Zur politischen Ökonomie der Reproduktionsarbeit

Aventina Holzer / Martin Suchanek, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

Die gegenwärtige Krise ist auch eine der sozialen Reproduktion. Die Angriffe auf das Gesundheitswesen, Erziehung, Bildung und Altersvorsorge und die damit verbundene Ausdehnung privater, nach wie vor allem von Frauen geleisteter privater Hausarbeit rücken auch ins Zentrum des Klassenkampfes. Beschäftige in den Krankenhäusern, Erzieher:innen und Lehrer:innen streiken, spielen eine größere, mitunter sogar eine Vorreiter:innenrolle im Klassenkampf. Millionen gehen gegen Angriffe auf die Renten auf die Straße. Die Frauen*streiks der letzten Jahre thematisieren die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Kein Wunder also, dass die Frage nach dem Verhältnis von Produktion und Reproduktion, von kapitalistischer Mehrwertproduktion und Reproduktionsarbeit auch wieder ins Zentrum theoretischer Diskussion und Theoriebildung gerückt ist. Im Folgenden wollen wir grundlegende Momente einer marxistischen Analyse darlegen.

Das Verhältnis von Produktion und Reproduktion wird vom radikalen wie auch sozialistischen Feminismus als wunder Punkt der Marx’schen Theorie angesehen. Marx und Engels hätten dazu allenfalls Ansätze geliefert, wären aber letztlich blind für die  Unterdrückung der Frauen sowie andere Unterdrückungsverhältnisse gewesen. Seit der zweiten Welle des Feminismus beschäftigen sich verschiedene Theoretiker:innen mit der Reproduktionssphäre und sie versuchen dabei, Alternativen aufzuzeigen, die Marx vernachlässigt hätte.

Feministische Kritiken

So bestimmen Mariarosa Dalla Costa und Selma James das Verhältnis der proletarischen Frau zum proletarischen Mann als Ausbeutungsverhältnis. Die unbezahlte Arbeit im Haushalt betrachten sie als produktive Arbeit, als Produktion von Mehrwert, womit sie auch ihre Forderung nach Lohn für Hausarbeit begründen.

An Rosa Luxemburgs Imperialismustheorie anknüpfend, betrachteten die Autorinnen der Bielefelder Schule (Maria Mies, Veronika Bennholdt-Thomsen und Claudia von Werlhof) Haus- und Subsistenzarbeit als fortdauerndes Äußeres der kapitalistischen Produktionsweise. Die Ausbeutung der Hausfrauen und Bäuerinnen wird für sie zur Voraussetzung für die Kapitalakkumulation selbst. Daher erscheinen nicht die Lohnarbeiter:innen, sondern die in diesen „Produktionsweisen“ Tätigen, die Opfer einer permanenten ursprünglichen Akkumulation, als das revolutionäre Subjekt. Bis heute fließt diese Vorstellung in die feministische Diskussion ein, z. B. bei Silvia Federici, die einen Teil ihrer theoretischen Grundlagen aus dieser Tradition, vor allem von Maria Mies, übernimmt.

Diese Konzeptionen blieben innerhalb der marxistisch orientierten Frauenforschung und selbst im sozialistischen Feminismus keineswegs unwidersprochen. So weisen z. B. Ursula Beer in „Geschlecht, Struktur, Geschichte“ oder Lise Vogel in „Marxismus und Frauenunterdrückung“ nach, dass viele der radikal- und sozialistisch feministischen Kritiken den Marx’schen Kategorien einen anderen Sinn unterschieben – und diesen dann kritisieren – oder überhaupt nicht erst versuchen, an der Kritik der politischen Ökonomie begrifflich anzuknüpfen.

Autor:innen wie Lise Vogel versuchen hingegen, eine „einheitliche Theorie“ der Produktion und Reproduktion zu entwickeln. Sie gehen dabei mit Marx davon aus, dass in der kapitalistischen Produktionsweise geschichtlich wie logisch die Produktion die Reproduktion bestimmen muss. Ihre Theorie scheitert dabei nicht am Bezug auf Marx, wohl aber an ihrer strukturalistischen Lesart des Marxismus und damit einhergehend an Zugeständnissen an die Vorstellung einer klassenübergreifenden Bewegung aller Frauen, der proletarischen, kleinbürgerlichen und auch bürgerlichen.

Die von Vogel mitbegründete Social Reproduction Theory (Theorie der sozialen Reproduktion) stellt heute einen wichtigen Begründungszusammenhang für den linken Flügel des Feminismus dar, wie z. B. die Autorinnen von „Feminismus der 99 %“ (Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya, Nancy Fraser). Im Vergleich zu Vogel leisten sie auf theoretischem Gebiet allerdings Rückschrittliches. Wie frühere Autor:innen werfen sie dem Marxismus vor, die Bedeutung der Reproduktion zu unterschätzen.

Ihm wird ein angeblich verkürzter Klassenbegriff unterschoben. Zugleich wird die Sphäre der Reproduktion (im Gegensatz zu Vogel) faktisch als eigene Produktionsweise begriffen, die als gleichwertig oder sogar übergeordnet zum Verhältnis Kapital – Arbeit aufgefasst wird. Wie schon bei früheren feministischen Kritiken fällt diese begrifflich oft sehr unpräzise und moralisierend aus (z. B. wenn es um die Bestimmung von notwendiger und Mehrarbeit oder produktiver und unproduktiver Arbeit geht).

In früheren Beiträgen in der Zeitschrift Fight und im Revolutionären Marxismus haben wir uns mit oben genanten Theorien beschäftigt. Im Folgenden wollen wir, an Marx anknüpfend, das Verhältnis von Produktion und Reproduktion analysieren, seine historische Entwicklung nachzeichnen und auf die aktuellen krisenhaften Tendenzen der Reproduktion eingehen.

1. Wert- und gebrauchswertseitige Vermittlung der Reproduktionsarbeit

Insbesondere in den Kapiteln über den Akkumulationsprozess im Kapital Band I verweist Marx darauf, dass in jeder Gesellschaftsformation Produktion und Reproduktion eng verzahnt sind, sie im Gesamtzusammenhang betrachtet werden müssen.

„Die Bedingungen der Produktion sind zugleich die Bedingungen der Reproduktion. Keine Gesellschaft kann fortwährend produzieren, d. h. reproduzieren, ohne fortwährend einen Teil ihrer Produkte in Produktionsmittel oder Elemente der Neuproduktion rückzuverwandeln. Unter sonst gleichbleibenden Umständen kann sie ihren Reichtum nur auf derselben Stufenleiter reproduzieren oder erhalten, indem sie die, während des Jahres z. B., verbrauchten Produktionsmittel, d. h. Arbeitsmittel, Rohmateriale und Hilfsstoffe, in natura durch ein gleiches Quantum neuer Exemplare ersetzt, welches von der jährlichen Produktenmasse abgeschieden und von neuem dem Produktionsprozeß einverleibt wird.“ (Marx, Das Kapital, Band I, MEW 23, S. 591)

Marx bestimmt hier einerseits grundlegende Bedingungen der Reproduktion, die für alle Gesellschaftsformationen gelten, nämlich dass Arbeit verrichtet werden muss, um Produktionsmittel (PM) zu erneuern und die Arbeitskraft (AK) wiederherzustellen. Wollen wir jedoch die jeweiligen Beziehungen zwischen Produktion und Reproduktion verstehen, reicht es nicht, bei dieser abstrakten, allgemeinen Vorstellung zu verbleiben, sondern es muss das Verhältnis betrachtet werden, das diese beiden Sphären in unterschiedlichen Gesellschaftsformationen annehmen. Marx betrachtet Reproduktion dabei von zwei Seiten:

a) Reproduktion des Kapitals (Kapitalkreislauf)

Alle Bedingungen der Produktion (PM und AK) müssen als Waren gekauft werden.

Im Produktionsprozess P werden sie genutzt, um neue Ware (W‘) herzustellen. Dabei übertragen die PM einen Wertanteil an das Produkt, die Arbeitskraft konsumiert die PM, indem es sie in Bewegung setzt und umformt. Sie verrichtet Arbeit und überträgt dabei nicht nur Neuwert auf das Produkt, das dem Wert der Ware AK entspricht, sondern zusätzlichen Wert – Mehrwert –, den sich der/die Kapitalist:in aneignet. Die AK produziert und reproduziert also im Akkumulationsprozesses das Kapital.

In der von Marx zuerst betrachteten einfachen Reproduktion eignet sich der/die Kapitalist:in den Mehrwert zur Gänze an und verausgabt ihn für seine/ihre eigenen Bedürfnisse, also unproduktiv, weil er nicht zur Vermehrung das Kapitals verwendet wird.

Der eigentlich typische Fall für den kapitalistischen Produktionsprozess ist natürlich, dass möglichst viel Mehrwert angeeignet wird, um als zusätzliches Kapital verwertet zu werden, die sog. erweiterte Reproduktion. Dieser Prozess kann als Kreislauf des Kapitals dargestellt werden, als dessen Produktions- und Reproduktionsprozess, weil am Ende das in Geldform G in den Prozess eingetretene Kapital diesen erneut und auf erweiterter Stufenleiter, als G’, durchlaufen kann:

G – W (PM/AK) – P – W‘ – G‘

Legende: AK: Arbeitskraft; PM: Produktionsmittel; W: Ware; W´: Neue, im Produktionsprozess geschaffene Ware; C: Kapital (konstantes + variables); M: Mehrwert; P: Produktion bzw. Produktionsprozess, G: Geld

Arbeit, die in einem solchen Prozess verwertet wird, also einen Mehrwert fürs Kapital schafft, nennt Marx produktive Arbeit (im Gegensatz zur unproduktiven). Sie ist produktiv, weil sie nicht nur bestehenden Wert ersetzt, sondern Mehrwert für ein Kapital schafft, also zu einer erweiterten Reproduktion beiträgt.

b) Doppelte Art der Konsumtion der Arbeitskraft

Marx verdeutlicht, dass das Kapital im Produktionsprozess die Arbeitskraft konsumiert. Dabei wird das Kapital beständig reproduziert als Produkt der entfremdeten, vom Kapitalist angeeigneten Arbeit. Zugleich wird so beständig auch die Arbeitskraft produziert.

„Der Arbeiter selbst produziert daher beständig den objektiven Reichtum als Kapital, ihm fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht, und der Kapitalist produziert ebenso beständig die Arbeitskraft als subjektive, von ihren eignen Vergegenständlichungs- und Verwirklichungsmitteln getrennte, abstrakte, in der bloßen Leiblichkeit des Arbeiters existierende Reichtumsquelle, kurz den Arbeiter als Lohnarbeiter.“ (MEW 23, S. 596)

Mit anderen Worten: Sobald sich die kapitalistische Produktionsweise durchgesetzt hat, müssen die Lohnarbeiter:innen ihre Arbeitskraft verkaufen, um überhaupt die Mittel für ihre Reproduktion kaufen zu können. Geschichtlich geht dem ein gewaltsamer, blutiger Prozess der ursprünglichen Akkumulation voraus, indem Verhältnisse durchgesetzt werden, die den Lohnsklav:innen jede andere Form der Sicherung ihrer Existenz verunmöglichen. Doch einmal etabliert, bringt das Kapitalverhältnis auch die spezifisch kapitalistische Form der Reproduktion der Arbeiter:innenklasse hervor, während Männer wie Frauen der herrschenden Klasse von der Ausbeutung der Arbeit anderer leben. Daher unterscheidet sich auch ihre Reproduktion grundlegend von der der lohnabhängigen Klasse. Die Reproduktionsarbeit für die herrschende Klasse muss nicht von den Frauen dieser Klasse erledigt werden, sondern wird von Frauen (oder auch Männern) aus der Arbeiter:innenklasse verrichtet.

Jedenfalls ist die Konsumtion des/der Lohnarbeiter:in doppelter Art:

1. Produktive Konsumtion

Der/die Arbeiter:in konsumiert im Produktionsprozess Produktionsmittel und produziert so Mehrwert, vermehrt das Kapital.

2. Individuelle Konsumtion

Der/die Arbeiter:in konsumiert Lebensmittel, die mit dem Arbeitslohn gekauft werden.

In der Analyse betont Marx zuerst die Verschiedenheit der beiden Prozesse. Betrachten wir nämlich die beiden Formen der Konsumtion als individuelle Verhältnisse zwischen Arbeiter:in und Kapitalist:in, so scheint es sich um sehr verschiedene, voneinander getrennte Bereiche zu handeln:

„In der ersten handelt er (der Arbeiter; Anm. der Redaktion) als bewegende Kraft des Kapitals und gehört dem Kapitalisten; in der zweiten gehört er sich selbst und verrichtet Lebensfunktionen außerhalb des Produktionsprozesses. Das Resultat der einen ist das Leben des Kapitalisten, das der andern ist das Leben des Arbeiters selbst.“ (MEW 23, S. 596 f.)

Marx geht aber weiter. Die Sache sieht sehr viel anders aus, wenn wir nicht einzelne Kapitalist:innen – Arbeiter:innen, sondern das Klassenverhältnis von Kapital und Arbeit betrachten.

Betrachten wir die individuelle Konsumtion vom Standpunkt Einzelner, so erscheint diese als gänzlich verschieden von der produktiven Konsumtion. In der Produktion muss die Arbeitskraft für andere schuften, im privaten Bereich, der individuellen Konsumtion, kann sie frei über ihr Geld verfügen, scheinbar kaufen, was sie will. Es herrscht Freiheit. Dies wird durch die Geldform des Arbeitslohns, im Grunde durch den Geldfetisch, noch zusätzlich verstärkt, weil es so scheint, als ob’s eine beliebige, freie Entscheidung des einzelnen Arbeiter/der einzelnen Arbeiterin wäre, ob er/sie dies oder jenes für sein/ihr Entgelt kauft.

Betrachten wir jedoch den Gesamtprozesse, so erweist sich dies als Ideologie, als Fiktion, wenn auch eine sehr wirkmächtige Apologie der verallgemeinerten Warenproduktion.

In Wirklichkeit reproduziert jene Freiheit selbst noch das Kapitalverhältnis. Betrachten wir nämlich die individuelle Konsumtion in ihrer Gesamtheit, also als Klassenverhältnis von Kapital und Arbeit, so erweist sich die Reproduktion der Arbeitskraft als sich ständig reproduzierender Teil des Gesamtprozesses der Produktion und Reproduktion des Kapitals.

Dies ist unvermeidlich, weil Letztere immer über den Kauf/Verkauf von Waren vermittelt und so an den Akkumulationsprozess des Kapitals gebunden und diesem untergeordnet bleiben muss.

„Innerhalb der Grenzen des absolut Notwendigen ist daher die individuelle Konsumtion der Arbeiterklasse Rückverwandlung der vom Kapital gegen Arbeitskraft veräußerten Lebensmittel in vom Kapital neu exploitierbare Arbeitskraft. Sie ist Produktion und Reproduktion des dem Kapitalisten unentbehrlichsten Produktionsmittels, des Arbeiters selbst. Die individuelle Konsumtion des Arbeiters bleibt also ein Moment der Produktion und Reproduktion des Kapitals, ob sie innerhalb oder außerhalb der Werkstatt, Fabrik usw., innerhalb oder außerhalb des Arbeitsprozesses vorgeht, ganz wie die Reinigung der Maschine, ob sie während des Arbeitsprozesses oder bestimmter Pausen desselben geschieht.“ (MEW 23, S. 597)

Ferner: „Die beständige Erhaltung und Reproduktion der Arbeiterklasse bleibt beständige Bedingung für die Reproduktion des Kapitals. Der Kapitalist kann ihre Erfüllung getrost dem Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb der Arbeiter überlassen.“ (MEW 23, S. 597 f.)

An dieser Stelle setzt die feministische Kritik ein, weil Marx diesen Aspekt nicht weiter ausgeführt hätte. Das stimmt zwar zu einem gewissen Grad. Die Kritik verkennt jedoch, dass Marx hier nicht etwas abbricht, sondern vielmehr zu einer Schlussfolgerung kommt, die sich aus dem Obigen und den Reproduktionsbedingungen der Ware Arbeitskraft ableitet.

Die Arbeiter:innen sind zur eigenen Reproduktion gezwungen, weil sie selbst Lohnarbeiter:innen sind, ihre Arbeitskraft aus „Selbsterhaltungstrieb“ verkaufen müssen. Das Kapital kann daher getrost die Sorge um die Reproduktion der Arbeitskraft externalisieren.

Die Reproduktion kann als „frei“ erscheinen, was durch die „freie“ Arbeit, Arbeitskontrakt usw. bestärkt wird. In Wirklichkeit ist diese Freiheit jedoch gesellschaftlicher Schein, Ideologie. Oder in Marx’ Worten:

„Von gesellschaftlichem Standpunkt ist also die Arbeiterklasse, auch außerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses, ebenso Zubehör des Kapitals als das tote Arbeitsinstrument.“ (MEW 23, S. 598)

Es ist also ein Fehler, dabei stehen zu bleiben, die produktive und individuelle Konsumption nur aus individueller und nicht aus gesellschaftlicher Sicht zu betrachten. Das führt nämlich unweigerlich zu einer mechanischen, unvermittelten Aufspaltung zwischen produktiver und reproduktiver Sphäre, die so nicht existiert.

c) Produktions- und Reproduktionskreislauf

Die Unterordnung von Konsum/Reproduktionskreislauf der Arbeitskraft unter den des Kapitals wird auch deutlich, wenn wir diese einander gegenüberstellen. Erinnern wir uns zuerst an den Produktionskreislauf des Kapitals:

G – W (PM, AK) – P – W‘ – G‘

Dieser stellt das Wesen, weil Zweck der Produktion im Kapitalismus dar. Es findet also Anhäufung von Kapital, von kapitalistischem Reichtum statt; der Zweck der Produktion besteht in der Produktion von Mehrwert.

Die Reproduktion der Arbeitskraft lässt sich knapp so darstellen:

G (Arbeitslohn in Geldform) – W (Konsumgüter) – Reproduktion – W’ (AK) – G

Der Arbeitslohn, den die Arbeitskraft als Geld erhält, muss in Waren W (Konsumgüter, Mittel zum Lebensunterhalt ausgegeben werden). Es wird sodann konsumiert, verzehrt (inkl. stofflicher Umwandlung durch Hausarbeit wie Kochen, … ). Am Ende wird die Ware W’ (Arbeitskraft) reproduziert, die wieder zu ihrem Wert/Preis verkauft wird.

Es entsteht hier kein zusätzlicher Wert, sondern es werden nur Wertbestandteile reproduziert. Die Arbeitskraft geht durch den Reproduktionsprozess und verlässt ihn so, wie sie in ihn hineintritt, um wieder ihre Haut zu Markte tragen zu können, um also erneut die Summe G, die ihren Reproduktionskosten entspricht, erhalten zu können. Die Reproduktionsarbeit (ob nun private Hausarbeit oder öffentliche Arbeit wie an Schulen) erhält nur die Arbeitskraft, sie schafft aber unter diesen Bedingungen keinen Mehrwert.

Das trifft auch auf die Arbeiter:innenklasse insgesamt zu, denn der gesamte Lohnfonds (Gesamtsumme aller Löhne wie auch aller staatlichen oder sozialversicherungsrechtlichen Lohnersatzleistungen, des „Soziallohns“, usw.) entspricht im Grunde nur den Reproduktionskosten der Gesamtklasse, also aller ihrer Mitglieder (lohnarbeitende Männer und Frauen, Teilbeschäftigte, im Haushalt Tätige, Kinder, Rentner:innen, Kranke, … ).

Bei der Bestimmung des Werts der Ware Arbeitskraft betrachtet Marx auch alle diese Personen als Teil der Gesamtklasse. Allein das zeigt, wie albern die Kritik an ihm ist, dass er nur die produktiven Arbeiter:innen in der Fabrik betrachten würde. Der gesamte Lohnfonds inkludiert wie die Preisbestimmung der Ware Arbeitskraft selbst (im Unterschied zu anderen Waren) auch eine historische, „moralische“ Komponente, die selbst vom Klassenkampf modifiziert wird.

Wichtig ist aber, dass der größte Teil der Reproduktionsarbeit/-kosten dazu da ist, die Arbeitskraft zu erhalten (gesamtes Gesundheitswesen, Kosten, Wohnung, Heizung, … ). Während diese relativ konstant bleiben, so erhöhen sich mit Entwicklung des Kapitalismus die Bildungskosten, also Kosten zur Erhöhung des Arbeitsvermögens der Arbeitskraft, so dass diese statt Träger einfacher gesellschaftlicher Arbeit zu sein, auch solche zusammengesetzter, komplizierter wird.

Arbeiten im öffentlichen Reproduktionsbereich gehen natürlich in den Durchschnittswert der Ware Arbeitskraft ein. Die Kosten für Gebäude, Arbeitsmittel usw. sowie für die Bezahlung der Arbeitskräfte in diesem Bereich führen zu einer Erhöhung oder Senkung des Durchschnittswerts der Ware Arbeitskraft (z. B. wenn die Kosten für Erziehung, Bildung, Lebensmittel usw.) steigen oder fallen. Aber im staatlich/öffentlich organisierten Reproduktionssektor wird keine Mehrarbeit verrichtet, die sich das Kapital in Form von Mehrwert aneignet. Erst recht findet das nicht in der privaten Hausarbeit statt.

Anders verhält es sich, wenn Teile des Reproduktionsprozesses privatkapitalistisch organisiert werden, beispielsweise wenn Krankenhäuser oder Schulen privatisiert und zum Zweck der Profitmaximierung, als stinknormales Geschäft betrieben werden. Lassen wir einmal die Probleme beiseite, den Wert der Waren genau zu bestimmen, festzulegen, wie verschiedene „Produkte“ im Gesundheitsbereich oder im Bildungssektor vergleichbar und bepreist werden können, so besteht nun der entscheidende Zweck der Reproduktionsarbeit für den/die Kapitalist;in darin, Profit zu erwirtschaften, was, wie wir alle aus Erfahrung wissen, bis zu einem gewissen Grad im Widerspruch zur Reproduktion der Arbeitkraft (z. B. von Patient:innen) steht.

Doch zurück zur Wertbildung der Arbeitskraft und zu deren Reproduktion.

Jede Arbeitskraft, die im privaten Haushalt oder im staatlichen Caresektor reproduktiv tätig wird, muss ihrerseits reproduziert, erhalten werden. Das heißt, diese Kosten gehen wie die zur Herstellung jeder anderen Arbeit in den Wert der Arbeitskraft ein.

D. h., auf die private Hausarbeit bezogen, geht diese im gesellschaftlichen Durchschnitt in den Wert der Ware Arbeitskraft ein (resp. auch in den Wert zukünftiger Arbeitskraft und die Reproduktion des gesamten Haushaltes).

Die Erhaltungskosten zur Reproduktion gehen ebenso in die Reproduktionskosten der Arbeitskraft ein wie die Kosten der Lebensmittel, der Haushaltsgeräte usw. Das heißt umgekehrt auch, die Reproduktionskosten für die Hausarbeit (ob nun mehr oder minder gerecht verteilt oder auf die Frau abgewälzt) müssen bestritten werden. Ebenso trifft das auch auf die (noch) nicht arbeitenden Familienmitglieder zu.

Der entscheidende Unterschied zum Kapitalkreislauf besteht darin, dass hier kein Mehrprodukt, damit auch kein Mehrwert geschaffen wird, den sich jemand außerhalb der Familie aneignen würde.

Im Grunde trifft das auch zu, wenn größer werdende Teile der Reproduktionsarbeit staatlich oder gesellschaftlich organisiert werden („Soziallohn“), also für staatliche Schulen, Kitas, Unis, Krankenhäuser, Altersheime. Solange die für diese Tätigkeiten aufgewandten Mittel nicht als Kapital fungieren, also nicht investiert werden, um Profit abzuschöpfen, sondern als staatlicher/sozialer Dienst, werden sie aus Lohnbestandteilen (z. B. Kranken-, Pflege-, Rentenversicherung) oder über Steuern (mit historisch wechselnden Anteilen verschiedener Klassen), also staatlich finanziert.

Dem Kapital erscheint daher diese gesellschaftlich notwendige Arbeit immer als faux frais, als überschüssige Kosten der Produktion, als Abzug vom Gesamtprofit. Sie können nie knapp genug bemessen sein. Genau genommen ist dies der Standpunkt des konkurrierenden Einzelkapitals.

Vom Standpunkt der Gesamtkapitals und seiner Reproduktionsbedingungen sind sie keineswegs unnütz, ja essentiell. Das wissen auch einzelne Kapitalist:innen, wenn ausnahmsweise die Arbeiter:innen in einer günstigen Position sind oder wenn Mangel an Arbeitskraft droht. Dann wird nach Maßnahmen zur Überwindung solcher Arbeitsmarktkrisen gerufen.

In jedem Fall sind die Reproduktionskosten der Gesamtklasse bei einem bestimmten Entwicklungsstadium des Kapitalismus für ein bestimmtes gesellschaftliches Gesamtkapital mehr oder weniger gegeben.

d) Erweiterte Reproduktion

Ihre Entwicklung ist grundsätzlich bestimmt von der Akkumulationsbewegung des Kapitals.

Diese beinhaltet aber nicht nur eine Bestimmung für eine Phase der Entwicklung, sondern auch ein dynamisches Element.

Die erweiterte Reproduktion des Kapitals bedeutet schließlich nicht einfach eine quantitative Erweiterung, sondern geht, vermittelt über die Konkurrenz, mit einer stetigen Erneuerung des Produktionsapparates, eine Revolutionierung der technischen Basis der Produktion einher. Diese führt nicht nur zu einer wachsenden organischen Zusammensetzung des Kapitals und zu einem tendenziellen Fall der Profitrate.

Die erweiterte Reproduktion des Kapitals wirkt auch auf die Reproduktion der Arbeitskraft zurück, sobald und sofern der Wert der Konsumgüter der Arbeiter:innenklasse infolge von Produktivitätssteigerungen sinkt. Die Industrialisierung der Landwirtschaft, die industrielle Massenproduktion von Lebensmitteln oder Haushaltsgeräten und anderen Gegenständen des täglichen Bedarfs (Elektronik), die Verringerung von Transportkosten oder Massenverkehrsmitteln führen zur Reduktion des Werts der Ware Arbeitskraft. Infolge von Wertsenkungen der Konsumgüter ermöglichen sie in bestimmten Perioden der kapitalistischen Entwicklung (z. B. im sog. langen Boom), dass die Menge der Gebrauchswerte/Güter, die die Arbeiter:innen konsumieren können, konstant bleibt oder sogar zunimmt, obwohl der Wert der Ware Arbeitskraft sinkt.

Diese Form der Erhöhung des (relativen) Mehrwerts und ihre Verstrickung mit den Reproduktionskosten verdeutlichen, dass die Bestimmung der Reproduktion durch die Produktion nicht nur ein grundlegendes Merkmal des Kapitalismus darstellt, sondern diese im Zuge der kapitalistischen Entwicklung auch immer mehr um sich greift, immer totaler wird.

Zugleich führt diese Verbindung dazu, dass, historisch betrachtet, auch die Reproduktionsarbeit immer mehr vergesellschaftet wird, wenn auch für private, bornierte Zwecke. In Krisen gestaltet sich dieser Prozess insofern prekärer, als erreichte Stadien von Vergesellschaftung selbst in Frage gestellt werden, also sich eine Tendenz zur Regression manifestiert.

e) Reproduktion und geschlechtliche Ungleichheit

Die geschlechtlich ungleiche Verteilung der Reproduktionsarbeit kann dabei nicht nur aus biologischen Faktoren erklärt werden. Sie muss grundsätzlich aus der historischen Entwicklung begriffen werden, wo die kapitalistische Produktion ihr vorausgehende Formen der Unterdrückung der Frau aufgreift und funktional, dem Wertgesetz unterworfen, umformt.

Dabei ist die Entstehung der Frauenunterdrückung natürlich mit der Gebärfähigkeit der Frauen verbunden, also dem biologischen Fakt, dass nur sie Kinder auf die Welt bringen können. Damit entsteht auf der einen Seite eine Form der Reproduktionsarbeit, die nicht auslagerbar oder auf Männer übertragbar ist, andererseits schafft es auch einen Widerspruch. Schwanger sein ist notwendig für die Reproduktion der Menschheit, hat aber auch den Nachteil, dass die Arbeitsfähigkeit für andere Tätigkeiten phasenweise eingeschränkt wird. Speziell im Kapitalismus mit seinem Fokus auf Profitmaximierung mündet das in sehr bestimmten Arten der Organisierung von reproduktiver Arbeit und reproduziert diese.

Für die kapitalistische Produktionsweise folgt grundsätzlich die Scheidung von produktiver Konsumtion und individueller Konsumtion der Arbeiter:innenklasse aus der Scheidung von Arbeitsprodukt und Arbeitenden, der Trennung von Arbeitskraft und Produktionsmitteln (Eigentumsmonopol des Kapitals). Das Verhältnis von Produktion und (privater) Reproduktion nimmt eine neue, historisch spezifische Form an. Hier sieht man auch den Unterschied zur feudalen Ausbeutung, die Marx hervorhebt, in der Produktion und Reproduktion wesentlich weniger getrennt waren. Es gab zu dieser Zeit eine viel stärkere Einheit im bäuerlichen Haushalt, wo Produktion und Reproduktion zugleich stattfanden und die Familie genauso Produktions- wie Lebenseinheit war.

Die vorgefundene Unterdrückung der Frau führt zur Herausbildung und Durchsetzung einer geschlechtlichen Arbeitsteilung, in der der Mann als „Oberhaupt“ und Ernährer tätig, die Frau für die Hausarbeit zuständig ist (sofern sich ein proletarischer Haushalt überhaupt herausbilden kann).

Im Lohn der männlichen Arbeitskraft werden daher die Reproduktionskosten des Haushalts mit gesetzt, daher die höhere  Bezahlung der männlichen Arbeitskraft (es gibt daraus resultierend auch eine historisch-moralische Einwirkung auf den Arbeitslohn).

Im privaten Haushalt wird dadurch eine vorgefundene geschlechtsspezifische Arbeitsteilung reproduziert und produziert. Die historisch moralischen Einwirkungen sind unter anderem struktureller Sexismus, der abseits von dieser besseren Entlohnung für Männer auch ideologisiert, dass die Arbeit von Frauen generell weniger wert ist als die von Männern.

Die bürgerliche Familie entspricht diesem Reproduktionszusammenhang, sie erscheint als Reich der „Freiheit“, des Rückzugs, des privaten Glücks und der Selbstbestimmung gegenüber der Fabrik, der Ausbeutung der Arbeitskraft unter der Despotie des Kapitals.

Individuell betrachtet, scheint sich der Mensch in der Privatsphäre zu verwirklichen, auch wenn diese, wie Marx zeigt, letztlich vom Kapital bestimmt ist. Aber der/die Warenbesitzer:in der AK scheint hier wirklich sich zu gehören (resp. auch seine/ihre Familie).

Die Familie, Partnerschaft (selbst in ihrer patriarchalen Form) scheint daher ein Rückzugsraum, eine sicherer Hafen vor der Unbill der Arbeit in der Fabrik, im Produktionsprozess. Aber dies ist weitgehend Fiktion, wie Marx hervorhebt:

„Hat die Produktion kapitalistische Form, so die Reproduktion. Wie in der kapitalistischen Produktionsweise der Arbeitsprozeß nur als ein Mittel für den Verwertungsprozeß erscheint, so die Reproduktion nur als ein Mittel, den vorgeschoßnen Wert als Kapital zu reproduzieren, d. h. als sich verwertenden Wert.“ (MEW 23, S. 591)

2. Historische Entwicklungsdynamik der Reproduktionsarbeit

Nachdem wir Grundzüge des Verhältnisses von Produktion und Reproduktion umrissen haben, wollen wir uns dessen historischer Entwicklung zuwenden. So wie das Lohnarbeitsverhältnis keineswegs „rein“ hervortritt, sondern geschichtliche Modifikationen durchläuft wie auch aufgrund der imperialistischen Weltordnung sehr verschieden in imperialistischen und halbkolonialen oder kolonialen Ländern in Erscheinung tritt, so durchläuft auch die kapitalistische Form der Reproduktion der Arbeitskraft Entwicklungsstufen. Diese dürfen dabei keineswegs als strenge Abfolge betrachtet werden, die für alle Länder gleichermaßen gelten würde. Vielmehr gilt auch dafür das Gesetz der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung, wo im Rahmen einer reaktionären imperialistischen Ordnung relativ weit vergesellschaftete Formen der Produktion und Reproduktion gleichzeitig und verwoben mit extrem rückständigen auftreten, ja diese im Rahmen eines globalen Ausbeutungsverhältnisses sogar immer wieder hervorbringen.

Im Folgenden wollen wir grob einige Entwicklungsphasen skizzieren – und wir sehen dabei auch, dass Formen, die zuerst im Frühkapitalismus entstehen, heute noch in extrem ausgebeuteten Ökonomien weit verbreitet, ja prägend sein können.

a) Übergang, Entstehung des Kapitalismus

Die Fesselung der Frau an den Haushalt hat der Kapitalismus nicht erfunden, wohl aber die Trennung von Produktion und Reproduktion. Um kapitalistische Verhältnisse auch in der Reproduktion zu erzwingen, muss also einerseits die Fesselung an den Haushalt aufrechterhalten, andererseits dieser als Produktionseinheit (die die Güter ihrer eigenen Reproduktion ganz oder in wesentlichen Teilen herstellt) zerschlagen werden.

D. h. die Arbeiter:innenklasse muss gezwungen werden, ihre Lebensmittel als Waren bei Dritten (kapitalistischen Produzent:innen oder Händler:innen) gegen Geld (Arbeitslohn) zu kaufen.

Dies ist funktional wichtig und muss gewaltsam hergestellt werden, weil, ansonsten die Arbeitskraft selbst nicht in vollem Maß zum Verkauf als Ware gezwungen wäre.

Hier zeigt sich zugleich, dass es – trotz einiger Gemeinsamkeiten mit der Subsistenz- und der kleinen Warenproduktion – im Grunde irreführend ist, die private Hausarbeit als eine eigene Produktionsweise zu bestimmen. Dies verschleiert vielmehr den spezifisch kapitalistischen Charakter der Reproduktion der Arbeiter:innenklasse. Wir haben es bei der (privaten) Reproduktion im Haushalt nicht mit einer oder gar mehreren Produktionsweisen außerhalb des Kapitals zu tun, sondern mit einer – so unsere These – spezifisch kapitalistischen Form der Reproduktion im Kapitalismus.

Gerade in ihrer Bestimmtheit durch die Produktion liegt ihr Wesenskern. Dass dies leicht anders erscheinen mag, hängt mit verschiedenen Faktoren, die zu einer ideologischen Fetischisierung führen, zusammen.

1. Erscheint der Haushalt, die Privatsphäre als Gegenteil der betrieblichen, sachlichen Despotie (selbst die Despotie des Haustyrannen ist unterschieden, weil wesentlich persönlich, patriarchal, Herrschaft des Vaters, im engen Wortsinn).

2.  Kapitalistische Reproduktion existiert nicht rein, sondern in mehr oder weniger krassen Hybridformen.

Davon einige wichtige:

  • Die Haushaltsformen des Kleinbürgertums (z. B. der Bauern-/Bäuerinnenschaft) setzen die Einheit von Produktion und Reproduktion fort.

  • In den halbkolonialen Ländern dauert der Prozess der ursprünglichen Akkumulation an. Dies führt zur Bildung von wichtigen, prekären Formen der Reproduktion für beachtliche Teile der Bevölkerung des globalen Südens.

  • Für die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse ist, global betrachtet, bis heute eine „normale“ Reproduktion in der Familie nicht oder nur bedingt möglich. Die Ausweitung der Teile der Klasse, die unter ihren Reproduktionskosten Lohnarbeit verrichten müssen, bedeutet auch, dass der proletarische Haushalt seine Reproduktionsfunktion nicht oder jedenfalls nicht voll erfüllen kann.

  • Umgekehrt wird aber der „Rückzug“ zu einer vorkapitalistisch funktionierenden Form der Reproduktion verunmöglicht.

  • Umso stärker wird die Tendenz zur Barbarisierung der Verhältnisse im Haushalt (Hunger, Armut, Aufteilung des Mangels, aber auch Gewalt gegen Frauen und Kinder).

Für die frühe kapitalistische Entwicklung wie auch für bedeutende Teile der Arbeiter:innenklasse stellt die Familie keineswegs eine historische Selbstverständlichkeit dar. Im Gegenteil! Die Überausbeutung verunmöglichte diese weitgehend für die neue entstehende Klasse (siehe auch urspr. Akkumulation, Ausdehnung des Arbeitstages, Sklaverei, … ).

Für deren unterste Schichten nimmt soziale Vorsorge – sofern vorhanden – die Form des Armenhauses, von Waisenhäusern samt despotischem Regime an. Die Kriminalisierung anderer Einkommensarten (Betteln, Verbot des Zugriffs auf vormaliges Gemeineigentum) stellen unerlässliche Mittel dar, den Zwang zur Lohnarbeit durchzusetzen. Dieses Regime muss gewährleisten, dass die „Armenversorgung“ unter dem Niveau des extrem geringen Arbeitslohns liegt. Daher auch die fast ungebrochene Tendenz zur absoluten Verelendung im Frühkapitalismus – eine Tendenz, die wir in der halbkolonialen Welt, teilweise sogar unter den marginalisierten (oftmals zugleich migrantischen und/oder rassistisch unterdrückten) Schichten der Klasse auch in den imperialistischen Zentren vorfinden.

b) Entstehung und Durchsetzung der proletarischen Familie

Die „klassische“ bürgerliche Familie (Vater als Ernährer, Frau als Hausfrau, Kinder) ist in der Arbeiter:innenklasse auch immer ein zwiespältiges historisches Produkt. Ihre Verwirklichung ist an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Der Arbeitslohn des Mannes muss die Reproduktionskosten der gesamten Familie real abdecken können (Frau, Kinder, Alte), damit die Frau Hausfrau sein kann, die Kinder nicht gegen Lohn arbeiten müssen und die Alten versorgt werden können. Daher müssen auch der Ausbeutung gewisse Schranken gesetzt werden, also Grenzen der absoluten Mehrwertabpressung durchgesetzt werden. Um diese Reproduktionsfähigkeit der Familien überhaupt herzustellen, müssen die Löhne dem Wert der Arbeitskraft (A) entsprechen, muss der Arbeitstag begrenzt werden, müssen Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie Beschränkungen der Kinder- und Frauenarbeit und staatliche Sozialleistungen durchgesetzt werden.

Dies ist nur möglich auf Basis von gewerkschaftlichen und politischen Kämpfen, die reale Errungenschaften durchsetzen (z. B. den 10-Stundentag). Diese werden oft auch begünstigt dadurch, dass ein Teil der herrschenden Klasse (bzw. deren politischen Personals) erkennt, dass eine gewisse Grenze der Ausbeutung notwendig ist, um die Reproduktion des Ausbeutungsmaterials zu sichern (ob dies aus Einsicht oder Furcht vor Radikalisierung der Arbeiter:innenklasse erfolgt, ist hier zweitrangig).

Die Bildung der proletarischen Familie setzt also eine gewisse materielle Besserstellung der Klasse voraus. Wenigstens signifikante Teile müssen in der Lage sein, den Verkauf ihrer Arbeitskraft zu oder über ihren Reproduktionskosten durchzusetzen.

Dies stellt gegenüber dem Frühkapitalismus oder extremen Formen der Ausbeutung eine Errungenschaft der gesamten Klasse, von Mann und Frau dar. Aber sie geht zugleich einher mit einer Festigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Arbeiter:innenklasse. Die Frau kann jetzt auch „nur“ Hausfrau, der Mann kann real alleiniger „Ernährer“ der Familie sein. Für die Frau bedeutet dies aber zugleich eine Fessel, eine Befestigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, den Zwang, die Hausarbeit zu leisten, die keinen Mehrwert generiert, die Festigung der Abhängigkeit vom Mann (als Einkommensquelle) und ihrer Vereinzelung und Unterdrückung. Damit einher geht auch die Entstehung des proletarischen Haushaltes (eigene, kleine Mietwohnung, eigener Herd, … ).

Die Festigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung verstärkt darüber hinaus durch rechtliche Ungleichheit und reaktionäre Ideologien und Chauvinismus in der Arbeiter:innenklasse die soziale Unterdrückung.

Ökonomisch wird diese zusätzlich befestigt, indem der Lohn des Mannes als Familienlohn gesetzt ist. Der Wert der Arbeitskraft ist wesentlich der der männlichen. Der Wert der weiblichen Arbeitskraft wird so auf einen Bruchteil der männlichen fixiert, da ihre Reproduktionskosten in diesem System geringer sind, weil das Lohneinkommen der Familienmitglieder vom Mann, nicht der Frau bestritten werden soll/muss.

Wir haben es hier also mit einer systematischen Ungleichheit des Werts der Arbeitskraft zu tun, die das spezifisch kapitalistische System der Reproduktion schafft bzw. von diesem geschaffen wird.

Dies drückt sich einerseits in der Last der Hausarbeit aus, die den Frauen aufgebürdet wird. Zweitens aber auch in einer beruflichen Arbeitsteilung. Frauen werden aus industriellen Branchen verdrängt (oder erst gar nicht reingelassen), auf zeitweilige, schlechter bezahlte Tätigkeiten verwiesen.

Dieses „Modell“ wird zum vorherrschenden in den kapitalistischen Zentren mit Expansion des Kapitalismus in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und der imperialistischen Epoche bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Es wird auch auf Halbkolonien mit der Expansion des Kapitalverhältnisses und der Entstehung einer, wenn auch kleineren Arbeiter:innenaristokratie ausgeweitet, aber verbleibt dort bis heute eine Form, die nie die gesamte Klasse umfasst.

Nicht minder wichtig ist, dass dieses Modell bis heute, wenn auch modifiziert und, was die Frage der Lohndifferenzen betrifft, etwas gerechter die vorherrschende ideologischen Form darstellt.

Bei den erzreaktionären bürgerlichen Kräften tritt das ganz klar und unverhüllt hervor. Aber auch dem Liberalismus, dem Mainstreamfeminismus und dem Reformismus liegt dieses Modell zugrunde. Es wird jedoch seiner „unschönen“ Seiten bereinigt. Die gleiche Verteilung der Hausarbeit und gleiche Löhne/Einkommen werden propagiert. Ein mehr oder weniger großer privater, quasi familiär organisierter Teil der Reproduktionsarbeit wird aber als erstrebenswert oder unverzichtbar und eigentlich menschlich betrachtet. (Dies kann natürlich auch auf gleichgeschlechtliche oder Transpartner:innenschaften erweitert werden, gewissermaßen als flexiblere, anpassungsfähigere Formen der bürgerlichen Familie).

Die zunehmende Vergesellschaftung der Produktion gerät aber mit dieser engen Form der kapitalistischen Reproduktionsarbeit in Widerspruch bzw. Letztere stellt auch eine Schranke für die Expansion des Kapitals ab einer bestimmten Stufe dar.

c) Ausdehnung der Lohnarbeit der proletarischen Frauen

Das zeigte sich zuerst im Ersten Weltkrieg. Aber die Ausdehnung der Frauenarbeit in der Produktion für diesen Krieg war nur vorübergehend, nicht zuletzt aufgrund der ökonomischen Verwerfungen in der Zwischenkriegszeit, der Zerrüttung des Weltmarktes, der Massenarbeitslosigkeit und der ungelösten Probleme der globalen Vorherrschaft unter den imperialistischen Mächten.

Anders im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Frauen kehren nicht in den Haushalt zurück. Dies hat zwar auch historisch spezifische Gründe in manchen Ländern (Mangel an männlicher Arbeitskraft wegen Kriegsgefangenschaft und toter Soldaten). Vor allem aber erfordern die veränderten, günstigen Akkumulationsbedingungen (Zerstörung und Ersetzung von Kapital, massive Ausdehnung der Produktion und hohe Profitraten, Ablösung des Kolonialsystems und Ausdehnung des Weltmarktes, USA als Demiurgin des Weltmarktes, Dollar als Weltgeld, Erhöhung des relativen Mehrwerts erlaubt hohe Profite und gleichzeitige Ausdehnung des Konsumfonds der Arbeiter:innenklasse) auch eine massive Expansion der weiblichen Lohnarbeit.

Proletarische Frauen (wie die gesamte Klasse) werden als Konsumentinnen wie als Lohnarbeiterinnen wichtiger. Die Expansion weiblicher Lohnarbeit wird außerdem am Beginn durch Lohndifferenz zwischen den Geschlechtern begünstigt. Frauen werden als billigere, oft nur „vorübergehende“ Arbeitskraft in bestimmen Sektoren massenhaft beschäftigt. Männer gelten am Beginn weiter als Vollzeitarbeiter. Dies entspricht einem geschlechtlich extrem segregierten Arbeitsmarkt, auf dem in der ersten Phase der Nachkriegsperiode Männer- und Frauenberufe klar getrennt sind.

In dieser ersten Phase der Expansion geht diese noch ohne große Erschütterung der proletarischen Familien wie des Oberhaupts der Familienform mit ihrer ideologisierten Selbstverständlichkeit einher. Diese wird am Beginn sogar eher stabilisiert, auch weil das Proletariat ab Mitte der 1950er Jahre stetige ökonomische Verbesserungen verspüren kann. Politisch-ideologisch sind die 1950er und frühen 1960er Jahre restaurativ, extrem miefig, reaktionär. Es ist daher auch kein Wunder, dass von einer rechtlichen Gleichstellung der Frauen in den meisten Ländern nicht die Rede sein kann.

Zugleich entwickeln sich jedoch die inneren und gesellschaftlichen Widersprüche.

Die Expansion weiblicher Lohnarbeit, die Ausdehnung des Bedarfs an qualifizierter Arbeitskraft und höhere Lebenserwartung erfordern auch eine Ausdehnung der Reproduktion, die gesellschaftlich geleistet wird und nicht privat. Das wiederum bedarf eines Ausbaus des Bildungswesens und sozialstaatlicher Leistungen (Gesundheitssystem, Altersvorsorge) sowie von Einrichtungen, die Frauen Vollzeitarbeit ermöglichen (Kitas, Ganztagsschulen, Pflegeheime).

Mit der Expansion geht außerdem auch eine Ausdehnung weiblicher Lohnarbeit im Bereich Bildung und Gesundheit einher.

Die Expansion macht aber auch die fest etablierte Ungleichheit, die patriarchalen Verhältnisse in Ehe und Familie immer fragwürdiger, ja unhaltbarer. Ihre gesellschaftliche Legitimation erodiert zusehends.

All das legt auch die Grundlage für die 2. Welle der Frauenbewegung der 1960er/1970er Jahre. Das Auftreten des radikalen und sozialistischen Feminismus führt dazu, dass Forderungen der Bewegung von der Gesellschaft insgesamt aufgegriffen oder jedenfalls zu einem Kampffeld für Millionen Menschen werden.

Es ist auch kein Zufall, dass die Frage der Hausarbeit/Reproduktion und der politischen Ökonomie mehr Beachtung findet in dieser Zeit und zu einem wichtigen Gegenstand der Diskussion in der Linken und Frauenbewegung gerät.

Die Expansion weiblicher Lohnarbeit ist in praktisch allen Ländern enorm, v. a. in imperialistischen Staaten, oft noch mehr in den degenerierten Arbeiter:innenstaaten, aber auch in vielen Halbkolonien.

Mit der Ausdehnung einer gesellschaftlich organisierter Reproduktionssphäre, die über Steuern, Sozialabgaben, also über Lohnbestandteile oder die Revenue des Kapitals finanziert wird, verringert sich tendenziell das reale Lohndifferential zwischen Männern und Frauen, zwischen besser und schlechter bezahlten Teilen der Arbeiter:innenklasse. Ein größerer Bestandteil des Lohnfonds insgesamt wird über staatliche Leistungen oder Sozialversicherungen umverteilt und kommt so als Anspruch auch weniger hohe Steuern oder Beiträge zahlenden Lohnabhängigen zugute.

Das Lohndifferential (Gender Pay Gap) sowie die geschlechtsspezifische Struktur der Arbeitswelt verlieren ihre offizielle gesellschaftliche Legimitation, werden ihres scheinbar natürlichen Charakters entkleidet.

Dennoch wirken sie massiv fort, ebenso die ungleiche Verteilung der privaten Hausarbeit und der überproportionale Anteil von Frauen an der Reproduktionsarbeit.

Die Ausdehnung des Soziallohns sowie der Druck der Frauen- und Arbeiter:innenbewegung wirken bei aller Zähigkeit auf eine Angleichung der Löhne/Entgelte von männlicher und weiblicher Lohnarbeit.

Die Ausdehnung der weiblichen Lohnarbeit, also direkte Beteiligung der Frau an wenn auch indirekter, „blinder“ vergesellschafteter Produktion drängt auch auf eine Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit.

Dieser Prozess stößt aber im Kapitalismus an innere Grenzen wegen des Warencharakter der Arbeitskraft, der inneren Anarchie der Produktionsweise und der bornierten, kapitalistischen Zwecke der Produktion. Zugleich bleibt die Familie weiter ein wichtiges bürgerliches Integrations- und Herrschaftsinstrument, so dass sie aus gutem Grund von konservativer und reaktionärer Seite auch dann besonders eifrig verteidigt wird, wenn sie eigentlich gesellschaftlich ersetzbar wäre. Hinzu kommt, dass sie gerade während und wegen ökonomischer Krisen weiter eine wichtige Rolle spielt: Denn gesellschaftliche Reproduktion ist wesentlich unproduktive Arbeit fürs Einzelkapital, daher Abzug von seinem Profit, tritt als unnötige Kosten in Erscheinung, die möglichst reduziert werden müssen.

3. Krise, Klassenkampf, Vergesellschaftung

Mit dem Ende des langen Booms und Einsetzen der chronischen Überakkumulation des Kapitals, die die Weltwirtschaft in verschiedenen Formen seit den 1970er Jahren mit prägt, wird auch diese Widersprüchlichkeit deutlicher. Die Sphäre der Reproduktion stürzt selbst in eine tiefe Krise.

Deren Hintergrund und Ursache bildet die strukturelle Überakkumulation. Das Kapital stößt zunehmend auf Schwierigkeiten, eine ausreichend hohe Profitrate aufrechtzuerhalten, weil die organische Zusammensetzung des Kapitals steigt und der Mehrwert schaffende Teil des Kapitals (also das variable Kapital im Verhältnis zum konstanten) immer kleiner wird. Es gibt also nicht nur einen Drang dazu, sich andere Anlagesphären (und -gebiete) zu suchen, sondern auch, die Ausbeutungsrate zu erhöhen (also die Kosten fürs variable Kapital zu senken). Das bedeutet auf der einen Seite, dass es zu mehr Privatisierungen des Caresektors kommt, um neue Bereiche zu erschließen. Es heißt aber auf der anderen auch, dass Menschen (vor allem Frauen), die stark in die Reproduktionsarbeit eingebunden sind, zusätzlich auch wieder stärker in die Lohnarbeit gedrängt werden, ohne sie von der Zusatzarbeit zuhause zu entlasten.

Vor allem in imperialistischen Ländern ist viel Reproduktionsarbeit staatlich geregelt. Sie stellt zwar einen essenziellen Beitrag zum Erhalt des Systems dar, wird aber aufgrund ihrer nicht Mehrwert schaffenden Rolle immer stärker eingespart. Viele der Probleme in unseren jetzigen Gesundheitssystemen ergeben sich aus Rentabilitätskalkülen. Nachdem ein System niedergespart wurde, kommt oft ein guter Moment für Privatisierungswellen. Die organische Zusammensetzung in diesen Bereichen liegt oft unter dem Durchschnitt und es gibt einen leichten Eintritt in den Markt, wenn die Leistungen des öffentlichen Sektors nicht mehr mithalten können (solange staatlich keine Regelungen dagegen getroffen werden). Damit wird also die vorher „nichtproduktive“ (nicht Mehrwert schaffende) zu profitmaximierender Arbeit oder zumindest darauf vorbereitet.

Je teurer dann aber wiederum privatisierte Institutionen werden und je mehr an Löhnen in krisenhaften Situationen gespart wird, umso mehr werden Leistungen der Reproduktionsarbeit (Kindergarten, Krankenhäuser usw.) unbezahlbar für die Arbeiter:innenklasse oder jedenfalls für die schlechter entlohnten Teile. Das wiederum drängt Leute wieder zurück in die Familie, um reproduktive Aufgaben vermehrt selbst zu übernehmen. Dieses Phänomen gibt es natürlich nicht nur bei Privatisierungen, sondern auch staatlichen Angeboten, die nicht kostenlos oder an viele Bedingungen geknüpft sind (z. B. Staatsbürger:innenschaft) oder eine bestimmte Familienkonstellation). Es nimmt aber nicht dasselbe Ausmaß an. Speziell trifft diese Dynamik auf Halbkolonien zu.

Kürzungen beim Soziallohn, also dem Anteil an Sozialabgaben und damit der Finanzierung von reproduktiven Leistungen, bedeuten auch einen Rückgang im gesamten Lohnfonds. Diese Unterfinanzierung steht für mehr soziale Ungleichheit und führt damit zu immer reaktionäreren Tendenzen. Mit zusammenbrechenden Sozialsystemen, verschärfter Ungleichheit und einem Zurückdrängen von reproduktiven Arbeiten in Familie und Haushalt erfolgt eigentlich ein gesellschaftlicher Rückschritt. Obwohl die technischen und organisatorischen Möglichkeiten da wären und auch das Kapital davon profitiert, über Arbeiter:innen zu verfügen, die voll ausbeutbar sind, führen inhärente Tendenzen des Kapitalismus zu einer barbarischen Situation. Diese zementieren auch die bürgerliche Kleinfamilie und ketten sowohl Frauen als auch Kinder und alte Menschen noch heftiger an sie als ohnehin schon.

Doch diese Entwicklungen passieren nicht ohne Widersprüche. Streiks in Bereichen, wo vor allem Frauen beschäftigt sind (Pflege, Kindergarten, etc.), handeln immer wieder neu aus, wie die Reproduktionsarbeit organisiert wird, und in vielen Ländern bilden sich dabei auch neue kämpferische Sektoren der Arbeiter:innenklasse.

Die krisenhaften Entwicklungen im Reproduktionsbereich dürfen jedoch nicht damit verwechselt werden, dass es nur eine Tendenz weg von der wenn auch naturwüchsigen Vergesellschaftung hin zur privaten Hausarbeit gebe.

Im Gegenteil, für bedeutende Sektoren der lohnabhängigen Mittelschichten wie auch der Arbeiter:innenklasse können wir ein Fortschreiten einer wenn auch privatkapitalistisch organisierten Vergesellschaftung der Hausarbeit konstatieren.

Wir wollen das am Beispiel der sog. Plattformökonomie verdeutlichen. In den letzten Jahren erleben wir eine große Ausbreitung von Dienstleistungen, die über solche Onlinedienste Teile von Reproduktionstätigkeiten anbieten. Das umfasst Lieferdienste für Essen und Nahrungsmittel, die mittlerweile von fast allen Schichten der Arbeiter:innenklasse zumindest gelegentlich genutzt werden.

Für größere Teile der Lohnabhängigen werden diese zum Standard für ihre Reproduktion. Der entscheidende Grund dafür besteht darin, dass die ständige Intensivierung der Arbeit, deren Verdichtung, die durch Homeoffice oft noch einen neuen Schub erhält, die Menschen während der Arbeit so sehr auslaugt, dass sie kaum noch die Kraft haben, für sich selbst zu kochen oder zu putzen.

Daher bietet die Plattformökonomie längst mehr als Mahlzeiten oder Fertiggerichte. Darüber werden auch Reinigungskräfte, Pfleger:innen oder Kinderbetreuung vermittelt.

Diese Inanspruchnahme von privat angebotenen und über größere Kapitale organisierten Diensten, die nun auch Teil der produktiven, Mehrwert schaffenden Arbeit werden, ist natürlich nicht für die gesamte Arbeiter:innenklasse möglich und erfordert, um unter den gegenwärtigen Konkurrenzbedingungen profitabel funktionieren zu können, dass die Beschäftigten der über die Plattformökonomie organisierten Lieferdienst oder Caresektoren selbst für geringe, unterdurchschnittliche Löhne und unter ungesicherten Arbeitsbedingungen tätig sind. Pointiert könnte man sagen, dass bei diesen Unternehmen vor allem jene Arbeiter:innen angestellt werden, die sich diese Dienste nicht oder nur gelegentlich leisten können. Hinzu kommt, dass, solange diese Dienste vergleichsweise billig angeboten werden, sie auch zu einer Erhöhung des relativen Mehrwerts führen.

Natürlich gibt es ähnliche Phänomene auch im bislang ganz oder halbstaatlich organisierten Reproduktionsbereich – bei Krankenhäusern, Schulen, Kitas, … Diese sind bereits, wenn auch zum Zweck der Reproduktion des Gesamtkapitals, vergesellschaftet. Nun werden bereits gesellschaftlich organisierte Bereiche der Reproduktion zerlegt, privatisiert oder im ersten Schritt einer privaten, profitorientierten Kostenrechnung und Kalkulation unterworfen.

Neben Tendenzen zur Privatisierung finden wir also auch in der aktuellen Krise solche zur Vergesellschaftung. Doch diese folgen keinem bewussten gesamtgesellschaftlichen Plan, sondern finden auf privater Basis oder durch den Staat statt. Das Zurückdrängen der Hausarbeit in die Familien und Abwälzen auf die Frauen bildet also nur eine Tendenz in der aktuellen Krisenperiode. Diese wird durch eine andere, nämlich die Ausdehnung privat organisierter Reproduktionstätigkeit ergänzt.

Während in der Phase der Ausdehnung des Reproduktionssektors in den 1960er und 1970er Jahren diese mit einem weitgehend allgemeinen Zugang zu Grundleistungen einherging, so geht die aktuelle Kommodifizierung der Reproduktionsarbeit damit einher, dass verschiedene Schichten der Arbeiter:innenklasse weit unterschiedlicheren Zugang zu diesen haben als bisher.

So wie die inneren Differenzen der Klasse in einem Land und erst recht international zunehmen, wie die Unterschiede in Einkommens- und Lebensverhältnissen zwischen Arbeiter:innenaristokratie, der Masse der Klasse und der wachsenden Schicht der prekär Beschäftigten größer werden – und dies noch viel mehr auf globaler Ebene – , so werden auch die Reproduktionsbedingungen unterschiedlicher, vergrößert sich die Kluft innerhalb der Arbeiter:innenklasse.

Ein zentraler Aspekt ist dabei, dass diese Tendenzen die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung vertiefen, so dass Frauen von der Krise des Reproduktionssektors besonders stark betroffen sind.

Wir können aus all diesen Gründen ihre „Lösung“ nicht dem bürgerlichen Staat oder dem Markt überlassen. Der Kampf um die Verteidigung bestehender Errungenschaften um die Reorganisation der Reproduktionsarbeit bildet zugleich ein zentrales Feld des Klassenkampfes in der gegenwärtigen Periode. Die widersprüchlichen Tendenzen zur Vergesellschaftung, zur Privatisierung und zur Ausdehnung der privaten Hausarbeit sind im Kapitalismus letztlich unlösbar, zumal die Erhöhung der Mehrwertrate ein zentrales Element der Krisenbewältigungsstrategien der herrschenden Klasse bildet, ja bilden muss.

Im Sinne eines Programms von Übergangsforderungen gilt es, an bestehenden Kämpfen anzusetzen und diese mit dem für eine planmäßige Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit unter Arbeiter:innenkontrolle zu verbinden:

  • Ausbau und Einführung von Großkantinen und Restaurants unter Arbeiter:innenkontrolle als Alternative zu isolierter Hausarbeit. Entschädigungslose Enteignung der großen Handelsketten und Lieferdienste unter Arbeiter:innenkontrolle.

  • Kommunalisierung aller Kindergärten und Schulen. Diese müssen kostenlos und für alle zugänglich sein. Für ein massives Investitionsprogramm zur Erneuerung und zum Ausbau und zur Einstellung fehlender Erzieher:innen, Lehrer:innen, Sozialarbeiter:innen und anderer Beschäftigter zu vollen tariflichen Löhnen. Kontrolle über die Einrichtungen durch Ausschüsse von Beschäftigten, Schüler:innen und Eltern!

