Manifest für Frieden: bürgerlicher Pazifismus am Pranger

Wilhelm Schulz, Infomail 1214, 22. Februar 2023

Die Petition „Manifest für Frieden“ wurde am 10. Februar von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer veröffentlicht. Sie stellt einen Aufruf für die sofortige Einstellung von Waffenlieferungen und Einleitung von Friedensverhandlungen dar. Der Text fordert die Bundesregierung und den Bundeskanzler auf, Verhandlungen einzuleiten, um „Schaden vom deutschen Volke [zu] wenden“. Der Entrüstungssturm über die Petition zeigt jedoch weniger deren politische Begrenztheit auf als den Beweis, welche Anfeindungen selbst linksliberaler oder sozialchauvinistischer Pazifismus aktuell erfährt.

Auch wenn wir die Petition nicht unterstützen, so halten wir sie doch für den momentan lautstärksten Vorstoß aus den Reihen der Friedensbewegung. Die Versammlung am 25. Februar wird rund um das bittere erste Jubiläum des russischen Angriffs auf die Ukraine vermutlich die größte jener sein, die sich gegen den Aufrüstungs- und Eskalationskurs der deutschen Regierung stellen wollen. Auch wenn wir Pazifismus als Form bürgerlicher Ideologie ablehnen, so ist der der Massen ein nachvollziehbarer Ansatz angesichts drohender Verschärfung der Barbarei und des Mangels an einer fortschrittlichen Perspektive zu ihrer Überwindung. Aus diesem Grund werden wir an der Versammlung teilnehmen, während wir von den Organisator:innen fordern, sich vor Ort deutlich von etwaigen rechten Akteur:innen abzugrenzen und diese, falls sie anwesend sollten, durch Ordner:innen aus der Versammlung zu werfen.

Die Petition verzeichnet mittlerweile fast 600.000 Unterstützer:innen (Stand: 22.02.23). Neben den beiden Initiatorinnen gibt es noch 69 Erstunterzeichner:innen – eine breite Palette, die mit dem Begriff linksliberal nur verzerrt zusammengefasst werden kann.

Auch wenn aufgrund des öffentlichen Drucks einige wie die ehemalige Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche (EKD), Margot Käßmann, ihre Unterschrift zurückgezogen haben, so bleiben die meisten Unterzeichner:innen Wissenschaftler:innen und Kulturschaffende, die dem Spektrum von SPD, Linkspartei und Grünen nahestehen.

Es ist aber bezeichnend für die politische Ausrichtung der Initiatorinnen Schwarzer und Wagenknecht, dass einige Prominente aus dem konservativen und rechten Spektrum, darunter Erich Vad, Brigadegeneral a. D. der Bundeswehr und von 2006 bis 2013 Militärpolitischer Berater von Angela Merkel im Kanzler:innenamt, dahinterstehen. Vad hat zudem in der Vergangenheit vor rechten Burschenschaftlern referiert und für die rechtspopulistische Junge Freiheit vor etwa 20 Jahren geschrieben.

Die Unterstützer:innenliste umfasst jedoch nicht nur Ex-Funktionsträger:innen und mehr oder weniger bekannten linke Persönlichkeiten, sondern auch Repräsentant:innen der reformistischen Arbeiter:innenbewegung wie Christof Ostheimer, der ver.di-Bezirksvorsitzende Südholsteins, oder Michael Müller, den Bundesvorsitzenden der sozialdemokratischen Naturfreunde. Daneben natürlich Wagenknecht, die Galionsfigur der Linken, die in den letzten Jahren der Klassenpolitik den Rücken kehrte und ein linkspopulistisches Programm für DIE LINKE zu etablieren versucht. Und Schwarzer, eine bürgerliche Feministin der zweiten Welle des Feminismus, die vor allem durch Transfeindlichkeit in den letzten Jahren bei neuen Generationen von Feminist:innen angeeckt ist.

Insgesamt handelt es sich um ein volksfrontartiges, klassenübergreifendes Personenbündnis. Der Aufruf stellt keine Aufforderung zum aktiven Handeln dar, sondern letztlich nur den kleinsten gemeinsamen Nenner der Initiator:innen. Aber er hat hunderttausende Unterschriften erhalten, weil nicht zuletzt Millionen Lohnabhängige über die Militarisierung und den Kriegskurs der Bundesregierung zu Recht beunruhigt sind.

Zum Inhalt

Das Manifest selbst spricht sich für die sofortige Einstellung von Kriegshandlungen aus. Es droht vor einer latenten Gefahr der Ausweitung über ihre bisherigen Grenzen bis hin zum Weltkrieg. Der Überfall Russlands auf die Ukraine und die Notwendigkeit von Solidarität mit ihrer Bevölkerung wird benannt. Dies bleibt allerdings letztlich ohne konkrete politische Folgen, weil nirgendwo das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine verteidigt oder als Ziel eines etwaigen Friedens benannt wird. Nirgendwo wird der Rückzug der russischen Invasionstruppen aus den seit Februar 2022 eroberten Gebieten gefordert.

Der Text spricht sich im Anschluss nur gegen den Kriegskurs der Bundesregierung und des ukrainischen Präsidenten Selenskyj aus. Militärstrategisch sieht sich der Petitionstext vor einer Pattsituation. So schreiben die Initiatorinnen: „Die Ukraine kann zwar – unterstützt durch den Westen – einzelne Schlachten gewinnen. Aber sie kann gegen die größte Atommacht der Welt keinen Krieg gewinnen.“ Aus dieser Erkenntnis folgt der Aufruf an die Bundesregierung, zwischen den USA und Russland zu vermitteln oder auf die europäischen Nachbar:innen einzuwirken. Demnach soll Olaf Scholz die Waffenlieferungen einstellen und eine „Allianz für einen Waffenstillstand“ aufbauen.

Die hier aufgeworfene Perspektive verbleibt vollständig innerhalb des Horizonts bürgerlicher Diplomatie. Den Krieg können anscheinend nur Diplomat:innen stoppen. So heißt es: „Wir Bürgerinnen und Bürger Deutschlands können nicht direkt auf Amerika und Russland oder auf unsere europäischen Nachbarn einwirken.“ Daher müssten wir „unsere Regierung“ in die Pflicht nehmen und Olaf Scholz zum Anführer einer „Friedensallianz“ krönen.

