Abschiebungen. Im Fall dieser „Krise“ werden MigrantInnen auf einzelne Länder verteilt, auch ohne Aussicht auf einen Schutzstatus. Abschiebungen werden als Gewährung der Hilfeleistung akzeptiert und müssen binnen 8 Monaten erfolgen. Andernfalls muss das Land die Flüchtlinge aufnehmen. Gleichzeitig plant die von der Leyen-Behörde mehr legale Einwanderungsmöglichkeiten. 2016 war der Versuch gescheitert, die damals noch 28 EU-Staaten für eine Reform des Asylrechts zu gewinnen.

Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt moniert, der Pakt laufe auf die Abschaffung eines fairen Asylverfahrens hinaus durch eine Vorprüfung an den Außengrenzen, wer überhaupt zum Verfahren zugelassen wird. Cornelia Ernst, Abgeordnete der Linken im EU-Parlament, sieht in ihm rote Linien wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Genfer Flüchtlingskonvention und die EU-Grundrechtecharta überschritten. Besonders kritisierte sie die Möglichkeit, dass sich Länder von der Aufnahme von Flüchtlingen freikaufen dürfen.

Am Dublin-System, dem zufolge jener Staat für das Asylverfahren zuständig ist, dessen Boden der/die Schutzsuchende zuerst betritt, rüttelt der Plan nicht. Dieses hat Ländern den Vorwand geliefert, jede Verantwortung auf den „äußeren Ring“ (Griechenland, Italien, Malta) abzuwälzen. Die Kommission will den Außengrenzenschutz durch Frontex verstärken, aber auch durch neue Verträge mit Anrainerstaaten nach dem Muster des Deals mit der Türkei sowie Nutzung des EU-Visumsystems. Die schwedische Kommissarin für Inneres, Ilva Johansson, kündigte einen fünftägigen, verpflichtenden „Screening“-Prozess für MigrantInnen nach ihrer Ankunft an – mit polizeilicher Registrierung und einer ersten Entscheidung über die Aussichten eines Asylanspruchs. Dies entspricht der seit Jahren verfolgten Linie Bundesinnenminister Horst Seehofers!

Widerspruch aus der rechten Ecke erfolgte aus Ungarn und Tschechien. Ihnen missfällt, dass sie in Ausnahmefällen verpflichtet werden sollen, Schutzsuchende aufzunehmen. Sie wollen Verhandlungen mit nordafrikanischen Ländern über die Einrichtungen von Hotspots wie Moria auf Lesbos, wo die Geflüchteten dann zusammengepfercht und registriert werden sollen. Die Idee ist nicht neu, nur gibt es bislang keine entsprechenden Abkommen.

Unser Fazit: Der neue Vorschlag ist nichts weiter als ein Herumdoktern an einem inhumanen System und eine Fortschreibung der Abschottung, des Ausbaus der „Festung Europa“. Am katastrophalen Lagersystem z. B. an den griechischen Außengrenzen, wo Mindeststandards bei der Unterbringung und beim Schutz der dortigen Menschen missachtet werden, will die Kommission nichts ändern. Im Gegenteil: sie sollen am besten erst gar nicht bis an die Grenzen der EU gelangen dürfen und gleich in Libyen, der Türkei, Marokko, Niger, Mali oder sonst wo bleiben.

5 Jahre Veränderungen

Aber nicht nur mit der Türkei, sondern auch mit der sogenannten libyschen Küstenwache hat die EU Mittel und Wege gefunden, um Asylsuchende vor Europas Grenzen zu stoppen. Letztere wurde von EuropäerInnen ausgebildet und mit technischen Mitteln unterstützt. Amnesty International kann ein Lied von deren Menschenrechtsverletzungen singen an Bootsflüchtlingen, die von der „Küstenwache“ aufgegriffen und zurück nach Libyen gebracht wurden. Staatliche wie nichtstaatliche TäterInnen pferchen sie in menschenunwürdigen Lagern ein, töten sie, lassen sie verschwinden oder zwingen sie zu SklavInnenarbeit.

Vor 5 Jahren rief Merkel im Obama-Stil angesichts der Flüchtlingswelle aus: „Wir schaffen das!“ Doch was hat sich seither getan? In welche Richtung ist der Zug der Migrationspolitik gefahren? Die ursprüngliche Seenotrettung der EU im Mittelmeer ist eingestellt (Mare Nostrum, Sophia). Die zivile Seenotrettung wird behindert und kriminalisiert (Italien, Malta). Das Bundesverkehrsministerium fordert von Rettungsorganisationen aufwendige und unbezahlbare Anpassungen. Eine neue Bundesverordnung für Seesportboote und Schiffssicherheit, ermächtigt durch das Seeaufgabengesetz, untersagt z. B. der NGO Mare Liberum mit ihrem gleichnamigen Boot die Seenotrettung. Die griechische Küstenwache schiebt Geflüchtete illegal in die Türkei zurück oder setzt sie auf aufblasbaren Plattformen im offenen Meer aus. Ein Schutzstatus für verfolgte Lesben und Schwule bleibt in der BRD weiterhin Ermessenssache. Griechenland nahm im März einen Monat lang keine Asylanträge mehr an und involvierte erstmals das Militär umfassend in die Flüchtlingsabwehr.

