Erklärung der VKG zur Bilanz der großen Tarifrunden

Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften, 19. Januar 2024, Neue Internationale 280, Februar 2024

Reallohnverlust trotz Kampfkraft und Mobilisierung – Die Lehren für kämpferische Gewerkschafter:innen

Die Tarifergebnisse seit Herbst 22 sind für alle großen Branchen sehr ähnlich. Als Gewerkschafter:innen müssen wir uns fragen, ob das Zufall ist. Wir müssen den Blick über den Tellerrand unserer Branche heben. Wir müssen uns fragen, ob die gewohnte Beurteilung von Tarifergebnissen so noch taugt.

Tarifforderungen orientieren sich immer hauptsächlich an der Inflation, in den Industriegewerkschaften auch an der Produktivitätssteigerung. Das Ergebnis wird daran gemessen, wie viele der Forderungen erfüllt worden sind. Innerhalb der jeweiligen Gewerkschaften geht es immer darum, ob mehr drin gewesen wäre. Von Seiten der kämpferischen Belegschaften und Mitglieder, genauso von der Gewerkschaftslinken gibt es seit Jahrzehnten die wiederkehrende Kritik, dass mehr hätte erreichen werden können, dass die Kampfkraft nicht ausgeschöpft worden sei.

Die übliche Argumentation der Tarifverantwortlichen und der Sekretär:innen war stets, dass nicht genug gekämpft worden sei, entweder von den Kritiker:innen oder von anderen Teilen der Mitgliedschaft oder auch von anderen Teilen des Gewerkschaftsapparates, der nicht so toll ist wie man selber. Letztlich gingen die Debatten immer darum, ob die fehlende Kampfkraft Schuld des Apparats oder der Kolleg:innen war.

Diese Art der Ergebnisdiskussion, die von allen Seiten die Frage der Kampfkraft ins Zentrum stellt, ist uns allen in Fleisch und Blut übergegangen, ja sie war im Grunde ein Teil des Tarifrituals geworden. Nach den letzten Tarifrunden müssen wir uns selbst eingestehen, dass wir als kämpferische Kolleg:innen oder als Gewerkschaftslinke darüber hinausgehen müssen, denn diese Tarifrunden waren einfach etwas anders.

Keine Diskussion der Forderungen …

Es gibt seit Jahren eine Entwicklung in den DGB-Gewerkschaften, dass die Basis aus dem Prozess der Forderungsdiskussion und -aufstellung herausgedrückt wird. Bei der IGM durften zum Beispiel  nur vorgegebene  Forderungsniveaus angekreuzt werden, wobei 8 % das Höchstmögliche war – zu dieser Zeit war das gerade die aktuelle Inflationsrate. Die Zeiten, als einfach jeder Vertrauensleutekörper seine Forderungen auf einer örtlichen Funktionärskonferenz präsentieren und diskutieren konnte, sind lange vorbei.

Beim TV-L wurde diesmal eine neue Qualität erreicht. In GEW und ver.di wurden Diskussionen über die Forderungen zugunsten einer „Befragung“ abgesagt/verhindert (??).  Die dann von der Führung aufgestellte Forderung wurde in dieser Befragung nicht erwähnt, dann aber als „deren Ergebnis“ verkündet.

Eine solche Art von gesteuerter „Diskussion“ erlaubte es der Führung, eine Forderung aufzustellen, die sie offensichtlich von vornherein beabsichtigt hatte. Warum aber haben die Spitzenbürokrat:innen nicht im Vorfeld offen für diese geworben? Die Argumente, mit denen sie diese Forderung rechtfertigten, hätten sie auch schon 2 Monate zuvor in einer demokratischen Debatte innerhalb der Gewerkschaften vorbringen können, nämlich dass der öffentliche Dienst doch eine Gemeinschaft sei, egal ob Bund, Länder oder Kommunen, dass die wirtschaftliche Lage ähnlich, die Inflation vielleicht sogar etwas zurückgegangen sei. Ganz offensichtlich sollte nicht nur genau diese Forderung durchgedrückt, sondern auch eine innergewerkschaftliche Debatte vermieden werden. [i]

Ergebnis abseits der Forderungen …

In den meisten anderen Branchen war das anders. Trotz aller Bemühungen der Führung, die Forderungen niedrig zu halten, hatte es bei Metall und Elektro, bei der Post, der Bahn oder dem TVöD eine lebhafte Debatte gegeben, angeheizt von der Inflation, den fetten Gewinnen in vielen Bereichen und den miesen Abschlüssen in den Jahren davor. Teilweise wurden die Forderungen sogar höher gedrückt. Aber im Rückblick war das vergeblich, denn offensichtlich waren für die Ergebnisse diese Forderungen nicht maßgebend.

Branche Gewerkschaft Laufzeit gefor-dert Laufzeit verein-bart 1. Tab.-Erhöh. nach x Monaten Einmal-zahlungen steuer- +abgabenfrei Tab.-Erhöhung Warnstreik, Streik , usw
Chemische Industrie IG BCE   27 14 1.500+1.500 3,25 %+3,25 % Fehlanzeige
Metall- und Elektroind. IG Metall 12 24 8 1.500+1.500 5,2 %+3 3 % Ca. 900.000 in Warnstreiks
Post Ver.di 12 24 14 In Summe 3.000 4,7 % 85,9 % für Streik in Urabstimmung, kein Streik
TVöD Ver.di 12 24 14 1.240+8*220 200+5,5 %(min 340 Euro) Starke Warnstreiks
Bahn EVG 12 25 9 2.850 200+210 2 halbe Tage Warnstreik Schlichtung 48 % gegen Schlichterspruch
TV-Länder Ver.di, GEW,.. 12 25 12 1.800+10*120 200+5,5 % Durchschnittlich 3 Tage Warnstreiks
Stahlindustrie IG Metall 12 22 14 1.500+10*150 5,5 % 18.000 in Warnstreiks, 30.000 in Tagesstreiks

Es ist nichts Neues, dass die Ergebnisse immer weniger mit den jeweiligen Forderungen vergleichbar sind. Andere Laufzeiten, die Vermengung von Festbeträgen, prozentualer Steigerung, Einmalzahlungen, Besserstellung einzelner Beschäftigtengruppen oder neue Sonderzahlungen wie bei der IGM haben einer Diskussion in der Mitgliedschaft schon die Grundlage weitgehend entzogen, die Ergebnisse mit den Forderungen wirklich zu vergleichen.

Die steuer- und abgabenfreien Einmalzahlungen („Inflationsausgleichsprämie“) als bestimmendes Element für das jeweils erste Jahr der Tariflaufzeit bringen noch eine neue Qualität hinzu: Sie wirken sich für jede/n individuell unterschiedlich aus.

Die Tatsache, dass aber in keiner Tarifrunde diese Einmalzahlungen gefordert oder bei der Forderungsaufstellung diskutiert wurden, obwohl gerade bei den Beschäftigten der Länder ja mit der Übernahme der Forderung von Bund+Kommunen klar war, dass die Übernahme des Ergebnisses angestrebt wird, zeigt noch mal mehr die tiefsitzende Verachtung der Gewerkschaftsführung für innergewerkschaftliche Demokratie.

Kampfkraft spielt offensichtlich keine Rolle

Aber nicht nur die Forderungsaufstellung hatte wenig Einfluss auf die Ergebnisse, auch der Verlauf der jeweiligen Tarifrunde. Ein Überblick über die großen Tarifrunden zeigt, dass sich die Ergebnisse sehr ähnlich sind, der Verlauf der Tarifrunden aber extrem unterschiedlich. Zum Zweiten enthalten alle steuer- und abgabenfreie Einmalzahlungen, meist in Summe von 3.000 Euro, etwas, was in keiner einzigen Tarifforderung auch nur ansatzweise aufgetaucht war. Drittens haben alle mit erheblich längerer Laufzeit als gefordert abgeschlossen.

Die Tarifkämpfe, in denen, für sich betrachtet, die gezeigte und entwickelbare Kampfkraft am wenigsten genutzt wurde, um einen Reallohnverlust zu verhindern, waren Metall- und Elektroindustrie, Post, TVöD, Bahn(EVG) und Stahlindustrie.

Die Tarifrunde TV-L, die erst im Herbst 2023 abgewickelt wurde, war also nicht diejenige, in der die Mobilisierung der Beschäftigten am krassesten einem schlechten Ergebnis gegenüberstand. Der TV-Länder leidet nach wie vor daran, dass die Belegschaften in den Flächenländern schlecht organisiert bzw. verbeamtet sind, im Unterschied zu den Stadtstaaten. Aber aus ihrem ganzen Verlauf wurde klar, dass sie nach dem Willen der Gewerkschaftsführung genau zu diesem Ergebnis führen sollte, das abgeschlossen wurde: Auf die Unterdrückung der Forderungsdiskussion folgte die diktierte Übernahme der Forderung für den TVöD, dann die Übernahme desselben Ergebnisses, bis auf 25 statt 24 Monate Laufzeit.

Mehr Kampfkraft alleine hätte also dieses Ergebnis nicht verbessert, sondern nur schneller erreicht; Mit weniger Kampfkraft wäre vielleicht noch eine Runde Warnstreiks mehr nötig gewesen. Es reicht also nicht, wenn wir weiter über Kampfkraft und ihre Entwicklung reden, ohne zu verstehen, warum und wie dieser offensichtliche Zielkorridor für die Tarifergebnisse zustande kam und welche Konsequenzen wir daraus ziehen müssen.

Konzertierte Aktion

Die Erklärung für den besonderen Verlauf der Tarifrunden finden wir in der Konzertierten Aktion, einem Treffen von Regierung, Arbeit„geber“:innen-Verbänden und Gewerkschaftsspitzen. Von 1967 bis 1977 fanden auf der Basis des „Stabilitätsgesetzes“ regelmäßig entsprechende Treffen statt. Im Sommer 2022 wurde das Modell wieder aus dem Hut gezaubert. Eigentlich hatten diese Treffen keine Regeln, sie sind freiwillig. Aber wer hingeht und selbst Vorschläge macht, macht dann auch beim Gesamtpaket mit. In mehreren Paketen wurden im Sommer und Herbst alle möglichen Entlastungen für die verschiedensten Teile der Bevölkerung vereinbart, die dann z. B. von der Regierung umgesetzt wurden. Was die Kapitalvertreter:innen forderten, kann man sich leicht vorstellen – das, was sie eh ständig und laut für sich reklamieren. Ob sie sich zu irgendwas verpflichteten, bleibt unklar. Auf jeden Fall bekamen sie etwas geschenkt, nämlich die Möglichkeit, jedem/r Beschäftigten 3.000 Euro steuer- und abgabenfrei als Inflationsausgleich zu zahlen – statt diesen die dringend nötigen und von diesen stark eingeforderten Lohn- und Gehaltserhöhungen zuzugestehen.

Die Gewerkschaftsspitzen haben das nicht nur zugelassen, sondern pro-aktiv unterstützt. Es gibt sogar Gerüchte aus der IG BCE, dass diese Idee von Seiten der IG Metall und IG BCE eingebracht worden sei. Auf jeden Fall war das erklärte Ziel der Konzertierten Aktion (K. A.), die „Inflation zu bekämpfen“, was für Kapital und Regierung nie heißt, die Preiserhöhungen zurückzunehmen. Schon gar nicht 2021 – 2022, wo in kurzer Zeit die Preise, vor allem die Verbraucherpreise hochschnellten und das, nachdem die Gewerkschaften schon in der Coronakrise praktisch keine Lohnerhöhungen hatten durchsetzen können.

Dennoch haben sich die Gewerkschaftsspitzen dieser Logik der K. A. unterworfen. Für ein angebliches Gesamtinteresse des Landes wurden ganz offensichtlich durchgehend flächendeckende Reallohnverluste vereinbart. Das ist eine Verschärfung der üblichen Sozialpartner:innenschaft, die sich vor allem in Unterordnung unter bestimmte Branchenbedingungen, unter konjunkturelle Erscheinungen oder unter die Krisen einzelner Betriebe zeigt. Das ist mehr als die gewohnte Zurückhaltung im Kampf, das war die geplante Akzeptanz und Umsetzung eines nationalen Krisenprogramms, das voll zugunsten der herrschenden Klasse geht:

  • Ökonomisch, denn sie konnten ihre Gewinne sichern, z. T. beispielsweise in der Autoindustrie auf neue Rekordhöhen steigern;

  • politisch, weil es eine notwendige Antwort der Klasse auf die verbundenen Angriffe auf sie verhinderte: eine Bewegung gegen die Inflation, die Sozialkürzungen und gegen die Aufrüstung.

Dieses Ausbleiben einer solchen Bewegung ist letztlich der Grund für die massive Rechtswende in der Gesellschaft und auch in großen Teilen der Arbeiter:innenklasse. Statt Konzertierter Aktion hätte es eine von den Gewerkschaften angeführte Bewegung für „Brot, Heizung, Frieden“ geben müssen, um den Namen eines kleinen Versuches in diese Richtung zu benutzen.

Letztlich müssen wir davon ausgehen, dass es für Regierung und Kapital bei der K. A. nicht nur um die Inflation ging, sondern darum, die Gewerkschaften in das Programm einzubinden, Deutschland in der globalen Konkurrenz mit den anderen Großmächten USA, Russland, China usw. neu und aggressiver aufzustellen, aufzurüsten und Kriege vorzubereiten. Ob sie das wollten oder nicht, die Gewerkschaften sind da mit reingezogen worden.

Die Mogelpackung

Das Instrument für dieses Manöver war die steuer- und abgabenfreie Sonderzahlung. Die Regierung hat legalisiert, was normalerweise als Steuerhinterziehung und Sozialversicherungsbetrug schwer bestraft wird. Die Bosse haben sich gefreut. Die Gewerkschaften haben den Deal mitgemacht: Reallohnverzicht und Streikvermeidung für eine Einmalzahlung, die kurzfristig eine Geldklemme löst, aber nicht in tarifliche Sonderzahlungen (Urlaubs- und Weihnachtsgeld) eingeht, zukünftige Renten mindert, die Finanznot des Gesundheitswesens verschärft und von Menschen, die in der Folge Arbeitslosen-, Eltern- oder Krankengeld beziehen, zu 60 bzw 66 % zurückgezahlt wird.

Die Komplizenschaft der Gewerkschaftsspitzen wird deutlich daran, dass es kein einziges Stück Text gibt, das sich mit den Folgen dieser Zahlung auseinandersetzt.