Doch die „Friedensallianz“, die keine eigenen Klasseninteressen vertritt, gibt es nicht und kann es nicht geben. So wie die deutsche Regierung mit Sanktionen und Waffenlieferungen ihre eigenen imperialistischen Interessen verfolgt, die Ukrainer:innen im Krieg für ihre eigenen geostrategischen und wirtschaftlichen Zwecke unterstützt, wird sie das natürlich auch am Verhandlungstisch tun – und genauso werden das alle anderen Beteiligten auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung versuchen.

Letztlich soll der geforderte Frieden dem deutschen Interesse dienen. Demnach ist der Krieg einer zwischen den USA (im Aufruftext Amerika) und Russland. Eine Beteiligung oder genauer deren Fortsetzung entsprächen nicht den Interessen Deutschlands bzw. denen des deutschen Kapitals. In diesem Sinne appelliert der Aufruf an die deutsche Bourgeoisie und ihren Staat, um diese für die Linie der vergangenen Jahrzehnte zurückzugewinnen. Eben jene konnte den Kriegskurs aber nicht stoppen, weil sie keine oder nur wenige Anhänger:innen unter der herrschenden Klasse in Deutschland besitzt. Das kann sich natürlich ändern – und darauf hoffen letztlich Schwarzer und Wagenknecht.

Es ist auch kein Wunder, dass daher Forderungen, die das direkte Interesse des deutschen Imperialismus auch in der Konkurrenz zu Russland berühren, außen vor bleiben. So werden weder die Abschaffung der Sanktionen noch der Stopp der Aufrüstung der Bundeswehr und NATO auch nur erwähnt. Dabei befeuern die Sanktionen nicht nur die Inflation und Armut hierzulande, sondern vor allem auch den Hunger und Not in der Welt. Ihre Folgewirkungen bedrohen das Leben Hunderttausender.

Das 100-Milliarden-Programm, die europäische Rüstungsinitiative und die Aufstockung der schnellen NATO-Eingreiftruppe auf 300.000 Soldat:innen finden sich im Aufruf mit keinem Wort.

Zu diesen Fragen gibt es unter den Initiator:innen entweder keine Einigkeit oder man möchte konservative Gegner:innen des Ukrainekriegs nicht mit Abrüstungsforderungen an die deutsche Regierung „abschrecken“. So bleibt es beim allgemeinen Ruf nach Frieden – im deutschen Interesse. Der Sozialpazifismus wird als die beste Politik für „unseren“ Imperialismus präsentiert.

Und wie wird darüber gesprochen?

Die öffentliche Kritik am Aufruf lässt sich in zwei Stoßrichtungen einteilen, wobei die eine die andere erkennbar bestimmt. Einerseits jene, die jedweden Bruch mit der konfrontativen Politik gegenüber dem russischen Imperialismus als reaktionär abstempelt. Andererseits jene, die dem ausweicht und die Gefahr der Beteiligung reaktionärer Anhänger:innen über die Notwendigkeit stellt, für eine internationalistische und klassenkämpferische Ausrichtung der Opposition gegen die Kriegspolitik der Bundesregierung zu kämpfen. Als Produkt kommt bei beiden Kritiken ähnliches raus: Passivität gegenüber der neuen Orientierung des deutschen Imperialismus.

Die Petition ist in der Linken, aber vor allem in DIE LINKE, sehr umstritten. Der Parteivorstand der LINKEN hat am Donnerstag, dem 16.2, bekanntgegeben, den Protest zu unterstützen, der sich für Frieden und Waffenstillstand einsetzt und von rechts abgrenzt – nicht aber die größte Kundgebung gegen die Bundesregierung. Das Ausbleiben einer Erwähnung des „Manifest für Frieden“ spricht hier Bände, denn es ist aus den Reihen der Partei der aktuell bekannteste Ansatz. Die Stellungnahme stellt dementsprechend eine indirekte Distanzierung dar, die umgekehrt aber allen freistellt, doch hinzugehen oder den Aufruf zu unterzeichnen.

Das Manifest ist in seiner Perspektive weder neu noch innovativ. Es vertritt eine Form bürgerlicher Politik, die mittels eines Appells an den Staat in Form von Bundesregierung und -kanzler zum Richtungswechsel in Fragen der Waffenlieferungen und Friedensverhandlungen drängen möchte und die alles mit dem Verweis auf deutsche Interessen begründet. Der Richtungsstreit wird im Militärjargon als jener zwischen Falken, den sogenannten Hardliner:innen, und Tauben, der Orientierung auf Verhandlungen, beschrieben. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) formuliert den Standpunkt der Hardliner:innen, aber auch ihren Punktsieg in der politischen Stimmung in Deutschland deutlich, wenn sie die Unterzeichner:innen des Manifests „zu propagandistischen Helfern eines Kriegsverbrechers“ abstempelt.

Dabei greift sie zwar genüsslich wirkliche Schwächen des Aufrufs auf und dessen Verharmlosung des russischen Imperialismus, aber die FAZ unterschlägt dabei natürlich die imperialen Kriegsziele der NATO, der USA und auch Deutschlands.

Vorwurf der Querfront oder zumindest rechten Unterwanderung

Der AfD Co-Vorsitzende Tino Chrupalla hat öffentlich verkündet, das Manifest unterschrieben zu haben. Dies hat er nicht als einer der Erstunterzeichnenden getan, sondern einfach nur ein Kontaktformular auf einer Homepage unterschrieben. Chrupalla und das von Jürgen Elsässer geführte, neurechte Magazin Compact riefen darüber hinaus zur Beteiligung an der Kundgebung am 25. Februar in Berlin auf. Wagenknecht distanzierte sich im Interview mit dem SPIEGEL öffentlich davon und untersagte die Beteiligung von AfD und anderen Akteur:innen der Rechten. Oskar Lafontaine, der ehemalige Mitbegründer der LINKEN und Erstunterzeichner, riss diese Brandmauer kurz darauf erneut nieder, indem er die „Gesinnungsprüfung“ oder Parteibuchkontrolle bei Einlass zur Demonstration ausschloss. Eine politische Schmierenkomödie mit ungewissem Ausgang.

Im Aufruf selbst wird die Abgrenzung nach rechts jedoch nicht deutlich formuliert. Auch wenn wir diese bereits im Petitionstext für notwendig erachtet hätten, so fand die Distanzierung schlussendlich doch statt. Die konsequente Fortsetzung dessen müsste eine eindeutige Abgrenzung im Rahmen der Versammlung und ein Rauswurf öffentlich bekannter oder auftretender rechter Akteur:innen durch Ordner:innen bedeuten. Ob es dazu kommt, steht in den Sternen.