  • Enteignung von Wohnungskonzernen und von Grund und Boden. Kontrolle der Mieten durch Ausschüsse der Mieter:innen und Gewerkschaften.

  • Verstaatlichung und Ausbau des gesamten Caresektors unter Kontrolle der Beschäftigten, Patient:innen, und Gewerkschaften, finanziert durch die Besteuerung des Kapitals und der Reichen!

  • Kampf für Reduzierung der Arbeitszeit für die gesamte Arbeiter:innenklasse auf 30 Stunden pro Arbeitswoche bei vollem Lohn- und Personalausgleich, damit die Reproduktionsarbeit auf beide Geschlechter verteilt werden kann und den Frauen die Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben erleichtert wird!

  • Für die Vergesellschaftung der Haus- und Reproduktionsarbeit. Gleichmäßige Aufteilung der übrig bleibenden privaten Tätigkeiten unter Männern und Frauen!

Die Vergesellschaftung der Hausarbeit kann im Kapitalismus nie vollständig erreicht werden, ganz so, wie die planmäßige und bewusste Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit nicht durchgeführt werden kann, solange das Privateigentum an den Produktionsmitteln die Gesellschaft prägt. Daher ist der Kampf um sie mit dem für die Enteignung des Kapitals, mit der sozialistischen Revolution untrennbar verbunden.




Grundlagen: Schafft Reproduktionsarbeit Mehrwert?

Clay Ikarus, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung, März 2023

Zur Reproduktionsarbeit gehört alle Arbeit, die dazu da ist, die Arbeitskraft wiederherzustellen. Dabei geht es nicht nur um die tägliche Erneuerung der gegenwärtigen Arbeitskraft, für die man einkaufen, kochen, putzen sowie sich um bedürftige Angehörige kümmern muss. Es geht dabei auch um die Arbeitskraft der nächsten Generation. Also gehören auch Bildung, Kindererziehung und der Gesundheitssektor im Allgemeinen dazu.

Ein großer Teil der Reproduktionsarbeit findet im Haushalt statt und wird, zumindest in Europa, auch heute noch zum großen Teil von Frauen übernommen. Eine beispielhafte Zahl: Laut Eurostat liegt der Anteil der Frauen, die täglich Hausarbeit verrichten, bei 79 %, bei Männern bei 34 %. Die Reproduktionsarbeit im Privaten ist dabei unbezahlt und taucht dementsprechend auch in keiner kapitalistischen Buchführung auf. Sie wird deshalb als „unsichtbare Arbeit“ bezeichnet: Mehrwert wird innerhalb der Reproduktionssphäre nicht produziert. Es gibt keinen Gewinn, auch wenn die Arbeit existenziell für alle Menschen ist. Der Lohn wird verwendet, die Mittel zur Befriedung der Bedürfnisse der Lohnabhängigen zu kaufen, sodass man essen und sich kleiden kann sowie weitere Bedürfnisse erfüllt werden können, um die Arbeitskraft zu reproduzieren, zu leben. Doch am Ende wird der Wert der Arbeitskraft nur wiederhergestellt.

Es gibt jedoch auch öffentliche Sektoren, in denen Reproduktionsarbeit stattfindet: Kindererziehung in Schulen und Kindergärten, um neue Arbeiter:innen auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Pflegekräfte versorgen im größeren Umfang bedürftige Menschen in Krankenhäusern, Altersheimen oder Jugendeinrichtungen. Doch nicht umsonst sind diese öffentlichen Sektoren meist staatlich finanziert, denn auch wenn die Kapitalist:innen auf gesunde und ausgebildete Arbeitskräfte angewiesen sind, wollen sie ungern selber dafür aufkommen. Meist arbeiten in diesen Careberufen Frauen in Positionen, die schlecht bezahlt sind. Doch was ist mit privaten Kliniken und Schulen? Hier wird Kapital investiert und keine Steuergelder und das, um Mehrwert zu erzielen. Doch das ist trotz der hohen Gelder, die verlangt werden, und der zusätzlichen staatlichen Unterstützung nicht so einfach, da die Möglichkeiten, den Mehrwert zu steigern, schnell an ihre Grenzen kommen.

Nicht umsonst zerbrechen Gesundheits- und Bildungssektor an der Privatisierung, denn die Gewinne gehen aus und es wurde sich verzockt auf Kosten der Kranken und Kinder. Es handelt sich also gleichzeitig um Produktion (Kapitalvermehrung) und Reproduktion (der Arbeitskraft). An diesem Beispiel sieht man gut, dass es nicht um die Arbeitstätigkeiten selbst geht, sondern ob sie dem Ziel dienen, Kapital zu vermehren oder nicht, wenn man der Frage auf die Spur kommen will, ob etwas Mehrwert produziert.

Was ist überhaupt Mehrwert und wieso spielt dieser eine Rolle?

Man spricht von Mehrwert, wenn das Kapital durch die Produktion wächst, vermehrt wird, wenn es also „mehr wert“ ist, als es vorher war. Ein Verständnis dessen ist unerlässlich, denn das Kapital strebt einzig und allein danach, den eigenen Wert zu vergrößern. Alles andere ist zweitrangig.

Nach Marx bilden die menschliche Arbeit und die Natur die beiden Quellen jeden Reichtums. Aber nicht jede Arbeit schafft Wert oder Mehrwert. Mehrwertproduktion findet nur unter bestimmten, genauer unter kapitalistischen Verhältnissen statt.

Die Arbeitskraft wird durch die Einführung der Lohnarbeit im Kapitalismus zu einer Ware gemacht. Der Wert einer Ware entspricht dem Arbeitsaufwand, der zu ihrer Produktion notwendig ist. Auf dem Markt kauft das Kapital jedoch nicht die Arbeit, sondern die Arbeitskraft, das Arbeitsvermögen der Lohnabhängigen. Der Wert diese Ware wird, wie der Wert jeder anderen, durch ihre Reproduktionskosten bestimmt – also die Summe aller Waren, die zu ihrer Bildung, ihrem Erhalt und ihrer Reproduktion nötig sind.

Wurde die Arbeitskraft einmal gekauft, so gehört sie für die Zeit der Produktion dem Kapital, gerät zu seinem Bestandteil. Das Produkt gehört dem/r Kapitalist:in.

Im Produktionsprozess sind die Lohnabhängigen jedoch dazu in der Lage, mehr durch ihre Arbeit zu schaffen, als dem Wert der Ware Arbeitskraft entspricht. Der Wert, der zusätzlich geschaffen wird, ist der Mehrwert. Seine Aneignung durch das Kapital bezeichnet man im marxistischen Sinne als Ausbeutung.

Wenn jetzt in der gleichen Arbeitszeit noch mehr produziert werden soll oder der Lohn gekürzt wird, kann der Mehrwert sogar noch gesteigert werden. Als Marxist:innen ist es wichtig, uns die Verhältnisse der Menschen in der Produktion der Klassengesellschaft anzuschauen, um die materielle Grundlage von Ausbeutung und Unterdrückung zu erkennen und bekämpfen. Viele feministische Strömungen lassen dies außen vor und sehen den Kampf für die Befreiung der Frau unabhängig vom Klassenkampf.

Doch wozu sind diese Erkenntnisse und Einteilungen nun wichtig?

Die Reproduktions- ist mit der Produktionssphäre untrennbar verbunden, da sie die nötige Arbeitskraft aufrechterhält. Doch die Reproduktion schafft unmittelbar keinen Mehrwert. Das kapitalistische System baut aber auf der Mehrwertproduktion auf. Die Mehrwertproduktion ist das Ziel jeder Produktion und die Quelle des Reichtums für die Kapitalist:innen sowie der Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiter:innenklasse.

Ein Streik bei der Hausarbeit hat daher nicht den gleichen Effekt wie einer in der Produktionssphäre. Es wird dabei nicht zuerst das System, sondern werden die Arbeiter:innen selbst getroffen. Ein Streik in der Produktionssphäre hält die Mehrwertproduktion dagegen sofort an und trifft unmittelbar, sofort die Kapitalist:innen. Für die Befreiung der Frau benötigt es eine Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit und eine Produktion, die nicht länger auf eine Mehrwertsteigerung ausgerichtet ist, sondern auf die Bedürfnisse von Mensch und Natur.




Imperialismustheorie und Neokolonialismus

Markus Lehner, Revolutionärer Marxismus 53, November 2020

Ausgangspunkt der klassischen Imperialismustheorie war die Aufteilung der Welt unter große Kolonialimperien. Auch wenn sich diese als nicht so langlebig erwiesen wie von vielen erwartet, so war ihr Erscheinen ein wesentlicher Wendepunkt in der Globalgeschichte, der noch bis heute in Formen nachwirkt, die sich als „Neokolonialismus“ bezeichnen lassen. Die Analysen der Imperialismustheorie können daher mit gewissen Modifikationen in der Ära der postkolonialen Welt fortgeschrieben werden.

Kolonialismus und „Dekolonisation“

Der Imperialismus als System der politischen und ökonomischen Weltordnung des Kapitals hat eine lange Vorgeschichte, in der die von Anfang an im Begriff des Kapitals gegebene Weltmarktorientierung [i] zur materiellen Wirklichkeit wurde. Der Handelsimperialismus [ii], der seit der frühen Neuzeit die Grundlagen eines kapitalistischen Weltmarktes unter europäischer Dominanz schuf, hatte zuvor im Wesentlichen ein Netz von Handelsstützpunkten und Siedlerkolonien hervorgebracht. Die ersten großen Aktiengesellschaften, wie die niederländische und britische Ostindiengesellschaft, organisierten ihre präkolonialen Aktivitäten sogar in militärischen Fragen noch selbst. Umfangreicher werdende Geschäfte, Durchbrechen der Monopolstellung dieser Gesellschaften, wachsende Konkurrenz und Widerstände der Betroffenen auf der einen Seite und die Schaffung „moderner“ Staatsapparate im Zeitalter des Merkantilismus auf der anderen Seite führten zu einer wachsenden Rolle staatlicher Strukturen in der europäischen Kolonialpolitik des 18. Jahrhunderts. In den Siedlerkolonien des amerikanischen Kontinents löste der Versuch einer strikteren kolonialen Kontrolle (z. B. in Verwaltung und Steuerpolitik) heftigen Widerstand der dort bereits sich entwickelnden starken bürgerlichen Kräfte aus, der letztlich in die Unabhängigkeit der USA und der lateinamerikanischen Republiken (rund 50 Jahre später) führte [iii]. In Asien, wo die Kräfte der bürgerlichen Selbstständigkeit nicht so weit entwickelt waren, gelang den dort intervenierenden europäischen Großmächten jedoch die Umwandlung von Handelsdominanz in direkte koloniale Kontrolle. Im Lauf des 19. Jahrhunderts zwang die Dynamik der Kapitalakkumulation im Rahmen der Entstehung eines industriellen Kapitalismus und der Konkurrenz auf dem Weltmarkt die großen Kapitale zu einer Form der direkteren Kontrolle ihrer Absatz- und Rohstoffmärkte in Form von „Kolonialreichen“, die ihren Höhepunkt in der Aufteilung Afrikas fand. Gleichzeitig wurden formal unabhängige Regionen, wie Lateinamerika oder Ostasien, dort in der Gestalt des „Freihandelsimperialismus“ [iv] in dieses System der Aufteilung der Welt eingegliedert und seit Mitte des 19. Jahrhunderts de facto zu „Halbkolonien“. Den USA gelang es, durch ihre starke eigenständige kapitalistische Entwicklung gegen Ende des Jahrhunderts aufzuschließen und sich am bröckelnden kolonialen Erbe Spaniens zu bedienen (Philippinen, Kuba) bzw. Großbritannien in der halbkolonialen Dominanz Lateinamerikas abzulösen.

Im 19. Jahrhundert brachte also eine kleine Zahl europäischer Staaten (später gefolgt von den USA) den Rest der Welt in geradezu „lachhaft leichter Weise“ [v] unter ihre Kontrolle. Sofern sie die anderen Länder nicht unmittelbar besetzten und beherrschten, garantierten ihre ökonomischen, technischen und militärischen Möglichkeiten eine unangefochtene Vormachtstellung. Große alte Kulturregionen wie Indien wurden zu Anhängseln eines kleinen nordatlantischen Inselstaates, so wie China als ältestes Reich Asiens zu einem Spielball europäischer Mächte verkam. Nur im äußersten Nordwesten des Pazifiks gelang es mit Japan, einer Region sich der imperialistischen Expansion „des Westens“ entgegenzusetzen und eine eigenständige kapitalistische Entwicklung einzuschlagen. Aber selbst diese Ausnahme bestätigte die anscheinende Überlegenheit des westlichen „Entwicklungsmodells“ und einer „Modernisierung“ auf der Grundlage von Kapital, westlicher Wissenschaft und staatlicher Organisation. Später wirkte sogar die bürokratisch degenerierte Sowjetunion in der kolonialen Welt wie ein alternatives Vorbild staatlich dominierter Modernisierungspolitik zwecks „nachholender Entwicklung“.

Die Entwicklungen vom Beginn des Ersten bis Ende des Zweiten Weltkriegs veränderten die Bedingungen dieses Kolonialimperialismus wesentlich. Ähnlich wie im Fall von Lateinamerika während und nach den napoleonischen Kriegen bedeutete die Schwächung der zentralen Kolonialmächte im Rahmen der Weltkriege ein Fenster für mehr ökonomische und politische Eigenentwicklung. Zudem boten der Aufstieg der USA und die Stabilisierung der Sowjetunion Perspektiven für eine Überwindung der europäischen Kolonialreiche, indem von dort Unterstützung für neue, „unabhängige“ Staaten erwartet wurde. Letztlich waren Ereignisse, wie die Weltwirtschaftskrise nach 1929, wesentliche Einschnitte: Bis dahin hatten die Kolonialregime zumindest für stabile Wachstumsraten gesorgt, durch die zumindest die Eliten in den Kolonialländern gesicherte Vermögen aufbauen konnten. Kriegskonjunkturen und Weltwirtschaftskrise führten dazu, dass in den Kolonialländern die Autonomie- und Unabhängigkeitsbewegungen speziell ab den 1930er Jahren immer mehr Auftrieb bekamen. Der Zusammenbruch des Goldwährungssystems und der von Britannien dominierten Welthandelsordnung führte schließlich dazu, dass auch die führenden Kolonialmächte mit einem Ende des alten Kolonialregimes rechnen mussten. Dass dies kein friedlicher und an der eigenständigen Entwicklung der ehemaligen Kolonien interessierter Prozess werden würde, ist klar. Wenn man die Kolonien schon nicht halten konnte, so wurden genug Vorkehrungen getroffen, damit der globale Norden unter der neuen US-amerikanischen Führung die Verhältnisse in den neuen Ländern wesentlich mitbestimmt, insbesondere was die „Offenheit der Märkte“ betrifft. Wie man an der belgischen Börse angesichts der Unabhängigkeit des Kongos bemerkte: „Wir gehen, um zu bleiben“ [vi].

Mit dem zweiten Weltkrieg hatten die USA Großbritannien als Hegemon unter den kapitalistischen Mächten abgelöst, während Frankreich und Britannien weiterhin riesige Kolonialreiche unter immer größeren Kosten aufrechterhielten. Noch 1943 hatte die US-Regierung für die Nachkriegszeit eine rasche Dekolonisation angekündigt und dafür ein „Treuhandschaftsprogramm“ entworfen [vii]. Dabei sollten die damals geplanten „Vereinten Nationen“ die Treuhandschaft über die Kolonien übernehmen und diese letztlich auch über den Zeitpunkt der vollständigen Unabhängigkeit entscheiden. Im Gefolge des Siegs im Pazifikkrieg hintertrieben die USA selbst rasch diese Perspektive, indem sie den Pazifik in eine US-kontrollierte Zone mit Militärstützpunkten und abhängigen Regierungen verwandelten. Im Gefolge des sich entwickelnden Kalten Krieges schwächten die USA schnell ihr Dekolonisationsprogramm ab. Nur die ehemaligen Völkerbundmandate endeten im Treuhandprogramm (mit „Erfolgen“ wie in der Palästina-Frage sichtbar). Für die restlichen Kolonien wurde „Selbstverwaltung“, nicht Unabhängigkeit zum Ziel erklärt – wobei der Prozess zur Entwicklung der Selbstverwaltung den Kolonialmächten selbst überlassen wurde! Somit wurde ein langwieriger Prozess zumeist gewaltsamer Konflikte in Gang gesetzt, der die UNO bloß zur Bühne des Interessenausgleichs zwischen den Großmächten machte. Algerien, Südkorea, Indochina waren die Spitze dieses äußerst blutigen Prozesses, in dem die alten Kolonialmächte ihre Privilegien mit Zähnen und Klauen verteidigten, während die USA (wie in der Suez-Krise und Vietnam deutlich zu sehen), politisch-militärisch längst ihre Stelle eingenommen hatten. Eine „Unabhängigkeit“, die unter diesen Bedingungen erworben wurde, war von vornherein ein schlechter Ausgangspunkt.

Der Prozess der „Dekolonisation“ änderte jedenfalls zwischen 1945 und Anfang der 1960er Jahre die politische Landkarte des Globus dramatisch. Die Zahl der unabhängigen Staaten in Asien verfünffachte sich, in Afrika stieg sie von gerade einem auf ungefähr 50. Dazu kamen noch mehrere in Lateinamerika und der Karibik, zusätzlich zu den „unabhängigen“ Republiken aus Bolivars Zeiten. Einerseits hatte sich damit die europäische Form staatlicher Organisierung in Form des „Nationalstaates“ global durchgesetzt – mitsamt den damit verbundenen „Nationalitätenkonflikten“. Andererseits führten der Aufbau moderner Gesundheitssysteme und die ersten Phasen der Unabhängigkeitskonjunkturen zu einer Verschiebung der globalen Demographie: Im Zeitalter der Industrialisierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es Europa, das eine Bevölkerungsexplosion im Vergleich zum Rest der Welt aufwies (von 20 % der Weltbevölkerung 1750 auf etwa ein Drittel um 1900); im Zeitalter der Dekolonisation verschob sich das Epizentrum der Bevölkerungsexplosion nach Asien und Afrika – Ende der 1980er Jahre lebten in den „entwickelten“ OECD-Staaten nur noch 15 % der Weltbevölkerung.

Trotz dieser quantitativen Verschiebung, was Zahl der Staaten und der Bevölkerung betraf, änderte sich an den ökonomischen Verhältnissen während des „großen Booms“ der Nachkriegszeit zunächst wenig. Noch 1960 (und heute unvorstellbar) produzierten die industriellen Kernzentren in Westeuropa und Nordamerika über 70 % des globalen realen Sozialprodukts und 80 % des industriellen Mehrwerts. Die neuen „unabhängigen“ Staaten wurden wie zu Zeiten des Kolonialismus weiterhin auf ihre Rolle als Rohstofflieferanten, Agrarländer und Absatzmärkte reduziert, was sich durch mehrere gescheiterte Projekte zum Aufbau eigenständiger Industrien in vielen dieser Länder noch verstärkte – das Industriemonopol des „Westens“ schien sich sogar noch zu verstärken. Nicht zuletzt deswegen erschien der Weg der Sowjetunion oder Chinas für eine wachsende Zahl politischer Kräfte in der postkolonialen Welt seit den 1960er Jahren, insbesondere im Gefolge der kubanischen Revolution, als einziger Ausweg aus der „Unterentwicklungsfalle“ der neuen, durch die USA bestimmten Weltwirtschaftsordnung.

Dabei ist das weiterbestehende Ungleichgewicht auf den Weltmärkten nur eine der Folgen des ungerechten Dekolonisationsprozesses. Die staatlichen Strukturen und Verwaltungen wurden wesentlich von den Kolonialmächten übernommen, mitsamt geringen Mitteln für soziale Sicherung, Bildung, Gesundheit, Renten, etc., aber genug für Militär und Korruption. Dazu kamen nicht gelöste nationale Konflikte, gut genutzt als Herrschaftsmittel der KolonialherrInnen, nun Mittel zum Aufbau neuer Unterdrückungsapparate. Dazu kam eine Klassenstruktur mit mehr oder weniger schwacher Bourgeoisie (entsprechend dem Grad der Kapitalentwicklung außerhalb des staatlichen Sektors) und geringer Entwicklung eines qualifizierten Industrieproletariats. Darüber hinaus wurden die internationalen Institutionen von der UNO bis zur Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds nicht die versprochenen Fördererinnen der Entwicklung der neuen unabhängigen Staaten. Vielmehr sind sie Sicherungsorgane der internationalen Ordnung im Interesse der großen Mächte und der mit ihnen verbundenen Kapitalgruppen. Militärisch gesehen zogen die alten Kolonialmächte zwar ab – dafür aber wird die Welt von einem Netz von Stützpunkten der USA (und ihrer Verbündeten) überzogen, von überall einsetzbaren Flottenverbänden und Einsatzkräften genutzt, die immer wieder letztlich für die Aufrechterhaltung der imperialen Ordnung sorgen. Diese Weltordnung, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nunmehr alleinig von den USA dominiert wird, ist zwar kein unmittelbares Kolonialreich mehr – es kann aber nur als neokolonialistischer Imperialismus bezeichnet werden.

Theorie der „abhängigen Entwicklung“

Theoretisch gesehen stellte sich die Frage, ob Lenins Imperialismustheorie, die auf die Kritik des Kolonialsystems bezogen war, für das Zeitalter der Dekolonisation noch ausreichend ist. Insbesondere zur Erklärung der wachsenden Kluft der dekolonisierten Welt zu den herrschenden „Industrienationen“ entstand, zunächst vor allem in den Amerikas, eine ökonomische Theorie der „Dependenz“, von nachkolonialer Entwicklung als einer vor allem von Abhängigkeit (aufgrund des spanischen Originals oft auch als Dependencia-Theorie bezeichnet). Diese Strömung in den ökonomischen Wissenschaften umfasste sowohl marxistische AutorInnen, wie André Gunder Frank, wie auch ÖkonomInnen, die in bürgerlichen Institutionen tätig waren (wie der argentinische UN-Ökonom Raúl Prebisch oder der spätere brasilianische Staatspräsident Cardoso).

Ein wichtiger Ausgangspunkt war das Prebisch-Singer-Theorem. Die beiden Ökonomen waren nach 1945 wichtige ökonomische Berater der UN-Institutionen, die für Lateinamerika und Afrika die internationalen „Entwicklungsprojekte“ koordinierten bzw. in den wissenschaftlichen Debatten dazu eine wichtige Rolle spielten [viii]. Das Prebisch-Singer-Theorem geht von einer Unterscheidung von „Industrienationen“ und „Entwicklungsländern“ aus und untersucht statistisch die Veränderung der Außenhandelsbeziehungen zwischen diesen beiden Blöcken in Form der „Terms of Trade“ (ToT), der realen Austauschverhältnisse. Dabei werden die Preise von Export- und Importgütern (nach Währungsumrechnung) im Verhältnis zur Masse des Warenaustausches gesetzt – also wird z. B. berechnet, wieviel Tonnen Kaffee ein Entwicklungsland im Austausch zum Import eines Autos aus einem Industrieland exportieren muss. Die These, zu der die beiden Ökonomen kamen, war, dass sich auf lange Sicht die ToT von Entwicklungsländern systematisch verschlechtern. Diese These widerspricht fundamental einem der wichtigsten Theoreme der klassischen politischen Ökonomie und Freihandelstheorie, dem von den „komparativen Kostenvorteilen“ David Ricardos. Danach müsste die Öffnung des Handels zwischen zwei Staaten (oder Blöcken) zu einer internationalen Arbeitsteilung führen, von der beide profitieren, indem sich beide jeweils auf das Gebiet konzentrieren, dass sie am besten beherrschen. Dagegen bedeutet die kontinuierliche Verschlechterung der ToT, dass die Entwicklungsländer immer mehr von ihren Produkten, z. B. mehr Tonnen Kaffee, exportieren müssen, um die gleiche Menge an Industrieprodukten, z. B. Anzahl von Autos, importieren zu können. Dies bedeutet, dass sie immer mehr ihrer Arbeitskräfte und natürlichen Ressourcen einsetzen müssen, um ihre Entwicklung vorantreiben zu können. Die internationale Arbeitsteilung durch ihre Öffnung zum Weltmarkt wird für sie daher zum Hemmnis, nicht zum Antrieb ihrer Entwicklung.

Die Prebisch-Singer-These kennt in ihren Begründungszusammenhängen zwei Versionen. Einerseits was die Gütermärkte betrifft: Peripherieländer sind vor allem von Primärgütermärkten abhängig. Diese sind von der Nachfrageseite her „unelastischer“ als die Industriegütermärkte, so dass mit wachsenden Einkommen die Nachfrage nach Primärgütern hinter derjenigen nach Industriegütern hinterherhinkt. Andererseits ist in Bezug auf die Angebotsseite die Konkurrenz unter Primärgüter-LieferantInnen vielfach größer als in der mehr monopolisierten Industriegüterproduktion. Preiserhöhungen sind im letzteren Sektor also viel leichter durchzusetzen. Zudem führen Produktivitätsfortschritte zu einer relativen Absenkung der Nachfrage nach Rohstoffen, während Industrieprodukte sogar in größerer Zahl angeboten und nachgefragt werden können (bessere Qualität, neue Produktsparten).

In ihrer zweiten Version bezieht sich die These auf die „Faktormärkte“ Kapital und Arbeit: Sinkendes Volumen des Primärsektors und geringe andere Arbeitsmöglichkeiten (aufgrund des niedrigeren Grades an Industrialisierung) führen zu einem Arbeitskräfteüberangebot, das zu einem langfristig niedrigen Lohnniveau führt. Gleichzeitig wird so das periphere Kapital in Niedriglohnsektoren und Primärgüterbereiche gedrängt oder findet in den Industrieländern profitablere Anlage als in einheimischer höherwertiger Produktion. Auch damit kommt es zu einer langfristig schlechteren Entwicklung der Exportpreise der Peripherieländer gegenüber den Importpreisen, also zu einer Verschlechterung der ToT.

Die Konsequenzen der „Entwicklungsökonomen“ aus diesen Zusammenhängen liegen damit auf der Hand:

Die Peripherieländer müssen eine bewusste, staatlich gesteuerte Industrialisierungspolitik betreiben, die einerseits auf den Export ausgerichtet ist, andererseits Importe aus den Industrieländern durch einheimische Produkte ersetzt. Diese Politik muss einerseits durch protektionistische Maßnahmen (Zölle, Einfuhrbeschränkungen, Subventionen, Steuerpolitik etc.) unterstützt werden. In bestimmten Sektoren wurde auch eine Verstaatlichung für notwendig angesehen (z. B. in der Ölindustrie). Andererseits wurde auf „internationale Institutionen“, wie die UNO und die Weltbank, gehofft, um die nötige Anschubfinanzierung in Form von günstigen Krediten zu leisten, einer Art Marschallplan für die dekolonialisierte Welt.

Dieses Programm erwies sich schon in den 1960er Jahren, spätestens aber seit der Weltwirtschaftskrise Mitte der 1970er Jahre als illusorisch. Ein solches Programm stieß auf entschiedenen Widerstand der US-geführten Industrienationen. Protektionismus oder gar Nationalisierungen wurden mit harten Gegenmaßnahmen beantwortet (man denke an den Wirtschaftskrieg gegen den Iran in den 1950er Jahren, als dieser seine Erdölindustrie nationalisierte, gefolgt vom Sturz der Mossadegh-Regierung durch US-Intervention). Und natürlich wurde Kreditvergabe an die weitere „Öffnung“ der Märkte gebunden. Das führte letztlich dazu, dass die Industrialisierungspolitik der Nachkriegsperiode in den Peripherieländern zu einer extremen Verschuldung führte, ohne dass konkurrenzfähige Industrien entstanden waren. Mit der weltweiten Rezession nach 1974 und der ausbrechenden „Schuldenkrise“ in den meisten Peripherieländern musste dann umso mehr unter schlechten Bedingungen für den Export gearbeitet werden, um die Entschuldungspläne der „internationalen Institutionen“ zu erfüllen. Was von den aufgebauten Industrien bzw. der entsprechenden IndustriearbeiterInnenschaft übrig blieb, wurde so wiederum zu einem für die Konzerne des Nordens billig aufkaufbaren Element für die internationalen Produktionsketten, die danach aufgebaut wurden. So hatte sich auch die „Industrialisierungspolitik“ letztlich für die Peripherieländer als Falle erwiesen.

Abgesehen von dieser Kritik an den wirtschaftspolitischen Konsequenzen der Grundthesen der „Entwicklungsökonomie“ gab es schon in Bezug auf die Prebisch-Singer-These selbst eine langwierige Diskussion. Neoliberale ÖkonomInnen leugneten bzw. leugnen bis heute die Tatsache einer Tendenz zur Verschlechterung der ToT für periphere Länder. Dies wurde im Wesentlichen als „lateinamerikanische Häresie“ an der Ricardo’schen Lehre angesehen, die man durch einige Modifikationen in die neue Epoche zu retten suchte. Tatsächlich gab es einige Mängel in der statistischen Methode von Prebisch und Singer (nicht zuletzt waren die Welthandelsstatistiken für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bei weitem nicht so genau wie heute). Sicherlich war auch die Vereinfachung – Entwicklungsländer = Primärsektor / entwickelte Länder = Industriesektor – eine Verzerrung der Realität. Tatsächlich ging es aber um eine Tendenz, die Länder, die auf bestimmte Gütermärkte angewiesen sind, gegenüber anderen Ländern benachteiligen. Noch dazu gibt die zweite Version der Prebisch-Singer-These, die sich auf die Faktormärkte bezieht, auch die Möglichkeit, industrialisierte Peripherieländer in die ToT-Berechnung mit einzubeziehen – hier geht es dann um den Vergleich von Industrieproduktion in unterschiedlichen Stufen der Wertschöpfungskette (von Hochtechnologieprodukten bis herunter zu Teilezulieferung).

In einem Aufsatz [ix] von Ocampo und Parra (beides aus Kolumbien stammende ÖkonomInnen, die in jüngerer Zeit die UN-Posten von Prebisch und Singer einnahmen) wird die jahrzehntelange Debatte um die These ausführlich zusammengefasst. Erstaunlich ist insbesondere, dass die meisten statistischen Untersuchungen über längere Zeiträume im 20. Jahrhundert die These weitgehend bestätigt haben (Ocampo/Parra diskutieren 25 dieser Studien). Dies trifft auch auf eine großangelegte Studie zu, die ausgerechnet von der Weltbank (die ja gleichzeitig eine Politik der Handelsöffnung betreibt) initiiert wurde, und mit den Statistiken dieser Institution arbeitete. Diese Studie von Grilli/Yang hat Zeitreihen von 24 Weltmarktgütern und 7 darauf basierenden Marktindizes aufgestellt und dabei festgestellt, dass es zwischen 1900 und 1986 zu einer jährlichen durchschnittlichen Verschlechterung von 0,6 % der ToT zwischen Peripherie- und Zentrumsländern kam.

Ocampo/Parra stellen aber zu Recht fest, dass diese Verschlechterung der ToT keineswegs so linear erfolgt, wie dies die Prebisch-Singer-These erwarten ließe. Vielmehr gibt es bestimmte „Wendepunkte“, an denen diese generelle Tendenz hervortritt und für längere Zeit zu einer solchen Verschlechterung führt, um dann wieder für eine Periode „ausgesetzt“ zu sein. Dies wird an der Aggregation von Preisindizes zu den Austauschverhältnissen zwischen „entwickelten“ und „peripheren“ Ökonomien gezeigt (Abbildung 1). Hier wird einerseits deutlich, dass die Austauschverhältnisse bis zum Ersten Weltkrieg durchaus günstig waren, vor allem durch die Fortschritte im Transportsektor. Dies ist sicherlich mit einer der Gründe, warum sich bis dahin direkter Kolonialismus zur Sicherung von Handelsüberschüssen lohnte bzw. Teile Lateinamerikas auf dem aufsteigenden Ast zu sein schienen. Mit dem Ersten Weltkrieg, der sowohl einen weltwirtschaftlichen Niedergang, Währungskrisen und Rohstoff sparende Produktivitätsfortschritte nach sich zog, sehen wir den ersten langfristigen Bruch in den Austauschverhältnissen. Offensichtlich war der Zweite Weltkrieg bis hin zum „Korea-Boom“ (Ende des Korea-Kriegs) mit Hoffnungen auf Verbesserungen in den Bedingungen auf dem Weltmarkt für die „dekolonialisierte“ Welt verbunden. Dagegen folgte aber während des sogenannten „Nachkriegsbooms“ für die periphere Welt eine langwierige Stagnation, gefolgt vom nächsten strukturellen Bruch: Mit der Verschuldungskrise der 1980er Jahre fielen die Austauschverhältnisse nochmals auf ein längerfristig niedrigeres Niveau. Interessant ist, dass sich Ähnliches auch von den industriellen Sektoren in den peripheren Ländern sagen lässt. Die Abbildung zeigt ab den 1980er Jahren das Verhältnis von Preisen in der verarbeitenden Industrie in den beiden Hemisphären, das sich parallel mit dem für die Gütermärkte ebenso zu Lasten der peripheren Seite verschlechterte – ein deutliches Zeichen dafür, dass die wachsenden Industriesektoren dort Auslagerungen in den untergeordneten Bereichen der internationalen Produktionsketten darstellen. Schließlich mach sich Ende der 1990er Jahre eine Stabilisierung der Gütermärkte durch den Aufstieg der chinesischen Ökonomie bemerkbar. Die statistischen Daten für die Periode, die der großen Rezession von 2009 gefolgt ist, deuten jedoch auf einen neuerlichen strukturellen Bruch hin, der viele der peripheren Länder unter starken ökonomischen Druck gesetzt hat.

Abbildung 1 Relative Preisindizes auf dem Weltmarkt

Die Prebisch-Singer-These bleibt also empirisch relevant auch in einer Periode, in der die peripheren Ökonomien nicht mehr einfach auf das Etikett „Rohstofflieferantinnen“ reduziert werden können. Dabei muss betont werden, dass trotz „Tigerstaaten“ und Aufstieg der „Newly Industrialized Countries“ (NICs) für einen großen Teil der peripheren Welt der Export von Rohstoffen und natürlichen Ressourcen weiterhin wesentlich ist: Ostasien ausgenommen, machen für Südostasien, Lateinamerika, Nordafrika und den Nahen Osten diese weiterhin 40 % ihres Exports aus, während es für das subsaharische Afrika und die „Least Developed Countries“ (LDC) sogar noch über 50 % sind. Mit der Ausnahme Chinas und Südkoreas fallen jedoch auch die meisten in der Globalisierungsperiode geschaffenen Industriesektoren in der peripheren Welt in die Kategorie der oben dargestellten ungünstigen Austauschverhältnisse.

Tatsächlich aber bleibt das Prebisch-Singer-Theorem auch in seinen Erklärungsversuchen an der Oberfläche der (Welt-)Marktbewegungen haften, ohne auf die Wurzeln der abhängigen Entwicklung auf der Grundlage einer Kapitalismusanalyse einzugehen. Dies versuchten die linken VertreterInnen der Dependenztheorie, insbesondere durch einen Bezug auf eine Theorie des „Monopolkapitalismus“. Diese soll deshalb als Nächstes behandelt werden.

„Monopolkapitalismus“ und die „Entwicklung von Unterentwicklung“

Im Jahr 1965 erschien in der legendären „Monthly Review“[x] das Buch „Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika“[xi] von André Gunder Frank. Frank war, wie er im Vorwort selbst schreibt, als Sohn einer US-Mittelstandsfamilie und Doktorand bei dem erzliberalen Milton Friedman, in ökonomischer Beraterfunktion Anfang der 1960er Jahre nach Afrika und Lateinamerika gekommen. Dort bemerkte er schnell die Funktion dieser „Beratertätigkeit“ und das Ungenügen von Erklärungen der Entwicklungsprobleme über „vormoderne“ Investitions- und Mentalitätshemmnisse, die mit Liberalisierung (insbesondere in Bezug auf den Außenhandel) und „Bildungspolitik“ zu überwinden seien. Erkennend, dass weder die weltwirtschaftlichen Institutionen noch die einheimische Bourgeoisie in der Lage waren, die systematische Benachteiligung dieser Länder zu überwinden, kam er zu dem Schluss: „Die historische Aufgabe der Bourgeoisie in Lateinamerika – die darin bestand, die Unterentwicklung ihrer Gesellschaft und ihrer eigenen Lage zu fördern und zu überwachen – diese Rolle ist ausgespielt. In Lateinamerika wie auch sonst wo ist nun die Rolle der geschichtstreibenden Kraft den Massen des Volkes selbst zugefallen“ [xii]. Um eine politisch wirksame Theorie der Unterentwicklung aufzustellen, meint Frank, „musste ich meine liberalen Lebensformen und meine Metropolenumgebung aufgeben und in die unterentwickelten Länder gehen. Dort nur konnte ich die tatsächliche politische Wissenschaft und politische Ökonomie im klassisch vorliberalen und marxistisch postliberalen Sinn begreifen lernen“ [xiii].

Zentraler Ausgangspunkt für Franks These von der „Entwicklung der Unterentwicklung“ sind die weltweiten Strukturen des Monopolkapitalismus. Dies wird schon aus den Erklärungsmustern der Prebisch-Singer-These verständlich: Wenn die Austauschverhältnisse zwischen den Metropolen und der Peripherie durch die ungünstige Branchenstruktur in letzteren gegenüber ersteren derart nachteilig sind, was verhindert die Veränderung dieser Struktur? Eine Erklärung ist die zähe Verteidigung dieser Strukturen durch die großen wirtschaftlichen Konglomerate in den Metropolen, mitsamt deren Satelliten in den untergeordneten Ländern [xiv] (hier am Beispiel von Chile): „Wie wettbewerbsorientiert die Wirtschaftsstruktur in den Metropolen in allen ihren Entwicklungsstadien auch gewesen sein mag, so war doch die Struktur des weltkapitalistischen Systems als Ganzes, während der ganzen Geschichte der kapitalistischen Entwicklung in höchstem Grad monopolistisch. Deshalb hat das externe Monopolwesen immer zur Enteignung … eines bedeutenden Teils des in Chile produzierten Surplus geführt … Die kapitalistische Monopolstruktur … durchdringt die gesamte chilenische Wirtschaft der Vergangenheit und der Gegenwart. Gerade diese ausbeuterische Beziehung ist es, die kettengleich den kapitalistischen Konnex zwischen der kapitalistischen Welt und den nationalen Metropolen bis zu den regionalen Zentren (dessen Surplus sie sich teilweise aneignen) ausdehnen, und von denen weiter zu den lokalen Zentren, und so fort bis zu den Landbesitzern oder Kaufleuten, die den Surplus von den kleinen Bauern/Bäuerinnen und PächterInnen aneignen, manchmal bis hin zu den landlosen Arbeitern, die wiederum von letzteren ausgebeutet werden. Auf jeder Stufe üben relativ wenige Kapitalisten Monopolgewalt über viele unter sich aus … So bringt an jedem Skalenpunkt das internationale, nationale und lokale kapitalistische System die wirtschaftliche Entwicklung für wenige und die Unterentwicklung für viele mit sich“ [xv].

Neu an Franks Theorie ist erstens die Behauptung, dass Kapitalismus in der (post)kolonialen Welt immer schon stärker von monopolistischen Strukturen gekennzeichnet war. Zweitens, dass das kapitalistische Weltsystem durch eine kettengleiche Hierarchie von Zentrum und Peripherie (mit mehreren Zwischenstufen) gekennzeichnet ist, in der ein Werttransfer zur jeweils höheren Stufe stattfindet, erzwungen durch die jeweiligen monopolistischen Strukturen und ihre Beziehung aufeinander. Drittens, dass dies in den untergeordneten Stufen dieser Hierarchie zu einer systematischen Unterentwicklung führt, die die Entwicklung der übergeordneten Struktur befördert (daher ist es laut Frank auch die Bourgeoisie in der Peripherie, die die „Unterentwicklung fördert und überwacht“, da sie genau dafür ihren Teil am Surplus im Gesamtsystem bekommt).

Zentrale Schwäche in Franks Analyse ist der Mangel an einer werttheoretischen (also auf der Analyse der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse beruhenden) Begründung dieser Zusammenhänge, die rein auf der Verteilungsebene zwischen „Monopolen“ beschrieben werden. Dabei bleibt der Monopolbegriff selbst schwammig. Allerdings beruft sich Frank hier explizit und häufig auf seinen Lehrer Paul Baran, dessen Theorie des „Monopolkapitalismus“ er dabei unverändert übernimmt. Da diese eine wesentliche Revision der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie und der klassischen Imperialismustheorie darstellt, muss sie jetzt an dieser Stelle behandelt werden.

Baran/Sweezy

Paul Baran war einer der wenigen marxistischen WirtschaftstheoretikerInnen, die es in den 1950er Jahren schafften, ihre akademische Funktion zu behalten, in seinem Fall als Professor an der Stanford University. Schon Anfang der 1950er Jahre entwickelte Baran eine Theorie der Unterentwicklung, die Analysen wie die von Prebisch mit der Monopoltheorie in Verbindung brachten [xvi]. In systematischer Form wurde diese Theorie in seinem Buch „The Political Economy of Growth“ von 1957 entwickelt, dass entscheidenden Einfluss auf AutorInnen wie Frank hatte. Zusammengefasst und popularisiert wurde seine Theorie letztlich in dem gemeinsam mit Paul Sweezy geschriebenen Buch „Das Monopolkapital“ [xvii], das in der 68er-Bewegung zu so etwas wie die allgemeine „Ökonomie-Bibel“ wurde [xviii].

In der Einleitung gehen Baran/Sweezy von einer Krise der marxistischen Analyse aus, die die „moderne Überflussgesellschaft“ und die Integration der ArbeiterInnen in den USA des Nachkriegsbooms nicht hinreichend erklären könne. Sie sehen den Grund dafür darin, dass man im Wesentlichen Marx nur zitiere, der den Kapitalismus und seine Bewegungsgesetze in einer ganz anderen Epoche analysiert habe. Hilferding und Lenin haben zwar mit dem Finanzkapital- und Imperialismusbegriff Korrekturen angebracht, ohne jedoch die grundlegend neuen Bewegungsmuster, vor allem was die langfristigen Akkumulationsgesetze wie die Tendenz zur Krise, betrifft. „Wir halten es an der Zeit, mit dieser Situation aufzuräumen, und zwar rücksichtslos und radikal“ [xix]. Während Marx aus dem Konkurrenzkampf der Kapitale eine Tendenz zum Fall der Profitrate, zur periodischen Entstehung großer Arbeitslosenheere und zu Zusammenbruchskrisen abgeleitet habe, würde dies so für das Zeitalter des Monopolkapitals nicht mehr gelten.

Das Monopolkapital wird nicht mehr durch die Preisbewegungen auf den Märkten bestimmt, sondern diktiert die Preise auf den Märkten in seinem Interesse. Daraus würden aber neue Widersprüche erwachsen: Baran/Sweezy ersetzen Marx‘ Mehrwertbegriff (der sich auf Gewinneinkommen wie Profit, Rente und Zins beziehen würde) durch den „Surplus“ (den sie als Überschuss der gesellschaftlichen Produktion gegenüber den Produktionskosten definieren). Das Grundgesetz des Monopolkapitalismus sei nicht mehr der Fall der Profitrate, sondern eine Tendenz zur ständigen Steigerung des Surplus (durch die monopolkapitalistisch kontrollierte beständige Erhöhung der Arbeitsproduktivität). Da gleichzeitig die Profite einen schrumpfenden Teil dieses Surplus ausmachten, bestehe eine Tendenz zur Stagnation. Es entstünde der Wiederspruch zwischen dem tatsächlich realisierten und dem potentiell möglichen Surplus. Das Wachstum des Monopolkapitals hat unter den Bedingungen der Monopolpreise ein ständiges Problem mit der „effektiven Nachfrage“, was zu einem permanenten Kampf um die Realisierung des Surplus führe. Die Folge wären eine ungeheure Ausdehnung unproduktiver Arbeit, von Werbe- und Vertriebsmechanismen, der Rüstungsindustrie und der Staatstätigkeit.

Baran/Sweezy betonen an mehreren Stellen die wesentliche Rolle der Hierarchie von Ländern im System der Enteignung/Aneignung von Surplus. Darauf bezieht sich Frank wesentlich, wenn er in der monopolistischen Struktur der Weltwirtschaft den Hauptgrund für die Unterentwicklung in der Peripherie sieht: Die Aneignung von Surplus aus der Peripherie ist den Realisierungsbedingungen der großen zentralen Monopole untergeordnet. Von daher ist der Widerspruch von tatsächlicher und potentieller Surplusproduktion in der Peripherie besonders ausgeprägt. Frank zeigt an der Wirtschaftsgeschichte Chiles, wie an verschiedenen Punkten (z. B. dem Salpeterboom) eine eigenständige Industrialisierungsdynamik hätte entstehen können, deren Potential jedoch durch die monopolitischen Interessen systematisch unterbunden wurde. „Deshalb kann man essentiell die Nichtrealisierbarkeit und das Nicht-zur-Verfügung-Stehen von ‚potentiellem‘ wirtschaftlichem Surplus für Investitionszwecke der Monopolstruktur des Kapitalismus zuschreiben“ [xx]. Die Konsequenz für die Peripherie ist daher immer schon eine stagnative Gesamtentwicklung bei gleichzeitiger Konzentration auf die Entwicklung derjenigen Sektoren, die für die Surplusrealisierung der übergeordneten Metropolenökonomien wichtig sind.

„Monopolkapitalismus“ versus marxistische Krisentheorie

Das Erscheinen von Baran/Sweezys Revision der Marx‘schen Kapitaltheorie blieb nicht ohne Kritik von Seiten „orthodoxer“ MarxistInnen wie etwa Ernest Mandel oder Robert Brenner. Eine der treffendsten und brillantesten Kritiken jedoch ist Paul Matticks [xxi] „Marxismus und ‚Monopolkapital‘“, die 1967 erschien [xxii]. Matticks Kritik, die zugleich eine Verteidigung einer werttheoretisch begründeten Krisen- und Klassenkampftheorie ist, kann stellvertretend für eine immer klarer werdende Auseinanderentwicklung im „Neomarxismus“ nach 1968 gesehen werden: einerseits Baran/Sweezy, wo die Behauptung, dass die von Marx im „Kapital“ entwickelte Analyse für den „Spätkapitalismus“ nicht mehr gelte, dazu führt, diese durch eine Variante des Neo-Keynesianismus in der Ökonomie und von Subalterne-Theorien in der Klassenanalyse zu ersetzen; andererseits Mattick, wo eine sehr viel strengere Ableitung marxistischer Krisen- und Klassentheorie aus den zugrundeliegenden Analysen von Wertbestimmungen zu einer methodisch sehr viel anspruchsvolleren Rekonstruktion der Marx’schen Krisentheorie führte. Während die „Spätkapitalismus“-Theorien im akademischen Marxismus immer mehr dominierten, waren „Wertkritik“ und „fundamentalistischer“ Rückbezug auf die Marx’sche Krisentheorie Ausgangspunkt für eine Wiederaneignung der Kritik der politischen Ökonomie für einige Organisationen der radikalen Linken – auch in unserer Theorietradition.

Die Auseinandersetzung zwischen Baran/Sweezy und Mattick geht aus von der Frage einer marxistischen Bestimmung des Monopolbegriffs. Baran/Sweezy formulieren diesen Begriff im Sinne der bürgerlichen politischen Ökonomie als reine Marktdominanz, d. h. durch Elemente wie Marktbeherrschung oder der Möglichkeit des Monopols, die Preise für ihre Produkte zu diktieren. Dies würde die Preisbestimmung vom Wert lösen und damit Grundkategorien wie Einkommen, Gewinne und effektive Nachfrage von den Wertbildungsprozessen in der Produktion immer mehr ablösen. Mattick dagegen betont, dass der Ausgangspunkt bei Marx die Analyse der Wertakkumulation des Gesamtkapitals ist, ganz gleich wie dieses in den Marktsegmenten in mehr oder weniger konkurrierende Teile zerfällt. Solange das Kapital-Lohnarbeitsverhältnis [xxiii] besteht, wird die Akkumulation des Gesamtkapitals durch die Bestrebung zur Ersparung von Arbeit, durch den Zwang zur Produktivitätssteigerung geprägt, der die Dynamik der Wertbestimmung in Gang setzt. Die Umverteilung des Mehrwerts zu Gunsten der jeweils produktivsten Kapitale verändert immer wieder die an der Oberfläche des Marktes scheinbar feststehenden Relationen zwischen den Kapitalen und macht so auch jedes „Marktmonopol“ zu einer räumlich und zeitlich relativen Erscheinung. In dieser Sicht wird das Monopol zu einer widersprüchlichen Erscheinung: Es ergibt sich aus dem Akkumulationsprozess als Zentralisierungs- und Konzentrationstendenz, die zugleich die Konkurrenz auf eine immer höhere und schärfere Ebene hebt. Große Unternehmen werden zeitweise für bestimmte Regionen marktbeherrschend, um morgen aufgespalten zu werden und in einer Kette noch größerer Unternehmen aufzugehen. Insofern besteht Mattick darauf, dass Marx sehr wohl eine Theorie des kapitalistischen Monopols hatte, allerdings sei seine „Theorie des Kapitalwettbewerbs (…) zugleich eine Theorie des Monopols; das Monopol in diesem Sinne bleibt immer im Wettbewerb, denn ein Konkurrenzkapitalismus ohne Wettbewerb würde das Ende der Marktbeziehungen bedeuten, die den Privatkapitalismus am Leben erhalten“ [xxiv]. Der Monopolprofit ist so nicht einfach ein willkürlicher Aufschlag auf die Produktionskosten, genauso wenig wie „die Konkurrenz“ einen „marktgerechten“ Profit schafft. Vielmehr ist es ein gesamtgesellschaftlicher Ausgleichprozess zwischen allen Kapitalen, der zu einer Aufteilung des Gesamtmehrwerts zwischen den Sektoren führt – bedingt durch die Akkumulationsbewegung, die über Investitionen, Beschäftigungsnachfrage, Produktivitätsveränderungen etc. und ihre Rahmenbedingungen (z. B. mehr oder weniger „Monopolisierung“) erst die Marktverhältnisse (z. B. Angebot und Nachfrage, Marktbeherrschung) schafft. Daher ist auch bei stärkerer Monopolisierung bestimmter Sektoren, der geschaffene Gesamtwert und damit der Wertbildungsprozess als Ganzes, die Grundlage und Grenze für jegliche Preisbildung. Der Monopolpreis kann sich in diesem Kontext nicht von seiner Grundlage im Arbeitswert lösen – er führt nur zu einer Umverteilung des Mehrwerts, der notwendigerweise zu Reaktionen der anderen Kapitalsektoren führen muss. Marx spricht hier von einer „lokalen Störung“, die im Gesamtprozess ausgeglichen wird, wie bei der Entstehung der Grundrente, hier als Monopolrente [xxv].

Die Dynamik der der Kapitalakkumulation ergibt sich bei Marx nicht aus der Verteilung von Gewinneinkommen, sondern durch die Wertzusammensetzung des Kapitals und ihre Veränderung. In dieser spiegelt es sich als gesellschaftliches Verhältnis wider, nicht in der Bildung der Preise am Markt. Bei Baran/Sweezy dagegen wird der Monopolpreis zu einer Schranke der Akkumulation, da es zu einer Differenz von „effektiver Nachfrage“ und dem Absatz der möglichen Produktionskapazitäten komme. Tatsächlich kommt es aber dem Kapital nicht auf den Absatz der Produktmasse an, sondern um die Realisierung des darin verkörperten Mehrwerts. Dies kann z. B. durch die Senkung der notwendigen Arbeitszeit (Kosten der Reproduktion der Ware Arbeitskraft) oder Steigerung der Nachfrage nach Investitionsgütern auch unter Bedingungen von Masseneinkommen geschehen, die hinter der Entwicklung der Monopolpreise zurückbleiben. Auch ein von großen Konzernen geprägter Kapitalismus entgeht daher nicht dem Zwang zu beständiger Steigerung der Arbeitsproduktivität – und muss daher aber auch nicht in die Stagnation verfallen, die Baran/Sweezy ihm konstatieren.

Dabei bedeutet Produktivitätssteigerung im Kapitalismus immer Ersparung der Anwendung von lebendiger Arbeit durch Einsatz von „kostensparender“ Produktionstechnologie. Daher geht mit der Produktivkraftsteigerung im Kapitalismus, die aus dem Zwang zur Verwertung und Vermehrung des Mehrwerts resultiert, zweierlei hervor: einerseits eine relative Abnahme der in der Produktion angewandten Arbeitskraft gegenüber einem dabei gleichzeitig steigenden Kapitaleinsatz. Während diejenigen, die diese Innovationen zuerst anwenden, dabei große Gewinne machen können, führt dies durch die steigende organische Zusammensetzung des Kapitals zu einer Tendenz zum Fall der Profitrate. Da die Produktivitätssteigerung aber zugleich auch die Ausdehnung der Produktion ermöglicht, kann diese Tendenz durch Steigerung der absoluten Masse an realisierbarem Mehrwert ausgeglichen werden. Produktivitätssteigerungen, relative Zunahme der Kapitalkosten, daher relatives Fallen der Profitrate, gehen dabei einher mit Ausdehnung der Produktion, Steigerung der Beschäftigung (wenn auch wertmäßig mit geringerer Steigerung als das konstante Kapital), Anwachsen der Profitmasse und so in der gewöhnlichen Akkumulationsbewegung eine widersprüchliche Verbindung ein – relatives Fallen der Profitrate bei Steigerung der Profitmasse.

Mattick weist zu Recht darauf hin, dass Baran/Sweezy diesen Doppelcharakter des Marx’schen Akkumulationsgesetzes verkennen, wenn sie meinen, Marx‘ Gesetz vom Profitratenfall durch das Gesetz des „steigenden Surplus“ ersetzen zu können. Marx spricht dagegen vom „zwieschlächtige(n) Gesetz der aus denselben Ursachen entspringenden Abnahme der Profitrate und gleichzeitigen Zunahme der absoluten Profitmasse“ [xxvi]. Dies ist eine Gesetzmäßigkeit, die sich nicht aus den Preisbestimmungen auf den Güter- und Kapitalmärkten ergibt, sondern aus dem Grundcharakter der kapitalistischen Produktion als Ausbeutungsverhältnis, wie es sich in der kapitalistischen Form der Steigerung der Arbeitsproduktivität ausdrückt. Die Konkurrenz der Kapitale (neben der Auseinandersetzung von Kapital und Lohnarbeit) ist eine Form, die Zwänge dieser Gesetzmäßigkeit durchzusetzen, z. B. durch Werttransfer hin zu produktiverem Kapital. Tatsächlich sind aber auch „Monopole“ im Kapitalismus, also sehr große, konzentrierte Kapitale mit gewisser Marktbeherrschung, nicht in der Lage, diesen Mechanismen langfristig auszuweichen: Ob in den Innenbeziehungen (z. B. verschiedene Zulieferbereiche, konkurrierende Abteilungen) oder in der Marktumgebung (andere große Konzerne, nicht-monopolisierte Sektoren) können produktivere Kapitale den sowieso vorhandenen Zwang zur Produktivitätssteigerung durchsetzen, da sonst auf lange Sicht die marktbeherrschende Stellung in Gefahr zu kommen droht.

Der Punkt ist nicht, dass trotz aller Probleme der Untergrabung der Profitrate auf lange Sicht, wie sie Marx analysiert, nicht zugleich eine beständige Ausdehnung von Ausbeutung und Mehrwertaneignung stattfinden kann. Das Entscheidende, das Marx in dieser Analyse erkannt hat, ist vielmehr, dass diese widersprüchliche Bewegung immer wieder an eine Schranke kommt, in der die Ausdehnung des Mehrwerts nicht mehr ausreicht, um die relativ sinkende Profitratenbewegung auszugleichen, dass also an einem bestimmten, nicht vorhersehbaren Punkt die Akkumulationsbewegung den tatsächlich synchronen Fall von Profitmassen hervorbringt – und daher in ihre Krisenphase eintritt. Das von Baran/Sweezy dargelegte Modell der durch Staat und Monopole modifizierten Akkumulation als permanente Stagnation ist daher nichts anderes als ein grundlegender Bruch mit der Marx’schen Analyse von den aus dem kapitalistischen Produktionsprozess herrührenden stürmischen Auf- und Abwärtsbewegungen der wirtschaftlichen Entwicklung und ihres grundlegend krisenhaften Charakters. Baran/Sweezy behaupten eine angeblich immer mehr stagnierende Kapitalakkumulation in den produktiven Sphären z. B. der Industrie, die im „Monopolkapitalismus“ durch eine rein monetäre Akkumulation nicht-produktiver, „verschwenderischer“ Ersatzsegmente (Rüstung, Werbung, Staat …) ersetzt würde, die immer mehr „Surplus“ hervorbringen würden. Ihre Akkumulationstheorie ist daher logisch mit der Abkehr von der Wertanalyse verbunden. Nur damit kann auch die scheinbar terminologische Ersetzung des Mehrwertbegriffs durch den des Surplus verstanden werden.

Mattick weist zu Recht darauf hin, dass der angeblich präzisere Begriff des „Surplus“ bei Baran/Sweezy eine Vermischung mehrere Ebenen der Analyse ist: Bei Marx ist der Mehrwert auf der Ebene des Gesamtkapitals das Ergebnis des Verwertungsprozesses bestehenden variablen und konstanten Kapitals. Auf der Ebene des Zirkulationsprozesses geht eine Vielzahl von wirtschaftlichen Aktivitäten in die Realisierung des Mehrwerts ein, die große Teiledavon auch auf nicht-produktive Wirtschaftssektoren verteilen. Erst auf der Ebene des Einzelkapitals bzw. des Grundeigentums, des Staates etc. erscheint der Mehrwert dann als Geldeinkommen in Form von Profit, Zins, Grundrente, Steue etc. Die Behauptung von Baran/Sweezy, bei Marx wäre der Mehrwert im Wesentlichen Profit und Zins, der Surplus dagegen umfasse auch Staatseinkommen und Einkommen für unproduktive Arbeiten, geht an einer Analyse des Mehrwerts und seiner Realisierung/Verteilung vorbei. Sie dient offensichtlich der theoretischen Begründung für ein angeblich jenseits des Produktionsprozesses zu betrachtendes „Wertprodukt“ – so wie die bürgerlichen Kategorien von „Sozialprodukt“ und „Nationaleinkommen“ die eigentliche Wertbildung verschleiern. Die Tatsache, dass in den imperialistischen Ländern ein wachsender Teil des Sozialprodukts auf unproduktive (z. B. Finanzsektor) und öffentliche Sektoren entfällt, ändert nichts an der Tatsache, dass deren Einkommensquellen letztlich nur auf einer Umverteilung des Gesamtmehrwerts beruhen können, der in den (im kapitalistischen Sinn) produktiven Sektoren der Ökonomie entsteht. Baran/Sweezy folgen mit ihrer Surplustheorie im Wesentlichen dem Schein der Marktoberfläche, der auch die bürgerliche Ökonomie aufsitzt.

Weder unproduktive Sektoren und Arbeiten durch Aufblähen von Staatsapparat, Rüstungsindustrie, Marketing etc. können langfristig die Probleme eines stagnierenden Produktionssektors lösen, noch kann es, wie Baran/Sweezy behaupten, ein Rückgriff auf Verschuldung, besonders der Staatsverschuldung. Dies verschiebt das Problem nur auf den Zwang, diese durch eine spätere Ausdehnung des Mehrwerts zu finanzieren. Die Ausdehnung von unproduktiven Sektoren und von „Verschwendung“ oder Staatsverschuldung wird daher (anders als Baran/Sweezy tatsächlich behaupten) nicht das Programm der herrschenden Klasse sein: „Alle sozialen Schichten, die vom Mehrwert leben, sind ebenso wie die Expansion des Kapitals als Kapital von diesem Mehrwert abhängig, der zwar durch die wachsende Arbeitsproduktivität noch so gesteigert werden kann, aber gleichzeitig abnimmt, weil der unrentable Sektor der Wirtschaft verhältnismäßig schneller wächst als der rentable“ [xxvii].