Unter den halbkritischen Funktionär:innen gibt es schon ein paar kritische Bemerkungen dazu, die aber mit der Aussage, dass diese Zahlung „obendrauf“, also zusätzlich zu einer Tabellenerhöhung okay gewesen wäre, relativiert wurden. Diese Ansicht ist eine bewusste oder unbewusste Verschleierung der Realität. Diese Zahlung war nur für eine bestimmte Zeit zulässig und nur für einen bestimmten politischen Zweck gedacht. Niemand konnte bislang in irgendeiner Tarifrunde herkommen und vollen Ausgleich der Inflation in den Tabellen und dann noch steuerfreie Sonderzahlungen „obendrauf“ verlangen und niemand wird es zukünftig tun können. Die Gewerkschaften konnten auch nicht bei diesen Tarifrunden „obendrauf“ vereinbaren, weil sie dem Gesamtpaket zur Eindämmung der Inflation zugestimmt haben. Die steuer- und abgabenfreie Sonderzahlung ist nicht irgendein materieller/ökonomischer optionaler Baustein, sondern war das Schmierfett für eine politische Weichenstellung für eine noch engere Form der Sozialpartner:innenschaft, der direkten Unterwerfung unter das Kriegs- und Krisenprogramm der deutschen Bourgeoisie.

Unsere Antwort

Wir haben als VKG die Konzertierte Aktion kritisiert, aber wir haben ihre politische Bedeutung unterschätzt. Spätestens in der Metalltarifrunde war klar, wie das Strickmuster aussehen würde, und in dieser Runde haben wir das auch thematisiert. Ab diesem Zeitpunkt hätten wir eine Kampagne über alle Branchen gebraucht unter dem Slogan: Tabelle statt Mogelpackung Einmalzahlung! Absage an die Konzertierte Aktion und ihre Ergebnisse! Verbunden mit einer breiten Aufklärungskampagne über die finanziellen Auswirkungen und Anträgen, Unterschriftensammlungen etc. gegen die Mogelpackung und für die Aufkündigung der Konzertierten Aktion. Wir hätten klarmachen müssen, dass eine erfolgreiche Tarifrunde nur möglich wird, wenn der Rahmen der K. A. durchbrochen wird. Sozialpartner:innenschaft hat einen sehr konkreten Inhalt gehabt und sehr konkrete Form angenommen. Sie war nicht ganz die Dimension der Zustimmung zur Agenda 2010, die uns einen massiven Niedriglohnsektor, Hartz IV/Bürgergeld und eine endlose Zersplitterung der Tariflandschaft beschert hat, aber eine deutliche Steigerung über das übliche Niveau der Konfliktvermeidung und Klassenkollaboration. Wir hätten sie viel konkreter bekämpfen können und müssen.

Das wäre zugleich eine gute Gelegenheit für uns als VKG gewesen, diese Vermittlung der Erfahrungen aus der Chemie- und Metallindustrie für die anderen Branchen zu leisten. Auch wenn das manche Kolleg:innen anfangs schockiert hätte, hätten wir mit der Voraussage, auf welcher Schiene die Niederlagen organisiert werden würden, uns viel Vertrauen einbringen können.

Auch in Zukunft müssen wir uns mit einer Tarifpolitik auseinandersetzen, die nicht nach den Strickmustern des überholten Tarifrituals – mehr Mobi bringt mehr Ergebnis – funktioniert, sondern politisch determiniert wird. Das kann andere konkrete Schritte gehen, aber die Fragen der innergewerkschaftlichen Demokratie und die konkreten Abläufe werden auf jeden Fall eine Rolle spielen.

Wir müssen schon zu Beginn die Erfahrungen aufnehmen und klarstellen:

  • Forderungsaufstellung ohne Vorgaben von oben durch demokratische Debatte unter Kontrolle der Mitglieder, Vertrauensleute und Betriebsgruppen.

  • Demokratische Wahl der Tarifkommissionen. Stimmberechtigung nur für diejenigen, die dem Tarifvertrag unterworfen sind – also nicht für Hauptamtliche.

  • Keine Verschwiegenheits-, sondern Rechenschaftspflicht. Jederzeitige Abwahl durch die Gewerkschaftsmitglieder des entsprechenden Bereiches.

  • Öffentliche Verhandlungen.

  • Beim Auftauchen von Themen, die nicht Bestandteil der beschlossenen Forderungspakete waren, erneute Diskussion von unten nach oben, ob das als Thema überhaupt zugelassen wird.

  • Demokratische Wahl von Aktions- und Streikkomitees.

  • Vollständige Veröffentlichung der Verhandlungsergebnisse vor der Beratung und Urabstimmung.

  • Ersatzlose Kündigung von Schlichtungsvereinbarungen, so vorhanden.

Diese Forderungen zur Demokratisierung der Tarifbewegungen sind nicht alle neu, aber das verschärft undemokratische Vorgehen der Gewerkschaftsführungen rückt sie für die Zukunft mehr ins Zentrum.

Aber entscheidend für den Erfolg in zukünftigen Tarifrunden wird sein, dass die politischen Ziele ge- und erklärt werden müssen. Wir werden niemandem/r Ultimaten stellen und verlangen, dass man gegen den Krieg sein müsse, um in der Tarifrunde richtig kämpfen zu können. Aber wir müssen mit aller Deutlichkeit erklären, dass wir diese Tarifrunden verlieren sollen, damit die Steuerentlastungen und Subventionen für das Kapital und die Aufrüstung der Bundeswehr finanziert werden können.

Wir wenden uns mit dieser Bilanz an alle, die sich mit Ergebnissen und Abläufen der letzten Tarifrunden und dem Geld, der Kampfkraft und der Motivation, die dabei geopfert wurden, nicht zufriedengeben wollen. Diskutiert mit uns, macht mit beim Aufbau einer Vernetzung von kämpferischen Kolleginnen und Kollegen! Nach der Tarifrunde ist vor der Tarifrunde, wir müssen sie vorbereitet angehen!

Anmerkung

[i] Diese rigide Politik bezüglich der Aufstellung der Forderung und der Durchsetzung des Ergebnisses steht bei ver.di durchaus einer offeneren Gestaltung der Tarifrunden gegenüber: Die Einrichtung von „Tarifbotschafter:innen“ und „Arbeitsstreiks“ erlaubt der Basis mehr Gestaltung bei der Durchführung von Aktionen. Das ist an sich positiv und wird auch von vielen Aktivist:innen so wahrgenommen. Aber gerade der krass undemokratische Gesamtrahmen zeigt, dass die Führung hier offensichtlich nur eine Spielwiese für Aktivist:innen und linke Gewerkschaftssekretär:innen aufmachen wollte oder auf Druck von unten aufmachen musste.




USA: Automobilarbeiter:innen gegen die 3 Autoriesen

Andy Yorke, Infomail 1234, 16. Oktober 2023

Am 14. September 2023 liefen die Vertragsverhandlungen zwischen der Gewerkschaft der Vereinigten Automobilarbeiter:innen (UAW) und den traditionellen großen drei amerikanischen Automobilherstellern (General Motors, Stellantis und Ford Motor Company) aus. Dreizehntausend Arbeiter:innen aus drei großen Fabriken, jeweils eine von den Großen Drei, legten die Arbeit nieder – das GM-Montagewerk in Wentzville, Missouri, das Ford-Montagewerk in Michigan außerhalb der alten „Motor City“ Detroit und der Montagekomplex von Stellantis in Toledo (Ohio) wurden bestreikt. Am 22. September schlossen sich weitere 5.600 Beschäftigte in 38 Vertriebszentren für Ersatzteile von Stellantis und General Motors in 20 Bundesstaaten an.

UAW-Präsident Shawn Fain, der sein Amt im März dieses Jahres antrat, schwor den Beschäftigten, dass „die UAW vor keinem Kampf zurückschreckt und wir bereit sind, alles zu tun, was nötig ist, um mit allen Mitteln für Gerechtigkeit zu sorgen“. Bei den auf Bundesebene angeordneten Direktwahlen kam eine von Fains Reformbewegung UAW Members United unterstützte Liste in den ersten demokratischen Wahlen seit Jahrzehnten an die Spitze und verdrängte den früheren Präsidenten Ray Curry und die alte korrupte Führung, die den Kampf der Automobilarbeiter:innen im Laufe der Jahrzehnte wiederholt verraten (oder unter Wert verkauft) hatte.

Die Kehrtwende in der Streikstrategie beweist, wie stark die Gewerkschaftsbürokratie den Kampf behindern und dass selbst eine begrenzte Demokratisierung dazu beitragen kann, den Gewerkschaften die Hände zu befreien. Um den Kampf aufrechtzuerhalten, müssen die Arbeiter:innen jedoch sicherstellen, dass diese Demokratisierung viel weiter und tiefer geht.

Lage in der US-Autoindustrie

Die Situation in der US-Automobilindustrie ist eine bekannte Geschichte. In den zehn Jahren von 2013 – 2022 haben sich die Gewinne der Großen Drei auf 250 Milliarden US-Dollar summiert, rund doppelt so viel wie in den 10 Jahren zuvor. Die Bosse sagen, dass sie es sich nicht leisten können, den Arbeiter:innen eine Lohnerhöhung von 40 % zu geben, weil sie massiv in den Übergang zu Elektrofahrzeugen investieren müssen. Aber das hat sie nicht davon abgehalten, fast ein Drittel ihres Gewinns als Dividenden für reiche Aktionär:innen, Aktienrückkäufe für Wall-Street-Investor:innen und millionenschwere Jahresgehälter für die Vorstandsvorsitzenden auszuschütten.

Die Gehälter der Vorstandsvorsitzenden der Großen Drei stiegen zwischen 2013 und 2022 um 40 %. Letztes Jahr verdiente GM-Chefin Mary Barra fast 29 Millionen US-Dollar, das 362-fache eines/r typischen GM-Arbeiter:in. Ford-Boss Jim Farley erhielt insgesamt 21 Millionen US-Dollar und Stellantis-Chef Carlos Tavares 24,8 Millionen US-Dollar, also das 281- bzw. 365-Fache des entsprechenden Durchschnittslohns eines/r Arbeiters/in. Diese Leute haben die Frechheit, den Arbeiter:innen zu sagen, dass sie für ihre Expansionspläne Opfer bringen sollen!

Die Lohnabhängigen haben den Preis für diese Gier der Unternehmen mit ihren Löhnen und Arbeitsbedingungen bezahlt, denn die Löhne der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe sind seit 2008 um fast 20 % gesunken. Laut Fain stiegen die Autopreise in den letzten vier Jahren um 34 %, während die Löhne der Beschäftigten nur um 6 % zulegten. Um die Verluste der Vergangenheit auszugleichen, fordert die UAW allgemeine Lohnerhöhungen von 40 % über einen Zeitraum von vier Jahren, die Wiederherstellung des Lebenshaltungskostenanstiegs, Rentenerhöhungen für Rentner:innen, die seit einem Jahrzehnt keine erhalten haben, eine/n bessere/n Gesundheitsversorgung und Urlaub sowie ein Gewinnbeteiligungssystem.

Die Gewerkschaft fordert auch das Recht, gegen Werksschließungen zu streiken, da Stellantis vor dem Streik angedroht hatte, bis zu 20 Werke zu schließen und Umstrukturierungen aufgrund der Produktion von Elektrofahrzeugen vorzunehmen. Daher ist es wichtig, dass es keine Zugeständnisse bei den Streikverbotsbestimmungen gibt.

Strategie

Die „Stand Up (Aufstehen)“-Streikstrategie der Fain-Führung hat jedoch bisher den Großteil der 146.000 UAW-Mitglieder in Bereitschaft gehalten und damit sowohl den Streik als auch das Ausmaß seines möglichen Erfolgs begrenzt. Als am 29. September nach einer Woche Verhandlungen die Zeit für eine erneute Eskalation gekommen war, kündigte Fain an, dass nur zwei weitere Werke bestreikt würden: das Ford-Montagewerk in Chicago und das GM-Montagewerk in Lansing (Michigan) Delta Township, womit die Zahl der Streikenden auf 25.000 anstieg, was einem/r von sechs Beschäftigten entspricht.

Am 6. Oktober wurde dann die Eskalation in zwei weiteren Werken, darunter das riesige und äußerst profitable GM-Werk in Arlington (Texas) in letzter Minute zurückgezogen, weil die Bosse sich bereiterklärten, die Elektrofahrzeug-Beschäftigten in Tarifverhandlungen einzubeziehen und einige Zugeständnisse bei Zeitarbeit und Lohntarifen zu machen. Fain behauptet, dies beweise, dass seine Strategie funktioniere – „Es geht nicht immer darum, die große Panzerfaust zu zücken“ –, aber in Wirklichkeit begräbt er die Lohnforderung, bei der es keine Bewegung gegeben hat.

Fain bezeichnet dies als eine „intelligente Streikstrategie“, bei der Streikmittel (die für drei Monate Dauer angespart wurden) geschont und die großen Automobilhersteller gegeneinander ausgespielt werden: Ausgewählte Gewerkschaftsgliederungen (Ortsgruppen) streiken in ausgewählten Werken, bis zum 6. Oktober sich ausweitend mit jeder Frist für Vertragsverhandlungen, die überschritten wird, und argumentieren gleichzeitig für ein Überstundenverbot: „8 Stunden und Skaten!“

„Ich sehe, dass die Leute sofort streiken wollen“, sagte Fain, „das ist immer noch eine Option … Wir könnten alle drei großen Unternehmen auf einmal bestreiken“. Aber ein solcher flächendeckender Streik scheint weiter entfernt denn je, da das Aufstehen zum Stillstand gekommen ist. Ein ernsthafter, eskalierender Streik braucht einen starken Impuls, sonst verfehlt er, wie in Großbritannien, sein Ziel.

Es gibt noch andere, weniger sichtbare, aber dennoch gefährliche Grenzen dieser Strategie. Sie zielt darauf ab, dass der Streik die Profite der Automonopole so wenig wie möglich schmälert, wobei diese als Grenzen für die bestmögliche Lösung akzeptiert werden. Fain ist auch darauf aus, die liberale Presse zumindest neutral zu halten und Präsident Biden im Countdown zu den Parlamentswahlen 2024 keinen Schaden zuzufügen. Obwohl die UAW Biden noch nicht unterstützt hat, traf Fain ihn am Flughafen und reiste mit ihm zu einer sorgfältig inszenierten Streikpostenkundgebung.

Fain behauptet: „Der Stand Up-Streik ist die Antwort unserer Generation auf die Bewegung, die unsere Gewerkschaft aufgebaut hat, die Sitzstreiks von 1937“. Aber in Wirklichkeit hat diese vorsichtige Strategie nichts mit dieser von linken Aktivist:innen von unten geführten Aktion gemein. Wie er zugibt, geht es darum, „unseren nationalen Verhandlungsführer:innen ein Maximum an Einfluss und Flexibilität zu geben, um einen Rekordvertrag zu erzielen“, anstatt die Bosse durch die Bedrohung ihres Reichtums zum Einlenken zu zwingen.

Streiken, um zu gewinnen

Die Streikstrategie sollten die Beschäftigten nicht nur den Gewerkschaftsführer:innen überlassen, sondern an den Streikposten, auf Massenversammlungen der Streikenden und in den Kantinen der meisten noch arbeitenden Betriebe diskutieren. Sie müssen rote Linien festlegen (z. B. die vollständige Abschaffung der Zweiklassenbelegschaft) und eine härtere Strategie organisieren, um den Streik schnell zu steigern bis hin zu einem Vollstreik, wenn die Unternehmen nicht einlenken, um alle ihre Forderungen durchzusetzen.