Die AfD versucht mittels ihrer Kriegsposition, ähnlich wie das Manifest für Frieden, eine alternative Ausrichtung für das deutsche Bürger:innentum anzubieten. In diesem Sinne ist ihr Aufruf zur Unterstützung nachvollziehbar, aber das hat noch einen zweiten positiven Punkt für die Rechten. Es ist ihren Akteur:innen vermutlich sehr deutlich klar, dass ein Mobilisierungsaufruf ihrerseits die Demobilisierung im Lager der Arbeiter:innenbewegung befeuern würde.

Sie würden damit sowohl die Verbitterung im Lager der Initiator:innen und ihrer Unterstützer:innen anspornen, während sie ihre eigenen Mobilisierungen weiterhin als die relativ stärksten verkaufen können. Notwendig wäre eine klassenkämpferische Position, die die Schwächung des eigenen Imperialismus, die Beendigung des Krieges durch Klassenkampf ins Zentrum stellt. Ein solcher Aufruf hätte sich jedoch an den DGB und seine Mitgliedschaft richten sollen, eine Verbindung zu den das Jahr 2023 durchziehenden Arbeitskämpfen gebraucht. Eine solche Perspektive gilt es, auch in die Tarifauseinandersetzungen zu tragen.

Begrenzter Pazifismus

Laut Unterstützer:innen der Petition in der LINKEN unterstütze weiterhin eine Mehrheit der Parteimitglieder den Vorstoß. Was jedoch deutlicher zu erkennen ist, ist die Kapitulation der Partei angesichts der aktuellen Herausforderungen. DIE LINKE versteht sich seit ihrer Entstehung als Antikriegspartei, eine Position auf dem Sand des Pazifismus gebaut. Beide Bewegungsrichtungen (Parteivorstand und Regierungssozialist:innen oder Wagenknechtlager), in die pazifistische Politik angesichts des Krieges taumelnd, zeigen deren Begrenztheit auf. Die Mehrheit des Parteivorstandes hält die Füße still, da sie schlussendlich den Frieden nur durch einen militärischen Sieg der Ukraine für möglich halten will und die Rolle der NATO herunterspielt. Der andere Teil sieht dies als unmöglich an und orientiert dementsprechend auf Verhandlungen zwischen jenen Akteur:innen, die spätestens seit 2014 regelmäßig Öl ins Feuer kippen.

Beide Ansätze verstehen den Krieg als externen Schock, den es zu beseitigen gilt, um die rechtmäßige (bürgerliche) Ordnung wiederherzustellen. Dabei ist der Krieg dem Kapitalismus innerlich. Er bietet eine Chance, dessen Überakkumulationskrisen durch massive Vernichtung von Kapital und Arbeit, aber auch Verdrängung imperialistischer Konkurrenz im Kampf um die Neuaufteilung der Welt zu lösen. Sowohl der Fokus der Hardliner:innen als auch jener der Verhandlungsbefürworter:innen überlässt die Handlungsfähigkeit den Herrschenden. Beide bieten Arbeiter:innen und Unterdrückten keine eigenständige Handlungsperspektive.

Insgesamt lehnen wir Verhandlungspredigten ab. Sie haben auf verschiedenen Ebenen einen passiven Charakter. Erstens erhoffen sie gerade von jenen imperialistischen Regierungen einen „gerechten Frieden“, die selbst maßgeblich den Krieg befeuert haben und befeuern. Zweitens unterstellen sie den Krieg als etwas Außerordentliches, in dem es nur um Töten oder getötet Werden geht. Das Zurückholen der jeweiligen Staaten an den Verhandlungstisch, die den vorherigen „friedlichen“ Zustand wiederherstellen sollen, bleibt die letzte waffenlose Form der Vaterlandsverteidigung.

Wer ist das Subjekt einer Antikriegsbewegung?

Der Aufruf für den 25. Februar macht dies ganz deutlich. Die deutsche Bevölkerung – also auch die Arbeiter:innenklasse – können ihm zufolge nichts bewirken. Daher muss Olaf Scholz als Friedensarchitekt ran.

Doch nicht nur die deutsche Bevölkerung taucht als Subjekt nicht auf. In der Ukraine und in Russland gibt es anscheinend auch nur Herrschende. Die ukrainischen Massen, die die Hauptlast des Kriegs tragen müssen, erscheinen nur als bedauernswerte Opfer. Ihre eigenen sozialen und demokratischen Rechte und Interessen gibt’s anscheinend nur als Restgröße der Verhandlungen zwischen Putin und Biden, unter Vermittlung von Scholz und Macron. Die russische Arbeiter:innenklasse und die dortige Antikriegsbewegung werden erst gar nicht erwähnt.

Als Revolutionär:innen stellen wir im Kampf gegen diesen Krieg und seine Folgen den Klassenkampf, die Frontstellung zur herrschenden Klasse und zum „eigenen“ Imperialismus in den Mittelpunkt. Zugleich solidarisieren wir uns mit den Arbeiter:innen in der Ukraine und Russland. So haben wir schon im Mai letzten Jahres folgende Vorschläge für den Aufbau einer Antikriegsbewegung in Deutschland erbracht, die in ihren Grundzügen bis heute (leider) noch immer Gültigkeit haben:

„ – Nein zu Putins Angriffskrieg! Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung und Antikriegsbewegung in Russland!

– Sofortiger Abzug der russischen Armee! Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung, Anerkennung ihres Rechts auf Selbstverteidigung gegen die Invasion!

– Solidarität mit der Antikriegsbewegung und der Arbeiter:innenklasse in Russland; Verbreitung der Aktionen gegen den Krieg; Freilassung aller Festgenommenen!

– Aufnahme aller Geflüchteten, Bleibe- und Staatsbürger:innenrechte für alle – finanziert durch den Staat; Integration der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt, Aufnahme in die Gewerkschaften!

– Nein zu jeder NATO-Intervention! Gegen alle Sanktionen, Aufrüstung, NATO-Truppenverlagerungen und Waffenlieferungen! Gegen NATO-Ausweitung, sofortiger Austritt aus der NATO!

– Keinen Cent für die imperialistische Politik, für die Bundeswehr! Nein zum 100-Milliarden-Programm der Ampelkoalition!

– Die Kosten für die Preissteigerung müssen die Herrschenden zahlen! Enteignung des Energiesektors und anderer Preistreiber:innen unter Arbeiter:innenkontrolle! Übernahme gestiegener Lebenshaltungskosten der Arbeiter:innenklasse, der Rentner:innen, von Erwerbslosen durch Besteuerung des Kapitals! Verstaatlichung der Rüstungsindustrie und Konversion unter Arbeiter:innenkontrolle!