Die Innenministerkonferenz im Juni 2019 verschärfte die Rückführungsbestimmungen nach Afghanistan. In Bezug auf Syrien wurde zwar der Abschiebestopp bis zum 31. Dezember 2019 verlängert, doch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) soll danach nicht mehr subsidiären Schutz gewähren, sondern den schwächeren Abschiebeschutz. Die im gleichen Monat von der Großen Koalition beschlossenen 8 Gesetzesänderungen, darunter das Fachkräfteeinwanderungsgesetz und das „Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“ („Geordnete-Rückkehr-Gesetz“), verschärften u. a. die Bestimmungen zur Abschiebehaft. Fluchtgefahr ist keine Vorbedingung mehr. Die Polizei hat jetzt bundesweit das Recht, Unterkünfte Geflüchteter ohne Durchsuchungsbefehl zu betreten. Bei „Gefahr im Verzuge“ kann auch die Ausländerbehörde das Eindringen der Polizei genehmigen.

Am 23. Juli 2020 tagten in Wien VertreterInnen von 20 beteiligten Staaten zwecks Errichtung eines Frühwarnsystems auf der sogenannten Balkanroute. Grenzschutz, Rückführung von Menschen ohne Bleiberecht und beschleunigte Asylverfahren wurden als Ziele genannt. Werden diese an den Außengrenzen nicht aufgehalten, soll sich zukünftig eine Wiener Behörde um das Schicksal derer in diesem Sinne kümmern, die es in die Binnenländer der EU geschafft haben. Dieses Amt bildet offensichtlich die Blaupause für den/die RückführungskoordinatorIn im Plan von der Leyens. Kroatien spielt den gewünschten Part beim Schutz u. a. Deutschlands vor ungewollter Migration an der bosnischen Grenze: zu Tausenden wurden dort Aufgegriffene stundenlang eingesperrt, geschlagen und um ihre Habseligkeiten gebracht, bevor sie zurückgeschickt werden. Diese Push-Backs sind nach internationalem Recht gar nicht erlaubt.

Dissonanzen

Während der jüngsten Brandkatastrophe im Lager Moria entzündete sich in der EU eine Debatte, ob und wenn ja, wie viele Refugees in den einzelnen Ländern aufgenommen werden sollten. Die BRD und Frankreich hatten schon vorher Versuche unternommen, eine „Koalition der Willigen“ zustande zu bringen. Bei einem EU-Ministertreffen in Helsinki Mitte Juli 2020 hatten sie 14 Staaten um ihren Vorschlag herum gruppiert – davon 8 zu „aktiver Mitarbeit“ bereite –, eine gemeinsame Verteilung für in Seenot Gerettete durchzusetzen. Italien wehrte sich gegen das Ansinnen, dass Boote mit geretteten MigrantInnen in seinen oder maltesischen Häfen anlegen können sollten, die dann zur Umverteilung in andere Länder anstünden. Italien bemängelte, dass ihr Ausstieg z. B. in französischen Häfen nicht vorgesehen war.

Schon im März hatte der „willige Koalitionspartner“ Deutschland versprochen, 1.500 Flüchtlingskinder von den griechischen Inseln aufzunehmen. Es handelte sich dabei um Kinder von Angehörigen, die sich schon in der BRD aufhielten. Das vom Bundestag beschlossene Kontingent zur Familienzusammenführung von 1.000 Menschen pro Monat war noch gar nicht ausgeschöpft worden. Nach der Brandkatastrophe wiesen NGOs wie Seebrücke, Sea-Watch u. a. darauf hin, dass etliche deutsche Städte und Bundesländer sich längst zur Aufnahme Geflüchteter bereiterklärt hatten. Doch Seehofer blockierte, stand anfänglich nur 150 Aufzunehmende zu, bis es dann nicht zuletzt auf Druck durch zahlreiche Demonstrationen doch 1.500 werden sollten. Die griechische Regierung teilte dazu mit, dass eine Chance auf Ausreise nur jene erhielten, deren Asylverfahren positiv beschieden wurde – so auch die 408 Flüchtlingsfamilien, die nun von der BRD aufgenommen werden sollen.

Der Bundesinnenminister hatte noch im September die Landesaufnahmeprogramme von Berlin und Thüringen gestoppt, weil sie die Verteilungsverhandlungen in der EU gefährdeten. Wer wie die Grünen, die Linkspartei und einige SPD-PolitikerInnen fordere, auf die Bereitschaft vieler Kommunen zur Aufnahme weiterer Flüchtlinge zu setzen, müsse auch nach Italien, Malta, Spanien und auf den Balkan schauen, wo es viele Asylsuchende gebe.

Abseits von humanitärem Geschwafel verfolgt die deutsche EU-Ratspräsidentschaft (ab 1. Juli 2020) die bekannte Linie. Am 7. Juli beriet das Innen- und Justizministertreffen über Verzahnung und Datenaustausch zwischen nationalen Polizeibehörden und die Stärkung von Europol. Die „VerweigerInnen“, die sich einem im letzten September auf Malta ausgehandelten Verteilungsmechanismus für aus Seenot gerettete Flüchtende entziehen, wurden sanft ermahnt. Das Anfang 2020 in Kraft getretene griechische Asylrecht, das auf Abschreckung und Abschiebung setzt, den Zugang zum Asylverfahren erschwert und Antrags- wie Entscheidungsfristen verkürzt, wurde nicht kritisiert.

Trotz aller Dissonanzen halten „Willige“ wie „VerweigerInnen“ am gemeinsamen Ziel fest, das europäische Asylsystem tiefgreifend zu verschärfen. Das humanitäre Gehabe einiger „Williger“ dient nur dessen Flexibilität und Stabilisierung. Die Blockade der HardlinerInnen ist ein willkommener Vorwand, die menschenfreundliche Fassade der „Gutmenschen“ aufzupolieren und gleichzeitig die Zugeständnisse minimal zu halten.

