250 Jahre Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophischer Meister der Dialektik

Gerald Falke, Neue Internationale 248, Juli/August 2020

Mit Hegels Werk wird in der klassischen deutschen Philosophiegeschichte einerseits ihr krönender Höhepunkt verknüpft, andererseits eine durchwegs unverständliche Denkweise oder eine besonders gefährliche Ideologie. Gleichgültigkeit wollte sich seither hierzu in der Philosophie kaum jemand leisten. Was machen seine Lehren jetzt so faszinierend und revolutionär und weshalb wird ihnen eine so große Gefahr unterstellt?

Beispielsweise war für Schopenhauer die Philosophie Hegels der „widerwärtigste und unsinnigste Galimathias“ (verworrenes Gerede) mit „sinnleerstem Wortkram“. Dennoch wurden seine Lehren letztlich als Schulphilosophie aufgenommen, mit der sich das Bildungsbürger- und preußische Beamtentum gerne schmückte. Die preußische Regierung legte sie sogar ihrer Staatsauffassung zugrunde.

Er galt zwar als persönlich gesellig und humorvoll, aber bedächtig bis behäbig, als schwerfälliger, sich ständig räuspernder Redner und in langen, schwerflüssigen und unverständlichen Sätzen schreibend.

Hegel wurde 1770 in Stuttgart als Nachfahre protestantischer Auswanderer aus Kärnten und ältester Sohn eines Rentkammersekretärs geboren. Seine Erziehung war entsprechend protestantisch-pietistisch ausgerichtet. Bereits im Gymnasium beschäftigte er sich mit griechischen und römischen Klassikern. Im Tübinger Stift studierte er Philosophie und Theologie und musste danach zunächst in Bern und Frankfurt am Main eine Hauslehrerstelle annehmen. Durch eine Erbschaft von seinem Vater konnte er eine akademische Laufbahn beginnen und sich in Jena habilitieren. Nachdem er dann eine Rektorenstelle in Nürnberg annahm, übernahm er schließlich den philosophischen Lehrstuhl in Heidelberg und später als Nachfolger Fichtes in Berlin, wo ihm schließlich noch das Amt des Rektors der Universität übertragen wurde. 1831 starb er dort nach kurzer Krankheit.

Meinte er in jungen Jahren, dass trotz seiner von seinen Lehrkräften bemängelten philosophischen Begabung die Modulationsmöglichkeiten des schwäbischen Dialekts sich besonders gut für das Philosophieren eignen, beschrieb er später den Berliner Sand (Anspielung auf die als Streusandbüchse bezeichnete preußische Stammprovinz Brandenburg) als besonders empfänglich für die Philosophie.

Vom Impuls der Aufklärung

Als prägendes Ereignis wirkte sich auf ihn bereits zu Beginn seines Studiums aus, dass 1789 in Paris die Bastille erstürmt und der absolutistisch herrschende König und sein Hofadel entmachtet wurden. In der Hoffnung auf eine grundlegende Veränderung auch in Deutschland ergriffen viele Gelehrte dafür Partei und im Tübinger Stift bildete sich ein politischer Kreis, der französische Zeitungen las und mit Hochstimmung diskutierte. Hegel trat hier besonders begeistert für Freiheit und Gleichheit ein, Hölderlin sorgte mit seiner dichterischen Begabung für eine schwungvolle Sprache und Schelling übersetzte die Marseillaise, das Revolutionslied der französischen Freiwilligenbataillone, ins Deutsche.

Von hier ausgehend interessierte er sich weiterhin für die politischen Verhältnisse und deren mögliche Verbesserungen. An Schelling schrieb er dazu, dass er die Theorie als Sturmbock zur Bewegung der Wirklichkeit verstehe. Und während seines Aufenthaltes in Jena begrüßte er freudig den Sieg der Franzosen in der dort stattgefundenen Schlacht von 1806 und beschrieb bei dieser Gelegenheit Napoleon ehrfurchtsvoll als „Weltseele“, obwohl er plündernde Soldaten in seiner Wohnung dulden musste.

Hegel blieb aber letztlich befangen in der Rückständigkeit Deutschlands und der entsprechend geringeren Wirksamkeit der Aufklärung. Indem hier die Klassenkämpfe des Bürgertums weniger ausgeprägt waren, die politische Opposition viel schwächer war und eine bürgerliche Revolution noch nicht auf der Tagesordnung stand, konnte die Ideologie der Aufklärung sogar noch dem kleinstaatlichen Feudalabsolutismus zweckdienlich werden.

Von der britischen und französischen Aufklärung trennte Hegel von Beginn an sein durchgängiger idealistischer Standpunkt, der den Geist als das allein Wirkliche auffasst. Und anstatt einer Überwindung der Religiosität sah er im lutheranischen Christentum die bisher höchste Entwicklungsstufe der Religion, die mithilfe der Philosophie in eine noch höhere Form zu bringen sei, welche dann so zur Grundlage der deutschen Freiheitsbewegung werden sollte. Zumindest erklärte er, dass das Göttliche kein äußeres und fremdes Wesen ist, sondern nur im und für den Geist der Menschen.

Idealistische Geschichts- und konformistische Staatsauffassung

In seiner Vorstellung von der geschichtlichen Entwicklung war er zunächst sehr inspiriert von der griechischen Philosophie. Die hierin entwickelte Dialektik bezog sich vor allem auf das dialogische Sprechen und wurde von Platon zu einer speziellen Form der Dialoggestaltung entwickelt, in der das Wesen in seinen Zusammenhängen erfasst und im Gespräch vermittelt werden kann. Dabei sollte mit der dialogischen Gesprächsentwicklung hinter dem sinnlich Wahrnehmbaren die an sich als feststehend gedachte platonische Ideenwelt erreicht werden.

Hegel entdeckte hierbei, dass die philosophischen Dialoge bei Platon tatsächlich stattgefunden haben in der Entwicklung der Philosophiegeschichte, in der die PhilosophInnen immer wieder zu neuen Antworten fanden und damit sich sozusagen ein philosophischer Dialog über die gesamte Geschichte der Philosophie hinzieht. Im Unterschied zur platonischen Vorstellung einer unbeweglichen Wahrheit erkannte Hegel allerdings die Bewegung der Wahrheitsfindung in ihrer notwendigen Entwicklung. Damit konzentrierte sich die Philosophiegeschichte vor allem auf „die notwendige Bewegung der reinen Begriffe“ und damit um „das Erheben der Vernunft über die Beschränkungen des Verstandes“. In der Folge gelangte er letztlich zu nichts Geringerem als der Annahme einer Identität von Wirklichkeit und Geist, von Welt und Vernunft. „Die reine Wissenschaft …. enthält den Gedanken, insofern er ebensosehr die Sache an sich selbst ist, oder die Sache an sich selbst, insofern sie ebensosehr der reine Gedanke ist.“ (Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 1, S. 43, in: Hegel, Werke, Bd. 5, Suhrkamp, Frankfurt/Main)

Die Selbstentfaltung des Geistes entsprach für ihn somit einer Darstellung des gesamten Weltprozesses, der sich vom An-sich-Sein über ein Anders-Sein zum An-und-für-sich-Sein entwickelt. Die Entwicklung der Weltgeschichte ist für ihn dabei sinnvoll und zweckgerichtet – auf das Ziel der Vervollkommnung der Vernunft. Die nach ihren individuellen Zwecken handelnden Menschen darin sind lediglich Werkzeuge des Weltgeistes und dessen listiger Vernunft.

Dieser Weltgeist entwickelte sich demnach von den OrientalInnen über die GriechInnen und RömerInnen bis zu den GermanInnen und durchlief dabei eine Zunahme der Freiheit einzelner bis hin zur Freiheit aller im Geist der Deutschen – selbst wenn sich dieser nur im Willen eines einzelnen Monarchen ausdrückt.

Der ältere Hegel zeigte sich letztendlich als durchaus parteilich zugunsten des Königs. Als einstiger Kritiker Preußens wandelte er sich in einen rückhaltloser Unterstützer des preußischen Staats als Verkörperung der Vernunft – trotz des Polizeisystems und Denunziantentums bis hin zur Verfolgung von AufwieglerInnen.

Seine angenommene Identität von Vernunft und Wirklichkeit zeigte sich hier in einer besonders fatalen Form als bedingungsloses Vertrauen in den Staat als der „Wirklichkeit der sittlichen Idee“. Damit postulierte er die Grundlage für eine Theorie, die eigentlich vor der Wirklichkeit, die sie zu bewegen angetreten war, kapituliert hatte.