Diese Hinwendung sogar nur zu einem begrenzten Streik ist zwar zu begrüßen, aber die Rentabilität der Großen Drei und die Regierung Biden als notwendige Unterstützung für höhere Löhne zu akzeptieren, würde bedeuten, dass dem Streik reale Grenzen gesetzt und daher wahrscheinlich nicht alle Forderungen der Streikenden erreicht werden. Die Arbeiter:innen sollten sich auf ihre eigene Kraft verlassen. Ihre Forderungen zielen nur auf die Wiederherstellung dessen ab, was verlorengegangen ist, und alle sind absolut notwendig. Den UAW-Beschäftigten steht ein noch größerer Kampf bevor, um die andere, wachsende Hälfte ihrer Branche zu organisieren und sicherzustellen, dass der dringend benötigte Übergang zum emissionsfreien Verkehr von der Arbeiter:innenklasse und nicht von den Bossen inszeniert wird.

Die US-Branchenriesen stehen auf dem Markt für Elektroautos unter starkem Druck von wendigeren Unternehmen wie dem schnell expandierenden Tesla und ausländischen Wettbewerber:innen, insbesondere aus China. Während sie mit Fain sprechen, verlagern sie die Produktion weiter in den nicht gewerkschaftlich organisierten Süden, wo 51 % der Elektroautoinvestitionen seit 2020 getätigt wurden, während nur 31 % in den alten Produktionskern im Mittleren Westen flossen – und damit in den der UAW-Mitgliedschaft. Die Umstellung auf Elektrofahrzeuge birgt eine zweite, organische Bedrohung, da für die Montage eines Autos nur halb so viele Arbeiter:innen benötigt werden wie für die alten Verbrennungsfahrzeuge.

Daher können keine dauerhaften Erfolge erzielt werden, es sei denn, die Gewerkschaft kämpft um die Kontrolle über diese Elektroumstellung und organisiert die Beschäftigten in den südlichen Bundesstaaten mit „Recht auf Arbeit“ und in den nicht organisierten Werken ausländischer Autofirmen, indem sie die Anerkennung der Gewerkschaft durch Streiks, einschließlich fliegender Streikposten und Mitgliederwerbung, durchsetzt. Darüber hinaus sollten die Gewerkschaften das stark gewerkschaftsfeindliche, aber schnell expandierende Unternehmen Tesla in Kalifornien und Nevada ins Visier nehmen. Das wird einen viel härteren Kampf erfordern.

Netto null

Angesichts der Dringlichkeit der Klimakrise liegt die Verringerung der Kohlendioxidemissionen im Interesse aller arbeitenden Menschen. Ein entscheidender Teil davon ist der Kampf für einen gerechten Übergang für die Arbeiter:innenschaft in den umweltverschmutzenden Industrien. Die Beschäftigten in der Automobilindustrie sollten eine kostenlose Umschulung in ähnlich qualifizierte Positionen erhalten, zusammen mit Garantien, dass keine Arbeitsplätze oder Anlagen abgebaut werden und die Wochenarbeitszeit, falls erforderlich, verkürzt wird. Dies muss mit der Abschaffung des Zweiklassensystems und der geforderten Lohnerhöhung von 40 % einhergehen.

Wenn die Bosse behaupten, dass sie sich das nicht leisten können, sollten die Arbeiter:innen verlangen, dass sie ihre Geschäftsunterlagen zur Überprüfung durch die Gewerkschaften öffnen. Wenn diese hochprofitablen Unternehmen versuchen, ihnen weiszumachen, sie seien zahlungsunfähig, müssen die Arbeiter:innen für eine Übernahme des gesamten Sektors unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten und Verbraucher:innen kämpfen. Sie müssen sich allen Versuchen widersetzen, die Bosse zu retten, wie es 2009 geschehen ist.

Auch wenn Bidens Versprechen, bis 2050 Netto-Null-Emissionen zu erreichen, angesichts des Ausmaßes der Krise völlig unzureichend ist, besteht in Wirklichkeit die einzige Möglichkeit, selbst dieses begrenzte Ziel zu erreichen, darin, den Flaschenhals des Profits zu beseitigen und die Industrie unter die Kontrolle der Arbeiter:innen und Konsument:innen zu stellen. Die Verstaatlichung der Automobilindustrie unter der Arbeiter:innenkontrolle  und ohne jegliche Entschädigung der Kapitalist:innen mit dem Ziel, die Klimakatastrophe zu verhindern, würde einen massiven Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel und jede Menge Arbeit als Ersatz für die niedergehende Autoproduktion ermöglichen.

Für den Aufbau eines solchen politischen Kampfes ist mehr erforderlich als eine weitere reformorientierte Gewerkschaftsführung mit 160.000 US-Dollar im Jahr. Es braucht eine starke betriebliche Organisation mit regelmäßigen Massenversammlungen und gewählten Streikkomitees sowie eine Basisbewegung, die die Kämpfer :innen und Aktivist:innen unabhängig von der Bürokratie organisiert. In jedem Betrieb sollten Streikausschüsse eingerichtet werden.

Für die Streikenden sollten solche Ausschüsse organisiert werden, um Streikbruch zu verhindern und sie vor Angriffen und Einschüchterung zu schützen. Sie sollten die lokale Gewerkschaftsbewegung und Gemeinde auffordern, die notwendige Unterstützung und Solidarität zu leisten. Für diejenigen, die sich noch nicht im Streik befinden, können diese Ausschüsse Solidarität mit den Betrieben organisieren, die sich im Streik befinden, und Provokationen der Unternehmensleitungen mit Arbeitsniederlegungen oder Sitzstreiks entgegentreten.

Eine solche Bewegung sollte jede positive Initiative ihrer Führung unterstützen, aber auch bereit sein, die Initiative zu ergreifen, wenn sie wirksame Maßnahmen zurückhalten oder behindern – keine Aussetzung von Streiks mehr. Das bedeutet, jeden Fortschritt von Fain und der UAW-Bürokratie zu unterstützen und gleichzeitig die Basisorganisation aufzubauen, die notwendig ist, um sie zu zwingen, weiter zu gehen, als sie wollen. Sie sollte auch das Ziel erörtern, die überbezahlten und übermächtigen hauptamtlichen Funktionär:innen durch eine Führung zu ersetzen, die von den einfachen Mitgliedern gewählt und abwählbar ist.

Um erfolgreich zu sein, müssen Gewerkschaftsaktivist:innen eine klassenbasierte Analyse und ein sozialistisches politisches Ziel für die Gewerkschaften annehmen und dafür kämpfen, sie aus der Unterwerfung unter eine der beiden Parteien der Bosse zu lösen. Wenn diese Strategie erfolgreich ist, kann sie letztlich zu einer neuen, klassenkämpferischen Führung der Gewerkschaften führen, die auf Arbeiter:innendemokratie basiert. Das bedeutet, dass die weitsichtigsten politischen Aktivist:innen, die für diesen Streik mobilisiert haben, mit ihren kämpferischen Kolleginnen und Kollegen in den Teamsters, in den Eisenbahn- und Pflegegewerkschaften zusammenarbeiten müssen, um eine Bewegung für eine neue Arbeiter:innenpartei zu entwickeln, die sich entschieden von der Demokratischen Partei löst.




TV-L: Die Forderung von 10,5 % und was sie wirklich aussagt

Mattis Molde, Infomail 1233, 14. Oktober 2023

Am 11. Oktober hat die Große Tarifkommission von ver.di die Forderung von 10,5 %, mindestens 500 Euro, aufgestellt. Exakt die gleiche Forderung wie beim TVöD.

Eine echte Diskussion war im Vorfeld nicht zugelassen worden. Auf allen Versammlungen wurden Beiträge zur Höhe der Forderung unterbunden oder gleich gar keine Diskussion vorgesehen. Stattdessen erfolgte eine „Befragung“, in der die Mitglieder jeweils individuell  vorgegebene Fragen beantworten konnten. Keine Diskussion, keine eigenen Vorschläge machen dürfen – das ist „Demokratie“ nach Art der Bürokratie!

Eine solche Art von gesteuerter „Diskussion“ erlaubte es der Führung, eine Forderung aufzustellen, die sie offensichtlich von vorneherein beabsichtigt hatte. Warum aber haben die Spitzenbürokrat:innen nicht im Vorfeld offen für diese geworben? Die Argumente, die sie jetzt vorbringen, hätten auch schon vor 2 Monaten den gleichen Wert gehabt:

  • dass der Öffentliche Dienst doch eine Gemeinschaft sei, egal ob Bund, Länder oder Kommunen,
  • dass die wirtschaftliche Lage ähnlich sei, die Inflation vielleicht sogar etwas zurückgegangen.

Ganz offensichtlich sollte nicht nur eine innergewerkschaftliche Debatte um die soziale Lage, um die Politik der Regierung, die diese mitverursacht hat, um die TVöD-Runde, in der die Gegenseite mal wieder das berüchtigte Schlichtungsabkommen zog – an dem die Bürokratie aber festhält, obwohl es der Gewerkschaft immer nur Nachteile verschafft –, und um einen Abschluss, der ohne richtigen Streik zu einer fetten Niederlage führte, vermieden werden. Statt der geforderten 10,5 %, mindestens aber 500 Euro bei einem Jahr Laufzeit, wurde folgendes vereinbart:

  • Inflationsausgleich von insgesamt 3.000 Euro in Teilzahlungen.
  • 1.240 Euro davon sind bereits in diesem Juni geflossen, weitere 220 Euro dann jeweils in den Monaten von Juli bis Februar 2024.
  • Zum 1. März 2024 sollen die Entgelte in einem ersten Schritt um einen Betrag von 200 Euro angehoben werden.
  • In einem zweiten Schritt soll der dann erhöhte Betrag noch einmal linear um 5,5 Prozent steigen. Die Erhöhung soll allerdings in jedem Fall 340 Euro betragen.
  • Die Laufzeit beträgt 24 Monate.

Dieses Ergebnis war und ist vor allem durch 2-jährige Laufzeit ein herber Reallohnverlust.

Was bedeutet die Forderung konkret?

Wenn man von einer Inflationsrate für 2022 von 8 % und für 2023 von 6 % ausgeht, wie es die ver.di-Oberen z. B. auf der Tarifbotschafter:innen-Versammlung am 11. Oktober getan haben, dann sind das zusammen knapp 14,5 %. Die letzte Tariferhöhung von 2,8 % wurde also komplett aufgefressen, und selbst 10,5 % in 12 Monaten könnten das nicht mehr wettmachen.

Wenn die ver.di-Spitze jetzt die gleiche Forderung für den TV-L aufstellt,  kann man davon ausgehen, dass sie den gleichen oder einen sehr ähnlichen Abschluss anstrebt bzw. damit zufrieden ist. Angesichts des schlechteren Organisationsgrades bei den Ländern haben die Bürokrat:innen an der Spitze auch schon ein wohlfeiles Argument, um die Verantwortung für einen noch schlechteren Abschluss abzuwälzen.

Was bedeutet dieses Vorgehen?

Das antidemokratische Vorgehen der Führung hat eine klare Botschaft: Wir entscheiden, wie die Forderung aussieht, wir entscheiden, ob und wie gekämpft wird, und wir entscheiden, was abgeschlossen wird.

Es bekräftigt die Aussage des TVöD-Tarifkampfes: Ihr könnt die Forderung von unten hochdrücken, ihr könnt Euch und Eure Kolleg:innen besser mobilisieren als die letzen 15 Jahre, wir drücken trotzdem das durch, was wir für richtig halten, was wir mit der Regierung in der Konzertierten Aktion vor einem Jahr abgesprochen haben, und wir werden es schaffen, uns durch „Befragungen“ oder „Voten“ eine Legitimation zu holen.

Es bekräftigt die Gesamtaussage aller großen Tarifauseinandersetzungen des letzten Jahres, dass, egal wie hoch der Organisationsgrad und die Kampfbereitschaft sind, sie schützen nicht davor, in Tarifverhandlungen von der Führung ausverkauft zu werden. Im Verlauf des letzten Jahres haben Chemie, Metall, TVöD, Post und EVG sehr ähnliche Abschlüsse erzielt. Viele Gewerkschaften, aber eine Politik!

Was bedeutet dies für kämpferische Gewerkschafter:innen?

Es darf keinesfalls bedeuten, jetzt auf den Tarifkampf zu verzichten. Das würde gerade den rechten Bürokrat:innen in der Gewerkschaft entgegenkommen. Die verzichten gerne auf kämpferische Leute und stützen sich auf Trägheit und Gehorsam.

Zum Zweiten würde die Gegenseite eine Schwäche der Gewerkschaft sofort ausnutzen, einen noch schlechteren Abschluss durchzudrücken.

Für uns kommt es darauf an, den Kampf für ein gutes Ergebnis damit zu verbinden, die Kolleg:innen in unseren Betrieben zu aktivieren, zur Kritik an der Gewerkschaftsbürokratie anzuregen und diese auch in die Gewerkschaft gemeinsam hineinzutragen. Wir müssen in der Tarifrunde darum kämpfen, dass die Mobilisierung unter Kontrolle der Basis stattfindet, es keinen Abschluss ohne deren Zustimmung geben darf. Wir müssen uns klar vor Augen halten, dass wir nur dann die Forderungen durchsetzen können, wenn wir uns nicht auf Geheimverhandlungen einlassen, sondern möglichst rasch zur Urabstimmung und zu einem flächendeckenden Streik kommen. Natürlich wird das schwer, aber wir müssen dafür nicht nur breit im öffentlichen Dienst mobilisieren, sondern die Auseinandersetzung verbreitern und gemeinsam mit anderen Gewerkschaften führen.

Dazu ist nötig, dass wir uns auf allen Ebenen vernetzen und eine oppositionelle, klassenkämpferische Basisbewegung aufzubauen, so dass wir von kritischen Betriebsgruppen zu einer bundesweiten ver.di-Opposition z. B. im Rahmen der VKG kommen. Nur so können wir die Tricks und Manöver der Bürokratie erkennen und bekämpfen und einen wirklichen Kurswechsel in den Gewerkschaften herbeiführen.




Gräfenhausen: Solidarität mit dem Streik der LKW-Fahrer!

Stefan Katzer, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Dass sie in ihren LKWs übernachten müssen, gehört für die Fahrer, die sich seit Juli auf der Raststätte Gräfenhausen im Streik befinden, zum Alltag. Statt in ihren Kabinen übernachten sie nun allerdings auf Matratzen, die sie auf die Ladeflächen ihrer Fahrzeuge gelegt haben. Paletten wurden zu Tischen umfunktioniert, die Planen mit Sprüchen beklebt: „No money“ ist darauf zu lesen.

Die vor allem aus Georgien, Usbekistan, der Ukraine und der Türkei stammenden LKW-Fahrer, die seit Wochen auf dem Rastplatz ausharren, stellen eine zentrale Forderung: Sie verlangen von ihrer Spedition die Auszahlung ihrer Löhne. Unterstützt werden sie dabei von Edwin Atema, einem Funktionär des Niederländischen Gewerkschaftsbundes FNV und der Europäischen Transportarbeitergewerkschaft. Er ist mit der Spedition und deren Auftraggeber:innen in Verhandlungen getreten, bisher allerdings ohne Erfolg.