Das Problem im Kapitalismus bleibt daher, dass ab einem gewissen Punkt es gerade nicht so ist, dass „zu viel Mehrwert“ im Überfluss vorhanden ist, sondern dass das Kapital immer wieder an seine eigene Grenze stößt: dass Mehrwert fehlt, der zur Verwertung von produktivem Kapital eingesetzt werden kann; dass vielmehr Kapital in großer Masse in Bereichen festsitzt, die angesichts des tendenziellen Falls der Profitrate nicht mehr genug Profitmasse für profitable Anlage abwerfen. Daher der beständige Zwang im Rahmen der Dynamik der Kapitalakkumulation zur Erhöhung der Ausbeutung (der Mehrwertrate), zur Vernichtung von Kapital, Freisetzung von Arbeitskraft, Erschließung neuer Akkumulationsmöglichkeiten (z. B. durch Kapitalexport).

Für die Weltwirtschaft als Ganzes bedeutet dies, dass nicht Monopolisierung und Surplus-Überfluss das Hindernis für Entwicklung sind, sondern:

  • Einerseits ist Entwicklung immer davon abhängig, ob bei gegebener Zusammensetzung des Kapitals und gegebener Arbeitsproduktivität genug Kapital (Mehrwert) vorhanden ist, um Kapitalexpansion zu ermöglichen: „Wenn man die Welt als Ganzes betrachtet, liegt es jedoch auf der Hand, dass sie nicht an Überschuss, sondern an Knappheit leidet. Der potentielle Surplus des Monopolkapitals wird mehr als ausgeglichen durch den effektiven Mangel an allem in den kapitalschwachen Ländern. Die Überproduktion an Kapital in einem Teil der Welt steht der Unterkapitalisierung in dem anderen gegenüber. Wenn man den Kapitalismus als ganzes, als ein Weltmarktsystem, betrachtet, verschwindet der Surplus; statt dessen findet sich ein großer Mangel an Mehrwert“ [xxviii].
  • Der Kapitalexport wirkt einerseits dem Fall der Profitrate in den Metropolen entgegen, als er Produktion in Länder mit geringerer organischer Zusammensetzung des Kapitals verlagert und andererseits wirkt er dem Kapitalmangel in den peripheren Ländern entgegen. Dies bedeutet aber gleichzeitig eine Verfestigung der Verhältnisse unterschiedlicher Arbeitsproduktivität, eine von den Verwertungsinteressen des Zentrums abhängige Entwicklung wie auch einen Werttransfer in die Region mit höherer Arbeitsproduktivität. Durch die weltweit geringere als mögliche Gesamtproduktivität wird auch der Mehrwert weniger als möglich ausgedehnt und damit der Knappheit, insbesondere an relativem Mehrwert, zu wenig entgegengewirkt. Der Zwang zur Erhöhung des absoluten Mehrwerts (Arbeitszeit, -intensität …) in der Peripherie bleibt bestehen.
  • Schließlich ist der Akkumulationsprozess „gleichzeitig ein Prozess der Kapitalkonzentration, der ebenso das Weltkapital auf wenige Länder wie in jedem einzelnen Land in die Hände von immer weniger Leuten zu konzentrieren sucht. Denn allein die Wertexpansion des vorhandenen Kapitals zählt, nicht dessen räumliche Ausdehnung“ [xxix]. Die untergeordnete Funktion der räumlichen Ausdehnung führt dazu, dass Monopolisierung vor allem auch die Einteilung der Welt in Regionen mit unterschiedlicher organischer Zusammensetzung des Kapitals bedeutet. Dies wiederum bedeutet, dass die Schranken der Kapitalexpansion durch Überakkumulation langsamer erreicht werden – die Hinauszögerung der Krise wird mit Unterentwicklung der Peripherie erkauft.

So ungenügend die Monopoltheorie von Baran/Sweezy (und im Gefolge von Frank) auch war, so politisch folgenreich war sie doch innerhalb der „Neuen Linken“. Während Matticks werttheoretische Ableitung des Monopolkapitalismus diesen weiterhin elementar durch den Widerspruch von Kapital und Lohnarbeit auch auf Weltebene bestimmt versteht, sind die zentralen Widersprüche bei Baran/Sweezy und Frank diejenigen zwischen den monopolistischen ProfiteurInnen der tatsächlichen Surplusrealisierung (Monopole, Staat, unproduktive Schichten, weite Teile der ArbeiterInnenklasse der Metropolen) und denjenigen, denen die Versprechungen der potentiellen Surplusproduktion vorenthalten werden. Dies sind verschiedenste „periphere“ Schichten und Regionen. In den imperialistischen Ländern zählen Baran/Sweezy vor allem die rassistisch Unterdrückten, die Randschichten in den großen Städten und die durch die Überflussgesellschaften krank Gemachten auf. In der peripheren Welt sind große Teile der Bevölkerung dagegen als Ganzes von der Unterentwicklung des Surplus betroffen, die von den Monopolen aufgezwungen wird. Die proletarische Weltrevolution als politische Perspektive wird also durch die Perspektive des „Aufstands der Peripherie“ ersetzt. Mit der Dependenztheorie einher ging die Auffassung eines einheitlichen Blocks der „Dritten Welt“ (oder auch „Trikont“, da sie vor allem auf Asien, Afrika und Lateinamerika bezogen wurde), der einerseits durch gleiche Abhängigkeitsökonomien gekennzeichnet sei, andererseits aber auch überall einen dagegen gerichteten revolutionären Prozess, die Trikont-Bewegung, begonnen hätte.

Wenige Jahre später wurde offensichtlich, dass weder der imperialistische Block so krisenfrei und frei von breiteren (nicht nur periphere Schichten betreffenden) gesellschaftlichen Widersprüchen war noch dass die Krisen- und Entwicklungsverläufe der „3. Welt“ so einheitlich waren, wie angenommen. Zusätzlich bewahrheitete sich auch nicht die Hoffnung der meisten Dependencia-AnhängerInnen, dass dem Beispiel Kubas (und später Vietnams) eine Welle von Revolutionen folgen würde, die die politische Macht des Monopolkapitalismus brechen und die Sowjetunion (oder China) zum Vorbild ihrer Entwicklung machen würde (wie kritisch auch immer der Bezug auf diese „Modelle“ war). Aus der Dependencia-Theorie erwuchsen weder eine klare revolutionäre Strategie zur Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse vor Ort noch einheitliche wirtschaftliche Forderungen im unmittelbaren Kampf noch eine internationalistische Strategie jenseits der Hoffnung auf Unterstützung durch die stalinistischen Staaten. Deren Bezug auf die Trikont-Bewegungen war jedoch längst im Rahmen der „friedlichen Koexistenz“ fern jeder Perspektive eines zu unterstützenden weltrevolutionären Prozesses (selbst kontinental beschränkt) beerdigt worden.

In den folgenden Abschnitten werden wir daher den Anregungen von Mattick zur Analyse der Akkumulationsbewegung des Kapitals auf Weltmarktebene folgen, wie er sie in Abgrenzung zu Dependenz- und Monopolkapitalismustheorie entwickelt hat. Dies beginnt mit der Frage der Wertzusammensetzung des Kapitals auf Weltebene, ihrer Auswirkung auf die globale Akkumulationsbewegung, um zu den Modifikationen des „doppelgesichtigen Gesetzes“ von relativem Profitratenfall und Ausdehnung der Profitmasse auf Weltebene zu gelangen. Insbesondere wird sich zeigen, dass die Akkumulations- und Krisenbewegung des globalen Kapitals zu sehr unterschiedlichen „Entwicklungsmodellen“ („ungleichzeitige und kombinierte Entwicklung“) und einer spezifischen Verteilung von Krisentendenzen zwischen Peripherie und Metropolen führt. Auf dieser Grundlage lässt sich auch die Frage der Wirkungsweise und Modifikation des Wertgesetzes im globalisierten Kapitalismus konkreter fassen, insbesondere in der kritischen Auseinandersetzung mit der Theorie des „ungleichen Tausches“. Auf dieser Grundlage wird sich erweisen, dass das Verständnis des modernen „dekolonialisierten“ Imperialismus weiterhin auf der Grundlage der Marx’schen Akkumulations- und Krisentheorie sehr viel besser gewonnen werden kann als durch Revisionen rund um „Spätkapitalismus-“, „Monpolkapitalismus“- oder Theorien des „ungleichen Tausches“ (heute: „imperiale Lebensweise“) oder „Postkolonialismus“.

Das globale Kapital nach dem Ende der Kolonialreiche

Wir beginnen mit einer mehr statistisch ausgerichteten Analyse der weltweiten Kapitalzusammensetzung. Für statistische Berechnungen gut geeignet sind die „Extended Penn World Tables“, von denen aus Zeitreihen (bis in die 1960er Jahre) zu 31 Indikatoren für 176 Länder abgerufen werden können [xxx]. Sie werden unter anderem von Michael Roberts in seinem stets lesenswerten Blog zur Lage des globalen Kapitalismus verwendet [xxxi].

Einen guten Überblick über das Problem der unterschiedlichen Kapitalisierung gibt zunächst das von Piketty so zentral benutzte Kapital/Einkommensverhältnis, d. h. die langfristige Entwicklung des Verhältnisses von „Vermögen“ (auf Ebene der Nationalökonomien ein Amalgam aus Anlagevermögen, Grundbesitz, Finanzvermögen) zum Nationaleinkommen (das Bruttoinlandsprodukt – Einkommen der AusländerInnen im Inland + Einkommen der InländerInnen im Ausland = Bruttonationaleinkommen abzüglich der Abschreibungen = (Netto-)Nationaleinkommen). Diese Verhältniszahl entspricht also etwa der an Jahren, die in einer Nationalökonomie gearbeitet werden müssten, um das bestehende Vermögen zu erzeugen. Es ist also ein Maßstab für das angehäufte Kapital. Auffällig ist einerseits, dass in den „reichen Ländern“ trotz langfristig sinkenden BIP-Wachstums, die Vermögen trotzdem ungebremst wachsen, was zu einem säkularen, langfristigen Anstieg des Kapital/Einkommens-Verhältnisses führt (Abbildung 2).

Das BIP, Bruttoinlandsprodukt (englisch: Gross Domestic Product; GDP), gibt den Gesamtwert aller Güter, d. h. Waren und Dienstleistungen an, die während eines Jahres innerhalb der Landesgrenzen einer Volkswirtschaft als Endprodukte hergestellt wurden, nach Abzug aller Vorleistungen. Als Vorleistungen gelten in der Wirtschaftswissenschaft die im Produktionsprozess verbrauchten, verarbeiteten oder umgewandelten Güter und Dienstleistungen (vgl. Europäisches System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen – ESVG). Die Vorleistungen unterscheiden sich von den Investitionen dadurch, dass ein Investitionsgut über mehrere Abrechnungsperioden hinweg im Produktionsprozess eingesetzt und allmählich abgeschrieben wird.

Abbildung 2: Kapital/Einkommensentwicklung Europa und USA 1870-2010 [xxxii]

Auffällig ist der schwere Einschnitt in die europäische Kapitalentwicklung nach dem 1. Weltkrieg und dem Ende des direkten Kolonialismus, der sich auch in einer realen Staatsverschuldung (Staatsschulden gegenüber dem Staatsvermögen) ausgedrückt hat. Seither haben sich die europäische und US-amerikanische Wirtschaft wieder auf ein Niveau hochbewegt, wo die Vermögen das Nationaleinkommen um das 4- bis 6-Fache übersteigen. Um das angehäufte Kapital zu verwerten (EigentümerInnen erwarten eine Mindestkapitalrendite von 4 – 5 % auf ihre Vermögensgegenstände als „Kapitaleinkommen“), muss ein beträchtlicher Teil des jedes Jahr neu geschaffenen Werts wieder akkumuliert werden (zumeist über 10 % des BIP). So wächst die Masse des akkumulierten Mehrwerts auch trotz sinkenden Wachstums der Gesamtproduktion immer weiter. Wie Piketty zeigt, ist dies notwendig mit einem Wachsen des Anteils der Kapitaleinkommen am Nationaleinkommen (d. h. Sinken der „Lohnquote“) und einer wachsenden Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen verbunden, die zu einer immer extremeren Konzentration des Reichtums auch in den „reichen Ländern“ führt.

In unserem Zusammenhang ist interessant, wie sich diese Entwicklung weltweit jenseits der traditionellen Industrieländer darstellt. Hier kann man insbesondere auf die Daten des „Global Wealth Reports“ [xxxiii] der Credit Swiss zurückgreifen. Hier wird beispielsweise für das „zukunftsträchtige“ Brasilien für 2012 ein Gesamtvermögen von 3,3 Billionen US-Dollar ausgewiesen – zum Vergleich: für Frankreich mit etwa einem Drittel der Bevölkerung sind es im selben Jahr über 12 Billionen. Dem steht in Brasilien 2012 ein Nationaleinkommen von 3 Billionen (in internationaler Kaufkraftparität) gegenüber, in Frankreich jedoch eines von 2,7. Während Frankreich also eine Kapital/Einkommensrelation (KER) von etwa 5 erreicht, liegt sie in Brasilien gerade mal bei über 1! Noch extremer stellt es sich in Indien dar, das trotz seiner Milliardenbevölkerung ebenso nur ein Vermögen von 3,2 Billionen US-Dollar meldet, aber sogar ein Nationaleinkommen von über 6,1 Billionen. Erst 2019 wurde in Indien ein KER von 1 erreicht (bei 12 Billionen Vermögen). In Brasilien dagegen wuchsen im Vergleich die Vermögen nur auf 3,5 Billionen (Frankreich 13,7), während das Nationaleinkommen bei 3,2 stagnierte. Dieses geringe Kapital/Einkommensverhältnis ist für viele Länder außerhalb der „reichen“ typisch, was dazu führt, dass die „capital formation“ (d. h. die Kapitalakkumulation) aus „inländischen Quellen“ auf sehr viel geringerem Niveau vor sich geht, wenn auch mit zumeist höherem Anteil am BIP.

Insgesamt ist diese „Unterkapitalisierung“ im „globalen Süden“ (auch wenn Australien und Neuseeland auf der Südhalbkugel liegen) letztlich auch sehr deutlich auf der Weltkarte der Vermögensverteilung zu sehen.

Abbildung 3: Globale Vermögensverteilung [xxxiv]

Noch deutlicher wird dies, wenn man den regionalen Anteil der Vermögen am Weltgesamtvermögen betrachtet. Während die „klassischen“ imperialistischen Länder in Nordamerika, Europa, Japan und auf der Südhalbkugel (Australien, Neuseeland) nur noch ein Viertel der Weltbevölkerung beherbergen, konzentrieren sie aktuell weiterhin 70 % des weltweiten Kapitals. Rechnet man noch die fast 20 % Anteil von China und Russland hinzu, so wird deutlich, wie wenig Kapital im Vergleich in der nicht-imperialistischen Welt zur Verfügung steht. Dazu kommt, dass das vorhandene Vermögen in den ärmeren Ländern auch noch extrem ungleich verteilt, d. h. jeweils unter der Kontrolle einer sehr kleinen Oberschicht konzentriert ist (siehe die weltweiten Aufstellungen zum Gini-Indikator).

Für die Kapitalakkumulation, insofern sie Verwertung des bestehenden Kapitals bedeutet, ist jedoch nicht das Gesamtvermögen entscheidend, sondern der „Kapitalstock“, d. h. das in produktiver Weise in Anlagevermögen angelegte Kapital. Die Statistiken weisen seit den 1980er Jahren für die „reichen Länder“ ein weitaus langsameres Wachstum des Kapitalstocks als für das Vermögen insgesamt aus. Dagegen wächst der Anteil an Anlagen in „Finanzvermögen“ bzw. Immobilien. Da letzteres zumeist auch über Finanzagenturen läuft, kann man es unter „Finanzkapital“ zusammenfassen. Während z. B. in der BRD der Anteil des produktiven Anlagevermögens 1983 noch bei fast 60 % des Vermögens lag, lag er 2010 bei nur noch 48 % (Berechnung der Größe des Kapitalstocks mit Penn-Reihe und des Gesamtvermögens nach Piketty jeweils gemäß PPP von 2005).

In Ländern wie Brasilien dagegen ist bis heute das Kapital weit direkter mit der unmittelbaren Anlage verbunden, so dass der Kapitalstock 75 % des Vermögens entspricht. In vielen Ländern, wie Indien oder Indonesien, liegt auch noch der Anteil an „real property“, also vor allem Grund- und Boden, bei über 20 % des Vermögens. Insgesamt ist die Kategorie des „Finanzvermögens“ kritisch zu betrachten: Das Kapital verwandelt sich in seinem Verwertungsprozess beständig in die Formen von Waren-, Produktiv- und Geldkapital. Die Zirkulationsformen des Geldkapitals ermöglichen die Aneignung eines Teils des Profits in der Form des Zinses (G-G‘). Der Handel mit Anteilseigentum an Kapital wiederum erzeugt andere Formen der Aufteilung des Profits und die Entstehung eines Kapitalmarktes, der zinsähnliche Gewinne verspricht. Im „Finanzvermögen“ wird Zinskapital, Anteilseigentum und Kapitalmarktinvestition vermengt. Dies verschleiert die jeweilige Nähe zur unmittelbaren produktiven Anlagesphäre. Der gestiegene Anteil des Finanzvermögens am Kapital ist jeweils nur ein Indikator für die „Abstraktheit“ des Kapitals gegenüber der unmittelbaren Verwertungsebene bzw. seiner Beweglichkeit, was die Anlagesphären betrifft. Dass die peripheren Länder hier weitaus weniger „Finanzkapital“ aufweisen, ist eine deutliche Konkretisierung von Lenins Thesen zur Rolle des Finanzkapitals im Imperialismus. Es sind globale Akteure, wie BlackRock Inc. oder Allianz Global Investors (AGI), die weltweit „Finanzvermögen“ einsammeln, um mit ihren Anlagen in Anteilseigentum und auf den Kapital- und Anleihemärkten wesentlichen Einfluss auf alle wichtigen Unternehmen aber auch auf Staaten auszuüben. Es ist klar, dass alle diese Hauptagenturen des modernen Kapitalismus in den imperialistischen Zentren zu finden sind.

Als säkularer Trend ist zu beobachten, dass auch der Kapitalstock gegenüber dem BIP seit den 1960er Jahren begonnen hat, schneller zu steigen als das BIP, wenn auch nicht im selben Tempo wie das Gesamtvermögen. Hier die Entwicklung in den USA, die von einem Verhältnis von fast 1:1 zu einem Verhältnis 1:0,6 geführt hat (Abbildung 4):

Abbildung 4: Entwicklung BIP und Kapitalstock – USA [xxxv]

Dies heißt aber auch, dass immer mehr Anlagekapital notwendig ist, um noch eine weitere Steigerung des Gesamtprodukts hervorzubringen. Diese Tendenz zum Sinken der „Kapitalproduktivität“ ist in allen Industrieländern gleichermaßen ausgeprägt (auf derzeit etwa 60 %). In der Welt jenseits der alten Industrienationen jedoch finden sich sehr unterschiedliche Werte und Historien der Kapitalproduktivität. So folgte Brasilien in den 1960er/1970er Jahren (während der Industrialisierungspolitik der Militärdiktatur) dem Trend eines raschen Aufbaus des Kapitalstocks. Mit der Krise Ende der 1970er Jahre brachen sowohl das Wachstum des Kapitalstocks wie des BIP ein. Letzteres wuchs mit der Stabilisierung in den 1990er Jahren wieder, ohne im selben Tempo zum Aufbau des Kapitalstocks zu führen. Damit verbleibt in Brasilien die Kapitalproduktivität heute bei 75 % (siehe: Abbildung 5).

Abbildung 5: Entwicklung BIP und Kapitalstock in Brasilien [xxxvi]

Abbildung 6: Verhältnis Kapitalstock zu BIP in Südkorea [xxxviii]

Betrachtet man andere Peripherieländer, so ergeben sich je nach den historischen Entwicklungen ganz unterschiedliche Kategorien in Bezug auf die Kapitalstockentwicklung. So gibt es in afrikanischen Ländern (südlich der Sahara) zumeist weiterhin eine Parallelentwicklung von Kapitalstock und BIP. So liegt die Kapitalproduktivität von Kenia heute noch bei 98 %, wenig geringer als in der Zeit kurz nach der Unabhängigkeit 1963. Ganz im Unterschied dazu die Entwicklung in Algerien: Insbesondere die Verstaatlichung der Erdöl- und Erdgasunternehmen aus französischem Besitz 1971[xxxvii] und die darauf aufgebaute „sozialistische“ Industrialisierungspolitik führte bis in die 1980er Jahre zu einem großen Kapitalstock, verglichen mit immer geringer werdendem wirtschaftlichen Wachstum. Daher sank schon in den 1970er Jahren die Kapitalproduktivität unter 50 %, um in den 1980er Jahren sogar unter 40 % zu fallen. Anders als in Lateinamerika konnten die Öl- und Gas-Einnahmen die damit verbundenen Probleme noch bis Ende der 1980er Jahre auffangen. Mit dem Sinken der Ölpreise Ende der 1980er Jahre brach eine schwere wirtschaftliche und in deren Gefolge auch politische Krise aus (Bürgerkrieg). Die von Bouteflika durchgesetzte „Befriedungspolitik“ beinhaltete in den 2000er Jahren eine gegen den heftigen Widerstand der Gewerkschaften durchgesetzte „Privatisierungspolitik“, die an den Kapitalabbau während der Krise anknüpfte und das Land stark für Auslandsinvestitionen öffnete. Damit wurde die Kapitalproduktivität auf heute wieder über 50 % gehoben.

Solche Geschichten wie für Algerien könnten für viele Länder erzählt werden, die auf der Grundlage des Exports ihres Rohstoffreichtums eine vor allem staatliche Industrialisierungspolitik betrieben haben. Eine ganz andere Entwicklung sehen wir in Ländern, die wenig Möglichkeiten hatten, ihre Industrialisierung auf Rohstoffexport zu begründen. Insbesondere die auf Export ausgerichteten „Entwicklungsdiktaturen“, die sich als Standorte für „Billiglohnfertigung“ den großen Konzernen des Zentrums anboten, folgten einem Muster, das sich wohl am extremsten in Südkorea zeigt:

Ohne Rohstoffbasis und geschwächt durch die Verheerungen des Koreakrieges war Südkorea in den 1950er Jahren am unteren Ende der Entwicklung und wurde seit den frühen 1960er Jahren durch eine brutale Militärdiktatur unter Park-Chung-hee regiert. Park begründete die südkoreanische Industriestruktur, die zugleich mit einer strikten Unterdrückung von ArbeiterInnenrechten verbunden war. Wie an der Entwicklung des Kapitalstocks zu erkennen ist, gab es jedoch erst nach der globalen Krise 1974 eine explosionsartige Änderung der Situation. Seither ist das Wachstum des Kapitalstocks gegenüber dem Wachstum des BIP entfesselt: Während das Verhältnis noch in den 1960er Jahren bei über 100 % lag, sank es 1996 erstmals unter 40 %. Erst die Asienkrise 1997 hat zu einer Verlangsamung im Tempo des Aufbaus des Kapitalstocks geführt. Heute liegt die Kapitalproduktivität Südkoreas bei etwa 36 %.

Hier bestätigt sich Matticks These, dass die Aufhebung von Akkumulationsschranken für das Kapital (die die „Globalisierungsperiode“ für viele, insbesondere asiatische, „Tigerstaaten“ mit sich gebracht hat) zugleich auch die Überakkumulation aus dem Zentrum in die Peripherie trägt – und damit auch die Überakkumulationskrise auf eine globalere Ebene hebt. Mit der Aufhebung der „Sphäre geringerer organischer Zusammensetzung des Kapitals“ für immer mehr Regionen der Welt, wird zugleich ein wichtiger krisenhemmender Faktor in der Weltakkumulation des Kapitals abgebaut. Häufigere Krisenanfälligkeit und Tendenz zu schnellerer Entwicklung von überregionalen zyklischen Abschwüngen sind ein Merkmal der Globalisierungsperiode seit Mitte der 1990er Jahre.

Was Südkorea betrifft, gibt es natürlich auf Grund der Kapitalisierung und der Weltbedeutung mehrerer ihrer großen Kapitale Argumente für den Aufstieg in den Klub des Imperialismus. Allerdings deutet schon die äußerst hohe Kapitalzusammensetzung (bzw. niedrige Kapitalproduktivität) darauf hin, dass es sich hierbei auch um eine andere Form der Abhängigkeit handelt. Viele der asiatischen Staaten, die einen ähnlich raschen Aufstieg in der Globalisierungsperiode durchgemacht haben, wie Malaysia oder Indonesien, haben eine ähnliche Entwicklung ihrer Kapitalproduktivität hinter sich (85 % auf 48 % bzw. 91 % auf 55 %), die sie über die üblichen Peripheriestaaten stellt. Diese Überkapitalisierung kann – neben Druck auf die Löhne –nur durch starkes Exportwachstum ausgeglichen werden. Das macht diese Länder abhängig von Welthandel und der Entwicklung in den zentralen Industrieländern (inklusive China). Jeder globale Einbruch führt dazu, dass die Folgen der Überakkumulation sofort gespürt werden. Dazu kommt, dass in der Globalisierungsperiode die kapitalistische Produktion stark entlang internationaler Produktionsketten von Komponenten und Dienstleistungen organisiert wurde. Dies hat eine „Wertschöpfungskette“ von den hochspezialisierten bis zu den niedrig bewerteten Tätigkeiten eingeführt, in denen der Großteil der „Wertschöpfung“ tatsächlich an der Spitze der Produktionsketten abgegriffen wird.

Globale Produktion als Produktions- und Aneignungsprozess von Mehrwert

Zu den globalen Wertschöpfungsketten („global value chains“; GVC) gibt es inzwischen umfangreiche Studien und statistische Indikatoren, die speziell auch als „Entwicklungsindikatoren“ dienen[xxxix]. Insgesamt ist in der Globalisierungsperiode der Anteil an GVCs am Welthandel stark gestiegen: Während der Anteil der nur im Inland produzierten und konsumierten Güter an der Weltproduktion von 85 % (1995) auf heute 80 % zurückgegangen ist, wuchs der traditionelle Exporthandel nur moderat – entscheidend war das Wachstum des Handels mit Zwischenprodukten oder produktionsbezogenen Dienstleistungen. Diese machen inzwischen zwei Drittel des Welthandels aus. Die GVCs reichen dabei von einfachen Zulieferproduktionen (nur 1-2 Grenzüberquerungen bis zum fertigen Produkt) bis zu komplexen Netzwerken von sehr vielen über viele Länder verstreuten AkteurInnen.

Die WTO hat hierzu die etwas unübersichtlichen, aber informativen „Smile-Kurven“ entwickelt. In Abbildung 7 wird die Smile-Kurve für die Industrien für elektrische und optische Apparate dargestellt, in der die Daten von 35 Industrien, die über 41 Ökonomien zerstreut sind, aus den Input-Output-Tabellen der WTO kombiniert wurden. Dabei stellen die Zahlen neben den Ländernamen Kennzahlen für Industrien nach den WTO-Tabellen dar (z. B. steht „14“ für Elektro- und Optik-Industrie, „28“ für Finanzdienstleistungen, „12“ für Metallverarbeitung). Um die Ländernamen werden Kreise gezeichnet, die den „Wertanteil“ der jeweiligen Länderindustrien in der Produktstufe darstellen (außer bei China in der Abbildung schwer zu erkennen). Die schraffierte Fläche um die Kurve stellt das Ausmaß der Kompensationen dar, wie die einzelnen Stufen im Produktleben in die Preisbildung eingehen, bevor es zum Endprodukt für die KundInnen kommt. Deutlich wird, dass dieses am Beginn (Planung, Entwicklung, Finanzierung, etc.) und am Ende (Verkauf, Service, etc.) der GVC am größten ist (das „obere Ende“ der Wertschöpfungskette). Da die senkrechte Achse die Lohnkompensation (pro Stunde) in den jeweiligen Stufen darstellt, wird deutlich, dass die Stufen, die am meisten mit Produktion zu tun haben, auch die mit der geringsten Kompensation sind. Bei der Kette handelt es sich also eigentlich weniger um eine „Wertschöpfungskette“ als vielmehr um eine Wertaneignungskette – die produktive Arbeit wird in der Senke der Kurve geleistet, deren Wertproduktion aber vor allem an den beiden Enden der Kette in Preise transformiert. Ein Großteil des Preises machen offensichtlich die Preiszuschläge der großen Handelskonzerne aus („20“ steht für den Großhandel).

Abbildung 7: Wertschöpfungskette für elektrische und optische Apparate 2005 [xl]

Die traditionell ungünstigen Beziehungen zwischen Peripherie und Zentrum über die Terms of Trade nach Prebisch/Singer erweitern sich somit heute zusätzlich durch die Zuordnung zu ungünstigen Positionierungen in den GVCs. In der Smile-Kurve wird dies deutlich einerseits an der kaum mehr lesbaren Wolke an Länderindustrien am Minimum der Kurve, wo vor allem asiatische Zulieferbetriebe zu finden sind. Alle zeichnen sich durch ein auf niedrigen Löhnen basierendes Exportmodell aus. China konzentriert einen großen Anteil am Ende der eigentlichen Produktionskette, also nahe der Endmontage. Ein kleinerer Teil der Produktion wird weiter „hochpreisig“ in Ländern wie Deutschland, den USA und Japan durchgeführt. Auch Südkorea ist eher im Aufstieg in diesem Segment, d. h. verlässt die Region der Billiglohnländer. Inzwischen kann man bei vielen dieser Branchenuntersuchungen feststellen, dass China in der „Wertschöpfungskette“ aufsteigt und selber Stufen zu Beginn und am Ende der Produktkette übernimmt. Auf jeden Fall hat sich ein weltweites Muster herausgebildet, das für die globale Produktion wenige große Zentren aufzeigt, um die ein Netz von Satelliten gruppiert sind. Die zentralen Player dabei sind die USA, China, Deutschland (mit Frankreich und Italien als Co-Zentren), Japan und Südkorea (siehe Abbildung 8).

Dabei ist auffällig, dass die Produktionsnetzwerke im Jahr 2000 noch sehr lose zusammengefügt waren und vor allem in den europäischen und den asiatisch-pazifischen Raum getrennt waren. Um 2005 wird klar, dass China ein eigenes Zuliefernetzwerk in Asien aufgebaut hat, in dem Taiwan eine zentrale Rolle spielt. Aber auch Japan und Südkorea begannen im Windschatten des China-Booms mit dem Aufbau ihrer tieferen internationalen Produktionsketten, während das europäische Netzwerk auf lateinamerikanische Industrien und Russland ausgriff. 2011 stellt den Punkt der größten Annäherung der drei Blöcke dar, in der es zunehmend auch vor allem zwischen asiatischen und europäischen Industrien Vernetzungen gab.

Abbildung 8: Netzwerk der GVCs [xli]

Mit der großen Rezession und der folgenden Stagnationsperiode kam es zu einem Rückbau der Internationalisierung (zum Teil wurde durch Insourcing wieder Verlagerungstiefe zurückgenommen). Insbesondere haben sich die USA inzwischen wieder stärker auf protektionistische Politik und Rückfluss von Kapital orientiert, was sich auch im Abbau von internationalen Produktionsketten außerhalb Nordamerikas/Mexikos ausdrückt. Auch in der EU sind seit der Euro-Krise und der Stagnation in den zentralen Ökonomien Rückbautendenzen zu erkennen. Davon und durch das geringere Wachstum des Welthandels insgesamt blieben auch der Block um China, Japan und Südkorea nicht unberührt.

Hierarchien in der globalen Ökonomie

Was das Schicksal der neu industrialisierten Länder betrifft, so spricht auch die WTO-Studie von einer in der Entwicklungsökonomie viel besprochenen „middle-income trap“ [xlii]. Damit wird gemeint, dass einige der sich besonders rasch industrialisierenden Länder zwar eine Zeitlang zu Treibern globaler Aufschwünge werden, dabei auch beträchtliches Kapital und Know-how ansammeln, dann aber von der nächsten Krise besonders getroffen und wieder zurückgeworfen werden. Sie scheinen bereits an der „Schwelle“ zu einer Ökonomie wie die „reichen Länder“ zu sein, schaffen es aber nicht, deren Krisenbewältigungsfähigkeiten zu erlangen. Exemplarisch führt die WTO-Studie folgende „Entwicklungsstufen“ ein:

  • Stufe 0: Abhängigkeit von Agrar- und Rohstoffexporten und Kapitalimport
  • Stufe 1: Einfache Zulieferindustrien (Beispiel: Vietnam)
  • Stufe 2: Konzentration von Industrien, eigene Zulieferketten (z. B.: Malaysia, Thailand)
  • Stufe 3: Fähigkeit zur Produktion von hochtechnischen Produkten (z. B.: Südkorea, Taiwan)
  • Stufe 4: „Global leader“ (z. B.: USA, EU, Japan, China)

Wie auch die WTO-Studie feststellt, sind es Probleme in der Kapitalbildung, der Struktur der Ökonomie und Faktoren der globalen politischen Ordnung, die auf Stufe 2 und 3 gegenüber der jeweils nächsten Stufe wie „gläserne Wände“ den weiteren Aufstieg zu verhindern scheinen.

Für die Möglichkeiten und Grenzen der Entwicklung unter kapitalistischen Bedingungen ist neben der Kapitalmasse, der Kapitalproduktivität, der Position im Welthandel und in den globalen Wertschöpfungsketten, die Einkommensentwicklung entscheidend, insbesondere insofern sie das langfristige Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit widerspiegelt. Grundlegende Indikatoren dafür sind die Verhältnisse von BIP-Wachstum und Anteil der Löhne dabei. Das Volumen des Nationaleinkommens (als Maß des produzierten Neuwerts pro Jahr), abgeleitet aus dem BIP, stellt dabei das maximal zu verteilende Einkommen auf die Masse der Bevölkerung dar. Das Wirtschaftswachstum im Vergleich zwischen den Ländern von unterschiedlichen Entwicklungsstufen stellt damit einen ersten Anhaltspunkt dar:

Abbildung 9 Reales BIP in KKP von 2005 [xliii]

In der Abbildung wird klar, dass das starke Wachsen des Kapitalstocks in Algerien zugleich mit einem im Vergleich sehr schwachen Wachstum gekoppelt war, das erst in den 2000er Jahren leicht nach oben ging. Das Wachstum eines wenig spektakulären Zentrumlandes wie Frankreich stellt sich dagegen fast linear dar, mit kaum wahrnehmbaren „Dellen“ 1974, 1981, 1991 und 2000. Das gesamte BIP von Brasilien, das dreimal mehr Menschen als Frankreich bevölkern, liegt die ganzen Jahre hinter dessen BIP zurück (Algerien, mit der Hälfte der Bevölkerung, hat dagegen ein kaum wahrnehmbares BIP). Dagegen waren die Wachstumseinbrüche Ende der 1970er Jahre, Mitte der 1980er Jahre und (wenn auch nicht so ausgeprägt) Ende der 1990er Jahre jeweils dramatisch, mit schwerwiegenden Folgen für das Einkommen vieler. War das Wachstum in Algerien viel zu gering, um der zunehmenden Bevölkerung ein erträgliches Einkommen zu garantieren, so waren es die Einbrüche im Wachstum, die der stark wachsenden brasilianischen Bevölkerung große Einkommensprobleme bescherten. Schließlich zeigt das Beispiel Südkoreas, mit einem Viertel der Bevölkerung Brasiliens, ein BIP-Wachstum, das ein Einholen des großen Brasiliens fast möglich erscheinen ließ. Angesichts der steigenden Kapitalzusammensetzung der südkoreanischen Industrie ist dieses Wachstum aber auch erforderlich (wie später bei der Profitratenbetrachtung noch zu sehen sein wird). Allerdings führte die Wirtschaftsentwicklung 1997 in der „Asienkrise“ zu einem starken Einbruch (– 5,5 %), der jedoch in den 2000er Jahren wieder wettgemacht werden konnte. Ersichtlich ist auch, dass Brasilien ebenfalls in den 2000er Jahren auf den starken Wachstumspfad zurückzukehren schien und parallel zu Südkorea wuchs. In der gegenwärtigen Stagnationsphase der Weltwirtschaft werden beide Länder wieder von Wachstumsproblemen gebeutelt (Wachstumsraten von unter 3 % sind für Südkorea angesichts des großen Kapitalstocks problematisch, und werden wesentlich durch das Geschäft mit China und Japan aufrechterhalten).

Diese BIP-Veränderungen müssen noch in Beziehung gesetzt werden zu einem Bevölkerungswachstum, das in demselben Zeitraum Brasilien und Algerien fast verdreifacht hat, Südkorea verdoppelt, während Frankreich nur um etwa 50 % wuchs. Selbst bei einer fiktiven Gleichverteilung der Einkommen muss es daher negative Effekte auf die möglichen Einkommen in den unterschiedlichen Regionen geben. Piketty stellt folgende Gesamtrechnung für die Welt angesichts der unterschiedlichen Proportionen von Bevölkerung und BIP in den Hauptregionen auf:

Abbildung 10: Weltweite Verteilung von BIP und Nationaleinkommen pro Kopf [xliv]

Trotz mehrerer Jahrzehnte, in denen einige „Schwellenländer“ große ökonomische Wachstumsraten gegenüber dem alten Zentrum aufwiesen, produzieren die auf 13 % der Weltbevölkerung geschrumpften EinwohnerInnen EU-Europas und Nordamerikas weiterhin 41 % des Welt-BIP (zur Erinnerung: Bei den Vermögen ist es noch einseitiger mit 62 % des Weltvermögens). Die Wachstumsverschiebung hat angesichts des jeweiligen Bevölkerungsanstiegs daher nur geringe Veränderungen im Verhältnis BIP pro Einwohner gebracht. Vom BIP müssen Abschreibungen und die Außenbilanz abgerechnet werden, so dass sich daraus das monatlich verfügbare Einkommen pro Einwohner ergibt (bei Gleichverteilung). Dieses ist in der Tabelle in der äußersten rechten Spalte in Euro zu ersehen. Es ist nicht erstaunlich, dass sich Afrika mit 200 Euro weiterhin am untersten Level der Einkommensniveaus befindet (wobei Algerien mit 450 Euro noch über dem nordafrikanischen Durchschnitt liegt!). Trotz des großen Aufholprozesses in Asien liegt es weiter nur bei 520 Euro. Dabei ist dies auch in Asien weiterhin stark ungleich verteilt, mit Japan bei 2.250 Euro und Südkorea bei 1.700 Euro. Die Megaländer China mit 520 Euro, aber vor allem Indien mit 240 Euro finden sich weiter bei den „mittleren“ bzw. unteren Einkommen. Trotz der krisenhaften Entwicklung in Lateinamerika liegt dieses mit 780 Euro noch darüber. Auch hier gibt es große Unterschiede: von Chile mit 960 Euro über Brasilien mit 660 Euro bis Bolivien mit 275 Euro. Die Einkommen der „reichen Länder“ in Europa, Nordamerika, Japan und auf der Südhalbkugel liegen dagegen 3-4 mal über dem Weltdurchschnitt (760 Euro).

Die Weltbank verwendet das Verhältnis von Bruttonationaleinkommen zu EinwohnerIn als „Entwicklungsindikator“ und teilt dabei die Länder in die vier Kategorien „niedriges“, „unteres mittleres“, „oberes mittleres“ und „hohes“ Einkommen. Diese entsprechende Kategorisierung wird jährlich veröffentlicht und ist auch als historische Zeitreihe erhältlich [xlv]. Auch wenn die Grenzziehungen stark willkürlich sind (für das oben betrachtete Jahr war die Grenze zu „oberen mittleren“ Einkommen bei 320 Euro, zu „hohem“ bei etwa 1.000 Euro), so lassen sich doch langfristige Trends erkennen. Brasilien gehört zwar generell zu den „oberen mittleren“, fiel aber mehrfach kurzfristig in die „unteren mittleren“ (Ende der 1980er Jahre, Anfang der 2000er). Algerien fiel Ende der 8190er Jahre vom oberen Mittel ins untere, um erst wieder 2008 ins obere Mittel zu steigen. Indien stieg erst 2007 überhaupt von der Kategorie „niedrig“ zur Kategorie „unteres Mittel“ auf, um dort seither zu verharren. China dagegen stieg 1997 zu „unterem Mittel“ auf, um 2010 ins „obere Mittel“ zu gelangen. Schließlich stieg Südkorea 1995 zur Kategorie „Hoch“ auf, um 1998 wieder zu „oberes Mittel“ abzufallen, aber verharrte dann ab 2001 in „Hoch“. Insgesamt sind 78 Länder heute in den beiden unteren Kategorien zu finden, also als „arme“ zu bezeichnen. Die 60 Länder in der dritten Kategorie sind zwar rund um den Durchschnitt des Welteinkommens gruppiert und werden heute allgemein als „middle income countries“ bezeichnet, sind aber im Vergleich zu den reichen Ländern in Europa und Nordamerika tatsächlich auch nur an der „Schwelle“ zur Überwindung von Armut, nicht auf dem Sprung zu „reichen Ländern“ wie oft mit dem Begriff „Schwellenländer“ suggeriert wird.

Die Größe des Neuwerts, der in einem Land produziert wurde, sagt noch nichts darüber aus, wieviel davon tatsächlich bei denen ankommt, die ihn produziert haben – den Lohnabhängigen. Dies ist abhängig letztlich von der jeweils spezifischen Klassenauseinandersetzung, aber auch dem Entwicklungsstand und der Stellung im Weltkapitalismus insgesamt. In Abbildung 11 wird die Lohnquote (der Anteil der Lohnsumme am Nationaleinkommen) von vier verschiedenen Ländern wiedergegeben, diesmal mit der USA als Repräsentantin der „reichen Länder“ (leider sind die Daten für Brasilien, Südkorea und Algerien aus den Penn-Reihen etwas unvollständig).

Abbildung 11: Lohnquote am Nationaleinkommen im Vergleich [xlvi]

Grob gesagt werden kann, dass in den 1960er Jahren in den reichen Ländern Lohnquoten um die 60 % üblich waren gegenüber 30 % im Rest. Dies drückt einerseits die größere gewerkschaftliche Organisation und andererseits die Integration der ArbeiterInnenklasse, insbesondere durch das aus, was Lenin die „ArbeiterInnenaristokratie“ genannt hat. Letzteres fehlte in den Halbkolonien, während die gewerkschaftliche Organisation zumeist mit repressiven Maßnahmen bis hin zur Militärdiktatur unterdrückt wurden. In der Krisenperiode der 1970er und frühen 1980er Jahre konnten die Lohnquoten in den Halbkolonien zumeist auf um die 40 % verbessert werden, während diejenige in den imperialistischen Zentren zumeist auf um die 55 % sank. Danach verlief die Entwicklung in der „Globalisierungsperiode“ sehr unterschiedlich. In den imperialistischen Zentren sank die Lohnquote weiter kontinuierlich gegen 50 % aufgrund der geschwächten Position der Gewerkschaften und neoliberaler „Reformpolitik“. Andererseits wurde das Wachstum in Asien kaum tatsächlich in höhere Löhne umgesetzt, so dass der Anteil der Lohneinkommen am Nationaleinkommen trotz des „Wirtschaftswunders“ sogar im Allgemeinen sank.

In Südkorea fiel während des ersten großen Exportbooms Mitte der 1980er Jahre die Quote von 40 auf 30 %, ein Fall der erst durch das Ende der Militärdiktatur etwas abgebremst wurde. Der nächste Exportboom in den 1990er Jahren und dessen Einbrüche (vor allem die Asienkrise) brachten die Quote weiter auf gegen 20 % herunter, wo sie heute verharrt. Angesichts des hohen Kapitalanteils (geringe Kapitalproduktivität) ist es klar, dass das südkoreanische Kapital weiterhin auf relativ geringe Löhne im Verhältnis zum Output angewiesen ist – nur so lässt sich das große angehäufte Kapital verwerten.

Auch wenn die Bewegung in Algerien einem ähnlichen Trend wie Südkorea zu folgen scheint, hat sie ganz andere Ursachen. Die stagnative, von Öl- und Gasexporten abhängige Ökonomie mit hoher Staatsquote konnte politische Stabilität nur durch Einkommensverbesserungen erzielen, die zu einem Anwachsen der Lohnquote bei einem wenig gestiegenen BIP führten (über 40 % bis Ende der 1980er Jahre). Damit gab es notwendig immer weniger Spielraum für Gewinneinkommen, was zum Ausbruch der Krise Ende der 1980er Jahre führte, als die Einnahmen aus dem Ölexport sanken. Im Verlauf der Krise stellte das algerische Kapital seine Profitabilität vor allem zu Lasten der Lohneinkommen wieder her, so dass im Gefolge der „Privatisierungspolitik“ die Lohnquote ebenfalls auf an die 20 % sank. Erst der große Generalstreik der UGTA konnte 2003 die weitere Abwärtsbewegung stoppen.

In Lateinamerika waren nach dem „verlorenen Jahrzehnt“ der 1980er Jahre die neoliberalen „ReformerInnen“ und ihre Militärdiktaturen weitgehend an den Rand gedrängt. Politische und ökonomische Konsolidierung konnten nur mit Hilfe von „linken“ und populistischen Kräften zusammen mit Konzessionen an die Gewerkschaften erzielt werden. So war das wiederaufkommende Wachstum in den 1990er Jahren mit einer Stabilisierung der Lohnquote bei 40 % in den meisten Ländern (wie auch in Brasilien) verbunden.

Insgesamt bleibt aber eine deutliche Lücke zwischen den Lohnquoten in den imperialistischen Zentren und im Rest der Welt, insbesondere was Asien betrifft. Nur China, das aus der planwirtschaftlichen Vergangenheit mit einer relativ hohen Lohnquote gestartet ist, liegt etwa im Bereich der alten Zentren (bei 48 %). Bei den niedrigen Löhnen, von denen zu Beginn der Globalisierungsperiode gestartet wurde, ist von dem großen Wachstumsboom also wenig in Lohnsteigerungen eingegangen. Das Weltkapital profitiert weiterhin von niedrigen Löhnen, insbesondere in Asien.

Tendenzen der globalen Profitratenentwicklung

Die Indikatoren Lohnquote und Kapitalproduktivität führen nun direkt zum zentralen Indikator für die Kapitalakkumulation aus marxistischer Sicht: der Profitrate. Für das Marx’sche Verständnis der Dynamik der Wachstumsbewegung ist entscheidend das Verhältnis von Entwicklung der Produktivkräfte (vergegenständlicht im Kapitalstock und einer disponiblen Lohnabhängigenmasse) und dem kapitalistischen Imperativ, das bestehende Kapital (in allen seinen Formen) zu verwerten. Die kapitalistische Form der Produktivkraftentwicklung verläuft unter dem Primat der Einsparung von Arbeitskosten und Erhöhung des Produktausstoßes (Produktivitätssteigerung). Dies führt zu einem Steigen des Anlagekapitals gegenüber der eingesetzten Arbeitskraft und bei gleichbleibender Mehrwertrate daher zu einem Sinken der Profitrate, gleichzeitig aber zu einer Erhöhung des produzierten Neuwerts und damit (Mehrwertrate!) auch der absoluten Profitmasse. Sofern das Mehr an Profit ausreichend ist, den gewachsenen Kapitalstock weiter zu verwerten, kann die Akkumulation auf erweiterter Stufenleiter fortgesetzt werden. Ist dies nicht der Fall, muss der überakkumulierte Kapitalstock in einer der Formen der kapitalistischen Krise entwertet werden. Bevor es soweit kommt, können „entgegenwirkende Ursachen“ wirken: Einerseits können Teile des Kapitalstocks (wie auch immer) schon vor der Krise entwertet und verbilligt werden. Weiter kann das Kapital auf verschiedene Weise die Mehrwertrate erhöhen (relativ, absolut; Umstrukturierung der Beschäftigung). Verwertungsprobleme können durch Schulden bzw. Umwandlung von Schulden in Kapital (Kapitalmarkt) zeitweise aufgeschoben werden und letztlich dient der Weltmarkt als Ventil (worauf noch näher eingegangen wird). Helfen alle diese Mittel (die im Wesentlichen nur aufschiebende Wirkung zeitigen bzw. sogar verschärfende) nicht, ist der zyklische Abschwung unvermeidlich. Im Krisenzyklus setzen sich die von den produktiveren Kapitalen (die die Krise überleben) eingesetzten Neuerungen allgemein durch, führen zu einem gesamtwirtschaftlichen Ausgleich der Profitrate auf niedrigerem Niveau, womit der nächste Zyklus einsetzt. Auf diese Weise kommt es zu einer langfristigen Tendenz zum Fallen der Durchschnittsprofitrate wie einer beständigen Ausdehnung der Produktion, begleitet von einem noch größeren Wachstum des Kapitalstocks.

In den 1960er Jahren wurde die Profitratentheorie von Marx nicht nur von Baran/Sweezy (die dies mehr auf empirischer Ebene taten), sondern auch von theoretischer Seite in Frage gestellt. Der japanische Wirtschaftstheoretiker Nobuo Okishio stellte 1961 Berechnungen an, nachdem bei gleichbleibenden Reallöhnen und einer Verbilligung von Produktionsmitteln im Gefolge von Produktivitätssteigerungen die Profitrate steigt und nicht sinkt. Dieses „Okishio-Theorem“ wurde auch von „MarxistInnen“ als Widerlegung des Profitratenfalls angesehen, da damals eine Reduktion von Wertkategorien auf Preiskategorien allgemein anerkannt wurde. In ausführlichen Kontroversen um das Okishio-Theorem wurde insbesondere auf wertanalytischem Hintergrund dieses Theorem widerlegt. Ohne auf die Details eingehen zu können, hat z. B. Andrew Kliman gezeigt, dass es darauf ankommt, wie die Kapitalzusammensetzung (Verhältnis von Lohnarbeit und Kapitalstock) bestimmt wird, die in die Profitratenberechnung eingeht. Marx selbst hat zwischen der „technischen Zusammensetzung“ (materielles Verhältnis von Produktionsmitteln als Vergegenständlichung vergangener Arbeit und der benötigten gegenwärtigen Arbeitszeit) und der „organischen Zusammensetzung“ (Wertausdruck der technischen Zusammensetzung aus konstantem und variablem Kapital) unterschieden. Für das Kapital, das einen alten durch einen neuen Produktionsprozess ersetzt, ändert sich die technische Zusammensetzung, ohne dass sich dadurch im gesamten Sektor (der diese Neuerung noch nicht eingeführt hat), die Wertzusammensetzung geändert hat. Umgekehrt führen technische Neuerungen, die Produktionsmittel verbilligen, die einige Kapitalisten zuerst einsetzen, ebenfalls noch nicht zu einer Änderung der Wertzusammensetzung. Schließlich führt die Durchsetzung, Verallgemeinerung der Wertänderung dazu, dass große Teile des bestehenden Kapitals entwertet werden, wodurch gerade die Teile des Kapitals, die noch die alte technische Zusammensetzung verwenden, Profit verlieren. Was also auf der Ebene des Einzelkapitals in Preiskategorien als Profitratensteigerung erscheint, ergibt sich auf der Ebene des Gesamtkapitals im Verhältnis von technischer und organischer Zusammensetzung des Kapitals als Profitratenminderung für das Gesamtkapital. Betrachtet werden muss daher die Profitrate nicht als Verhältnis von Profitmasse zum Kapitalstock in seinen gegenwärtigen, auf modernster Technik beruhenden Preisen, sondern in dessem „historischen“ Wert (eine Differenz, die sich für das Kapital in größer werdender „Abschreibung“ ausdrückt).

In der statistischen Auswertung ist es daher wichtig, für die Profitratenberechnung vom „historischen“ Wert des Kapitalstocks auszugehen und nicht die Wiederbeschaffungspreise, sondern die historischen Preisreihen zu verwenden. Außerdem ist in den vorhandenen Statistiken oft eine Vermengung von produktivem Kapital und anderen Kategorien (z. B. Handel, Banken, Dienstleistungen etc.) gegeben. Ein richtiger Ausgangspunkt für die Profitratenberechnung ist daher, z. B. zunächst eine „sichere“ Ausgangsbasis zu wählen, z. B. die nicht-finanziellen Gesellschaften („non-financial corporate business“) in den USA. Dieser ist bedeutend genug, um Sondereffekte und Nischenbereiche zu umgehen und ist weltweit so bestimmend, dass er als Leitindex für alle anderen Profitratenbetrachtungen dienen kann. Zur Berechnung wird zumeist die Rendite auf den Kapitalstock herangezogen. Die Profitrate nach Marx vergleicht zwar Profitmasse zu eingesetztem Kapital PLUS Lohnsumme. Die Kapitalrendite ist jedoch offensichtlich eine obere Grenze für letzteren Bruch – und solange die Lohnsumme nicht sinkt, hat diese auch keinen dämpfenden Effekt auf die Gesamtrate. Daher ist diese Vereinfachung akzeptabel. Schließlich kann noch die Art der Bemessung der Profitmasse diskutiert werden (vor oder nach Steuer- und/oder Zinsabzügen auf verschiedenen Stufen in der Bilanzierung von Gewinnen). Eine übersichtliche Darstellung mit entsprechenden Berechnungen findet sich bei T. Kalogerakos [xlvii]. Seine Berechnung des Verlaufs der Profitrate für nicht-finanzielle Gesellschaften in den USA von 1945 bis 2008 findet sich in Abbildung 12.

Abbildung 12: Profitrate nicht-finanzieller Gesellschaften in den USA, 1946-2011 [xlviii]

Die oberste Kurve (TSVR) bezeichnet das Verhältnis von „Gross Profit“ (also dem Gewinn ohne jegliche Abzüge außer Lohn- und Produktionskosten) und Kapitalstock (in historischen Preisen). Die unteren Kurven beziehen sich auf unterschiedliche Abzüge vom Bruttogewinn (Steuern auf Produktionskosten, Zinsen und Dividenden, Gewinnsteuern). Die durchgezogenen Linien sind Anwendungen von statistischen Filtern, die zyklische Abweichungen begradigen.

Erkennbar ist jedenfalls der langfristige absteigende Trend, insbesondere der Bruttoprofitrate, der sich allerdings stark zyklisch durchsetzt. So sieht man ein scheinbares Abheben der Profitrate Mitte der 1950er Jahre, dem ein Einbruch Mitte der 1960er Jahre folgt. Diese kann erst in den 1980er Jahren auf niedrigerem Niveau wieder stabilisiert werden. Es folgt ein neuerliches scheinbares Abheben Anfang der 1990er Jahre, das schon in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts wieder stark einbricht. Die Erholung Anfang der 2000er kennen wir heute als von den Finanzmärkten aufgeblähten Scheinaufschwung, der in der großen Rezession von 2008/2009 mündete. Die Fortsetzung der Geschichte kann man regelmäßig aktualisiert im Blog von Michael Roberts nachlesen. Danach gab es zwar bis 2012 wiederum eine Erholung der Profitrate bis fast auf Vorkrisenniveau, um dann ab 2014 bis 2018 auf einen Wert unter 23 % zu fallen (mit langfristigem Trend zu weiterem Fallen).

Auffällig ist auch, dass das, was letztlich bei den Unternehmen an Gewinn verbleibt (nach allen Abzügen) relativ konstant ist – außer einem leichten Absinken in den 1970er Jahren. Dies ist offensichtlich vor allem auf Steuererleichterungen für die Unternehmen zurückzuführen. Andererseits drückt vor allem die Öffnung zwischen den beiden mittleren Kurven den Anstieg der Einnahmen des Finanzkapitals aus den Unternehmensgewinnen aus, deutlich zu Lasten der Steuerabgaben.

In einem lesenswerten Artikel [xlix] aus dem Jahr 2009 hat Dave Zachariah wichtige Anstöße für ein genaueres, auch mathematisches Verständnis der Profitratentheorie von Marx geliefert. Durch seine wahrscheinlichkeitstheoretische Deutung der Werttheorie (die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit stellt sich ja immer erst „im Nachhinein“ her), kommt er zu weit präziseren Akkumulationsmodellen als solche, die Wertbegriffe durch neoklassische Variablen (in Preiskategorien) simulieren. Hierbei wird die Profitrate zu einem Erwartungswert, der sich aus verschiedenen möglichen Verteilungen von Kapital und Arbeit gemäß unterschiedlicher technischer Zusammensetzung des Kapitals ergibt. Ohne hier näher auf die Hintergründe einzugehen, sei nur gesagt, dass die Ausarbeitung Zachariahs dazu führt, dass es im Wesentlichen drei Komponenten gibt, die die Richtung der Entwicklung der Profitrate bestimmen:

„über dem Bruchstrich“: Wachstum von Beschäftigung (mehr ArbeiterInnen)

„über dem Bruchstrich“: Wachstum der Arbeitsproduktivität (mehr Wert pro ArbeiterIn)

„unter dem Bruchstrich“: Wachstum der Bruttoinvestitionen (Ersatz-/Neuanschaffung von Kapital)

Letzteres ist insofern wesentlich, da mit größer werdendem Kapitalstock, das Ausmaß der Ersatzinvestitionen enorm zunimmt und mit den geringer werdenden Neuinvestitionen der Spielraum für Steigerungen der Arbeitsproduktivität und Neubeschäftigung abnimmt. Die folgende Abbildung zeigt, dass in den alten Industrienationen das Gewicht der Ersatzinvestitionen gegenüber der Profitmasse (ganz wie Marx es vorausgesagt hat) immer stärker ansteigt:

Abbildung 13: Brutto- und Nettoinvestitionen in Relation zum BIP [l]

In den USA ist ersichtlich, dass die Gesamtinvestitionen seit den 1980er Jahren bei etwa 80 % der Profitmasse liegen, aber nur noch unter 20 % für Neuinvestitionen zur Verfügung stehen. In Japan übersteigen die Bruttoinvestitionen schon seit Mitte der 1970er Jahre die Eigenfinanzierung aus dem Profit, was längerfristig auch das relativ hohe Niveau von Neuinvestitionen seit den 1990ern zurückgehenlässt. Die Lücke zwischen Bruttoinvestitionen und Neuinvestitionen, die hier aufgeht, bedeutet letztlich, dass immer mehr akkumuliert wird, um bestehendes Kapital zu verwerten und der Spielraum für Steigerungen der Produktivität (als wesentliche entgegenwirkende Ursache zum Profitratenfall) geringer wird. Dieses Moment ist insbesondere seit Beginn der 2010er Jahre v. a. in den USA bestimmend.

Die genannten Faktoren machen für die Betrachtung von armen bzw. „mittleren“ Ländern klar:

  • Das Akkumulationspotential ist durch großes Arbeitskräfteangebot, geringeren Kapitalstock und große Möglichkeiten zu Produktivitätssteigerung hoch (Start mit hohen Profitraten)
  • Mangel an Kapital, Restriktionen zu Technologiezugang und fehlende „Mobilität“ von Arbeitskräften („rasch Beschäftigte mit richtigen Qualifikationen finden“) sind interne entgegenwirkende Faktoren.

Deswegen waren die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in allen diesen Ländern sehr verschieden, je nachdem wie die Potentiale für die Steigerung der Profitrate einerseits und den Kapitalaufbau andererseits genutzt werden konnten. Die folgende Abbildung zeigt einen Vergleich der Kapitalrenditen(Vorsicht: die Berechnung mithilfe von Kapitalproduktivität und Gewinnquote aus den Zahlen der Gesamtökonomie liefert nur einen Anhaltspunkt für die tatsächliche Profitrate; außerdem ist die Penn-Reihe wieder lückenhaft und liefert für China natürlich erst seit 1995 Zahlen):

Abbildung 14: Profitratenberechnung auf Basis der EPWT

Für viele „Entwicklungsländer“ galt in den 1960er Jahren, dass sie von wesentlich höheren Profitraten als die imperialistischen Zentren starteten (z. B. Südkorea bei 70 %, Brasilien zwischen 50 und 60 %, gegenüber unter 40 % in den USA). Dies entspricht mehr den Erwartungen in Investitionsmöglichkeiten als tatsächlichen großen Fortschritten in der damaligen Zeit. Länder wie Algerien, die durch die Erdöl- und Erdgasindustrie schon einen großen Kapitalstock „geerbt“ hatten, fingen naturgemäß mit einer weitaus geringeren Profitrate an (hier 40 %).