Hegels Staatsfetischismus bestimmt letztlich den Zweck des Lebens der Individuen als ihren Anteil am allgemeinen Staatsleben: „Der Staat ist als die Wirklichkeit des substantiellen Willens, die er in der zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewusstheit hat, das an und für sich Vernünftige. Diese substantielle Einheit ist absoluter unbewegter Selbstzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt, so wie dieser Endzweck das höchste Recht gegen die Einzelnen hat, deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staats zu sein.“ (Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 399, Suhrkamp, Frankfurt/ Main 1976)

Letztlich hoffte er auf eine geistige Erneuerung des deutschen Volkes und Staates nach dem Ideal der antiken Gemeinschaft in der griechischen Polis.

Bleibendes Verdienst der Dialektik

Die größten Verdienste gebühren Hegel sicherlich für die Ausarbeitung seiner „Wissenschaft der Logik“. Hierin erhält die Dialektik eine grundlegende und umfassende Bedeutung, die alle ihre Einschränkungen durch die Lehren von Aristoteles bis Kant schlichtweg beseitigt. Wenn beispielsweise die formale Logik das aristotelische Identitätsprinzip vorgibt, wonach ein A stets ein A ist und bleibt, dann stellt dies für Hegel nur eine langweilige Art von überflüssigem Wiederkäuen dar. Er hält dem entgegen: „Die Identität ist … an ihr selbst absolute Nichtidentität.“ (Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 2, S. 41)

Der zweiten logischen Grundregel, dem Widerspruchsprinzip, wonach A und Nicht-A nicht zugleich sein können, ergeht es bei Hegel nicht besser. Wenn ein Nicht-A nur auftaucht, um zu schwinden, wäre damit auch die gedankliche Beschäftigung damit bereits erledigt. Allerdings wäre ein System von Begriffen ohne den Weg der Negation nicht herstellbar. „Das Einzige, um den wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen – und um dessen ganz einfache Einsicht sich wesentlich zu bemühen ist -, ist die Erkenntnis des logischen Satzes, daß das Negative ebensosehr positiv ist …“. (Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 1, S. 49)

Den Hintergrund dieser Position erklärt er aus einer universellen Widersprüchlichkeit. „<Alle Dinge sind an sich selbst widersprechend>, und zwar in dem Sinne, daß dieser Satz gegen die übrigen vielmehr die Wahrheit und das Wesen der Dinge ausdrücke.“ (Hegel, Logik, Bd. 2, S. 74)

In Hegels Dialektik ist der Widerspruch sogar die wesentlichste Kategorie. „Es ist … eines der Grundvorurteile der bisherigen Logik und des gewöhnlichen Vorstellens, als ob der Widerspruch nicht eine so wesenhafte und immanente Bestimmung sei als die Identität; ja, wenn von Rangordnung die Rede und beide Bestimmungen als getrennte festzuhalten wären, so wäre der Widerspruch für das Tiefere und Wesenhaftere zu nehmen. Denn die Identität ihm gegenüber ist nur die Bestimmung des einfachen Unmittelbaren, des toten Seins; er aber ist die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit; nur insofern etwas in sich selbst einen Widerspruch hat, bewegt es sich, hat Trieb und Tätigkeit.“ (Hegel, Logik, Bd. 2, S. 75)

Marx greift diesen Ansatz auf: „Die Selbstbejahung, Selbstbestätigung im Widerspruch mit sich selbst, sowohl mit dem Wissen als mit dem Wesen des Gegenstandes, ist … das wahre Wissen und Leben.“ (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW 40, S. 581)

Engels erläutert, dass wir auf keine Widersprüche stoßen, solange wir die Dinge als ruhende und leblose betrachten, jedes für sich, neben- und nacheinander. Allerdings zeigen sich die Widersprüche sofort, wenn sich die Dinge bewegen und verändern, lebendig werden und wechselseitig aufeinander einwirken. „Das Leben ist … ein in den Dingen und Vorgängen selbst vorhandner, sich stets setzender und lösender Widerspruch; und sobald der Widerspruch aufhört, hört auch das Leben auf, der Tod tritt ein.“ (Engels, Anti-Dühring, S. 112f., MEW 20)

Etwas pointierter formuliert es Lenin: „Erst auf die Spitze des Widerspruchs getrieben werden die Mannigfaltigkeiten regsam und lebendig gegeneinander – erhalten sie die Negativität, welche die innewohnende Pulsation der Selbstbewegung und Lebendigkeit ist.“ (Lenin, Konspekt zur „Wissenschaft der Logik“, S. 133, in: Lenin, Werke, Bd. 38)

Mit der Dialektik als Instrument der Erkenntnis ergaben sich vielfältige Möglichkeiten zum besseren Verständnis geschichtlicher Entwicklungen und gesellschaftlicher Zusammenhänge, die mit einem positivistischen Instrumentarium völlig verborgen geblieben wären. Das bekannteste Beispiel für eine vorbildliche Anwendung der dialektischen Methode wurden die Lehren von Marx.

Das Hegelsche Erbe

Wie zur Veranschaulichung der Hegelschen Geschichtslehre zerfiel seine Schülerschaft in eine Rechte mit den AlthegelianerInnen wie Göschel, Gabler, Rosenkranz und Gans und eine Linke mit den JunghegelianerInnen wie Köppen, Bauer, Marx und Engels.

Vor allem der abstrakte Charakter dieser Philosophie bewirkte verständlicherweise eine grundlegende Infragestellung. Feuerbach kritisierte Hegel sogar in einem Zuge mit der Theologie. „Die absolute Philosophie hat uns wohl das Jenseits der Theologie zum Diesseits gemacht, aber dafür hat sie uns das Diesseits der wirklichen Welt zum Jenseits gemacht.“ (Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, in: Auswählte Schriften, Bd. 1, Ullstein, Frankfurt/Main 1985 )

Und die einzig akzeptable Form der Dialektik existierte für Feuerbach im Rahmen ihrer Ausgangsposition vor Platon. „Die wahre Dialektik ist kein Monolog des einsamen Denkers mit sich selbst, sie ist ein Dialog zwischen Ich und Du.“ (Ebenda, S. 156)

Aus der Lehre Hegels und der Kritik Feuerbachs ergab sich jedoch auch die Möglichkeit einer Synthese, welche aus der abstrakten Logik ebenso wie aus ihrer materialistischen Kritik schöpft. Marx begann mit einer Würdigung: „Was die andern Philosophen taten ….., das weiß Hegel als das Tun der Philosophie. Darum ist seine Wissenschaft absolut.“ (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW 40, S. 574f.)

Während Hegel sich mit dem „Volksgeist“ und der „Volksreligion“ auseinandersetzte, ergab sich für Marx allerdings die Frage nach dem „Klassenbewusstsein“ im Rahmen der die Geschichte letztlich entscheidenden Klassenkämpfe.

Marx übernahm zwar die Hegelsche Dialektik, aber sozusagen in umgekehrter Form. Um „den rationellen Kern in der mystischen Hülle“ erkenntlich zu machen, drehte Marx die auf dem Kopf stehende Dialektik Hegels um. „Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.“ (Marx, Das Kapital Bd.1, S. 27, MEW 23)

Ähnlich sah Engels diese Umkehrung: „Wir faßten die Begriffe unsres Kopfs wieder materialistisch als die Abbilder der wirklichen Dinge, statt die wirklichen Dinge als Abbilder dieser oder jener Stufe des absoluten Begriffs.“ (Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, MEW 21, S. 292f.)

Und daraus folgt: „Damit wurde … die Begriffsdialektik selbst nur der bewußte Reflex der dialektischen Bewegung der wirklichen Welt, und damit wurde die Hegelsche Dialektik auf den Kopf, oder vielmehr vom Kopf, auf dem sie stand, wieder auf die Füße gestellt.“ (Ebenda, S. 293)

Auf diese Weise grenzten sich Marx und Engels auch von den AlthegelianerInnen ab, die alles zu begreifen glaubten, sobald es auf eine logische Kategorie Hegels zurückgeführt werden konnte. Die materialistische Dialektik hingegen versteht sich als „die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens.“ (Engels, Anti-Dühring, MEW 20, S. 131f.)