– Politischer Massenstreik und Massendemonstrationen gegen jede direkte NATO-Intervention!“

Doch um diese Perspektive zu verbreiten, müssen wir diese auch unter die Arbeiter:innen tragen – auch unter jene, die vom Pazifismus geprägt sind und aus diesem Grund den Aufruf unterzeichnet haben bzw. zur Kundgebung kommen. Für sie erscheint die Verhandlung, ein Mittel zur Beendigung der Barbarei darzustellen, ohne dabei jedoch die Frage nach deren Ursprung und Wiederholungspotential aufzuwerfen. In diesem Sinne rufen wir alle linken und klassenkämpferischen Organisationen dazu auf, sich an der Versammlung zu beteiligen und für eine Position des Klassenkampfes einzutreten.




AfD-Großdemonstration in Berlin – ein Alarmsignal für Arbeiter:innenklasse und Linke

Wilhelm Schulz, Infomail 1201, 9. Oktober 2022

Es war ein unheimlicher Aufmarsch. Am Samstag, den 8. Oktober, folgten etwa 10.000 Personen der AfD, die unter dem Motto „Energiesicherheit und Schutz vor Inflation – Unser Land zuerst“ zur Demonstration durch das Regierungsviertel aufgerufen hatte. Dem Ruf folgte eine schaurige Mischung aus wütenden Kleinbürger:innen, demoralisierten Lohnabhängigen und reaktionär-nationalistischen Vertreter:innen einer sog. „Elite“ wie die AfD-Spitze.

So versprachen Chrupalla und Weidel eine „Lösung“ der Krise durch Nationalismus, Rassismus und Freundschaft mit Putin – ein reaktionäres, alternatives imperialistisches Projekt zum gegenwärtigen Kurs der deutschen Regierung. Mag das dem deutschen Kapital heute nicht schmecken, präsentiert sich die AfD als Vertretung des „kleinen Mannes“, einer wilden Mischung aus rabiaten Kleinbürger:innen, frustrierten Kleinunternehmen und demoralisierten und politisch rückständigen Lohnabhängigen.

Was am 8. Oktober durch die Berliner Straßen zog, war zwar noch keine faschistische Bewegung, aber der schaurige Zug führt uns allen vor Augen, wie sehr es der Rechten gelungen ist, die Wut, die Angst und den Zorn über die Preissteigerungen, die kommende Rezession und den drohenden Ruin zu kanalisieren. Die AfD stellte nicht nur den bislang größten Protest gegen die Inflation und die Angriffe der Regierung auf die Beine – sie und andere Rechte bis hin zu faschistischen Kräften radikalisieren ihn auch in eine aggressive, kleinbürgerlich-reaktionäre Richtung.

Blamable Linke

Der Gegenprotest war kläglich, im Gegensatz zum letzten Versuch der AfD, groß nach Berlin zu mobilisieren. 2017 waren es knapp 5.000 AfD-Demonstrierende und 25.000, wenn nicht weit mehr Gegendemonstrat:innen. Dieses Mal beteiligten sich an den verschiedensten Kundgebungen, (Fahrrad-)Demonstrationen und Raves höchstens 2.500 Menschen. Woran liegt das?

Den Gegenprotest führte ein breites Bündnis, das so auch von der Ampelkoalition hätte eingesetzt werden können. Er beschränkte sich auf einen reinen bürgerlich-antifaschistischen Protest und stellte selbst keine eigenen Forderungen auf, um die realen Probleme der krisengebeutelten kleinen Unternehmer:innen, Handwerker:innen, Ladenbetreiber:innen und vor allem der Arbeiter:innen anzusprechen.

Dann hilft jedoch auch die durchaus richtige Kritik wenig weiter, dass die AfD selbst keineswegs sozial Schwache repräsentiert und vertritt. Auch der Verweis darauf, dass sie eine Partei des sozialen Kahlschlags ist, verpufft, wenn die Gegenmobilisierung selbst wie eine politische Verlängerung der Ampelkoalition auftritt. Und erst recht hilft es nichts, wenn diese Parteien und die Gewerkschaften ihre Mitglieder und Anhänger:innen nicht einmal für einen symbolischen Protest mobilisieren.

So müssen wir festhalten, dass die Rechte bisher stärker mobilisieren konnte angesichts der Mehrfachkrise im Schatten des Ukrainekrieges. Während SPD und Gewerkschaftsführungen die Regierung stellen oder deren Kurs mittragen, weiß DIE LINKE nicht, ob sie für oder gegen diese Politik sein soll. Die Spitzen der Arbeiter:innenbewegung verweigern, ja bekämpfen geradezu einen offensiven Kurs gegen „eigene“ Regierung und Kapital. Im Kriegsfall stehen sie der Nation nun doch treu zur Seite und überlassen den rechten Rattenfänger:innen das Feld.

Mit dem Titel „Wir stehen an Deiner Seite. Unser Land zuerst“ verbreitet die AfD die Lüge, dass sie die einzige Kraft sei, die auf der Seite der kleinen Leute stehe. Wir müssen diese reaktionäre Demagogie entlarven, aber auch ernst nehmen. Schlussendlich tun der DGB und seine Gewerkschaften kaum etwas, die Linkspartei streitet sich darüber, inwieweit die verschiedenen Flügel miteinander arbeiten, und einen koordinierten Protest links von der LINKEN über Stadtgrenzen hinaus vermissen wir bislang auch gänzlich.

Für uns macht dies die Dringlichkeit des Aufbaus einer Arbeiter:inneneinheitsfront noch deutlicher. „Genug ist genug“ in Anlehnung an die britische „Enough is enough“-Initiative scheint dafür einen breit unterstützenswerten Forderungskatalog aufgestellt zu haben, beschränkt sich jedoch aktuell noch auf eine Social-Media-Kampagne. Wir brauchen sowohl einen gemeinsamen Mobilisierungstermin, Aufforderungen an die passiven Massenorganisationen der Arbeiter:innenbewegung als auch eine Aktionskonferenz zwischen den verschiedenen existierenden Bündnissen. Ansonsten droht uns der Widerstand gegen die Regierung und die aktuellen Teuerungen nach rechts zu entgleiten.