Forderungen

  • Weg mit dem Dublin-System!
  • Weg mit Frontex!
  • Ungehinderte staatliche und zivile Seenotrettung!
  • Freie Einreise für Geflüchtete in jedes Land ihrer Wahl!
  • Für offene Grenzen! Für volle demokratische und staatsbürgerliche Rechte aller, die im Land leben wollen!
  • Verknüpft den Kampf gegen die Festung Europa mit dem gegen die Krise!
  • Schafft eine antirassistische ArbeiterInneneinheitsfront und antirassistische Selbstverteidigung gegen rechte Angriffe!



Staatlicher Rassismus hat Moria niedergebrannt

Robert Teller, Infomail 1117, 11. September 2020

Das Camp Moria ist abgebrannt. Die Brandherde breiteten sich in der Nacht auf den 9. September laut Berichten an verschiedenen Stellen des Camps aus. Dass es angesichts der miserablen Unterbringung keine Todesfälle gab, scheint wie ein Wunder. Die meisten der 12.700 BewohnerInnen lebten hinter Stacheldraht auf engem Raum in dem Lager, das nur für weniger als ein Viertel der Personen ausgelegt ist. Wer oder was auch immer das Feuer am 9. September ausgelöst hat: wir wissen, dass es dort schon seit Jahren brennt, und schuldig daran ist die Abschottungspolitik der europäischen Regierungen. Sie haben erst dafür gesorgt, dass es Lager gibt für Menschen, deren einziger „Fehler“ darin besteht, dass sie in Europa ankommen und leben wollen. Die Zustände in den „Hotspot“-Lagern auf den griechischen Inseln, wo Menschen seit Jahren unter hoffnungslosen und unwürdigen Bedingungen leben müssen, zeigen deutlich, was „Grenzsicherung“ in der Praxis bedeutet.

Hilfsorganisationen, die in der Nacht zum Camp gelangen wollten, wurden daran von der Polizei gehindert, die ihrerseits nichts dafür tat, die Lage zu entschärfen: Tausende BewohnerInnen flüchteten aus dem Camp, wurden aber bald von staatlichen Sicherheitskräften und teils auch von AnwohnerInnen aufgehalten. Am Mittwochabend brachen erneut Brände aus. Die Polizei setzte nun Tränengas gegen die Flüchtenden auf der Straße in Richtung der Stadt Mytilini ein. Die BewohnerInnen des Camps schlafen am Straßenrand oder in den Olivenhainen. Über die Insel wurde ein 4-monatiger Ausnahmezustand verhängt. Zunächst wurde angekündigt, dass in den unversehrt gebliebenen Teilen des Lagers weiterhin Menschen untergebracht werden könnten. Nun soll nach dem Willen der griechischen Regierung ein neues Camp auf der Insel für die obdachlos gewordenen BewohnerInnen errichtet werden.

Situation in Moria

Niemanden, der von den menschenunwürdigen Zuständen weiß, kann die Katastrophe überraschen. Moria ist heute ein Gefangenenlager, das in dieser Form auf den EU-Türkei-Deal von 2016 zurückgeht. Es wurde ursprünglich für 2.800 Menschen gebaut. Im regulären Camp lebten zuletzt 12.800. Wenn man den „Dschungel“ außerhalb des Zauns einschließt, sind es geschätzt 20.000.

Das Camp stand bereits seit März faktisch unter Quarantäne und konnte nur mit Genehmigung verlassen werden. Abgesehen von dieser schikanösen Maßnahme gab es keinen Infektionsschutz, keine angemessene medizinische Versorgung und keine Labortests, dafür regelmäßiges Gedränge beim Warten auf Essen, Toiletten oder Duschen. Anfang September wurden im Lager die ersten 35 Covid-19-Fälle entdeckt. Anstatt sofort zu evakuieren, um die weitere Ausbreitung zu stoppen, wurde das Lager vollständig abgeriegelt. Nicht einmal Personen aus Risikogruppen wurde eine sichere Unterbringung außerhalb des Geländes gewährt. Stattdessen wird die Pandemie als Rechtfertigung für weitere Angriffe auf Geflüchtete benutzt, wie die rechtswidrige Aussetzung der Annahme von Asylanträgen durch die griechische Regierung im März.

Grundlage für das Lagersystem auf den griechischen Inseln ist der EU-Türkei-Deal von 2016, wo vereinbart wurde, dass Flüchtlinge, die sich auf den Inseln aufhalten und deren Asylantrag abgelehnt wurde, in die Türkei abgeschoben werden können. Hierfür wurden die „Hotspot“-Zentren eingerichtet. Hier gilt für die InsassInnen Residenzpflicht bis zu einer Entscheidung, ob sie Anrecht auf ein Asylverfahren haben. Rechtsstaatliche Prozeduren wurden mit der Einführung von Schnellverfahren untergraben. 2019 wurden sie auf die Hälfte aller Neuankömmlinge angewandt. Dennoch wurden die Hotspots nicht wie ursprünglich beabsichtigt zu Abschiebedrehscheiben, sondern faktisch zu Gefangenenlagern, in denen Tausende unter provisorischen Bedingungen teils Jahre ausharren müssen. Sie bilden damit den zweiten Grenzwall der Europäischen Union. Moria ist die zynische Botschaft an alle Geflüchteten, dass sie an der EU-Außengrenze ihre Hoffnung auf Schutz und Sicherheit begraben müssen. Ein neues Asylrecht, das seit Anfang 2020 in Griechenland in Kraft ist, hat die Situation nochmals verschärft. Das Instrument der Administrativhaft wurde ausgeweitet, Schnellverfahren wurden zum Regelfall und die Auskunfts- und Einspruchsrechte der Betroffenen im Asylverfahren weiter beschnitten.