Über eine halbe Millionen Euro schuldet die polnische Spedition Mazur den Fahrern, die unter anderem für IKEA, Audi, Red Bull, DHL, Porsche und Obi Waren quer durch Europa transportieren. Pro Arbeiter handelt es sich bei Tagessätzen von rund 80 Euro um mehrere Tausend Euro, die ihnen und ihren Angehörigen fehlen. Doch weder die Spedition noch die von ihr belieferten Unternehmen zeigen sich bisher bereit, die ausstehenden Löhne zu zahlen.

Da die Spedition auch nach Wochen des Streiks nicht auf die Forderung der Fahrer eingegangen ist, stattdessen sogar mit Anzeigen gegen sie reagiert hat, haben sich 30 von ihnen entschieden, in den Hungerstreik zu treten. Eine ganze Woche lang haben sie sich geweigert, Nahrung zu sich zu nehmen, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen und den Druck auf die Unternehmen zu erhöhen. Nach einer Woche haben sie den Hungerstreik auf Anraten eines Arztes allerdings wieder abgebrochen. Zu groß sei die Gefahr für ihre Gesundheit.

Überausbeutung mit System

Doch ihr Kampf um die Auszahlung ihrer Löhne geht weiter. Denn während sich ihre Mägen langsam wieder mit Essen füllen, bleibt ihr Konto trotz geleisteter Arbeit vorerst leer. Wie lange die Fahrer noch durchhalten werden, ist allerdings ungewiss. Bei einigen schwindet bereits die Hoffnung, dass sie jemals ihren Lohn erhalten werden.

Die Tatsache, dass die Arbeiter bereit waren, in den Hungerstreik zu treten, bringt ihre Verzweiflung deutlich zum Ausdruck. Es zeigt außerdem, wie kaltblütig die Kapitalist:innen sind, wenn es darum geht, möglichst viel Profit aus „ihren Arbeiter:innen“ herauszupressen. Sie halten sich nicht an Verträge, umgehen Arbeitsvorschriften und verweigern die Auszahlung von Löhnen – alles, um den eigenen Profit zu steigern.

Die Speditionen wie Mazur bedienen sich dabei eines Systems der Scheinselbstständigkeit, was den Fahrern das Einklagen ihrer Löhne weiter erschwert. Die LKWs werden von der Spedition geleast, weshalb diese auch schon versucht hat, diese mit eigenen paramilitärisch agierenden Securities zu kapern, was allerdings verhindert werden konnte. Die Kund:innen der Speditionen waschen derweil ihre Hände in Unschuld. Sie kaufen schließlich nur die Transportleistung, überweisen den Betrag dafür an die Spedition und hätten keinen Einfluss auf die Arbeitsbedingungen.

Auch die Gesundheit „ihrer“ Mitarbeiter:innen ist den Spediteur:innen (wie auch deren Großkund:innen) letztlich egal. Das ist auch der Grund, weshalb ein Hungerstreik nicht die gleiche Wirkung entfalten kann wie ein Streik, der das bedroht, was den Kapitalist:innen wirklich am Herzen liegt: ihren Profit.

Welche Perspektive?

Die Gewerkschaften und Unterstützer:innen der Fahrer:innen konzentrieren sich bisher vor allem darauf, die Spedition und die Großunternehmen, die sie beliefern, durch öffentlichen Druck zum Einlenken zu zwingen. Im April war dies nach einem ersten Kampf gegen die Nichtauszahlung der Löhne erfolgreich. Damals besuchten Europaabgeordnete den Parkplatz in Gräfenhausen, die Kund:innen von Mazur übten wegen der schlechten Publicity Druck auf die Spedition aus.

Doch diese Methode wirkt offenbar nicht dauerhaft, weil dieses Geschäftsmodell längst zur Norm in wichtigen Teilen der Logistikbranche geworden ist. Daher werden Medienarbeit, Unterstützung bei Verhandlungen sowie materielle Unterstützung durch Gewerkschafter:innen vor Ort nicht ausreichen.

Zuerst wäre eine Verbindung mit ähnlichen Streiks in Europa nötig. So legten in diesem Jahr auch schon Beschäftigte von Mazur in Niedersachsen, Südtirol und der Schweiz die Arbeit nieder.

Die Ausweitung des Streiks mit dem Ziel, die Arbeitsbedingungen für alle im Transportsektor Beschäftigten zu verbessern, eine massive Erhöhung der Löhne und Inflationsausgleich durchzusetzen, ist dabei ein entscheidender Schritt. Er müsste aber auch verbunden werden mit dem Kampf um die entschädigungslose Enteignung der Unternehmen, die sich weigern, die Löhne ihrer Mitarbeiter:innen auszuzahlen – und das sind faktisch alle in der Branche.

Dazu ist es aber auch notwendig, dass die Gewerkschaften mit ihrer sozialpartnerschaftlichen Politik brechen. Zweitens braucht es eine europaweite Kooperation mit einem gemeinsamen Kampfplan aller Branchengewerkschaften. Um das zu ändern, müssen die Gewerkschaften selbst umgekrempelt und unter die Kontrolle ihrer Mitglieder gebracht werden. Sie müssen wieder zu Waffen der Lohnabhängigen werden, mit denen sie Kämpfe auch tatsächlich gewinnen können. Symbolische Aktionen reichen nicht aus. Nicht diejenigen sollten hungern, die keine Löhne erhalten, sondern diejenigen, die keine Löhne auszahlen.

Lasst uns den Kampf der Fahrer nach allen Kräften unterstützen! Spenden und Solidaritätsadressen können dazu beitragen, den Kampfeswillen der Streikenden aufrechtzuerhalten.




Gemeinsam gegen Arbeitsrechtsverletzungen: Arbeiterinnen und Arbeiter von Wolt, Lieferando, Flink sitzen zusammen

Minerwa Tahir, Infomail 1223, 17. Mai 2023

„Zwei Tage nachdem meine sechsmonatige Probezeit am 8. Mai endete, wurde ich am 10. Mai per E-Mail entlassen. Ich brauchte das Geld für meine Studiengebühren.“

Dies ist die Geschichte des 22-jährigen K*, der an der Berlin School of Business Innovation den Master in Finance studiert. Er kam aus Kerala, Indien, nach Deutschland. „Meine Eltern haben mich dabei unterstützt, hierherzukommen, aber was kann ich noch mehr von ihnen verlangen“, sagt er. „Es ist auch für sie schwierig, mich von Indien aus zu unterstützen. Ich habe aus der Not heraus angefangen, bei Flink zu arbeiten, auch, weil mir die Idee gefiel, mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Und jetzt, nach sechs Monaten guter Arbeit, wurde mir ohne Grund gekündigt.“

Versammlung

K* war am Montag, den 15. Mai, bei einer Versammlung der Wolt-Zusteller:innen anwesend. Das Treffen wurde mit dem Ziel organisiert, allen Zusteller:innen, die von Nichtbezahlung, Kündigungen ohne Grund, Entzug grundlegender Arbeitsrechte wie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und anderen Problemen betroffen sind, Rechtsbeistand zu leisten. Martin, ein Rechtsanwalt, war anwesend, um die Beschäftigten aus rechtlicher Sicht zu beraten, da er über Erfahrungen mit Fällen von Lohnabhängigen bei verschiedenen Lebensmittellieferant:innen wie Gorillas, Lieferando, Flink und Wolt verfügt. Andere, die für andere Lebensmittellieferant:innen als Wolt arbeiten oder gearbeitet haben, sowie einige Aktivist:innen waren ebenfalls anwesend.

Laut K* behandelt Flink seine Mitarbeiter:innen seit einigen Monaten auf unfaire Weise. „Flink hat nicht so viel Geld verdient, wie es erwartet hatte, und jetzt wälzen sie die Last ihrer Verluste auf die Beschäftigten ab, indem sie sie entlassen“, sagte er. „Ich verstehe, dass ein Unternehmen das manchmal tun muss, aber das Mindeste, was sie tun können, ist, uns eine 30-tägige Kündigungsfrist einzuräumen.“

Er teilt sich ein Zimmer mit einem anderen Freund, weil die Miete ohnehin schon so schwer bezahlbar ist. Jetzt, da ihm plötzlich gekündigt wurde, macht er sich Sorgen, wie er in diesen prekären Zeiten seine Finanzen regeln soll. „In meinem Vertrag steht, dass man innerhalb der sechsmonatigen Probezeit jederzeit gekündigt werden kann“, sagte er. „Aber mich nur zwei Tage nach Ablauf der Probezeit fristlos zu entlassen, ist geradezu grausam.“

Der Fall von K* ist weder neu noch ein Einzelfall. Eine andere Person, die bei dem Treffen anwesend war, berichtete von einer ähnlichen Erfahrung mit Flink. Inzwischen haben Wolt-Mitarbeiter:innen wie Mohamed nicht einmal einen Arbeitsvertrag. Zusammen mit einem anderen Wolt-Arbeiter hat er im Juli einen Termin für die Anhörung ihrer Fälle vor einem Gericht.

Mohamed sagte, dass der Eigentümer von Mobile World, der die Arbeiter:innen des Fuhrparks von Wolt als Subunternehmer:innen beschäftigte und ihnen Löhne im Wert von 3.000 Euro nicht zahlte, jetzt neue Leute einstellt. „Es gibt eine Anzeige auf Ebay unter Alis Namen“, sagte er. „Diesmal sind es aber nur Autofahrer:innen, die er einstellt.“

Arbeiter:innen von Lieferando, Wolt und Flink diskutierten ähnliche Probleme. Einige beschwerten sich darüber, dass sie für ihre erste Bestellung überhaupt und auch für die erste nach einer Pause nicht für die gefahrenen Kilometer entschädigt werden. R* sprach darüber, dass Wolt von ihm erwartet, dass er nachts zu ungewöhnlichen Zeiten arbeitet, obwohl er einen „flexiblen“ Vertrag gewählt hat, um sich um sein Kind zu kümmern.

Es wurde auch über die Bildung (und die damit verbundenen Schwierigkeiten) eines Betriebsrats für die Wolt-Beschäftigten diskutiert, da die Lieferando-Beschäftigten bereits einen haben. Schließlich wurde beschlossen, eine weitere Protestaktion zu organisieren, um Druck und Bewusstsein zu schaffen. Beim nächsten Treffen am 22. Mai sollen die Aktionspläne konkretisiert werden.

Solidarität

Die Gruppe Arbeiter:innenmacht erklärt ihre volle Solidarität mit allen Zusteller:innen, die für ihre Rechte kämpfen. Ihr Kampf ist gerecht und mehr denn je absolut notwendig. Die Lebensmittellieferant:innen sind sich der begrenzten Möglichkeiten bewusst, die auf migrantische Student:innen aus südasiatischen Ländern aufgrund von Sprachbarrieren existieren. Die meisten dieser Studierenden kommen aus nicht sehr wohlhabenden Verhältnissen und müssen als Lieferfahrer:innen arbeiten, um über die Runden zu kommen.

Internationale Lebensmittellieferant:innen nutzen ihre prekäre Lage aus und halten sich dabei nicht einmal an die deutschen arbeitsrechtlichen Vorschriften. Das liegt daran, dass die meisten Migrant:innen ihre Rechte nicht kennen und viele, die sie kennen, Angst haben, das Unternehmen zu verklagen. Nicht wenige haben mit ihrem Studium und mehreren Gelegenheitsjobs kaum Zeit, sich kollektiv zu organisieren. Das stille Leiden der Mehrheit hat dazu geführt, dass sich diese blutsaugenden Unternehmen zu einem Monster entwickelt haben, das völlig ungestraft agiert.

Die Auslieferung von Lebensmitteln ist ein fester Bestandteil des Lebens in Deutschland, was zeigt, wie wichtig diese Lohnabhängigen heute sind. Jeden Tag sieht man Hunderte dieser jungen Männer und Frauen, die sich auf unseren Straßen mit dem Fahrrad fortbewegen. Wir rufen alle Lohnabhängigen und Gewerkschaften auf, die Kämpfe dieser sogenannten informellen Arbeiter:innenklasse zu unterstützen. Der Kapitalismus hat sie zu einer Unterklasse degradiert, und es ist eine Schande, dass die deutschen Behörden dies direkt vor ihrer Nase zugelassen haben.

Wir als Arbeiter:innen sind stärker, wenn wir geeint und organisiert sind. Aber diese Einheit und Organisation wird sich nicht von selbst ergeben. Es ist die Pflicht aller Sozialist:innen und Kommunist:innen, die bereits in Gewerkschaften organisiert sind, das Thema der Solidarisierung mit den Beschäftigten des informellen Sektors aufzugreifen und in ihren bestehenden Gewerkschaften dafür zu streiten. Es ist unsere Pflicht, an den Treffen und Veranstaltungen unserer Klassenbrüder und -schwestern teilzunehmen, um ihnen zu zeigen, dass wir an ihrer Seite stehen. Wir können nie wirklich wissen, wann solche „Ausnahmen“ zur Regel für alle werden könnten. Bereiten wir uns also schon jetzt darauf vor und stellen wir uns auf die richtige Seite der Geschichte.

Auch für die Beschäftigten des informellen Sektors wäre es von Vorteil, sich in der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) zu organisieren, aber auch Teil des klassenkämpferischen Netzwerks der Gewerkschaften, der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) zu werden, das im Januar 2020, kurz vor Beginn der Pandemie, gegründet wurde. Diese ist zwar offiziell „vorbei“, aber unser kollektives Leid ist es noch lange nicht. Deshalb müssen wir uns zusammenschließen und streiken!

* Namen zum Schutz der Identitäten verborgen.




Arbeitsmigrant:innen aus Indien und Pakistan schließen sich in Berlin gegen Wolt zusammen

Minerwa Tahir, Infomail 1219, 5. April 2023

Habt ihr kürzlich in einem Restaurant Essen bestellt, weil ihr das kalte, regnerische Wetter in Berlin satt hattet? Dann solltet ihr wissen, dass die Leute, die euch das Essen an die Haustür gebracht haben, möglicherweise seit Monaten nicht mehr bezahlt werden.

Die Zusteller:innen von Wolt organisierten am 5. April eine Protestaktion gegen die monatelange Nichtbezahlung der Löhne. Die Aktion begann an der U-Bahn Karl-Marx-Straße, gefolgt von einer Fahrradrallye zur Wolt-Zentrale, wo die betroffenen Beschäftigten Reden hielten. Insgesamt nahmen 50 Personen teil, obwohl die Wolt-Geschäftsführung angeblich strafrechtliche Konsequenzen gegen die Teilnahme der Beschäftigten angedroht hatte.