Südkorea folgt dem klassischen Akkumulationsmodell: mit sehr schnell steigendem Kapitalstock sinkt sogar bei sinkender Lohnquote die Profitrate, bis sie sich um 2000 auf niedrigem Niveau stabilisiert. Wie gesehen hängt dies vor allem an einem langsameren Wachstum des Kapitalstocks gegenüber dem Wirtschaftswachstum, aber auch einem weiteren Sinken der Lohnquote. Beides deutet darauf hin, dass es Südkorea gelungen ist, seine Arbeitsproduktivität wesentlich zu verbessern.

In Brasilien wiederum führte der rasche Aufbau des Kaitalstocks während der Militärdiktatur (Halbierung der Kapitalproduktivität) schneller zu einem Sinken der Profitrate. Hier wirkte die Krise der 1980er Jahre, die den Aufbau des Kapitalstocks bremste, hin zur Wiederherstellung einer höheren Profitrate in den 1990er Jahren. Das wiederum befeuerte erneute Investitionen in Brasilien bis zum Einbruch nach 2014.

In Algerien ist der Fall der Profitrate in den 1970er Jahren kein Zeichen der Überakkumulation wie in Südkorea, sondern Ergebnis von geringer Veränderung von Arbeitsproduktivität und Beschäftigung im produktiven Sektor gegenüber einem aufgeblähten Kapitalstock der Energiewirtschaft. Das Sinken der Profitrate unter 20 % in den 1980er Jahren war zusammen mit der Krise der Ölindustrie der Auslöser einer schweren Wirtschaftskrise. In deren Verlauf wurde die Profitabilität offensichtlich wiederhergestellt. Wie an den zuvor dargestellten Daten ersichtlich, gelang dies vor allem durch ein extremes Senken der Lohnquote, d. h. von Löhnen und staatlichen Leistungen.

Wie ersichtlich, folgt der Verlauf der Profitraten in den Ländern mit abhängiger Entwicklung weniger eindeutigen Trends als die der US-Gesellschaften. Verschiedene Faktoren führen zu sehr unterschiedlichen Verläufen in den Ländern und Regionen. Außerdem sind die Ausschläge und Veränderungen weitaus dramatischer (auch im Volumen der Veränderung). Während sich die Entwicklung der Profitrate der US-Gesellschaften weitgehend aus endogenen Faktoren erklären lässt, sind für die nachholende Entwicklung exogene Faktoren, die als positive oder negative Einflüsse erscheinen (Abhängigkeit von Rohstoffexport oder -import, fehlende Arbeitskräfte, fehlendes investives Kapital, Verschuldungsproblem, … ), zusätzlich wichtig.

Architektur des Weltmarktes nach 1945

Die beschriebenen Momente in der Akkumulationsbewegung des Kapitals erklären nun auch Besonderheiten in der Entwicklung des Weltmarktes für Kapital und Waren. Die Überakkumulation von Kapital (wie sie oben insbesondere beim Verhältnis von Investitionen und Profit in der japanischen Ökonomie deutlich wurde) zwingt die großen Kapitale notwendigerweise, über Grenzen verschiedener Art hinauszugehen. Dies betrifft einerseits die Grenzen des Kapitals selbst (hin zu Finanz- und fiktivem Kapital), andererseits die tatsächlichen nationalen Grenzen. Es ist durchaus wichtig, beide Aspekte im Zusammenhang zu betrachten – und offensichtlich spielt bei beidem auch der Staat bzw. die „internationale Ordnung“ eine wichtige Rolle.

Die jeweilige nationale Sphäre des Kapitals ist zunächst auch eine Zirkulationssphäre, mit eigenem Geld, Finanzinstitutionen, staatlich geregelten Märkten und Grenzen für Zu- oder Abwanderung von Arbeitskräften. Zwischen den Zirkulationssphären vermittelt zuerst das Verhältnis des Geldes als Währung mit bestimmten Tauschverhältnissen. Nach der Theorie der ökonomischen Klassik ergibt sich das Tauschverhältnis zwischen den Währungen zweier Nationen aus den unterschiedlichen Verhältnissen ihrer Arbeitsproduktivität. Darauf basiert Ricardos Lehre von den „komparativen Kostenvorteilen“: Länder mit schwächerer Arbeitsproduktivität sind aufgrund von Handelsdefiziten zur Währungsabwertung gezwungen, wodurch in Folge bestimmte ihrer Sektoren konkurrenzfähig zu denen der produktiveren Länder würden. So sorge der Währungsmechanismus für eine internationale Arbeitsteilung zum Vorteile aller („Win-Win-Situation“). Offensichtlich ist Ricardos Lehre verbunden mit der Hypothese eines Freihandelsregimes und eines auf dem Goldstandard beruhenden internationalen Währungssystems: Ein Land mit Handelsüberschüssen sammelt Fremdwährung, die es zu Fälligkeitsterminen in „Goldziehungsrechten“ von den Ländern mit Handelsdefiziten begleichen kann. Die geringere reale Goldmenge dort bedeutet dann im internationalen Zahlungsverkehr eine Abwertung von deren Währung. Dieses Ideal des kapitalistischen Weltmarktes wird schon dadurch modifiziert, dass selbst im „Freihandelskapitalismus“ eine Unmenge an Handelsbeschränkungen und Zollschranken bestanden. Außerdem gibt es Ausgleichsbewegungen mit Einfluss auf die Arbeitsproduktivität durch die Zu- und Abwanderung von Arbeitskräften (oft mit folgenden Transferzahlungen in der stärkeren Währung).

Vor allem jedoch fließt Geld zwischen Ländern nicht nur in der Vermittlung des Austausches von Waren. In Ländern mit größerer Kapitalakkumulation entsteht die Tendenz, überakkumuliertes Kapital, das sich im Inland nicht mehr produktiv (mit entsprechenden Profitraten) anlegen lässt, im Währungsausland zu investieren. Dies kann sowohl in Form von zinstragendem Kapital, von Anlage auf Kapitalmärkten, als auch in direkter produktiver Anlage geschehen. Die stärkere Währung verbilligt noch zusätzlich die Anlage, die aber nur produktiv sein kann, wenn die Währungsverluste beim Rücktransfer durch entsprechend höhere Profitraten ausgeglichen werden. Die Masse des Rückflusses wird zusätzlich die Währung des Landes mit höheren Verbindlichkeiten schwächen. Da die Kreditfinanzierung immer mehr zum Standard internationaler Zahlungsvorgänge wurde, hat auch längst das Kreditgeld den Goldstandard ersetzt. Seit dem Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods (benannt nach einem Ort in New Hampshire, USA) Anfang der 1970er Jahre ist der US-Dollar (jenseits der Goldbindung), mit dem Euro (seit den 2000ern) als Reservewährung, zur Basis des internationalen Zahlungsverkehrs geworden. Jedes Land muss entsprechende US-Dollar- (und Euro-) Reserven vorhalten, die bei langfristigen Handels- oder/und Kapitalbilanzdefiziten abschmelzen – oder eben die Währung abwerten. Mit Währungsabwertung ist sofort Verteuerung der Importe (d. h. zumeist Inflation) und eine Verbilligung ausländischer Kapitalanlage verbunden. Nur die USA (und in beschränkterer Weise auch die EU und Japan) können eine expansive Geldpolitik betreiben, ohne Folgen für die eigene Währung. Die Handelsbilanzdefizite der USA werden so durch eine hohe Inlandsverschuldung gedeckt, ohne auf die Stärke des US-Dollar zu wirken (entgegen der Lehre von den gegenseitigen Kostenvorteilen). Die Rolle des US-Dollar als Weltgeld gibt den USA einen quasi unbeschränkten Kreditrahmen, solange alle anderen Länder ihre Währungspolitik über den US-Dollar abwickeln.

Geschichtlich gesehen war der spanische Silberdollar seit dem 16. Jahrhundert das erste Weltgeld. Die jahrhundertelange Ausbeutung der bolivianischen und mexikanischen Silberminen und der „Silberhunger“ in China und Indien schufen eine globale Zirkulation von Silbergeld und „Welthandelswaren“ (SklavInnen, Zucker, Baumwolle, Tabak, Gewürze, Textilien, Porzellan, Transportleistungen, Waffen, … ), die in verschiedenen „Dreiecksbeziehungen“ internationale Handelszentren mit lokalen Märkten verbanden – und überall galt der spanische Silberdollar als anerkanntes Zahlungsmittel. Zugleich war der spanische Staat nicht in der Lage, eine entsprechende imperiale Rolle zu spielen, sondern versank sehr schnell in enormer Verschuldung (mehrere Staatsbankrotte schon im 17. Jahrhundert) und induzierte in Europa eine säkulare Inflation (schon allein dadurch, dass es eine große Differenz zwischen nominalem und realem Silbergehalt der in Umlauf gebrachten Münzen gab). Der Großteil des real durch europäischen Welthandel angeeigneten Mehrwerts wurde so in den nordeuropäischen Ökonomien (vor allem in den „7 unabhängigen Provinzen der Niederlande“ und England) akkumuliert, deren Handelsgesellschaften zu großen Welthandelsoperationen und frühindustrieller Fertigung in der Lage waren. Erst die industrielle Revolution mit konkurrenzlosen Billigwaren für den schon vorbereiteten Weltmarkt und der folgenden Verbilligung der Transportkosten schuf auch die Grundlagen für ein neues Weltgeld. Die ökonomische, politische und militärische Dominanz Großbritanniens auf „dem Weltmarkt“ brachte zum ersten Mal auch eine Macht hervor, die einen Weltwährungsmechanismus durchsetzen konnte. Nach der starken Entwertung des Silbers zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der bis dahin geltende Gold/Silber-Mix durch einen reinen Goldstandard ersetzt, wobei der Ausgleich des internationalen Zahlungsverkehrs in Bezug auf Gold, gemessen in „Pfund Sterling“, in letzter Instanz durch die Londoner Banken geregelt wurde. Der Zusammenbruch der britischen Hegemonie und die enorme Ausdehnung des Welthandels, aber auch der Finanzmärkte machten diese Bindung der Weltleitwährung an den Goldstandard immer unmöglicher. Auch wenn der US-Dollar als neue Weltleitwährung nach Bretton Woods zunächst wieder an den Goldstandard angebunden wurde, so ließ sich dies nicht lange halten: Wie Spanien waren die USA aufgrund ihrer Weltmachtrolle zu hoher Verschuldung gezwungen und eine Tendenz zur Stagnation der US-Industrie wurde begleitet von hohem Industriewachstum in Deutschland und Japan.

Inflation, Verschuldungsprobleme und die Überakkumulationskrisen der 1970er und frühen 1980er Jahre führten zu einer Phase des Übergangs zu einem neuen Weltwährungsmechanismus, der viel langwieriger und voller an Wendungen war, als es die Phrase vom „Zusammenbruch von Bretton Woods“ erscheinen lässt. Die Lösung, die Durchsetzung von auf Kredit basiertem Weltgeld in Form der Währungen zentraler imperialistischer Staaten (US-Dollar als Hauptwährung und von D-Mark, später Euro, und Yen als Reservewährungen) hat mehrere Voraussetzungen und Folgen: Sie ist stark an einen permanenten Aufschwung von globalen Handels- und Finanzmärkten gebunden, der Gewinne wieder in die Finanzierung der zugrundeliegenden Kreditformen (längst nicht mehr nur Staatsanleihen) zurückfließen lässt. Gelang dies zunächst über die Anerkennung von Offshore-Vermögen in diesen Leitwährungen (z. B. „Petrodollars“), so hat sich dies in eine starke Abhängigkeit von den deregulierten internationalen Finanzanlagemärkten hinein vervielfacht. Die oben entwickelte Vermögensinflation (gegenüber dem BIP-Wachstum) in den imperialistischen Ländern führt zu einer starken Anfälligkeit des Weltwährungssystems von den Anlagetendenzen dieser großen VermögenseignerInnen. Dazu kommt, dass die Verschuldungsprobleme außerhalb der imperialistischen Zentren damit genauso wenig gelöst sind wie die Fragen der Geldwertstabilität. Institutionen, die in Bretton Woods vorgeblich zum Ausgleich bei zeitweisen Handelsbilanzungleichgewichten oder zum Entwicklungsanschub gegründet wurden, nämlich IWF und Weltbank, wurden damit jetzt zu Instrumenten der Schuldenmoderation und des damit verbundenen Diktats von Wirtschaftspolitik im Interesse der GläubigerInnen.

Es wird somit klar, dass die Währungsrelationen nicht einfach auf unterschiedlichen Niveaus von Arbeitsproduktivität beruhen, sondern ebenso auf der Größe und Ausdehnungsfähigkeit der Kapitale der unterschiedlichen Länder und letztlich auch auf dem Währungsregime (heute dem US-Dollar als Weltkreditgeld). Was die unterschiedliche Verteilung des Kapitals weltweit, seine Zusammensetzung (Anteil des Finanzkapitals) und Überakkumulation (Zwang zur Suche nach produktiver Anlage betrifft), wurde oben schon einiges ausgeführt. Zusätzlich zur Neuordnung des internationalen Währungssystems während der 1970er und 1980er Jahre kommt jedoch auch noch die Veränderung der Weltmarkt- und Finanzmarkt-(De-)Regulierung hinzu. Entscheidendes Kriterium für „Kreditwürdigkeit“ sind seit den Verschuldungskrisen der 1970er und 1980er Jahre die von den „internationalen Institutionen“ geforderten Deregulierungen oder „Öffnungen“ des entsprechenden Landes in Bezug auf Waren- und Finanzmärkte. D. h. etwa Unterwerfung unter die Regularien der WTO, was Handelspolitik betrifft, Aufhebungen von Investitionsbeschränkungen, Verkauf wichtiger inländischer Industrien, keine Einschränkungen in Bezug auf Anlage auf dem inländischen Kapitalmarkt, Abverkauf der inländischen Banken etc. Das betrifft aber auch die Deregulierung der Finanzmärkte selbst: Abschwächung von Eigenkapitaldeckung und Regeln für die Besicherung von Finanzgeschäften, Aufhebung von internationalen Beschränkungen für Finanzgeschäfte, Verbriefung von fast allem (vor allem von Schulden aller Art), Erleichterung internationaler Finanzgeschäfte durch immer größere Fortschritte in der IT-Industrie, etc.

In Folge der „Entfesselung“ der internationalen Finanzmärkte in der Globalisierungsperiode ergab sich parallel zur Steigerung der globalen Akkumulation eine noch rascher wachsende von fiktivem Kapital. Wie wir an anderer Stelle ausführlich dargestellt haben, handelt es sich dabei (wie Marx schon im dritten Band des Kapitals entwickelt hat) um eine nur scheinbare Verdoppelung von Kapital: Tatsächlich Profit abwerfendes Kapital erscheint in Wertpapieren, die seine Verwertung repräsentieren, nochmals als „Kapital“. Durch die Berechnung eines fiktiven Kapitalpreises (wie etwa in der Wertpapierdiskontierung) scheint es, seine eigene Verwertung, losgelöst von seinem produktiven Ursprung, zu ermöglichen. Anders als beim Zins, der an bestimmte Fälligkeitstermine gebunden ist, und damit viel schneller an die Profitentwicklung rückgekoppelt ist, kann fiktives Kapital weiterwachsen, solange seine VerkäuferInnen immer wieder auch AbnehmerInnen finden. Die modernen Finanzmarktkrisen zeigen, dass die Profitabilitätsprobleme des Realkapitals irgendwann eben dazu führen, dass sich in genügend großer Zahl keine KäuferInnen mehr finden und es dann zum Crash kommt. In den 2000er Jahren waren die bürgerlichen ÖkonomInnen allgemein der Auffassung, dass eine Ausdehnung des Kredits, eine darauf basierende Verbriefung von Schulden und astronomisch wachsende Finanzmärkte letztlich auch das realwirtschaftliche Wachstum durch „Multiplikatoreffekte“ zum Abheben bringen würden. Tatsächlich führte dies zur Finanzkrise 2007, der Krise des internationalen Zahlungsverkehrs, dem Fast-Zusammenbruch des Welthandels und in Folge zu der schweren weltweiten Rezession 2008/2009. In Folge setzte man aber im Wesentlichen dieselbe Politik fort (wenn auch mit ein paar leichten Regulierungen in Bezug auf Sicherheiten und Eigenkapitaldeckung). Auch heute wird wieder auf das Wachstum der Finanzmärkte gesetzt und verdutzt darauf gesehen, dass das realwirtschaftliche Wachstum nicht vom Fleck kommt – um dann verwirrt zu erklären, dass sich vielleicht etwas fundamental am „Funktionieren der Märkte“ verändert habe, das man nicht versteht.

Es ist klar, dass sich diese „Explosion der Finanzmärkte“ vor allem in den imperialistischen Zentren abgespielt hat, wo nicht nur die größten Vermögen angehäuft, sondern auch die Institutionen beheimatet sind, die die weltweiten Vermögen für die Weiterinvestition einsammeln. Andererseits waren neben dem Immobiliengeschäft und den Investitionen in die neoliberale Privatisierung aber auch die Investitionen in die „emerging markets“, die „aufstrebenden“ Entwicklungsökonomien, vor allem in Asien, Ziel der globalen Anlagestrategien dieser Institutionen. Mit der wachsenden privaten Verschuldung in den USA wuchs zugleich der Import an immer billigeren Waren aus Asien. Die starke Akkumulation in Asien schien somit durch die Verschuldungspolitik in den Zentren die notwendige Nachfrage zu finden, während gleichzeitig die Masse der Bevölkerung auf beiden Seiten Wohlstandsgewinne erziele (eine neue „Win-Win“-Story). Allein die Geldmarktfonds in den USA (in deren Titeln der Großteil des internationalen Zahlungsverkehrs abgewickelt wird und die meist mit einem Mix an Schuldtiteln gesichert werden) wuchsen bis 2005 auf ein Verhältnis von 145 % gegenüber dem US-BIP (Geldmenge M3). Anders als in den 1970er Jahren führte diese extreme Ausdehnung von Kredit- und Geldmenge nicht zur Inflation, da dies durch die immer mehr sinkenden Erzeugerpreise ausgeglichen wurde. Andererseits führte die Finanzkrise 2007 durch das Übergreifen auf die Geldmarkfonds unmittelbar zu einer Geldkrise, die den Fast-Kollaps 2008 besonders dramatisch machte.

Finanzmarktkrisen (rasche Entwertung von fiktivem Kapital) führen damit sofort zu einer Kette von Zahlungsproblemen für die nicht einbringbaren Schulden, zu einer Masse an Pfändungen auf Vermögenswerte, allgemein zu Liquiditätsproblemen (Geld als Zahlungsmittel). Die Finanzmarktkrise geht damit unmittelbar in eine Bankenkrise über, sofern Schulden in großer Zahl tatsächlich abgeschrieben werden müssen und die Eigenkapitaldeckung für die Begleichung der eigenen Verbindlichkeiten auch nicht mehr ausreicht. Dem folgt unmittelbar eine „Kreditklemme“ für das produktive Kapital, das seine Überakkumulation nicht mehr durch Finanzmärkte und Schuldenausdehnung finanzieren kann. Die Krise kehrt dann zu ihrem Ausgangspunkt zurück und äußert sich in Produktionsstillegung, Abschreibung von produktivem Kapital und Massenentlassungen. Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen den imperialistischen Zentren und der Peripherie ist nun die Rolle des bürgerlichen Staates in diesem Krisenmechanismus. In den imperialistischen Staaten stehen genug Vermögenswerte auch im öffentlichen Sektor zur Verfügung, um bei schweren Finanzmarktkrisen eine Bankenkrise durch Übernahme (quasi Verstaatlichung) von nicht einbringbaren Schulden abzubremsen (z. B. durch die Bildung von „bad banks“ in öffentlicher Hand, direkte Umwandlung in Staatsschulden etc.). Gleichzeitig können die Zentralbanken imperialistischer Staaten (durch die Rolle von US-Dollar, Yen und Euro im Weltwährungssystem) ihre Geldmengen trotz Krise sogar ausweiten (Niedrigzinspolitik), um Liquiditätsprobleme zu überwinden. Damit werden Kreditklemmen im Allgemeinen rasch überwunden und Auswirkungen auf das produktive Kapital abgefedert.

Ganz anders die Rolle des Staates bei Krisen in Halbkolonien: Hier muss zur Sicherung der eigenen Finanzmärkte und des Zuflusses an Kapital der Staat zumeist eine aggressive Austeritätspolitik (Schuldenabbau) und eine restriktive Geldpolitik (Hochzinspolitik) durchführen, um gleichzeitig bei der „Bankenrettung“ insbesondere die ausländischen Verbindlichkeiten derselben zu bedienen – was selbst wieder zu einer noch größeren Vermögensübertragung an ausländisches Kapital führt (bzw. den Staat als Schuldner eben zu der Austeritätspolitik zwingt). An dieser Stelle wirken dann die bekannten internationalen Institutionen, insbesondere der IWF und die Weltbank, als die Hebel zur Durchsetzung einer entsprechenden „Krisenpolitik“. Während der Staat in den imperialistischen Zentren als Abfederung im Krisenfall dient, wirkt er in den Halbkolonien als Verstärker, dessen Hauptfunktion die Rettung des Werts der ausländischen Direktinvestitionen ist.

Eine weitere Kehrseite des großen Kapitalzuflusses in die „emerging markets“ ist einerseits die Verstärkung der Finanzierungsprobleme derjenigen Länder, die entweder sich nicht an die vom Finanzkapital definierten Regeln halten (siehe Argentinienkrise) oder keine entsprechenden Investitionsmöglichkeiten bieten (siehe vor allem große Teile Afrikas). Auch diejenigen, die von den Investitionen „begünstigt“ werden, haben bestimmte Konsequenzen zu tragen: Viele der Investitionen werden tatsächlich im Rahmen von Privatisierungen oder dem Aufbau von GVCs getätigt. Bei beidem handelt es sich um eine Form der abhängigen Entwicklung. Vor allem ist diese darauf ausgerichtet, die günstigen Ausbeutungsbedingungen in den betroffenen Ländern auszunützen. Insbesondere die Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse wird dabei sowohl quantitativ (starker Anstieg der Proletarisierung) als auch in der Form von Kontrolle und Repression gefördert. Dies wird nicht zuletzt auch durch die Zahlen zu Anstieg der Beschäftigung, Wachstumsraten und gleichzeitigem Sinken der Lohnquote, die wir schon angeführt haben, deutlich.

Zusätzlich wird auch der Handel von Primärgütern immer stärker von den Finanzmärkten dominiert. Ein Faktor, der sich in den letzten Jahrzehnten dabei in den Vordergrund geschoben hat, ist die Bedeutung der Waren- und Terminbörsen. Rohstoffe und Agrargüter werden immer weniger direkt gehandelt, sondern vermittelt über diese Agenturen. So wird das Kilo Kaffee schon lange vor seiner Ernte an einer Terminbörse verkauft, zu einem Preis, der auf Annahmen beruht, wie diese tatsächliche Ernte ausfällt. Zumeist tragen damit die ErzeugerInnen das Risiko für Ernteausfälle bzw. erhalten damit oft unerfüllbare Vorgaben. Denn viele kleine AnbieterInnen stehen hier der geballten Handelsmacht des großen Kapitals gegenüber, das damit das ganze Risiko der Marktschwankungen auf die Menschen in den armen Ländern abschiebt. Auf der Produktionsseite dagegen sind es auch immer größer werdende Konzerne, die z. B. weltweit Saatgut oder Düngemittel monopolisieren und so ebenfalls die kleinen ErzeugerInnen in ihre Abhängigkeit bringen. So setzt sich auch im Agrarsektor die Smile-Kurve durch: Am Beginn und am Ende stehen große Konzerne und Finanziers im „Norden“, die den Löwenanteil an der „Wertschöpfung“ abbekommen, während die eigentlichen ProduzentInnen im „Süden“ kaum etwas vom Endpreis erhalten.

Insgesamt kann man daher die Funktionsweise des modernen Neokolonialismus so zusammenfassen:

  • Die weltweite Verteilung des Kapitals konzentriert die Massen des verfügbaren Finanzkapitals im globalen Norden
  • Die Deregulierung der globalen Finanzmärkte und das gegenwärtige Welthandelsregime zwingen die Länder des globalen Südens zur Öffnung ihrer Märkte für globalen Kapitalzufluss, ohne den die eigene Wirtschaft unterkapitalisiert und krisenhaft wäre
  • Der Zwang zum Aufbau von US-Dollarreserven und der Zufluss von US-Dollar-Kapital führen zu starker Ausrichtung der Wirtschaft auf Exportsektoren und die Sektoren, für die ausländische Direktinvestitionen sich interessieren könnten; eine eigenständige Wirtschaftspolitik und Entwicklung sind so nicht möglich, ganz gleich welche Regierung an die Macht kommt
  • Die Entwicklung der eigenen Industrie gliedert sich ein in „globale Wertschöpfungsketten“ (GVCs) nach dem Muster der Smile-Kurven, mit den ProduzentInnen im Süden im Bereich des Minimums der Kurve
  • Der Welthandel wird durch Finanzkonzerne, Waren- und Terminbörsen und die Regeln der WTO strukturiert – alles Elemente, die die ungünstigen Terms of Trade zwischen Norden und Süden verewigen
  • Die Durchsetzung des US-Dollar (und als Reserve Euro, Yen) als Weltwährung ermöglicht zusammen mit den niedrigen Erzeugerpreisen aus dem Süden einen Aufschub von Überakkumulationskrisen im Norden auf Grundlage einer auf Schulden basierten Akkumulation von fiktivem Kapital; dies führt einerseits zum Verschieben der Krisenrisiken in den globalen Süden, andererseits zur Gefahr von Finanzmarktkrisen, die die ganze Welt erschüttern (um dann besonders im Süden ausgebadet zu werden)
  • Im Krisenfall wirken die imperialistischen Staaten als Abfederung von Finanzierungs- und Liquiditätsproblemen für ihre eigenen Ökonomien, während sie in den Halbkolonien als Verstärker dieser Probleme wirken und die Sicherung der ausländischen Investitionen als primäre Aufgabe verfolgen; dies wird durch Institutionen wie IWF und Weltbank abgesichert; die Krise schlägt in den Halbkolonien notwendig auf Einbrüche in Produktion und Massenkaufkraft durch

Natürlich haben sich unter diesen Bedingungen einige halbkoloniale Ökonomien stark „entwickelt“, d. h. haben große Kapitalstöcke und ArbeiterInnenklassen aufgebaut. Andere Ökonomien sind dabei jedoch auf der Strecke geblieben (bis hinunter zu den „failed states“). Andere verblieben auf dem Status, wesentlich Rohstofflieferantinnen zu sein, andere wiederum sind gegenüber schon erreichten Ständen stark zurückgefallen (wie Argentinien, Algerien/Nordafrika, Südafrika). Auch dort wo Entwicklung stattfand, ist diese primär im Interesse des globalen Kapitals vor sich gegangen, ist also weiterhin „abhängige Entwicklung“. Richtig ist aber, dass sich das Bild heute sehr viel uneinheitlicher als noch in den 1960er Jahren darstellt. Dazu kommt, dass mit China und Russland neue imperialistische Großmächte beim Kampf um die Regulierung und Aufteilung der Weltmärkte dazugekommen sind und einige Halbkolonien, wie Südkorea und Taiwan, rein ökonomisch gesehen zu den „reichen Ländern“ aufgeschlossen haben. Dies führt insgesamt zu einer schärferen Konkurrenzsituation zwischen den großen Kapitalen, was insbesondere die hegemoniale Position des US-Kapitals in der imperialen Ordnung, wie sie seit dem 2. Weltkrieg bestand, untergräbt. Damit werden auch die Verhältnisse und Mechanismen, mit denen bislang neokoloniale Kontrolle ausgeübt wurde, verändert. Investitionen und Kredite aus China und dessen eigene imperiale Projekte (wie die „neue Seidenstraße“) scheinen als „Alternative“ zu den bisherigen Vorgaben aus den anderen imperialistischen Zentren. Die Antwort der USA in Form von scharfen Konflikten um Handelspolitik ließ nicht lange auf sich warten. Der Kampf um die Neuordnung des Weltmarktes und des Weltwährungssystems hat längst begonnen.

Aus der Darstellung der Durchsetzung von „Entwicklung als Entwicklung von Abhängigkeit“ wird deutlich, dass die primäre Funktion der „neokolonialen Beherrschung“ die Erschließung der Halbkolonien für die Akkumulationsbedürfnisse des imperialen Kapitals ist. Insbesondere für die Überakkumulationstendenzen dieses Kapitals stellt die halbkoloniale Ökonomie eine wesentliche entgegenwirkende Ursache für Profitabilitätsprobleme, Nachfrageschranken und Verengung von Investitionsmöglichkeiten dar. Sekundär folgt dann auch ein Profitabfluss (für die Erträge von Direktinvestitionen) und ein Handelsgewinn (aufgrund der Terms of Trade). Dies sind auch in Preisen messbare Werttransfers in die imperialistischen Zentren. Doch sind die Preiskategorien hierbei stark irreführend. Wie an den Beispielen der GVCs und der Agrarpreise dargestellt wurde, werden Weltmarktpreise in diesen Sektoren so gebildet, dass in Bezug auf die Wertschöpfung die in den Halbkolonien geleistete Arbeit systematisch unterbewertet wird gegenüber den Finanz- und Handelsspannen der Weltmarktkonzerne. Das heißt, hinter den in US-Dollar messbaren Geldtransfers in die Metropolen steht noch ein weitaus größerer Werttransfer, der sich hinter der Bildung von Weltmarktpreisen verbirgt.

Werttransfers und Kapitalexport

Doch zunächst sollte auch der in den offiziellen Kapitalbilanzen messbare Werttransfer erwähnt werden. Eine Form der Darstellung, die z. B. Piketty verwendet, ist die Differenz von Inlandsprodukt und Nationaleinkommen. Die Größe der Inlandsproduktion wird zunächst aus dem BIP durch Abrechnung der Abschreibungen auf Vermögenswerte berechnet – davon wird dann zur Bildung des Nationaleinkommens der „Außenbeitrag“ ab- bzw. zugerechnet. Dies ist das Netto aus den Kapitaleinkünften (bzw. auch Transferzahlungen, die aber dagegen zu vernachlässigen sind) zwischen In- und Ausland. Ein Land, in dem es einen größeren Zufluss an Zinsen, Dividenden, Erträgen aus Kapitalanlagen bzw. Verkäufen derselben als einen Abfluss davon gibt, hat einen positiven Außenbeitrag. Die Weltbank verwendet den Prozentsatz des Außenbeitrages mit positivem oder negativem Vorzeichen als Indikator für „Entwicklung“ und Kreditwürdigkeit eines Landes. Zumeist wird hier das Verhältnis von Bruttoinlandsvermögen (GNI) zu Bruttoinlandsprodukt (BIP) betrachtet (d. h. es wird bei beiden Werten die Abschreibung nicht berücksichtigt). Die folgende Abbildung zeigt an drei Beispielen den typischen Vergleich zwischen imperialistischer und halbkolonialer Welt (der Achsenwert „1“ bedeutet keine Auswirkung des Außenbeitrags; „1,xx“ bedeutet, dass xx % zusätzliche Werte aus dem Ausland in das im Inland zu Verfügung stehende Einkommen eingehen; „0,yy“ bedeutet, dass (100-yy) % des eigenen Inlandsprodukts an Werten ins Ausland abfließen).

Abbildung 15: Verhältnis von Nationaleinkommen und Sozialprodukt [li]

Die Kurve für Japan zeigt seit den 1980er Jahren konstant nach oben und wurde auch durch die Finanzmarktkrise nicht wesentlich gebremst. Japan hat heute einen positiven Außenbeitrag von um die 3 %. D. h. etwa 10 % der Profiteinnahmen des japanischen Kapitals kommen aus dem Saldo von Auslandsinvestitionen und Investitionen von ausländischem Kapital in Japan. Auch bei dem geringen Wachstum der japanischen Ökonomie der letzten Jahre sind so weitere Gewinnsteigerungen möglich. Japan und Deutschland (das heute bei gewöhnlich über 2 % Außensaldo liegt) sind dabei von den großen imperialistischen Ländern die größten Profiteure von Kapitaleinkommen aus dem Weltmarkt (was auch mit der Rolle von Finanzgeschäften entlang der GVCs zu tun hat). Spitzenreiter ist allerdings Norwegen, dass durch seine Ölfonds und deren weltweite Anlagen heute über 4 % Außenbeitrag erzielt. Die USA bieiben mit 1 % eher im unteren Feld der ImperialistInnen, was angesichts der steigenden Verschuldung sogar erstaunlich ist. Dies liegt daran, dass die USA trotz riesigen Handelsbilanzdefizits und hoher Staats- und Privatschulden weiterhin beständige Kapitalzufuhr (in den „sicheren Hafen“ des Zentrums des US-Dollars) erfahren. Die riesigen Vermögen und diese Kapitalzufuhr erlauben es wiederum den USA, als größte Kapitalexporteurin zu agieren und so die eigenen Verpflichtungen gegenüber dem Ausland mehr als nur bedienen zu können. Während und um die Finanzmarktkrise von 2006-2012 sank der Außenbeitrag allerdings auf nur knapp über 0 %.

Ganz anders halbkoloniale Ökonomien: Das Beispiel Argentiniens zeigt, wie unmittelbar ökonomische Krisen auch in Kapitalabfluss und einen negativen Außenbeitrag durchschlagen. Anfang der 1980er Jahre, während der „Verschuldungskrise“ in Lateinamerika, stieg der abzuliefernde Außenbeitrag sogar auf über 5 %. Dies ist im Übrigen der Wert, der im Durchschnitt heute für Afrika gilt. Ein solcher Wert bedeutet, dass etwa ein Sechstel des Profits abzuliefern ist bzw. bei langfristiger Dauer ein entsprechender Teil des Kapitals direkt von ausländischem Kapital beherrscht sein wird. Da ausländisches Kapital sich auf wesentliche, für den Export relevante Sektoren konzentriert, gehen Schätzungen davon aus, dass in afrikanischen Ländern 30 – 40 % der Schlüsselindustrien in Auslandsbesitz sind.

Lateinamerika fiel während des „verlorenen Jahrzehnts“ auch auf dieses Niveau zurück. Dies hatte auch dort zu einem massiven Ausverkauf und einem Abwürgen von weiterer Entwicklung durch die Schuldendienste an die imperialistischen Länder geführt. Ende der 1980er Jahre kam es zu einem teilweisen „Schuldenerlass“, der mit harten wirtschaftspolitischen Auflagen gekoppelt war (Brady-Plan). Danach sank der Außenbeitrag zunächst wieder auf das für „entwickelte Halbkolonien“ übliche Ausmaß von 1 – 2 % (Brasilien hat es von 1995 bis heute auf konstant unter 1 % negativen Außenbeitrag geschafft, manchmal sogar bei günstigem Stand der Rohstoffmärkte einen positiven). In Argentinien dagegen schlug die schwere Finanzmarktkrise Ende der 1990er Jahre mit der folgenden Wirtschaftskrise in den frühen 2000er Jahren auch in einen enorm hohen Außenbeitrag durch. Dieser fiel maximal sogar auf über 10 % aus, was also heißt, dass sogar ein Drittel der Profite an internationale KapitalgeberInnen abzuliefern war. Die folgende Erhöhung hat lediglich zu einem Niveau von -3 % geführt, was immer noch für die schwächelnde argentinische Wirtschaft viel zu hoch für eine Erholungskonjunktur ist.

Die Entwicklung des Außenbeitrags von Ghana (einer für Afrika relativ stabilen Ökonomie) zeigt wiederum, wie stark die „große Rezession“ besonders für halbkoloniale Länder durchgeschlagen ist. Einerseits waren bei den eingetriebenen Schulden im Gefolge der Neubewertung von Auslandsinvestitionen tatsächlich viele Schulden oder „Vermögenswerte“ in Halbkolonien betroffen, die in unmittelbaren Zahlungsforderungen mündeten. Insbesondere die unmittelbar nach der Krise hohen Rohstoff- und Agrarpreise haben zusätzlich zu Zahlungsproblemen für Länder wie Ghana geführt. Erst das Sinken der Ölpreise und der Aufschwung der eigenen Goldschürfung führte zu einer Stabilisierung des Außenbeitrags von Ghana bei etwa -2 %.

Überraschenderweise ist auch bei den meisten asiatischen Ländern (außer China, Japan, Südkorea und Taiwan) der Außenbeitrag relativ hoch. So etwa bei Malaysia, das in den 1980er Jahren zwischen -4 und -8 % hin- und herpendelte, um sich in den 1990ern auf -5 % zu stabilisieren. Nach der Asienkrise fiel der Beitrag sogar wieder auf -9 %, um bis zur „großen Rezession“ auf -2 % zu steigen. Danach fiel man bis heute wieder auf das -4 %-Niveau zurück. Hier wird deutlich, dass viele der asiatischen Wachstumsmärkte stark vom Zufluss ausländischen Kapitals abhängig sind und damit auch ein hohes Niveau an Abfluss von Kapitalgewinnen aufweisen. Auch wenn Indien in den letzten Jahren beträchtliches eigenes Kapital gebildet hat, gehört es weiterhin zu den Netto-Kapitalimporteuren. Seit den 1970er Jahren gab es kein einziges Jahr bis heute, in dem Indien einen positiven Außenbeitrag aufwies. In den letzten Jahren hat sich das Niveau auf -1 % bis -2 % eingependelt. Südkorea hatte bis 2010 ebenfalls zumeist einen geringen negativen Außenbeitrag. Seitdem jedoch gehört es zu den Nettokapitalexporteuren (auch wenn auf niedrigem Niveau eines Außenbeitrags unter +1 %). Das deutet darauf hin, dass es große eigene Kapitale gibt, deren Auslandsgewinne inzwischen nachhaltig den Kapitalabfluss durch Investitionen ausländischen Kapitals (insbesondere aus Japan und China) ausgleichen können. China selbst schwankt beständig zwischen einem geringen Nettoplus und -minus. Angesichts dessen, dass China international das Hauptziel von Investitionen ist, zeigt dies zweierlei: einerseits, dass die Kapitalmarktregulierungen in China den Kapitalzufluss an Bedingungen knüpfen, die einen großen Teil der Gewinne in China selbst belassen; andererseits, dass China inzwischen selbst, ob über Staatsfonds oder privates Kapital, in großem Stil Kapitalexport betreibt. Auf jeden Fall spricht die Erfolgsgeschichte Chinas nicht gerade für den Mythos, dass die unbeschränkte Öffnung für Auslandskapital das erfolgreiche „Entwicklungskonzept“ ist.

Der Kapitalfluss zwischen Ländern besteht im Wesentlichen aus direkten Kreditgeschäften, „Portfolioinvestitionen“ (hauptsächlich Anteilseigentum, z. B. Aktien, oder Anleihen, z. B. Staats- oder Unternehmensanleihen) und „Direktinvestitionen“ (auf Englisch „FDI“ abgekürzt). Für die am wenigsten entwickelten Länder spielen zumeist Transferzahlungen (z. B. Rücküberweisungen von MigrantInnen „nach Hause“) und die „Entwicklungshilfe“ („Official Development Assistance“; ODA) eine wichtige Rolle. Die Abbildung zeigt den Anteil der verschiedenen Kapitalzuflüsse für die Länder, die die UNO-Entwicklungshilfeorganisation heute noch als „Entwicklungsländer“ bezeichnet (dazu zählen auch China und Südkorea):

Abbildung 16: Kapitalzufluss in die „developing countries“ [lii]

Hier wird deutlich, dass neben Transferzahlungen und „Entwicklungshilfe“ die ausländischen Direktinvestitionen das stabilste Element sind. Portfolioinvestitionen folgen den raschen spekulativen Strömen der internationalen Finanzmärkte, während die Kreditvergabe offensichtlich auch schnell in die eine oder andere Richtung geht. FDIs sind langfristigere Investitionen, bei denen das Auslandskapital auch die Managementkontrolle ausübt und die daher nicht so „volatil“ sind wie die anderen Kapitalzuflüsse. Daher ist die langfristige Entwicklung der FDIs der wichtigste Indikator für die Frage der internationalen Kapitaldurchdringung. Dabei ist zu beachten, dass schon seit der Schaffung des modernen Weltmarktes nach dem 2. Weltkrieg die Hauptströme von FDIs zwischen den imperialistischen Ländern fließen (auch heute noch, unter Einschluss von China, über zwei Drittel). Auch was den Rest der Welt betrifft, sind auch in den einzelnen Regionen bestimmte Länder Schwerpunkte des FDI-Zuflusses (in Lateinamerika z. B. in den letzten Jahren Brasilien). Nur was Asien betrifft, gibt es eine breitere Streuung. Auch stehen jeweils bestimmte Wirtschaftssektoren (z. B. Chemie, Pharma, Agroindustrie, Zulieferindustrien etc.) im Fokus des jeweiligen Landes. In der Form laufen die Investitionen entweder als tatsächliche Neuanlage („greenfield investment“) oder als Übernahme/Fusion von/mit bestehendem Kapital vor Ort ab. Gerade was „Entwicklungsländer“ betrifft, liegen in der Mehrzahl Übernahmen vor. Es ist auch klar, dass die Hauptakteure von FDIs multinationale Konzerne sind, deren Hauptquartiere sich zumeist in den imperialistischen Metropolen befinden.

Nach dem Gesagten ist es nicht verwunderlich, dass das größte Ziel von FDIs die USA ist. Von den etwa 2 Billionen US-Dollar, die 2017 in FDIs ins Ausland flossen, gingen 277 Milliarden in die USA (zusammen mit Kanada das Doppelte gegenüber dem Rest des amerikanischen Kontinents, auf den 147 Milliarden entfielen), gefolgt von China (134 Milliarden; allerdings mit engen Beziehungen zu den 111 Milliarden in Hongkong). Zusammen genommen war die europäische Union mit 342 Milliarden sogar der größte Block (zusätzlich machen die FDIs innerhalb Europas einen weiteren großen Anteil an den weltweiten FDIs aus). Als zentrale Drehscheibe für den asiatischen Raum spielt zusätzlich noch Singapur (76 Milliarden) eine große Rolle sowie Brasilien für Lateinamerika (68 Mrd). Danach folgt eine Gruppe von „mittelwichtigen“ Investitionszielen: Australien (42), Indien (40), Mexiko (32), Russland (26), Indonesien (21), Israel (18), Südkorea (18), Vietnam (14). Danach kommen noch einige Länder, die zumeist über 10 Milliarden erhalten (Kolumbien, Chile, Türkei, Arabische Emirate). Der Rest der Welt (darunter ganz Afrika) läuft unter „ferner liefen“ (konstant unter 10 Milliarden).

Noch deutlicher ist die Statistik, wenn man die HaupttäterInnen bei den FDIs betrachtet: hier machen die alten imperialistischen Ökonomien 80 – 60 % (je nach Konjunktur) aus. Dabei ergibt sich jedoch ein leicht anderes Bild der HauptakteurInnen, denn hier ist Japan einer der größten Investoren (mit 160 Mrd. 2017), knapp gefolgt von China (158 Mrd.; hier sind die 87 Mrd. von Hongkong zu einem großen Teil wohl Durchlaufposten für Auslandsinvestitionen nach China selbst). Danach folgen aber mit Auslandsinvestitionen um die 100 Milliarden Deutschland, Frankreich und Britannien und mit gewissem Abstand die Niederlande, Spanien, Italien und Schweden, so dass die EU wiederum auch die größte Kapitalexporteurin ist (insgesamt etwa 412 Milliarden). In Asien spielen ansonsten Südkorea (34), Singapur (44) und Taiwan (12) eine relevante Rolle. Dies wird noch ergänzt um die reichen arabischen Ölstaaten, die auch milliardenschwere Auslandsinvestitionen tätigen. Die USA liegen in den meisten Jahren an der Spitze der AuslandsinvestorInnen (2017: etwa 300 Milliarden). Ein Großteil der 2010er Jahre überwog aber der Kapitalzufluss den Kapitalabfluss (besonders dramatisch 2018, wo 300 Milliarden mehr in die USA flossen, als anderswo investiert wurde).

Damit wird auch klar, dass der so entstehende Kapitalstock (weltweit etwa 30 Billionen US-Dollar) einerseits stark in den imperialistischen Ländern konzentriert ist, andererseits aber noch viel mehr sich in ihrem Besitz befindet. Die Abbildung zeigt die Verteilung des Kapitalstocks ausländischer Firmen pro Region, gegenüber dem Besitz von Firmen im Ausland, ebenfalls nach Region:

Abbildung 17: Weltweite Anlage von Auslandsdirektinvestitionen wo und von wem, 2017 [liii]

Es wird klar, dass der Kapitalstock, der durch FDI aufgebaut wurde, insbesondere in den USA und Europa residiert, während sich derjenige in China (mit Vermittlung über Hongkong bzw. Singapur) erst im Aufbau befindet. Während sich der FDI-Kapitalstock insgesamt zu etwa zwei Drittel in den imperialistischen Ländern befindet, besitzen diese Ökonomien sogar etwa drei Viertel des weltweiten FDI-Kapitalstocks.

Diese Differenz erklärt den konstanten Abfluss von Kapitaleinkünften in die imperialistischen Zentren. Die FDI sind dabei das Element, dass diesen Abfluss konstant macht, mit zyklischen Verstärkungen durch Schuldrückzahlungen oder Abfluss von kurzfristigerem Anlagekapital.

Trotz dieser größeren Stetigkeit von FDIs unterliegen sie aber selbst auch starken Weltmarkzyklen, die mit den Überakkumulations- und Krisentendenzen in den Zentren eng verbunden sind.

Abbildung 18: Zyklen der Auslandsdirektinvestitionen seit den 1980er Jahren [liv]

Hier wird die Entwicklung der jährlichen FDI-Zuflüsse als Wachstumskurve mit dem Jahr 2010 als 100 %-Vergleichsmarke dargestellt. Die offensichtlich großen Ausschläge der Kurve werden wiederum durch Filterung mit einer langfristigen Tendenzkurve unterlegt. Daraus ergibt sich eine über den Kurven festgehaltene Periodisierung der FDI-Entwicklung:

  • Eine enorm starke Zunahme von FDIs mit durchschnittlich jährlichem Wachstum um 21 % in der Hochphase der „Globalisierung“ in den 1990er Jahren
  • Eine Abschwächung der FDIs auf immer noch hohe 8 %-Raten zwischen 2000 und 2007, wohl im Gefolge solcher Krisen wie derjenigen in Mexiko, Russland, Argentinien, aber vor allem der Asien- und Dotcom-Krise
  • Schließlich eine stagnative Tendenz nach der großen Rezession.

Die starken Einbrüche in der FDI-Entwicklung – 2000, 2007, 2012, 2016 – bedeuten jeweils für bestimmte Ökonomien, die ihre Akkumulationsbewegung auf den Weltmarkt ausgerichtet haben, eine stark krisenbeschleunigende Wirkung. Dies kann man nach 2012 und 2016 derzeit deutlich an heftigen Krisenerscheinungen in mehreren „Schwellenländern“ beobachten (z. B. Brasilien, Türkei, Argentinien, Ägypten, Indien).

Werttransfer und „ungleicher Tausch“

Die klassische Imperialismustheorie leitet die dominierende Rolle der Metropolen auf dem Weltmarkt ab aus der Rolle von deren Monopol- und Finanzkapital in der weltweiten Akkumulation. Diese verhindern (bis auf wenige Ausnahmen) durch ihre beherrschende Stellung auf dem Weltmarkt und durch die Auswirkungen ihres Kapitalexports das Aufkommen neuer, konkurrierender großer Kapitale in Ländern eines niedrigeren Entwicklungsstandes (im Sinne der kapitalistischen Entwicklung). Damit bleibt deren Kapitalakkumulation immer abhängig und untergeordnet gegenüber derjenigen der Metropolen, die sie für die Gewinnung von Extraprofiten aus ihrem Kapitalexport nutzen können bzw. zur Abmilderung von Krisentendenzen im Zentrum.

Schon die Anfänge der Dependenztheorie haben der klassischen Imperialismustheorie widersprochen, indem sie die langfristigen Tendenzen der Kapitalakkumulation nicht aus der Krisentendenz (Überakkumulation), sondern aus der Stagnation des Monopolkapitals (unproduktive Konsumption des Surplus) hergeleitet hat. Diese würde eine Ausnutzung der wirklichen Entwicklungspotentiale in der Peripherie verhindern und diese stattdessen in eine Hierarchie der Ablieferung von Surplus einbinden. Diese Grundausrichtung vor allem von Frank wurde später ergänzt durch eine noch tiefgehendere Revision der Imperialismustheorie in Form der Theorie des „ungleichen Tausches“. Diese basiert wesentlich auf den Beobachtungen der ungünstigen Terms of Trade, wie wir sie in der Prebisch-Singer-Theorie dargestellt haben. Die Theorie des ungleichen Tausches liefert nicht nur eine eigene Erklärung dieses Phänomens, sondern will auch die Mechanismen darstellen, wie sich die Hierarchie der Surplusaneignung auf dem Weltmarkt herausbildet – und zwar ohne Bezug auf die Dynamik der Kapitalakkumulation, sondern rein aus der Funktionsweise des „ungerechten“ Welthandels.

Die Theorie des ungleichen Tausches wurde ursprünglich 1962 erstmals durch den in Frankreich lehrenden griechischen Ökonomen Arghiri Emmanuel formuliert [lv]. Populär wurde die Theorie später vor allem durch einen seiner Schüler, den aus Ägypten stammenden Samir Amin, z. B. durch sein 1976 erschienenes Buch „L’impérialisme et le développement inégal“ (Imperialismus und ungleiche Entwicklung). Bemerkenswert an der Theorie ist die Nebenrolle von Kapitalexport oder von Unterschieden in Kapitalzusammensetzung oder Profitraten – der alles entscheidende Faktor für die ungleiche Entwicklung ist nach der Theorie [lvi] der Unterschied der Lohnniveaus. Während die Internationalisierung des Kapitals und die frei fließenden Geldströme Produktionsbedingungen überall vereinheitlichen würden, würde nichts dergleichen in Bezug auf die Löhne und Lebensverhältnisse zwischen den Arbeitenden in den Metropolen und der Peripherie geschehen – hier würden zumindest relativ die Verhältnisse sogar immer mehr auseinandergehen. Grund dafür sei die mangelnde Mobilität des Faktors Arbeit gegenüber dem Faktor Kapital. Die Gründe dafür sieht Emmanuel in: (1) restriktiven Bedingungen für Migration (insbesondere in die Metropolen), (2) in sehr unterschiedlichen Bedingungen für das „soziale Minimum“, das in unterschiedlich entwickelten Ländern als „überlebensnotwendig“ gesellschaftlich anerkannt ist, bzw. wie dieses mittels vormoderner Methoden zustande kommt, (3) größere Trägheit, Arbeitsplätze zu wechseln (aus sozialer Bindung an ein Unternehmen, Familientradition, …), als Marx dies angenommen habe, (4) die größere Verteilungsmacht der Gewerkschaften in den entwickelteren Ökonomien.

Damit werde das jeweilige landesspezifische Lohnniveau zu einem exogenen Faktor für die kapitalistische Entwicklung dieses Landes, während die endogene kapitalistische Dynamik ansonsten die Produktionsverhältnisse angleiche. Dies beteffe insbesondere die technische Zusammensetzung des Kapitals und letztlich auch die Profitraten. D. h. die Konkurrenz auf dem Weltmarkt führe dazu, dass heutzutage die organische Zusammensetzung des Kapitals in Metropolen und Peripherie als gleich behandelt werden können und es auch zu einer Angleichung der Profitraten hin zu einer weltweit einheitlichen komme. Dies im Gegensatz zur Höhe der Löhne und der Mehrwertrate, die der entscheidende Unterschied zwischen imperialistischer Ökonomie und Halbkolonie sei.

Um die Auswirkung des Austauschs auf dem Weltmarkt unter diesen Bedingungen darzustellen, führt Emmanuel komplexe Berechnungen durch, die hier in einem vereinfachten Schema verdeutlicht werden. Im Modell produziert das reiche Land A im Jahr 30 Autos, das arme B 30 Tonnen Kaffee – mit jeweils der gleichen Anzahl von ArbeiterInnen.

Land A – 30 Autos 480c 120v 120s 720 nMW
Land B – 30 Tonnen Kaffee 240c 60v 180s 480 nMW

Abbildung 19: Wert der Produktion – A „globaler Norden“, B „globaler Süden“

Dabei wird in A ein Wert von 720 Stunden (Verwertung von 480 Stunden in Maschinen vergegenständlichter Arbeit und 240 Stunden neu geleisteter Arbeit) erzeugt, mit einem Wert pro Auto von 720/30 = 24 Stunden. In B wird ein Wert von 480 Stunden erzeugt, mit 240 Stunden indirekter und 240 Stunden direkter Arbeit. 1 Tonne Kaffee hat dann den Wert von 480/30 = 16 Stunden Arbeit. Damit ist die organische Zusammensetzung (v/c) des Kapitals in beiden Ländern gleich, und zwar 1 zu 4. Was sich unterscheidet, ist das Lohnniveau: um die gleiche Menge ArbeiterInnen (v) zu reproduzieren, ist in A doppelt soviel Arbeitszeit notwendig wie in B. Schließlich unterscheidet sich auch die Mehrwertrate (s/v): sie ist in B dreimal so hoch wie in A (300 % und 100 %).

In Konsequenz läge bei gleichwertigem Tausch die Profitrate (m/(c+v)) in A (120/600) bei 20 %, in B aber (180/300) bei 60 %. Kaffeeproduktion wäre also durchaus lohnender als Autoproduktion: man braucht weniger Kaffee, aber durch die niedrigen Löhne und die hohe Ausbeutung auf den Plantagen würde man viel mehr Gewinn machen. Mit den 30 Tonnen Kaffee könnten unter gleichem Tausch 20 Autos gekauft werden und die volle Wertmenge würde realisiert werden.

Nimmt man nun dagegen an, dass sich die Profitraten in A und B ausgleichen, ändern sich die Tauschverhältnisse. Ausgleich der Profitraten bedeutet, dass gleich großes Kapital auch gleich viel Profit abwirft, so dass in Summe die Gesamtmenge an Kapital (cA+vA+cB+vB=900) aus beiden Ländern wiederum zusammen den Gesamtwehrwert aneignet (sA+sB=300). Damit gleicht sich die Profitrate auf 300/900 = 33 1/3 Prozent aus. Wendet man diese Profitrate auf die Preisbildung in beiden Ländern an, ergibt sich ein neues Schema des Austausches:

A – 30 480c 120v 200 iWE 800 iWE
B – 30 240c 60v 100 iWE 400 iWE

Abbildung 20: Weltmarktpreis unter Annahme einer gleichen Durchschnittsprofitrate (33,3 %)

 Nunmehr landet ein beträchtlich größerer Gewinn (200 statt 120) in A, während er in B abnimmt (100 statt 180). Dies verteuert auch die Autos von 24 auf 800/30=26 2/3 pro Auto, während die Tonne Kaffee sich von 16 auf 400/30 = 13 1/3 verbilligt. Das Verhältnis des ursprünglichen Werts der beiden Waren 24:16=1,6 verändert sich auf 26 2/3 : 13 1/3 = 2.

Angenommen A kauft nun am Weltmarkt 6 Tonnen Kaffee, so zahlt es einen Weltmarktpreis von 6 mal 13 1/3 gleich 80. Mit diesen 80 Weltgeldeinheiten lassen sich zum Weltmarktpreis gerade mal 3 Autos kaufen (3 mal 26 2/3 ist 80). Aber von der Arbeitszeitrechnung repräsentieren die 6 Tonnen Kaffee 6 mal 16 gleich 96 Stunden, die 3 Autos aber 3 mal 24 gleich 72 Stunden. Durch diesen auf Wertebene ungleichen Tausch, eignet sich das Kapital von A ein Wertäquivalent von 24 Stunden Arbeitszeit aus B an. Da die Löhne gleich bleiben, bedeutet es, dass von den 36 in B für 6 Tonnen Kaffee geleisteten Mehrarbeitsstunden, nur 12 im eigenen Land realisiert werden. Der ungleiche Tausch bedeutet, dass die ArbeiterInnen im Land mit dem niedrigeren Lohnniveau systematisch Mehrarbeit für das Land mit höherem Lohnniveau leisten. Der durch den ungleichen Tausch bedingte Werttransfer in die reichen Länder beruhe damit auf der Überausbeutung der arbeitenden Bevölkerung in den armen Ländern.

Die Theorie des ungleichen Tausches erklärt somit die ungünstigen Terms of Trade für Peripherieländer aus dem niedrigen Lohnniveau bei gleichzeitigem Vorherrschen einer internationalen gleichen Profitrate und Kapitalzusammensetzung. Zusätzlich, und das ist der entscheidende Kern der Theorie, schlussfolgerte sie eine Dynamik, die aufgrund der Werttransfers die Lohndifferenz zwischen den beiden Teilen der Welt immer mehr auseinanderdriften lässt, was wiederum den ungleichen Tausch expandieren hilft. Dieser sich verstärkende Kreislauf könne nur durch Schutzmaßnahmen gegen den Weltmarkt bis hin zur Autarkie durchbrochen werden.

Insbesondere führt diese These auch dazu, Lohngewinne in den imperialistischen Ländern als Verstärkung der Ausbeutung in den Halbkolonien zu erklären. Die auseinandergehenden Lohnniveaus, auch durch die gewerkschaftlichen Kämpfe in den Metropolen, führen zu verstärktem Werttransfer aus der Peripherie, die letztlich auch die größeren Verteilungsspielräume in den Metropolen ermöglichen. Die ArbeiterInnen in den Metropolen werden so zur globalen „ArbeiterInnenaristokratie“, die den Kämpfen der Ausgebeuteten in der Peripherie genauso entgegenstünden wie die großen Kapitale. Somit könne der Imperialismus in seinen Heimatländern einen breiten gesellschaftlichen Konsens für seine globale Ausbeutungsordnung organisieren.

Kritik des „ungleichen Tausches“

Die Theorie des ungleichen Tausches hat mehrere methodische Fehler, die sich aus den Voraussetzungen, das Durcheinanderwürfeln mehrerer Analyseebenen, ergeben und zu einem Verfehlen des Zusammenhangs der Entwicklungsgesetze des Kapitals durch die im Schema dargestellten Tauschverhältnisse auf dem Weltmarkt führen.

Die Marx’sche Werttheorie entwickelt die Wertrechnung der erweiterten Reproduktion des Kapitals im abstrakten Modell eines grenzenlosen globalen Gesamtkapitals. Eine solche Berechnung auf dem Weltmarkt durchzuführen, muss damit schon begründet werden. Immerhin stoßen im Weltmarkt verschiedene Produktionssphären mit unterschiedlichen Produktivitäts- und Kapitalzusammensetzungen aufeinander, indem verschiedene Zirkulationssphären über ihn vermittelt werden. Die Wert-Preistransformation zu Weltmarktpreisen hat also noch einiges mehr an Vermittlungsschritten einzubeziehen als die nationale Preisbildung, die aber z. B. in der Frage der Lohnkosten sehr wohl auch eine Rolle spielt. Wir werden im nächsten Kapitel auf die Differenzen von nationaler und Weltmarktpreisbildung genauer eingehen – und dabei zeigen, dass ein zusammengefasstes Reproduktionsschema – wie oben dargestellt – somit ein Zusammenwürfeln von Ebenen der Abstraktion ist.