All das ist gemeint, wenn gesagt wird, dass den Geflüchteten keine „falschen Anreize“ gesetzt werden sollen. Es bedeutet, dass die Grenzen, die Lager und das Asylverfahren noch abschreckender sein müssen als die Umstände, unter denen Menschen flüchten. Damit das so bleibt, darf es „keine nationalen Alleingänge“ bei der Aufnahme von Flüchtlingen geben. Abgesehen von der Diskussion über symbolische Maßnahmen wie der Verteilung von einigen hundert Minderjährigen sind sich die Regierungen und die EU-Kommission daher auch einig, dass niemand irgendetwas tun darf, um die unmenschlichen Zustände an den Außengrenzen zu entschärfen. Wortführer der Koalition der Unwilligen ist Bundesinnenminister Horst Seehofer. Für einige hunderte Menschen stellt er zwar gerne Unterbringung in Deutschland in Aussicht – freilich nur, wenn die EU und ihre Mitgliedsstaaten gemeinsam mitziehen. Und auf die rassistischen HardlinerInnen in Ungarn, Polen oder in Österreich kann sich Horst Seehofer verlassen und auch noch eine humanitäre Miene zum bösen Spiel machen. Faktisch blockieren er und die Bundesregierung damit sogar jene Soforthilfe und damit die Aufnahme einiger hundert Flüchtlinge, die eine Reihe von Städten in Aussicht gestellt hat.

Während Seehofer den verhinderten Möchtegernhelfer spielt, geben Rechtskonservative wie der österreichische Kanzler Kurz und RechtspopulistInnen die rassistischen EinpeitscherInnen. Sie hetzen gegen angeblich „kriminelle“ BrandstifterInnen, die mit der Aufnahme von Geflüchteten ins Land kämen, schüren Hass gegen MigrantInnen und Geflüchtete.

Dabei wird in der aktuellen Diskussion die Situation auf den Fluchtrouten nach Europa, die ebenfalls eine einkalkulierte Katastrophe für die Betroffenen darstellt, noch nicht einmal erwähnt. In der Türkei werden Flüchtlinge, die von Griechenland illegal und ohne Verfahren über den Grenzfluss Evros abgeschoben wurden, in Gefängnissen inhaftiert. Im Mittelmeer haben die Regierungen mit der Kriminalisierung der Hilfsorganisationen und der Festsetzung ihrer Schiffe dafür gesorgt, dass die zivile Seenotrettung mittlerweile fast unmöglich und die Überfahrt gefährlicher als je zuvor geworden ist. In Libyen vegetieren Tausende, die von der Küstenwache aufgegriffen wurden, in Internierungslagern. Um dabei „behilflich“ zu sein, gibt es die EUNAVFORMED-Unterstützungs- und Ausbildungsmission „Operation Sophia“ (EUNAVFORMED: europäische Marinestreitmacht Mittelmeer).

Schließt die Lager!

Wir dürfen nicht die Behörden, die für das europäische Grenzregime zuständig sind, darüber entscheiden lassen, wer Anrecht auf Asyl hat und wer nicht. Wird dürfen nicht zulassen, dass neue, etwas „humanere“ Lager gebaut werden, die der Festung Europa einen notdürftigen moralischen Anstrich geben. Stattdessen müssen wir das rassistische System bekämpfen, das MigrantInnen nach Nationalität und Fluchtgründen selektiert, um ihnen schließlich das Bleiberecht abzusprechen.

  • Es kann keine andere Lösung geben als die sofortige Schließung der Lager. Nicht nur Minderjährige und „Gefährdete“ – alle Geflüchteten müssen sofort die Inseln verlassen dürfen und in Wohnungen an einem Ort ihrer Wahl untergebracht werden!
  • Für kostenlose medizinische Versorgung und jederzeit freiwillige Labortests, gegen rassistische Schikanen wie anlasslose und kontraproduktive Quarantäne!
  • Zugang zu Bildung, Ausbildungs- und Arbeitsplätzen zu gleichen Bedingungen wie Einheimische!
  • Die europäischen Binnen- und Außengrenzen müssen bedingungslos für alle Geflüchteten geöffnet werden. Keine „Verteilung“ der Menschen, sondern Bewegungsfreiheit und StaatsbürgerInnenrechte für alle, Abschaffung der Dublin-Regeln!
  • Im Angesicht der Katastrophe in Moria gibt es in diesen Tagen bundesweit Aktionen von Seebrücke und anderen Gruppen. Beteiligt euch an den Kundgebungen!
  • Die Gewerkschaften, alle Organisationen der Linken und der ArbeiterInnenbewegung müssen in Deutschland und europaweit den Kampf um das Bleiberecht für alle, für gleiche Arbeitsbedingungen und soziale und politische Rechte für Geflüchtete in allen europäischen Ländern unterstützen!



Hubertus Heil, die Schlachthöfe, die großen und die kleinen Schweine

Mattis Molde, Infomail 1104, 23. Mai 2020

Hubertus Heil hatte harte Begriffe gewählt: Unhaltbar nannte er die Zustände in deutschen Schlachthöfen, Ausbeutung sei das, Gefährdung nicht nur der Arbeitenden, sondern der gesamten Gesellschaft. Er erklärte, dass bevor so viele Sub-Sub-SubunternehmerInnen profitieren sollten, es besser wäre, die ArbeiterInnen anständig zu bezahlen, und er griff die SchlachthofbetreiberInnen an, die Verantwortung systematisch abzuschieben. Er kündigte an, verschärft zu kontrollieren, und ein Ende der Werkverträge im „Kerngeschäft“, also beim Schlachten und Zerlegen.