Lage der Arbeiter:innen

Die meisten Arbeiter:innen sprachen über die Schwierigkeiten, mit denen sie als Migrant:innen konfrontiert sind, die Student:innen sind und Teilzeit in diesen prekären informellen Jobs arbeiten. Mohamed, der den Protest anführte, war mit seiner Frau anwesend. Beide stammten aus Pakistan. „Ich bin Student und die meisten Wolt-Arbeiter sind es auch“, sagte er. „Wie sollen wir Miete und Rechnungen bezahlen, wenn das Unternehmen, für das wir arbeiten, uns monatelang nicht bezahlt?“

Die Demonstration machte nicht nur auf die wirtschaftlichen Nöte aufmerksam, sondern war auch eine glänzende Demonstration der Einheit und Solidarität unter den aus Indien und Pakistan stammenden migrantischen Arbeiter:innen. Offensichtlich lassen die von den Regierungen im eigenen Land aufrechterhaltenen Animositäten schnell nach, wenn alle südasiatischen Arbeiter:innen in einem fremden Land als „braunhäutige Migrant:innen“ behandelt werden. Interessant war auch, dass die Arbeiter:innen die Manager:innen mit pakistanischem und indischem Hintergrund anprangerten, die sich weigerten, auch nur herauszukommen, um sich ihre Forderungen anzuhören, und die man dabei beobachten konnte, wie sie die Demonstrant:innen von ihren Glasfenstern aus ignorierten.

Einige Mitarbeiter:innen des Lieferdienstes Lieferando waren ebenfalls anwesend, um sich mit den Protestierenden zu solidarisieren. „Ihr habt etwas Besseres verdient. Euer Kampf ist unser Kampf“, sagte ein Lieferando-Beschäftigter, der auch in der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) organisiert war. Solidaritätsbekundungen gab es auch von jungen Migrant:innen aus Indien und Pakistan.

Gegen Ende der Demonstration waren die Protestierenden zu Recht verärgert über die Apathie der Wolt-Geschäftsführung, die sich weigerte, auch nur zu einem Gespräch mit den Arbeiter:innen herauszukommen. Sie versprachen, dass darauf eine härtere Aktion folgen werde. „Wenn ich bei -7° C rausgehen kann, um euer Essen auszuliefern, dann könnt ihr sicher sein, dass ich keine Skrupel haben werde, tagelang in der Kälte zu sitzen, um meinen Forderungen Gehör zu verschaffen, selbst wenn ich in einen Hungerstreik treten muss“, sagte Sami.

Subunternehmen

Die Gruppe Arbeiter:innenmacht unterstützt voll und ganz die Aktion und die Forderungen der protestierenden Arbeiterinnen und Arbeiter, zu denen die Zahlung der fälligen Löhne und die Beendigung des Systems der Untervergabe gehören. Seit September letzten Jahres beschäftigt Wolt Arbeit„nehmer“:innen über Subunternehmer:innen. Einer von ihnen ist Mobile World. Durch diese Art der Beschäftigung kann Wolt keine Verantwortung für die Verletzung von Arbeitsrechten geltend machen, da das Unternehmen behauptet, es habe den/die Subunternehmer:in bezahlt. Die Arbeiter:innen bestehen jedoch zu Recht darauf, dass die Verantwortung bei Wolt liegt, da sie im Namen des Unternehmens arbeiten und Gewinne erwirtschaften, die es einstreicht. Diese verabscheuungswürdige Beschäftigungsmethode ermöglicht es den Unternehmen auch, ihren Arbeiter:innen keine Sozialleistungen zu gewähren und zuweilen nicht einmal den Mindestlohn zu zahlen. Das ist Krieg gegen die Zusteller:innen! Erschwerend kommt hinzu, dass die meisten der Menschen, die diese prekären und schlecht bezahlten Jobs annehmen, Migrant:innen sind, entweder Student:innen oder Asylbewerber:innen ohne Papiere. Der/Die Auftragnehmer:in ist sich ihrer prekären Bedingungen bewusst, was es ihm/ihr ermöglicht, aus der Arbeiter:innenklasse diese informelle Unterklasse zu schaffen. Wir fordern:

  • Wolt muss alle nicht gezahlten Löhne und Gehälter jetzt direkt an die Beschäftigten auszahlen!

  • Verbot der Auslagerung des Einstellungsprozesses an Auftragnehmer.

  • Mindestlohn von 15 Euro pro Stunde für jede/n Arbeiter:in!

Wir rufen auch alle Arbeiter:innen in Wolt auf, sich in der Gewerkschaft NGG und dem Klassenkampfnetzwerk VKG zu organisieren. Gemeinsam, als gewerkschaftlich organisierte Klasse, können wir uns die Arbeitsbedingungen sichern, die wir verdienen, indem wir die Dinge selbst in die Hand nehmen, anstatt an die Bosse zu appellieren. Um dies zu gewährleisten, müssen wir aktiv darauf hinarbeiten, dass die Führung der Gewerkschaften gegenüber den Mitgliedern rechenschaftspflichtig und an die demokratischen Beschlüsse der Mitglieder gebunden ist, und die Führungen gewählt werden, abwählbar sind und einen Arbeiter:innenlohn erhalten. Der Aufbau einer solchen Gewerkschaft im ganzen Land ist der wichtigste Schritt zur Überwindung der Unterschiede zwischen den Bedingungen der einheimischen und der migrantischen Lohnabhängigen und zu ihrer Vereinigung zu einer revolutionären Klasse. Alle Macht den Arbeiter:innen!




Britannien: Alle auf die Straße am 1. Februar!

Workers Power, Neue Internationale 271, Februar 2023

Die Arbeiter:innenklasse sieht sich dem schwersten Angriff auf ihren Lebensstandard seit der Einführung der Kürzungsmaßnahmen nach der Finanzkrise von 2007/2008 gegenüber.

Die Lohnabhängigen haben darauf mit der größten Streikwelle seit den 1980er Jahren reagiert. Millionen von Beschäftigten im privaten und öffentlichen Sektor haben für Lohnerhöhungen gestreikt, um mit den rasant steigenden Preisen für Lebensmittel, Energie, Mieten und Rechnungen Schritt zu halten.

Die Regierung versteckt sich hinter Lohnprüfungsausschüssen (Gesundheit) oder fadenscheinigen Behauptungen, sie sei nicht die „Arbeitgeberin“ (Verkehr), und blockiert seit Monaten Verhandlungen und Vereinbarungen. Ohne einen Plan zur Bewältigung der Krise des britischen Kapitalismus, die durch jahrelangen Produktivitätsrückgang und die Selbstbeschädigung durch den Brexit noch verschärft wurde, greifen die Tories zu einer Offensive gegen die Gewerkschaften und Arbeitsmigrant:innen, die von der Notwendigkeit angetrieben wird, die populistische Rechte und Mitglieder der Partei zu beschwichtigen.

Es ist diese Schwäche der Regierung, die trotz ihrer großen Mehrheit den Brexit-Extremist:innen im eigenen Lager verpflichtet ist, die entschlossen sind, ihr Projekt der Zerstörung des Sozialstaates und der Zerschlagung der verbleibenden Arbeiter:innen- und Umweltschutzbestimmungen zu vollenden, die sie so gefährlich macht.

Premierminister Sunaks Einladung zu Scheinverhandlungen am 9. Januar, unmittelbar gefolgt von der Ankündigung des Gesetzes über Mindestdienste im Streik, zeigt, dass sie ihrer Überleben mit einer Machtdemonstration gegenüber den Gewerkschaften verknüpft haben. Wir müssen unsere Organisationen in Kampfform bringen, um den Versuch abzuwehren, die Lohnabhängigen durch die Aushöhlung unseres Lebensstandards und streikfeindliche Gesetze, die jede wirksame Gewerkschaftsarbeit verbieten würden, für die Krise bezahlen zu lassen.

Doch trotz der inspirierenden Streikwelle seit letztem Sommer sind viele Gewerkschaften bereits dabei, die Aktion zu demobilisieren, bevor sie nennenswerte Lohnerhöhungen durchsetzen können. Die andere Hälfte, der linke Flügel der Bewegung, hat kaum angefangen oder nur gelegentliche Aktionen organisiert, die keinen Sieg erzwingen können.

Dem TUC-Kongress im Oktober ist es nicht gelungen, ein ernsthaftes Programm für koordinierte Aktionen zu vereinbaren. Dies und der schwache Aufruf zu einem „Aktionstag zur Verteidigung des Streikrechts am 1. Februar“ zeigen, dass die offizielle Führung verzweifelt versucht zu verhindern, dass die sich ausbreitenden Streiks eine Eigendynamik entwickeln, die sie nicht kontrollieren kann.

Wenn sich die Gewerkschaften ungeordnet zurückziehen, nachdem sie nur symbolischen Widerstand geleistet haben – wie 2011/12 während des Rentenkonflikts –, werden wir eine schreckliche Niederlage erleiden, die das beginnende Wachstum der Gewerkschaftsmitgliedschaft und des Kampfgeistes, das sich in unzähligen Streiks und der massenhaften Teilnahme an „Enough is Enough“ (Genug ist genug)-Kundgebungen im ganzen Land zeigt, sicherlich zunichtemachen wird.

Deshalb müssen wir uns jetzt organisieren, um den 1. Februar zum Anfang – und nicht Ende – einer echten Kampagne zu machen, um die Antistreikgesetze zu Fall zu bringen und Lohnerhöhungen zu sichern, die die zweistellige Inflation wirklich ausgleichen. Jede Gewerkschaft mit einem gültigen Aktionsmandat sollte streiken. Aktivist:innen sollten Anträge und offene Briefe von Zweigstellen und Betrieben koordinieren und die Gewerkschaftsvorstände mit Forderungen nach gemeinsamen Kampfmaßnahmen bombardieren. Mittagsdemonstrationen und Kundgebungen, wenn möglich mit Arbeitsniederlegungen, sollten in allen Städten und Gemeinden organisiert werden. Um dies zu gewährleisten, sollten lokale Solidaritätsausschüsse gebildet werden.

Das Ausmaß des Angriffs erfordert eine entsprechende Reaktion. In der Realität bedeutet dies, dass wir darauf vorbereitet und organisiert sein müssen, den undemokratischen Gesetzen zu trotzen, die uns daran hindern, wirksame Maßnahmen zu ergreifen – Massenstreikposten, um Streikbrecher:innen zu stoppen, Betriebsversammlungen und Abstimmungen für Maßnahmen, Solidaritätsstreiks bis hin zu einem Generalstreik.

Schlüsselaufgaben für die Bewegung:

  • Verteidigung des Streikrechts: Alle auf die Straße am 1. Februar!

  • Gemeinsame Streikkomitees in jedem Betrieb!

  • Eine Basisbewegung in den Gewerkschaften!

  • Aktionsräte, um den Widerstand zu vereinen!

  • Zerschlagt die Lohnobergrenze: 15 % für alle!

  • Anpassung der Löhne, Renten und Sozialleistungen an die Inflation!

  • Generalstreik zur Zerschlagung der gewerkschaftsfeindlichen Gesetze!



Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) – bedingungslos gut?

Martin Suchanek, Neue Internationale 269, November 2022

Im September 2022 votierte eine Mehrheit der Mitglieder der Linkspartei dafür, die Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen in das Programm aufzunehmen. 18.667 Menschen – also rund ein Drittel – beteiligte sich an der Abstimmung, 56,64 % sprachen sich für die Forderung aus, 38,43 % stimmten dagegen.

Für manche Gewerkschafter:innen war es ein weiteres Signal, der Partei den Rücken zu kehren, der sog. emanzipatorische Flügel feiert einen weiteren Erfolg. Wie das BGE der Linkspartei zufolge genau ausgestaltet werden soll, muss der Vorstand zum nächsten Parteitag ausformulieren.

Mit anderen Worten, das beschlossene „Modell“ der Linkspartei unterscheidet sich von anderen dadurch, dass es erst konkretisiert werden muss – es soll aber bedingungslos, armutssicher, nicht neoliberal und außerdem bei der gemeinsamen Durchsetzung mit anderen gesellschaftlichen Kräften nicht verwässert werden.

Dabei ist die Forderung nach einem BGE bekanntlich nicht neu. Seit über zwei Jahrzehnten wird sie wieder in sozialen Bewegungen diskutiert, aber auch von bürgerlichen Kräften als Mittel zur „Reform“ der Sozialsysteme in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung ins Feld geführt. Den Argumenten linker Befürworter:innen hat DIE LINKE nichts hinzugefügt. Wenn überhaupt, zeichnet sich der Beschluss dadurch aus, unklarer als andere Modelle zu sein. Wir konzentrieren uns dabei im folgenden Beitrag auf grundsätzliche Überlegungen zum BGE und werden darlegen, warum diese Forderung zurückgewiesen werden muss und für die Arbeiter:innenklasse keinen Segen, sondern einen Fallstrick darstellt.

Versprechen

Auf den ersten Blick scheint die Frage nach dem BGE  einfach zu sein, zumal wenn wir von den sehr verschieden Vorschlägen absehen, wie es finanziert werden soll oder womit es begründet wird.

Das Grundeinkommen verspricht schließlich eine Reihe unmittelbarer Verbesserungen für Menschen ohne Arbeit, mit geringen Einkommen und jene, die unter Schikanen der Ämter zu leiden haben.

Grundsätzlich versprechen alle Modelle für das Grundeinkommen eine staatliche Transferleistung, die Personen – unabhängig davon, ob sie eine Bedürftigkeit vorweisen können oder nicht – erhalten sollen. D. h. es sollen ALLE kriegen, ob nun Obdachlose, prekär Beschäftigte, Facharbeiter:innen, Professor:inen oder Konzerneigentümer:innen. Staffelungen sind zumeist nur bei Kindern und Jugendlichen vorgesehen, bei manchen Modellen auch für gering Qualifizierte. Eine Reihe von Vorschlägen beschränkt die Bezugsberechtigung allerdings nur auf Staatsbürger:innen, schließt also einen großen Teil der Migrant:innen und alle Geflüchteten aus.

Alle Modelle versprechen zudem, reale Probleme zu lösen: Arbeitslosigkeit, Umstrukturierung der Arbeitswelt, den Zwang, Billigjobs anzunehmen, die gesellschaftliche Abwertung nicht entlohnter Beschäftigung wie z. B. von privater Hausarbeit.

Und alle versprechen mehr Selbstständigkeit und Freiheit des Individuums, weil dieses mit einem garantierten Einkommen abgesichert sei, da es ein Grundeinkommen von 800 –1.500 Euro/Monat ohne Bedingungen zur freien Verfügung hätte und sich dann auch noch etwas „dazuverdienen“ könne oder eben nicht.

Bürgerliche Modelle

Für viele auf den ersten Blick überraschend, vertritt eine Reihe offen bürgerlicher Ökonom:innen, Politiker:innen und auch Unternehmer:innen das BGE.

Hier sei zuerst die sog. negative Einkommensteuer erwähnt. Sie geht auf Milton Friedman zurück, einen der Begründer des Neoliberalismus, und bildet die Grundlage verschiedener Modelle des Bürgergeldes, aber auch etlicher Finanzierungsmodelle des BGE. Der Staat sichert praktisch jedem/r einen festzulegenden Geldbetrag, der in Friedmans Vorstellung mit der Einkommensteuerschuld verrechnet wird. Für Menschen mit keinen oder geringen Steuern ergibt sich daraus ein Plus, daher auch der Terminus negative Einkommensteuer.