Revisionistische Anti-Dialektik

Bezeichnenderweise bezog sich der im Rahmen der Zweiten Internationale formierende Reformismus nicht mehr auf Hegel als wesentlichen Vorbereiter der marxistischen Weltanschauung, sondern vorzugsweise auf Kant. Die dialektische Gesetzmäßigkeit Hegels erschien Bernstein, dem Wortführer dieser Strömung, als „schief“ und seine Widerspruchslogik als „spekulativ“, „täuschend“ und „gefährlich“. „Die logischen Purzelbäume des Hegelianismus schillern radikal und geistreich. Wie das Irrlicht, zeigt er uns in unbestimmten Umrissen jenseitige Prospekte. Sobald wir aber im Vertrauen auf ihn unseren Weg wählen, werden wir regelmäßig im Sumpfe landen. Was Marx und Engels Großes geleistet haben, haben sie nicht vermöge der hegelschen Dialektik, sondern trotz ihrer geleistet.“ (Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Göttingen 1984, S. 62)

Während der Reformismus sich entschieden von Hegel abwandte, setzte der revolutionäre Marxismus das dialektische Verständnis fort. Jenseits des idealistischen Verständnisses und der dogmatischen Inhalte im philosophischen System ist seine Dialektik eben seine revolutionäre Seite. Zum Ausdruck dieser unterschiedlichen Seiten bei Hegel beschrieb ihn Engels als „olympischen Zeus“ mit einem „deutschen Philisterzopf“.

Die im Rahmen der Dritten Internationale sich entwickelnde stalinistische Tradition hielt zwar scheinbar an der revolutionären Tradition fest, aber anstelle eines mehr als formalen Bezugs auf die dialektische Methode blühten hier meistens wieder Hegels Volksbezug und Staatsfetischismus auf. So bleibt der jeweilige Bezug auf Hegel weiterhin ein Indiz und Richtwert für die jeweilige philosophische Weltanschauung und die politische Gesinnung.




Bolschewismus und Stalinismus

Leo Trotzki (1937), Revolutionärer Marxismus 52, November 2019

Reaktionäre Epochen wie die
unsere zersetzen und schwächen nicht nur die Arbeiterklasse und isolieren ihre
Avantgarde, sondern drücken auch das allgemeine ideologische Niveau der
Bewegung herab und werfen das politische Denken auf bereits längst durchlaufene
Etappen zurück.

Die Aufgabe der Avantgarde
besteht unter diesen Umständen vor allem darin, sich nicht von dem allgemeinen,
rückwärts flutenden Strom davontragen zu lassen – es heißt gegen den Strom
schwimmen. Wenn ein ungünstiges Kräfteverhältnis es nicht erlaubt, die früher
eroberten politischen Positionen zu wahren, gilt es, sich wenigstens auf den
ideologischen Positionen zu halten, denn sie sind der Ausdruck einer teuer
bezahlten vergangenen Erfahrung. Dummköpfen erscheint eine solche Politik als
„Sektierertum“. In Wirklichkeit bereitet sie nur einen gigantischen neuen
Sprung vorwärts vor, zusammen mit der Welle des kommenden historischen
Aufschwungs.

Die Reaktion gegen den Marxismus und gegen den Bolschewismus

Große historische Niederlagen
rufen unvermeidlich eine Umwertung hervor, die sich im Allgemeinen in zwei
Richtungen vollzieht. Auf der einen Seite trachtet das Denken der wahren
Avantgarde, bereichert um die Erfahrung der Niederlagen und mit Zähnen und
Klauen das Erbe des revolutionären Gedankens verteidigend, auf seiner Grundlage
neue Kader für die künftigen Massenkämpfe heranzuziehen.

Auf der anderen trachtet das
über die Niederlage erschrockene Denken der Routiniers, Zentristen und
Dilettanten, die Autorität der revolutionären Tradition zu zerstören, und kehrt
unter dem Schein der Suche nach „Neuem“ weit zurück.

Man könnte eine Fülle von
Beispielen ideologischer Reaktion anführen, die übrigens zumeist die Form der
Prostration (Selbsterniedrigung) annimmt. Die gesamte Literatur der II. und
III. Internationale wie ihrer zentristischen Satelliten vom Londoner Büro
besteht im Grunde aus derartigen Beispielen. Nicht die Spur einer marxistischen
Analyse. Nicht ein ernster Versuch, die Ursache einer Niederlage zu erhellen.

Nicht ein neues, eigenes Wort
über die Zukunft. Nichts als Schablone, Routine, Trug und vor allem Sorge um
die eigene bürokratische Selbsterhaltung. Ein Dutzend Zeilen eines beliebigen
Hilferding oder Otto Bauer genügen einem, um Verwesungsgeruch zu spüren.

Von den Theoretikern der
Komintern ganz zu schweigen. Der verherrlichte Dimitroff ist unwissend und
banal wie ein Krämer in der Kneipe. Das Denken dieser Leute ist zu faul, um dem
Marxismus zu entsagen: sie prostituieren ihn. Nicht sie interessieren uns
jetzt. Kehren wir zu den „Neuerern“ zurück.

Der ehemalige österreichische
Kommunist Willy Schlamm widmete den Moskauer Prozessen eine Broschüre mit dem
sprechenden Titel „Diktatur der Lüge“. Schlamm ist ein begabter Journalist,
dessen Interessen hauptsächlich auf Tagesfragen gerichtet sind. Die Kritik der
Moskauer Schwindelprozesse sowie die Aufdeckung der psychologischen Mechanik
der „freiwilligen Geständnisse“ gelingen Schlamm vortrefflich. Doch nicht
zufrieden damit, will er eine neue Theorie des Sozialismus aufstellen, die uns
in Zukunft vor Niederlagen und Schwindel behüten soll.

Da aber Schlamm durchaus kein
Theoretiker und sogar sichtlich mit der Entwicklungsgeschichte des Sozialismus
wenig bekannt ist, so kehrt er unter dem Anschein einer neuen Offenbarung ganz
zum vormarxistischen Sozialismus zurück, dazu in dessen deutscher, d. h.
rückständigster, süßlichster und widerlichster Art.

Schlamm verzichtet auf die
Dialektik, auf den Klassenkampf, von der Diktatur des Proletariats gar nicht zu
reden. Die Aufgabe der Umgestaltung der Gesellschaft läuft für ihn auf die
Verwirklichung einiger „weniger“ Moralweisheiten hinaus, mit denen er die
Menschen bereits unter der kapitalistischen Ordnung zu füttern sich anschickt.

In Kerenskis Zeitung „Neues
Russland“ (ein altes Provinzblatt, herausgegeben in Paris) wird
Willy Schlamms Versuch, den Sozialismus mit einer Spritze sittlicher Lymphe zu
fetten, nicht nur mit Freude, sondern auch mit Stolz aufgenommen: Dem ganz
richtigen Kommentar der Redaktion zufolge kommt Schlamm zu den Prinzipien des
echt-russischen Sozialismus, der schon längst dem trockenen und engherzigen
Klassenkampf die heiligen Grundsätze des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe
entgegenstellte.

Zwar stellte die Originaldoktrin
der russischen „Sozialrevolutionäre“ in ihren Prämissen nur eine Rückkehr zum
Sozialismus des vormärzlichen Deutschlands dar. Es wäre jedoch allzu ungerecht,
von Kerenski eine nähere Bekanntschaft mit der Ideengeschichte zu fordern als
von Schlamm. Viel wichtiger ist der Umstand, dass der mit Schlamm sich
solidarisierende Kerenski als Regierungsoberhaupt der Urheber der Verfolgungen
gegen die Bolschewiki als Agenten des deutschen Generalstabs war, d. h.
den gleichen Schwindel organisierte, gegen den Schlamm heute mottenzerfressene
metaphysische Absolute mobilisiert.

Der psychologische Mechanismus
der gedanklichen Reaktion Schlamms und seinesgleichen ist sehr einfach. Eine
gewisse Zeitlang nahmen diese Leute an einer politischen Bewegung teil, die auf
den Klassenkampf schwor und in Worten an die materialistische Dialektik
appellierte. In Österreich wie in Deutschland endete die Sache mit einer
Katastrophe.

Schlamm zieht eine summarische
Schlussfolgerung: Dahin haben uns Klassenkampf und Dialektik gebracht! Und da
die Auswahl der Offenbarungen durch die geschichtlichen Erfahrungen und … die
persönlichen Kenntnisse beschränkt ist, stößt unser Reformator auf der Suche
nach Neuem auf bereits längst beiseite geworfenen Trödelkram, den er tapfer
nicht nur dem Bolschewismus, sondern auch dem Marxismus entgegenstellt.

Auf den ersten Blick erscheint
die von Schlamm vertretene Abart der ideologischen Reaktion allzu primitiv (von
Marx … zu Kerenski), als dass es sich lohnte, dabei zu verweilen. Allein,
tatsächlich ist sie ungemein lehrreich: Gerade dank ihrer Primitivität bildet
sie ein allgemeines Kennzeichen aller anderen Reaktionsformen, vor allem derjenigen, die
sich in dem summarischen Verzicht auf den Bolschewismus äußert.

Zurück zum Marxismus?