Zunächst aber ist die zentrale Voraussetzung von Emmanuels Theorie, dass man weltweit von gleichen Wertzusammensetzungen des Kapitals und einem bereits abgeschlossenen Ausgleich zu einer „Weltdurchschnittsprofitrate“ ausgehen kann, abzulehnen. Ersteres lässt sie sich schon empirisch widerlegen (wie sich schon oben an den Unterschieden in der Kapitalproduktivität gezeigt hat). Wesentlicher noch ist, dass ein Fehlverständnis der Rolle der „Durchschnittsprofitrate“ in der Akkumulationstheorie von Marx vorliegt. Die Durchschnittsprofitrate ist keine „an sich“ gegebene Größe, die sich auf derselben Ebene wie die Produktionskosten berechnen ließe. Es geht vor allem darum, dass es einen Prozess des Ausgleichs hin zur Durchschnittsprofitrate gibt, der die Unterschiede der Kapitalzusammensetzung der verschiedenen Sektoren des Gesamtkapitals und ihre Dynamik in Bezug auf die Produktivitätsentwicklung widerspiegelt.

Marx führt die Tendenz zum Ausgleichen der Profitrate im dritten Band des Kapitals im Rahmen des Modells eines globalen Gesamtkapitals ein, in der verschiedene Sektoren der Ökonomie unter unterschiedlichen Anforderungen an Kapital- und Arbeitskräftebedarf produzieren. Einige Bereiche der Konsumgüterindustrie mögen mit wenig Einsatz von Maschinerie und auch mit wenig qualifizierten ArbeiterInnen produzieren, während andere Bereiche, z. B. in der Produktion von Flugzeugen, mit sehr hohem Kapitaleinsatz und höherem Bedarf an speziell qualifizierter Arbeit rechnen müssen. Bei gegebener Mehrwertrate würden erstere Sektoren höheren Profit als letztere machen. Allerdings führen die unterschiedlichen Produktionsbedingungen dazu, dass sich sehr viel mehr Kapital im „einfacheren“ Sektor als in dem mit hohen Anforderungen konzentriert. Dies führt zu einem Angebotsüberhang im ersten und einem Nachfrageüberhang im zweiten. Da auch in den Sektoren die einzelnen Kapitale mit unterschiedlicher Produktivität agieren, bedeutet diese Verteilung von Angebot und Nachfrage, dass sich der Preis in den Sektoren mit niedrigerer Kapitalzusammensetzung hin zu den produktiveren Unternehmen verschiebt, in den Sektoren mit höherer organischer Zusammensetzung aber zu den Kapitalen, die weniger produktiv sind. Im Konsumgüterbereich müssen die Waren daher unter Wert verkauft werden (womit die Masse der ProduzentInnen einen beträchtlichen Teil der Mehrarbeit nicht in Profit realisieren kann), während im Flugzeugbau über Wert verkauft werden kann. Da der in der Gesamtökonomie geschaffene Wert gleichbleibt, bedeutet dies, dass ein Werttransfer zwischen den Sektoren stattfindet, durch den sich die Profitraten angleichen.

Marx erklärt den Ausgleich der Profitraten also gerade durch die Wirkung von unterschiedlicher Kapitalzusammensetzung und Arbeitsproduktivität im Verhältnis zu derjenigen in anderen Sektoren. Der Fluss von Kapital und Arbeit innerhalb und zwischen Sektoren, im Zusammenwirken mit der durch den Markt vermittelten Reproduktion des Gesamtsystems (die in einem Austauschschema dargestellt werden kann), bringt einen Werttransfer hervor, der erst den Profitratenausgleich erzeugt – und nicht umgekehrt!

Damit ist ein dynamischer Prozess in Gang gesetzt: So zwingt die erhöhte Konkurrenz in den weniger kapitalintensiven Bereichen diese tendenziell eher dazu, größere Produktivitätssteigerungen zu erzielen, Arbeitsproduktivität zu erhöhen und tendenziell Arbeitskräfte auf die Straße zu setzen. Diese finden aber in den kapitalintensiveren Bereichen Arbeit, da dort auch nicht so produktive, arbeitsintensivere Unternehmen immer noch zu kostendeckenden Preisen verkaufen können. Die Bewegung ist also zugleich eine Bewegung der wechselseitigen Anstachelung zu weiterer Produktivitätssteigerung wie auch zur Angleichung der Kapitalzusammensetzung selbst. Wie Marx es formulierte, wirft diese Bewegung zugleich beständig ArbeiterInnen aus dem einen Sektor heraus, um sie im anderen aufzunehmen, und das in rascher Folge. Da die Gesamtbewegung eine der erweiterten Reproduktion ist (also ein Teil des Profits zur Ausdehnung von Kapital und Arbeit in allen Sektoren verwendet wird), verändern sich so beständig auch die Austauschverhältnisse (Zusammensetzung der wertbildenden Komponenten) und damit auch Umfang und Richtung des Werttransfers. Die langfristige Tendenz dabei ist die des rascheren Anstiegs der konstanten Kapitalanlage wie auch des Wachstums der Arbeitsbevölkerung. Diese wächst zwar auch, aber im Vergleich zum Gesamtwachstum immer abgebremster.

Das Modell des ungleichen Tausches geht dagegen von einem gegebenen Schema von Tauschverhältnissen auf der Grundlage einer „fixen“ Gegebenheit aus, der unterschiedlichen Lohnniveaus in A und B. Die gleiche Profitrate wird dann als weitere „gegebene“ Annahme eingeführt, ohne auf die wechselseitigen Einflüsse einzugehen. Tatsächlich spricht ein geringes Lohnniveau zumeist auch für eine geringere Produktivität und daher nicht, wie zusätzlich angenommen, für eine gleiche organische Zusammensetzung des Kapitals. Emmanuels statisches Modell bleibt bei einer Periode der Reproduktion stehen – im dynamischen Modell der Ausgleichungsprozesse der Durchschnittsprofitrate kann das beschriebene Schema ganz anders fortgeschrieben werden: Die günstigen Gewinnmöglichkeiten in B-Ländern könnten tatsächlich mehr Kapital in diese Länder fließen lassen, was zu einem Überangebot z. B. der kaffeeproduzierenden Länder führen würde, während die hochkonzentrierte Automobilindustrie viel weniger Konkurrenz und größere Hemmnisse für NeueinsteigerInnen bietet. Dies bevorzugt dann aber diejenigen B-Länder, die mit höherem Kapitaleinsatz und höherer Arbeitsproduktivität auch bei niedrigem Preis ihrer Waren noch Gewinn machen. Wie im nationalen Rahmen auch würde die Gesamtbewegung zu einer Aufgabe vieler B-Länder führen, für die der Export dieser Ware nicht mehr rentabel ist (Konkurrenz nimmt zu und Kapitalzufluss nimmt ab), andererseits aber zu einem Überleben von B-ExporteureInnen mit höherer Produktivität (organische Zusammensetzung nimmt zu). Die Abnahme der Zahl der Exportländer kann in den jetzt begünstigteren und technisch besser ausgestatteten B-Ländern dann sogar zu einem Aufbau von Beschäftigung in dem Sektor führen, was dort auch die Bedingungen für Lohnsteigerungen schafft.

Die Entwicklung der Ausgleichsbewegung kann also auch unter Bedingungen des Werttransfers dazu führen, dass nicht alle weniger entwickelten Länder in der Abwärtsspirale der ungünstigen Weltmarktpreise immer mehr verarmen. Wie auch die tatsächliche, zuvor gezeigte Entwicklung beweist, kann es unter den Halbkolonien zu sehr verschiedenen Akkumulationsniveaus kommen, bei denen einige stark von dem Emmanuel‘schen Modell abweichen – z. B. halbkoloniale Ökonomien, die nicht durch ungünstige ToT dem Werttransfer ausgeliefert sind, sondern z. B. durch ihre Einordnung in internationale Produktionsketten. Dass diese Halbkolonien nicht mehr speziell durch den ungünstigen Weltmarktpreis ihrer Roh- oder Agrarprodukte ausgebeutet werden, sondern durch ihre Rolle im internationalen Produktionsprozess, macht sie nicht weniger zu Opfern der kapitalistischen Weltordnung. Im Gegenteil, oft wird die „gemütlichere“ Form von z. B. Plantagenwirtschaft durch die Mühle von Ausbeutungsverhältnissen ersetzt, wie sie in Europa die erste industrielle Revolution gekennzeichnet haben. Jedenfalls zeigt sich in der Entwicklung der Kapitalzusammensetzung in der Peripherie überhaupt nicht die Annahme von Emmanuel: wie gesehen gibt es entwickelte Halbkolonien, die sich in der Kapitalproduktivität den Zentren angleichen, während andere weiterhin einen sehr viel geringeren Kapitalstock im Verhältnis zum BIP aufweisen.

Die andere zentrale Voraussetzung von Emmanuel, die Bedeutung der Lohndifferenz zwischen A- und B-Ländern, greift theoretisch ebenso zu kurz. Wichtig für das Kapital ist ja nicht die Lohnhöhe an sich, sondern wieviel Mehrwert aus dem Produktionsprozess angeeignet werden kann. Dies bezieht sich sowohl auf die Mehrwertrate als auch darauf, wieviel Masse an Mehrwert durch welche Masse an notwendiger Arbeitszeit erzielt werden kann (Arbeitsproduktivität).

Nun führen die beständigen Steigerungen der Arbeitsproduktivität in „Hochlohnländern“ (Tendenz des Kapitals zur Rationalisierung des teureren Faktors „Arbeit“) einerseits zu Druck auf die Löhne, andererseits aber auch zur Verbilligung der Konsumprodukte der ArbeiterInnen, also jedenfalls zur Erhöhung der (absoluten und relativen) Mehrwertrate. Da Mehrwertrate und Mehrwertmasse durch solche Produktivitätssteigerungen wesentlich stärker erhöht werden können als durch Methoden der Beschäftigung von elenden, kaum ausgebildeten Menschen (denen durch Arbeitszeitverlängerung und noch unmenschlichere Arbeitsbedingungen nur marginal mehr Mehrwert abgepresst werden kann), hielten marxistische KritikerInnen Emmanuel zumeist entgegen, dass die Mehrwertaneignung in den entwickelteren Ländern sogar höher als in der Peripherie ist – dass also in den Metropolen die ArbeiterInnen zwar besser bezahlt, aber stärker ausgebeutet werden Dies wäre ein Faktor, der natürlich auch der Ausgleichsbewegung der Profitraten stark entgegenwirken würde, da Kapitalanlage in den entwickelteren Ländern daher durchaus noch bei größerem Kapitalzufluss (statt Abfluss in die Peripherie) profitable Preise erzielen kann. Dies passt z. B. auch mit der Beobachtung zusammen, dass das Ausmaß der FDI in andere imperialistische Länder bei weitem den Kapitalfluss in die Peripherie übersteigt. Das Modell der sich immer mehr erhöhenden Lohndifferenz in den beiden Welten hätte dagegen eigentlich zu einem Abfluss des Kapitals aus den Metropolen führen müssen.

Der Faktor der Arbeitsproduktivität muss eben als wichtiges Moment der Relativierung von Lohndifferenzen und der Angleichung der Mehrwertraten gesehen werden. Die Abbildung zeigt die Entwicklung des Outputs (in Kaufkraftparitäts-US-Dollar) pro Beschäftigtem/r in vier Vergleichsländern seit den 1960er Jahren:

Abbildung 21: Vergleich der Entwicklung der Arbeitsproduktivität Metropolen/Peripherie [lvii]

Es wird deutlich, dass die Arbeitsproduktivität in Indien im Vergleich sehr geringes Wachstum aufweist und erst im 2000er Jahrzehnt eine leichte Bewegung nach oben zeigt. Brasilien erreichte Ende der 1970er Jahre einen Zenit des Anstiegs, um danach auf einem Niveau darunter zu stagnieren. Beide Länder halten jedenfalls keinem Vergleich zu Südkorea und noch weniger zu Japan stand. Letzteres hat bis Anfang der 1990er Jahre konstant hohe Wachstumsraten, mit einer Delle in den 1990er Jahren. Südkorea ist dagegen ein Modell für die nachholende Entwicklung einer Halbkolonie, die sich seit den 1990er Jahren sogar auf Aufholkurs zu Japan befindet. Die niedrigeren Löhne in Indien oder Brasilien können also in den anderen beiden Ländern dadurch aufgewogen werden, dass Investitionen dort durch das Vielfache der Arbeitsproduktivität einfach mehr Wert produzieren lassen.

Die Lohnquote, die an früherer Stelle dargestellt wurde, zeigt jedenfalls auch eine Annäherung zwischen Zentrum und Peripherie. Zusätzlich spiegelt die Lohnquote nur bedingt die Mehrwertrate wider. Berücksichtigt werden muss die stark unterschiedliche Klassenstruktur in beiden. In den imperialistischen Zentren konzentriert sich ein Großteil der ManagerInnen und BürokratInnen des globalen Kapitalismus sowie deren großes Heer an lohnabhängigen „Mittelschichten“. Eine Masse von abgeleiteten Elementen des „fungierenden Kapitals“ wird über die Form des Lohnes alimentiert. Dies sind eigentlich andere Elemente des Abzugs vom Profit (neben Zins oder Grundrente), die aber in die Lohnquote als „Arbeitseinkommen“ eingehen. Piketty (wie andere) hat ausführliche länderspezifische Aufstellungen dieser „versteckten Kapitaleinkommen“ aufgestellt. Danach kann man davon ausgehen, dass die Lohnquote in den Metropolen im Durchschnitt um mindestens 10 % geringer ausfällt als eigentlich angegeben. Rechnet man dann noch die etwa 10 – 20 % besonders privilegierten Teile der Lohnabhängigen (die „ArbeiterInnenaristokratie“ ab), ergibt sich für den Rest der ArbeiterInnenklasse eine Mehrwertrate, die sich im Mittel der Halbkolonien befindet.

Zusammen mit der Tatsache der größeren Arbeitsproduktivität (größere Masse an Mehrwert) ergibt sich damit, dass tatsächlich in den imperialistischen Zentren auch anteilsmäßig mehr Mehrwert ausgepresst wird als in den Halbkolonien.

Ein weiteres Argument gegen die Theorie des ungleichen Tausches ist, dass Emmanuel von einem Modell perfekter Konkurrenz zwischen Ländern mit abgegrenzter sektoraler Spezialisierung ausgeht. Tatsächlich gibt es auf dem Weltmarkt durchaus Waren, die sowohl im Zentrum wie in der Peripherie produziert werden: unter den größten WeizenproduzentInnen finden sich sowohl Länder wie die USA und die EU als auch Indien, Argentinien und die Ukraine; ähnlich z. B. bei Schweinebäuchen. Trotzdem werden für diese Waren Weltmarktpreise über globale Marktinstitutionen (z. B. Warenterminbörsen) gebildet. Für die Emmanuel’schen Schemata ist das tödlich: Fügt man in seine Austauschgleichungen eine weitere Ware hinzu (z. B. Weizen), die in A und B produziert wird, so ändert sich die Situation. Sogar unter den Annahmen von gleicher Profitrate und höherer Mehrwertrate in B kommt jetzt als weiterer Faktor hinzu, wie Arbeit und Kapital auf die gemeinsame Ware verteilt werden. Anderson[lviii] hat gezeigt, dass sich damit für alle Hauptthesen von Emmanuel leicht plausible Verteilungen finden lassen, die genau zum Gegenteil führen: z. B. wo die Erhöhung der Löhne in A zur Verminderung des Werttransfers führt, zur Verbesserung der Terms of Trade von B bzw. zur Erhöhung der Löhne dort. Dies sagt nichts darüber aus, ob das Szenario des ungleichen Tausches wahrscheinlich ist, sondern nur, dass die Begründung aus der wachsenden Lohndifferenz keine notwendige Gesetzmäßigkeit ausdrückt.

Schließlich ist auch die Annahme der perfekten Konkurrenz zwischen Ländern mit sektoraler Spezialisierung nicht aufrechtzuerhalten. Immerhin gibt es ganze Sektoren (z. B. im Agrarbereich) die heute von sehr wenigen großen Konzernen und Finanzgruppen beherrscht werden – und das auf Weltmarktebene. Bei diesen Weltmarktpreisen kann davon ausgegangen werden, dass sie eine starke monopolistische Gegentendenz zu einer Ausgleichsbewegung der Profitraten ergeben. Insgesamt zeigen die Tendenzen der Profitratenbewegungen global (so wie wir das oben versucht haben zu zeigen), dass sich die Profitraten zwischen imperialistischen Ländern zwar annähernd angleichen, dass dies aber für die halbkoloniale Welt nicht gilt! Sowohl die Kapitalzusammensetzung als auch die Profitraten zeigen dort ein sehr differenziertes Bild und geringere organische Zusammensetzung als auch höhere Profitraten sind das vorherrschende Bild. Daher ist eher Unterkapitalisierung das Problem, als es ungünstige Profiterwartungen (durch übermäßigen Verlust durch den ungleichen Tausch) darstellen. Die zu geringe Akkumulation von Kapital gegenüber dem Potential ist auch der Grund für relative Unterbeschäftigung. Damit aber ist dann das niedrige Lohnniveau ein Resultat von zu geringer Teilnahme an der globalen Akkumulation, nicht eines von zu viel!

Ein letztes wichtiges Argument gegen die Theorie des ungleichen Tausches ist die Frage der Quantifizierung des Werttransfers. Der Werttransfer durch Tausch muss ja durch das Gesamtausmaß des Exports der Peripherieländer in die Industrieländer begrenzt sein. Da der im Verhältnis zum Gesamtprodukt in den 1960er Jahren nicht besonders hoch war, wäre damit auch der Werttransfer nicht so bedeutsam, dass die große Abwärtsspirale, die daraus gefolgert wurde, gut begründet werden konnte. Samir Amin[lix] schätzte daraufhin den Anteil des Werttransfers an den Exporten auf sagenhafte 88 %. Damit kam er dann zu der Schlussfolgerung, dass die armen Länder an die 15 % ihres BIP durch Werttransfer an die reichen abführen. Das wäre dann natürlich groß genug, um die eigenständige Entwicklung nachhaltig zu bremsen. Allerdings: wenn die Untersuchungen zur Prebisch-Singer-These zeigen, dass sich auch heute noch die Terms of Trade der Peripherie beständig verschlechtern, wäre das bei 88 % Werttransfer schon in den 1960er Jahren kaum vorstellbar (schon in den 1970er Jahren wäre dann bereits gar nichts mehr an Profit bei Exporten beim Peripherie-Kapital übriggeblieben). Angesichts des heute enorm gestiegenen Volumens des Welthandels wäre eine fundiertere Abschätzung des Ausmaßes des Werttransfers durch die Bildung von Weltmarktpreisen zu Ungunsten der Peripherie tatsächlich angebracht.

Abbildung 22: Anteil des Handels mit Waren, Dienstleistungen und Kapital im Vergleich mit dem Welt-BIP in Prozent [lx]

Hier ist ersichtlich, dass nach dem Zusammenbruch des Welthandels in den 1930er/1940er Jahren, erst in den 1970er Jahren wieder das Niveau des Welthandels der klassischen Periode des Imperialismus erreicht wurde. Nach der Krisenperiode der 1970er/1980er Jahre brachte der Globalisierungsschub einen Anteil von über 50 % des Welthandels am Welt-BIP. Mit der großen Rezession stagniert der Anteil nun auf diesem Niveau. Trotzdem zeigt dies die enorme Globalisierung des Kapitalismus, die internationale Vernetzung als Warenökonomie. Der gewachsene Anteil des über Importe gekauften Warenangebots und der über Exporte geleisteten Arbeit stellt Fragen neu nach der Bewertung der in einem Land geleisteten Arbeit in Relation zu den dort erzielten Einkommen aller Art – und dies im Vergleich zu den Ländern, mit denen Handel getrieben wird.

Wertbildung, Weltmarktpreise und „Kaufkraftparitäten“

Ende der 1960er Jahre startete die UN-Statistikbehörde ein Programm zum Vergleich von Preisniveaus unterschiedlicher Länder und Regionen mit Namen ICP (International Comparison Program)[lxi]. Es ging von der Erkenntnis aus, dass die in US-Dollar ausgedrückten Preis- und Statistikgrößen (wie das BIP) nicht tatsächlich für den Vergleich von Ökonomien und ihre Austauschverhältnisse herangezogen werden können. Das Programm begann erst mit wenigen Ländern, um inzwischen 199 Ökonomien zu umfassen. Dabei werden jetzt an die 700 Waren und deren Preise in diesen Ländern in den jeweiligen Landeswährungen gemessen und für den Untersuchungszeitraum (inzwischen 6 Jahre) in Zeitreihen (samt US-Dollar-Entwicklung der Landeswährung) erfasst. Daraus werden verschiedene Indikatoren berechnet, insbesondere ein internationaler Preisindex (Prozentsatz pro Land gegenüber dem weltweiten Durchschnitt, der bei 100 % angesetzt wird). Aufgrund von „Warenkörben“, die für jedes Land einen entsprechenden Konsum- oder Produktionsbereich charakterisieren, werden Preisindizes für Ausgabenkategorien im internationalen Vergleich erstellt und letztlich die „Kaufkraftparitäten“ (KKP, englisch PPP = purchasing power parities) erstellt.

Der Preisindexvergleich ergibt zum Beispiel, dass eine Person, die in Pakistan 300 US-Dollar für den Einkauf zur Verfügung hat, damit Nahrungsmittel erwerben könnte, für die man in Deutschland 750 US-Dollar ausgeben müsste. Wie kommen solche Aussagen zustande?

Zunächst werden für individuelle Waren PPP-Relationen berechnet: Kostet etwa ein Burger in Deutschland 4,80 Euro in den USA aber 4,00 US-Dollar, so ist die PPP-Relation 0,83 US-Dollar zum Euro aus deutscher Perspektive, d. h. für jeden Euro in Deutschland, den man für Burger ausgibt, müsste man in den USA 0,83 US-Dollar ausgeben. Für die Berechnung der PPP-Relation zwischen Ländern werden nun Gruppen von Waren gebildet und deren Preissummen in PPP-Relation gesetzt, bis man auf der Ebene des BIP angelangt ist. In der ICP-Untersuchung 2011 errechnete man für Deutschland eine PPP für das BIP von 0,78 US-Dollar – d. h. für jeden Euro, der für einen Bestandteil des Gesamtprodukts von Deutschland ausgegeben würde, müsste man in den USA für ein dortiges Produkt 0,78 US-Dollar ausgeben. Tatsächlich erhielt man für einen Euro 2011 im Durchschnitt nur 0,72 US-Dollar – der US-Dollar war also um etwa 6 Cents unterbewertet (aus der Sicht des PPP). PPP-Umrechnungsraten sind streng genommen immer auf bestimmte Aggregate bezogen (BIP, Konsum, Nahrungsmittelkonsum etc.). So liegt etwa die PPP in Bezug auf individuellen Nahrungsmittelkonsum in Pakistan 2011 bei 41 US-Dollar. Für die gleiche Menge an Nahrungsmitteln, für die man in Pakistan 10 Rupien ausgeben musste, hätte man also in den USA 410 US-Dollar gebraucht. Nach dem offiziellen Kurs der Rupie wäre die pakistanische Ware noch doppelt so wenig wert gewesen (Kurs 1:85).

Woran liegen diese großen Unterschiede in den PPP-Relationen zwischen Zentrums- und Peripherieländern? Erstens gibt es immer bestimmte geographische Faktoren. So sind agrarische Erzeugerländer aufgrund der geringeren Transport- oder Handelskosten in der Lage, auf lokalen Märkten sehr viel näher an den Erzeugerkosten zu verkaufen. Zweitens sind die Kosten der Reproduktion der Ware Arbeitskraft, d. h. die Lohnkosten geringer. Dies liegt einerseits eben gerade an den billigeren Waren im Agrarbereich. Andererseits aber auch an oft noch weit verbreiteter Subsistenzwirtschaft, in der Familien sehr viel mehr unbezahlte Arbeit zur Ermöglichung eben dieser Reproduktion leisten (z. B. Hausarbeit, informeller Sektor, kleine Landwirtschaft). Die informelle „Schatten“wirtschaft führt auch dazu, dass viele Ausgaben, die im Zentrum große Teile der Reproduktionskosten ausmachen (Wohnung, Energie, Transport), einen sehr viel kleineren Anteil einnehmen (z. B. durch Wohnen in Slums). Drittens fallen öffentliche Leistungen, z. B. für Gesundheit, Bildung, Transport, Sozialversicherungen, sehr viel geringer aus. Dies schlägt sich in weniger indirekten bzw. weniger Lohnsteuern nieder – letzteres senkt auch wiederum die Bruttolohnkosten. Viertens lässt sich der Entwicklungsstand auch an dem „sozialen Minimum“ ablesen, also dem, was in dem Land als das angesehen wird, was „zum Leben notwendig ist“.

Offensichtlich wird der Wert der Ware Arbeitskraft (das „nationale Lohnniveau“) wie auch der vieler Konsumgüter und persönlicher Dienstleistungen stärker von der Wertbildung in der nationalen Zirkulationssphäre bestimmt. Dagegen werden Export und Import offensichtlich nicht in PPP-Werten abgewickelt, sondern in US-Dollaräquivalenten. Sicherlich sind PPP-Vergleichswerte wesentlich beständiger als Währungsvergleiche. Trotzdem kann man die systematische „Unterbewertung“ der nationalen Zirkulationssphären von Peripherieländern gegenüber denen der Metropolen (Unterschied der Bewertungen des BIP in PPP und in US-Dollar) nicht auf „Währungsspekulation“ oder volatile Kapitalflüsse zurückführen – im Unterschied zum Auf und Ab etwa im US-Dollar/Euro-Verhältnis, bleibt die PPP/US-Dollar-Differenz bei Halbkolonien systematisch unvorteilhaft. Es muss hier von zwei Ebenen der Wertbildung ausgegangen werden, die sowohl differenzieren als auch wechselwirken: einerseits der nationalen Wertbildung, abhängig von der durchschnittlichen nationalen Produktivität, dem nationalen Kapitalstock, der Arbeitsproduktivität und Zusammensetzung der Lohnarbeit vor Ort, des national bestimmten Werts der Ware Arbeitskraft etc.. Andererseits besteht seit Beginn des Kapitalismus die Sphäre des Weltmarktes mit der Herausbildung von Weltmarktpreisen, zumeist in Form des vorherrschenden „Weltgeldes“, früher also in Goldwährung, heute in US-Dollar. Diese Sphäre koppelt nicht unvermittelt alle nationalen Branchen, sondern bildet eine Stufenleiter von eigenen Wertbildungsprozessen. Es gibt einige Bereiche der Produktion (wie heute die meisten „großen Industrien“, z. B. Automobilindustrie), die vollständig auf den Weltmarkt ausgerichtet sind und wo sich die Konkurrenz auf dem Weltmarkt in der Durchsetzung der produktivsten Kapitale auch in der Preisbildung ausdrückt. D. h., hier bestimmt eine übernationale Zusammensetzung von Kapital und Arbeit die global notwendige durchschnittlich notwendige Arbeitszeit, die den Wert des Produkts ausmacht. Dagegen waren eine Ebene darunter z. B. Zulieferindustrien lange Zeit noch stark von nationalen Wertbildungsprozessen bestimmt, allerdings schon lange von der darüber liegenden Ebene der multinationalen Konzerne in Kostenkonkurrenz gebracht und so je nach Branche mehr oder weniger der Weltmarktsphäre angeglichen. Staatliche und öffentliche Bereiche waren früher stark in nationalem Wertbildungsprozess (bzw. Werttransfers) verankert, wurden jedoch durch Privatisierungen und Outsourcing in vielen Bereichen (z. B. Transport oder Gesundheit) für die Weltmarktebene geöffnet. Die dort geforderte höhere gesellschaftliche (globale) Durchschnittsproduktivität muss sich notwendigerweise in einer Wertdifferenz zur noch bestehenden nationalen Wertbildung ausdrücken. Ohne Schutz durch eine schwächere Währung würden viele Bereiche dieser nationalen Wertbildung in Frage gestellt bzw. die Preise so gedrückt, dass viele nationale ProduzentInnen das Feld räumen müssten. Der Mechanismus der Vermeidung von Handelsbilanzdefiziten und Kapitalabfluss (Sicherung von US-Dollarreserven), der zur Währungsabwertung führt, vermittelt hier nur die zeitweise Koexistenz dieser beiden Zirkulationssphären. Auf die Dauer ist die Ausweitung des Weltmarktsektors unvermeidlich und führt so auch immer wieder zu neuen „Gleichgewichtszuständen“ dieser Ebenen. Schon zuvor untergraben die dynamischen Ausschläge der Weltmarktpreise und ihre Auswirkungen auf die noch bestehenden Inlandsmärkte diese Gleichgewichte zuungunsten der Halbkolonien.

Was die statistische Differenzierung dieser beiden Bereiche betrifft, so berechnet das ICP systematisch den PPP-Wert der sogenannten Inlandsnachfrage („domestic absorption“), der Differenz von BIP und der Handelsbilanz (was den Bereich der Produkte und Dienstleistungen umfassen soll, der für den inländischen Bedarf produziert wird). Hier macht sich die Differenz von der PPP-Bewertung zur US-Dollarbewertung besonders deutlich:

Abbildung 23: Wert des reinen Inlandsprodukts in KKP und US-Dollar (Milliarden) [lxii]

Es wird deutlich, dass die PPP-Werte sicherlich besser die tatsächliche Größe des inneren Marktes wiedergeben, während sie in US-Dollar eher nach der Weltmarktgeltung gewichtet werden. Dieser letztere Unterschied wird klar, wenn man die unterschiedliche Gewichtung des Handelsbilanzüberschusses gegenüberstellt:

Abbildung 24: Wert des Außenhandelsüberschusses oder -defizits in KKP und US-Dollar (Milliarden) [lxiii]

In Halbkolonien ist der „nationale Wert“ der exportierten oder importierten Waren sehr viel höher als der US-Dollarwert. Für Handelsbilanzüberschüsse muss also viel mehr an Arbeit und Kapital im nationalen Maßstab aufgebracht werden bzw. verlangen Handelsbilanzdefizite auch umso mehr Aufwand, um sie wieder abzubauen (oder eine entsprechend größere Abwertung der Währung gegenüber dem US-Dollar). Umgekehrt müssen imperialistische Länder weniger für ihre Exportüberschüsse anstellen bzw. erhalten in US-Dollar mehr, als sie an Arbeit erbringen mussten. Damit ist diese Differenz im Außenbeitrag ein gewisser Maßstab für den „Werttransfer“ durch ungleichen Tausch am Weltmarkt. Tatsächlich sollte deutlich geworden sein, dass dies ein „Werttransfer“ nur in einem übertragenen Sinn ist. Denn EINEN Wert auf Weltebene gibt es so nicht: vom Maßstab des nationalen Werts aus gesehen wird tatsächlich Wert an die importierenden reichen Länder abgegeben, vom Maßstab der Wertbildung am Weltmarkt jedoch herrscht gleicher Tausch und es findet kein Werttransfer statt. Die unterschiedlichen Entwicklungsniveaus der Länder in Bezug auf Produktivität, Kapitalbildung und Lohnniveaus führen zu einer Differenz in der Wertbildung, die für die weniger entwickelten Länder einen größeren Teil an Arbeit erfordert, um die Arbeitsprodukte von entwickelteren Ländern einzukaufen. In diesem Sinn herrscht „ungleicher Tausch“ vor, der aber aus einem auf dem Weltmarkt modifizierten Wertgesetz resultiert. Er ist damit sicherlich ein Hindernis für die aufholende Entwicklung, gleichzeitig aber unentbehrlich für den Fortschritt der Produktivkraftentwicklung in den davon betroffenen Ländern. Eine Angleichungsbewegung der Profitraten (in US-Dollarpreisen) ist dann Folge dieses ungleichen Tausches (infolge der währungsbedingten Preissenkung), nicht jedoch Ursache dafür (wie Emmanuel postuliert hat).

Historischer Materialismus und die Frage der „Entwicklung“

In den vorherigen Abschnitten wurde oft von „Entwicklung“, „Entwicklungsstufen“, „entwickelteren“ oder „weniger entwickelten“ Ländern etc. gesprochen. Natürlich ist diese Begrifflichkeit, spätestens nach den „post-colonial studies“ höchst umstritten. Entwicklung macht nur Sin gegenüber einem Maßstab, einem Ziel, wohin sich etwas entwickelt oder entwickeln soll. Viele der globalen Institutionen, die sich mit „Entwicklung“ beschäftigen, sehen offensichtlich die reichen Länder wie die USA oder „Kern-Europa“ als Vorbilder, an denen Fortschritt gemessen wird. Dies hat dem Begriff insgesamt eine stark ideologische, „eurozentristische“ Mitbedeutung verliehen. Andererseits geht auch der Marxismus in Form des historischen Materialismus von einem Begriff des gesellschaftlichen Fortschritts aus, der einen globalen Maßstab für Entwicklung begründet. Gegenüber den marktliberalen Entwicklungsbegriffen werden hier die sozialen und kulturellen Errungenschaften, die auf bestimmter ökonomischer Grundlage möglich werden, in den Vordergrund gerückt. Außerdem betrachtet der historische Materialismus die Entwicklung von Gesellschaften nicht als linearen Fortschrittsprozess, sondern als notwendig von Widersprüchen zwischen der Entfaltung der sozialen und ökonomischen Potenziale geprägt. Keine dieser von Widersprüchen geprägte Gesellschaftsformationen ist ewig. Jede wird letztlich zur Fessel der weiteren Entwicklung, so dass nur historische Brüche, Umwälzungen der ihnen zugrundeliegenden Produktionsweisen Fortschritt bringen, nicht immanente Entwicklung. Auch wenn Marx seine Beispiele vornehmlich aus der europäischen Geschichte entnommen hat, ist diese historische Methode, die von den jeweiligen materiellen Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens ausgeht und diese in der Dynamik von Entwicklung, Entwicklungshemmnissen und historischen Bruchpunkten betrachtet, allgemein genug, um auf die verschiedensten Regionen und Kulturen angewendet werden zu können. Dies betrifft insbesondere die Klassenverhältnisse, die sich unmittelbar um den gesellschaftlichen Arbeitsprozess herausbilden und sich in Eigentums- und Ausbeutungsverhältnissen reproduzieren.

Bekanntlich postulierte Marx, dass es vor dem Kapitalismus im Wesentlichen vier verschiedene historische Produktionsweisen gab: den Urkommunismus, die Sklavenhaltergesellschaft, den Feudalismus und die asiatische Produktionsweise [lxiv]. Marx behauptete keinesfalls eine notwendige Stufenleiter, die hier bis zur Moderne durchlaufen werden müsse. Schon die asiatische Produktionsweise passt hier nicht in ein solches Stufenschema. Immerhin hat sie zumeist Elemente der anderen Gesellschaftsformationen wie Gemeinschaftseigentum (wie im Urkommunismus) der Dorfgemeinde verknüpft mit Abgaben an die Autoritäten (wie im Feudalismus), aber auch SklavInnen im Dienst dieser Autoritäten (wie in der antiken Sklavenhaltergesellschaft). Tatsächlich hat die stalinistische Karikatur des historischen Materialismus diesen zu einem quasi-deterministischen Entwicklungsmodell vereinfacht – und dabei konsequent die störende asiatische Produktionsweise unter den Tisch fallen lassen.

Dies ist deswegen so wichtig, da die sozialistischen/kommunistischen Parteien der (halb-)kolonialen Welt zumeist diesem mechanistischen Entwicklungsmodell gefolgt sind. Ihre Analyse der „Rückständigkeit“ ihrer Länder war dann: Entscheidendes Entwicklungshemmnis sind die „feudalen Überreste“ (wenn nicht gar noch das Vorherrschen des Feudalismus, besonders durch den Großgrundbesitz). Kolonialismus und Feudalismus sind gemeinsame Feinde aller an der Entwicklung „der Nation“ interessierten, auch der „nationalen Bourgeoisie“. Durch die geringe Entwicklung des Kapitalismus sind sowohl die nationale Bourgeoisie als auch die ArbeiterInnenklasse weniger stark als in „modernen Gesellschaften“, wohingegen die arme Bauern-/Bäuerinnenschaft die am meisten ausgebeutete Klasse sei. Das vordringlichste Ziel sozialistischer Parteien müssten unter diesen Bedingungen die nationale Unabhängigkeit und die Überwindung der rückständigen, feudalen Verhältnisse sein, d. h., zunächst bürgerlich-demokratische Verhältnisse und eine „moderne Gesellschaft“ (d. h. einen entwickelten Kapitalismus) zu erkämpfen, im Bündnis mit nationaler Bourgeoisie und Bauern-/Bäuerinnenschaft. Erst dies würde die Voraussetzung für eine weitergehende, sozialistische Entwicklung schaffen. Wir werden später darstellen, dass weder die Analyse von den „feudalen Überresten“ (mit Abstraktion von anderen vor- oder nicht-kapitalistischen Gesellschaftselementen) noch das Absehen von der Strukturierung der kolonialen Gesellschaften und Ökonomien durch den Weltkapitalismus dem historischen Materialismus und einer darauf aufbauenden revolutionären Strategie gerecht werden.

Das Scheitern dieser Strategie, die sich fälschlicherweise auf den Marxismus berufen hat, hat dann zugleich auch „den historischen Materialismus“ (d. h. die Karikatur desselben) diskreditiert. Die nationalen Bourgeoisien haben, wenn es kritisch wurde, immer lieber mit den „rückständigen“ Kräften oder den imperialistischen Mächten zusammengearbeitet als mit „dem Volk“. Jede „Volksfront“ mit der Bourgeoisie war letztlich ein Massengrab für die Organisationen, die ArbeiterInnen, Landproletariat oder kleine Bauern und Bäuerinnen organisiert haben. Die „unabhängigen“, „demokratischen“ Staaten dienten weniger der Entwicklung moderner Ökonomien mit entsprechenden Sozialsystemen als vielmehr der Durchsetzung der Ausbeutungsinteressen von nationaler und internationaler Bourgeoisie im Verbund mit „rückständigen“ Besitzklassen aller Art. Die Enttäuschung über die tatsächlichen Ergebnisse der „Dekolonisation“, die wiederum in die Entbehrungen der abhängigen (Unter-)Entwicklung führte, mussten zumeist repressiv und diktatorisch abgesichert werden – auch gegen die sozialistischen Organisationen und Gewerkschaften, die trotz ihrer Politik ein Hindernis für die neue, neokoloniale Ordnung waren.

In der „postkolonialen Theorie“, wie sie im Laufe der 1990er Jahre unter anderem in Indien entwickelt wurde, erscheint das obige Modell, das man eigentlich als „eurozentristisch“ abgelegt haben will, noch wie in einem zerbrochenen Spiegel. Eines der zentralen Motive der Theorie ist die These der „Dominanz ohne Hegemonie“ [lxv]: Anders als im globalen Norden habe sich die Bourgeoisie in der Peripherie als zu schwach erwiesen, um tatsächlich „die Macht“ zu ergreifen, alle die Entwicklung des Kapitalismus hemmenden Relikte zu beseitigen. Sie hätte zwar durch die ökonomische Vorherrschaft des Kapitalismus eine Dominanz über die Gesellschaft erlangt, sei aber weit davon entfernt, die Hegemonie über sie auszuüben. Es gäbe eine Menge von sozialen Beziehungen (nicht nur was alte Grundbesitzerschichten betrifft, sondern auch spezielle solidarische Strukturen der „Subalternen“), die der bürgerlichen Vorherrschaft Grenzen setzen. Damit spielen aber auch „europäische Begriffe“ wie Nation, Klasse, nationale Entwicklung eine „falsche Rolle“, die für die Opfer der „Entwicklung“ nichts Gutes bringen können. Nicht in der „Entwicklung der Nation“, sondern in der Besinnung auf die Stärken der eigenen subalternen Kulturen und Netzwerke liege der Ausweg aus Abhängigkeit und Fremdbestimmung [lxvi].

Zunächst einmal war auch im globalen Norden das Ziel der Bourgeoisie nie die Entwicklung einer modernen, sozialen Gesellschaft – sondern schlicht die Verwertung des Kapitals und das Wegräumen aller Hindernisse, die dem im Weg stehen. Dies gelang natürlich nirgends vollständig – immerhin ist in der Verwertung des Kapitals schon selbst der Klassenwiderspruch angelegt (die Bestimmung der Grenze von notwendiger Arbeit zu Mehrarbeit). Kapitalistische Gesellschaft ist daher immer von Klassenkämpfen und der Herstellung von zeitweisen, periodischen Kompromissen, bedingt durch das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, geprägt. Aufgrund des zentralen Klassenwiderspruchs ist das Kapital, wie Marx in den „Theorien über den Mehrwert“ ausgeführt hat, auch zur Integration einer großen Menge an überkommenen Klassen und Schichten (GrundbesitzerInnen, Bürokratie, privilegierte Stände, Kleinbürgertum aller Art etc.) gezwungen bzw. gibt ihrer Alimentierung spezielle Wertformen (Grundrente, Honorare, staatliche Einkommen aller Art, …). Erst auf dieser Grundlage baut sich die bürgerliche Hegemonie auf, als Verschleierung der eigentlich grundlegenden Klassenherrschaft. Dass die Bourgeoisie nicht als „Hauptdarstellerin“ der Szenerie auftritt, ist gerade nicht ein Zeichen mangelnder Hegemonie, sondern ist die Normalform einer um die Macht der Kapitalverwertung und der daraus folgenden Alimentierung aller anderen besitzenden Schichten organisierten Gesellschaft. Der Mythos von der nicht an der Macht seienden Bourgeoisie in den Halbkolonien ist eigentlich eine Wiederholung der falschen stalinistischen Orientierung auf den „Fortschritt“, den die nationale Bourgeoisie durch die Schaffung eines mächtigen, unabhängigen Nationalstaates im Verbund mit den Volksklassen hervorbringen würde. Dass die Bourgeoisie in den Halbkolonien stattdessen jede Menge rückständiger Verhältnisse integriert hat, heißt dagegen überhaupt nicht, dass sie nicht gerade darüber ihre Macht in geeigneter Weise ausübt. Schließlich bleibt die Bourgeoisie in den Halbkolonien selbst eine vom internationalen Kapital und dessen weltpolitischen AkteurInnen abhängige Klasse. Das Zusammenwirken von internationaler Kapitalherrschaft und der nationalen Stellung der Bourgeoisie bestimmt auch letztlich die inneren Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten.

Die Dependenztheorie, allen voran Frank, hat bereits in den 1960er Jahren in ganz anderer Weise mit dem stalinistischen Modell der antikolonialen Entwicklung gebrochen: Frank erklärte in seinen Lateinamerika-Studien die These von den „feudalen Überresten“ für Unsinn und die nationalen Bourgeoisien für das Haupthindernis der Entwicklung in den Halbkolonien. Zu Recht kritisiert Frank in seiner auch heute noch lesenswerten Studie „Kapitalismus und der Mythos des Feudalismus in der brasilianischen Landwirtschaft“[lxvii] die Vorstellung von zwei getrennten Sektoren in Halbkolonien: dem entwickelten industriellen Bereich, der den Kapitalismus repräsentiere, gegenüber der rückständigen, von Großgrundbesitz gekennzeichneten Landwirtschaft, der den Feudalismus verkörpere. Die Vorstellung eines feudalistischen Sektors stimmt mit der Charakteristik von feudalen Gesellschaften überein, in sich weitgehend geschlossen, von persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen und geringer Veränderungsdynamik gekennzeichnet zu sein. Am Beispiel der brasilianischen Landwirtschaft, die wegen der großen Rolle bestimmter Großgrundbesitzerfamilien hier ein gutes Beispiel zu sein scheint, zeigt Frank, dass dies mit der Realität wenig zu tun hat. Tatsächlich waren Länder wie Brasilien gerade in ihrem Agrarbereich (Zucker, Kaffee, Fleisch, etc.) immer schon stark in eine von den kapitalistischen Zentren und ihren Handelsinteressen bestimmte internationale Arbeitsteilung eingebunden, die ihnen gerade die Rolle als Agrarproduzentinnen zuwies (im Gegensatz zu anderen Ländern, die für bestimmte Industrien oder Bergbau auserkoren wurden). Dies bedeutete auch, dass diese Landwirtschaft stark von kapitalistischen Organisationsprinzipien und Verwertungsprinzipien bestimmt war. In mehreren Wellen kann man die verstärkte Kapitalisierung (im Bezug von Saatgut, Dünger, Arbeitsmitteln …) feststellen wie auch die Einbindung in große Handelsmonopole. Sowohl von der Kapitalseite (Kreditfinanzierung, Kapitalgesellschaften als Eigentümerinnen, wachsende Konzentration, …) als auch von der Arbeitsseite (Pachtsystem, Lohnarbeitssystem nach Aufhebung der Sklaverei, Vertreibung von vormals „eigentumslosen“ LandbewohnerInnen …) ist diese Landwirtschaft sogar stärker kapitalistisch organisiert als die vieler europäischer Länder.

Die Kritik an der Vorstellung der getrennten Sektoren – von den Metropolen dominierter Weltmarkt und ihre Satelliten in der Halbkolonie, nationale Industrie, rückständige Landwirtschaft – ist sicherlich ein sehr wichtiger Punkt. Wie wir oben gesehen haben, sind die verschiedenen Produktions- und Zirkulationssphären zwar differenziert, aber doch durch die globalen und regionalen Akkumulationsbewegungen eng miteinander verflochten. Frank geht hier, wie schon dargestellt, von einem hierarchischen Weltsystem aus, in dem von Stufe zu Stufe eine Abschöpfung von Surplus Richtung Metropolen stattfindet. Insofern stünden damit Landwirtschaft, lokale Industrie und Exportsektoren in einem Zusammenhang, der sich wesentlich aus der kapitalistischen Struktur des globalen Kapitalismus ableitet. Auch wenn sein Monopol- und Surplusbegriff ungenügend ist, die Funktionsweise und Dynamik des globalen Kapitalismus richtig zu erfassen, ist diese Schlussfolgerung sicherlich richtig und wesentlich fruchtbarer als die heutigen postkolonialen Theorien.

Immanuel Wallerstein

Diese beherrschende Funktion des kapitalistischen Gesamtsystems für den Zusammenhang der widersprüchlichen Teile wird noch stärker betont von einem anderen Exponenten aus dem Umfeld der Dependenztheorie, dem kürzlich verstorbenen Immanuel Wallerstein[lxviii]. Wallerstein sieht alle Länder, welchen Entwicklungsstand sie auch haben mögen, seit dem 16. Jahrhundert als Bestandteile eines einzigen, kapitalistischen „Weltsystems“. Kulturen und Ökonomien wären seit einer gewissen Stufe der Zivilisation immer schon Bestandteile von solchen Weltsystemen gewesen, d. h. eines Netzwerks von kulturellen, politischen und ökonomischen Beziehungen unterschiedlicher Länder, die normalerweise keinen übergreifenden Staat bilden (außer in den besonderen Umständen von „Imperien“). Im 16. Jahrhundert nun sei es dem Kapitalismus gelungen, alle bis dahin bestehenden Weltsysteme (insbesondere durch die Einbeziehung Asiens in den europäischen „Weltmarkt“) in ein einziges kapitalistisches System einzugliedern. Das Akkumulationsprinzip des Kapitalismus sei besonders geeignet für eine solche globale Zusammenfassung. Andererseits erfordern Monopolbildung und die Durchsetzung von deren Interessen die Stärkung der Staaten, die mit diesen Monopolen verbunden sind. Auch bei Frank sind es die Monopole, die eine Hierarchie von Zentrum bis Peripherie herausbilden, die auch das System der Staaten und ihrer Beziehungen bestimmt. Dabei führt Wallerstein zusätzlich die Kategorie von „semiperipheren“ Ländern ein, die zeitweise eine unabhängigere Stellung, mitsamt besserer Akkumulationsmöglichkeiten für ihre Monopole hervorbringen können – um in einem nächsten Zyklus wieder zurückzufallen. Auch wenn Wallerstein eine sehr gering entwickelte eigene Akkumulationstheorie besitzt (im Wesentlichen geht er davon aus, dass ohne Monopolisierung und Staatseingriffe die Akkumulation durch Profitratenfall und Absatzprobleme zugrunde gehen würde), erkennt er zurecht, dass das kapitalistische Weltsystem grundlegend von der Tendenz zur Krise geprägt ist. Er geht von langfristigen Zyklen aus, in denen sich bestimmte Monopolstrukturen herausbilden, die aber in sich verkrusten und durch konkurrierende aufsteigende MonopolaspirantInnen herausgefordert werden. Dies würde weltweite Krisenzyklen von etwa 20– 30 Jahren Dauer bewirken, in denen sich jeweils das Gesicht des Weltsystems grundlegend ändert.

Gleichzeitig sieht Wallerstein mit dem Weltsystem eine universelle Geokultur am Wachsen, die aber durch Beharrungskräfte, Rassismus und Sexismus zu einem widersprüchlichen Ganzen zusammenwirkt. Grundlegend sieht er die globale Tendenz zur Überwindung des Kapitalismus als Grundlage des Weltsystems in dieser Geokultur zunehmen. Jedoch ist es unmöglich, ein solches totales Weltsystem in einem seiner Teile (in einem Land oder einer Region) zu transformieren. Diese Überwindung sei nur global, weltweit möglich. Wallerstein sieht die Welt heute in einer solchen Fundamentalkrise: „Diese Krise mag auch noch 25 bis 50 Jahre andauern. Da ein zentrales Merkmal einer solchen Übergangsphase ist, dass wir wilde Oszillationen all jener Strukturen und Prozesse erleben, die wir als festen Bestandteil des gegebenen Welt-Systems kennen gelernt haben, stellen sich unsere kurzfristigen Aussichten notwendigerweise als ziemlich instabil heraus“ [lxix].

Ausdruck dieser instabilen Lage sei die Aufgabe des „Developmentalismus“ (sowohl gegenüber Halbkolonien als auch, was die Überwindung sozialer Gegensätze im Zentrum betrifft) und die Hegemonie des „Neoliberalismus“ einerseits (Öffnung der Märkte, Privatisierung, Abbau von Regulierungen …), sowie im Verhältnis zu den Halbkolonien die Unterordnung unter den „Washington Consensus“ (Primat der internationalen Märkte für „Anpassungsprogramme“ in den Halbkolonien). Die internationalen Institutionen seien zu reinen Umsetzungsorganen dieser Prinzipien geraten, die nur noch zur Dekoration den Begriff der „Entwicklung“ verwenden. Damit habe man eine weltweite Polarisierung hervorgebracht, die starke Gegenkräfte und globale „Anti-System Bewegungen“ hervorbringen würden, die sich besonders auch gegen diese Institutionen und die dahinter liegende Krisenregulierung namens „Globalisierung“ organisieren. Wallerstein und seine NachfolgerInnen wurden damit intellektuelle MentorInnen der „altermondialistischen“ Bewegung („eine andere Welt ist möglich“).

In seinen historischen Abhandlungen zum Kolonialismus hat Wallerstein ebenfalls das übliche Muster der stalinistischen Entwicklungsstufen kritisiert, besonders ihr Beharren auf den „feudalen Strukturen“, die angeblich überall in der kolonialisierten Welt konserviert worden wären. Zu Recht bemerkt Wallerstein, dass Feudalismus außerhalb von Europa nur sehr selten überhaupt als historisches Stadium eines ganzen Landes zu finden war – Japan stellt hier eher eine seltene Ausnahme dar. Wie schon andere vor ihm hat auch Wallerstein hier die „asiatische Produktionsweise“ als theoretische Errungenschaft des Marxismus rehabilitiert. Tatsächlich sind in vielen Ländern, die von der europäischen Expansion betroffen waren, zunächst viele Elemente von Gemein- oder Claneigentum Hindernisse und dann auch Opfer der Herausbildung des kolonialen Kapitalismus geworden. Die Oligarchien, die sich zuvor über den lokalen Gemeinschaften und feudalen Teilsystemen erhoben, waren sehr viel schneller in der Lage, sich in kapitalistische EigentümerInnen, GroßgrundbesitzerInnen, BürokratInnen im kolonialen System zu verwandeln.

Rosa Luxemburg hat dies in ihrem berühmten Buch „Die Akkumulation des Kapitals“ [lxx] eindrucksvoll anhand der Geschichte Algeriens in der französischen Kolonialzeit dargestellt [lxxi]. Dabei macht sie klar, dass der Kolonialismus wesentliche Elemente der ursprünglichen Akkumulation perpetuiert. Schon Marx hatte im Kapitel über den Kolonialismus in „Das Kapital“ festgestellt, dass er vor allem die Aspekte der ursprünglichen Akkumulation nachholt, die zur Schaffung eines Proletariats führen – weniger diejenigen, die zur Bildung von Kapital dienen. Immerhin ist er als Raubsystem mitels des merkantilen Kapitals ja ein wichtiger Faktor bei der Formierung des europäischen Kapitalismus gewesen. Das Werk der ursprünglichen Akkumulation stieß auch in der kolonialen Welt auf vielfältige vorkapitalistische Strukturen, die sich einer warenförmigen Organisation stark entgegensetzen. Während feudaler Grundbesitz über Pachtsysteme, Verschuldung, Landverkauf etc. relativ leicht in kapitalistische Verhältnisse überführt werden kann, entziehen sich Elemente der Gemeinnutzung durch ihre Marktferne dieser Transformation sehr viel stärker. Luxemburg beschreibt die Verhältnisse in Algerien zu Beginn der Kolonialzeit (1830) auf dem Land als mehrheitlich von Claneigentum gekennzeichnet. Die „Eigentümerinnen“ des Landes waren wechselnde Oligarchien, die zwar Abgaben erhoben, aber ohne das Wirtschaften der Clans groß zu bestimmen. Der Erwerb dieses „Eigentums“ durch die KolonialistInnen änderte daher aus der Sichtweise der Clans nichts an ihren Rechten auf „ihr“ Land – anders aus Sicht der kapitalistischen ErwerberInnen. Dies musste notwendigerweise zu einem harten Aufeinandertreffen von „Rechtsvorstellungen“ führen, das zumeist in Vertreibungen oder blutigem Widerstand mündete. „Die planmäßige, bewusste Vernichtung und Aufteilung des Gemeineigentums, das war der unverrückbare Pol, nach dem sich der Kompass der französischen Kolonialpolitik ungeachtet aller Stürme im Inneren des Staatslebens während eines halben Jahrhunderts richtete“ [lxxii]. Dies einerseits sicherlich zur Sicherung der eigenen Herrschaft, andererseits um überhaupt kapitalistische Verhältnisse herzustellen. Die Vertreibung vom Gemeineigentum war die Voraussetzung für die Schaffung eines landlosen Proletariats als Grundlage für Kapitalverwertung. Insbesondere war aber die Durchsetzung des Privateigentums am Land auch die Voraussetzung für intensive, kapitalistische Landwirtschaft, wie diese auch die Lebensmittel in Waren umwandelt, die nur gegen Geld zu erlangen sind. So war dieser Prozess der Entwicklung einer „fortschrittlichen“ Landwirtschaft zugleich ein Prozess der massenhaften Vernichtung von Lebensbedingungen, von großen Hungersnöten unter denen, die plötzlich durch den Markt von dem getrennt waren, was sie bisher in Gemeinwirtschaft sich erarbeiten konnten. Kapitalisierung der Landwirtschaft, Zerstörung der Dorfwirtschaften, Verwandlung allen Bodens in Privateigentum, Durchsetzung des Marktes als alleinigen Zugangspunkt zu Lebensmitteln, all das sind die Elemente der ursprünglichen Akkumulation, deren Werk der Kolonialismus in unterschiedlichen Ausprägungen überall verrichtet hat.

Insofern sind weiterhin bestehende „informelle“ Sektoren, Subsistenzwirtschaft, Besetzung und Nutzung von „eigentumslosem“ Land genauso wie „illegale“ Siedlung und die Vorgehensweise dagegen der Beweis, dass dieses Werk der ursprünglichen Akkumulation von den neuen Oligarchien der postkolonialen Welt genauso fortgesetzt wird und tatsächlich ein wichtiges Zeichen ihrer fortgesetzten kolonialen Strukturen ist. Es sind weniger übriggebliebene „feudale Reste“ als vielmehr tief in den Unterschichten verankerte nicht marktförmige Lebens- und Arbeitsweisen, die sich für die Kapitalentwicklung als Schranken erweisen. Sie begrenzen das Arbeitskräftepotential, das verfügbare Land, die mögliche Nachfrage auf den Konsummärkten etc. und tragen zur Festsetzung eines niedrigeren Lohnniveaus bei. Andererseits bilden sie eine beständige Quelle des Aufstands gegen Kapitalverhältnisse, gegen fortgesetzte Enteignung und für solidarische gesellschaftliche Beziehungen. Wie die Landlosenbewegung in Brasilien (MST) und später die Bewegung der Favela-BewohnerInnen (MTST) zeigte, kann dies zu einer stabilen langfristigen Organisierung führen, die in ein enges Bündnis zur organisierten ArbeiterInnenbewegung tritt. Der Terror des Agrarkapitals gegen die MST, der Kampf um besetztes Land, die Verteidigung gegen die Räumung von Favelas etc. zeigen, dass die Konflikte des Kolonialkapitals nur eine neue Form angenommen haben: Das agierende Kapital bleibt das gleiche, ob in kolonialer oder dekolonialisierter Verkleidung.

Agrarfrage, kapitalistische Entwicklung und soziale Revolution

Aus dem Jahr 1881 stammt ein Briefwechsel von Karl Marx mit der jungen russischen Revolutionärin Wera Sassulitsch[lxxiii] über die Bedeutung der russischen Dorfgemeinschaft, der sogenannten Obschtschina (oder Mir). In Russland hatten sich bis zu dieser Zeit Elemente des Gemeineigentums in den agrarischen Dorfgemeinschaften gehalten, wenn auch traditionell kombiniert mit einem System von Abhängigkeiten und Abgaben in Richtung GroßgrundbesitzerInnen bzw. Staat. Sassulitsch nahm Bezug auf die „offiziellen“ MarxistInnen in Russland, die den Untergang der alten Dorfgemeinschaften als „historisch notwendige“ Voraussetzung für die Entwicklung Russlands ansahen, während die „VolkstümlerInnen“ dem Dorf eine zentrale Rolle für den Übergang zum Sozialismus beimaßen.

Marx arbeitete sich an dieser Fragestellung in vier Antwortentwürfen[lxxiv] ab, um dann (aufgrund persönlicher Umstände) nur eine sehr knappe Antwort zu schreiben. Die Briefentwürfe werfen jedoch sehr zentrale Fragen zum Entwicklungsbegriff auf, die zu einer starken Nachwirkung in Teilen des Marxismus bis heute geführt haben. Schon in einer Antwort auf eine Frage einer russischen Zeitung 4 Jahre zuvor nach der Notwendigkeit des Nachholens der „ursprünglichen Akkumulation“ in Russland schrieb Marx, dass man seine „historische Skizze von der Entstehung des Kapitalismus in Westeuropa“ nicht in eine „geschichtsphilosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges verwandeln“ solle, „der allen Völkern schicksalsmäßig vorgeschrieben ist, was immer die geschichtlichen Umstände sein mögen“ [lxxv]. Er erinnert dabei daran, dass die Vertreibung der Bauern/Bäuerinnen vom Land im alten Rom, anders als im Britannien der Industrialisierung, diese nicht zu ProletarierInnen im modernen Sinne, sondern zu plebejischen Anhängseln der auf Sklavenarbeit beruhenden Produktionsweise gemacht hat – und meint dazu: „Wenn man jede dieser Entwicklungen für sich studiert und sie dann miteinander vergleicht, wird man leicht den Schlüssel zu dieser Erscheinung finden, aber man wird niemals dahin gelangen mit dem Universalschlüssel einer allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie, deren größter Vorzug darin besteht, übergeschichtlich zu sein“ [lxxvi].