Friedman koppelt seinen Vorschlag an die Abschaffung anderer staatlicher Transferleistungen, verspricht Bürokratieabbau samt Einsparung der in der Sozialverwaltung Beschäftigten. Ähnliche Vorstellungen finden wir bei verschiedenen bürgerlichen Konzepten des BGE.

So z. B. beim „Althaus-Modell“, benannt nach dem ehemaligen Thüringer CDU-Ministerpräsidenten. Dieses wurde von der Adenauer-Stiftung schon vor gut 10 Jahren für Beträge von 800 bzw. 400 Euro berechnet und als „kostenneutral“ befunden. Warum? Weil es mit der Abschaffung der Sozialversicherung für Alter und Krankheit einhergeht, diese müsste also privat bezahlt werden. Daher wäre es auch durch Bürokratieabbau und massive Reduktion der sog. Lohnnebenkosten, also eigentlich von Lohnbestandteilen, gegenfinanzierbar.

Götz Werner, Gründer der Drogeriemarktkette dm und mittlerweile tot, sprach sich ebenfalls für ein bedingungsloses Grundeinkommen aus, in der Höhe von zuerst 900, dann ansteigend auf 1.500 Euro. Auch er will zugleich Sozialabgaben und andere Transferleistungen abschaffen. Finanziert werden soll sein Modell durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 48 %, also v. a. Massensteuern. Auch dies soll kostenneutral sein.

Werner meinte außerdem, dass sein Modell den Zwang zur Annahme niedrig entlohnter Arbeit abschaffen würde. Die Unternehmen würden vielmehr zur Rationalisierung und zum Ersetzen unqualifizierter Arbeit durch Maschinen gezwungen. „Angebot und Nachfrage“ würden, so versprach er, gar zu höher qualifizierten Angeboten für Beschäftigte führen. Zugleich hatte er auch eine frohe Botschaft für das Kapital – die Gewerkschaften würden überflüssig, weil die Menschen nur noch die Arbeit annehmen müssten, die sie annehmen wollten.

Dies ist jedoch albern. Selbst ein BGE von 1.500 Euro verbleibt unter der Höhe des von vielen Gewerkschaften geforderten Mindestlohns. Zieht man private Kranken- und Rentenversicherungsbeiträge und Mieten ab, so kommt man rasch an die Grenze der Reproduktionskosten, die notwendig sind, um die Ware Arbeitskraft zu erhalten und auch zukünftige Generationen auszubilden. Wenn wir die durchschnittlichen Kosten für Lebensmittel, Wohnung, Miete, Bildung, Kindererziehung, Betreuung von Angehörigen usw. in Rechnung stellen, bleibt von 1.500 Euro gerade genug zum Überleben – und das galt schon vor der aktuellen Inflation.

Kritik am bürgerlichen BGE

Faktisch laufen alle diese Modelle auf Kombilohn hinaus, also darauf, dass Menschen zum BGE „dazuverdienen“ müssen. Der Zwang, die Arbeitskraft als Ware zu verkaufen, bleibt also bestehen.

Die Kapitalist:innen werden bei diesen Modellen von den sogenannten Lohnnebenkosten befreit. Da diese in Wirklichkeit nur als Arbeit„geber“:innenanteile deklariert verklärte Lohnbestandteile darstellen, sinken also faktisch die Lohnkosten. Zweitens ermöglicht das Modell eine Ausweitung von schlecht bezahlter Arbeit, Minijobs usw., gerade weil ein Teil der Reproduktionskosten schon staatlich ausbezahlt wird.

Natürlich werden schon jetzt bestimmte Teile des Arbeitslohns über Transferleistungen (Sozialversicherung) bestritten bzw. wird ein Teil der Reproduktionskosten durch staatliche Einrichtungen (Schulen, Jugendfreizeiteinrichtungen … ), also über Steuern, finanziert, von denen einen immer größeren Anteil die Lohnabhängigen bezahlen.

Mit dem Grundeinkommen oder Bürger:innengeld soll das vereinfacht, sollen also die Verwaltungskosten gespart werden. Alle kriegen das BGE, dafür entfallen möglichst alle Formen der Transferleistungen und damit auch die Rechtsansprüche auf diese. Der neoliberale Trend zur Privatisierung und Individualisierung von Vorsorgeleistungen würde somit forciert. Bisher an den Staat gerichtete Ansprüche wie Bildung, Kita, … könnten so der privaten Wahl der Einkommensbezieher:innen überlassen werden.

Ideologisch wird das Ganze als Zugewinn von Freiheit und Selbstbestimmung verbrämt.

In Wirklichkeit wird der Zwang zum Verkauf der Ware Arbeitskraft jedoch nur in andere, letztlich sehr viel nachteiligere Formen gegossen.

Außerdem wird eine mehr oder minder große Masse an Arbeitslosen und Unterbeschäftigten dauerhaft in Rechnung gestellt.

Seit Jahrzehnten wird in vielen Analysen das angebliche Verschwinden der Arbeit, die mehr oder minder vollständige Ersetzung menschlicher Arbeitskraft beschworen. Diese Behauptungen haben sich nicht nur empirisch als falsch erwiesen, erst recht, wenn wir das Wachstum der globalen Arbeiter:innenklasse in den letzten Jahrzehnten betrachten.

Das Auf-die.Straße-Setzen lebendiger Arbeit wird auch noch als eine unvermeidliche „natürliche“ Entwicklungstendenz dargestellt, als „Sachzwang“ und Automatismus, nicht als Folge der Kapitalakkumulation, also eines gesellschaftlichen Verhältnisses.

Akzeptiert man aber die Verklärung zur unvermeidlichen, „natürlichen“ Entwicklung, so erscheint das BGE als humanere Alternative zu Hartz IV alternativlos. Es bildet daher ein bürgerliches Programm, das nur auf eine andere Form der Verwaltung der Erwerbslosen und prekär Beschäftigten hinausläuft. Am meisten wird das vom Anthroposophen und Humanisten Götz Werner verkleistert. Leute wie Althaus, die CDU-Anhänger:innen von Bürger:innengeld oder Friedman machen das nicht. Sie sind gewissermaßen ehrlicher, jedenfalls offener bezüglich ihrer Klassenziele, aber auch realistischer, was die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus betrifft.

Aus dem Gesagten wird auch schon deutlich, dass das bürgerliche BGE an grundlegenden Verhältnissen nichts verändert:

  • Die Struktur der gesellschaftlichen Arbeit, die Arbeitsteilung, das Verhältnis von Beschäftigten und Arbeitslosen, die Verteilung über die Branchen, aber auch das Verhältnis von Mann und Frau bleiben grundsätzlich unberührt, eventuell verstärkt das BGE z. B. die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung sogar.

  • Die Ungleichheit zwischen Staats- und Nichtstaatsbürger:innen wird verfestigt. Alle bürgerlichen Modelle und auch viele andere, die Transferleistungen durch BGE ersetzen wollen, würden die Lage nichtdeutscher Menschen massiv verschlechtern, weil diese vom BGE ausgeschlossen wären.

  • Als Gesellschaftsmodelle verfestigen und verschärfen die unterschiedlichen Entwürfe die Spaltung der Arbeiter:innenklasse – insbesondere zwischen Beschäftigten und Unbeschäftigten. Sie laufen nämlich auf eine Umverteilung des Einkommens innerhalb der Klasse hinaus. Ein mehr oder minder großer Teil der Finanzierung würde durch Lohnabhängige für andere Lohnabhängige über Steuern oder andere Mittel erbracht werden.

  • Alle BGE-Modelle setzen voraus, dass die Zahl der Beschäftigten von den Akkumulationsbedürfnissen des Kapitals bestimmt wird. Es geht einzig um eine Umverteilung von Einkommen, die möglichst „kostenneutral“, also ohne Kosten für das Kapital, vonstattengehen soll. Die Verteilung der Produktionsmittel in der Gesellschaft, deren Besitz von der Kapitalist:innenklasse monopolisiert ist, bleibt außen vor.

Linke Modelle

Neben denen von offen Bürgerlichen gibt es zahlreiche, im weitesten Sinn linke Modelle. Bei der Finanzierung streben die meisten – im Gegensatz zu Althaus oder Friedman – eine Umverteilung von oben nach unten an.

So sollen manche über Steuern – einschließlich einer Teilfinanzierung über eine Vermögensteuer – finanziert werden, andere über Änderung der Sozialabgaben. Die vorgeschlagene Höhe des BGE reicht von 1.000 bis 1.500 Euro, etliche machen dazu auch keine Angaben. Politisch kommen sie von Teilen der SPD, Grünen, Kirchen,

 Sozialinitiativen/Verbünden, attac oder – der Linkspartei.

Ronald Blaschke und Katja Kipping betätigten sich über Jahre als Befürworter:innen in der Linkspartei und waren auch wichtige Unterstützer:innen des BGE bei der Urabstimmung. Außerdem wird das BGE von Gruppierungen und Theoretiker:innen des Postautonomismus (z. B. Negri und Hardt im „Empire“) favorisiert und zu einem Mittel zur Schaffung einer anderen, postkapitalistischen Gesellschaft stilisiert.

Die linken Modelle versuchen, die Defizite der bürgerlichen zu überwinden, indem sie die Forderung nach bedingungslosem Grundeinkommen an bestimmte Ziele binden:

a) Es soll wirklich bedingungslos sein – d. h. wirklich keine Form der Bedürftigkeitsprüfung inkludieren (d. h. es gibt natürlich auch Geld für Reiche, die aber insgesamt mehr einzahlen als erhalten sollen).

b) Es muss unabhängig von der Staatsangehörigkeit allen zukommen, die hier leben. Bei manchen wird es auch als „globales soziales Recht“ gefordert. Die Begründung zum Antrag der Linkspartei stellt ein „identitätsstiftendes“ BGE für die gesamte EU in Aussicht.

c) Es soll armutsfest sein – daher auch eine Mindesthöhe haben, die zum Leben in Würde reicht.

Da der Begriff der „Würde“ ökonomisch vage und unbestimmt ist, dient er mehr als Wunsch denn als reale Bestimmung. Im Grund sollen auch die linken BGEs die Reproduktionskosten decken, genauer das notwendige Minimum, um unter den gegebenen Bedingungen die Kosten für Grundbedürfnisse einer Person (Essen, Wohnen, Ausbildung, Freizeit) sowie  zukünftiger Generationen zu sichern.

Was die Höhe angeht, unterscheiden sich die linken Modelle daher nicht substantiell von den Vorschlägen eines Götz Werner. Ihr Unterschied liegt wohl eher in den zahlreichen Heilsversprechen, die zur Begründung des BGE herhalten sollen. In ihrer Gesamtheit stellen sie kein schlüssiges Konzept dar. Gerade die zahlreichen ideologischen Überhöhungen entsprechen aber dem Klassenstandpunkt ihrer Vertreter:innen. So verweist das „Netzwerk Grundeinkommen“ (Blaschke) darauf, dass für ein BGE spräche:

„- mehr Autonomie für Unternehmer:innen durch deren Befreiung von der Verantwortung als Arbeit„geber“:innen,

– mehr Autonomie für Arbeit„nehmer“:innen durch die grundsätzliche Möglichkeit der Nichterwerbstätigkeit bzw. einer sinnvollen Tätigkeit außerhalb der Erwerbsarbeit,

– mehr Autonomie für alle durch die Sicherung von Existenz und Beteiligung am gesellschaftlichen Leben ohne Wenn und Aber,

– größere Unabhängigkeit bei der Suche nach einem Erwerbseinkommen,

– größere Verteilungsgerechtigkeit,

– Anreiz zu größerer Wertschöpfung und Rationalisierung,

– Flexibilität des Arbeitsmarktes,

größere Effizienz des „Sozialstaates“,

– Wahrung der Würde aller Menschen und Beseitigung von Stigmatisierungen vor allem bei den gegenwärtig Erwerbslosen und Sozialhilfebezieher:innen,

– Humanisierung der Arbeit,

– Förderung der Bildung,

– Stärkung der Familien,

– Förderung von Existenzgründungen wie auch von ehrenamtlichen Tätigkeiten,

– Förderung von Kreativitätspotenzialen durch die Möglichkeit der Muße.

Dieser Gemischtwarenladen entspricht der zumeist kleinbürgerlichen Ausrichtung der Initiativen. Er zeigt aber außerdem, dass auch die „linken“ Initiativen keineswegs unbedingt fortschrittliche Begründungen anführen.

Vor allem ist hier nichts von einem bestimmten, proletarischen Klassenstandpunkt zu merken. Im Gegenteil, das BGE wird auch in seinen linken Varianten als „Menschheitsmodell“ angepriesen, das allen Klassen, Beschäftigten wie Unternehmer:innen zugutekommen und zugleich den schrittweisen Aufbau eines nicht auf Lohnarbeit basierenden Sektors erlauben würde.

Bei den linkesten Modellen/Initiativen verknüpft sich das mit bestimmten ideologischen Zielen/Werten, die mit dem BGE durchgesetzt würden:

  • Entkoppelung vom Zwang zur Lohnarbeit oder gar vom „Arbeitszwang“; Einstieg in eine neue Form der Vergesellschaftung;

  • Kritik an der Arbeitsgesellschaft, Umbewertung der Nichtlohnarbeit;

  • Veränderung geschlechtsspezifischer Teilnahme am (Arbeits-) Leben.

Dies alles wird aber nicht als Kampfziele formuliert, sondern als quasi automatische Folge des BGE suggeriert.

Kritik an „linken“ Vorstellungen

Schon sehr früh in der Debatte wurde von sozialistischen, feministischen, operaistischen linken Strömungen massiver und oft auch richtiger Widerspruch gegen das BGE eingelegt. Die Kritik bezog sich sowohl darauf, dass das BGE seine Versprechen nicht einlösen könne, wie auch auf die negativen Folgen der zugrundeliegenden politischen Zielvorstellungen.

Wir wollen hier unsere wichtigsten Einwände darstellen:

1. Die Modelle des BGE werden als sozialpolitische staatliche Reformmodelle vorgetragen. Sie erscheinen nicht als Kampfziele in der Auseinandersetzung gegensätzlicher Klassen, sondern als Abfederung  negativer Auswirkungen des kapitalistischen Systems selbst. „Gerechtigkeit“ wird als Rechenaufgabe, weniger als Kampfauftrag verstanden. Das BGE soll gewissermaßen alle Klassen, abzüglich ihrer „uneinsichtigsten“ Teile, glücklich machen. Es ist daher kein Zufall, dass sich die Kritik der Vertreter:innen des BGE nicht nur an staatlichen Zwangsmaßnahmen festmacht und gegen die bürgerlichen Gegner:innen ihrer Konzeption richtet, sondern auch gegen große Teile der organisierten Arbeiter:innenbewegung und die sozialistische Linke.