Im Bolschewismus fand der
Marxismus seinen grandiosesten geschichtlichen Ausdruck. Unter dem Banner des
Bolschewismus wurde der erste Sieg des Proletariats errungen und der erste
Arbeiterstaat errichtet. Diese Tatsachen wird keine Kraft der Welt mehr aus der
Geschichte streichen. Aber da die Oktoberrevolution im gegenwärtigen Stadium
zum Triumph der Bürokratie geführt hat, mit ihrem System der Unterdrückung,
Raubherrschaft und Fälschung – zur „Diktatur der Lüge“, wie Schlamm treffend
sagte – so sind viele formale und oberflächliche Geister zu der summarischen
Schlussfolgerung geneigt: Man kann nicht den Stalinismus bekämpfen, ohne auf
den Bolschewismus zu verzichten.

Schlamm geht, wie wir bereits
sagten, noch weiter: Der zum Stalinismus entartete Bolschewismus ist selbst aus
dem Marxismus entstanden – man kann folglich nicht den Stalinismus bekämpfen
und dabei auf den Grundlagen des Marxismus bleiben. Die weniger Konsequenten,
aber Zahlreicheren sagen hingegen: „Man muss vom Bolschewismus zum Marxismus
zurückkehren.“ Auf welchem Wege? Zu welchem Marxismus?

Bevor der Marxismus in der Form
des Bolschewismus „Bankrott“ gemacht hat, erlitt er in der Form der
Sozialdemokratie Schiffbruch. Die Losung „Zurück zum Marxismus“ bedeutet somit
einen Sprung über die Epoche der II. und III. Internationale … zur I.
Internationale? Aber auch diese erlitt seinerzeit Schiffbruch. Es heißt also
letzten Endes zurückkehren … zu den gesammelten Schriften Marx’ und Engels’
… Diesen heroischen Sprung kann man machen, ohne sein Arbeitszimmer zu
verlassen oder auch nur die Pantoffeln auszuziehen.

Wie aber dann von unseren
Klassikern (Marx starb 1883, Engels 1895) zu den Aufgaben der neuen Epoche
gelangen und dabei einige Jahrzehnte theoretischen und politischen Kampfes
umgehen, darunter den Bolschewismus und die Oktoberrevolution? Niemand von
denen, die Verzicht auf den Bolschewismus als eine historisch „bankrotte“
Strömung vorschlagen, hat neue Wege gewiesen.

Die Sache läuft somit auf einen
einfachen Ratschlag hinaus, das „Kapital“ zu
studieren. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber das „Kapital“ haben
auch die Bolschewiki studiert und dabei gar nicht schlecht. Das hat jedoch die
Entartung des Sowjetstaates und die Inszenierung der Moskauer Prozesse nicht
verhindert.

Ist der Bolschewismus für den Stalinismus verantwortlich?

Ist es jedoch wahr, dass der
Stalinismus ein gesetzmäßiges Produkt des Bolschewismus ist, wie es die gesamte
Reaktion annimmt, wie es Stalin selbst behauptet und wie es die Menschewiki,
Anarchisten und gewisse linke Doktrinäre, die sich für Marxisten halten,
meinen?

„Wir haben ja immer gesagt“,
sprechen sie, „seit dem Verbot der anderen sozialistischen Parteien, der
Unterdrückung der Anarchisten, seit der Aufrichtung der Bolschewikidiktatur in
den Sowjets konnte die Oktoberrevolution zu nichts anderem als zur Diktatur der
Bürokratie führen. Der Stalinismus ist die Fortsetzung und zugleich der
Bankrott des Leninismus.“

Der Fehler dieser Argumentation
beginnt bei der stillschweigenden Gleichsetzung von Bolschewismus,
Oktoberrevolution und Sowjetunion. Der historische Prozess, der im Kampf
feindlicher Kräfte besteht, wird hier durch eine Entwicklung des Bolschewismus
im luftleeren Raum ersetzt.

Indes ist der Bolschewismus nur
eine politische Strömung, die zwar eng mit der Arbeiterklasse verknüpft, aber nicht
mit ihr identisch ist. Aber außer der Arbeiterklasse existieren in der UdSSR
über hundert Millionen Bauern, verschiedenartigste Völkerschaften, ein Erbe von
Unterdrückung, Armut und Unbildung.

Der von den Bolschewiki
errichtete Staat spiegelt nicht nur das Denken und Wollen der Bolschewiki
wider, sondern auch das Kulturniveau des Landes, die soziale Zusammensetzung
der Bevölkerung, den Druck der barbarischen Vergangenheit und des nicht weniger
barbarischen Weltimperialismus.

Den Entartungsprozess des Sowjetstaats
als eine Evolution des reinen Bolschewismus darstellen, heißt, die soziale
Wirklichkeit ignorieren namens eines einzigen durch die reine Logik von ihr
abgesonderten Elementes.

Es genügt eigentlich, diesen
elementaren Fehler beim Namen zu nennen, damit von ihm keine Spur mehr
übrigbleibt. Der Bolschewismus selbst jedenfalls identifizierte sich nie mit
der Oktoberrevolution noch mit dem aus ihr hervorgegangenen Sowjetstaat.

Der Bolschewismus betrachtet
sich als einen Faktor der Geschichte, ihren „bewussten“ Faktor – einen sehr
bedeutenden, aber nicht entscheidenden – „historischen Subjektivismus“ haben
wir uns nie schuldig gemacht. Den entscheidenden Faktor auf dem gegebenen
Fundament der Produktivkräfte sahen wir im Klassenkampf, dabei nicht bloß im
nationalen, sondern im internationalen Maßstab.

Als die Bolschewiki an die
Besitzertendenzen der Bauern Zugeständnisse machten, strenge Regeln für die
Aufnahme in die Partei aufstellten, diese Partei von fremden Elementen
säuberten, andere Parteien verboten, die NEP (Neue Ökonomische Politik)
einführten, zu Übergabe von Betrieben in Konzessionen Zuflucht nahmen oder
diplomatische Abkommen mit imperialistischen Regierungen trafen, zogen sie –
die Bolschewiki – Teilschlüsse aus der Grundtatsache, die ihnen von Anfang an
klar war, nämlich dass die Machteroberung, so wichtig sie an sich auch ist, die
Partei durchaus nicht zum allmächtigen Herrn des historischen Prozesses machte.

Mit der Herrschaft über den
Staat besitzt die Partei allerdings die Möglichkeit, mit einer ihr bis dahin
nicht zugänglichen Kraft auf die Entwicklung der Gesellschaft einzuwirken,
dafür aber unterliegt sie auch selbst einer verzehnfachten Einwirkung von
Seiten aller übrigen Elemente dieser Gesellschaft.

Durch die direkten Schläge der feindlichen
Kräfte kann sie von der Macht hinweggefegt werden. Bei langwierigen
Entwicklungstempi kann sie, sich an der Macht haltend, innerlich entarten.
Gerade diese Dialektik des historischen Prozesses verstehen die sektiererischen
Räsoneure nicht, die in der Fäulnis der Stalinbürokratie ein vernichtendes
Argument gegen den Bolschewismus finden wollen.

Im Grunde sagen diese Herren:
Schlecht ist die revolutionäre Partei, die nicht in sich die Garantie gegen
ihre eigene Entartung enthält. Angesichts eines derartigen Kriteriums ist der
Bolschewismus natürlich gerichtet: Einen Talisman hat er nicht. Doch dieses
Kriterium ist eben falsch.

Das wissenschaftliche Denken
verlangt eine konkrete Analyse: Wie und warum zersetzte sich die Partei?
Niemand außer den Bolschewiki selbst hat bisher eine solche Analyse gegeben.
Diese aber brauchten deswegen nicht mit dem Bolschewismus zu brechen.

Im Gegenteil, in ihrem Arsenal
fanden sie alles Notwendige, um sein Schicksal zu erklären. Die Schlussfolgerung,
zu der sie gelangten, lautete: Natürlich ist der Stalinismus aus dem
Bolschewismus „erwachsen“, aber nicht logisch erwachsen, sondern dialektisch:
nicht als revolutionäre Bejahung, sondern als thermidorianische Verneinung. Das
ist durchaus nicht ein und dasselbe.

Die Grundprognose des Bolschewismus

Allein, die Bolschewiki mussten
nicht erst die Moskauer Prozesse abwarten, um nachträglich die Ursachen für die
Zersetzung der herrschenden Partei der UdSSR zu erklären. Sie sahen lange
vorher die theoretische Möglichkeit einer solchen Entwicklungsvariante und
sprachen beizeiten davon.

Erinnern wir uns an die
Prognose, die die Bolschewiki nicht nur am Vorabend der Oktoberrevolution,
sondern schon einige Jahre vorher aufstellten. Die besondere Kräftegruppierung
im nationalen und internationalen Maßstab führt dazu, dass das Proletariat in
einem so rückständigen Land wie Russland zuerst an die Macht gelangen kann.