Auf Marx kann sich also niemand berufen, der von „notwendigen Etappen“ oder einer mechanischen Anwendung von Entwicklungsschemata ausgeht. Stattdessen ist die konkrete, historische Analyse auf der Grundlage eines Verständnisses des Werdegangs, der Widersprüche und der Entwicklungsmöglichkeiten der untersuchten gesellschaftlichen Formation notwendig. Marx betont nochmals in seiner Antwort an Sassulitsch, dass seine Analyse der „ursprünglichen Akkumulation“ von den in Westeuropa vorherrschenden Formen des Privateigentums ausging: „Das Privateigentum, das auf persönlicher Arbeit gegründet ist … wird verdrängt durch das kapitalistische Privateigentum, das auf der Ausbeutung der Arbeit andrer, der Lohnarbeit gegründet ist“ [lxxvii]. Das aus dem Feudalismus hervorgegangene bäuerliche Kleineigentum war für die Entstehungsgeschichte des Kapitalismus in Westeuropa so geeignet, weil es durch die Kapitalisierung des Bodens, die Verschuldung der Bauern/Bäuerinnen, die Umwandlung von Gemeindeland in Privateigentum etc. letztlich große Teile der Landbevölkerung enteignen konnte, um sie als ProletarierInnen in den städtischen Industrien nutzen zu können. Daher sei diese Entwicklung in einem Land wie Russland, in dem das bäuerliche Privateigentum nie eine ähnliche Rolle gespielt hat, eben auch nicht einfach übertragbar: „Weil in Rußland, dank eines einzigartigen Zusammentreffens von Umständen, die noch im nationalen Maßstab vorhandene Dorfgemeinde sich nach und nach von ihren primitiven Wesenszügen befreien und sich unmittelbar als Element der kollektiven Produktion in nationalem Maßstab entwickeln kann“ [lxxviii].

Marx führt hier die Möglichkeit an, dass aufgrund der Entwicklung um Russland herum, dieses viele Stufen, die in anderen Ländern mühsam durchlaufen werden mussten, überspringen könne. Wenn dies in Bezug auf das Fabriksystem und die Herausbildung einer modernen Zirkulationssphäre möglich gewesen sei, warum nicht auch in Bezug auf eine kollektivierte Landwirtschaft, wenn diese wiederum Teil einer proletarischen Umwälzung in ganz Europa, einschließlich Russlands ist?

Anders als dies viele InterpretInnen der Sassulitsch-Briefe herauszulesen meinten, zeichnet Marx ein durchaus kritisches Bild der russischen Dorfgemeinde und macht daraus keineswegs ein kommunistisches Landkommunen-Idyll, das es zu verallgemeinern gelte:

Erstens handelt es sich um ein Relikt aus der langen Geschichte des Verfalls von Urgemeinschaften, die viele Unterschiede, aber auch gemeinsame Stufen des Übergangs in andere Produktionsformationen aufweisen. Dörfliche Agrarwirtschaft mit gemeinsamer Haushaltung und Arbeit großer Familienverbände in einer beanspruchten Domäne erwies sich über viele wechselnde Produktionsweisen als sehr widerstandsfähig, gleichzeitig aber auch limitiert, was ihre ökonomische Leistungsfähigkeit anbelangt, und damit in entsprechendem Umfeld letztlich zum Untergang verurteilt. Darin einbegriffen ist nach Marx, dass es viele Übergangsformen gibt, in denen das Gemeineigentum (z. B. an Gerätschaften, Waldnutzung, besonderen Ernteereignissen) kombiniert wird mit privatem Eigentum an Parzellen oder Einzelhäusern. Familienbande und patriarchale Strukturen sind nicht nur Schutz, sondern auch Elemente der Rückständigkeit, persönlicher Abhängigkeit und sozialer Unterdrückung. Durch den Kontakt mit der Außenwelt löst sich die Dorfgemeinde besonders durch den notwendigen Zerfall dieser Schranken zugunsten der Absonderung der privaten Parzellenbauern/-bäuerinnen im Verbund mit den sich ausweitenden lokalen und überregionalen Märkten auf.

Wenn Marx davon spricht, dass die Entwicklung Russlands diesen Auflösungsprozess lange verzögert hat, so spricht er damit etwas aus, das natürlich auf viele Länder außerhalb Europas zutrifft. Im zaristischen Russland kam hinzu, dass die zentrale Agrarreform, die sogenannte „Abschaffung der Leibeigenschaft“ von 1861, stark auf die Funktion der alten Obschtschina angewiesen war. Als Kompromiss mit der adeligen Großgrundbesitzerschaft wurde den „befreiten“ Bauern/Bäuerinnen vor allem das schlechtere Land zugeteilt bzw. für ihr “Los“ auch noch ein Kaufpreis abverlangt, den sie über Kredite und Abgaben zu finanzieren hatten. Nur über die Dorfgemeinschaft, die die gemeinsame Bewirtschaftung und die finanziellen Abgaben bündelte, konnte der Teil der Landbevölkerung, der sich nicht gleich wieder an die GrundbesitzerInnen verkaufte, überleben. So standen noch zu Zeiten der 1905er Revolution über 9 Millionen Dorfgemeinden gerade mal 2 Millionen privaten Kleinbauern/-bäuerinnen gegenüber. Russland war hier nur ein Vorläufer vieler „Agrarreformen“, die im Namen der „Gerechtigkeit auf dem Lande“ zu einer Ausdehnung des Großgrundbesitzes auf kapitalistischer Basis bei gleichzeitiger Wiedererstehung oder Transformation alter Formen des Kommunenwesens führten. Wie Lenin zu Recht in seiner Analyse der Bauern-/Bäuerinnenwirtschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachwies, waren die „Dorfgemeinschaften“ ein Anhängsel der Agrarbourgeoisie, an die sie verschuldet waren und von deren Handelsorganisationen sie abhing.

Die agrarischen Solidargemeinschaften, wie sie in verschiedenen Weltregionen als Überbleibsel alter Produktionsformationen zu finden sind, sind einerseits Entwicklungshemmnisse:

  • geringe Produktivität aufgrund zurückgebliebener Produktivkräfte (Werkzeuge, Maschinerie, Saatgut, Düngemittel …);
  • sie binden eine große Zahl an wenig qualifizierter Arbeitskräfte, die in diesen Produktionsformen gerade so überleben können. Der Überfluss an Arbeitskraft befestigt die geringe Produktivität pro landwirtschaftlich Beschäftigten;
  • die traditionalen Strukturen zeigen große Widerstände gegen Veränderung der Produktionsweise und damit auch Aufnahme von Wissen, neuen Verfahren etc.;
  • die kleinteilige Struktur der Agrargemeinden verhindert die Wirkung positiver Skaleneffekte, die Großbetriebe erreichen können (Reduktion von Fixkosten, Mengeneffekte, Mechanisierung, Losgrößenaufteilung gemäß Bodenbeschaffenheit …)
  • für viele ihrer Beteiligten (z. B. Frauen, Kinder …) stellen sie eher ein Gefängnis dar, das sie an zurückgebliebene patriarchalische Strukturen bindet und geringe Bildungs- und Entfaltungsmöglichkeiten bietet.

Die Stärke dagegen ist die zumeist garantierte gesicherte materielle Existenz in einer Solidargemeinschaft, auf welch geringen Niveau auch immer (natürlich gefährdet durch Naturkatastrophen oder menschengemachten Klimawandel). Daher ist es kein Wunder, dass in Krisenzeiten diese Solidargemeinschaften wieder stark zum Vorschein kommen. So auch in Russland, wo sie durch die liberalen Reformen nach 1905 (Stolypin-Reformen) gegenüber bäuerlichen Klein- und Großbetrieben stark zurückgedrängt wurden: Mit der Not des ersten Weltkriegs kehrten sie massiv zurück und wurden nach der Februarrevolution zu Zentren der Umverteilung des Landes an die Dorfgemeinschaften („schwarze Enteignung“).

Es ist kein Wunder, dass kapitalistische Großbetriebe im Agrarbereich regional und über den Weltmarkt die bäuerliche Kleinproduktion durch ihre Produktivitätsvorteile über die Preiskonkurrenz verdrängen, sofern nicht staatliche Schutzmaßnahmen oder das Ausweichen in Nischenbereiche helfen. Daher überrascht es auch gegenwärtig nicht, dass die Größen landwirtschaftlicher Betriebe weiter zunehmen.

Abbildung 25: Unterschied von Anzahl landwirtschaftlicher Betriebe und Betriebsgröße [lxxix]

Weltweit gesehen sind es nur 2 % der agrarischen Betriebe, die über zwei Drittel der landwirtschaftlichen Nutzfläche bewirtschaften (also tatsächlich Großbetriebe sind). Dabei gibt es in einigen „Entwicklungsländern“ sogar die größten landwirtschaftlichen Betriebe mit über 10.000 ha. Inzwischen werden solche Großflächen auch zu starken Investitionsfeldern des multinationalen Kapitals. Dagegen gelten laut den Statistiken der FAO 80 % der landwirtschaftlichen Betriebe als Kleinbetriebe mit weniger als 2 ha. Von den weltweit geschätzten 580 Millionen landwirtschaftlichen Betrieben gelten 88 % als „Familienbetriebe“. Von den 2,6 Milliarden Menschen, die heute in der Landwirtschaft arbeiten, arbeitet also ein Großteil weiter auf kleinster Fläche, ist aber für einen Großteil der Nahrungsmittelversorgung der armen Länder verantwortlich. Dabei ist der Begriff des „Familienbetriebs“ der FAO sehr weit gesteckt: er umfasst Kleinbauern/-bäuerinnen, Dorfgemeinschaften, indigene Bewirtschaftung etc. (lt. FAO werden z. B. auch 33 % der Waldfläche der Welt „gemeinschaftlich“ bewirtschaftet). Die Bedeutung dieser Kleinbetriebe wird auch klar, wenn die FAO behauptet, dass sie für etwa 80 % der Nahrungsmittelgrundversorgung gerade in den „Entwicklungsländern“ verantwortlich sind. Folglich ist damit ihre Verdrängung durch die Weltmarktdominanz des globalen Agrobusiness für viele Länder existenzbedrohend – wie man nach der Krise 2008/2009, die zu einem starken Anstieg der Weltmarktreise führte, sehen konnte. Zusätzlich gibt es eine starke regionale Differenzierung: Während in Lateinamerika die großflächige Landwirtschaft schon länger dominant ist, befindet sie sich in Asien und Afrika erst auf dem Vormarsch. Die Abbildung zeigt die durchschnittliche „Hofgröße“ nach Region in ha. Daher ist es kein Wunder, dass in weiten Teilen Afrikas und Asiens (vor allem dem indischen und indochinesischen Subkontinent) heute noch über 40 % der Menschen von der Landwirtschaft leben, während dieser Anteil in Lateinamerika und den imperialistischen Ländern unter 5 % liegt. Letzteres wird laut offizieller Statistik inzwischen auch von China behauptet (ein Zeichen einer massiven gesellschaftlichen Veränderung in den letzten zwei Jahrzehnten).

Abbildung 26: Durchschnittliche Hofgröße in Hektar nach Region [lxxx]

Der Fortschritt der kapitalistischen Durchdringung der Landwirtschaft ist wie jeder im Kapitalismus eine zweiseitige Angelegenheit. Die grundlegende Vergesellschaftung auch der landwirtschaftlichen Arbeit (im Verbund mit vorgelagerter Schaffung von Voraussetzungen und nachgelagerter Verarbeitung) ist sicherlich ein Fortschritt für die Ernährungsgrundlagen einer wachsenden Weltbevölkerung. Andererseits setzt sie einen elementaren Bereich der Grundversorgung der Krisenhaftigkeit dieser Produktionsweise aus, genauso der ökologischen Katastrophe des Verwertungszwangs ohne Grenzen der Nachhaltigkeit. Die Zerstörung der traditionellen landwirtschaftlichen Strukturen, ohne dass die vom Land vertriebenen Arbeitskräfte vollständig in die industrielle Akkumulation aufgesogen werden können, führt zum Entstehen prekärer Existenzbedingungen rund um die großen Metropolen der Halbkolonien (bzw. zu großen Migrationsbewegungen). Dies beinhaltet auch das Wiederentstehen von Formen der solidarischen Subsistenzwirtschaft in prekärer Form.

Die Frage der „Dorfgemeinschaft“ bleibt also aktuell. Marx gibt hier insofern einen wichtigen Hinweis, als er den Übergangscharakter dieser Erscheinungen analysiert hat. Sie sind durch ihre Elemente kollektiver Arbeit nicht an sich „Keimzellen des Kommunismus“. Sie sind vielmehr unter den vorherrschenden kapitalistischen Bedingungen immer eine Notgemeinschaft als Resultat besonderer Bedingungen der Durchsetzung des Kapitalismus auf dem Land. In Bezug auf die russische Dorfgemeinde stellt Marx deren Rückständigkeit, Elend und Zersplitterung fest – alles Elemente, die überwunden werden müssen, auch in einer sozialistischen Revolution. Andererseits gab es in Russland eine lange Tradition des Zusammenschlusses der Dorfgemeinden in sogenannten Artels, einer Form, die im Westen als „Genossenschaften“ bezeichnet wurde. Das Artel beinhaltete gemeinsames Eigentum an den Gerätschaften, dem Saatgut und den gemeinschaftlich erarbeiteten Produkten, ließ aber den einzelnen Bauern/Bäuerinnen das Eigentum an Häusern und selbst bebauten Nutzflächen. Im Unterschied zu westlichen Genossenschaften war es weniger formalisiert und mehr Zusammenschluss von Großfamilien zu einem Verband.

Marx sieht in dieser Tendenz die Möglichkeit, die Revolution in der Stadt mit der auf dem Land zu verbinden. Die russische Dorfgemeinde sei durch die Entwicklung der kapitalistischen Landwirtschaft extrem bedroht. Andererseits ermögliche eine sozialistische Revolution, dass sie den Landgemeinden die Mittel nicht nur zum Überleben liefert, sondern ihnen auch eine Perspektive der Weiterentwicklung des Artel-Wesens bietet: „Einerseits gestattet ihr das Gemeineigentum am Boden, den parzellierten und individualistischen Ackerbau unmittelbar und allmählich in kollektive Bearbeitung umzuwandeln; und die russischen Bauern betreiben dies ja bereits auf den ungeteilten Wiesen. Die physische Beschaffenheit des russischen Bodens lädt zu einer maschinellen Bearbeitung in großem Maßstab geradezu ein; das Vertrautsein des Bauern mit den Artelbeziehungen erleichtert ihm den Übergang von der Parzellen- zur genossenschaftlichen Arbeit, und schließlich schuldet ihm die russische Gesellschaft, die solange auf seine Kosten gelebt hat, die notwendigen Vorschüsse für einen solchen Übergang“ [lxxxi].

Es wird klar, dass Marx eine massenhafte Aneignung von Grund und Boden durch die Dorfgemeinden vorhersah, die für eine genossenschaftliche Bewirtschaftung gewonnen werden mussten. Kernelement dieser Genossenschaften musste ihre Entschuldung und die Bereitstellung der produktiven Mittel für die Kollektivbewirtschaftung sein, also die Ausrüstung der Genossenschaften mit Maschinerie, Saatgut, Wissen etc., die sie zur produktiven Bewirtschaftung des kollektivierten Landes befähigen. Eben letzteres ist es, was bürgerliche Agrarreformen den „begünstigten“ Bauern/Bäuerinnen nicht zuteilen – sie mögen Böden erhalten, sind aber nicht befähigt, sie schuldenfrei auch in entsprechend konkurrenzfähiger Form zu bewirtschaften.

Tatsächlich waren in der Russischen Revolution die Dorfgemeinden die Zentren der bäuerlichen Aneignung. Mit dem „Dekret über den Boden“, in dem die Sowjetregierung diese Aneignungen sanktionierte, gewann diese auch die Unterstützung der Bauern-/Bäuerinnenmassen. Allerdings gelang es in Zeiten des Bürgerkriegs und des Kriegskommunismus, nur wenige Dorfgemeinden für Kollektivierung in Form von Genossenschaften zu gewinnen. Dazu fehlten auch die Mittel aus einer zusammenbrechenden Industrie, die vor allem auf Kriegsproduktion ausgerichtet war, um hier der Bauern-/Bäuerinnenschaft etwas bieten zu können. Die Dorfgemeinden blieben Subsistenzwirtschaften zum Überleben im Bürgerkrieg und mussten mit Zwangsmaßnahmen zur Ernährung der Städte gezwungen werden. Das Auseinanderklaffen von Industrie- und Agrarpreisen (die sogenannte Scherenkrise) führte auch nach Ende des Bürgerkriegs zu einem faktischen Produktionsstreik der Landwirtschaft. Dies konnte im Rahmen der NÖP nur durch die Liberalisierung des Agrarmarktes und Förderung von privater Landwirtschaft überwunden werden. Während die Zahl genossenschaftlicher Betriebe auf unter 5 % sank, stieg die von kleinen und mittleren privaten Bauern/Bäuerinnen enorm an. Dies erwuchs nicht aus einer mangelnden Betonung der „kommunistischen Elemente“ der Dorfgemeinde durch die Bolschewiki, sondern aus der Dynamik der Dorfgemeinde unter den gegebenen Umständen selbst.

Die Probleme der frühen Sowjetunion sind tatsächlich exemplarisch für Länder, bei denen eine antikapitalistische Umwälzung mit der Notwendigkeit der nachholenden Entwicklung verbunden ist. Russland hatte einerseits eine hochentwickelte, auf den Weltmarkt ausgerichtete Industrie, die im Rahmen der Gesamtökonomie zwar klein war, aber das herausragendste Wachstum aufwies. Andererseits war der Binnenmarkt von rückständigen Strukturen, insbesondere in der Landwirtschaft bestimmt, in der insbesondere Kleinbetriebe und Dorfgemeinden wesentlich für die Nahrungsmittelversorgung blieben. Die moderne Industrie war durch die Umwälzung nicht nur geschwächt, sondern war auch gar nicht auf die Bedürfnisse der Binnenökonomie ausgerichtet. Die Landwirtschaft war zwar umverteilt, aber nicht kollektiviert. Sie war einer der zentralen Teile der Ökonomie, der weiterhin über den Markt mit dem verstaatlichten Teil der Ökonomie im Austausch stand. Für diese Situation entwickelte der führende bolschewistische Ökonom Jewgeni Preobraschenski die Theorie der „ursprünglichen sozialistischen Akkumulation“ [lxxxii].

Hiernach gibt es einerseits die Entwicklung der vergesellschafteten Industrie, die nicht mehr dem Wertgesetz folgt – in der also die Entscheidungen über Produktivitätsentwicklung, Arbeitskräfteeinsatz, Produktionsmenge etc. bewusst, über einen Entwicklungsplan, gefällt werden. Diese sozialistische Akkumulation muss unter Bedingungen der nachhaltigen Entwicklung schrittweise mehr und mehr Wirtschaftszweige einbeziehen, die zunächst aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungsniveaus nicht vergesellschaftet werden können. Hier spricht Preobraschenski von einem der ursprünglichen Akkumulation ähnlichen Prozess, in dem ein „Werttransfer“ oder „ungleicher Tausch“ von den nichtsozialistischen Sektoren in die sozialistischen stattfindet. Auch hier kann wieder nur in analoger Weise von Werttransfer gesprochen werden, da ja im sozialistischen Sektor gar kein Wert produziert wird. Sehr wohl handelt es sich aber wiederum um einen Vergleich von Arbeitsquanten, die jeweils in der staatlichen Industrie gegenüber der privaten Landwirtschaft geleistet werden. Erhöht sich zum Beispiel die Produktivität der Traktorenfertigung, so kann dies in einer Preisreduktion weitergegeben werden – oder zu Aneignung von landwirtschaftlicher Mehrarbeit führen, durch nur teilweise Senkung der Industriepreise. Letzteres lässt sich wiederum in eine Ausweitung der Industrie umsetzen, durch die größere Zahl an ArbeiterInnen, die ernährt werden können.

Der Vorschlag von Preobraschenski, dem auch Trotzki gefolgt ist, sah also vor, durch Konzentration auf die Modernisierung der Industrie und ihre Ausrichtung auf die Binnenbedürfnisse auch Anreize für die Entwicklung der Landwirtschaft zu setzen, um insgesamt ein Wachstum zu erzielen, das die weitere sozialistische Akkumulation ermöglichen würde. Gleichzeitig sollte das Industriemonopol dazu genutzt werden, die Bildung landwirtschaftlicher Genossenschaften (Kolchosen) durch deren bevorzugten Zugang zu Produktionsvoraussetzungen und den Aufbau eines staatlichen Verteilungsmechanismus landwirtschaftlicher Güter anzureizen.

Die Parteiführung um Stalin und Bucharin folgte diesem Weg nicht, sondern setzte auf die Parallelentwicklung von privater Landwirtschaft und einem auf die Stabilisierung der bestehenden Industrien ausgerichteten ersten 5-Jahresplan 1927. Dies führte zu einer Verschärfung der Scherenkrise und einer Bedrohung der sozialen Basis der Revolution durch eine wachsende private Bauern-/Bäuerinnenschaft. Stalin war Ende der19 20er Jahre daraufhin zu einer totalen Kehrtwende gezwungen – der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. Statt wie Preobraschenski/Trotzki auf die langfristige Überzeugung der Bauern-/Bäuerinnenschaft und ihre organische Eingliederung in die Kollektivwirtschaft zu setzen, wurde diese gegen großen bäuerlichen Widerstand eingeführt, ohne die Vorbereitungen für dafür notwendige Planungsstrukturen und deren Zusammenwirken mit der industriellen Entwicklung getroffen zu haben. Auch wenn das Kolchosensystem letztlich bis Mitte der 1930er Jahre zum Funktionieren gebracht wurde, hatte dies Tausende von Opfern gefordert und war von vornherein mit starken Effektivitätsproblemen konfrontiert.

In der Dependenztheorie, z. B. bei Frank oder Amin, finden wir einen Anklang an das Stalin’sche Modell des „Sozialismus in einem Land“, indem sie als Antwort auf ungleichen Tausch und monopolistische Surplusabschöpfung eine Wirtschaftspolitik der Autarkie vorschlagen, die einzig eine nachholende Entwicklung ermöglichen würde. Die Sowjetunion war durch die historischen Umstände zunächst auf eben eine solche Autarkie (Zusammenbruch des Außenhandels bis Mitte der 1920er Jahre) zurückgeworfen – und selbst unter den günstigen Bedingungen eines sehr großen, bevölkerungsreichen Landes mit vielen natürlichen und kulturellen Ressourcen erwies sich die autarke nachholende Entwicklung als Utopie. Die HauptträgerInnen der Umwälzungen auf dem Land werden in vielen Fällen wie in der Sowjetunion nicht von vornherein für kollektive landwirtschaftliche Bewirtschaftung zu gewinnen sein. Auch wenn es durch die größeren Agrarbetriebe heute mehr Möglichkeiten für von Beginn an verstaatliche Landwirtschaft gibt, wird insbesondere die Versorgungssicherheit bei Rückfall auf Autarkie wesentlich durch einen Agrarmarkt von KleinproduzentInnen gesichert werden müssen. Dies zu überwinden bedarf es wie gesehen einer Industrie, die durch die Herauslösung aus dem Weltmarkt zunächst überhaupt nicht dafür geeignet ist.

Hier kommt ein zweiter, noch wesentlicherer Faktor dazu: Selbst die Sowjetunion erwies sich letztlich nicht als unabhängig vom Weltmarkt, die Autarkie war auch in Bezug auf die industrielle Entwicklung eine reaktionäre Utopie. So stellte Trotzki 1928 fest [lxxxiii], dass die industrielle Basis der russischen Industrie auch damals noch zu zwei Dritteln aus Produktionsmitteln bestand, die so nur das kapitalistische Ausland produzieren konnte. Aufgrund des nicht so schnell gelingenden eigenen Ersatzes war es unumgänglich, dass ab Mitte der 1920er Jahre nicht nur der Import von Produktionsmittelgütern zu Weltmarktpreisen immer mehr anstieg – sondern dies wurde sogar zu einem lebenswichtigen Element der industriellen Entwicklung. „Nichts versetzt der Theorie eines isolierten ‚vollständigen Sozialismus‘ einen so tödlichen Schlag wie die einfache Tatsache, dass unsere Außenhandelszahlen in den letzten Jahren zu den Eckpfeilern unserer Wirtschaftspläne geworden sind. Die ‚Schwachstelle‘ unserer Wirtschaft, einschließlich unserer Industrie, ist der Import, der vollständig vom Export abhängt“ [lxxxiv]. D. h., selbst unter den für eine nachholende Entwicklung günstigen Bedingungen eines staatlichen Außenhandelsmonopols ändert sich nichts an der Sprengwirkung von Weltmarktpreisen: Die Sowjetunion musste teure, lebenswichtige Industriegüter auf dem Weltmarkt erwerben, und dafür zu ungünstigen Preisen eigentlich dringend benötigte, niedriger wertige Produkte vor allem aus dem Agrarbereich exportieren. Das Außenhandelsmonopol schützte zwar die eigene Industrie im Binnenmarkt vor ausländischer Konkurrenz, soweit Import nicht notwendig war – auf Kosten des einheimischen Konsums. Gleichzeitig befestigte es damit aber auch ein Preissystem im Inneren, das den Produktivitätsstandards des Weltmarktes nicht entsprach (damit notwendig Schattenwirtschaft, doppelte Preise etc. hervorbrachte). „Unser Außenhandelsmonopol ist selbst das beste Zeugnis der Schwere und Gefährlichkeit unserer Abhängigkeit. Die entscheidende Bedeutung des Monopols für unseren sozialistischen Aufbau entspringt gerade diesem für uns ungünstigen Kräfteverhältnis. Doch wir dürfen keinen Augenblick vergessen, dass das Außenhandelsmonopol unsere Abhängigkeit vom Weltmarkt nur regelt, aber nicht abschafft“ [lxxxv].

Autarkie samt Importsubstitution, ursprüngliche sozialistische Akkumulation samt Kollektivierung der Landwirtschaft, Regulierung der Weltmarktabhängigkeit durch das Außenhandelsmonopol – all das können nur Übergangsformen, nicht das Gerüst einer Etappe des Aufbaus in einem Land sein, in dieser grundlegenden Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen ArbeiterInnenstaaten und kapitalistischem Weltmarkt. Diese Verschiebung kann es einerseits nur durch eine den Kapitalismus überholende Produktivitätsentwicklung geben, andererseits vor allem aber in der Ausweitung der revolutionären Umwälzung auf immer mehr Länder, so dass dem kapitalistischen Weltmarkt eine international geplante, den ungleichen Tausch überwindende, nachkapitalistische Weltökonomie entgegengestellt werden kann. Die wirtschaftlichen Zusammenschlüsse der degenerierten ArbeiterInnenstaaten, wie der Comecon/RGW, waren dagegen weder ökonomisch konkurrenzfähig noch in der Lage, einen internationalen Zusammenhang herzustellen, der auch nur ansatzweise die Vernetzungsqualitäten des kapitalistischen Weltmarktes gehabt hätte. Mangel an Demokratie, bürokratische Schwerfälligkeit und nationalistische Engstirnigkeit hemmten die Produktivkraftentwicklung weit mehr, als sie durch kollektive Eigentumsformen, Planwirtschaft und Außenhandelsmonopol gefördert werden konnten. Spätestens seit den 1970er Jahren war der technologische Rückstand so groß, dass die Finanzierung der notwendigen Importe durch immer größere Anstrengungen, Verschuldung und Inflation erkauft werden musste – was letztlich zum ökonomischen und politischen Kollaps führte.

Ungleichzeitige und kombinierte Entwicklung und revolutionäre Strategie

Die hier entwickelte Dominanz des Weltmarktes, sowohl was die Halbkolonien betrifft als auch selbst die ersten ArbeiterInnenstaaten, ist Ausdruck der Totalität des Kapitalismus als Weltsystem. Das Kapital mag die nationale Zirkulationssphäre als seine ursprüngliche Operationsbasis betrachten – es bleibt doch seinem Wesen als Akkumulationsmaschine gemäß schrankenlos, d. h. gleichzeitig auf die Überwindung auch aller nationaler Schranken ausgerichtet. Spätestens mit der imperialistischen Epoche, der Vorherrschaft von „Monopolkapital“ und Kapitalexport, ist das globale kapitalistische System eine Totalität – es bestimmt alle seine Teile, seien diese auch noch so wenig „entwickelt“. In jedem Land wirken Weltmarkt und seine kapitalistischen Subsysteme vor Ort als die beherrschenden und seine Entwicklungsweise bestimmenden ökonomischen Faktoren. Jede Etappentheorie, die für ein Land noch etwa eine „anti-feudale“ Umwälzung als „nächsten Entwicklungsschritt“ oder ähnliches vorsieht, hat sich erübrigt – alle Bewegungen von Unterdrückten müssen allenthalben mit dem Kapital, sei es in seinen nationalen oder internationalen Repräsentanten, als ihrem Hauptgegner rechnen.

Die Auswirkung dieser globalen Totalität auf jedes einzelne, insbesondere (halb-)koloniale, Land im gegenwärtigen Kapitalismus hat Trotzki im Gesetz von der „ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung“ ausgesprochen[lxxxvi]. Die Stalin’sche wie auch die Dependenztheorie gehen dagegen von einer Verkürzung der Lenin’schen Imperialismustheorie zu einer Tendenz zur „ungleichzeitigen Entwicklung“ aus: Danach gab es zwar im Kapitalismus immer schon unterschiedliche Entwicklungsniveaus, die von den nachholenden Kapitalen nur schwer überwindbar waren (z. B. Deutschland und Japan, die mit besonderen Mitteln den Rückstand zu Britannien und Frankreich aufholen mussten), doch mit der imperialistischen Epoche ist es für Länder mit nachholender Entwicklung so gut wie unmöglich, in den Kreis der etablierten imperialistischen Ökonomien aufzusteigen. Oder wie es das Komintern-Programm von 1928 auf den Punkt brachte: „Die Ungleichmäßigkeit der politischen und ökonomischen Entwicklung ist ein unbedingtes Gesetz der kapitalistischen Entwicklung. Das Zeitalter des Imperialismus steigert und verschärft diese Ungleichmäßigkeit noch mehr“ [lxxxvii].

Wie Trotzki bemerkt, wird hier nur eine Seite des Kapitalismus und der Expansion des Kapitals beleuchtet, die eigentlich auch für die meisten anderen Produktionsweisen zutrifft. Dem Kapital ist aber auch die gegenteilige Tendenz zur Überwindung von Schranken und Ungleichzeitigkeiten eigen, wie es sich auch im nationalen Maßstab in der Ausgleichung der Profitrate zeigt. Wie gesehen, setzt sich der Ausgleich der Profitrate zwar nicht ungebremst auf dem Weltmarkt fort – trotzdem wird die Wertbildung im nationalen Rahmen in jedem Land dominiert von den Weltmarktbranchen, ganz egal, ob dies über Direktinvestitionen, Export-/Import-Industrien, Agroindustrien, Kredit- und Finanzkapital etc. geschieht. Die Entwicklung der für diese Kapitalbewegungen interessanten Sektoren wird vorangetrieben, während gleichzeitig die rückständigen durch die globale Organisation von Akkumulationsbewegung und Welthandel befestigt werden zum Zwecke des Werttransfers, Erhalten des niedrigen Lohnniveaus, ungünstigen Terms of Trade für die Waren dieser Sektoren – kurz als fortgesetztes Reservoir für neokoloniale Ausbeutung. Genau dies hat Trotzki im Sinn, wenn er die beiden Seiten der fieberhaften Entwicklung einerseits und der Befestigung von Rückständigkeit andererseits in eine widersprüchliche Tendenz fasst: „Der Imperialismus hat, dank seiner allgegenwärtigen, alles durchdringenden leichtbeweglichen dampfartigen Triebkraft – dem Finanzkapital – diese beiden Tendenzen noch verstärkt. Er verbindet die einzelnen Länder und Kontinente noch viel rascher und stärker miteinander. Er bringt sie in engste lebendige Abhängigkeit und gleicht deren Wirtschaftsmethoden, gesellschaftliche Formen und Entwicklungsstufen einander an. Er erreicht das aber durch solche feindseligen Methoden, durch solche Löwensprünge und Überfälle auf zurückgebliebene Länder und Gebiete, dass die von ihm angestrebte Vereinigung und Nivellierung der Weltwirtschaft noch viel stürmischer und konvulsionsartiger gestört wird, als es in der vorangehenden Epoche der Fall war“ [lxxxviii].

Diese Charakterisierung des globalen Kapitalismus passt offensichtlich sehr viel mehr auf die Entwicklung des Neokolonialismus nach 1945 als die Theorie von der sich „beständig verschärfenden Ungleichzeitigkeit“. Stattdessen sehen wir eine rasche Entwicklung bestimmter Sektoren und Regionen wie auch schnelle Umkehr in krisenhaften Perioden; großen Bedeutungsgewinn einiger auch industrialisierter Bereiche in der Peripherie, bei gleichzeitiger Steigerung der Abhängigkeit vom Finanz- und Konzernkapital des Zentrums; eine Zunahme von abgehängten Regionen, Bevölkerungsschichten, bei gleichzeitiger enormer Ausdehnung der LohnarbeiterInnenschaft – insgesamt aber jedenfalls eine immer größere Dominanz des Weltmarktes, der internationalen Produktions- und Handelszusammenhänge und nicht zuletzt der kulturellen Globalisierung. Die Entwicklung des globalen Kapitalismus macht die Form des Nationalstaates immer obsoleter, schwächt seine sowieso schon eingeschränkte Handlungsfähigkeit und führt schon von den materiellen Grundlagen zur Politisierung von übernationalen, globalen Fragen, die nur internationale politische Kräfte lösen können. Die einzige Form der internationalen Politik, die die Bourgeoisie in unserer Epoche besitzt, ist weiterhin die Aufteilung der Welt unter konkurrierende Großmächte, die auf dem Metropolenkapital ihre Macht begründen. Der Imperialismus ist daher die reaktionäre Lösung der Bourgeoisie für die Krisenhaftigkeit des globalen kapitalistischen Systems mit seinen Charakteristiken der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung und der Überholtheit des Nationalstaates.

Es ist daher klar, dass eine Perspektive der Überwindung des Kapitalismus, d. h. des Imperialismus, heute keine Revolution im nationalstaatlichen Rahmen mehr sein kann.

Eine der bedeutsamsten Auseinandersetzungen um die Oktoberrevolution ist sicherlich die Frage, ob in einem „unterentwickelten“ Land, das stark von einer „rückständigen“ Landwirtschaft und einer nur in bestimmten Zentren vorhandenen großen Industrie geprägt ist, überhaupt eine sozialistische Revolution möglich ist. Eine mechanische Anwendung der Marx’schen Formeln von der Entwicklung des Widerspruchs von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen führte auch viele westliche „MarxistInnen“ zu der Ansicht, dass dort zunächst eine demokratische, bürgerliche Revolution nötig sei, die eine entsprechende Entwicklung von Industrie und Landwirtschaft einleiten würde, die erst die Voraussetzungen für eine sozialistische Umwälzung schüfe. Wie wir gesehen haben, ist eine solche Entwicklungsperspektive für zurückgebliebene Länder in der imperialistischen Epoche jedoch eine Illusion, sowohl was die ökonomische Entwicklung betrifft (die höchstens bestimmte Bereiche im Interesse des Weltmarkts voranbringt, aber ansonsten die Rückständigkeit sogar befördert), als auch, was die Klassenbasis betrifft. Denn einerseits ist die Bourgeoisie vollständig mit dieser abhängigen Entwicklung verbunden und fürchtet die revoltierenden Massen weitaus, mehr als sie die Abhängigkeiten von den ausländischen Investoren überwinden will. Andererseits gibt es für den überwiegenden Teil der Landbevölkerung durch „Agrarreformen“ keine Perspektive außer weiterer Verdrängung von den agrarischen Produktionsmitteln. Damit hat die Russische Revolution in ihrem schnellen Übergang von der Februar- zur Oktoberrevolution die enge Verbindung aufgezeigt, die in der imperialistischen Epoche zwischen „demokratischen Aufgaben“ in den abhängig entwickelten Ländern und der Perspektive der sozialistischen Revolution besteht. Da die Bourgeoisie wesentliche Elemente dieser Aufgaben nicht umsetzen will und kann, wird sie nicht nur das Proletariat, sondern auch große Teile der ländlichen und kleinbürgerlichen Massen zu weitergehenden Schritten vorantreiben – mit der unerbittlichen Konsequenz, dass entweder Imperialismus und eigene Bourgeoisie eine konterrevolutionäre Stabilisierung erzwingen oder die Revolution zur Enteignung der Bourgeoisie, zur sozialistischen Revolution voranschreitet.

Dies meinte Trotzki, als er den von Marx in der 1848er Revolution geprägten Begriff der „permanenten Revolution“ erst auf die Russische Revolution und dann auf die seit den 1920er Jahren in der halbkolonialen Welt beginnenden Revolutionen anwandte [lxxxix]. In seiner berühmten gleichnamigen Verteidigungsschrift von 1929 fasste Trotzki die Theorie in drei Punkte zusammen [xc]:

  • Charakter der Verbindung von demokratischen und sozialistischen Umwälzungen.
  • Dynamik der Klassenkämpfe nach der sozialistischen Umwälzung.
  • Notwendige internationale Verknüpfung der revolutionären Erschütterungen.

Die Veränderungen der globalen Ökonomie durch die Durchsetzung des Imperialismus als Weltsystem, geprägt durch die ungleichzeitige und kombinierte Entwicklung, bestimmen auch die Frage der „Reife“ der Widersprüche des Kapitalismus als Ganzes. Dieses oder jenes Land mag in seiner Entwicklung der einzelnen Elemente zurück sein, die als Voraussetzungen einer sozialistischen Umwälzung gelten können. Doch der Weltkapitalismus hat in seiner imperialistischen Entwicklung das Stadium erreicht, in dem er als Ganzes zu einem grundlegenden Hindernis geworden ist für eine ökonomisch und ökologisch sinnvolle Entwicklung der Produktivkräfte insbesondere in den Halbkolonien. Daher ist es kein Wunder, dass die Widersprüche des Systems gerade in den kapitalistisch gesehen rückständigeren Ländern aufbrechen müssen. Zentrale Probleme der Versorgung, Bildung, Gesundheit, Sicherung der Lebensverhältnisse in Stadt und Land können auf der Grundlage der abhängig entwickelten Länder nur zu oft nicht auf „demokratische“ Weise gelöst werden – die nicht gelösten demokratischen Fragen verbinden sich notwendigerweise mit sozialen Explosionen. Je mehr Forderungen der Massen nach sozialen Veränderungen zur Umsetzung drängen, desto sicherer erfolgen die Reaktionen der imperialistischen Agenturen und der antidemokratischen Repression. Daher ist die alte „Entwicklungstheorie“ einer langen Phase der demokratischen und sozialen Umgestaltung der Gesellschaft als Voraussetzung für den Sozialismus unmöglich geworden. Grundlegende Kämpfe um soziale und demokratische Rechte setzen in zugespitzten Situationen in den Halbkolonien immer die Frage Sozialismus oder Konterrevolution auf die Tagesordnung. Auch in China und Kuba erwiesen sich die Pläne für eine länger dauernde Phase der „neuen Demokratie“ [xci] in Koexistenz mit „nationaler Bourgeoisie“ und westlichem Imperialismus als Illusion – vor die Wahl gestellt, entschieden sich die stalinistischen Führungen dann sehr schnell für ihre Variante der „Diktatur des Proletariats“.

Der objektiven Dynamik der Verbindung der Fragen von demokratischer und sozialistischer Revolution entspricht aber auch die Richtung der Klassenkämpfe. Die Bourgeoisie hat nicht nur in den Metropolen ihre „revolutionäre Rolle“ verloren (wie dies Marx schon 1848 festgestellt hat). Auch in den Halbkolonien brauchte es nicht erst die Analysen von André Gunder Frank, um festzustellen, dass es keinen Teil der Bourgeoisie gibt, der dort noch eine fortschrittliche, anti-(neo-)koloniale Rolle spielt (also auch keine „nationale“ im Vergleich zur „Kompradoren“-Bourgeoisie). Die Bourgeoisie der Halbkolonien, selbst von Monopolisierungen der wichtigen Wirtschaftsbereiche geprägt, ist aufs Engste in die Hierarchie des weltweiten Monopolkapitals eingebunden. Daher stehen die halbkolonialen Volksmassen, die ArbeiterInnen, kleinen Bauern und Bäuerinnen, Landlose, städtische Arme, KleinbürgerInnen des informellen Sektors etc. in ihren Kämpfen letztlich gegen den Verband der Herrschenden im In- und Ausland: die große und mittlere Bourgeoisie, die großen GrundbesitzerInnen, die VertreterInnen der internationalen Konzerne und ihre Agenturen in den Metropolen. Angesichts des weiterhin großen Anteils der Landbevölkerung in vielen Halbkolonien spielt auch die Rebellion der ländlichen Armut und ihre berechtigten Forderungen nach Landaufteilung in den Klassenkämpfen eine große Rolle. Als Marx erkannte, dass in der 1848er Revolution die Bourgeoisie nicht mehr in der Lage war, der ländlichen Rebellion eine soziale Perspektive zu geben, sah er voraus, dass damit auch die Agrarrevolution eine neue Dynamik erhalten würde: Von einer „demokratischen“ Frage, die natürlicherweise die Bauern-/Bäuerinnenschaft in den Windschatten einer bürgerlichen Revolution führt, zu einer, die nur eine proletarische Revolution lösen kann: „Die ganze Sache in Deutschland wird abhängen von der Möglichkeit, der proletarischen Revolution durch eine Art zweiter Auflage des Bauernkrieges Deckung zu geben.“ [xcii]

Weiterhin sind die armen Volksmassen auf dem Land in den Halbkolonien viel zu aufgefächert in ihren sozialen Lagen und Interessen, als dass sie eine einheitliche, für die gesamte Gesellschaft weisende Entwicklungsperspektive hervorbringen könnten. Notwendigerweise müssen sie sich objektiv mit einer der beiden Hauptklassen verbinden, um ihren Interessen zum Durchbruch zu verhelfen. In der imperialistischen Epoche geraten ihre revolutionären Bewegungen dabei aber notwendiger Weise in scharfen Widerspruch mit der Bourgeoisie, so dass sie offen für das Bündnis mit revolutionären Bestrebungen der ArbeiterInnenklasse werden. Lenin und Trotzki erkannten daher sehr richtig, dass nach der Februarrevolution die russische Auflage des Bauern-/Bäuerinnenkriegs zur hervorragenden Deckung der proletarischen Revolution werden konnte – dass daher das Aufgreifen der Landfrage, wie Marx es nach 1848 und später in den Sassulitsch-Briefen angedeutet hatte, zur Grundlage einer proletarischen Diktatur werden kann, die sich auf das Bündnis mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft stützt.

Wesentlich bleibt hier die Erkenntnis Trotzkis (der zweite seiner Punkte), dass auch dieses Bündnis keine lange Etappe einer „Diktatur der Arbeiter und Bauern/Bäuerinnen“ ist. Die sozialistische Revolution mag vor allem durch die Aufstände am Land sich siegreich durchsetzen. Entscheidend für ihre Befestigung und Etablierung ist jedoch die Umsetzung eines Programms der proletarischen Diktatur, d. h. der Umsetzung von Vergesellschaftung der ökonomischen Schlüsselbereiche, der Kontrolle über den Außenhandel und des Beginns eines langfristigen sozialistischen Umbauprojektes. Dies muss notwendigerweise zu Konflikten mit den kleinbürgerlichen Bestrebungen auf dem Land führen, zu einem Klassenkampf zur Vergesellschaftung auch der landwirtschaftlichen Produktion (z. B. über den beschriebenen Prozess des Genossenschaftswesens). Jegliche Verwischung der Klassenfrage, z. B. durch Bildung populistischer Arbeiter-/Bauern-/Bäuerinnen-Parteien [xciii], angeblich sozialistischer Umgestaltungen durch „linke“ Bauern-/Bäuerinnenparteien oder eben die Konstruktion einer Etappe der „demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern/Bäuerinnen“, wie er für eine bestimmte Phase des Stalinismus typisch war, führen damit grundlegend in die Irre. Ganz zu schweigen natürlich von der maoistischen Verirrung des Bündnisses der „vier revolutionären Klassen“ (Proletariat, Kleinbürgertum, Halbproletariat und (!) nationale Bourgeoisie). Letztlich erwiesen sich die stalinistischen FreundInnen des Bauern-/Bäuerinnentums in den zugespitzten ökonomischen Krisen, die sie mit ihrer Agrarpolitik auslösten, als ihre SchlächterInnen, unfähig die Bauern-/Bäuerinnenschaft wirklich für eine sozialistische Umgestaltung der Verhältnisse auf dem Land zu gewinnen.

Heute ist es keine Frage mehr, dass in den Globalisierungswellen des Kapitals seit dem 2. Weltkrieg das Lohnarbeitsverhältnis zur vorherrschenden Form der Arbeitsorganisation weltweit geworden und damit auch das Weltproletariat enorm gewachsen ist. Die dargestellte Ausweitung des Welthandels, die Ausdehnung der multinationalen Kapitale und die Schaffung tief gestaffelter internationaler Produktionsketten haben eine Unzahl „chinesischer Mauern“ zwischen Kapital und Arbeit niedergerissen, haben nationale Grenzen immer mehr zu einem Anachronismus gemacht. Trotzdem brauchen die bürgerlichen Klassen zur Herstellung ihrer politischen und ideologischen Hegemonie weiterhin vor allem den Nationalstaat und die nationalistische Aufspaltung der Welt. Kleinbürgertum, lohnabhängige Mittelschichten und die mit ihnen verbundenen Teile von ArbeiterInnenbürokratie und ArbeiterInnenaristokratie krallen sich ebenso an der nationalstaatlichen Absicherung ihrer besonderen „Vorrechte“ fest. Es ist im Wesentlichen die WeltarbeiterInnenklasse, die objektiv als dem Weltkapital gegenüberstehende Kraft ein fundamentales Interesse an der Überwindung des Nationalstaates, seinen krisenhaften Erscheinungen in der imperialistischen Epoche und an einem international vereinigten Kampf gegen das global agierende Kapital hegt. Dies ist die Grundlage des dritten Merkmals der permanenten Revolution – ihr notwendig internationalistischer Charakter: „Der internationale Charakter der sozialistischen Revolution … ergibt sich aus dem heutigen Zustand der Ökonomik und der sozialen Struktur der Menschheit. Der Internationalismus ist kein abstraktes Prinzip, sondern ein theoretisches und politisches Abbild des Charakters der Weltwirtschaft, der Weltentwicklung der Produktivkräfte und des Weltmaßstabes des Klassenkampfes. … Die Aufrechterhaltung der proletarischen Revolution in nationalem Rahmen kann nur ein provisorischer Zustand sein… Von diesem Standpunkte aus gesehen, ist eine nationale Revolution kein in sich verankertes Ganzes: sie ist nur ein Glied einer internationalen Kette. Die internationale Revolution stellt einen permanenten Prozeß dar … “ [xciv].

In allen Krisen und tiefgreifenden Erschütterungen in der neokolonialen Welt hat sich diese Verkettung revolutionärer Prozesse, von der Trotzki hier spricht, bestätigt. Zuletzt zeigte sich dies, als sich mit den Nachwirkungen der großen Weltrezession 2009 die Versorgungslage in vielen arabischen Halbkolonien verschärfte und die folgenden Proteste zu einer verallgemeinerten Revolte gegen jahrzehntelange Unterdrückungsregime fortschritten. Der „Arabische Frühling“ erfasste von Tunesien ausgehend ein arabisches Land nach dem anderen und eröffnete eine erste Phase demokratischer Revolutionen. Ohne eine politische Führung, die diese Eröffnung nutzen konnte, die demokratische Umwälzung zu einer sozialen Umwälzung fortzutreiben, mündete der Prozess notwendigerweise in einer blutigen Konterrevolution, in Bürgerkriegen wie in Libyen oder Syrien, letztlich in der Restauration repressiver proimperialistischer Regime. Ebenso führte die „Schwellenländerkrise“ in Gefolge der langen Stagnation nach 2009 am Ende des Jahrzehnts zu einer untragbaren sozialen Situation in Lateinamerika, die 2019 zu einem Proteststurm führte, der ebenso ein Land nach dem anderen erfasste. In der gegenwärtigen Periode des globalisierten Kapitalismus sind diese internationalen Kettenreaktionen unvermeidlich. Ebenso stellt es sich immer mehr als zentrales Problem der Massenproteste heraus, dass es nicht gelingt, darauf auch eine internationale Antwort zu geben, eine internationale Koordination der Kämpfe zu bilden, die das Problem an der imperialistischen Wurzel packt.

Die gegenwärtige Krise, die mit der Unfähigkeit des Weltkapitalismus im Umgang mit der Corona-Pandemie beginnt und sich zu einem der schwersten Weltwirtschaftseinbrüche in der Geschichte des Kapitalismus entwickelt, wird die Frage der internationalen Antwort auf die Krise auf eine neue Qualität heben. Insbesondere die neokoloniale Welt, die sowohl durch die ungenügenden Gesundheitssysteme als auch durch den massiven Kapitalabfluss im Gefolge der imperialistischen Krisenpolitik schwer gebeutelt ist, wird wiederum im Zentrum von verzweifelten Massenrevolten stehen. Die Frage der permanenten Revolution wird sich in einem nie gekannten globalen Ausmaß stellen. Der Aufbau einer proletarischen Internationale, die gegenüber dem versagenden Weltkapitalismus die Kämpfe der ArbeiterInnen und der verzweifelten Massen länderübergreifend vereint, ist mehr denn je das Gebot der Stunde!


Endnoten

[i] „Die Tendenz, den Weltmarkt zu schaffen, ist unmittelbar im Begriff des Kapitals selbst gegeben.“ MEW 42 („Grundrisse“), Berlin/O. 1983, S. 321.

[ii] In Portugal war schon früh der Begriff „Imperio“ für die „überseeischen“ Besitzungen im Gebrauch, auch wenn dies mehr einen mittelalterlich-religiösen Hintergrund hatte. Tatsächlich wurden ab dem 17. Jahrhundert die meisten Kolonialunternehmungen Besitz privater Handels- und Aktiengesellschaften. Erst im 19. Jahrhundert wurde der Imperiumsbegriff wieder modern. Auch der britische „Empire“-Begriff hatte jedoch starke religiöse Bezüge und wurde mit Bibelzitaten hinterlegt, die angeblich die Herrschaft über alle Weltmeere für ein christliches Imperium voraussagen. Zur christlichen Mythologie kam aber im 19. Jahrhundert eine immer ausgeprägtere rassistische Komponente.

[iii] Anders als in den USA waren die Unabhängigkeitsbewegungen in  Lateinamerika erst durch die Schwächung Spaniens durch die napoleonischen Kriege erfolgversprechend, brauchten aber auch dann noch mehrere Anläufe, bis in den 1820er Jahren eine Reihe schwacher und rivalisierender Republiken entstand – entgegen dem Traum Simon Bolivars von einer geeinten lateinamerikanischen Republik. Mit der französischen Revolution gelang auch erstmals eine erfolgreiche SklavenarbeiterInnenrevolution, die letztlich zur Unabhängigkeit Haitis von Frankreich führte. Die restliche Karibik blieb bis ins 20. Jahrhundert Kolonialgebiet – auch Kuba, als letzte wichtige spanische Kolonie.

[iv] Das Propagieren des „Freihandels“, des Abbaus von Handelsschranken und Zöllen und die „Öffnung“ von Märkten als Ablösung des Merkantilismus war die theoretisch vorherrschende Richtung der politischen Ökonomie in Großbritannien seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Vorstellung, dass ohne staatliche Regulierung global frei agierendes Kapital überall zu Wohlstand und Demokratie führen würden, wurde jedoch schnell selbst zum Vorwand politisch-militärischer Intervention.

[v] E. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, München, 1998, S. 253

[vi] Zitiert nach: Der Spiegel, „Der heiße Ziegelstein“, 3.8.1960 (zum Dekolonisationsprozess von Belgisch-Kongo). Auch lesenswert, um den zu dieser Zeit noch sehr offenen Rassismus auch solcher Blätter wie „Der Spiegel“ gegenüber „den Negern“ zu bemerken.

[vii] Siehe ausführlich: W. Reinhard, Die Unterwerfung der Welt, Kapitel „Ein Dekolonisationsprogramm, die USA und der Nahe Osten“, S. 1121ff., München 2016

[viii] Raúl Prebisch war 1948 einer der Begründer der CEPAL, der Wirtschaftskommission der UNO für Lateinamerika und die Karibik, und lange ihr Generalsekretär. In den 1930er Jahren war er Zentralbankchef Argentiniens gewesen. Hans Singer war Leiter der Entwicklungsabteilung im UN-Sekretariat, verantwortlich für den Aufbau von Entwicklungsbanken z. B. für Afrika und für Beschäftigungsprogramme der ILO.

[ix] José Antonio Ocampo/Mariangelica Parra, The continuing Relevance of the Terms of Trade and Industrialization Debate, in: Vernengo and Perez-Caldentey (eds), Ideas, Policies and Economic Development in the Americas, Routledge Studies in Development Economics, Routledge, 2007.

[x] Das Magazin „Monthly Review“ besteht seit 1949 als Sammelpunkt marxistischer Theorieproduktion in den USA. Zu seinen prägenden Gründungspersönlichkeiten zählten Paul M. Sweezy und Leo Huberman. Im gleichen Jahr stieß Paul A. Baran hinzu, später u. a. Harry Magdoff. Seit dessen Tod 2006 ist John Bellamy Foster der alleinige Herausgeber.

[xi] In der deutschen Übersetzung unter diesem Titel erschien es 1968 bei EVA, Frankfurt.

[xii] Ebd., S. 12

[xiii] Ebd., S. 14. Frank blieb intellektueller Begleiter verschiedener linker Bewegungen in Lateinamerika, musste mehrfach ins Exil gehen. Er war bei ImperialistInnen wie StalinistInnen gleichermaßen unbeliebt und mit diversen Lehr- und Einreiseverboten belegt. Nach dem Militärputsch in Chile fand er untergeordnete akademische Posten in Westdeutschland und den Niederlanden.

[xiv] Franks Aufsatz hier bezieht sich speziell auf Chile (seiner damaligen Wirkungsstätte), das hier aber nur exemplarisch genannt ist.

[xv] Ebd., S. 25f.

[xvi] P. Baran, On the political Economy of Backwardness, Manchester, 1952

[xvii] Im Original als „Monopoly Capital (For Che Guevara)“ 1966 bei Monthly Review Press erschienen, auf Deutsch 1967 bei Suhrkamp.

[xviii] Rudi Dutschke bezeichnete es in seinem 1966 erschienenen Aufsatz „Zur Literatur des revolutionären Sozialismus von Karl Marx bis in die Gegenwart“ als den „unserer Meinung nach bedeutendsten theoretischen politökonomischen Beitrag seit dem Ende des zweiten Weltkriegs“ (SDS-Korrespondenz Jg. 1, Sondernummer, Frankfurt a. M., 1966, S. 22). 

[xix] Baran/Sweezy, a. a. O., S. 15

[xx] Frank, a. a. O., S. 25.

[xxi] Paul Mattick war ein deutscher Rätekommunist, der seit 1926 in den USA lebte und seit den 1930er Jahren grundlegende politökonomische Analysen mit starken Rückbezügen auf das Werk von Marx und in Abgrenzung zur „offiziellen“ Marx-Lektüre erarbeitete. Er trug wesentlich zur Verbreitung der Präzisierung der Marx’schen Krisentheorie durch Henryk Grossmann und zusammen mit Roman Rosdolsky („Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen <<Kapital>>“, 1967) zur Rückbesinnung auf eine werttheoretisch begründete Kapitalismuskritik bei.

[xxii]                  Hier zitiert nach „Monopolkapital. Thesen zu dem Buch von Paul A. Baran und Paul M. Sweezy“, Hrsg. von Federico Hermanin, Karin Monte und Claus Rolshausen, EVA, Frankfurt/Main, 1969, S. 31 – 59.

[xxiii]                  Marx, „Das Kapital“, Band 3, MEW 25, Berlin/O. 1969, S. 886f.: „Es ist nach der bisher gegebenen Entwicklung überflüssig, von neuem nachzuweisen, wie das Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit den ganzen Charakter der Produktionsweise bestimmt.“

[xxiv]                  Mattick, a. a. O., S. 32.

[xxv]                  Siehe auch: Marx, „Das Kapital“, Band 3, Kapitel 50, „Der Schein der Konkurrenz“: „Findet endlich die Ausgleichung des Mehrwerts zur Durchschnittsprofitrate ein Hindernis an … Monopolen …, so daß ein Monopolpreis möglich würde, der über den Produktionspreis und über den Wert der Waren stiege, auf die das Monopol wirkt, so würden die durch den Wert der Waren gegebnen Grenzen dadurch nicht aufgehoben. Der Monopolpreis gewisser Waren würde nur einen Teil des Profits der andern Warenproduzenten auf die Waren mit dem Monopolpreis übertragen. Es fände indirekt eine örtliche Störung in der Verteilung des Mehrwerts unter die verschiedenen Produktionssphären statt, die aber die Grenze dieses Mehrwerts unverändert ließe.“ (a. a. O., S. 868f.)

[xxvi] Marx, ebd., S. 230.

[xxvii] Mattick, a. a. O., S. 58

[xxviii] Ebd., S. 45

[xxix] Ebd.

[xxx] A. Marquetti, Extended Penn World Tables (EPWT), https://sites.google.com/a/newschool.edu/duncan-foley-homepage/home/EPWT

[xxxi] Michael Roberts, Towards a World Rate of Profit – again, 2017, https://thenextrecession.wordpress.com/2017/09/09/towards-a-world-rate-of-profit-again/

[xxxii] Aus: T. Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014, S. 218

[xxxiii] CreditSwiss, Zürich, 2010-2019, https://www.credit-suisse.com/about-us/en/reports-research/global-wealth-report.html

[xxxiv] Credit Swiss, Global Wealth Report 2012, S.11, Figure 3

[xxxv] EPWT, Spalten J und K – in KKP von 2005

[xxxvi] Ebd.

[xxxvii] Die FLN-Revolutionsregierung hatte in den Friedensabkommen mit Frankreich Erdöl und Gas in der Sahara weiterhin in französischem Besitz belassen, anscheinend weil sie meinte, die garantierten Zahlungen aus den Einkünften der 4 französischen Konzerne für ihre Zwecke zu gebrauchen. 1971 wurde gegen den Widerstand der französischen Regierung ein Aufkauf von 51 % des Gesellschaftseinkommens durchgesetzt. Der Beitrag Algeriens zur Preispolitik der OPEC war in Folge entscheidend für den „Ölpreisschock“ 1973 und die danach ausgelöste Weltwirtschaftsrezession 1974.

[xxxviii] Aus den EPWT

[xxxix] Siehe z. B. WTO u. a., Global Value Chain Report 2017, Measuring and Analyzing the Impact of GVCs on Economic Development

[xl] Ebd., S. 55.

[xli] Ebd., S. 51

[xlii] Ebd., The middle-income trap and upgrading along global value chains, S. 119 – 134

[xliii] Aus den EPWT, Spalte J.

[xliv] Aus: T. Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, a. a. O., S. 92

[xlv] World Bank Data Team, New Country Classifications by Income Level, 2019, https://blogs.worldbank.org/opendata/new-country-classifications-income-level-2019-2020

[xlvi] EPWT, Spalte T,

[xlvii] Themistoklis Kalogerakos, Financialization, the Great Recession and the Rate of Profit: profitability trends in the US corporate business sector, 1946 – 2011, Lund 2013

[xlviii] Ebd., S. 28

[xlix] D. Zachariah, Determinants of the average profit rate and the trajectory of capitalist economies. Presented at the conference on Probabilistic Political Economy, Kingston University, July 2008. Published in Bulletin of Political Economy, Vol.3, No.1, New Dehli, 2009

[l] Ebd., S. 10

[li] Berechnungen basierend auf BIP, GNI in current US Dollar; Daten aus: Weltbank, World Development Indicators, https://databank.worldbank.org/data/download/WDI_excel.zip

[lii] Aus: United Nations Conference on Trade and Development, World Investment Report 2019, S. 12. Hier sind „Remittances“ die Transferzahlungen von MigrantInnen. Unter „other investments“ zählen z. B. Kredite oder Derivate.