2. Im Grunde wird die Existenz einer industriellen Reservearmee (Arbeitslosenmasse) als feststehendes Faktum nicht nur akzeptiert, sondern auch schöngeredet, indem unterstellt wird, dass die weniger repressive oder „repressionsfreie“ Alimentierung des Arbeitslosengeldes, von Hartz IV usw. zu einer schrittweisen, wenn nicht gar automatischen Überwindung des Systems der Lohnarbeit führen würde.

3. Die Ursachen von Armut usw. werden als Verteilungsproblem aufgefasst. Es wird daher auch bei allen Modellen eine Lösung vorgestellt, die Einkommen der Gesellschaft einfach nur umzuverteilen. Damit würden die Auswirkungen der Ausbeutung, Arbeitslosigkeit  usw. nicht nur vermindert. In den scheinbar radikalsten Begründungen wird auch behauptet, dass so das Privateigentum an Produktionsmitteln immer nebensächlicher werde, weil ja immer mehr im Sektor geschaffen würde, der nicht durch das Verhältnis von Lohnarbeit zu Kapital geprägt wäre. Andersrum: Wozu sich noch der Mühe unterziehen, das Kapital zu enteignen, wenn im BGE-Sektor ohnedies „neue“ Formen des Zusammenlebens aufgebaut werden?

4. Die verschiedenen Einkommensarten der Klassen (Lohn, Profit, Grundrente) erscheinen beim BGE nur als Mehr oder Weniger an Geld, also rein quantitativ verschieden. Sie sitzen damit dem Schein der bürgerlichen Gesellschaft auf, wie er sich auf der Ebene der Warenzirkulation aufdrängt. Ob das Geld aus Lohnarbeit oder Profit, aus Erbschaft oder Lottogewinn stammt, sieht man ihm nicht an. Daher erscheint es auch als nebensächlich, ob Menschen als Lohnarbeiter:innen beschäftigt oder freigesetzt sind, solange sie die gleiche Summe als BGE beziehen. Dabei verkennen die BGE-Anhänger:innen aber das Spezifische des Arbeitslohns im Unterschied zu anderen Einnahmequellen.

5. Der Arbeitslohn ist nichts anderes als die Erscheinungsform des Werts der Ware Arbeitskraft, ihr Tauschwert, genauer dessen Preisform. Hinter dieser Erscheinungsform verschwindet jedoch das Spezifische der Ware Arbeitskraft im Kapitalismus, nämlich ihr Gebrauchswert, Mehrwert für das Kapital zu schaffen.

Auf der gesellschaftlichen Oberfläche, in der alltäglichen Wahrnehmung und damit auch im spontanen Bewusstsein aller Klassen erscheint die Mehrwert schaffende Arbeit als eine Tätigkeit unter vielen anderen. Die Lohnabhängigen stellen auf dieser Ebene nur eine besondere Gruppe von Einkommensbezieher:innen dar.

Daher kann es auch so erscheinen, als würde eine Umverteilung der Einkommen, also eine immer größere Einkommensangleichung auch zur graduellen Abschaffung der Zwangsgesetze der bürgerlichen Gesellschaft führen können, insbesondere auch zur Abschaffung des Zwangs zum Verkauf der Ware Arbeitskraft.

Das gerät illusionär und gefährlich, weil die realen gesellschaftlichen Verhältnisse verkannt und auf den Kopf gestellt werden. Im Kapitalismus bestimmt die Produktionssphäre die Verteilung, nicht umgekehrt. Aus deren Eigendynamik heraus muss ein BGE also gerade zum gegenteiligen Resultat führen als dem, das von seinen Fürsprecher:innen angestrebt wird. Es tendiert unter kapitalistischen Verhältnissen nämlich immer zum Kombilohn. Insofern ist es kein Zufall, dass sich in Zeiten von Krisen Teile der Bourgeoisie und bürgerliche Regierungen zu „Reformmodellen“ wie dem BGE entschließen. So wird dies z. Zt. in Spanien und Irland erwogen.

Die „linken“ Vertreter:innen des BGE erweisen sich hier als blauäugig und utopistisch, weil sie selbst der Oberflächenerscheinung der gesellschaftlichen Ungleichheit aufsitzen, diese wesentlich als ungerechte Verteilung auffassen und darauf verkürzen.

6.  Tatsächlich sind Lohn, Profit, Grundrente unterschiedliche Einkommensquellen unterschiedlicher gesellschaftlicher Klassen, die durch ihre Stellung im Produktionsprozess bestimmt werden – die Produktionssphäre bestimmt die Verteilung von Einkommen. Diese stellt also einen vom Gang der Kapitalakkumulation abhängigen Faktor dar. Bloß, in der Geldform erscheint dieser qualitative Unterschied ausgelöscht, nur als ein quantitativer.

7. Das ist auch ein Grund, warum andere Formen der Ungleichheit und Unterdrückung durch bloße Veränderungen an der Einkommensverteilung nicht überwunden werden können. Denn das Kapitalverhältnis stellt das wesentliche gesellschaftliche Verhältnis dar, weil es alle anderen in ihren Ausformungen unterordnet, bestimmt.

8. Marx machte in „Kapital Band 1“ darauf aufmerksam, dass es einen Unterschied macht, ob wir das Kapitalverhältnis nur vom Standpunkt des/r einzelnen Kapitalist:in zum/r einzelnen Arbeiter:in betrachten oder als Verhältnis zwischen Klassen. Solange wir es als Verhältnis zweier Individuen analysieren, erscheint die Zeit außerhalb der Arbeitszeit als „frei“. Betrachten wir Kapital und Arbeit jedoch unter Klassenbedingungen in ihrer Gesamtheit, so zeigt sich, dass selbst die Sphäre der Reproduktion und individuellen Konsumption der Arbeitenden noch vom Kapital bestimmt wird – und damit natürlich auch die Reproduktion der Lohnabhängigen, die ihre Arbeitskraft nicht verkaufen können, unabhängig davon, ob diese ALG 1, Hartz IV, Bürger:innengeld, BGE oder gar nichts kriegen.

9. Die Bewegung des Gesamtlohns der Arbeiter:innenklasse in seinen verschiedenen Bestandteilen (Nettolohn, indirekte Lohnbestandteile, staatliche Transferzahlungen …) hängt dabei maßgeblich von der Akkumulationsbewegung des Kapitals ab. Sie reguliert die Höhe des Gesamtlohns je nach konjunkturellen und längerfristigen strukturellen Profitabilitätsbedingungen. Daher findet darin auch die Höhe des BGE der Lohnarbeiter:innen – als eine Form des Gesamtlohns betrachtet – ihre Grenzen.

10. Im Rahmen des Kapitalismus gibt es nur eine Weise, wie die Arbeiter:innenklasse die Höhe des Arbeitslohns verteidigen oder ausdehnen kann – durch organisierten betrieblichen, gewerkschaftlichen und politischen Kampf.

11. Die Zahl der Arbeitslosen – der industriellen Reservearmee – ist dabei eine zentrale Größe für die Erfolgsaussichten der Klasse. Je größer der Anteil der Beschäftigten, desto stärker die Kampfkraft, die ins Feld geführt werden kann. Je größer die Anzahl der Arbeitslosen, umso schwieriger wird die Verteidigung der Einkommen, Lebensbedingungen usw.

12. Den Kampf auf ein BGE zu konzentrieren und dieses zu einem Allheilmittel für eine andere Gesellschaft zu stilisieren, bedeutet bestenfalls, ihn auf die Sicherung der Existenz der Reservearmee auszurichten. Es bedeutet allerdings auch, sich dauerhaft mit einer Millionenmasse von Arbeitslosen oder Unterbeschäftigten, also einer weniger kampfstarken Klasse abzufinden. Es schwächt sie letztlich – und ein BGE, das die Existenz von Millionen sichert, wird so auch nicht aufrechterhalten werden können.

13. Hier kommt eine weitere zentrale Schwäche aller linken Vertreter:innen des BGE ins Spiel. Die Frage, wie die Klasse zu einer kämpfenden Einheit werden kann, wie sie sich als Arbeiter:innenklasse überhaupt konstituiert, sich Klassenbewusstsein bildet, existiert für sie erst gar nicht. Bestenfalls bestehen die Lohnabhängigen als eine Gruppe schlechter verdienender Einkommensbezieher:innen neben anderen. Die Vertreter:innen des BGE verfolgen daher auch keine klassenpolitische Ausrichtung, sondern stellen vielmehr eine kleinbürgerliche Strömung dar, die die zentrale Bedeutung des Klassenkampfes für das Erringen von Verbesserungen wie für eine andere Gesellschaft durch Hoffnungen in den Selbstlauf eines Reformmodells ersetzt.

14. Der Klassenkampf kann und muss jedoch geführt werden und auch im Zentrum unserer politischen Perspektive stehen, wenn Erwerbslosigkeit, Entlassungen und damit weitere Verschlechterungen für beschäftigte und unbeschäftigte Lohnarbeiter:innen verhindert werden sollen. Dass die Gewerkschaftsführungen den Kampf nicht oder nur auf extremer Sparflamme führen, heißt nicht, dass er nicht geführt werden kann. Es bedeutet aber, dass wir selbst eine klassenkämpferische Bewegung aufbauen müssen – in den Betrieben, aber auch unter den nicht beschäftigten Teilen der Arbeiter:innenklasse.

15. Für Arbeitslose, Rentner:innen, Studis usw. treten wir für eine Mindesthöhe ihrer Leistungsbezüge ein – und zwar in der Höhe des Mindestlohns und ohne Schikanen, Zwang vom Arbeitsamt, irgendeine Arbeit anzunehmen usw. Zur Zeit wären das mindestens 1.600 Euro/Monat. Dies soll für alle Betroffenen dieser Gruppen unabhängig von ihrer Staatsbürger:innenschaft gelten. Das scheint manchen einem bedingungslosen Grundeinkommen nahezukommen – aber es unterscheidet sich grundsätzlich durch die politische Stoßrichtung, die damit verbunden wird.

16. Beim BGE bildet nämlich die Verteilung der Transferleistungen den Hauptaspekt. Für uns steht hingegen der Kampf für folgende Forderungen im Zentrum, die unmittelbar das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital berühren:

  • gegen alle Entlassungen und Schließungen;

  • für Arbeitszeitverkürzung, um alle beschäftigen zu können. Der Kampf für eine 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich stellt einen wichtigen ersten Schritt dar zur Aufteilung der Arbeit auf alle;

  • für einen Mindestlohn von 15 Euro/Stunde; Erhöhung der Tariflöhne, automatische Anpassung der Löhne und Einkommen an die Inflation.

17. Diese Losungen verbinden wir mit der Forderung nach Enteignung der Unternehmen, die mit Kürzungen, Massenentlassungen, Schließungen drohen; mit dem Kampf für Fortführung und Reorganisation der Produktion und Dienstleistungen unter Kontrolle der Arbeitenden und für die Umstrukturierung der Produktion gemäß den Bedürfnissen der Gesellschaft und ökologischer Nachhaltigkeit.

18. Wenn wir nämlich, wie manche linke Anhänger:innen des BGE proklamieren, das System der Lohnarbeit und den Kapitalismus überwinden wollen, wird das nicht dadurch geschehen, dass BGE-Bezieher:innen scheinbar selbstbestimmt in Nischen alternative Produkte schaffen, sich um andere kümmern usw. Dabei mögen nützliche Dinge produziert werden, aber die Gesellschaft verändert das nicht. Es müssen die schon geschaffenen sachlichen Produktionsmittel, die heute Eigentum der Kapitalist:innenklasse bilden und für deren Profitzwecke produzieren, unter die Kontrolle der Produzent:innen, also der Gesellschaft gestellt werden. Das ist jedoch nur möglich, wenn die Arbeiter:innenklasse über eine möglichst große Kampfkraft und Bewusstheit verfügt, um die Herrschaft des Kapitals zu brechen und selbst die politische Macht zu erringen. Nur so ist es möglich, die Gesellschaft grundsätzlich umzustrukturieren und erste Schritte zu einer sozialistischen Planwirtschaft zu setzen.

19. Einige scheinbar radikale Vertreter:innen des BGE stellen dieses als Vorwegnahme einer zukünftigen, klassenlosen Gesellschaft dar, weil mit dem BGE der Arbeitszwang entfallen würde. In Wirklichkeit tritt bei diesen Heilsversprechen vor allem ein radikaler Grad an Verwirrung und Utopismus zutage. Grundsätzlich besteht für jede menschliche Gesellschaft ein Zwang zur Arbeit, also zur zielgerichteten, auf einen bestimmten Zweck gerichteten Tätigkeit zur Umwandlung von Rohstoffen zu Gebrauchsgütern zwecks Befriedigung menschlicher Bedürfnisse mithilfe mehr oder weniger entwickelter Arbeitsmittel (Werkzeuge, Maschinen). Natürlich wird eine zukünftige Gesellschaft die Masse gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit massiv reduzieren und die frei verfügbare Zeit der Individuen ausweiten. Sie wird insbesondere auch anstrengende, eintönige Arbeit auf ein Mindestmaß zu reduzieren suchen. Aber auch im Sozialismus und Kommunismus – von der Übergangsperiode zum Sozialismus ganz zu schweigen – wird die zum Leben notwendige Arbeit im Bereich der Produktion wie Reproduktion nicht verschwinden. Das kommunistische Ziel besteht nicht darin, den Zwang zur notwendigen Arbeit „abzuschaffen“, denn das ist unmöglich, sondern diese auf alle Gesellschaftsmitglieder gleich aufzuteilen, so dass niemand Zeit seines Lebens allein oder auch nur vornehmlich diese verrichten muss, und zweitens die Arbeit so zu gestalten, dass die Trennung von Zwang und Freizeit relativiert, tendenziell aufgehoben wird.

Der Unterschied zum Kapitalismus besteht also nicht in der Abschaffung des Zwangs zur Arbeit an sich – das ist für jede menschliche Gesellschaft unmöglich, wenn sie nicht verhungern und aussterben will – sondern erstens darin, dass er für alle gilt (auch für Angehörige der ehemaligen Kapitalist:innenklasse, die es im Kommunismus natürlich nicht mehr gibt), und darin, dass die notwendige Arbeit bewusst und geplant unter den Gesellschaftsmitgliedern aufgeteilt wird.

Wenn wir das BGE kritisieren, so lehnen wir Konzept und Absichten seiner bürgerlichen und auch vieler kleinbürgerlichen Vertreter:innen ab. Mit einer revolutionären Klassenpolitik ist das BGE – auch in seinen linken oder scheinbar linken Varianten – unvereinbar, denn gegen die Krise braucht es eine Strategie, ein Programm, das den Kampf gegen Entlassungen, Schließungen, für Mindestlohn und Einkommen ins Zentrum rückt und mit dem für die Enteignung des Kapitals verbindet.




Nein zu Preisexplosion und Lohnverlusten: Die Gewerkschaften müssen die Gegenwehr organisieren!