Doch eben diese
Kräftegruppierung lässt auch im Voraus erkennen, dass ohne einen mehr oder
weniger baldigen Sieg des Proletariats in den fortgeschrittenen Ländern ein
Arbeiterstaat in Russland nicht standhalten wird. Das auf sich angewiesene
Sowjetregime wird zerfallen oder entarten, genauer: zuerst entarten, und dann
zerfallen.

Ich persönlich habe mehr als
einmal darüber geschrieben, bereits seit 1905. In meiner Geschichte der russischen Revolution (siehe
den Anhang zum zweiten Band: „Sozialismus in einem Lande?“) sind diesbezügliche
Aussagen der Führer des Bolschewismus von 1917 bis 1923 gesammelt.

Alle laufen auf eines hinaus:
Ohne Revolution im Westen wird der Bolschewismus liquidiert werden, entweder
von der inneren Konterrevolution oder durch Intervention von außen, oder durch
beides zusammen.

Lenin insbesondere hat oft
darauf hingewiesen, dass die Bürokratisierung des Sowjetregimes keine
technische oder organisatorische Frage ist, sondern der mögliche Beginn einer
sozialen Entartung des Arbeiterstaates.

Auf dem XI. Parteikongress vom
März 1922 sprach Lenin über die „Unterstützung“, welche gewisse bürgerliche
Politiker im besonderen der liberale Professor Ustraljew, seit der Zeit der NEP
Sowjetrussland angedeihen zu lassen beschlossen. „Ich bin für die Unterstützung
der Sowjetmacht in Russland“, sagt Ustraljew, „weil sie den Weg betreten hat,
der sie zu einer gewöhnlichen bürgerlichen Macht hinführen wird.“

Die zynische Stimme des Feindes
zieht Lenin dem „süßlichen kommunistischen Geschwätz“ vor. Mit strenger
Nüchternheit warnt er die Partei vor der Gefahr: Alle Dinge, von denen Ustraljew
spricht, sind möglich. Das muss man klar sagen. Die Geschichte kennt Wendungen
aller Arten: Sich auf Überzeugung, Ergebenheit und andere vorzügliche
Seeleneigenschaften zu verlassen, ist in der Politik durchaus keine ernste
Sache.

Die vorzüglichen Eigenschaften
haben eine kleine Anzahl von Leuten, aber das historische Endergebnis bestimmen
die gigantischen Massen, die, wenn die geringe Anzahl Leute ihnen nicht
entgegenkommt, zuweilen mit dieser geringen Anzahl Leute nicht allzu höflich
verfahren. Mit einem Wort: Die Partei ist nicht der einzige Entwicklungsfaktor
und, in großen geschichtlichen Maßstäben, nicht der entscheidende.

„Es kommt vor, dass ein Volk ein
anderes Volk besiegt“, fuhr Lenin auf demselben Kongress fort – dem letzten,
der mit seiner Teilnahme stattfand –, „…das ist sehr einfach und allen
verständlich. Aber was geschieht mit der Kultur der Völker? Das ist nicht so
einfach. Ist das Siegervolk dem besiegten Volk kulturell überlegen, so zwingt
es ihm seine Kultur auf, ist es aber umgekehrt, so pflegt der Besiegte dem
Sieger seine Kultur aufzuzwingen.

Ist nicht etwas Ähnliches in der
Hauptstadt der RSFSR geschehen! Und ergab es sich nicht dort, dass 4.700
Kommunisten (fast eine ganze Division, und die allerbesten von allen) der
fremden Kultur unterlagen?“

Das wurde Anfang 1922 gesagt,
und zwar nicht zum ersten Mal. Die Geschichte wird nicht von wenigen, wenn auch
„allerbesten“ Menschen gemacht; noch weniger: diese „besten“ können im Geiste
der „fremden“, d. h. der bürgerlichen Kultur entarten. Nicht nur kann der
Sowjetstaat vom sozialistischen Wege abgehen, sondern auch die bolschewistische
Partei unter ungünstigen historischen Bedingungen ihren Bolschewismus einbüßen.

Aus dem deutlichen Verständnis
dieser Gefahr entstand die Linke Opposition, die sich endgültig im Jahre 1923
bildete. Tagaus, tagein die Entartungssymptome registrierend, trachtete sie,
dem heranrückenden Thermidor den bewussten Willen der proletarischen Avantgarde
gegenüberzustellen. Allein, dieser subjektive Faktor erwies sich als
unzureichend.

Die „gigantischen Massen“, die
nach Lenin den Ausgang des Kampfes entscheiden, wurden der inneren Entbehrungen
und des zu langen Wartens auf die Weltrevolution müde. Die Massen verloren den
Mut. Die Bürokratie bekam die Oberhand. Sie schüchterte die proletarische
Avantgarde ein, trat den Marxismus mit Füßen, prostituierte die
bolschewistische Partei. Der Stalinismus siegte. In Gestalt der Linken
Opposition brach der Bolschewismus mit der Sowjetbürokratie und ihrer
Komintern. Das ist der wirkliche Gang der Entwicklung.

Freilich, im formellen Sinne ist
der Stalinismus aus dem Bolschewismus hervorgegangen. Die Moskauer Bürokratie
fährt auch heute noch fort, sich Bolschewistische Partei zu nennen. Sie benutzt
einfach die alte Banderole, um besser die Massen zu betrügen. Um so kläglicher
sind die Theoretiker, die die Schale für den Kern und den Schein für das Wesen
nehmen. Indem sie Stalinismus und Bolschewismus gleichsetzen, leisten sie den
Thermidorianern den besten Dienst und spielen somit eine klare reaktionäre
Rolle.

Bei der Entfernung aller anderen
Parteien vom politischen Schauplatz müssen die entgegengesetzten Interessen und
Tendenzen der verschiedenen Bevölkerungsschichten in dem einen oder anderen
Grade in der herrschenden Partei zum Ausdruck kommen. In dem Maße, wie der politische
Schwerpunkt sich von der proletarischen Avantgarde zur Bürokratie verschob,
wandelte sich die Partei sowohl der sozialen Zusammensetzung wie auch der
Ideologie nach.

Infolge des ungestümen Verlaufs
der Entwicklung erlitt sie in den letzten fünfzehn Jahren eine sehr viel
radikalere Entartung als die Sozialdemokratie während eines halben
Jahrhunderts. Die heutige „Säuberung“ zieht zwischen Bolschewismus und
Stalinismus nicht nur einen blutigen Strich, sondern einen ganzen Strom von
Blut.

Die Ausrottung der gesamten
alten Generation der Bolschewiki, eines erheblichen Teils der mittleren
Generation, die am Bürgerkrieg teilgenommen hatte, und jenes Teils der Jugend,
der die bolschewistischen Traditionen am ernstesten aufnahm, beweist nicht nur
die politische, sondern durch und durch physische Unvereinbarkeit des
Stalinismus und des Bolschewismus. Wie kann man das nicht sehen?

Stalinismus oder „Staatssozialismus“?

Die Anarchisten ihrerseits
wollen im Stalinismus ein organisches Produkt nicht nur des Bolschewismus und
des Marxismus, sondern des „Staatssozialismus“ überhaupt sehen. Sie sind
einverstanden, die patriarchalische, bakuninsche „Föderation der freien
Gemeinden“ durch eine zeitgemäßere „Föderation der freien Räte“ zu ersetzen.
Aber sie sind nach wie vor gegen den zentralisierten Staat.

In der Tat: der eine Zweig des
„staatlichen“ Marxismus, die Sozialdemokratie, wurde, als sie an die Macht kam,
eine offene Agentur des Kapitals. Der andere erzeugte eine neue privilegierte
Kaste. Es ist klar: Die Quelle des Übels liegt im Staate.

Unter einem breiten historischen
Gesichtswinkel kann man in dieser Überlegung ein Korn Wahrheit finden. Der
Staat als Zwangsapparat ist zweifellos eine Quelle politischer und moralischer
Verseuchung. Das gilt, wie die Erfahrung zeigt, auch für den Arbeiterstaat.

Man kann folglich sagen, der
Stalinismus ist das Produkt eines Zustandes der Gesellschaft, wo diese es noch
nicht vermochte, die Zwangsjacke des Staates abzustreifen. Doch diese These,
die zur Beurteilung des Bolschewismus oder des Marxismus nichts liefert,
kennzeichnet nur den allgemeinen Kulturstand der Menschheit und vor allem das
Kräfteverhältnis zwischen Proletariat und Bourgeoisie.