Solche Sätze waren seitens der SozialdemokratInnen selten geworden zum Thema Arbeitsbedingungen der ArbeiterInnenklasse, insbesondere der unteren Schichten derselben. Seit die SPD mit der Agenda 2010 die Leiharbeit zu einer derart dominierenden Beschäftigungsform entwickelt hatte, in deren Gefolge ein Niedriglohnsektor von 30 bis 40 % der Beschäftigten entstanden war und ganz widerliche Kombinationen dieser Leiharbeit mit Werkverträgen und Scheinselbstständigkeit entwickelt worden waren, haben sich Sozis gerne weggeduckt, wenn es um dieses Thema ging.

Die Zustände

Die massiven Infektionsausbrüche machen es offensichtlich für SozialdemokratInnen wie für die Medien unmöglich, die Augen weiter vor den Zuständen in der Fleischindustrie zu verschließen. Die Zahlen gehen überall in die Hunderte und Mitte Mai lagen die Spitzenwerte bei über 400 pro Betrieb. Das liegt einmal an den Arbeitsbedingungen. Die Leute arbeiten oft dicht an dicht an den Zerlegebändern. Zweitens an den Wohnverhältnissen, die viel damit zu tun haben, dass die ArbeiterInnen in Leiharbeit oder als Scheinselbstständige beschäftigt werden, für 3 bis 6 Monate aus dem Ausland kommen und von den Leiharbeitsfirmen Unterkünfte zugewiesen bekommen, wo mehrere Menschen pro Zimmer in Wohnungen oder Baracken hausen.

Diese Leiharbeitsfirmen haben ihrerseits Werkverträge mit den Fleischunternehmen. Sie sind also juristisch sowohl für die Bezahlung, die Arbeitszeiten und die Arbeitssicherheit zuständig. Die Beschäftigten sind fast völlig machtlos: Sie werden in ihrer Heimat angeheuert, kennen oftmals die Verträge nicht oder können sie nicht verstehen. Sie kennen auch ihre Rechte nicht und wissen nicht, an wen sie sich wenden könnten. Sie müssen die angebotenen, völlig überteuerten Schlafplätze annehmen, die ihr Unternehmen ihnen aufzwingt, und die Miete an die VermieterInnen abdrücken, die sie sich nie ausgesucht haben.

Eine Arbeiterin aus Siebenbürgen/Rumänien beschreibt die Lage bei Müllerfleisch so: „Die Konditionen sind ganz schlecht“, kommentiert die Frau. Es gebe höchstens 1.450 Euro netto für rund 260 Stunden im Monat, vor allem Nachtschicht. Davon würden monatlich 24 Euro für die Reinigung der Arbeitskleidung abgezogen. Weitere 50 Euro für den Transport nach Birkenfeld und 250 Euro pro Bett in kleinsten, mehrfach belegten Zimmern. Auf den zehn Quadratmetern, für die ein Paar zusammen 500 Euro bezahle, stehe noch ein Kühlschrank. Wer einzeln, ohne Partner oder Verwandte angestellt sei, teile sich ein solches Zimmer zu dritt oder viert. Dusche und Küche gebe es stockweise.“ (Badische neueste Nachr., 5.5.20)

Die Schuldigen

Der Vorwurf Heils, dass die SchlachthofkapitalistInnen Verantwortung abschieben, ist völlig korrekt. Sie betreiben das weiter. In einer Presseerklärung vom 13.05.2020 schreibt der Verband der Fleischwirtschaft: „Einzelne Politiker und Gewerkschafter bringen aktuell faktenfreie Vorwürfe in Umlauf, die sich pauschal gegen die gesamte Fleischwirtschaft richten.“

Am 18.5. heißt es: „140 der uns bekannten Testergebnisse waren Covid-19 positiv, d. h. 1 %. Dabei gab es in zwei von 27 untersuchten Betrieben mit jeweils 33 und 92 positiven Fällen ein gehäuftes Auftreten“

Zynisch behaupten sie: „In den Selbstverpflichtungen der Fleischwirtschaft von 2014 und 2015 ist ein gutes Rahmenwerk für die Beschäftigung mit Werkverträgen geschaffen worden, das vor allem Wohn- und Sozialstandards absichert.“

Das war eine Woche, nachdem das RKI von Massenausbrüchen in Baden-Württemberg, Bayern Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein berichtet hatte und einige Betriebe geschlossen worden waren.

Zwei Tage später hatte der Verband erkannt, dass es nicht mehr hilft, zu lügen und die Realität zu Fake-News zu erklären, und schlug ein 5-Punkte-Papier vor, das vor allem eines fordert: die Werkverträge nicht abzuschaffen!

Ihre Vorschläge beziehen sich vor allem auf die Wohnverhältnisse und sie bieten an, dass ausländische Beschäftigte auf jeden Fall eine deutsche Krankenversicherung haben sollen. Das wirft einerseits ein Licht darauf, dass es Konstrukte gibt mit Scheinselbstständigkeit und Werkverträgen, die Beschäftigte hier schutzlos bei Krankheiten lassen. Getrieben wird dieser Vorschlag vermutlich davon, dass diese Herrschaften fürchten, selbst für die Kosten für Tests, Quarantäne und Krankenbetreuung aufkommen zu müssen. Bezeichnend an diesen Vorschlägen ist jedenfalls, dass sie Maßnahmen vorschlagen, die möglicherweise den Beschäftigten Mehrkosten für die Krankenversicherung aufhalsen und auf jeden Fall zulasten der Subunternehmen und der VermieterInnen gehen.