[liii] EUROSTAT 2017, https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/World_direct_investment_patterns

[liv] UNCTAD, World Investment Report 2019, S.2015

[lv] Tatsächlich wurde Emmanuels Theorie erst durch sein 1969 veröffentlichtes Buch „L’échange inégal: Essais sur les antagonismes dans les rapports économiques internationaux“, Paris (François Maspero), bekannt, das durch spätere Übersetzungen erst in den 1970er Jahren international zugänglich war. Erstmals vertreten hat Emmanuel die Theorie aber bereits in Vorlesungen in Paris Anfang der 1960er Jahre

[lvi] Die Darstellung und Kritik der Theorie stützt sich wesentlich auf: M. C. Howard/J. E. King, A History of Marxist Economy, London 1992, Band 2, Kapitel 10 „Unequal Exchange“, S. 186 – 204.

[lvii] Berechnung aufgrund der EPWT als Verhältnis von BIP zu Lohnsumme in KKP von 2005.

[lviii] J.-O. Anderson, Studies in the Theory of Unequal Exchange, Åbo (Turku), 1976; ausgeführt in Howard/King a. a. O., S. 195f., wo auch ein ausführliches Modellbeispiel gemäß Andersons Reformulierung der Theorie gerechnet wird.

[lix] Samir Amin, Unequal Development: An Essay on the Social Formations of Peripheral Capitalism, New York 1976 (Monthly Review Press), S. 143f.

[lx] Deutsche Bank, Jahresausblick 2017, interne Quellen und die Penn World Tables 2016: https://www.deutsche-bank.de/pfb/content/jahresausblick-2017_die-weltwirtschaft-im-zeichen-der-usa.html

[lxi] Das Programm wird heute unter Federführung der Weltbank durchgeführt und veröffentlicht seine Langfriststudien z. B. unter: https://www.worldbank.org/en/programs/icp. Die Daten, die im Folgenden verwendet wurden, stammen aus dem Download „ICP 2011 results Excel data file“.

[lxii] Berechnung aus dem ICP data report 2011

[lxiii] Ebd.

[lxiv] Siehe zusammenfassend: Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, MEW 13, Berlin/O. 1974, S. 7ff.

[lxv] Siehe z. B.: R. Guha, Dominance without Hegemony: History and Power in Colonial India, Dehli, 1983. D. Chakrabarty, Provincializing Europe, Princeton, 2000.

[lxvi] Zur Kritik an der „postkolonialen Theorie“ siehe vor allem: V. Chibber, Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals, Berlin 2018.

[lxvii] In: Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika, Frankfurt a. M. 1968 (EVA), S. 220 – 276

[lxviii] Siehe vor allem: Immanuel Wallerstein, Das moderne Weltsystem, 4 Bände, 2004, 2012, 2004, 2012, Wien (Promedia). Eine kurze zusammenfassende Darstellung: I. Wallerstein, Welt-System-Analyse, Wiesbaden, 2019.

[lxix] I. Wallerstein, Welt-System-Analyse, a. a. O., S. 88

[lxx] R. Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus, Gesammelte Werke Band 5, Berlin 1985, S. 5 – 411 (ursprünglich 1913)

[lxxi] Ebd., S. 325f., wo neben Algerien auch die Geschichte der indischen Landwirtschaft behandelt wird

[lxxii] Ebd., S. 323

[lxxiii] Wera I. Sassulitsch war eine russische Revolutionärin, die als 28-Jährige mit einem Attentat auf den Stadthauptmann von Petersburg russlandweit legendäre Bekanntheit erlangte (1878). Von den VolkstümlerInnen entwickelte sie sich im Exil zur Marxistin und wurde Mitbegründerin der ersten sozialdemokratischen Partei (1883) in Russland. Nach der ISKRA-Spaltung war sie Vertreterin der Menschewiki.

[lxxiv] Karl Marx, Entwürfe einer Antwort auf den Brief von V.I. Sassulitsch, MEW 19, Berlin/O. 1974, S. 384 – 406. Der Brief selber findet sich im selben Band, S. 242f. Ebenso in diesem Band findet sich zum selben Thema eine Antwort an die Redaktion der „Otetschestwennyje Sapiski“, einer progressiven russischen Zeitschrift, S. 107 – 112.

[lxxv] Ebd., S. 111

[lxxvi] Ebd., S. 112

[lxxvii] Ebd., S. 384

[lxxviii] Ebd., S. 385

[lxxix] FAO, The State of Food and Agriculture 2014, S.12

[lxxx] FAO, Weltagrarbericht, https://www.weltagrarbericht.de/themen-des-weltagrarberichts/baeuerliche-und-industrielle-landwirtschaft.html

[lxxxi] MEW 19, a. a. O., S. 389

[lxxxii] E. Preobraschenski, Die Neue Ökonomik, Verlag Neuer Kurs, Berlin/W. 1971 (Original 1926); eine ausführliche und lesenswerte Analyse findet sich in: M. Seelos, Revisited: Die Theorie der ursprünglichen sozialistischen Akkumulation. Oder: Welches Verhältnis kann die Planwirtschaft zu der bäuerlichen Agrarwirtschaft haben, Wien 2014. 

[lxxxiii] L.Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, Der Programmentwurf der Komintern, Kapitel „Die Abhängigkeit der UdSSR von der Weltwirtschaft“, Essen 1993 (Original 1928), S. 61ff.

[lxxxiv] Ebd., S. 63f.

[lxxxv] Ebd., S. 65f.

[lxxxvi] Z. B. in: ebd., S. 35ff.

[lxxxvii] Zitiert in: ebd., S. 38

[lxxxviii] Ebd., S. 39

[lxxxix] Siehe: L. Trotzki, Ergebnisse und Perspektiven (1906); Die permanente Revolution (1928). Beides erscheinen als Reprint in einem Band bei EVA, Frankfurt a. M.  1971 (Zitate aus dieser Ausgabe).

[xc] Ebd., Permanente Revolution, S. 26ff.

[xci] So erklärte Mao 1940, dass angesichts der relativen Kleinheit des chinesischen Proletariats von der KPCh die bürgerliche Revolution fortgesetzt werden müsse, nur dass die „Demokratie“ durch die unter Führung der KP stehenden „vier revolutionären Klassen“ einen ganz anderen, progressiven Charakter bekäme. (Mao Tse-tung, Über die Neue Demokratie, Januar 1940: http://www.infopartisan.net/archive/maowerke/MaoAWII_395_449.htm) .

[xcii] Zitiert in Trotzki, Permanente Revolution, a. a. O., S. 130

[xciii] Siehe ausführlich zu diesen Revisionen: Trotzki, Dritte Internationale nach Lenin, a. a. O., Kapitel „Die reaktionäre Theorie der ‚kombinierten Arbeiter- und Bauernparteien‘ für den Orient“, S. 211ff.

[xciv] Trotzki, Permanente Revolution, a. a. O., S. 28f.




Die Marxsche Krisentheorie – Ein kurzer Überblick

Richard Brenner, Revolutionärer Marxismus 39, August 2008

Die gegenwärtige Finanzkrise scheint auf den ersten Blick eine beeindruckende Bestätigung der Marxschen Akkumulations- und Zusammenbruchstheorie des Kapitals zu sein. In seinen Schriften über politische Ökonomie entwickelt Marx, es dass in der kapitalistischen Produktionsweise der Prozess der Kapitalakkumulation selbst ist, der zur „Überakkumulation von Kapital“ führt; dass sich in den Händen der herrschenden Klasse mehr Kapital ansammelt, als mit ausreichender Aussicht auf Profit wieder investiert werden kann. Irgendwann führt dies zu einer Krise im Finanzsystem, wenn Investoren wegen sinkender Renditeerwartungen geliehene Gelder zurückziehen oder die Zinsen dermaßen erhöhen, dass dadurch der Kreislauf des Kapitals unterbrochen wird. Die Krise führt zur Entwertung des Kapitals in vielfältiger Form. Dazu gehören Abschreibungen von Krediten, Wertverfall von Aktien und Abwertung von Währungen, galoppierende Inflation (Geldentwertung), Insolvenzen, fallende Löhne und Arbeitslosigkeit.

Wir können davon ausgehen, dass das Interesse an der Marxschen Theorie wieder erwachen wird, da sie Erklärungen liefert zu den Vorgängen in den USA und im Weltfinanzsystem im letzten Jahr und nicht nur eine Rezession vorhersagt, sondern auch behauptet, dass solche Entwicklungen sich aus der Natur des kapitalistischen Systems ergeben.

Die vollständige Unfähigkeit der bürgerlichen Wirtschaftstheorie, eine andere glaubwürdige Erklärung für die Krise zu geben, wird zum Studium von Marx´ Werken motivieren. Angesichts dessen und vor dem Hintergrund der Finanzkrise 2007/08 will dieser Artikel eine Einführung in die Marxsche Krisentheorie geben. Er beginnt mit einem kurzen Überblick, um sich dann mit Marx´ zentraler Behauptung auseinander zu setzen, dass die Krise aus dem Streben nach höherer Arbeitsproduktivität entsteht, welche eine Krise der Profitabilität nach sich zieht. Krisen entspringen also nicht irgendwelchen äußeren Umständen, sondern sind eine Funktion des Wesens des Kapitals: der Ausbeutung lebendiger Arbeitskraft. Wir werden uns dabei mit einigen wesentlichen Einwänden gegen Marx´ Behauptung auseinandersetzen und dann Marx´ Theorie in eine konkretere Form fassen, um seine Analyse der Wirtschaftszyklen und der Art und Weise, wie sich Krisen in der realen Welt aktuell vollziehen, zusammenhängend darzustellen.

Überakkumulation und Krise: ein Überblick

Marx´ Krisentheorie hat ihre Grundlage in der Arbeitswerttheorie. Wie er im ersten Kapitel des „Kapital“ erklärt, haben alle Waren sowohl einen Gebrauchs- als auch einen Tauschwert. Ihre Gebrauchswerte sind qualitativ verschieden und deshalb nicht vergleichbar. Jede Ware muss dennoch gegen andere ausgetauscht werden können. Dies erfordert eine gemeinsame Eigenschaft, die quantitativ messbar und vergleichbar ist. Diese Eigenschaft ist der Wert, gemessen in menschlicher Arbeitszeit. Der Wert einer Ware bemisst sich nach der durchschnittlichen Arbeitszeit, die zu ihrer Produktion erforderlich ist („gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“). Waren werden im Durchschnitt zu diesem Wert getauscht. Dies gilt auch für die Ware Arbeitskraft, die einzige Ware, welche die arbeitende Klasse besitzt und verkauft. Die Arbeitskraft unterscheidet sich aber von allen anderen Waren, da sie die einzige ist, die zusätzlichen Wert schafft, während sie im Verlauf der Produktion verbraucht wird. Das hat seinen Grund darin, dass – wenn Arbeitskraft auf andere Waren (z.B. Rohstoffe) angewandt wird – Arbeit hinzukommt, welche in Arbeitszeit, dem Maß des Werts, gemessen wird.

Wenn Arbeitskraft die einzige Ware ist, welche die Arbeiterklasse besitzt und verkauft – wie hoch ist dann deren Wert?

Wie bei anderen Waren bemisst sich der Wert der Ware Arbeitskraft an der Arbeitszeit, die zu ihrer Produktion erforderlich ist. Im Fall der Ware Arbeitskraft handelt es sich, grob gesagt, um den Wert der Güter, die für ihre Reproduktion erforderlich ist, d.h. was nötig ist, den Arbeiter am Leben zu erhalten und in die Lage zu versetzen, im durchschnittlichen Maß am allgemeinen kulturellen Leben der Arbeiterklasse eines Landes teilzuhaben. Das Ausmaß dessen, was zur Reproduktion nötig ist, unterscheidet sich von Gesellschaft zu Gesellschaft. Die Bedingungen zur Reproduktion der Ware Arbeitskraft sind bei einem Arbeiter in Detroit anders als bei einem in Mumbai. Der Wert der Ware Arbeitskraft ist darum in einigen Ländern niedriger als in anderen, obwohl sich dies natürlich entsprechend der wirtschaftlichen Entwicklung ändert.

Der Wert der Arbeitskraft bestimmt die Höhe des Lohns. Ausschlaggebend für den Wert der Ware Arbeitskraft sind ihre Reproduktionskosten und nicht der Wert des Produkts, welches der Arbeiter herstellt. Wir können uns deshalb den Arbeitstag in zwei Teilen vorstellen. Der erste Teil ist die notwendige Arbeitszeit. Das ist der Zeitraum, in welchem ein Arbeiter die Werte herstellt, die den Kosten entsprechen, die entstehen, um seine Arbeitskraft wiederherzustellen. Dies ist oft sehr viel weniger, als die gesamte Länge seines Arbeitstages. Während des anderen Teils des Arbeitstages findet „Mehrarbeit“ statt. Es handelt sich um den unbezahlten Teil des Arbeitstages, in dem der Mehrwert produziert wird. Der Mehrwert ist die Quelle des Profits.

Die notwendige Arbeit ist nur ein Teil des Arbeitstages. Deshalb ist der Wert der Arbeitskraft geringer als der Wert, den der Arbeiter den hergestellten Produkten hinzufügt. Bei der Differenz handelt es sich um Mehrwert, den der Kapitalist als Profit akkumuliert. Der Grund dafür, dass die Ware Arbeitskraft Mehrwert erzeugt, ist, dass ein Teil der Arbeitszeit des Arbeiters unbezahlt ist. Im Verlauf der Akkumulation von Kapital steigert der Kapitalist die Produktivität der Arbeit, so dass mehr Waren in einer kürzeren Zeitspanne produziert werden können. Am offensichtlichsten und am häufigsten geschieht dies durch den Einsatz von moderneren Maschinen. Dies reduziert die Zeit, die für einen durchschnittlichen Arbeiter zur Produktion eines Produkts erforderlich ist. Die durchschnittliche in die Produktion einer Ware einfließende Arbeitszeit sinkt darum. Das bedeutet, dass der Wert der Ware sinkt. Der Kapitalist, der zuerst ein solches neues System einführt, erzielt einen Extraprofit, wenn die nun billiger produzierten Waren zu einem Preis verkauft werden, der in etwa dem alten entspricht.

Nun werden in einer gegebenen Zeit mehr Produkte hergestellt. Das verkürzt die Zeit, in welcher der Arbeiter den Wert herstellt, der seine Lebenshaltungskosten abdeckt (sofern die Wertsenkung dieser Waren in die Reduktion des Werts von Waren zur Reproduktion der Arbeitkraft eingeht). Das bedeutet, dass die notwendige Arbeitszeit reduziert wird. Sie sinkt, während die Zeit für die Produktion von Mehrwert steigt. Der kapitalistische Profit steigt entsprechend. Dem kapitalistischen System wohnt darum ein grundlegendes Bestreben inne, die Arbeitsproduktivität durch Erhöhung des technischen Niveaus der Produktion zu steigern. Marx drückt das in seiner Terminologie so aus: Es gibt es ein Bestreben, den Anteil des konstanten Kapitals (Maschinen und Rohstoffe) gegenüber dem variablen Kapital (lebendige Arbeit) zu steigern. Dies vermehrt kurzfristig die Profitmasse dieses Kapitalisten, jedoch werden andere Kapitalisten dieses Produktionszweiges bald das gleiche System einführen und so den kurzfristigen Vorteil ihres Wettbewerbers beenden.

Zur selben Zeit ist etwas sehr Wichtiges passiert. Der Anteil an Investition des Kapitalisten, der in die lebendige Arbeit fließt, ist relativ gesunken gegenüber dem Anteil, der in Maschinen und Rohmaterialien fließt. In Marx´ Terminologie: Das konstante Kapital hat sich gegenüber dem variablen Kapital erhöht. Marx nennt das „Anstieg der organischen Zusammensetzung des Kapitals“.

Dieses Merkmal des Kapitalismus hat wichtige Konsequenzen für die Erzeugung von Profit. Marx hält daran fest, dass die Quelle des Profits der Mehrwert ist und dass allein der Arbeiter Profit erzeugen kann, indem er mit unbezahlter Arbeit Mehrwert produziert. Daraus folgt, dass nur die Investitionen des Kapitalisten in variables Kapital Profit erzeugen. Das konstante Kapital, also die Maschinen, Gebäude und Rohstoffe, wurden bereits durch Lohnarbeit produziert. Der Profit aus der Mehrarbeit, der für ihre Produktion aufgewandt wurde, wurde also bereits in einem früheren Stadium dieser Produktionskette von einem anderen Kapitalisten eingestrichen. Das konstante Kapital fügt einem Produkt, welches vorher nicht bestand, keinen zusätzlichen Wert zu – es fügt  dem neuen Produkt nur seinen eigenen Wert zu während es dabei langsam an Wert verliert. Es ist allein das variable Kapital – also wirkliche Arbeitskräfte -, welches neue Werte schafft.

Um dies zu verdeutlichen, stelle man sich eine Fabrik vor, in der Mikrowellen produziert werden. In der Fabrik wird neue Technologie – z.B. neue Montagebänder – eingeführt und erlaubt, mit der gleichen Belegschaft eine größere Zahl von Geräten pro Stunde herzustellen. Die Arbeitsproduktivität steigt also. Die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, die in jeder Mikrowelle steckt, sinkt – der Wert jeder Mikrowelle sinkt relativ zum allgemeinen Wert der Mikrowellen der Konkurrenz – und die Firma, der die Fabrik gehört, erzielt einen im Vergleich zu den Konkurrenten höheren Profit. Es scheint, dass die neue Technologie zu einer gesteigerten Werterzeugung geführt habe, aber sie hat einfach nur den Wert menschlicher Arbeit hinzugefügt, der für die Produktion der neuen Technologie aufgewandt worden war. Im Lauf der Zeit transferiert die neue Maschinerie – das konstante Kapital – ihren Wert auf die erzeugten Produkte, und verliert gleichzeitig selbst entsprechend an Wert. Der Prozess wiederholt sich im dem ständigen Bestreben, die Arbeitsproduktivität durch Einführung neuer Technologie weiter zu erhöhen, d.h. durch neues konstantes Kapital.

Doch dieser Prozess tritt nicht in einer einzelnen Mikrowellenfabrik auf, sondern in der gesamten kapitalistischen Produktion – einschließlich der Fabrik, die die Maschinen herstellt, mit denen die Produktivität erhöht wurde. Dies drückt eine allgemeine Tendenz des Kapitalismus zum Wachsen des konstanten im Vergleich zum variablen Kapital aus, obwohl das variable Kapital der einzige Faktor ist, der Mehrwert schafft.

Wenn also der Anteil der Investition in variables Kapital (lebendige Arbeit) im Vergleich zur Investition in konstantes Kapital sinkt – und dies muss im Kapitalismus so sein – muss auch der Anteil an den Investitionen sinken, der Profit erzeugen kann. Das aufgebaute konstante Kapital – Kapital, das in Maschinen, Fabriken und in zirkulierenden Elementen wie Rohstoffen und Halbfertigprodukten gebunden ist – steigt im Verhältnis zur lebenden Arbeit. Dies erzeugt eine Tendenz zum Fall der Profitrate. Die Profitrate ist nicht die Masse an Profit, der in der kapitalistischen Produktion entsteht, sondern die Profitmasse im Verhältnis zum investierten Kapital. Das heißt keinesfalls, dass die Profitmasse schrumpft, wenn die Profitrate fällt. Tatsächlich können wir davon auszugehen, dass die Produktivitätssteigerung die Profitmasse durch die gleichzeitige Ausweitung der Produktion erhöht, jedoch geschieht dies nur durch die Erhöhung des konstanten Kapitals im Vergleich zum variablen. Während also die Produktion wächst, fällt die Profitrate.

Wie wir alle wissen, unterliegt die kapitalistische Produktion Konjunktur-Zyklen. Hierbei handelt es sich um Perioden von etwa 7-10 Jahren, in denen Produktion und ökonomische Aktivität steigen und fallen. Wir werden uns später noch eingehender mit diesem zyklischen Verlauf beschäftigen, aber ganz allgemein können wir schon jetzt einen einfachen Sachverhalt feststellen: In der Expansionsphase eines konjunkturellen Zyklus steigen die Profite und tatsächlich steigt sogar die Profitrate, wenn man aber den gesamten Verlauf des Zyklus betrachtet, bestätigt sich der tendenzielle Fall der Profitrate. In einem bestimmten Stadium kann die nächste Investitionsrunde nicht mehr soviel Profit versprechen, dass sich eine Investition lohnt. Während die Profitrate fällt, ziehen wichtige Investoren ihr Kapital aus einem bestimmten Produktionszweig ab, was zu Schließungen und Ausverkäufen führt. Oder sie ziehen ihr Kapital aus dem Finanzsektor ab und verursachen so eine Kreditknappheit; oder sie verlangen wesentlich höhere Zinsen für Anlagen und verursachen so Insolvenzen und weitere Kreditprobleme; oder sie erhöhen die Preise für Treibstoffe und Nahrungsmittel und provozieren so Hungerrevolten in armen Ländern, Streiks für höhere Löhne und ein Sinken des Lebensstandards der ArbeiterInnen überall auf der Welt.

Dieser Druck auf die Profitrate resultiert aus einer Überakkumulation des Kapitals. Da die Profitraten in den Sektoren mit der höchsten organischen Zusammensetzung des Kapitals am meisten unter Druck geraten (die Sektoren mit der höchsten Arbeitsproduktivität, in denen der Anteil des konstanten im Verhältnis zum variablen Kapital am höchsten ist), stellen die Kapitalisten fest, dass sie über mehr Kapital verfügen, als sie rentabel einsetzen könnten, um die Profite zu erhalten, die sie bräuchten, um weiter expandieren zu können und konkurrenzfähig zu bleiben. Dies bewirkt eine panische Suche nach Alternativen für das Kapital. Die Überakkumulation bewirkt, dass das Kapital in Niedriglohnländer exportiert wird, wo wegen des niedrigeren technologischen Niveaus höhere Profitraten erzielt werden können. Sie lenkt Kapitalströme in Aktien und noch komplexere Finanzinstrumente (wie die Anlagen in Hypothekenschulden, welche die Banken gegenwärtig in Höhe von Hunderten von Milliarden Dollar abschreiben müssen); sie lenkt es in kommerzielle Immobilienspekulation und führt zu einem immer unbekümmerten Umgang mit Krediten,  um das System am Laufen zu halten. Letztlich führt dies zum Entstehen vielfältiger Formen fiktiven Kapitals, welches in keinem Verhältnis mehr zum zugrunde liegenden Wert realer Waren steht.

Es ist wichtig zu erkennen, dass diese Faktoren den tendenziellen Fall der Profitrate aussetzen können. Marx nennt sie entgegenwirkende Ursachen, die den tendenziellen Fall der Profitrate verzögern und bremsen. Aber er beharrt darauf, dass keine dieser entgegenwirkenden Ursachen den Fall der Profitrate für immer aufhalten kann. Wie wir sehen werden, können sie die Durchsetzung des Gesetzes nicht ewig hinausschieben. Überakkumulation des Kapitals bedeutet, dass sich die Wachstumsphase des industriellen Zyklus zu einem spekulativen Fieber entwickelt, welches in der Krise endet. Geld, das mit der Erwartung einer hohen Rendite angelegt worden war, erweist sich als viel weniger wert als ursprünglich angenommen. Eine Kreditknappheit entsteht explosionsartig, wenn sich zeigt, dass Bankdarlehen und komplexe Finanzinstrumente massiv überbewertet sind. Der Prozess der Akkumulation des Kapitals kommt zu einem abrupten Stillstand; das ganze System scheint einen Herzinfarkt zu erleiden.

Der traumatische Prozess der Kapitalentwertung setzt sich fort. Die Kapitalisten kämpfen miteinander, wer die Kosten dafür zu tragen hat. Dies spielt sich nicht abstrakt ab oder nur auf dem Papier oder gleichzeitig auf der ganzen Welt mit der gleichen Geschwindigkeit. Es ist ein chaotischer Prozess, der an realen Orten und in echter Zeit zuschlägt. Währungen werden entwertet (wie heute der Dollar); Anlagen werden wertlos (die Kreditkrise); nicht nur die Profitrate, sondern auch die absolute Höhe der Profite bricht ein (Gewinnwarnungen); Konzernvorstände überlegen, wie sie „Über“kapazitäten abbauen können. Die Krise entwickelt sich zur Rezession, da der Prozess der Entwertung Nachfrage und Auftragslage scharf trifft und ein starkes Anwachsen der Arbeitslosigkeit bewirkt. Am Ende – Länge und Tiefe von Krise und Rezession hängen von einer Vielzahl weltpolitischer Faktoren ab – beginnen die Kapitalisten, in billigere Betriebe, Maschinerie und Arbeiter neu zu investieren und ein Erholungsprozess setzt ein. Ein neuer Zyklus beginnt.

Wie kraftvoll oder wie schwach der Aufschwung ist und wie schnell Krise und Rezession wiederkehren hängt davon ab, wie gut es den dominanten Kapitalisten gelingt, andere – also schwächere kapitalistische Länder und vor allem die Arbeiterklasse – den Preis der Krise zahlen zu lassen. Es hängt davon ab, wie viel Kapital in den gewaltsamen Ereignissen der Krise entwertet oder zerstört wurde.

Marx´ Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate

Wie wir gesehen haben, wächst im Kapitalismus durch kontinuierliche Innovation der Produktionstechnik die Arbeitsproduktivität in einigen Unternehmungen, die zu den wettbewerbsfähigsten der Branche werden. Ließen wir hypothetisch einmal die realen sozialen Produktionsverhältnisse (Kapitalismus) außer Acht, dann würden die verbesserte Technologie und die gesteigerte Arbeitsproduktivität natürlicherweise zur Arbeitszeitverkürzung führen. Die Automatisierung würde dazu beitragen, den Arbeiter von einem durch ein rigides Arbeitsregime gefesselten Halbsklaven zu einem Aufseher der Produktion zu machen, würde ihn durch fortgesetzte und nachhaltige Verkürzung des obligatorischen Arbeitstages dazu befähigen, sich an der  Planung und Überwachung auch größerer Bereiche von Produktion, Verteilung und Verbrauch zu beteiligen (Sozialismus). Doch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, in deren Rahmen sich aktuell die Entwicklung der Produktivkräfte vollzieht, hemmen und unterdrücken diese noch nicht realisierte Entwicklungstendenz.

Auf dem höchsten Abstraktionsgrad der Analyse ist Kapital als sich selbst verwertender Wert bestimmt. Im Prozess seiner Selbstverwertung nimmt es eine Reihe unterschiedlicher Formen an: Kapital kommt zurück als Profit, um reinvestiert zu werden, um noch mehr Profit zu schaffen. Es bedarf für seine Akkumulation zusätzlichen Werts (Profit), der Ausbeutung unbezahlter Arbeit (des Mehrwerts) und, da dieser Mehrwert ausschließlich durch lebende Arbeit entsteht und nicht durch Maschinen oder Rohstoffe, ist der Kapitalist gezwungen, die Einführung von arbeitssparender Technologie nicht mit der Reduktion von „Arbeit“ im Sinne der Verkürzung der durchschnittlichen individuellen Arbeitszeit oder der Bürde der arbeitenden Bevölkerung als ganzer zu verbinden, sondern mit der Verkürzung seinen Aufwendungen für die Arbeit, d.h. seinen Arbeitskosten. Entsprechend besteht der Nettoeffekt der wachsenden Arbeitsproduktivität im Kapitalismus im Ausschluss von immer mehr lebendiger Arbeit aus dem Produktionsprozess – in einer Weise, die die Ausbeutung der ArbeiterInnen intensiviert, anstatt sie zu mindern. Marx schreibt dazu:

„Diese (die kapitalistische Produktion; Anm. d. Red.) erzeugt mit der fortschreitenden relativen Abnahme des variablen Kapitals gegen das konstante eine steigend höhere organische Zusammensetzung des Gesamtkapitals, deren unmittelbare Folge ist, dass die Rate des Mehrwerts bei gleich bleibendem und selbst bei steigendem Exploitationsgrad der Arbeit sich in einer beständig sinkenden allgemeinen Profitrate ausdrückt. (Es wird sich weiter zeigen, warum dies Sinken nicht in dieser absoluten Form, sondern mehr in Tendenz zum progressiven Fall hervortritt.) Die progressive Tendenz der allgemeinen Profitrate zum Sinken ist also nur ein der kapitalistischen Produktionsweise eigentümlicher Ausdruck für die fortschreitende Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit. Es ist damit nicht gesagt, dass die Profitrate nicht auch aus anderen Gründen vorübergehend fallen kann, aber es ist damit aus dem Wesen der kapitalistischen Produktionsweise als eine selbstverständliche Notwendigkeit bewiesen, dass in ihrem Fortschritt die allgemeine Durchschnittsrate des Mehrwerts sich in einer fallenden allgemeinen Profitrate ausdrücken muss. Da die Masse der angewandten lebendigen Arbeit stets abnimmt im Verhältnis zu der Masse der von ihr in Bewegung gesetzten vergegenständlichten Arbeit, der produktiv konsumierten Produktionsmittel, so muß auch der Teil dieser lebendigen Arbeit, der unbezahlt ist und sich in Mehrwert vergegenständlicht, in einem stets abnehmenden Verhältnis stehn zum Wertumfang des angewandten Gesamtkapitals. Dies Verhältnis der Mehrwertsmasse zum Wert des angewandten Gesamtkapitals bildet aber die Profitrate, die daher beständig fallen muß.“ (1)

Das Motiv bei der Einführung von Technologie und der damit verbundenen Steigerung der Arbeitsproduktivität ist immer die unmittelbare Auswirkung, nämlich der Anstieg der Mehrwertrate (der „Ausbeutungsrate“ oder des Anteils des Mehrwerts am variablen Kapital) in den revolutionierten Bereichen durch die Reduktion der Zeit, die nötig ist, um ein bestimmtes Produkt herzustellen. Wie oben festgestellt, ist der Arbeiter fähig, in einer bestimmten Zeit mehr Produkte herzustellen. Dadurch sinkt der Wert der Ware im Verhältnis zur Ware des Wettbewerbers und der Kapitalist erzielt einen höheren Profit. Wenn m Mehrwert ist und v variables Kapital, dann ist der Wert von v abhängig von der notwendigen Arbeitszeit. Wir können somit sagen, dass die Ausbeutungsrate m/v ist. Wenn die Arbeitsproduktivität steigt, reduziert sich das Verhältnis der notwendigen Arbeitszeit – die Zeit, die erforderlich ist für die Reproduktion der Arbeitskraft des Arbeiters, d.h. der Lohn – zum Arbeitstag als Ganzem. Dies vergrößert den Gewinn und die Profitabilität des Investments.

Nehmen wir zum Beispiel einen Hersteller von Computern. Wenn wir m den Wert von 5 (5 Mill. $ Profit) und v den Wert von 10 (10 Mill. $ investiert für Arbeitskraft) geben, beträgt die Mehrwertrate oder Ausbeutungsrate 5/10 = 0,5 oder 50%. Wenn wir nun die notwendige Arbeitszeit reduzieren, so dass die ArbeiterInnen den gleichen Mehrwert in sagen wir der Hälfte der Zeit produzieren, erhalten wir einen starken Anstieg der Mehrwertrate. Wenn m immer noch einen Wert von 5 hat (der Profit beträgt immer noch 5 Mill. $) aber wir nun v den Wert von 5 geben (die Arbeitskosten betragen nun nur noch 5 Mill. $) erhalten wir eine Mehrwertrate von 5/5 = 1, eine Ausbeutungsrate von 100%.

Wir fügen nun das konstante Kapital (Rohstoffe, Gebäude und Maschinen) in die Formel ein und nennen das c. Wir können zeigen, dass ein Anwachsen des Verhältnisses von konstantem zu variablem Kapital – von nicht Mehrwert produzierendem zu Mehrwert produzierendem Kapital, von Maschinerie und Material zu Arbeitern, von toter zu lebendiger Arbeit – notwendigerweise die Profitrate mindert. Wenn die Ausbeutungsrate m/v beträgt, dann kann die Profitrate mit m/c+v dargestellt werden, der Mehrwert im Verhältnis zum Gesamtinvestment des Kapitalisten.

Bemühen wir ein weiteres einfaches numerisches Beispiel. Wenn m=5, v=5 und c=5, dann gilt m/c+v = 5/5+5 oder 5/10. Die Profitrate ist in diesem Beispiel 0,5 oder 50 Prozent. Wenn unser Computerproduzent 5 Mill. $ für Arbeit und 5 Mill. $ für Technologie aufwendet und sein Profit 5 Mill. $ beträgt, dann liegt seine Profitrate bei 5m/10m, was die Häfte oder eine Profitrate von 50% ergibt.

Betrachten wir nun, was passiert, wenn wir die Arbeitsproduktivität durch Einführung von Hightech-Maschinerie in den Produktionsprozess steigern, wenn wir damit den Anteil des konstanten Kapitals im Verhältnis zum variablen erhöhen, wenn s und v gleich bleiben, aber c wächst.

Wenn c auf 10 Mill. $ anwächst, aber m und v gleich bleiben, erhalten wir für m=5, v=5, c=10, demnach m/c+v = 5/5+10 = 5/15 = 1/3 oder 33%. Durch das Wachsen des Verhältnisses von konstantem zu variablem Kapital sinkt die Profitrate unseres Computerproduzenten, da der Profit von 5 Mill. $ jetzt durch ein Investment von 15 Mill.  $ realisiert wird – obwohl die Mehrwertrate und die Ausbeutungsrate gleich geblieben sind.

Je mehr Investitionen in konstantes Kapital erfolgen, desto mehr sinkt die korrespondierende Profitrate. Wenn im Fall eines sehr großen Investments in Ausrüstung und Maschinerie dieses z.B. auf 45 Mill. $ wächst, erhalten wir für c=45 und einen scharfen Abfall der Profitrate.

m/c+v = 5/45+5 = 5/50 = 0,1 oder 10%

So weit, so einfach. Aber der Grund für sehr viel Verwirrung in diesem Bereich, besteht – wie wir noch zeigen werden – darin, dass die Einführung von neuen Produktionssystemen und neuer Technologie, die die Arbeitsproduktivität steigern, gleichzeitig einen Anstieg der Mehrwertrate und einen tendenziellen Fall der Profitrate bewirken können. Das bedeutet, dass wir oft eine starke Vergrößerung der Profitmasse gerade am Vorabend einer größeren Krise von sinkenden Profitraten beobachten können.

Der Abfall der Profitrate als Resultat der wachsenden „organischen Zusammensetzung des Kapitals“ (c/v) erklärt zum Teil, warum es zyklische Wirtschaftskrisen gibt. Wir werden dies im Folgenden näher ausführen. Jetzt ist es wichtig, daran zu denken, dass auf den ganzen Zyklus bezogen die Profitrate nicht immer sinkt. Wäre dem so, würden Kapitalisten niemals einen Profit machen und das ganze System wäre in sich selbst zusammengebrochen, bevor es begonnen hätte, sich zu entwickeln. Die wachsende organische Zusammensetzung des Kapitals erzeugt eine Tendenz zum Fall der Profitrate, jedoch es gibt mächtige Gegentendenzen, welche die Tendenz zum Fall der Profitrate verlangsamen, verzögern und teilweise aufhalten. Nur wenn die Tendenz zur Überakkumulation diese entgegenwirkenden Ursachen überwiegt, ist das Ergebnis ein eindeutiger Fall der Profitrate bei neuen Investitionen. Das führt dann schließlich zu einem Fall der Profitmasse, zur Krise und zur korrigierenden Entwertung von Kapital.

Marx erläutert in den Grundrissen, wie in der Theorie (1) die Menge des Profits wächst in umgekehrten Verhältnis zur Profitrate, aber dann (2) letztlich die Profitmasse nicht weiter wachsen kann, da die Profitrate fällt. Er beginnt mit dem ersten Punkt.

„Der gross profit (Bruttoprofit, Anmerkung im Original), d.h. der Mehrwert, betrachtet außer seiner formellen Beziehung, nicht als Proportion, sondern als einfache Wertgröße ohne Beziehung auf andere, wird im Durchschnitt nicht wachsen wie die Rate des Profits, sondern wie die Größe des Kapitals. Wenn also die Rate des Profits im umgekehrten Verhältnis zum Wert des Kapitals, wird die Summe des Profits in direktem Verhältnis zu ihm stehn.“ (2)

Betrachten wir diesen Zusammenhang bezogen auf unser Beispiel, bei dem unser Produzent 5 Mill. $ in Arbeit investiert hat, 5 Mill. $ in Maschinerie und einen Profit von 5 Mill. $ erzielt, oder, in mathematischen Termini, wenn c, v und m alle 5 betragen. Wenn wir nun überall den Wert verdoppeln und es dabei bleibt, dass die Ausbeutungsrate m/v bei 100% verharrt, dann beträgt c=10, v=10, m/v=1, demnach beträgt die Profitmasse (hier gleich dem Mehrwert) m= 10. Die Profitmasse wuchs proportional zur Größe des Kapitals.

Betrachten wir nun ein Beispiel, bei dem die Profitmasse ansteigt und gleichzeitig die Profitrate sinkt. Am Ausgangspunkt betrugen c, v und m jeweils 5. Bevor wie das Kapital verdoppelten, galt m/c+v = 5/5+5 und die Profitrate betrug 5/10 = 0,5 oder 50%. Als wir v auf 10 wachsen ließen und die Ausbeutungsrate m/v bei 100 blieb, stieg die Profitmasse. Wenn wir das konstante Kapital nun im gleichen Maße erhöhen auf 10, bleibt die Profitrate gleich. 10/10+10 ergibt die gleiche Rate wie 5/5+5. In beiden Fällen ergibt sich eine Rate von 50%.

Was würde passieren, wenn wir c stärker wachsen lassen als v, sagen wir auf 40, so dass nicht nur das Kapital absolut anwächst, sondern das konstante Kapital gegenüber dem variablen anwächst? Wieder gehen wir davon aus, dass die Ausbeutungsrate konstant bleibt bei m/v = 100 Prozent. m beträgt nun 10, c beträgt 40 und v beträgt 10 was m/c+v = 10/40+10 = 10/50 = 0,2 oder 20%. Die Profitmasse, die Summe des Profits, stieg von 5 auf 10, weil das Kapital vermehrt wurde. Aber die Profitrate fiel von 50% auf 20%.

Das Kapital unseres Computerproduzenten vermehrte sich massiv und seine Profitmasse stieg als Folge davon. Da die Ausbeutungsrate 100% beträgt, was bedeutet, dass die Hälfte der Arbeitszeit der Angestellten unbezahlt ist, führt eine Verdopplung der Arbeitskraft von 5 auf 10 Mill. zu einer Verdopplung seines Profits von 5 auf 10 Mill. $. Zur selben Zeit jedoch hat die massive Investition in neue Maschinerie von 45 Mill. $, die zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität führte, die Profitrate von 50 Cent auf jeden investierten Dollar herabgedrückt auf nur noch 20 Cent pro investierten Dollar.

Marx zeigt, dass die Profitmasse zwar steigt, die Profitrate jedoch fällt. Die Veränderung der Profitmenge wächst proportional mit der Größe des Kapitals, jedoch die Profitrate verhält sich umgekehrt proportional.

Marx setzt in den „Grundrissen“ seine Erklärung fort, indem er ausführt, dass das Phänomen steigenden Profits bei gleichzeitigem Sinken der Profitrate nur für eine Weile fortbestehen kann. Er führt aus:

„Allein auch dieser Satz ist nur wahr für eine beschränkte Stufe der Entwicklung der Produktivkraft des Kapitals oder der Arbeit.“ (3)

Marx führt ein Beispiel dafür an, wie sich dieses Phänomen im Verlauf der kapitalistischen Entwicklung darstellt. Er gibt uns ein Beispiel einer niedrigen Profitrate, die zu einer Vermehrung der Profitmasse führt und schreibt:

„Ein Kapital von 100 mit einem Profit von 10% gibt eine kleinere Summe des Profits als eine Kapital von 1000 mit einem Profit von 2%. In dem ersten Fall ist die Summe 10, in dem zweiten 20, d.h. der gross profit des großen Kapitals doppelt so groß wie der des 10mal kleineren Kapitals, obgleich die Profitrate des kleineren 5mal größer als die des größeren.“ (4)

Wenn der Prozess der fallenden Profitrate fortbesteht, muss das schließlich eine Auswirkung auf die Profitmasse haben. Marx erklärt dies sehr einfach:

„Aber wäre der Profit des größeren Kapitals nur 1%, so wäre die Summe des Profits 10, wie für das 10mal kleinere Kapital, weil im selben Verhältnis, wie seine Größe die Profitrate abgenommen. Wäre die Profitrate für das Kapital von 1000 nur 0,5%, so wäre die Summe des Profits nur halb so groß wie die des 10mal kleineren Kapitals, nur 5, weil die Profitrate 20mal kleiner.“ (5)

Wenn die Profitrate stärker fällt als das Kapital wächst, kann die Profitmasse eines großen Kapitals im Vergleich zu einem kleineren sinken, was Erweiterungsinvestitionen für dieses Kapital uninteressant werden lässt.

„Allgemein ausdrückt: Nimmt die Profitrate ab für das größere Kapital, aber nicht im Verhältnis seiner Größe, so wächst der gross profit, obgleich die Rate des Profits abnimmt. Nimmt die Profitrate ab im Verhältnis zu seiner Größe, so bleibt der gross profit derselbe wie der des kleineren Kapitals; bleibt stationär. Nimmt die Profitrate ab im größeren Verhältnis, als seine Größe wächst, so nimmt der gross profit des größeren Kapitals, verglichen mit dem kleineren, ebenso ab, als die Profitrate abnimmt.“ (6)

Dies ist von enormer Bedeutung. Es zeigt, dass – wenn die Arbeitswerttheorie richtig ist – periodisch auftretende fallende Profitraten das Wachstum der Profitmasse bedrohen. An einem bestimmten Punkt sinkt die Profitrate so stark, dass die Kapitalisten ihr Kapital aus der Produktion o.a. Investitionsbereichen abziehen, weil nicht genügend Profit erzielt wird. Wenn dies stimmt, würde der Kapitalismus notwendigerweise Zyklen durchlaufen, die an einem Punkt kulminieren, an dem Investitionen plötzlich nicht mehr vorgenommen werden, die das Kapital gewaltsam entwerten, bevor seine Akkumulation in einem neuen Zyklus wieder beginnen kann. Genau das aber findet statt, wie uns die Kreditkrise von 2007 und die Bankenkrise von 2008 nur zu deutlich zeigen!

Es ist nicht verwunderlich, dass Marx selbst von der Einfachheit und großen Bedeutung seiner Entdeckung betroffen war. Er fasst dies in den Grundrissen so zusammen:

„Es ist dies in jeder Beziehung das wichtigste Gesetz der modernen politischen Ökonomie und das wesentlichste, um die schwierigen Verhältnisse zu verstehn. Es ist vom historischen Standpunkt das wichtigste Gesetz. Es ist ein Gesetz, dass trotz seiner Einfachheit bisher nie begriffen und noch weniger bewußt ausgesprochen worden ist.“ (7)

Dies ist die zugrunde liegende Ursache des Phänomens der Überakkumulation des Kapitals, des „Überflusses“ von Liquidität, die die Krise begleitet, die nach dem Höhepunkt des kapitalistischen Booms entsteht, der verrückten Jagd des Kapitals, Profite oberhalb und jenseits der durchschnittlichen Profitrate zu erzielen, und dem ansonsten unerklärlichen Versiegen der Investitionen trotz des Vorhandenseins außerordentlicher Geldmengen („ein Exzess der Liquidität“). So wird deutlich, warum diese Verhältnisse oft in Krisen explodieren, die Investitionstätigkeit beenden – noch bevor die Verbrauchernachfrage zusammenbricht (was 2007 anscheinend geschehen ist).

Der Investitionsstopp, die Unterbrechung der Zirkulation des Kapitals, die Abschreibungen auf überbewertete Anlagen und Kreditkonstruktionen und letztlich die Schließung von unprofitablen Industrien weisen auf eine gewaltsame Entwertung des Kapitals hin. Die in diesen Krisen zu Tage tretende Entwertung ist die Antwort des Kapitalismus auf die Überakkumulation des Kapitals. Sie ist für Marx das deutlichste Zeichen dafür, dass der Kapitalismus unaufhaltsam auf seine eigene Zerstörung zusteuert – etwas, das nicht automatisch ohne die bewusste Intervention von Menschen, Bewegungen und Parteien passiert, sich aber durch eine Serie von krampfartigen kapitalistischen Krisen ständig neu als Notwendigkeit und Möglichkeit erweist.

Es zeigt sich, dass

„die durch das Kapital selbst in seiner historischen Entwicklung herbeigeführte Entwicklung der Produktivkräfte, auf einem gewissen Punkt angelangt, die Selbstverwertung des Kapitals aufhebt, statt sie zu setzen.

Über einen gewissen Punkt hinaus wird die Entwicklung der Produktivkräfte eine Schranke für das Kapital; also das Kapitalverhältnis eine Schranke für (die) Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit. (…)

In schneidenden Widersprüchen, Krisen, Krämpfen drückt sich die wachsende Unangemessenheit der produktiven Entwicklung der Gesellschaft zu ihren bisherigen Produktionsverhältnissen aus. Gewaltsame Vernichtung von Kapital, nicht durch ihm äußere Verhältnisse, sondern als Bedingung der Selbsterhaltung, ist die schlagendste Form, worin ihm advice (der Rat) gegeben wird, to be gone and give room to a higher state of social production (abzutreten und einem höheren Stadium der gesellschaftlichen Produktion Raum zu geben).“ (8)

Entgegenwirkende Ursachen

Marx bestand darauf, dass der Trend zu fallenden Profitraten kein linearer Prozess ist, sondern dass er durch eine Reihe von Faktoren verzögert wird, die ihn verlangsamen, verschieben und aufhalten können.

Logischerweise müssen diese Faktoren, wenn sie das Fortschreiten der Kapitalakkumulation hin zu Krise und Zusammenbruch verlangsamen sollen, alle etwas gemeinsam haben. Die Grundursache der Krise ist in der Überakkumulation von Kapital und in fallenden Profitraten zu suchen, welche sich aus dem Wachsen des konstanten Kapitals relativ zum variablen Kapital ergeben.

So müssen die entgegenwirkenden Ursachen logischerweise entweder a) das konstante Kapital in Verhältnis zum variablen Kapital verringern, b) das variable Kapitals im Verhältnis zum konstanten Kapital vermehren, c) den Gesamtprofit erhöhen, ohne gleichzeitig das konstante Kapitals im Verhältnis zum variablen Kapital zu erhöhen oder d) den Gesamtprofit erhöhen bei einer verzögerten Erhöhung des konstanten Kapitals im Verhältnis zum variablen Kapital oder e) eine Kombination von a), b), c) und d).

Wir werden sehen, dass jede der entgegenwirkenden Ursachen das bis zu einem gewissen Grad tut, aber dass jede nur einen begrenzten Effekt haben kann. Keine kann permanent fallende Profitraten ausgleichen oder die Krise unbegrenzt aufschieben.

Die entgegenwirkenden Ursachen, welche das tendenzielle Fallen der Profitraten verschieben oder verlangsamen, sind zahlreich und verschieden. Sie umfassen:

• Kapitalexport: Wenn eine Investition in Ländern stattfindet, wo die Arbeitskraft billiger ist und als Resultat niedriger technologischer Entwicklung die organische Zusammensetzung des Kapitals niedriger ist; dann sind die Profitraten höher, weil der Anteil des variablen Kapitals im Verhältnis zum konstanten Kapital höher ist. Das zeigt sich in dem bekannten Prozess, dass Investoren aus den höchstentwickelten Ländern das Geld in die ‚aufstrebenden Märkte‘ (die unterentwickelte Welt) pumpen, um höhere Profitraten zu sichern, eine große Zahl von ArbeiterInnen zu beschäftigen, die vom Land kommen, deren Lebensstandard niedriger ist und die an weniger und nicht so hoch entwickelter Maschinerie als im Westen arbeiten müssen.

• Expansion des Aktienkapitals: Erweitert die Menge der Investoren und erlaubt den führenden Kapitalisten, den Anteilseignern einen Ertrag unterhalb der Durchschnittsprofitrate zu geben.

• Ausdehnung des Kredits: Erlaubt den Kapitalisten, breitere Quellen zur Geldbeschaffung für Investitionen heranzuziehen und den Punkt hinauszuzögern, an dem ein Fall der Profitmasse sie zwingt, die nächsten Runden im Investieren auszusetzen.

• Expansion des Handels zwischen fortgeschrittenen und weniger weit entwickelten kapitalistischen Ökonomien. So wie die internationalen Preise für  Handelswaren und Dienstleistungen auf Durchschnittsprofitraten basieren, und die Profitrate im höher entwickelten Land niedriger sein wird als in einem weniger entwickelten Land, werden die Kapitalisten der höher entwickelten Macht begünstigt von einer Form von ‚ungleichem Austausch‘, weil sie zu einem Durchschnitt tauschen, der höher ist als ihre eigene Profitrate. Obwohl beide Kapitalistengruppen davon profitieren, erzielen die Kapitalisten der entwickelteren Macht bei diese Art von Handel den Großteil des Profits (‚Super-Profit‘).

• Reduzierung des Werts der Arbeitskraft durch Ausbeutung von billiger ausländischer Arbeitskraft und durch Import billigerer Lebensmittel. Das erhöht die Ausbeutungsrate und dadurch die Profitmasse.

• Verkürzung der Umschlags- und der Zirkulationszeit durch Beschleunigung von Produktion, Transport und Vertrieb. Dies reduziert die Zeit, in der das Kapital gebunden ist, und erhöht die Zahl der Zyklen. Das Kapital kann folglich mehr Zeit damit verbringen, sich im Wert durch Ausbeutung lebendiger Arbeit zu vermehren und ist weniger Zeit in der Zirkulation gebunden.

• Reduktion des Werts des konstanten Kapitals, sowohl des Bestands an Fabriken und Maschinerie als auch an Rohstoffen, was den Anteil des konstanten Kapitals relativ zum variablen Kapital reduziert.

• Vergrößerung des Teils des Arbeiterklasse, der unter dem Wert der Arbeitskraft bezahlt wird durch Lohndrückerei und durch Nutzung von Tagelöhnern, prekärer, migrantischer und Kinderarbeit.

• Verlängerung der Arbeitszeit und Intensivierung der Arbeit, so dass die Arbeitskräfte mehr Wert schaffen in längerer Zeit oder bei intensiverer Nutzung der Arbeitszeit.

Diese entgegenwirkenden Ursachen üben alle am Beginn des industriellen Zyklus einen beschränkten Effekt aus, schlagen aber schließlich in ihr Gegenteil um.

So setzt der Kapitalexport im empfangenden Land einen Prozess von Akkumulation in Bewegung, der dann selbst in Überakkumulation und Krise führt und dabei seinen ursprünglichen Effekt der Absenkung der organischen Zusammensetzung des Kapitals im Entwicklungsland reduziert. Das Beispiel China zeigt, dass als Resultat der Entwicklung die Preise steigen, die sich entwickelnde Ökonomie destabilisiert wird und sich Klassenwidersprüche und Kämpfe in dem sich neu entwickelnden kapitalistischen Staat verschärfen. Nicht nur der Prozess der Kapitalakkumulation, sondern all seine Widersprüche und Krisentendenzen werden im globalen Maßstab ausgeweitet, so dass schließlich u.a. die Preise im Westen steigen.

Die Ausweitung von Aktienkapital und die Erweiterung des Kredits dehnen den Anteil von fiktivem Kapital in der Zirkulation aus. Es ist dabei wichtig zu verstehen, dass dies keine Abweichung oder eine seltsame Art kollektiven Wahnsinns ist, sondern ein notwendiges Element der Zirkulation des Kapitals in einem marktbasierten System. Wie wir in der Krise 2007/08 klar sehen können, ist eine massive Ausweitung des Kredits, wie wir sie 1998-2008 beobachten konnten, weit davon entfernt, Krisen endlos hinauszuschieben; sie verstärkt stattdessen massiv die Instabilität im Finanzsystem, verbreitet die „Seuche“ des überbewerteten Kapitals über den Erdball und macht den korrigierenden Schock, der erforderlich ist, um ‚die exzessive Liquidität vom Markt‘ zu nehmen, umso heftiger. Der Abwertungsprozess des fiktiven Kapitals führt zu einer Jagd nach der härtesten Form von Geld, heute am liebsten Gold oder nicht-konvertibles ‚fiat‘ Geld, gedeckt von einem starken Staat. Heute, wo der historische Abstieg des Dollars neue Tiefen erreicht, scheint auch die Position des Weltgeldes in Zukunft vakant zu werden – ein Indikator bevorstehender inter-imperialistischer Spannungen.

Kredit in seiner modernen Massenkonsumenten-Form der Hypotheken und Kreditkarten reißt jetzt die Masse der Bevölkerung mit, in dem die Krise der Abwertung in bisher unvorhergesehener Weise vergesellschaftet wird. Zu Marx` Zeiten gab es keinen Massenmarkt für Hypotheken. Weit davon entfernt, eine neue und stabile Basis für den Kapitalismus zuschaffen (der von Reagan und Thatcher so hoch gelobten ‚Hauseigentümer-Demokratie“), haben Massen-Konsumentenkredite und die Verwandlung von Mieten in Finanzprodukte das Finanzsystem massiv destabilisiert. So wie die kommerziellen Mieten und Grundrenten vom Gesamtprofit der Kapitalistenklasse abgezogen werden, so werden die privaten Mieten von den Durchschnittslöhnen der Arbeiterklasse abgezogen (mit lokalen Unterschieden, je nachdem, wie weit sie von den Zentren des großen Geldes entfernt sind). Hauspreise für ‚Hauseigentümer‘ sind nur die kapitalisierte Form der Wohnungsrente, wo die Miete ist in eine Hypotheken-Zurückzahlung umgewandelt wurde, dabei wird jeder Anstieg im Profit aus der Wertsteigerung der Immobilie mit dem Hypothekenkreditverleiher in Form von äußerst hohen Zinsen geteilt. Wenn dann die Reallöhne sinken und die kommerziellen Zinsraten steigen, so wie in den USA über die letzten Jahre, und die Profite fallen, fallen schließlich auch die Immobilienpreise. Das deckt auf, warum die Hausbeleihungen in hohem Maß fiktives Kapital sind. Sowohl die Kreditgeber als auch die ‚innovativen‘ Finanzinstitute, die auf der Basis „neuverpackter“ Hypothekenschulden verleihen, müssen Milliarden abschreiben oder bankrott gehen. Dies verschlimmert den Trend in Richtung Rezession, da die gebeutelten Hauseigentümer und die an die Luft gesetzten ehemaligen Hauseigentümer den Gürtel enger schnallen und Ausgaben reduzieren müssen.

Wie schon erwähnt, hebt der Handel zwischen den imperialistischen Metropolen und den sich schnell entwickelnden halbkolonialen Ländern die Profite im ‚Westen‘, weil die Halbkolonien eine niedrigere organische Zusammensetzung des Kapitals haben, folglich eine höhere Profitrate. Hinzu kommt, kurz gesagt, dass sich die Mehrwertrate im ‚Westen‘ durch Importe billiger Waren erhöht, da sie die Kosten der Reproduktion der Arbeitskraft verringern. Aber unter Wert-Begriffen betrachtet, bedeutet das Senkung des Wertes der Arbeitskraft, also auch des Wertes von v (dem variablen Kapital), so dass sich schließlich das Problem der steigenden Wertzusammensetzung des Kapitals und daher fallender Profitraten verschärft. Die Krise der Überakkumulation kann nicht unendlich hinausgeschoben werden, wie wir weiter unten sehen, da der Wert von c (konstantes Kapital) schließlich schneller wächst als v.

Wenn dann wiederum die Überakkumulation des Kapitals in einem aufkommenden halb-kolonialen Land den deflationären Effekt des Exports von Konsumgütern für die LohnarbeiterInnen in den Metropolen reduziert, stellt dies nicht einfach das Gleichgewicht wieder her durch Erhöhung des Werts der Arbeitskraft im Verhältnis zu c. Auch der Wert des konstanten Kapitals – Fabriken und Maschinerie und Rohstoffimporte – wächst. Auf einer weit konkreteren Ebene untergräbt der Effekt höherer Preise für Treibstoff und Nahrungsmittel und höherer Zinsraten zur Kontrolle der Inflation die Ausweitung des Kredits auf Basis des Massenkonsums; er führt vielmehr ab einem bestimmten Punkt zu einer Krise, einem Einbruch des Konsums, sei es bei Schuldenrückzahlungen, Hypothekenschulden, Zinszahlungen oder bei Luxusgütern oder Grundnahrungsmitteln.

Eine weitere entgegenwirkende Ursache, die Reduktion der Umschlagszeit, hebt die Profitmasse an, indem es Kapital im Umlauf hält. Aber dies verkürzt auch die Zeitspanne, in der unkonsumiertes konstantes Kapital abgeschrieben werden muss, seine Wertübertrag muss also schneller vonstatten gehen. Wie jeder weiß, altert Hi-Tech-Ausrüstung schnell, sie wird uneffizient, verglichen mit neueren Modellen. Dies steigert den Druck auf jeden Kapitalisten, die Zusammensetzung des Kapitals zu erhöhen, treibt die organische Zusammensetzung des Kapitals in die Höhe und erhöht die Dynamik der Krise.

Die Ausbeutung von Einwanderern und Billigarbeit steigert die Profite, drückt die Löhne nach unten und untergräbt die Tarifverträge der organisierten Arbeiterschaft. Aber es dehnt die Größe des armen Proletariats aus, des Teils, der unkorrumpiert ist von den Vorurteilen der Arbeiteraristokratie, des Teils, der keine ‚Erfolgsbeteiligung‘ an den Profiten der Bosse durch höhere Lohnabschlüsse und Bonuszahlungen zu erwarten hat, und der nichts als seine Ketten zu verlieren hat. Schließlich steigen die Löhne im Aufschwung und die Nachfrage der Arbeiterklasse nach Konsumgütern, so dass der lohndrückende Effekt billiger Arbeiterkraft durch den Druck auf die Profitrate in der Gesamtwirtschaft mehr als wett gemacht wird.

Gesteigerte Rüstungsausgaben verschieben den Zusammenbruch – so wie das Gemetzel, das aus der Benutzung (dem ‚Verbrauch‘) von Waffen folgt, auch explosive ‚Abwertungen‘ mit sich bringt, die wiederum die Kapitalakkumulation wieder in Gang bringen können. Dennoch verschlimmern diese Ausgaben – v.a. in dem Ausmaß, das sie durch die Bush-Administration 2001 angenommen haben – die Krise der öffentlichen Haushalte und erschweren es den Bossen, dem Druck auf die Profite mit Steuersenkungen zu begegnen. Sie untergraben außerdem den Wert nationaler Währung. Ein weiterer Punkt, den jedeR MarxistIn erwähnen sollte, wenn man über den begrenzten Effekt von Militärausgaben im Hinblick auf das soziale Gleichgewicht nachdenkt, ist natürlich, dass Krieg auch Revolution hervorbringen kann.

Das wichtigste Gesetz

Es wird völlig klar beim Lesen von Marx‘ Werken wie den „Grundrissen“, dem „Beitrag zu einer Kritik der politischen Ökonomie“, dem „Kapital“ und den „Theorien über den Mehrwert“, dass er weit davon entfernt war, es als nebensächlichen Anhang zu seinen Theorien zu betrachten – nein, Marx betrachtete das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate als zentral. „Es ist vom historischen Standpunkt das wichtigste Gesetz.“ (9)

Marx hatte das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate fest im Sinn, als er den ersten Band des „Kapital“ schrieb, auch wenn er sich entschied, im Einführungsband keine vollständige Ausarbeitung dieses Gesetzes vorzunhemen. Aber er erklärt dort, dass die Akkumulation zur Überakkumulation von Kapital führt, das nicht ausreichend profitabel angelegt werden kann, dass die daraus hervorgehenden Krisen eine Armee von erwerbslosen ArbeiterInnen erzeugen, deren Arbeitskraft brach liegt, für die der Kapitalismus keine Verwendung hat. Die Akkumulation führt, in Marx Worten, zu “unbeschäftigtem Kapital auf der einen und unbeschäftigte(r) Arbeiterbevölkerung auf der anderen Seite.“ (10)

Daraus folgt, dass der Kapitalismus eine Form der Produktion und der Herrschaft ist, die auf ihren eigenen Zusammenbruch zusteuert. Ob dieser Kollaps aufgelöst wird zum Vorteil der ArbeiterInnen, hängt vom subjektiven Faktor ab, ist also eine Frage von revolutionärer Organisation, Aktion, Programm und Führung.