Nachdem wir uns mit den
Anarchisten darüber geeinigt haben, dass der Staat, sogar der Arbeiterstaat,
ein Erzeugnis der Klassenbarbarei ist, und dass die wahre menschliche
Geschichte mit der Abschaffung des Staates beginnen wird, erhebt sich vor uns
in all ihrer Macht die Frage: Welche Wege und Methoden sind imstande, letzten
Endes zur Abschaffung .des Staates zu führen? Die jüngste Erfahrung bezeugt, dass
es jedenfalls nicht die Methoden des Anarchismus sind.

Die Führer des spanischen
Arbeiterbundes (CNT), der einzigen bedeutenden anarchistischen Organisation auf
der Erde, wurden in der kritischen Stunde bürgerliche Minister. Ihren offenen
Verrat an der Theorie des Anarchismus erklärten sie mit dem Druck
„außerordentlicher Umstände“.

Aber hatten nicht seinerzeit die
Führer der deutschen Sozialdemokratie dasselbe Argument angeführt? Natürlich,
der Bürgerkrieg ist kein friedlicher, kein gewöhnlicher, sondern ein
„außerordentlicher Umstand“. Doch gerade auf diese „außerordentlichen Umstände“
bereitet sich jede ernsthafte revolutionäre Organisation vor.

Die Erfahrung Spaniens bewies
nochmals, dass man in unter „normalen Umständen“ herausgegebenen Büchern den
Staat „verneinen“ kann, dass aber die Bedingungen der Revolution keinen Raum
für die „Verneinung“ des Staates lassen, sondern im Gegenteil die Eroberung des
Staates verlangen.

Wir gedenken den spanischen
Anarchisten durchaus nicht vorzuwerfen, nicht mit einem Federstrich den Staat
liquidiert zu haben. Die revolutionäre Partei ist, selbst wenn sie die Macht
erobert hat (wozu die spanischen Anarchistenführer trotz des Heldentums der
anarchistischen Arbeiter nicht imstande waren) durchaus noch nicht der
allmächtige Herr der Gesellschaft.

Doch umso unerbittlicher klagen
wir die anarchistische Theorie an, die für friedliche Zeiten ganz tauglich
schien, aber auf die man verzichten muss, sobald die „außerordentlichen
Umstände“ … der Revolution eintreten. In der alten Zeit begegnete man
Generälen – wahrscheinlich begegnet man ihnen heute auch noch – die meinten, am
schädlichsten für die Armee sei der Krieg. Kaum besser sind die
„Revolutionäre“, die da klagen, die Revolution zerstöre ihre Doktrin.

Die Marxisten sind sich mit den
Anarchisten bezüglich des Endzieles, der Liquidierung des Staates, vollkommen
einig. Der Marxismus bleibt „staatlich“ nur, soweit die Liquidierung des
Staates nicht vermittels der einfachen Ignorierung des Staates erreicht werden
kann.

Die Erfahrung des Stalinismus
widerlegt nicht die Lehre des Marxismus, sondern bestätigt sie auf umgekehrte
Weise. Die revolutionäre Doktrin, die das Proletariat lehrt, sich in einer Lage
richtig zu orientieren und sie aktiv auszunutzen, enthält selbstverständlich
keine automatische Siegesgarantie. Doch dafür ist der Sieg nur mit Hilfe dieser
Doktrin möglich. Diesen Sieg darf man sich außerdem nicht als einmaligen Akt
vorstellen.

Es gilt, die Frage in der
Perspektive einer großen Epoche zu fassen. Der erste Arbeiterstaat auf
niedriger wirtschaftlicher Grundlage und vom Imperialismus umzingelt –
verwandelt sich in die Gendarmerie des Stalinismus. Doch der wirkliche
Bolschewismus erklärte dieser Gendarmerie den Kampf auf Leben und Tod.

Um sich zu halten, ist der
Stalinismus gezwungen, heute geradezu einen Bürgerkrieg gegen den Bolschewismus
unter dem Namen des „Trotzkismus“ zu führen, nicht nur in der UdSSR, sondern
auch in Spanien. Die alte Bolschewistische Partei ist tot, aber der
Bolschewismus erhebt überall seinen Kopf.

Den Stalinismus aus dem
Bolschewismus oder aus dem Marxismus abzuleiten, ist ganz dasselbe, wie, im
breiteren Sinne, die Konterrevolution aus der Revolution abzuleiten. Nach
dieser Schablone bewegte sich stets das liberalkonservative und später das
reformistische Denken. Die Revolution hat, kraft der Klassenstruktur der
Gesellschaft, stets die Konterrevolution erzeugt.

Beweist das nicht, fragt der
Pharisäer, dass die revolutionäre Methode irgendeinen inneren Fehler hat? Weder
die Liberalen noch die Reformisten haben jedoch bisher „ökonomischere“ Methoden
zu entdecken verstanden.

Aber wenn es auch nicht leicht
ist, die Wirklichkeit des lebendigen historischen Prozesses zu verstehen, so ist
es dagegen nicht schwer, den Wechsel seiner Wellen rationalistisch zu deuten,
logisch den Stalinismus aus dem „Staatssozialismus“, den Faschismus aus dem
Marxismus, die Reaktion aus der Revolution, mit einem Wort, die Antithese aus
der These herzuleiten. Auf diesem Gebiet, wie auf vielen anderen, ist das
anarchistische Denken der Gefangene des liberalen Rationalismus. Das echte
revolutionäre Denken ist unmöglich ohne Dialektik.

Die politischen „Sünden“ des Bolschewismus als Quelle des Stalinismus

Die Argumentation der
Rationalisten nimmt zuweilen, wenigstens äußerlich, konkreteren Charakter an.
Den Stalinismus leiten sie nicht aus dem Bolschewismus in seiner Gesamtheit,
sondern aus seinen politischen Sünden ab. (Einer der deutlichsten Vertreter
dieses Typus des Denkens ist der französische Autor eines Buches über Stalin,
B. Souvarine.) Von den Tatsachen und Dokumenten her stellen Souvarines Arbeiten
eine lange, gewissenhafte Forschung dar.

Jedoch die Geschichtsphilosophie
des Verfassers überrascht durch ihre Vulgarität. Zwecks Erläuterung allen
folgenden historischen Unheils sucht er nach dem Bolschewismus innewohnenden
Fehlern. Der Einfluss der realen Bedingungen des geschichtlichen Prozesses auf
den Bolschewismus existiert für ihn nicht. (Selbst H. Taine mit seiner Theorie
des „Milieus“ stand Marx näher als Souvarine.) Die Bolschewiki – sagen uns
Gorter, Pannekoek, einige deutsche „Spartakisten“ usw. – vertauschen die
Diktatur des Proletariats gegen die Diktatur der Partei, Stalin vertauschte die
Diktatur der Partei gegen die Diktatur der Bürokratie. Die Bolschewiki
vernichteten alle Parteien außer ihrer eigenen, Stalin erstickte die
bolschewistische Partei im Interesse der bonapartistischen Clique.

Die Bolschewiki anerkannten die
Notwendigkeit, an den alten Gewerkschaften und am bürgerlichen Parlament
teilzunehmen. Stalin befreundete sich mit der Gewerkschaftsbürokratie und mit
der bürgerlichen Demokratie. Derlei Gegenüberstellungen kann man nun anführen,
so viel man will. Trotz ihrer äußerlichen Schlagkraft sind sie vollkommen leer.

Das Proletariat kann nicht
anders an die Macht gelangen als in der Person seiner Avantgarde. Schon die
Notwendigkeit einer Staatsmacht entspringt dem ungenügenden Kulturniveau der
Massen und ihrer Verschiedenartigkeit. In der zur Partei organisierten
revolutionären Avantgarde kristallisiert sich das Freiheitsstreben der Massen.
Ohne Vertrauen der Klasse zur Avantgarde, ohne Unterstützung der Avantgarde
durch die Klasse kann von Machteroberung keine Rede sein. In diesem Sinne sind
die proletarische Revolution und die Diktatur Sache der gesamten Klasse, aber
nicht anders als unter der Führung der Avantgarde. Die Sowjets sind nur die
organisierte Form der Verbindung zwischen Avantgarde und Klasse. Dieser Form
einen revolutionären Inhalt geben kann nur die Partei. Das ist durch die
positive Erfahrung der Oktoberrevolution und durch die negative Erfahrung
anderer Länder (Deutschland, Österreich, schließlich Spanien) bewiesen.

Niemand hat praktisch gezeigt
oder auch nur versucht, auf dem Papier zu erklären, wie das Proletariat ohne
politische Führung durch die Partei, die weiß, was sie will, die Macht erobern
könne. Wenn diese Partei die Sowjets politisch ihrer Führung unterwirft, so
ändert diese Tatsache an sich ebenso wenig am Sowjetsystem wie die Herrschaft
der konservativen Mehrheit am System des britischen Parlamentarismus.