Marx schrieb einst: „Ist die Ausbeutung des Arbeiters durch den Fabrikanten so weit beendigt, daß er seinen Arbeitslohn bar ausgezahlt erhält, so fallen die anderen Teile der Bourgeoisie über ihn her, der Hausbesitzer, der Krämer, der Pfandleiher usw.“ Der Verband der Fleischindustrie verteidigt die Interessen seiner Mitglieder nicht nur gegen die ArbeiterInnen, sondern auch sehr heftig gegen die „anderen Teile der Bourgeoisie“.

Die Gewerkschaft und die Linkspartei

Zuständig für diesen Bereich ist die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) und diese Gewerkschaft ist in fast allen Bereichen mit Niedriglohn, hoher Fluktuation, Arbeitszeitbetrug und schwierigen Bedingungen für gewerkschaftliche Organisierung konfrontiert. Sie kennt die Probleme  und bräuchte dringend Unterstützung durch andere Gewerkschaften – sowohl finanziell wie auch bei Kampagnen, selbst wenn es nur auf dem Niveau wäre, wie zum Beispiel das Thema Pflege gewerkschaftsübergreifend behandelt wird.

Die plötzliche und viel zu späte Aufmerksamkeit der Medien und Politik nutzt die NGG-Führung aber nicht wirklich aus. Sie erklärt „Wir begrüßen, dass das Bundeskabinett heute schärfere Regeln für die Fleischindustrie beschlossen hat und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil wie angekündigt ‚in der Branche aufräumen‘ will.

Der Beschluss ist ein sehr guter Anfang, damit der Missbrauch von Werkverträgen in der Fleischindustrie und die Ausbeutung der in Sub-, Sub-Subunternehmen ausgebeuteten Werkvertragsbeschäftigten beendet werden kann. Laut Kabinettsbeschluss soll das Schlachten und Zerlegen ab 2021 nur noch mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern des eigenen Unternehmens zulässig sein. Dieses angekündigte Verbot kommt der Beseitigung eines Krebsgeschwürs gleich.

Richtig und wichtig ist es, dass schärfer kontrolliert wird und die Kontrollen sich auch auf die Wohnungen und Unterkünfte erstrecken. Dringend notwendig ist es, die Kontrollkapazitäten in den Bundesländern, die teilweise kaputtgespart worden sind, wieder aufzustocken.

Mit einer digitalen Zeiterfassung kann auch endlich dem Betrug bei den Arbeitszeiten ein Ende gesetzt werden. Jetzt gilt es, diesen Beschluss im Gesetzgebungsverfahren Eins zu Eins umzusetzen. Wir warnen die CDU/CSU-Fraktion davor, diesen Kabinettsbeschluss im Bundestag zu schleifen oder zu verwässern.“

Der NGG-Sekretär von Nordbaden, Capece, geht da weiter. Er fordert: „Als erstes muss mit dem Ausbeutungssystem Leiharbeit gebrochen werden, das keinen anderen Zweck hat, als auf dem Arbeitsmarkt die Löhne zu drücken“.

Das ist mehr, als DIE LINKE fordert. Nach den Worten von Bartsch will diese „einen Mindestlohn von 12 Euro, lückenlose Kontrollen und spürbare Strafen bei Verstößen“. (Osnabrücker Ztg)

Der Parteivorsitzende Riexinger beschränkt sich darauf, „auch häufigere und schärfere Kontrollen“ zu fordern, sowie dass die Werksverträge von flächendeckenden Tarifverträgen abgelöst werden müssen und die Kosten, die den Beschäftigten für ihre Unterkunft abverlangt werden, orientiert an ortsüblichen Vergleichsmieten, gedeckelt werden.“

Tierschützer und Grüne

Die Forderungen von NGG, SPD und DIE LINKE gehen in die richtige Richtung, auch wenn sie unzureichend sind. Sie alle sehen, dass das Kapital das Problem ist, aber sie wollen es nur einschränken. Es ist offensichtlich, dass mehr nötig ist.

Die grüne Methodik andererseits, die auch weit in Umweltbewegungen verbreitet ist, macht die VerbraucherInnen zu den Schuldigen. In der Schlachthof-Debatte zeigt diese Logik ihre ganze Hilflosigkeit. Die Grünen behaupten, dass KundInnen schuld sind, weil sie billiges Fleisch wollten. Dass das der Kundenwunsch sei, behaupten auch die Einzelhandelskonzerne, die Verbände der Agrar- und der Fleischindustrie. Die Grünen sagen, die Preise für Fleisch müssen steigen. Wie schön für die Einzelhandelskonzerne, die Verbände der Agrar- und der Fleischindustrie. Als Kampfmaßnahme gegen die Zustände in der Fleischindustrie kaufen wir alle ein Biorindersteak für 10 Euro das Stück, vor allem die Leute, die Mindestlohn verdienen und dann noch um diesen betrogen werden.

Die Krise zeigt hier auf, dass diese Argumentation aus klein- und linksbürgerlichen Kreisen zur Beruhigung für das eigenen Gewissen taugen mag, für politische Zwecke ist sie wertlos.

Strategie für Veränderung

Die Krise um Corona, des Klimas und des kapitalistischen Systems geben den Blick auf die Tiefe der Probleme frei. Sie zeigen, dass radikale Veränderungen nötig sind. Die Kombination von Leiharbeit und Werkverträgen gibt es auch in anderen Branchen, z. B. bei Paketdiensten, in Bauindustrie, Gastronomie, Landwirtschaft, und sie führt überall zu Überausbeutung und Rechtlosigkeit. Die Beschäftigung von MigrantInnen ist überall mit Diskriminierung und Rassismus verbunden.