Als nächsten Schritt beteiligen wir uns gemeinsam mit der VKG und Bündnissen wie „Heizung, Brot, Frieden“ bei den Aktionen von „Echt gerecht – solidarisch durch die Krise“, um dort für eine klassenkämpferische, antimilitaristische Politik gegen Krieg und Krise einzutreten. Nur wenn sich die Arbeiter:innenklasse zur führenden Kraft im Kampf gegen Preistreiberei und Aufrüstung aufschwingt, werden wir in der Lage sein, der sozialen Demagogie von AfD und Co. den Boden zu entziehen.




Parlamentswahl in Italien: Rechtsruck inmitten der Instabilität

Azim Parker, Neue Internationale 268, Oktober 2022

Wie erwartet gingen Giorgia Meloni und ihre ultra-reaktionäre Partei Fratelli d’Italia als Siegerinnen aus der Wahl am 25. September hervor. Sie wird demzufolge an der Spitze der nächsten Regierung stehen. Die Fratelli d’Italia, deren Mitglieder sich bis heute positiv auf Mussolinis Faschismus beziehen, erhielt 26 % der Stimmen (plus 21,6 % gegenüber 2018). Auf den gesamten rechten Block, der nun die Regierung stellen wird, entfielen 43,9 % (Lega 8,8 %, Forza Italia 8,1 %). Damit verfügt er aufgrund des undemokratischen Wahlrechts über eine absolute Mehrheit in Abgeordnetenhaus wie Senat.

Für die italienischen Arbeiter:innen bedeutet dies eine weitere katastrophale Nachricht. Sie werden gegen weiteren massiven Sozialabbau und die hundertste Steuersenkung für die Kapitalist:innen – im Einklang übrigens mit allen bisherigen bürgerlichen Regierungen – kämpfen müssen. Genauso furchtbar sieht das Zukunftsszenario für Frauen, queere Menschen und Migrant:innen aus, die einen beispiellose Angriff auf ihre Grundrechte erleiden werden. So wetterte Meloni im Wahlkampf gegen das Recht auf Abtreibung, eine angebliche LGBT-Lobby und forderte Seeblockaden gegen Geflüchtete aus Afrika.

Abgesehen von den Schlagzeilen und den Siegeserklärungen ist dieses Wahlergebnis jedoch nicht ohne Widersprüche, die ganz deutlich darauf hinweisen, dass die Situation alles andere als stabil ist.

Die neue Mehrheit und die reaktionäre Wende

Die Wahl war auch durch eine riesige Enthaltung gekennzeichnet. Am 25. September entschlossen sich nämlich nur 64 % der Wahlberechtigen, sich zu den Urnen zu begeben – 9 % weniger als 2018. Das ist die niedrigste Wahlbeteiligung, seitdem die Republik existiert, und das zeigt zweifellos eine tiefe Glaubwürdigkeitskrise der bürgerlichen Institutionen.

Betrachtet man die absolute Zahl der Stimmen, so erhielt die rechte Koalition, bestehend aus Fratelli d’Italia, Lega und Forza Italia, die gleiche Anzahl von Stimmen wie 2018 (ca. 12 Millionen). Die WählerInnen, die 2018 für Salvini oder Berlusconi stimmten, wandten sich nun Giorgia Meloni zu, weil Fratelli d’Italia die einzige Partei war, die nicht Draghis Kabinett unterstützte. Das  bedeutet aber auch, dass die Begeisterung wahrscheinlich mehr und mehr schwinden wird, sobald Giorgia Meloni gezwungen sein wird, die gleichen Politiken der vergangene Regierungen fortzusetzen.

Das Land befindet sich in einer tiefen wirtschaftlichen Krise. Der Staat ist massiv überschuldet – und die rechte Regierung braucht bei aller Kritik an Brüssel 200 Mrd. Euro von der EU, um das Land zu stabilisieren – und zwar auf Kosten der Arbeiter:innen und der Armen.

Auch die politischen Differenzen innerhalb der neuen Mehrheit sind bestimmt nicht zu ignorieren. Das betrifft insbesondere die Haltung gegenüber Russland. Obwohl das Koalitionsprogramm die Unterstützung des NATO und der „westlichen Werte“ bekräftigt, ist klar, dass die Lega im Gegensatz zu Fratelli d’Italia eine „flexiblen“ Haltung gegenüber Putin einnehmen möchte und für das Ende der Sanktionen und Waffenlieferungen an die Ukraine eintritt. Wenn man bedenkt, dass die Lega mit 8,8 % als die große Verliererin gilt, ist nicht schwer zu erraten, dass Salvini in der Zukunft die Uneinigkeit über den Krieg nutzten könnte, um wieder Anklang zu gewinnen.

Demokratische Partei und Fünf-Sterne-Bewegung

Die Demokratische Partei (PD) verlor ca. 800.000 Stimmen und mit 19 % blieb sie einmal mehr unter der 20 %-Marke. Die Partei unterstützte die sozialen Angriffe unter Draghis Kabinett. So entfremdete beispielsweise die reaktionäre Bildungsreform die Lehrkräfte, eine traditionelle Wähler:innenbasis der PD. Ihren Anspruch, sich als glaubwürdige Alternative zur rechten Koalition darzustellen, konterkarierte die Partei selbst in den letzten Monaten, in denen sie zusammen mit der Lega regierte. All diese Faktoren haben eine wichtige Rolle gespielt und zur Niederlage beigetragen. Ganz zu schweigen von dem katastrophalen Wahlkampf, vor allem, weil es nach verschiedenen Versuchen unmöglich war, eine Koalition mit den liberalen Parteien von Calenda und Renzi zu bilden. All das stiftete zweifellos eine große Verwirrung, die dazu beitrug, die Stimmen für andere Parteien abzugeben.

Andererseits stellt die Fünf-Sterne-Bewegung die echte Überraschung dieser Wahl dar. Obwohl sie mehr als die Hälfe der Stimmen verlor (17,3 %), schnitt sie mit 15,3 % besser ab, als die meisten erwartet hatten. Schließlich hatte sich kaum eine Partei in der letzten Legislaturperiode so unglaubwürdig verhalten wie die, die einst gegen das gesamte System angetreten war. Ursprünglich aus einer Bewegung gegen alle Parteien geboren, regierte sie schließlich zunächst allein.