Was das Verbot der anderen
Sowjetparteien betrifft, so entsprang es jedenfalls nicht der Theorie des
Bolschewismus, sondern war eine Maßnahme zum Schutz der Diktatur in einem
rückständigen und erschöpften, von allen Seiten von Feinden umgebenen Land. Den
Bolschewiki war von Anfang an klar, dass diese Maßnahme, die später durch das
Verbot von Fraktionen innerhalb der herrschenden Partei selbst ergänzt wurde,
eine gewaltige Gefahr ankündigte. Jedoch die Quelle der Gefahr lag nicht in der
Doktrin oder Taktik, sondern in der materiellen Schwäche der Diktatur, in der
Schwierigkeit der inneren und der Weltlage. Hätte die Revolution auch nur in
Deutschland gesiegt, das Erfordernis, die anderen Sowjetparteien zu verbieten,
wäre sofort hinfällig geworden. Dass die Herrschaft einer einzigen Partei
juristisch zum Ausgangspunkt für das stalinistische totalitäre System diente,
ist ganz unbestreitbar. Aber die Ursache dieser Entwicklung liegt nicht im
Verbot der anderen Parteien als einer zeitweiligen Kriegsmaßnahme, sondern in
der Niederlagenreihe des Proletariats in Europa und Asien.

Dasselbe gilt für den Kampf
gegen den Anarchismus. In der heroischen Epoche der Revolution marschierten die
Bolschewiki mit den wirklich revolutionären Anarchisten Arm in Arm. Der
Verfasser dieser Zeilen erörterte häufig mit Lenin die Frage, ob es nicht
möglich sei, den Anarchisten gewisse Gebietsteile zu überlassen, damit sie im
Einverständnis mit der betreffenden Bevölkerung mit ihrer Staatslosigkeit die
Probe aufs Exempel machen. Doch die Bedingungen des Bürgerkriegs, der Blockade
und des Hungers ließen keinen Raum für derartige Pläne.

Der Kronstädter Aufstand? Aber
die revolutionäre Regierung konnte selbstverständlich nicht den aufständischen
Matrosen eine die Hauptstadt beschirmende Festung „schenken“, nur weil der
reaktionären Bauern- und Soldatenmeuterei sich einige fragwürdige Anarchisten
angeschlossen hatten. Die konkrete historische Analyse der Ereignisse lässt
keinen heilen Fleck an den Legenden, die Unwissenheit und Sentimentalität um
Kronstadt, Machno und andere Episoden der Revolution geflochten haben.

Es bleibt nur die Tatsache, dass
die Bolschewiki von Anfang an nicht nur Überzeugung, sondern auch Zwang
anwandten, häufig von der schärfsten Art. Unbestreitbar ist auch, dass die aus
der Revolution erwachsene Bürokratie darin ein Zwangssystem in ihren Händen
monopolisierte. Jede Entwicklungsetappe, selbst wenn es sich um so
katastrophenartige Etappen handelte wie Revolution und Konterrevolution, ergibt
sich aus der vorhergehenden Etappe, wurzelt in ihr und trägt davon gewisse
Züge.

Die Liberalen, einschließlich
des Paares Webb, behaupten stets, die bolschewistische Diktatur stelle nur eine
Neuausgabe des Zarismus dar. Sie verschlossen dabei die Augen vor solchen
Kleinigkeiten wie der Abschaffung der Monarchie und der Stände, der Übergabe
des Bodens an die Bauern, der Enteignung des Kapitals, der Einführung der
Planwirtschaft, der atheistischen Erziehung usw.

Ganz ebenso verschließt das
liberal-anarchistische Denken die Augen davor, dass die bolschewistische
Revolution mit all ihren Unterdrückungsmaßnamen eine Umwälzung der sozialen
Verhältnisse im Interesse der Massen bedeutete, während Stalins
thermidorianische Umwälzung der Sowjetgesellschaft im Interesse einer
privilegierten Minderheit geschieht. Es ist klar, dass in den Gleichsetzungen
des Stalinismus mit dem Bolschewismus nicht die Spur eines sozialistischen
Kriteriums enthalten ist.

Fragen der Theorie

Einer der wichtigsten Züge des
Bolschewismus ist sein strenges und anspruchsvolles, ja kämpferisches Verhalten
zu Fragen der Doktrin. Lenins 26 Bände werden auf immerdar ein Muster höchster
theoretischer Gewissenhaftigkeit bleiben. Ohne diese seine Grundeigenschaft
würde der Bolschewismus nie seine historische Rolle erfüllt haben.

Das direkte Gegenteil davon ist
auch in dieser Beziehung der grobe und ungebildete, durch und durch empirische
Stalinismus. Bereits vor mehr als zehn Jahren erklärte die Opposition in ihrer
Plattform: „Seit Lenins Tod wurde eine ganze Reihe neuer Theorien geschaffen,
deren einziger Sinn ist, theoretisch das Abgleiten der Stalingruppe vom Wege
der internationalen proletarischen Revolution zu rechtfertigen.“

Vor einigen Tagen erst schrieb
der amerikanische Sozialist Liston M. Oak, der an der spanischen Revolution
teilgenommen hat: „In Wirklichkeit sind die Stalinisten jetzt die äußersten
Revisionisten Marx und Lenins – Bernstein hat auch nicht halb so weit zu gehen
gewagt wie Stalin in der Revision von Marx.“

Das ist ganz richtig. Man muss
nur hinzufügen, dass Bernstein wirklich theoretische Bedürfnisse hatte: Er
versuchte redlich, die reformistische Praxis der Sozialdemokratie mit ihrem
Programm in Einklang zu bringen. Die Stalinbürokratie aber hat nicht nur nichts
mit dem Marxismus gemein, sondern ihr ist überhaupt jegliche Doktrin oder
jegliches System fremd.

Ihre „Ideologie“ ist ganz und
gar von einem Polizeisubjektivismus durchdrungen, ihre Praxis vom Empirismus
der nackten Gewalt. Dem eigentlichen Wesen ihrer Interessen gemäß ist die
Usurpatorenkaste ein Feind der Theorie. Sie kann weder vor sich noch anderen
ihre soziale Rolle verantworten. Stalin revidiert Marx und Lenin nicht mit der
Feder der Theoretiker, sondern mit den Stiefeln der GPU.

Fragen der Moral

Über die „Amoral“ des
Bolschewismus beschweren sich gewöhnlich besonders die hochnäsigen Nullitäten,
denen der Bolschewismus die billigen Masken abgerissen hat. Kleinbürger,
Intellektuelle, demokratische, „sozialistische“, literarische, parlamentarische
und andere Kreise haben ihre konventionelle Werte oder ihre konventionelle
Sprache zwecks Verbergung des Fehlens jeglicher Werte.

Diese breite und buntscheckige Gesellschaft
für gegenseitiges In-Schutz-Nehmen – „leben und leben lassen!“ – verträgt ganz
und gar nicht die Berührung der marxistischen Lanzette auf ihrer empfindlichen
Haut. Die zwischen den verschiedenen Lagern hin- und herpendelnden Theoretiker,
Schriftsteller und Moralisten waren und sind der Meinung, dass die Bolschewiki
absichtlich die Meinungsverschiedenheiten übertreiben, zu loyaler
Zusammenarbeit außerstande sind und durch ihre Intrigen die Einheit der
Arbeiterbewegung stören.

Dem empfindlichen und
übelnehmenden Zentristen schien es vor allem immer, dass die Bolschewiki ihn
„verleumden“ – nur weil sie seine eigenen halben Gedanken bis zu Ende führten:
Er selbst ist dazu ganz unfähig. Indessen ist nur diese kostbare Eigenschaft,
nämlich Unduldsamkeit gegen jede Halbheit und jedes Ausweichen imstande, die
revolutionäre Partei zu erziehen, die sich von keinen „außerordentlichen“
Umständen überrumpeln lässt.

Die Moral einer jeden Partei
entspringt letzten Endes aus den historischen Interessen, die sie vertritt. Die
Moral des Bolschewismus, die Selbstverleugnung, Uneigennutz, Mut, Verachtung
für allen Flitter und Trug – die besten Eigenschaften der menschlichen Natur! –
enthält, entspringt aus der revolutionären Unversöhnlichkeit im Dienste der
Unterdrückten. Die Stalinbürokratie imitiert auch auf diesem Gebiet die Worte
und Gesten des Bolschewismus.

Wo aber „Unversöhnlichkeit“ und
„Unbeugsamkeit“ mit dem Polizeiapparat verwirklicht werden, der im Dienste
einer privilegierten Minderheit steht, dort werden sie zu einer Quelle der
Demoralisierung und des Gangstertums. Nicht anders als mit Verachtung kann man
die Herren behandeln, die den revolutionären Heroismus der Bolschewiki mit dem
bürokratischen Zynismus der Thermidorianer gleichsetzen.