SozialistInnen sollten nicht nur die richtigen Forderungen von Gewerkschaft, SPD und LINKEN unterstützen, die zu einer Verbesserung der Lage führen können, sondern sie müssen aufzeigen, dass die spektakulären Corona-Hotspots in der Fleischindustrie ihre Basis im Kapitalismus haben. Und sie schlagen Forderungen vor, die helfen, den Widerstand der FleischfabrikantInnen und ihrer Verbündeten in CDU/CSU zu brechen.

Enteignung

Heil greift an, dass auch noch Sub-Sub-SubunternehmerInnen Profite auf Kosten der Arbeitenden machen. Er stellt die großen Bosse nicht in Frage. Aber die großen Schweine sind das Problem, nicht nur die kleinen. Ihre Profite diktieren ihr Handeln. Da kommen die Rechte der Beschäftigten genauso unter das Messer wie das Wohl der Tiere. Jede wirkliche Umstellung auf artgerechtere Aufzucht und Schlachtung von Tieren findet da ihre Grenzen. Im übrigen waren Schlachthöfe aus gutem Grund in Deutschland früher kommunal organisiert. Es gab tarifliche Arbeitsplätze und Gesundheitskontrollen. Der Spiegel verkündete am 27.10.1975 unter dem Titel „Letztes Gefecht – Westdeutschlands Kommunal-Schlachthöfe kosten den Steuerzahler immer mehr Geld. Eine bundesweite Privatisierungswelle verspricht Abhilfe“ das Ende für damals noch 400 kommunale Schlachthöfe in Westdeutschland. Im Osten wurden sie nach 1991 abgewickelt. Die Enteignung darf die Leitung von Betrieben nicht wieder städtischer oder staatlicher Bürokratie übergeben und auch nicht die Gesundheits- und Arbeitsschutzüberwachung: Die Beschäftigten müssen sowohl die Kontrolle über ihre Auslastung haben: z. B. nicht wie heute möglichst viele Tiere möglichst schnell zu töten, sondern nur entsprechend dem wirklichen Bedarf. Sie müssen und sollen über Zeit für Gesundheit und Arbeitssicherheit verfügen. ExpertInnen für Tier- und Arbeitsschutz aus Verbänden und Gewerkschaften sollen die Beschäftigten in dieser Kontrollaufgabe unterstützen.

Das erfordert auch Änderungen in der Landwirtschaft, weg von „billig, schlecht und zu viel“. Tiertransporte dürfen nur bis zum nächsten Schlachthof erlaubt sein. Die Ausschaltung des Profitstrebens in der Nahrungsmittelproduktion und Verteilung ist somit ein Schlüssel zu mehr Nachhaltigkeit und Klimarettung.

Sofortmaßnahmen

  • Das Verbot der Werkverträge in der Fleischindustrie muss sofort gelten. JedeR Beschäftigte muss sofort einen unbefristeten Arbeitsvertrag erhalten mit tariflicher Bezahlung und Kündigungsschutz. Leiharbeit muss generell verboten werden.
  • Ausländische Beschäftigte erhalten, wenn nötig, ein unbefristetes Visum und das Recht auf Familienzusammenführung. Alle Verträge müssen in den Heimatsprachen verfasst und DolmetscherInnen durch die Firmen gestellt werden.
  • Sofortige Unterbringung in angemessenen Wohnungen, Hotels und Pensionen; die Bezahlung muss von der Firma übernommen werden, bis die Beschäftigten eigene Wohnungen gefunden haben.
  • Anhebung des gesetzlichen Mindestlohnes auf 12 Euro netto/Stunde (rund 1600,-/Monat)!
  • Recht auf gewerkschaftliche Organisierung und Neuwahl der Betriebsräte in Fleischfabriken innerhalb von 3 Monaten, damit die Massen der (Ex-)LeiharbeiterInnen entsprechend vertreten sind! Unterstützung der NGG durch die anderen DGB-Gewerkschaften bei der Organisierung der Lebensmittelindustrie!

Wie kämpfen?

Die SchlachthofbetreiberInnen drohen schon mit Betriebsverlagerung. Sie weisen uns darauf hin, dass diese Forderungen europaweit aufgestellt und durchgesetzt werden müssen. Zu Recht: Die Zustände sind fast überall dramatisch schlecht.

Die Vermengung der Wirtschaftskrise mit Corona und Gesundheit, mit Umwelt und Klima gilt für alle Bereiche. Millionen merken das schon und noch viele mehr wird es treffen. Wir brauchen eine Bewegung gegen Abwälzung der Krise auf die arbeitende Bevölkerung: Aufbau von Antikrisen-Bündnissen zur Koordinierung und Unterstützung von politischen Streiks, Besetzungen, zur Vorbereitung und Organisierung von Massendemonstrationen.




Wilder Streik in Bornheim – Solidarität und Perspektive

Korrespondent Bonn, Infomail 1104, 22. Mai 2020

Genug ist genug. Den SpargelstecherInnen aus Bornheim reicht es, nachdem sie bis heute auf den größten Teil ihrer Löhne vom April warten und mit 50 bis 300 Euro abgespeist worden sind. Seit dem 18. Mai haben sie die Arbeit niedergelegt und sind in einen wilden Streik getreten. Mit Demonstrationen, Kundgebungen vor dem Sitz des Insolvenzverwalters haben sie gezeigt, dass Kampf, dass Widerstand selbst für gewerkschaftlich kaum organisierte ArbeitsmigrantInnen aus Rumänien und Bulgarien möglich sind, dass Solidarität kein leeres Wort ist.