So schreibt Marx im ersten Band des „Kapitals“ im Abschnitt „Geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation“ die berühmte revolutionäre Passage:

„Je ein Kapitalist schlägt viele tot. Hand in Hand mit dieser Zentralisation oder der Expropriation vieler Kapitalisten durch wenige entwickelt sich die kooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter, die bewußte technische Anwendung der Wissenschaft, die planmäßige Ausbeutung der Erde, die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel, die Ökonomisierung aller Produktionsmittel durch ihren Gebrauch als Produktionsmittel kombinierter, gesellschaftlicher Arbeit, die Verschlingung ganzer Völker in das Netz des Weltmarkts und damit der internationale Charakter des kapitalistischen Regimes. Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“ (11)

In diesem Stadium der Darstellung seiner Ideen im ersten Band des „Kapitals“ hatte Marx noch nicht die notwendigen Kategorien zur Darstellung des Gesetzes des tendenziellen Falls der Profitrate entwickelt. Schon in den „Grundrissen“ formulierte Marx denselben revolutionären Gedanken wie folgt, mit seinem Gesetz als zentralem Baustein in seiner Ausführung:

„Da dieses Abnehmen des Profits gleichbedeutend ist mit der verhältnismäßigen Abnahme der unmittelbaren Arbeit zur Größe der vergegenständlichten Arbeit, die sie reproduziert und neu setzt, so wird alles vom Kapital versucht werden, um die Kleinheit des Verhältnisses der lebendigen Arbeit zur Größe des Kapitals überhaupt, und daher auch des Mehrwerts, wenn als Profit ausgedrückt, zum vorausgesetzten Kapital zu checken by reducing the allotment made to necessary labour and by still more expanding the quantity of surplus labour with regard to the whole labour employed. Hence the highest development of productive power together with the greatest expansion of existing wealth will coincide with depreciation of capital, degradation of the labourer, and a most straitened exhaustion of his vital powers. These contradictions lead to explosions, cataclysms, crises, in which by momentaneous suspension of labour and annihilation of a great portion of the capital the latter is violently reduced to the point where it can go on fully employing its productive powers without committing suicide. Yet, these regularly recurring catastrophes lead to their repetition on a higher scale, and finally to its violent overthrow (bremsen, indem es die Zuwendung für notwendige Arbeit verringert und die Quantität der Mehrarbeit in Hinblick auf die gesamte Menge der angewandten Arbeit noch mehr erweitert. Folglich werden die höchste Entwicklung der Produktivkräfte und die stärkste Ausdehnung des vorhandenen Reichtums zusammenfallen mit Entwertung des Kapitals, Erniedrigung des Arbeiters und einer höchst unmittelbaren Erschöpfung seiner Lebenskraft. Diese Widersprüche führen zu Explosionen, Katastrophen, Krisen, in denen durch momentane Einstellung der Arbeit und die Vernichtung eines großen Teils des Kapitals das letztere gewaltig reduziert wird bis zu dem Punkt, von welchem aus es weiter kann, in der Lager ist, seine Produktivkräfte voll anzuwenden, ohne Selbstmord zu verüben. Jedoch diese regelmäßig wiederkehrenden Katastrophen führen zu deren Wiederholung auf höherer Stufe und schließlich zum gewaltsamen Umsturz.)” (12)

Marx‘ Krisentheorie ist deshalb eine revolutionäre anti-kapitalistische Theorie. Kein Wunder also, dass sie zum Gegenstand von systematischen und anhaltenden Attacken wurde.

Ausbeutungsrate und Profitrate

Nur die Arbeitswerttheorie hat ähnlich viele und große Kontroversen unter Ökonomen hervorgerufen, wie das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate. Es zieht nicht nur die Schmähungen der bürgerlichen Theoretiker auf sich, sondern auch jeden Typs von Revisionisten, die vorgeben, auf dem Boden des Marxschen Denkens zu stehen.

Die Kritiken am Gesetz konzentrieren sich darauf, Marx‘ Schlussfolgerung anzugreifen, dass der tendenzielle Fall der Profitrate den Status eines Gesetzes habe, während die entgegenwirkenden Ursachen von nachrangiger Bedeutung sind. Die Absicht dieser Kritiken an Marx ist natürlich zu behaupten, dass Profitraten ebenso leicht steigen wie fallen könnten, dass es keinen allgemeinen Trend zu fallenden Profitraten gebe, dass die ‚entgegenwirkenden‘ Ursachen dem tendenziellen Fall der Profitrate gleichwertig gegenüber stünden, und – darüber hinaus – dass es keine inhärente Tendenz zum Zusammenbruch der Kapitalakkumulation gäbe. Das stützt natürlich eher reformistische als revolutionäre Schlussfolgerungen, wie die Arbeiterklasse am besten auf die kapitalistischen Widersprüche antworten solle.

Diese Schlussfolgerung bildet die unterschwellige Haltung der Revisionisten im großen Konflikt zwischen Reformisten und Revolutionären in der Zweiten Internationale zur Zeit von Lenin und Luxemburg, als Bernstein, Tugan-Baranovsky und Otto Bauer und anti-marxistische bürgerliche Theoretiker wie L. von Bortkiewicz und Böhm-Bawerk Marx‘ Zusammenbruchstheorie attackierten, indem sie die ‚harmonistische‘ Ansicht übernahmen, dass die Krisen vom Ungleichgewicht zwischen den Sphären der Produktion abzuleiten seien, die dauerhaft vermeidbar seien durch staatliche Intervention, geplantes Management und/oder Operationen des Finanzsystems.

Das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate blieb seitdem umstritten. Es wurde von prominenten Autoren wie Natalie Moszkowska (eine Kritikerin des marxistischen Theoretikers Henryk Grossmann, Autor von „Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems“), von anti-marxistischen Autoren wie Joan Robinson, von einflussreichen Unterkonsumtionstheoretikern wie Paul Sweezy u.v.a. kritisiert.

Hier ist nicht der Platz, eine umfassende Exegese und Antwort zu jede dieser Kritiken auszubreiten (13). Aber wir müssen uns mit den wichtigsten Einwänden befassen, soweit sie in Bezug auf die Frage der Rolle des Marxismus bei der Analyse der aktuellen globalen Krise relevant sind.

Einer der wichtigsten basiert auf dem Argument, dass die wachsende organische Zusammensetzung des Kapitals, also die Erhöhung des konstanten Kapitals im Verhältnis zum variablen, nur dann im Endeffekt zur Verringerung der Profitraten führen wird, wenn sie größer ist als die Steigerung der Mehrwertrate (m/v), bewirkt durch die Einführung neuer Technik und Maschinerie. Wenn dies der Fall ist, warum sollten dann die Profitraten zum Fallen tendieren? Sie könnten genauso gut steigen. Produktivitätssteigerungen können entweder den Wert von v verringern, die Mehrwertrate hochziehen oder den Wert von c senken, indem die organische Zusammensetzung des Kapitals verringert wird, oder beides – und dies könnte ausreichend sein, um den tendenziellen Fall der Profitrate zu streichen. Hier wird eine bestimmte wichtige entgegenwirkende Ursache, die in Wertbegriffen auf demselben Abstraktionsniveau ausgedrückt werden kann wie das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate selbst, als die logische Zerstörung des Gesetzes präsentiert. Entsprechend dieser Argumentation könne der Einfluss der wachsenden Produktivität auf alle Größen in Marx´ Gleichung – das Verhältnis von m, v und c – die Profitrate entweder erhöhen oder verringern, es gebe aber keine allgemeine Tendenz in die eine oder andere Richtung.

Moszkowska formulierte diese Schlussfolgerung folgendermaßen:

„(Das Gesetz) beweist keine historische Tatsache, namentlich nicht, dass die Profitrate fällt; es formuliert nur eine wechselseitige Abhängigkeit zweier Variablen, nämlich 1. Wenn die Mehrwertrate konstant bleibt, fällt die Profitrate. 2. Wenn die Profitrate konstant bleibt, steigt die Mehrwertrate. Das heißt, dass das Gesetz einfach eine funktionale Beziehung ausdrückt. Und daher könnte man das Gesetz des ‚tendenziellen Falls der Profitrate‘ ebenso gut Gesetz des „tendenziellen Anstieges der Profitrate nennen.“ (14)

Paul Sweezy, nimmt in seiner „Theorie der kapitalistischen Entwicklung“ im Grunde den gleichen Punkt auf, wenn er behauptet:

„Wenn diese Argumente richtig sind, dann folgt daraus, dass es keine allgemeine Wahrscheinlichkeit gibt, dass Veränderungen in der organischen Zusammensetzung des Kapitals relativ sehr viel größer sein werden als Veränderungen in der Mehrwertrate, und daß die ersteren die Bewegung der Profitrate beherrschen werden. Im Gegenteil, es hätte den Anschein, daß wir die zwei Variablen, grob gesprochen, als gleichbedeutend ansehen müssen.“ (15)

Wenn dies korrekt ist, bleibt nichts vom tendenziellen Fall der Profitrate übrig. Aber Marx hat diese Argumente vorausgeahnt und – widerlegt.

Zuerst stelle man sich vor, wie gesteigerte Arbeitsproduktivität die Mehrwertrate erhöht. Kann dieses Wachstum der Mehrwertrate dem Wachstum der organischen Zusammensetzung des Kapitals entsprechen und so permanent die Tendenz zum Fall der Profitrate aufschieben? Marx zeigt sehr klar, warum sie das nicht kann. In allen Industriebranchen erhöht die Steigerung der Produktivität durch Einführung von Technologie den Anteil des konstanten gegenüber dem variablen Kapital. Dabei wird der Wert der Arbeitskraft auch durch die Produktion von Waren reduziert, die als ein Resultat dieser Produktivitätssteigerung zu einem niedrigeren Wert geschaffen werden können, und dies steigert die Mehrwertrate. Aber es ist sehr wichtig, im Kopf zu behalten, dass nicht alle Industrien in denen die Produktivität steigt, Industrien sind, die Konsumgüter für die Arbeiterklasse produzieren, d.h. Güter, die von ArbeiterInnen verbraucht werden. Ein signifikanter Teil der Industrie produziert Maschinerie, Rohmaterialien, Gebäude – also Produktionsmittel. Die Produktivitätssteigerung in dieser Abteilung hat keinen Effekt auf den Wert der Arbeitskraft. Daher steigert dieser große Sektor der Ökonomie die organische Zusammensetzung des Kapitals und verschlimmert die Tendenz zum Fall der Profitrate ohne Erhöhung der Ausbeutungsrate durch Verbilligung der Konsumgüter:

„Der Wert der Arbeitsvermögen fällt nicht in demselben Verhältnis, wie die Produktivkraft der Arbeit oder des Kapitals steigt. Diese Steigerung der Produktivkraft vermehrt auch in allen Zweigen, die nicht necessaries (zum Leben notwendige Dinge) produzieren (direkt oder indirekt) das Verhältnis des konstanten zum variablen Kapital, ohne irgendeine Alteration in der value of labour (dem Wert der Arbeit) hervorzubringen.“ (16)

Außerdem gibt es noch eine ganz fundamentale Begründung, warum die Ausbeutungsrate nicht in einem solchen Maß wachsen kann, dass sie effektiv die fallenden Profitraten ausgleicht. Auch ein Arbeiter, der nie müde wird und nie in seiner Arbeit eine Pause einlegt, kann nicht länger als 24 Stunden am Tag arbeiten. Wie Marx in den Grundrissen  erklärte:

„Je größer der Surpluswert des Kapitals vor der Vermehrung der Produktivkraft, je größer das Quantum der vorausgesetzten Surplusarbeit oder Surpluswerts des Kapitals oder je kleiner bereits der Bruchteil des Arbeitstags, der das Äquivalent des Arbeiters bildet, die notwendige Arbeit ausdrückt, desto geringer ist das Wachstum des Surpluswerts, das das Kapital von der Vermehrung der Produktivkraft erhält. Sein Surpluswert steigt, aber in immer geringrem Verhältnis zur Entwicklung der Produktivkraft.“ (17)

Dies bedeutet, je niedriger die notwendige Arbeitszeit eines Arbeiters ist, desto geringer der Effekt für die Profite, wenn der Kapitalist sie weiter reduziert. Dies ermöglicht Marx nicht nur zu erklären, warum die Kapitalisten immer besessener davon werden, über die Arbeiter zu verfügen, je ärmer diese werden, sondern auch, warum diese brutalen Angriffe immer weniger vermögen, die Profitabilität zu erhöhen.

„Je entwickelter also schon das Kapital, je mehr Surplusarbeit es geschaffen hat, um so fruchtbarer muß es die Produktivkraft entwickeln, um sich nur in geringem Verhältnis verwerten, d.h. Mehrwert zuzufügen – weil seine Schranke immer bleibt das Verhältnis zwischen dem Bruchteil des Tages, der die notwendige Arbeit ausdrückt, und dem ganzen Arbeitstag. Je kleiner schon der Bruchteil, der auf die notwendige Arbeit fällt, je größer die Surplusarbeit, desto weniger kann irgendeine Vermehrung der Produktivkraft die notwendige Arbeit sensibly vermindern; da der Nenner enorm gewachsen ist. Die Selbstverwertung des Kapitals wird schwieriger im Maße, wie es schon verwertet ist.“ (18)

Je höher das technische Niveau, je ausgereifter das Kapital wird, desto schwerer wird es, ausreichenden Profit zu realisieren. Das Kapital versucht sich selbst gegen diese Grenzen der Zeit zu strecken, aber:

„Die absolute Schranke des durchschnittlichen Arbeitstages, der von Natur immer kleiner als 24 Stunden, bildet eine absolute Schranke für den Ersatz von vermindertem variablen Kapital durch gesteigerte Rate des Mehrwerts oder von verringerter exploitierten Arbeiteranzahl  durch erhöhten Exploitationsgrad der Arbeitskraft.“ (19)

Übrigens, die Form, in der Profit im Finanzsystem erscheint, verschleiert diese Realität – was für die aktuelle Analyse höchst relevant ist – weil es die tiefe Verwurzelung der Ideologie erklärt, die verhindert, dass die Kapitalisten die Gefahren erkennen, die mit der Expansion von fiktivem Kapital verbunden sind, bis zu dem Moment, an dem wirklich die Krise ausbricht:

„Durch die Identität des Mehrwerts mit der Mehrarbeit ist eine qualitative Grenze für die Akkumulation des Kapitals gesetzt: der Gesamtarbeitstag, die jedesmal vorhandene Entwicklung der Produktivkräfte und der Bevölkerung, welche die Anzahl der gleichzeitig exploitierbaren Arbeitstage begrenzt. Wird dagegen der Mehrwert in der begriffslosen Form des Zinses gefaßt, so ist die Grenze nur quantitativ und spottet jeder Phantasie.“ (20)

Kurz: weil die Kapitalisten nicht erkennen und zugeben können, dass die Quelle des Profits in unbezahlter Arbeit liegt. So leben sie in glückseliger Ignoranz und können nicht den Unterschied zwischen fiktivem Kapital und realem Wert erkennen. Das ist der Grund, warum die Krise für die Bourgeoisie meistens völlig unerwartet hereinbricht.

Entwertung des konstanten Kapitals

Wir haben uns bisher der Frage gewidmet, ob und inwieweit die Erhöhung der Ausbeutungsrate (m/v) dem Fall der Profitrate (m/c+v) entgegenwirken kann. Jetzt müssen wir uns mit einem anderen entscheidenden Einwand gegen die Marxsche Analyse beschäftigen: er basiert auf der Entwertung des konstanten Kapitals. Dieser Einwand ist im Grunde das Gegenteil des vorherigen. Wiederum behaupten die Kritiker, dass Marx zwei Konsequenzen der steigenden Arbeitsproduktivität nicht genügend betrachtend hätte. Sie greifen den Punkt auf, dass Marx aus seiner Feststellung, dass die Masse an Maschinen und Rohstoffen im Verhältnis zur Arbeitskraft wächst, ein „Gesetz“ ableitet – das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate -, nach welchem der Wert des konstanten Kapitals c im Verhältnis zum variablen Kapital v steigt. Aber der gleiche Prozess, bei dem die neue Technologie die Waren verbilligt, reduziert auch den Wert des konstanten Kapitals c – was von Marx aber nicht als Gesetz, sondern bloß als „entgegenwirkende Ursache“ betrachtet wird.

Hatte Marx recht damit? Oder müssen beide Vorgänge als gleichwertig eingeschätzt werden? Haben sie die gleichen Effekte und heben sich daher auf? Kann die Abwertung des konstanten Kapitals die Tendenz der Profitrate zu fallen außer Kraft setzen?

Roman Rosdolsky, Autor von „Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital’“, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die klarste Widerlegung dieser Argumente im dritten Teil der „Theorien über den Mehrwert.“ Hier erklärt Marx, wie unmöglich und unrealistisch diese Einwände sind. Dabei wird nämlich übersehen, dass der technologische Fortschritt nicht nur eine technisch überholte Maschine durch eine bessere Maschine ersetzt, sondern dass die damit erzielten Kostenvorteile auch zu einer Ausweitung der Produktion führen:

„Die zunehmende Produktivität der Arbeit ist (as far as connected with machinery = soweit sie mit Maschinerie zusammenhängt) identisch mit der abnehmenden Masse Arbeiter relatively to the number extent of the machinery employed. Instead of a simple and cheap instrument is placed a collection of those instruments (wenn auch modified) und besides that collection the whole part of the machinery consisting of the moving and producing parts; besides the materials used (like coal etc.) to produce the moving agent (as steam) (= im Verhältnis zu der Zahl und Ausdehnung der angewandten Maschinerie. An Stelle eines einfachen und billigen Werkzeugs tritt eine Kollektion solcher Werkzeuge (wenn auch modifiziert) und zu diese Kollektion kommt noch der ganze Teil der Maschinerie hinzu, der sich zusammensetzt aus sich bewegenden und kraftübertragenden Teilen; dazu die Materialien (wie Kohle etc.), die erforderlich sind, die bewegende Kraft (wie Dampf) zu erzeugen). Endlich die Baulichkeiten. Wenn ein Arbeiter 1800 Spindeln überwacht, statt ein Spinnrad zu drehn, wäre es höchst blödsinnig zu fragen, warum diese 1800 Spindeln nicht so wohlfeil wie das eine Spinnrad. Die Produktivität ist hier eben hervorgebracht durch die Masse des Kapitals, das als Maschinerie angewandt ist.“ (21)

Jeder, der schon einmal gearbeitet hat, kennt diese grundlegende Wahrheit. Marx erklärt weiter, dass, wenn die Kosten für Maschinen sinken, der Kapitalist mehr anschaffen wird: „Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Maschinerie sich verwohlfeilert aus zwei Gründen: Die Anwendung von Maschinen in der Produktion der Rohmaterialien, aus denen die Maschinerie besteht. Die Anwendung von Maschinerie bei der Verwandlung jenes Materials in Maschinerie. Allein damit ist zweierlei gesagt. Erstens: Daß auch in diesen beiden Branchen, verglichen mit den Instrumenten, die die Manufakturindustrie brauchte, das in Maschinerie ausgelegte Kapital an Wert wächst gegen das in Arbeitslohn ausgelegte. Zweitens: Was sich verwohlfeilert, ist die einzelne Maschine und ihre Bestandteile, aber es entwickelt sich ein System der Maschinerie; es tritt nicht nur einzelne Maschine an die Stelle von Instruments, sondern ein System, und das Instrument, was vielleicht früher die Hauptrolle spielte, wie Nadel z.B. (bei dem Strumpfwirker oder ähnlicher Maschine), nun zu vielen Tausenden gesammelt. Jede einzelne Maschine, die dem Arbeiter gegenübersteht, schon ungeheure Kollektion von Instrument, die er früher vereinzelt verbrauchte, wie 1800 Spindeln statt einer. Trotz der Verwohlfeilerung des einzelnen Elements das whole bulk (die ganze Masse) <der Maschinerie> steigt im Preis enorm, und die Produktivität besteht in der beständigen Ausdehnung des bulk.“ (22)

Angesichts dieser erschütternd einleuchtenden Betrachtungen, ist es nur schwer nachvollziehbar, wie man behaupten kann, dass die Entwertung des konstanten Kapitals jene fundamentalen Prozesse aufheben könne, die das konstante Kapitals im Verhältnis zum variablen Kapital wachsen lassen und damit den tendenziellen Fall der Profitrate bewirken. Aber das konstante Kapital besteht nicht nur aus Maschinen. Konstantes Kapital beinhaltet mehr als seine fixen Komponenten, Maschinen und Gebäude – es beinhaltet auch Rohstoffe, die Marx „zirkulierenden Teile“ des konstanten Kapitals nennt.

Welchen Einfluss haben sinkende Rohstoffkosten auf den allgemeinen Krisenprozess des Kapitals? Hier verweist Marx auf einen weiteren eindeutigen Punkt: die Menge der Rohstoffe steigt zwangsläufig mit der Produktivität der Arbeitkraft. Ihm ist der Einwand, die Anhäufung der Rohstoffe könnte durch die steigende Arbeitsproduktivität den Wert der Rohstoffe senken, bewusst und er antwortet darauf folgendermaßen:

„Zum Teil verteuert sich das Rohmaterial, wie von Häuten etc. und anderen tierischen Bestandteilen, schon weil das abgeschmackte Gesetz der Grundrente mit dem Fortschritt der Zivilisation den Wert des Produkts steigert.“ (23)

Um das zu verstehen, müssen wir wissen, dass für Marx die Grundrente ein Abschlag vom Profit ist, die der Grundeigentümer für die Benutzung des Landes einfordert. Während des Aufstiegs des Kapitalismus stiegen die Profite, also stieg auch die Rente für den Grund, auf dem die Waren hergestellt wurden, deren Preis damit auch anstieg. Marx beschäftigt sich ebenso mit den Kernrohstoffen des Kapitalismus, wie es heutzutage das Öl ist, welche aus dem Boden geholt werden müssen:

„Was Kohle und Metalle angeht (Holz), so sehr verwohlfeilert im Fortschritt der Produktion; indes bei Erschöpfung der Minen wird das schwieriger etc.“ (24)

Dies ist so klar, dass weitere Bemerkungen nicht nötig sind, außer das wir beim Fortschritt des Kapitalismus beobachten können, dass der Hunger nach Öl größer wird – es ist der wichtigste Brennstoff für all die mechanischen Prozesse, mit denen die Kapitalisten das Anwachsen des konstanten Kapitals (Maschinen, Rohstoffe) auf Kosten des variablen Kapitals (Arbeitskraft) vorantreiben. Die fortschreitende Industrialisierung Asiens hat die Rohstoffpreise erhöht, nicht gesenkt (wenn auch die anstehende Rezession als Folge der Finanzkrise 2008 Produktion abbauen und den Ölpreis etwas senken könnte).

Nichtsdestotrotz unterscheiden sich einige Arten von Landbesitz von denen, welche Rohstoffe wie Kohle, Öl und Erz bergen oder Nutzpflanzen hervorbringen. Manch Grund und Boden hat höheren Wert, nicht aufgrund seiner natürlichen Schätze, sondern aufgrund seiner Anziehungskraft auf Kapital und die Bourgeoisie. Wir wie erklärt haben ist die Grundrente, ganz allgemein gesagt, ein Abschlag vom Profit – und der „Preis“ von Grund und Boden ist nichts anderes als der Versuch, den Wert zukünftiger Grundrente zu Kapital zu machen, was die heutigen „Experten“ und Immobilienfinanzierungs-Parasiten die „Kapitalisierung“ und „Securitisation“ von Miet- und Pachteinkünften nennen. Wenn kommerziell genutzter Grund und Boden im Wert steigt, dann deshalb, weil die durchschnittlichen Profite steigen – wenn der Wert für Grund und Boden sinkt, dann wegen fallender Profite.

Wenn Grund oder Boden durch seine Lage attraktiver ist, unterscheidet sich dessen Preis vom durchschnittlichen Wert. Höhere Miet- und Pachtgebühren aufgrund der Rohstoffe des Bodens resultieren natürlich aus dem Wert der Bodenschätze, die vorhanden sind. Aber gleichzeitig ist der höhere Wert des Bodens im Bereich großer Städte, Finanz -und Produktionszentren, wie der chinesischen Küstenstädte, durch ihre örtliche Lage bestimmt. Das heißt, dass die Mieten für diesen Boden nicht dessen natürliche Ressourcen ausdrücken, sondern faktisch dazu beitragen, den Wert der Rohstoffe zu erhöhen. Diese direkten Folgen der kapitalistischen Entwicklung – wie Urbanisierung – wirken selbst gegen die Verbilligung der Rohstoffe und führen zu starken inflationären Tendenzen bei Öl, Lebensmitteln und Holz.

Marx erklärt dies sehr deutlich: „Wenn bei der Korn- und Minenrente gesagt werden kann, daß sie nicht den Wert des Produkts verteuert (nur seinen Marktpreis), vielmehr ein Ausdruck seines Werts ist (der Überschuß seines Werts über den Produktionspreis), so unterliegt dagegen keinem Zweifel, daß Viehrente, Hausrente etc. nicht Folge, sondern Ursache des steigenden Werts dieser Dinge.“ (25)

Was bedeutet das für die Krisentheorie in ihrer Gesamtheit? Dass die Entwertung der zirkulierenden Teile des konstanten Kapitals, also der Rohstoffe und der Halbfertigteile, den Anstieg des konstanten Kapitals im Verhältnis zum variablen Kapital nicht ausreichend effektiv blockieren kann und daher auch dem tendenziellen Fall der Profitrate nicht dauerhaft entgegen wirken kann. Darüber hinaus wird, wenn einer Profit durch Ölverkauf macht, die Verbilligung des Öls wohl kaum den tendenziellen Fall seiner Profitrate stoppen:

„Die Verwohlfeilerung der Rohmaterialien, der matières instrumentales etc. checks but does not cancel the growing value of this part of capital. Paralysiert to the degree to which it works the fall of profit (=Hilfsstoffe etc. verlangsamt, hebt aber nicht auf den wachsenden Wert dieses Kapitalteils. Paralysiert bis zu dem Grad, zu dem es das Fallen des Profit bewirkt).“ (26)

Damit beendet Marx die Diskussion, inwieweit die Entwertung des konstanten Kapitals möglicherweise den Kapitalismus vor Krisen schützen kann: „Damit diese Scheiße erledigt.“ (27)

Marx´ Krisentheorie im Jahr 2008

Die Gesetze der kapitalistischen Akkumulation und des Zusammenbruchs sind entscheidend, nicht nur, um die allgemeine Entwicklung des Kapitalismus verstehen zu können, sondern auch die aktuelle Krise 2007/08.

Die aktuelle Finanzkrise ist das Ergebnis der Überakkumulation des Kapitals, welche in eine ungezügelte Kreditvergabe mündete und einem Zusammenbruch der Akkumulation. Genau wie Marx zu seiner Zeit beobachtete und vorhersagte, führt dies zu einer erdbebenähnlichen Entwertung von Kapital. Das Wachstum des fiktiven Kapitals ist Ergebnis des tendenziellen Falls der Profitrate und der Überakkumulation im wertschaffenden Sektor. Es ist keine Verwirrung, keine krankhafte Abweichung von der „normalen“ kapitalistischen Entwicklung. Es ist notwendiger, fundamentaler Bestandteil der kapitalistischen Akkumulation, untrennbar vom Kapitalismus.

Auch die steigende Inflation in den expandierenden kapitalistischen asiatischen Staaten ist eine Folge der Überakkumulation von Kapital. Heute sehen wir als Resultat der steigenden kapitalistischen Produktion in China nicht mehr nur den anfänglichen Effekt der sinkenden Preise für konstantes und variables Kapital im Westen, sondern verstärkt inflationäre Tendenzen bei Rohstoffen, Lebensmitteln und Energie aufgrund steigender Nachfrage und erhöhten Verbrauchs. Es sind genau diese Widersprüche, die die anfänglichen deflationären Effekte der Entwicklung Asiens beendet, die Krise 2007/08 verschärft und die Möglichkeiten der Zentralbanken, den Kredit auszudehnen, eingeschränkt haben. Damit haben sich sowohl die Potenz der Marxschen Analyse als auch die Grundwidersprüche des kapitalistischen Systems wieder einmal offenbart.

Die entgegenwirkenden Ursachen haben es nicht geschafft, die kapitalistische Krise unbegrenzt zu verschieben oder gar aufzuheben. An Beispielen für krisenbedingte Entwertung konnten wir bisher sehen: Unterbrechungen in der Kapital-Zirkulation (Zusammenbrechen von Kreditketten); Wertverfall von Anlagevermögen (z.B. Kredite, Immobilien, Einlagen); sinkender Konsum und fallender Lebensstandard; Abwertung des Dollars; Inflation als Wertverlust (Entwertung der Arbeitslöhne).

Nicht nur in der Theorie, auch in der Praxis zeigt sich, dass keine der entgegenwirkenden Ursachen die Tendenz des Zusammenbruchs des Kapitalismus aufheben kann. Bislang sind wir nur theoretisch darauf eingegangen, doch unsere Argumente werden von der Realität bewiesen. Echte Krisen (von verschiedener Länge und Tiefe) kommen in jeder kapitalistischen Wirtschaft alle 7-10 Jahre vor, wir wollen nun herausarbeiten, warum und wie das geschieht.

Der kapitalistische Zyklus

Bei aller Wichtigkeit des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate ersetzt das in keiner Weise die genaue Betrachtung, wie sich einzelne Krisen entwickeln. Im Konkreten ist die Wechselwirkung zwischen dem Umschlag des fixen Kapitals, der Zirkulationszeit, Ungleichgewicht zwischen den Abteilungen der Produktion und dem Finanzkapital und seinem fiktiven Kapital in Rechnung zu stellen.

Marx identifiziert die Umschlagszeit des fixen Kapitals – die Periode, in welcher der Wert, der in Fabriken und Maschinen steckt, befreit wird, indem er auf die neu produzierten Güter übertragen wird , die dann als Waren zirkulieren – als den entscheidenden Faktor, der die Dauer des industriellen Zyklen im Kapitalismus bestimmt. Mit dem Fortschreiten des Zyklus steigt die organische Zusammensetzung des Kapitals, so dass, wenn für die industriellen Kapitalisten die Notwendigkeit entsteht, das fixe Kapital zu ersetzen, dies bei einer gedrückten Profitrate geschieht. Der Zwang, solche großvolumigen Anlagen zu beschaffen, ist zugleich eine Triebkraft für die Kreditbeschaffung, ebenso wie der Bedarf nach liquiden Mitteln, wenn sich das Kapital in der Zirkulationssphäre bewegt. Das Kapital muss dabei immer schneller die Zirkulationssphäre durchschreiten, um möglichst rasch wieder zum Anfangspunkt zurückzukehren – der Akkumulation von Kapital und der Verwertung der Arbeitskraft. „Der Gegensatz von Arbeitszeit und Zirkulationszeit enthält die ganze Lehre vom Kredit.“ (28)

Für große und langlebige Investitionen kann der Kapitalist nicht auf erzielte Profite oder auf innerbetriebliche Finanzierungen setzten, dafür braucht er immer mehr die Bankkredite. Die Expansion von Finanzprodukten, wie Derivaten, Optionen etc., ist verursacht durch die Überakkumulation und die daraus resultierenden niedrigeren Profitraten in der verarbeitenden Industrie und – wie wir heute sehen – zwingt immer mehr industrielle Unternehmen, in die Spekulation und den Hypothekenmarkt zu investieren. Am Ende des Aufschwungs innerhalb des Zyklus treibt die gestiegene Nachfrage nach Krediten deren Preis (Zinsen) immer höher. Das und die massive Ausweitung des fiktiven Kapitals führt zu einer Kredit- und Bankenkrise am Ende des zyklischen Aufschwungs.

Warum geschieht der Umschlag des fixen Kapitals in einem relativ zusammenhängenden Rhythmus? Warum hat sich ein großer Teil des fixen Kapitals zum gleichen Zeitpunkt verausgabt? Sind nicht die einzelnen Entscheidungen der konkurrierenden Kapitalisten, Investitionen zu tätigen, so unterschiedlich und variabel, dass hier gar kein zeitliches Muster entstehen kann?

Eine Antwort liegt erneut im Wesen des Wendepunkts innerhalb des Zyklus. Überakkumuliertes Kapital muss in der Krise entwertet werden. Dem folgt eine Phase der Rezession, in welcher die Vorräte verkauft werden oder vernichtet, fixes Kapital wird verschrottet, unprofitable Unternehmen geschlossen und die ArbeiterInnen entlassen werden. In dieser Phase bricht die Nachfrage ein – Preise für Investitionsgüter fallen, Löhne sinken und die Leitzinsen tendieren nach unten. In diesem rezessiven Umfeld wird dann auch der nächste Aufschwung durch bessere Konditionen für größere Investitionen in fixes Kapital vorbereitet. Dies erklärt, warum verhältnismäßig viele dieser Investitionen genau dann stattfinden – und somit dem Zyklus eine allgemeine zeitliche Abfolge geben.

Wir wollen hier anmerken – aufgrund der Wichtigkeit für das Verständnis der anstehenden Entwicklungen und längerfristige Kurven der kapitalistischen Entwicklung, welche wir später beleuchten – dass die Umschlagzeit des fixen Kapitals nur den Zeitraum von Aufschwung bis zur Krise zeitlich relativ genau bestimmen kann. Dieser liegt zwischen 7-10 Jahren – auch wenn hier nationale Zyklen durch äußere Umstände, wie Wirtschaftskrisen anderer Staaten, Kriege, Hungersnöte usw. gebrochen werden können. Die Dauer und Tiefe der Krisen und Rezessionen sind nicht durch die Umschlagzeit des fixen Kapitals bestimmt und daher auch weniger vorhersehbar. Sie werden von der geo-politischen Situation bestimmt, vom Handeln der Staaten, der Finanzinstitutionen und der sozialen Klassen. Dauer und Tiefe der Krisen hängen davon ab, in welchem Ausmaß Kapital erfolgreich vernichtet wurde und in welchem Maß die Akkumulation mit relativ niedriger organischer Zusammensetzung wieder begonnen werden kann.

Es ist nicht wahr, wie einige behaupten, dass Marx keine Theorie der industriellen Zyklen hätte. Im dritten Band des „Kapitals“ führt Marx – wenn auch mit abstrakten und vereinfachenden Ableitungen – aus, wie im Zyklus Akkumulation und Zusammenbruch auftreten: Von der inneren Entwicklung des fixen Kapitals zur Einführung technologischer Neuerungen, zur wachsenden organischen Zusammensetzung des Kapitals, zu höheren Löhnen (29) und höherem Beschäftigungsgrad, zu steigender Nachfrage, zu höheren Preisen und Zinsen und steigender Verschuldung der Unternehmen auf dem Finanzmarkt, zur Expansion des fiktiven Kapitals, zu Überakkumulation, die zu hysterischer Spekulation führt, und schlussendlich zur Krise, in der Werte wieder in Geldform umgewandelt werden und Kapital rabiat entwertet wird.

Phasen innerhalb des kapitalistischen Zyklus

Wie wir gesehen haben, folgt der Krise oder dem Crash immer eine Phase stagnierender Produktion. Diese wird abgebaut und die Profitraten werden normalerweise gering sein. Alle bereits produzierten Güter kommen zu niedrigen Preisen auf den Markt, die Arbeitslosigkeit steigt – beides drückt auf die Preise und die Löhne, gleichzeitig sinkt die Nachfrage nach Konsumwaren und Produktionsmitteln, inklusive der Nachfrage nach Krediten. Nach der Entwertung des Kapitals verändern die Unternehmen vorsichtig ihre produktionstechnischen und organisatorischen Strukturen – zur Reduzierung der Kosten und Stabilisierung der Preise, als Vorbereitung der Erholung und einer neuen Aufschwungphase.

Während dieser Erholung kann der Kapitalist Vorteil aus niedrigeren Löhnen und billigeren Krediten schlagen. Die organische Zusammensetzung des Kapitals ist im Vergleich zum vorherigen Höchststand innerhalb des Zyklus gesunken – nicht unbedingt im Vergleich zur Aufschwungsphase des letzten Zyklus – deswegen beginnen die Profitraten wieder zu steigen. Neue Beschäftigte aus der „industriellen Reservearmee“ können zu niedrigeren Löhnen ausgebeutet werden, ebenso können fixes Kapital wie Maschinen und zirkulierende Bestandteile des konstanten Kapitals wie Rohstoffe preiswerter eingekauft werden. Wie schon erwähnt, sind die Bedingungen für langfristige Investitionen in große Anlagen jetzt vergleichsweise günstig. Diese Entwicklung führt zu einer höheren Beschäftigung in Abteilung 1 (Produktion von Produktionsmitteln) und zu einem Ungleichgewicht zwischen Abteilung 1 und 2, da die Nachfrage an Konsumgütern schneller wächst als das Angebot.

In dieser Erholungsphase haben viele Kapitalisten noch große Mengen an flüssigen Geldern, die Nachfrage nach Bankkrediten ist schwach, was die Zinssätze niedrig hält. Sobald die alten Warenbestände aus den Zeiten der Stagnation abgestoßen worden sind, kann die Produktion neu anlaufen und die Preise können wieder steigen. So auch die Profite. Diese Investitionen, die mit geliehenem Kapital finanziert wurden, versprechen eine reale Akkumulation für die nächsten Jahre und bieten daher Sicherheit für die Gläubiger. Die Profitraten der einzelnen Großkonzerne variieren zu diesem Zeitpunkt des Zyklus stark untereinander, da die Anstrengungen von Banken und Aktionären die Profitrate anzugleichen hier noch nicht so stark ausgeprägt sind wie in den späteren Phasen des Zyklus.

So wie die Einkünfte aus Warenproduktion und Zirkulation ansteigen, steigt die Nachfrage nach Waren und Krediten, diese regt Wachstum auf der Angebotsseite an – die Bühne ist bereitet für eine neue, auf Kredit basierende Phase der Expansion.

Mit steigenden Profiten, Grundrenten und Zinsen und expandierender Warenproduktion, steigt auch das Vertrauen der Kapitalisten, Investoren und Besitzer erwarten freudig steigende Profite. Die Expansion schreitet voran, aber unter Verhältnissen, in denen die anarchischen, planlosen Grundzüge der kapitalistischen Produktionsweise voll zum Ausdruck kommen. Die angehäuften Vorräte und Reserve-Kapazitäten sind ausgeschöpft – weitere größere Investitionen sind nötig, die Zirkulationszeit des Kapitals muss verringert und gebundenes Kapital freigesetzt werden und Nachschub an fixen und zirkulierenden Bestandteilen des konstanten Kapitals besorgt werden. Die Preise steigen, die firmeneigenen Gelder sind ausgeschöpft – nun tritt das Kreditsystem in den Vordergrund.

Vertrauen und Erwartungen in künftige Profite sind durch die gestiegenen Dividenden, Zinsen, Anleihen der letzten Jahre etc. so groß, dass selbst diese Erwartungen in Form von Optionen und Derivaten auf dem Finanzmarkt zirkulieren. Das fiktive Kapital entfernt sich immer weiter von seiner produktiven Basis. Nun besitzen die Banken ein mächtiges Instrument zur Angleichung der Profitraten, die Konkurrenz um die Kredite nimmt zu, jeder potentielle Schuldner muss die bestmöglichen Bedingungen für Profitmaximierung und Rückzahlung bieten. Aber gleichzeitig sind Teile der „industriellen Reservearmee“ eingestellt worden und Arbeitskräftemangel entsteht. Arbeitskräfte werden international angeworben, die Löhne von qualifizierten und organisierten ArbeiterInnen steigen. Jeder neugeschaffene Arbeitsplatz erfordert massive Investition in fixes Kapital, begleitet von neuen Formen von Krediten und der Spekulation. Die letzte Phase innerhalb des Aufschwungs kündigt sich an: ausgedehnte Spekulation.

In dieser Phase zirkuliert mehr Wert auf den Märkten, als in verausgabter Arbeit in der Produktion realer Güter und Waren an Wert geschaffen wurde. Finanzskandale und Betrügereien sind an der Tagesordnung. Die Löhne erreichen ihr Maximum und die Wirtschaft kommt der Vollbeschäftigung nahe; obwohl die Profitmasse gewaltig ist, kommen die Profitraten unter Druck, speziell bei Neuinvestitionen, und bedrohen so die Profitmasse im allgemeinen. Das überakkumulierte Kapital findet neue Anlagen in Aktien, im Kapitalexport, im Grundbesitz – in mannigfachen Formen. Jetzt entstehen sichtbare Ungleichgewichte im System: Ungleichgewicht in der Entwicklung der Staaten durch den internationalen Handel; in der Zahlungsbilanz; Ungleichgewicht zwischen den beiden Abteilungen der Produktion; steigende Preise für Rohstoffe; Arbeitskräftemangel; steigende Mieten und Grundstückspreise; Massen von Kreditprodukten zirkulieren ohne Verhältnis zum realen Wert; schwankende Preise an den Börsen; Ängste vor den Leitzinsen. Das System scheint seinen Durst mit Salzwasser löschen zu wollen, die Kreditblase steht vor dem Platzen – aber das System hat keine andere Medizin als weitere Kreditexpansion.

Marx erklärt: „Hat der Reproduktionsprozess wieder den Stand der Blüte erreicht, der dem der Überanstrengung vorhergeht, so erreicht der kommerzielle Kredit eine sehr große Ausdehnung, die dann in der Tat wieder die ‚gesunde‘ Basis leicht eingehender Rückflüsse und ausgedehnter Produktion hat. In diesem Zustand ist der Zinsfuß immer noch niedrig, wenn er auch über sein Minimum steigt. Es ist dies in der Tat der einzige Zeitpunkt, wo gesagt werden kann, daß niedriger Zinsfuß, und daher relative Reichlichkeit des verleihbaren Kapitals, zusammenfällt mit wirklicher Ausdehnung des industriellen Kapitals. Die Leichtigkeit und Regelmäßigkeit der Rückflüsse, verknüpft mit einem ausgedehnten kommerziellen Kredit, sichert das Angebot von Leihkapital trotz der gesteigerten Nachfrage und verhindert das Niveau des Zinfußes zu steigen. Andererseits kommen jetzt erst in merklichem Grad die Ritter herein, die ohne Reservekapital oder überhaupt ohne Kapital arbeiten und daher ganz auf den Geldkredit hin operieren. Es kommt jetzt auch hinzu die große Ausdehnung des fixen Kapitals in allen Formen und massenhafte Eröffnung neuer weitreichender Unternehmungen. Der Zins steigt jetzt auf seine Durchschnittshöhe. Sein Maximum erreicht er wieder, sobald die neue Krise hereinbricht, der Kredit plötzlich aufhört, die Zahlungen stocken, der Reproduktionsprozeß  gelähmt wird und, mit früher erwähnten Ausnahmen, neben fast absolutem Mangel von Leihkapital, Überfluß von unbeschäftigtem industriellen Kapital eintritt.“ (30)

Diese Krisenphase des Zyklus ist lange vorhersehbar und unvermeidlich, und doch stellt es für die Profiteure und die Opfer des Systems eine böse Überraschung dar. „Daher erscheint immer das Geschäft fast übertrieben gesund gerade unmittelbar vor dem Krach. Den besten Beweis liefern z.B. die ‚Reports on Bank Acts‘ von 1857 und 1858, wo alle Bankdirektoren, Kaufleute, kurz alle vorgeladenen Sachverständigen, an ihrer Spitze Lord Overstone, sich wechselseitig Glück wünschten über die Blüte und Gesundheit des Geschäfts – genau einen Monat bevor die Krise im August 1857 ausbrach. (…) Das Geschäft ist immer kerngesund und die Kampagne im gedeihlichsten Fortgang, bis auf einmal der Zusammenbruch erfolgt.“ (31)

Dem können wir nur hinzufügen, dass US-Präsident Calvin Coolidge im Dezember 1928(!) erklärte, die US-Wirtschaft befände sich im besten Zustand aller Zeiten. Ebenso erreichte der Index für Vertrauen in die wirtschaftliche Entwicklung im 1. Quartal 2007 in den USA und Britannien sein Rekordhoch, alle Journalisten sangen das hohe Lied des ewigen Booms, dank „Chinamania“ überall und gemeinsam mit ihnen verkündeten sogar einige Linke einen lang anhaltenden Boom ohne zyklische Störungen.

Der Beginn der Krisenphase ist nur in seiner Erscheinungsform plötzlich. Die Dynamik und Eigenschaft dieser Krise sind durch die vorgehende Phase begründet. Ins öffentliche Bewusstsein dringt dies zumeist mit einem scharfen Ereignis: ein Währungsverfall, eine Bankenkrise, ein Bankenzusammenbruch oder ein Börsencrash usw. als klare Anzeichen der Krise. Die himmelhoch jauchzenden Prognosen und Vorhersagen aus Zeiten des Booms sind nun Geschichte und verkehren sich in ihr Gegenteil. Wenn Kreditketten unterbrochen werden, fordern die Banker höhere Zinsen oder ziehen Kapital komplett ab. Plötzlich ist die fiktive Natur aller vorheriger Spekulation sichtbar. Ein Run auf reales Geld setzt ein.

Marx fasst diese allgemeinen Grundzüge des Zyklus in einer Passage des dritten Bandes des „Kapitals“ zusammen. Er beginnt damit, die Grundlagen der Krise in der Produktion festzuhalten. Wenn die Krise als erstes im Finanzsystem ausbricht, scheint es, als wenn die Ursachen der Krise nur im Kredit und Finanzsystem liegen würden und weniger in der Produktion.

„Es verhält sich mit dem industriellen Zyklus so, daß derselbe Kreislauf, nachdem der erste Anstoß einmal gegeben, sich periodisch reproduzieren muss. Im Zustand der Abspannung sinkt die Produktion unter die Stufe, die sie im vorigen Zyklus erreicht und wofür jetzt die technische Basis gelegt ist. In der Prosperität – der Mittelperiode – entwickelt sie sich weiter auf dieser Basis. In der Periode der Überproduktion und des Schwindels spannt sie die Produktivkräfte auf das höchste an, bis hinaus über die kapitalistischen Schranken des Produktionsprozesses.

Daß es in der Periode der Krise an Zahlungsmitteln fehlt, ist selbsteinleuchtend. Die Konvertibilität der Wechsel hat sich substituiert der Metamorphose der Waren selbst, und grade zu solcher Zeit um so mehr, je mehr ein Teil der Geschäftshäuser bloß auf Kredit arbeitet. Unwissende und verkehrte Bankgesetzgebung, wie die von 1844/45, kann diese Geldkrise erschweren. Aber keine Art Bankgesetzgebung kann die Krise beseitigen.

In einem Produktionssystem, wo der ganze Zusammenhang des Reproduktionsprozesses auf dem Kredit beruht, wenn da der Kredit plötzlich aufhört und nur noch bare Zahlung gilt, muß augenscheinlich eine Krise eintreten, ein gewaltsamer Andrang nach Zahlungsmitteln. Auf den ersten Blick stellt sich daher die ganze Krise nur als Kreditkrise und Geldkrise dar. Und in der Tat handelt es sich nur um die Konvertibilität der Wechsel in Geld. Aber diese Wechsel repräsentieren der Mehrzahl nach wirkliche Käufe und Verkäufe, deren das gesellschaftliche Bedürfnis weit überschreitende Ausdehnung schließlich der ganzen Krisis zugrunde liegt. Daneben aber stellt auch eine ungeheure Masse dieser Wechsel bloß Schwindelgeschäfte vor, die jetzt ans Tageslicht kommen und platzen; ferner mit fremden Kapital getriebne, aber verunglückte Spekulationen; endlich Warenkapitale, die entwertet oder gar unverkäuflich sind, oder Rückflüsse, die nie mehr einkommen können. Das ganze künstliche System gewaltsamer Ausdehnung des Reproduktionsprozesses kann natürlich nicht dadurch kuriert werden, daß nun etwa eine Bank, z.B. die Bank von England, in ihrem Papier allen Schwindlern das fehlende Kapital gibt und die sämtlichen entwerteten Waren zu ihren alten Nominalwerten kauft. Übrigens erscheint hier alles verdreht, da in dieser papiernen Welt nirgendswo der reale Preis und seine realen Momente erscheinen; sondern nur Barren, Hartgeld, Noten, Wechsel, Wertpapiere. Namentlich in den Zentren, wo das ganze Geldgeschäft des Landes zusammengedrängt, wie London, erscheint diese Verkehrung; der ganze Vorgang wird unbegreiflich; weniger schon in den Zentren der Produktion.“ (32)

Dies erklärt, warum George W. Bush und der Chef der Bank von England gemeinsam die Märkte beruhigen wollten, als sie im Sommer 2007 während der Kreditkrise davon sprachen, dass die „Grunddaten gesund seien“. Es erklärt auch, warum verschiedene Reformisten die Konsequenzen aus der Marxschen Theorie der Überakkumulation und der Krise nicht wahrhaben wollen und meinen, dass die Kreditkrise nicht Ausdruck von Problemen in der Produktion sei.

Die Krise war im ersten Anschein vielleicht nicht mehr als eine Krise der Kredite und Schulden, aber die Krise ist direktes Produkt der Überakkumulation von Kapital. Dies hat direkten Einfluss auf die Produktion, da die Bourgeoisie Werte aus der Zirkulation abziehen muss.

„Eben noch erklärte der Bürger in prosperitätstrunknem Aufklärungsdünkel das Geld für leeren Wahn. Nur die Ware ist Geld. Nur das Geld ist Ware“ gellt’s jetzt über den Weltmarkt. Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit seine Seele nach Geld, dem einzigen Reichtum.“ (33)

Der Run auf hartes Geld und der Abzug von Werten aus der Zirkulation sind in sich selbst eine Form der Entwertung.

Um das zu verstehen, wollen wir uns kurz damit beschäftigen, wie Kapital überhaupt „entwertet“ wird. Nach der Marxschen Arbeitswerttheorie bestimmt sich der Wert einer Ware nach der in ihr verausgabten menschlichen Arbeitszeit in der Produktion. Wie also kann eine Ware „entwertet“ werden?

Auch wenn in einer Ware Arbeit vergegenständlicht ist, kann sie aufhören, als Wert zu fungieren. Dies können wir nur verstehen, wenn wir uns vor Augen halten, dass ein Ding nur dann zur Ware wird, wenn es Gebrauchswert und Tauschwert hat. Wenn in der Rezession die Fabrik geschlossen wird, ist es egal, wie viel Jahre menschlicher Arbeitskraft darin stecken – im Augenblick der Schließung hört sie auf, als Kapital zu existieren. Dasselbe geschieht es bei allen Erschütterungen im Kapitalkreislauf.

Das ist ein Grund, sich daran zu erinnern, dass Kapital ein Verhältnis, eine wechselseitige Beziehung ist und kein „Ding.“ So sind die Vernichtung von Geld und der Rückzug von Geldern aus der Zirkulation ein Zeichen der Entwertung des Kapitals. Es hat direkte Auswirkungen auf die eingehenden Profite, führt zu Dumpingverkäufen auf übersättigten Märkten, geschlossenen Unternehmen und verschrotteten Produktionsanlagen, dem Verfall von Rohstoffen und dem massiven Verlust von Arbeitsplätzen. Dieser Wahnsinn ist unbestreitbare Folge des inneren Ungleichgewichts der kapitalistischen Akkumulation. Die Krise begründet sich nicht durch die Unterkonsumtion der Massen oder in der ungleichen Entwicklungen der verschiedenen Abteilungen der Produktion; sie sind nur Ausdruck verschiedener Etappen innerhalb des Zyklus. Die Grundlage der kapitalistischen Krise ist im Hauptwiderspruch der Produktion zu finden – das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital selbst trägt die Krise in sich:

„In schneidenden Widersprüchen, Krisen, Krämpfen drückt sich die wachsende Unangemessenheit der produktiven Entwicklung der Gesellschaft zu ihren bisherigen Produktionsverhältnissen aus. Gewaltsame Vernichtung von Kapital, nicht durch ihm äußere Verhältnisse, sondern als Bedingung seiner Selbsterhaltung, ist die schlagendste Form, worin ihm advice (der Rat) gegeben wird, to be gone and give room to a higher state of social production (abzutreten und einem höheren Stadium der gesellschaftlichen Produktion Raum zu geben).“ (34)

Schlussfolgerung

Marx stellt also in seiner Analyse fest, dass die Krisenhaftigkeit und Instabilität des kapitalistischen Systems nicht äußeren Faktoren geschuldet ist, sondern dem Kapitalverhältnis selbst. Diese Analyse beinhaltet nicht nur die zeitlichen Ablaufmuster des Produktionsprozesses, sondern auch die wahren Gründe für Krise und Niedergang der Produktion. Wie wir gesehen haben, ruft jede ungezügelte Expansion, welche stets der Krise voraus geht, auch die bürgerliche Ideologie auf den Plan. Diese beschwört das Ende aller Krisen, den ewigen Aufschwung und dass das System seine inneren Widersprüche überwunden habe. Diese euphorischen Klänge finden immer ein jähes Ende.

In der Krise kommt die andere Seite der bürgerlichen Propaganda zum Vorschein. Inflation, Deflation, die Rezession im allgemeinen erfahren mannigfaltige Erklärungen durch die „Experten“ des Kapitals. Neo-Malthusianer begründen die Krise mit der Überbevölkerung: zu viele Arbeiter und Bauern. Alle stimmen darin überein, dass die zu hohen Löhne Schuld an der Inflation sind; alle stimmen darin über ein, dass die Arbeitslosigkeit der Beschäftigung zu vieler Arbeiter geschuldet ist, die die Fabriken unprofitabel machen würden.

All diese Theorien stellen die Realität auf den Kopf. Alle stellen die Überakkumulation von Arbeit ins Zentrum, nicht die Überakkumulation von Kapital. Vom Standpunkt des Kapitals sind sie durchaus rational. Ihre Irrationalität bestätigt gleichzeitig die innere Widersprüchlichkeit des Kapitals selbst. Es ist die Überwindung des Kapitalverhältnisses selbst, auf die Marxsche Theorie daher beständig hinsteuert – als einer Notwendigkeit für die gesellschaftliche Arbeit und als logische Folge der Entfaltung der inneren Widersprüche des Kapitals.

Die Überwindung des Kapitalismus ist bestimmt von historischen Notwendigkeiten – aber sie kann nur durch einen bewussten Akt der Arbeiterklasse geschehen. Diese historische Besonderheit macht den Sieg im Klassenkampf zum einen beispiellos schwierig, zum anderen zu einem großen Versprechen für die Menschheit. Die Schwierigkeiten ergeben sich aus der einfachen Tatsache, dass eine ausgebeutete Klasse, die nicht mehr als ihre Arbeitskraft verkaufen kann, nicht innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsordnung neue Produktionsverhältnisse etablieren kann – wie es die bürgerliche Klasse in den feudalen Städten des Mittelalters konnte. Allein dieser Fakt beweist, dass die Arbeiterklasse eine eigene politische Organisation aufbauen muss, unabhängig von der Bourgeoisie.

Daher ist der Klassenkampf des Proletariats auch stets mehr, als der Kampf um Verbesserungen im System der Lohnarbeit. Die Arbeiterklasse hat kein Privateigentum an Produktionsmitteln, ihre Befreiung geschieht nur durch die Abschaffung dieses Privateigentums und dem Aufbau einer neuen Produktionsweise, basierend auf gemeinschaftlicher Arbeit. Dies ist nicht weniger als die Befreiung der Menschheit von ihrer Vorgeschichte. Das moderne Proletariat ist daher, in Marx´ Worten, „die universelle Klasse.“ Sie ist Produkt der Entwicklung des Kapitalismus. In großer Zahl und überall auf dem Erdball schuf er das moderne Proletariat. Darin bestand seine zivilisatorische Mission – damit hat er aber auch seinen Untergang vorbereitet.

Fußnoten

(1) Marx, Das Kapital, Band III, MEW 25, S. 223

(2) Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42, S. 640

(3) Ebenda, S. 640

(4) Ebenda, S. 640

(5) Ebenda, S. 640/641

(6) Ebenda, S. 641

(7) Ebenda, S. 641

(8) Ebenda, S. 641/642

(9) Ebenda, S. 641

(10) Marx, Das Kapital, Band III, MEW 25, S. 261

(11) Marx, Das Kapital, Band I, MEW 23, S. 790/791

(12) Marx, Grundrisse, S. 642/643

(13) Wir werden uns in diesem Artikel z.B. nicht mit dem Okishio-Theorem auseinandersetzen. Dieses wurde 1961 vom japanischen Ökonom N. Okishio im Artikel „Technical Change and the Rate of Profit“ entwickelt. Darin versucht er, das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate logisch zu widerlegen. Seine Kritik beruht dabei darauf, die Marxschen Kategorien keiner immanenten Kritik zu unterziehen, sondern sie aus dem Kontext der Werttheorie herauszureißen und als Kategorien der bürgerlichen Ökonomie zu behandeln. Selbst die Fehlerhaftigkeit dieser vulgarisierten Formeln wurde später von marxistischen Ökonomen nachgewiesen.

So hat z.B. Andrew Kliman – Vertreter der „Temporal Single System Interpretation School“ – in seinem letzten Buch „Reclaiming Marx’s Capital – A Refutation of the Myth of Inconsistancy“ erneut den Nachweis erbracht, dass Okishios und eine ganze Reihe anderer neo-ricardianischer „Widerlegungen,“ die sich auf den italienischen Ökonomen Sraffa (Warenproduktion mittels Waren) berufen, alle auf dieselbe Weise vorgehen: Den Marxschen Kategorien Annahmen der Gleichgewichtstheorien der Neo-Klassik unterzuschieben und auf dieser Basis, erstens die Wertfundierung von Kategorien wie den Produktionspreisen aus den Marxschen Schemata „herauszurechnen“ und zweitens auf dieser Basis die „logische“ Unschlüssigkeit „nachzuweisen“.

(14) N. Moszkowska, Das Marxsche System, 1929, S. 118

(15) Paul Sweezy, Theorie der kapitalistischen Entwicklung, S. 128

(16) Marx, Theorien über den Mehrwert, Dritter Teil, MEW 26.3, S. 295

(17) Marx, Grundrisse, MEW 42, S. 258

(18) Marx, Grundrisse, MEW 42, S. 258/259

(19) Marx, Kapital, Band I, S. 323

(20) Marx, Kapital, Band III, S. 412

(21) Marx, Theorien über den Mehrwert, Dritter Teil, MEW 26.3, S. 357

(22) Ebenda, S. 358

(23) Ebenda, S. 360

(24) Ebenda, S. 360

(25) Ebenda, S. 260

(26) Ebenda, S. 260

(27) Ebenda, S. 260

(28) Marx, Grundrisse, MEW 42, S. 561

(29) Die Tatsache, dass Marx anerkennt, dass Löhne in bestimmten Perioden steigen, ist einer Generation bürgerlicher Ökonomen nach der anderen entgangen, die dümmlich behaupten, dass Marx geglaubt habe, dass Löhne immer fallen würden. Die „Widerlegung“ dieser Marx ungeschobenen These wird in einem britischen Lehrbuch der Wirtschaftswissenschaften als Grund angeführt, warum Marx erst gar nicht studiert werden solle. Das Buch heißt bezeichnenderweise: Economics for Dummies.

(30) Marx, Das Kapital, Band III, MEW 25, S. 505

(31) Ebenda, S. 501/502

(32) Ebenda, S 506/507

(33) Marx, Das Kapital, Band I, MEW 23, S. 152

(34) Marx, Grundrisse, MEW 42