Diese populistische Bewegung  unterzeichnete u. a. das kriminelle „Sicherheitsdekret“ von Salvini gegen die Migrant:innen, war mitschuldig an der todbringenden Pandemiepolitik, den Kürzungen der Gesundheitssysteme und der Erhöhung der Militärausgaben. All das führte zu einem Kollaps in den Umfragen. Trotz alledem gelang es der Partei, eine Katastrophe zu verhindern, indem sie den Wahlkampf auf die Verteidigung des Grundeinkommens fokussierte im Gegensatz zur rechten Koalition, die dessen Abschaffung forderte. Diese Strategie war relativ erfolgreich, insbesondere im Süden, wo die Arbeitslosigkeit besonders hoch ist. Dadurch konnte die Fünf-Stere-Bewegung mit 15,3 % noch überleben.

Der Niedergang der Linken geht weiter …

Das Ergebnis der linken Organisationen bestätigt die tiefe, seit Jahren andauernde Krise der Arbeiter:innenbewegung, zu der auch diese Führungen maßgeblich beitrugen.

Insgesamt traten drei Organisationen der Linken und sogenannten radikalen Linken bei dieser Wahl an:

– Sinistra Italiana (italienische Linke). In einer gemeinsamen Liste mit den Grünen (Alleanza Verdi e Sinistra) erreichte sie 3,6 %. Was ihre Rolle im Wahlkampf sowie künftigen Parlament angeht, ist sie nichts anders als ein Anhängsel der PD, dessen wichtigste Forderung einfach die Wiederaufnahme des Dialogs mit der Fünf-Sterne-Bewegung darstellt.

– Die Kommunistische Partei, eine stalinistische Organisation um den ehemaligen Abgeordneten Marco Rizzo, trat in die Liste Italia Sovrana e Popolare (souveränes und populäres Italien) ein. Das war ein groteskes Sammelsurium, das aus faschistischen Verschwörer:innen und Reaktionär:innen bestand. Diese Liste zeigte ganz klar, wie tief die Stalinist:innen fallen können. Das Ergebnis war auch in diesem Fall ganz mies – 1,2 % – und bedeutet hoffentlich einen vernichtenden Schlag für Marco Rizzos Beliebtheit.

– Rifondazione Comunista (RC) verbarg sich seit Jahren hinter der Bürgerliste, die jede Spur von Klasseninhalten verdrängt, in einem verzweifelten Versuch, wieder einen Platz im Parlament zu gewinnen. Diesmal hieß der Versuch Unione Popolare (populäre Union), geführt vom ehemaligen Bürgermeister und Staatsanwalt Neapels, de Magistris. Die Liste zeichnet sich durch ihren Ruf nach Verfassungstreue aller Parteien und blasse fortschrittliche Forderungen aus. Am Ende des Wahlkampfes versuchte de Magistris noch erfolglos, zu einer Vereinbarung mit der Fünf-Sterne-Bewegung zu kommen. Unione popolare erreichte schließlich 1,4 % und RC bestätigt damit auch den Mangel an Perspektive ihres Linksreformismus.

Dramatisch

In diesem Szenario sind die Zukunftsperspektiven einfach dramatisch. Allein die Engpässe der Energieversorgung und die stetig steigende Inflation bedrohen tausende Betriebe. Rund 20 % gelten als gefährdet – und damit die Arbeitsplätze und Zukunft von Millionen Arbeiter:innen.

In dieser Lage braucht es sowohl auf betrieblicher und gewerkschaftlicher wie auf politischer Ebene eigentlich eine Einheitsfront aller Lohnabhängigen und Unterdrückten gegen die Angriffe der rechten Regierung und des Kapitals. Doch der Ausgang der Wahlen zeigt auch, dass die Arbeiter:innenklasse eine revolutionäre Partei braucht als politische Alternative zum Theater der bürgerlichen Politik, zur Rechten wie zu allen anderen offen bürgerlichen und bürgerlichen Arbeiter:innenparteien.




Frankreich: Macron geschwächt, RN erstarkt, zunehmende Klassenkämpfe

Marc Lassalle, Infomail 1193, 20. Juli 2022

Frankreich hat eine lange Wahlsaison hinter sich. Sie begann im letzten Herbst mit dem Präsidentschaftswahlkampf, einschließlich der Vorwahlen in den großen Parteien, der ein fremden- und migrant:innenfeindliches Klima erzeugte. Während die Wiederwahl Macrons keine Überraschung war, bestätigten die anschließenden Parlamentswahlen mehrere wichtige Entwicklungen, die das politische Leben in Zukunft prägen werden. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren wird die Partei des neu gewählten Präsidenten nicht über eine Mehrheit im Parlament verfügen. In vielen Ländern mag dies normal sein, aber in Frankreich wurde es als brisant empfunden.

Präsidialverfassung

Die 1958 von Charles de Gaulle gegründete Fünfte Republik hat eine Verfassung, die die Exekutivgewalt in den Händen des/r Präsident:in und nicht des Parlaments konzentriert. Der sozialistische Präsident François Mitterrand schrieb sogar ein Pamphlet, in dem er die Verfassung als „permanenten Staatsstreich“ anprangerte. Nachdem er selbst zum Präsidenten gewählt worden war, empfand er diese quasi-monarchische Macht natürlich als ganz praktisch. Da die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen manchmal Jahre auseinander lagen, sah sich der Präsident manchmal mit einem Parlament konfrontiert, das mehrheitlich aus Oppositionsparteien bestand, was zu der berühmten „Kohabitation“ zwischen einem linken Präsidenten und einem rechten Premierminister oder umgekehrt führte.

Im Jahr 2002 führte Staatspräsident Jacques Chirac eine Wahlreform durch, mit der die Wahlperioden von Parlament und Präsidentschaft synchronisiert wurden. Dies sollte einem/r neu gewählten Präsident:in eine komfortable Mehrheit sichern. In der ersten Amtszeit von Emmanuel Macron war dies tatsächlich der Fall, und das Parlament spielte nur eine untergeordnete Rolle bei der Genehmigung der vom Präsidenten beschlossenen Maßnahmen.

Diesmal hat sich die Mehrheit der Wähler:innen, vor allem die der Arbeiter:innenklasse, jedoch anders entschieden. Macrons Bündnis fehlen 44 Abgeordnete zu einer funktionierenden Mehrheit. Die Arbeiter:innen hatten eindeutig die Nase voll von seinen zynischen Lügen. Im Jahr 2017 hatte er sich als Kandidat der Linken ausgegeben, und viele glaubten ihm. Sobald er jedoch an der Macht war, wurde sein wahrer Charakter als „Präsident der Reichen“ enthüllt. Er schaffte die Vermögenssteuer ab, setzte reaktionäre Reformen der weiterführenden Schulen und Universitäten durch und griff das Rentensystem, die Arbeitslosenunterstützung und den öffentlichen Sektor im Allgemeinen an. Diesmal beschlossen viele Wähler:innen, ihn zu stoppen, und zwar mit allen Mitteln.