Konferenz der VKG am 9. Oktober 2022 (ursprünglich veröffentlicht auf vernetzung.org), Infomail 1201, 13. Oktober 2022

Die Inflation hat nicht gekannte Ausmaße erreicht. Die ersten Immobilienkonzerne haben die Warmmieten erhöht. 16 % der Bevölkerung verzichten bereits auf eine Mahlzeit am Tag. Viele Konzerne machen weiter Rekordprofite, deren Bosse kassieren Millionen. Die Masse der Lohnabhängigen wird zum Verzicht aufgefordert, dafür wird sogar das Märchen von der Lohn-Preis-Spirale ausgepackt. Aber selten war so klar wie heute, dass es politische Entscheidungen, Aufrüstung, Krieg und die Zuspitzung zwischen den Großmächten sind, die die Krise befeuern.

Wir fordern die Gewerkschaftsvorstände auf, jetzt in den Betrieben und auf der Straße zu mobilisieren, um eine breite Bewegung aufzubauen. Die Beteiligung an der konzertierten Aktion mit Regierung und Unternehmern muss beendet werden.

Di anstehenden Tarifrunden in der Metall- und Elektroindustrie sowie später in Bund und Kommunen bieten die Möglichkeit, gegen die drohenden Reallohnverluste zu kämpfen. Die Frage des Kampfes gegen die Teuerung dürfen w nicht den Rechten überlassen.

Metall

Wir fordern die führenden Gremien der IG Metall auf, für die volle Durchsetzung ihrer Forderungen zu mobilisieren und dafür eine Urabstimmung und Vollstreik vorzubereiten. Die üblichen Rituale werden dafür nicht reichen! Es darf keine Kompensation durch eine steuerfreie Abschlagzahlung und angesichts der unsicheren Lage keine Laufzeit über 12 Monaten geben!

Öffentlicher Dienst

Wir fordern die führenden Gremien von ver.di auf, die Beschlüsse in der Mitgliedschaft aufzugreifen: hier wurden auf mehreren Versammlungen Forderungen zwischen 400 und sogar 600 Euro monatliche Festgelderhöhung beschlossen, sowie Prozentforderungen zwischen 13 und 19 Prozent. Wichtiges Anliegen ist zudem eine maximale Laufzeit von 12 Monaten. Viele Kolleg*innen sind bereit, dafür auch in einen unbefristeten Streik zu treten.

Nachschlagforderungen

Wo Tarifverträge noch lange laufen, müssen jetzt Nachschläge gefordert werden.

Alle gemeinsam für die Verteidigung der Reallöhne!

In allen Betrieben sollten jetzt Versammlungen stattfinden, und für gemeinsame Proteste und eine bundesweite Demonstration mobilisiert werden. Tarifrunden sollten koordiniert werden, so dass gemeinsame Streikdemonstrationen stattfinden können. Eine solche Bewegung, hin zu gemeinsamen Streiks, ist nötig.

Diese Bewegung kann und soll auch alle einbeziehen, die nicht tariflich bezahlt werden, ebenso Rentner*innen und Beschäftigungslose. Die Preisexplosionen treffen sie oft mit besonderer Härte!

Zentrale Forderungen für eine gewerkschaftliche Kampagne sollten sein:

– Staatliche Preiskontrollen und -obergrenzen für Energie, Lebensmittel und Mieten!

– Gleitende Lohnskala: automatische Anpassung der Löhne, Renten und Sozialleistungen an die Inflation!

– In den Tarifrunden: Reallohnsteigerung bei Tarifabschlüssen durchsetzen! Keine Kompensation von nötigen Tabellenerhöhungen durch Einmalzahlungen u.a.! Tariflaufzeiten maximal 12 Monate!

– Nachschlagforderungen, wo lange Laufzeiten gelten!

– 100 Milliarden für Gesundheit, Soziales, Bildung und Klima statt für Rüstung!

– Reiche sollen zahlen: Steuern auf Profite und Vermögen!

– Statt rassistischer Lohndrückerei und prekärer Arbeit – gleiche Löhne und das Recht zu Arbeiten auch für Geflüchtete und MigrantInnen!

Wir setzen uns in den Gewerkschaften für ein Aktionsprogramm ein:

– Versammlungen in Betrieben und Gewerkschaften mit verbindlichen Entscheidungen auf allen Ebenen und Aktivenkonferenzen

– Mobilisierungsmaterial bereitstellen: Flugblätter, Plakate

– Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen

– Wöchentliche lokale Proteste, zu der Kolleg*innen in den Betrieben mobilisiert werden

– Bundesweite Großdemonstration als Schritt hin zu weiteren Mobilisierungen bis hin zu Arbeitsniederlegungen

– In den Tarifrunden: Urabstimmungen und Erzwingungsstreiks ernsthaft vorbereiten

– Gemeinsam kämpfen: Koordinierung von Protesten, Warnstreiks und Streiks

Die Unterzeichnenden rufen dazu auf, mit uns gemeinsam für diese Punkte in ihren Betrieben und Gewerkschaften aktiv zu werden. Wir werden uns weiter koordinieren, um den Druck aufzubauen, damit eine solche gewerkschaftliche Kampagne umgesetzt wird.

Alle Kolleginnen und Kollegen können selbst die Initiative ergreifen:

  • Bringt diese Forderungen in Gewerkschaftsgremien oder auf Betriebsversammlungen ein
  • Sucht dafür Kolleginnen und Kollegen, geht mit ihnen zu den Betriebsräten, zur Gewerkschaft und zu örtlichen Protestaktionen
  • Nehmt Kontakt mit uns auf, berichtet von euren Aktivitäten und nutzt gerne unser Material!
  • Bildet lokale oder betriebliche Gruppen der VKG und geht als gemeinsamer Block auf die Demos und Aktionen!

Nur wenn die Gewerkschaften wieder in Bewegung kommen, nur wenn sie unter die Kontrolle der Mitglieder kommen, können die Gewerkschaften auch wieder stark werden!

Diese Erklärung wurde auf der Konferenz der VKG am 9. Oktober 2022 einstimmig bei einer Enthaltung angenommen.

Erklärung zum Herunterladen:

https:/vernetzung.org/wp-content/uploads/2022/10/Erklaerung-VKG-Preisexplosion-Lohnverluste.pdf




Care-Sektor: Warum die, die uns am Leben erhalten trotzdem so schlecht bezahlt werden

Sani Meier (REVOLUTION, Deutschland), Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 10, März 2022

Spätestens seit Beginn der Corona-Krise wurde uns allen noch einmal mehr verdeutlicht, wie sehr wir auf die Arbeiter_Innen im Gesundheitssektor angewiesen sind und wie schlimm es eigentlich um diesen ganzen Bereich steht: Überstunden, viel zu niedrige Löhne, privatisierte Kliniken und mangelndes Personal sind hier nur ein paar der unzähligen Baustellen. Doch warum werden gerade die Menschen, die uns buchstäblich am Leben erhalten so schlecht bezahlt?

Was ist Care-Arbeit eigentlich?

Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns zunächst einmal anschauen, was genau Care-, oder Sorgearbeit, eigentlich ist, denn hierzu zählt noch viel mehr als die Arbeit in Krankenhäusern. Generell fällt hierunter alles, was dem Erhalt menschlichen Lebens dient. Das ist also auch die Versorgung und Erziehung von Kindern, alten Menschen sowie Pflege- und Haushaltstätigkeiten wie u. a. Kochen, Putzen, Waschen und emotionale Fürsorge. Hier findet zudem eine Unterscheidung zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit statt. In Kliniken, Schulen, Kindergärten, Altersheimen oder ambulanten Pflegediensten wird gegen Lohn gearbeitet, während der größte Anteil unbezahlt und mehrheitlich von Frauen im Haushalt geleistet wird. Weltweit werden ungefähr 2/3 dieser unbezahlten Sorgearbeit von Frauen getragen, durchschnittlich verbringen Frauen 3,2-mal mehr Zeit damit. Care-Arbeit im privaten Haushalt wird also nicht mal wirklich als Arbeit angesehen, während in öffentlichen oder privaten Einrichtungen die Ausbeutung der Arbeiter_Innen kontinuierlich wächst. Somit stellt die Tatsache, dass man überhaupt für bestimmte Care-Tätigkeiten entlohnt wird, oft nur eine minimale Verbesserung für die Beschäftigten dar.

Der Charakter von Care-Arbeit im Kapitalismus

Die Entscheidung über Löhne und Arbeitsbedingungen ist dabei aber keine moralische, sondern basiert auf den Funktionsweisen des Kapitalismus. Alle Menschen, die selbst nicht das Kapital besitzen, um Produktionsmittel wie Fabriken, Maschinen etc. zu kaufen (Arbeiter_Innen), müssen ihre Arbeitskraft gegen Lohn an diejenigen verkaufen, die über dieses verfügen (Kapitalist_Innen). Letztere kaufen Arbeitskraft für einen gewissen Zeitraum mit der Absicht, das Produkt bzw. die Dienstleistung zu einem höheren Preis zu verkaufen als deren Kosten einschließlich der zur Reproduktion der benötigten Arbeitskraft. Diese Differenz nennen wir Mehrwert (Profit( für die Kapitalist_Innen. Dieser entsteht dadurch, dass Arbeiter_Innen nicht dann Feierabend machen können, wenn sie den Gegenwert ihres Lohnes erzeugt haben, sondern darüber hinaus weiterarbeiten müssen. Ab diesem Zeitpunkt wird unbezahlte Mehrarbeit geleistet, deren Wert sich die Kapitalist_Innen aneignen. Um diesen Profit möglichst effektiv zu maximieren, versuchen sie natürlich, die Lohnkosten so gering wie möglich zu halten. Da die Löhne aber dennoch hoch genug sein müssen, um die Arbeiter_Innen am Leben zu halten und den weiteren Verkauf ihrer Arbeitskraft zu sichern, wird ein Großteil der dafür benötigten Tätigkeiten (Reproduktionsarbeit) in die private und unbezahlte Sphäre in der „Freizeit“ der Beschäftigten ausgelagert. Warum manche reproduktive Arbeiten in öffentliche und private Hand gegeben werden, hat unterschiedliche Gründe. Auf der einen Seite profitieren Kapitalist_Innen auch davon, weibliche Arbeitskraft ausbeuten zu können, und Dinge wie eine einheitliche (Aus-)Bildung sind auch für manche Wirtschaftsbereiche notwendig. Das ist nicht immer besonders profitabel. Deshalb schreitet der Staat ein, um für das Kapital bestimmte Dinge umzusetzen, wo sich Unternehmen keinen (großen) Profit erhoffen können. Aber auch in Kriegssituationen kommt es oft zu einer Verstaatlichung der meisten reproduktiven Aufgaben, da die Arbeitskräfte fehlen und entlastet werden müssen. Andererseits wurden auch viele Fortschritte in Klassenkämpfen errungen. Im Care-Sektor (also Kinderbetreuung, Krankenhäuser u. ä.) haben von Beginn an hauptsächlich Frauen gearbeitet und da man erwartet hatte, dass ihre Beschäftigung mit Beginn der Ehe enden oder lediglich Nebeneinkommen zu dem des Mannes erwirtschaften würde, wurden Frauen von Anfang an schlechter bezahlt und ein Aufstieg in besser bezahlte Positionen (z. B. von der Krankpflegerin zur Ärztin) war lange nicht denkbar.

Doch obwohl Frauen heute fast selbstverständlich erwerbstätig sind, auch wenn sie heiraten, und es immer mehr Ärztinnen gibt, hat sich an der schlechten Bezahlung und den miserablen Arbeitsbedingungen wenig geändert. Wie kann das sein?

Die Ursache liegt im grundlegenden Verhältnis dieser Arbeit zum Kapital. Solange Reproduktionsarbeit (wozu private Kindererziehung ebenso zählt wie die Betreuung in der Kita) in staatlichen Einrichtungen geleistet wird, entsteht durch sie kein Mehrwert für das Kapital. Wenn es sich also nicht vermeiden lässt, diese Arbeiten außerhalb der Familie und des privaten Haushaltes zu verrichten, muss es eine andere Möglichkeit geben, damit Profit zu generieren: Privatisierung!

Privatisierung und Prekarisierung

Spätestens seit Einführung der Fallpauschale 2004 in Deutschland, welche für jedes Krankheitsbild eine durchschnittliche Bezahlung für die Behandlung festlegt, womit alles, was darüber hinausgeht, ein Defizit für die Klinik oder enormen Bürokratieaufwand bedeutet, sahen sich viele Kommunen gezwungen, ihre Kliniken an private Unternehmen zu verkaufen. Seit 1991 ist die Zahl der privaten Klinken um 70 % gestiegen und über 320 % mehr privatisierte Betten sind seitdem entstanden. Das führt dazu, dass vor allem die Behandlungen durchgeführt werden, die am meisten Profit bringen und im Gegenzug möglichst viel Geld beim Personal eingespart wird, um konkurrenzfähig zu bleiben. Kein Wunder also, dass allein zwischen 2002 und 2006, also rund um die Einführung der Fallpauschalen und den Beginn der Privatisierungswelle, circa 33.000 Vollzeitstellen in der Pflege wegfielen. Aktuell fehlen rund 100.000 Vollzeitstellen. Pflegekräfte arbeiten momentan rund 10 Jahre lang in ihrem Beruf, bevor sie wegen Überlastung eine neue Beschäftigung suchen.

Was tun?

Es ist also vor allem der Druck, Profit im Care-Sektor zu generieren, welcher letztendlich sowohl den Beschäftigten schadet als auch den Patient_Innen und damit der gesamten Bevölkerung. Wir fordern deshalb, dass der Care-Sektor nach den Bedürfnissen derer ausgerichtet werden muss, die er versorgt und die darin arbeiten. Dazu braucht es auf der einen Seite die Entprivatisierung und Neuorganisierung öffentlicher Einrichtungen unter Arbeiter_Innenkontrolle wie auch die Vergesellschaftung der privaten Reproduktionsarbeit in Form von öffentlichen Wäschereien, Küchen, Kitas etc. Diese Forderungen können aber letztendlich nicht vollständig im Rahmen des kapitalistischen Systems realisiert und müssen deshalb immer als Teil einer revolutionären gesellschaftlichen Umwälzung gesehen werden, die das Ziel hat, den Kapitalismus zu überwinden. Bis dahin muss es aber auch unsere Aufgabe sein, für konkrete Verbesserungen im Hier und Jetzt zu kämpfen wie zum Beispiel: Die Offenlegung aller Geschäftsbücher und damit volle Einsicht der Beschäftigten in Kosten und Einnahmen ihrer Betriebe!

  • Die Verstaatlichung und den Ausbau des gesamten Care-Sektors unter Kontrolle der Beschäftigten, Patient_Innen, Gewerkschaften und Arbeiter_Innen, finanziert durch die Besteuerung der Reichen!
  • Mehr Planungssicherheit und Wertschätzung für Care-Berufe! Das heißt: höhere Löhne, verringerte Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich und mehr Personal in sämtlichen Pflegebereichen!
  • Das Ende der Fallpauschalen! Für eine Behandlung, die an der Gesundheit und den Bedürfnissen der Patient_Innen ausgerichtet ist und nicht am Profit privater Konzerne!

Quellen

https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/—dgreports/—dcomm/—publ/documents/publication/wcms_633166.pdf