Die Mobilisierung zwang das Unternehmen, das rumänische Arbeitsministerium sowie die BundesministerInnen Heil und Klöckner dazu, auf das Unternehmen, den Spargel- und Erdbeerhof Ritter in Bornheim, Druck auszuüben und den Beschäftigten einige Zugeständnisse zu machen. So wurden am Mittwoch, den 20. Mai, Löhne ausgezahlt und etliche ArbeiterInnen wurden in andere Betriebe nach Belgien und in Rheinland-Pfalz vermittelt. Viele der Beschäftigten nahmen das Angebot an, obwohl (oder weil?) die Gewerkschaft FAU nicht bei der Auszahlung dabei sein durfte, diese von Sicherheitsleuten überwacht wurde. Rund 30 Beschäftigte warten noch immer auf ihren Lohn. Effektiv wurde damit die Kampffront massiv geschwächt. Für die wenigen verbliebenen ArbeiterInnen wird es sehr schwer, ihre Interessen durchzusetzen.

Vorgeschichte

Mit Beginn der Coronakrise und dem Verhängen von Einreiseverboten war die Panik unter den deutschen LandwirtInnen und Agrarunternehmen groß. Wer würde im Frühjahr Spargel und Erdbeeren von den Feldern holen, wenn die dazu normalerweise angestellten ArbeiterInnen aus Osteuropa nicht über die Grenze dürfen?

Das Geschäft mit dem Spargel ist sehr lukrativ, allerdings auch deutlich arbeitsintensiver als die Ernte anderer Feldfrüchte. Es werden viele ArbeiterInnen benötigt, die den Spargel aus der Erde holen können. Diese Arbeit ist körperlich anstrengend und alles andere als leicht.

Auch der Spargel- und Erdbeerhof Ritter in Bornheim stand in den letzten Wochen vor diesem Problem und sicherlich freuten sich die ChefInnen, als im März klar wurde, dass es unter bestimmten Voraussetzungen doch möglich sei, billige Arbeitskräfte aus Rumänien und Bulgarien zu importieren. Der Hof steckt in der Krise. Das Unternehmen ist insolvent und die aktuelle Lage spitzt diese Krise noch zu. Doch wie immer sind es nicht die Bosse, die die Kosten der Krise tragen sollen, sondern die ArbeiterInnen. Zusammengepfercht in engen und mangelhaften Unterkünften verbringen die ca. 240 SpargelstecherInnen nach langen Tagen auf dem Feld dort ihre Freizeit.

Doch damit nicht genug, viele ErntehelferInnen berichten, bislang keinen bzw. zu wenig Lohn bekommen zu haben. Der Insolvenzverwalter des Hofes begründet dies damit, den Lohn gäbe es erst zum Ende des Arbeitsvertrages. Womit die Lohnabhängigen bis dahin ihre Rechnungen zahlen sollen, interessiert ihn offenkundig nicht.

Aktion

Vollkommen richtig war die Reaktion der ArbeiterInnen. Obwohl sie nicht in DGB-Gewerkschaften organisiert sind, begannen sie in den letzten Tagen einen wilden Streik, weigerten sich, auf den Feldern zu arbeiten und forderten die Auszahlung ihres Lohns.

Die Polizei wurde gerufen, um die streikenden ArbeiterInnen unter Kontrolle zu halten, und in der letzen Woche gab es Demonstrationen beim Hof und am Sitz der Insolvenzverwaltung.

Mittlerweile ist klar: Die Spargelernte soll abgebrochen werden. Was mit dem Lohn der ArbeiterInnen geschieht, die noch nicht bezahlt wurden, bleibt weiter unklar.

Dass nun Spargel nicht geerntet wird, weil den KapitalistInnen die Felle, also ihre Profite, davonschwimmen und sie die ArbeiterInnen nicht bezahlen wollen, ist nur ein weiteres Beispiel für die Absurdität der kapitalistischen Produktionsweise.

Die Teilerfolge für alle jene, die am 20. Mai Lohn erhielten, geht auf die Aktionen der Beschäftigten und die Unterstützung durch die anarchosyndikalistische Organisation FAU Bonn zurück, die auch mit dem rumänischen Konsulat und dem Insolvenzverwalter verhandelt hat bzw. die KollegInnen dabei unterstützte. Notwendig wäre freilich eine Verbreiterung der Solidarität, d. h. die Unterstützugn durch die gesamte Gewerkschaftsbewegung, insbesondere durch die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und die IG Bauen-Agrar-Umwelt (BAU) gewesen. Um das Unternehmen in die Knie zu zwingen und die Entlassung der Beschäftigten zu verhindern, wären ein unbefristeter Streik und eine Betriebsbesetzung nötig gewesen.

Der Kampf hat freilich gezeigt, dass auch unorganisierte ArbeiterInnen unter überaus prekären und entrechteten Bedingungen kämpfen und Teilerfolge erzielen können. Der Spargel- und Erdbeerhof Ritter ist jedoch kein Einzelfall, sondern sein Geschäftsmodell steht für eine ganze Branche.  Es braucht zugleich eine politische Perspektive und klare Forderungen für die gesamte Sparte, für die die Gewerkschaften mobilisieren müssten:

  • Ausbezahlung der ausstehenden Löhne! Bereitstellung sicherer Unterbringung statt der Sammelunterkünfte!
  • Offenlegung der Finanzen aller Firmen! Entschädigungslose Enteignung aller Betriebe, die mit Entlassung drohen, Löhne nicht auszahlen oder Gesundheitsvorschriften missachten! Weiterführung und Wiederaufnahme der Ernte unter Kontrolle der Beschäftigen! Kontrolle der Einhaltung der Gesundheitsvorschriften durch die Gewerkschaften!