NUPES

Dieser starke Druck von unten stand als Hauptkraft hinter dem Bündnis linker Parteien in der Nouvelle Union Populaire et Sociale (Neue ökologische und soziale Volksunion, NUPES). Die NUPES wurde von Jean-Luc Mélenchon und seiner Bewegung La France Insoumise (Unbeugsames Frankreich) angeführt, umfasste aber auch die Sozialistische Partei, die Kommunistische Partei, die Grünen und andere kleinere Gruppen. Nach wochenlangen Verhandlungen einigten sie sich auf ein linksreformistisches Programm mit 600 Maßnahmen unter dem Hauptslogan „Mélenchon als Premierminister“.

In den meisten Städten und vor allem in den Arbeiter:innenvierteln fiel die Stimmabgabe für die NUPES sehr hoch aus. Im Großraum Paris beispielsweise wurden fast zu gleichen Teilen Abgeordnete der NUPES und des Macron-Lagers gewählt. Le Pens Rassemblement National (Nationale Sammlungsbewegung) (RN) erhielt keine Sitze, und für den traditionellen rechten (gaullistischen) Flügel blieb fast kein Platz. In Seine St. Denis, einer von Migrant:innen bewohnten und verarmten Präfektur nördlich von Paris, wählten alle Stimmbezirke Kandidat:innen der NUPES. Wichtige Persönlichkeiten aus der sozialen Bewegung, wie Rachel Keke, Anführerin eines erfolgreichen Streiks der Reinigungskräfte der Hotelkette Ibis, wurden auf der Liste der NUPES gewählt. Die daraus resultierenden 131 gewählten Abgeordneten sind jedoch weit von einer Mehrheit im Parlament entfernt, was Mélenchons Ziel war.

Rassemblement National

In beiden Wahlgängen konzentrierten Macron und seine Partei ihre Angriffe auf die NUPES und nicht auf die RN. Dieses zynische Manöver, das darauf abzielte, die Zahl der NUPES-Abgeordneten zu minimieren, beendete die historische Politik der „republikanischen Front“, für jede/n „Republikaner:in“ zu stimmen, um RN und Le Pen zu stoppen. Infolgedessen hat die RN-Kampagne einen Durchbruch erzielt, von nur 8 Abgeordneten im Jahr 2017 auf jetzt 89.

Dieser Erfolg ist nicht nur das Ergebnis von Macrons zynischem Opportunismus, sondern spiegelt auch die zunehmende Verbreitung offen rassistischer Propaganda im Lande wider. Während des Präsidentschaftswahlkampfes war Éric Zemmour, ein weiterer rassistischer Kandidat, maßgeblich daran beteiligt. Die Theorie des „großen Austauschs“, d. h. die groteske Lüge, dass die französische Bevölkerung durch Migrant:innen ersetzt wird, ist heute in den Medien und sogar unter den etablierten Politiker:innen weit verbreitet.

Im Vergleich zu ihm erscheint Marine Le Pen verantwortungsbewusst und sogar seriös. Ein ernsthafter Blick auf ihr Programm zeigt jedoch, dass sie die gleiche Ideologie und die gleichen Ziele wie Zemmour verfolgt. Dass viele Arbeiter:innen für Le Pen gestimmt haben, um ihre Wut gegen Macron auszudrücken, ist das Ergebnis des Scheiterns des Reformismus sowohl im Amt als auch in der Opposition. Die Verbreitung rassistischer, fremdenfeindlicher und absolut reaktionärer Ideen in einer Zeit der Wirtschaftskrise und Instabilität stellt eine drohende Gefahr für die französische Arbeiter:innenklasse in den kommenden Jahren dar.

Nach den Wahlen

Wird Macron in der Lage sein, eine ganze Amtszeit zu regieren? Nach den Wahlen bestätigte er die Regierung von Élisabeth Borne, einer Technokratin und ehemaligen Unternehmerin, mit mehreren Minister:innen aus dem rechten Lager. In seinem Interview zum Bastille-Tag machte der Präsident deutlich, dass er sein neoliberales Reformprogramm fortsetzen wird: Verschiebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 65 Jahre, Kürzung der Leistungen für Arbeitslose, kurzum: mehr Arbeit, weniger Steuern. Nachdem er die Bildung einer Regierung der „nationalen Einheit“ oder einer Koalition abgelehnt hat, rechnet er damit, im Parlament Unterstützung zu erhalten, sicherlich von Les Républicains (der gaullistischen Rechtspartei) und möglicherweise von einem Teil der Sozialistischen Partei.

Angesichts des wirtschaftlichen Abschwungs und der Inflation, der hohen Staatsverschuldung, des Krieges in der Ukraine und möglicher neuer Pandemiewellen könnte ihm dies bei seiner bonapartistischen Rolle, sich über die Parteien zu erheben, sogar helfen. Sollte sich das Parlament als Hindernis erweisen, hat er als Präsident die Macht, es aufzulösen und Neuwahlen auszurufen. Das letztgenannte Szenario ist jedoch auf kurze Sicht recht wahrscheinlich.

Die Linke

Trotz des Erfolgs der NUPES befindet sich die französische Linke in einer sehr schwachen Position. Mélenchon behauptet zwar, die NUPES stehe für einen „Bruch mit dem Kapitalismus“, doch sein Programm enthält keinen solchen Bruch und ist nur ein Katalog zahnloser Reformen, die selbst weit rechts von Mitterrands „gemeinsamem Programm der Linken“ aus den 1980er Jahren liegen. Sein Vorschlag für die kommenden Monate steht ganz im Zeichen seiner populistischen Zielsetzung. Er schlägt „Volkskarawanen zur Unterstützung der Bürger:innen bei der Wahrnehmung ihrer politischen und sozialen Rechte“ und einen „großen Marsch gegen die hohen Lebenshaltungskosten“ vor. Er erwähnt die „Familien des Volkes“, die Arbeitslosen, die Armen, die Vergessenen, aber nie die Arbeiter:innenklasse und ihre Kämpfe.