Und auch heute noch zieht es,
trotz der dramatischen Tatsachen der letzten Periode, der Durchschnittsspießer
vor zu meinen, im Kampfe zwischen dem Bolschewismus („Trotzkismus“) und dem
Stalinismus handle es sich um Zusammenstöße persönlicher Ambitionen oder
bestenfalls um den Kampf zweier „Schattierungen“ des Bolschewismus.

Den gröbsten Ausdruck verlieh
dieser Ansicht Norman Thomas, der Führer der amerikanischen Sozialistischen
Partei. „Es gibt wenig Grund, zu glauben“, schreibt er („Socialist
Review“, Sept. 1937, S. 6), „dass wenn Trotzki statt Stalin
gewonnen (!) hätte, es mit den Intrigen, Verschwörungen und dem
Schreckensregime in Russland zu Ende wäre.“ Und dieser Mensch hält sich für
einen Marxisten.

Mit demselben Recht könnte man
sagen: „Es gibt wenig Grund, zu glauben, dass, wenn statt Pius, der XI., Norman,
der I., auf den römischen Stuhl erhoben worden wäre, die katholische Kirche
sich in ein Bollwerk des Sozialismus verwandelt haben würde.“ Thomas begreift
nicht, dass es sich nicht um ein Match zwischen Stalin und Trotzki, sondern um
den Antagonismus zwischen Bürokratie und Proletariat handelt.

Allerdings ist in der UdSSR die
herrschende Schicht auch heute noch gezwungen, sich dem nicht vollkommen
liquidierten Erbe der Revolution anzupassen, dabei gleichzeitig durch direkten
Bürgerkrieg (blutige Säuberungen, Massenausrottungen der Unzufriedenen) einen
Wechsel des sozialen Regimes vorbereitend. Aber in Spanien tritt die
Stalinclique bereits heute offen als Schutzwehr der bürgerlichen Ordnung gegen
den Sozialismus auf. Der Kampf gegen die bonapartistische Bürokratie verwandelt
sich vor unseren Augen in Klassenkampf: zwei Welten, zwei Programme, zweierlei
Moral.

Wenn Thomas glaubt, der Sieg des
sozialistischen Proletariats über die niederträchtige Vergewaltigerkaste werde
das Sowjetregime nicht politisch und moralisch regenerieren, so zeigt er damit
nur, dass er trotz all seinen Vorbehalten, Schweifwedeleien und frommen
Seufzern der Stalinbürokratie viel näher steht als den Arbeitern. Wie alle
anderen, die den Bolschewismus der „Amoral“ zeihen, hat sich Thomas einfach nicht
bis zur revolutionären Moral erhoben.

Die Tradition des Bolschewismus und die Vierte Internationale

Für die „Linken“, die den
Versuch machten, zum Marxismus unter Umgehung des Bolschewismus
„zurückzukehren“, lief die Sache gewöhnlich auf einzelne Allheilmittel hinaus:
Boykott der alten Gewerkschaften, Boykott des Parlaments, Schaffung „echter“
Sowjets. All das konnte im Fieber der ersten Tage nach dem Krieg
außerordentlich tief erscheinen. Aber heute, im Lichte der gemachten Erfahrung,
haben diese Kinderkrankheiten sogar als Kuriosa ihr Interesse verloren.

Die Holländer Gorter und
Pannekoek, einige deutsche „Spartakisten“, die italienischen Bordigisten
erklärten sich unabhängig vom Bolschewismus nur, weil sie einen seiner Züge
künstlich übertrieben seinen anderen Zügen gegenüberstellten. Von diesen
„linken“ Tendenzen blieb nichts übrig, weder praktisch noch theoretisch: ein
indirekter, aber wichtiger Beweis dafür, dass der Bolschewismus für unsere
Epoche die einzige Form des Marxismus ist.

Die bolschewistische Partei
bewies in der Tat eine Paarung höchster revolutionärer Kühnheit mit politischem
Realismus. Sie stellte zum ersten Mal das Verhältnis zwischen Avantgarde und
Klasse her, das allein den Sieg zu sichern vermag. Sie zeigte in der Erfahrung,
dass das Bündnis des Proletariats mit den unterdrückten Massen des ländlichen
und städtischen Kleinbürgertums nur möglich ist durch den politischen Sturz der
traditionellen Parteien des Kleinbürgertums. Die bolschewistische Partei zeigte
der gesamten Welt, wie man einen bewaffneten Aufstand durchführt und die Macht
ergreift.

Die da der Parteidiktatur eine
Abstraktion von Sowjets gegenüberstellen, sollten begreifen, dass die Sowjets
nur dank der Führung der Bolschewiki sich aus dem reformistischen Sumpf auf das
Niveau einer Staatsform des Proletariats erhoben. Die bolschewistische Partei
verwirklichte eine richtige Paarung der Kriegskunst mit marxistischer Politik
im Bürgerkrieg.

Selbst wenn es der
Stalinbürokratie gelänge, die wirtschaftlichen Grundlagen der neuen
Gesellschaft zu zerstören, die unter Führung der bolschewistischen Partei
gemachte Planwirtschaftserfahrung wird für immer in die Geschichte eingehen als
eine der größten Schulen für die gesamte Menschheit. All das können nur
Sektierer nicht sehen, die, gekränkt über die erhaltenen blauen Flecke, dem
historischen Prozess den Rücken kehren.

Doch das ist nicht alles. Die
bolschewistische Partei konnte ein so grandioses „praktisches“ Werk nur deshalb
leisten, weil sie jeden ihrer Schritte mit der Theorie beleuchtete. Der
Bolschewismus hat diese nicht geschaffen. Der Marxismus gab sie. Aber der
Marxismus ist eine Theorie der Bewegung, nicht des Stillstands. Nur Aktionen
grandiosen geschichtlichen Ausmaßes konnten die Theorie selbst bereichern.

Der Bolschewismus lieferte einen
wertvollen Beitrag zum Marxismus durch seine Analyse der imperialistischen
Epoche als einer Epoche von Kriegen und Revolutionen; der bürgerlichen
Demokratie in der Epoche des faulenden Kapitalismus; des Verhältnisses zwischen
Generalstreik und Aufstand; der Rolle der Partei, der Sowjets und der
Gewerkschaften in der Epoche der proletarischen Revolution; durch seine Theorie
des Sowjetstaates, der Übergangswirtschaft, des Faschismus und Bonapartismus in
der Epoche des kapitalistischen Verfalls; schließlich durch die Analyse der
Bedingungen für die Entartung der bolschewistischen Partei und des
Sowjetstaates selber.

Möge man eine andere Stimme
nennen, die den Schlussfolgerungen und Verallgemeinerungen des Bolschewismus
etwas Wesentliches hinzuzufügen hätte. Vandervelde, de Brouckère, Hilferding,
Otto Bauer, Leon Blum, Zyromski, von Major Attlee und Norman Thomas gar nicht
zu reden, leben theoretisch von den abgestandenen Resten der Vergangenheit. Die
Entartung der Komintern kommt am deutlichsten darin zum Ausdruck, dass sie
theoretisch auf das Niveau der II. Internationale herabgerutscht ist. Alle Arten
von Zwischengruppen (die Unabhängige Arbeiterpartei Großbritanniens, die POUM
und dergleichen) passen jede Woche neue zufällige Auszüge von Marx und Lenin
ihren jeweiligen Bedürfnissen an. Von diesen Leuten können die Arbeiter nichts
lernen.

Ernstes Verhalten zur Theorie,
zusammen mit der gesamten Tradition Marx’ und Lenins, haben sich nur die
Erbauer der Vierten Internationale zu eigen gemacht. Mögen die Spießer darüber
lächeln, dass zwei Jahrzehnte nach dem Oktobersieg die Revolutionäre wieder auf
die Position bescheidener propagandistischer Vorbereitung zurückgeworfen sind.

Das Großkapital ist in dieser
Frage wie in anderen viel scharfsichtiger als die kleinbürgerlichen Spießer,
die sich für Sozialisten oder Kommunisten ausgeben: Nicht von ungefähr
verschwindet das Thema der Vierten Internationale nicht aus den Spalten der
Weltpresse. Das brennende historische Bedürfnis nach einer revolutionären Führung
verspricht der IV. Internationale ein außergewöhnlich schnelles Wachstumstempo.
Die wichtigste Garantie ihrer künftigen Erfolge ist der Umstand, dass sie nicht
abseits vom großen historischen Weg entstand, sondern organisch aus dem
Bolschewismus erwuchs.