Sein Ziel besteht darin, die Arbeiter:innenklasse in einen „Volksblock“ nach dem Vorbild von Podemos aufzulösen. Märsche, Karawanen und andere Mobilisierungen dienen eindeutig nur seinem Ziel, an der Spitze dieses neuen Volksblocks mit parlamentarischen Mitteln an die Macht zu kommen. Von diesem langjährigen Mitglied und Senator der Sozialistischen Partei, der 1997 in der neoliberalen Regierung von Lionel Jospin eine Nebenrolle spielte und ein großer Bewunderer von François Mitterrand ist, ist nichts anderes zu erwarten.

Welche Art von politischer Verwirrung hat also die Führung der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) zu folgender Analyse veranlasst?

„Heterogen und dem Druck der parlamentarischen Verhandlungen und dem Selbsterhaltungstrieb jedes ihrer Bestandteile ausgesetzt, ist die NUPES nicht stabil, aber sie könnte einen Schritt im Prozess der Neuzusammensetzung der Linken tun. Wir möchten eine aktive Rolle bei der Schaffung eines einheitlichen Rahmens für die Kämpfe und eines Programms zum Bruch mit der neoliberalen Ordnung spielen, wobei wir unsere politische und organisatorische Unabhängigkeit bewahren wollen.

Überall, wo es möglich ist, müssen wir vorschlagen, weiterhin einen Rahmen von vereinten Kämpfen für die Forderungen der Arbeiter:innen, der Volksschichten, für ökologische Ziele, zur Verteidigung der öffentlichen Dienste, gegen die extreme Rechte zu schaffen und eine Alternative zum Kapitalismus zu diskutieren.“ (Anticapitaliste 07/07/2022).

Die Verzweiflung über die eigene Zukunft der NPA und der tief liegende Skeptizismus bezüglich der Möglichkeit einer revolutionären Lösung hat die Mehrheit dazu gebracht, einen gemeinsamen Block mit Mélenchon als einzige Perspektive zu akzeptieren und ihn „Neuzusammensetzung der Linken“ zu taufen. In den letzten Jahren haben mehrere Abspaltungen der NPA nach rechts diese Linie bereits in die Praxis umgesetzt und sind nun in der NUPES-Koalition vertreten.

Während die NPA zu Recht darauf besteht, dass „Kämpfe entscheidend sind“, kritisiert sie nie Mélenchons gefährlichen Populismus. Sie erwähnt nie, dass Mélenchon nie einen außerparlamentarischen Kampf initiiert oder angeführt, sondern nur mitgemacht und ihn dann für seine parlamentarischen Ambitionen ausgenutzt hat. Man beachte auch, dass die NPA, die als antikapitalistische Kraft geboren wurde, jetzt nur noch von einem „Bruch mit der neoliberalen Ordnung“ spricht und die Alternative zum Kapitalismus nur noch als Diskussionsgegenstand darstellt.

Klar ist, dass die NPA selbst sowohl heterogen ist (fast die Hälfte ihrer Mitglieder lehnt den Führungskurs ab) als auch immer wieder ihrem unbedachten Selbsterhaltungstrieb um jeden Preis nachgibt. Weitere Krisen und Spaltungen sind in den kommenden Monaten wahrscheinlich.

Trotz der Schwäche ihrer Führung antwortet die Arbeiter:innenklasse auf die Angriffe mit neuen Kämpfen. In den letzten Monaten sind zahlreiche Streiks ausgebrochen, vor allem im privaten Sektor: Eisenbahn-, Flughafen- und -linienpersonal, große Privatunternehmen wie Total (Erdöl) und Thales (Rüstungsindustrie), aber auch Versicherungsgesellschaften, Flugzeuge, Agrarindustrie usw. Die meisten dieser Kämpfe, die durch Inflation und niedrige Löhne ausgelöst wurden, haben die Bosse zu erheblichen Zugeständnissen bei den Löhnen gezwungen.

Die Verschärfung der Wirtschaftskrise und der Inflation könnte weitere Kämpfe auslösen und die Bedingungen für eine landesweite Protestwelle schaffen, die den privaten und den öffentlichen Sektor im Kampf gegen die Bosse und die Angriffe der Regierung vereint. Es ist dringend notwendig, dass die radikale Linke ein Kampfprogramm vorschlägt, das nicht durch die politischen Ziele der NUPES und der Gewerkschaftsbürokratie eingeschränkt ist und die Arbeiter:innenklasse gegen die rassistische Ideologie vereint, die sie spalten und schwächen soll.




#LinkeMeToo: Aus den Fehlern lernen!

Jaqueline Katherina Singh, Infomail 1185, 18. April 2022

Der SPIEGEL-Artikel „Entweder wir brechen das jetzt, oder die Partei bricht“ und unzählige Tweets unter dem Hashtag #LinkeMeToo sorgen für Aufregung. Es wird von Missbrauchsvorfällen berichtet innerhalb des hessischen Landesverbandes der Linkspartei sowie der Linksjugend. Unter den zehn Betroffenen, mit denen der SPIEGEL gesprochen hat, ist auch eine Person, die zum Zeitpunkt der Vorfälle 2017/18 minderjährig war. Besonders sticht dies heraus, da mehrere Betroffene sagen, dass führende Mitglieder von den Vorfällen gewusst, aber nichts getan hätten – darunter auch Janine Wissler, aktuelle Bundesvorsitzende der Linkspartei. Ein paar Worte zur beginnenden Debatte.

Sexualisierte Gewalt in linken Strukturen

Zuerst muss klar gesagt werden: Lasst uns bitte nicht schockiert tun! Sexismus und sexualisierte Gewalt sind niemals „das Problem der anderen“. Sie sind Alltag in der gesamten Gesellschaft. Politik und linke Strukturen bilden keine Ausnahme. Sie sind keine Inseln der Freiheit, wo alle unbefangen miteinander leben können.
Das ist auch logisch. Wir alle sind von der bürgerlichen Gesellschaft geprägt, verinnerlichen dementsprechend Rollenbilder sowie Stereotype, die nicht einfach so verschwinden. Gerade in großen Organisationen sind unterschiedliche Wissens- und Bewusstseinsstände normal, auch, weil neue und neu politisierte Menschen hinzukommen. Entsetzt zu sein, dass „so etwas überhaupt jemals passieren konnte“, ist Teil des Problems. Es geht davon aus, dass es sichere Räume geben könne, aus denen ein für alle Mal rückständige Ideen und Verhalten verbannt sein könnten. Das gibt es leider nicht. Gleichzeitig sorgt diese Annahme auch dafür, dass gewaltausübende Personen (Täter:innen) es leichter haben, sich aus der Anklage zu ziehen. Denn wenn es so unglaublich, so unfassbar ist, dass Gewalt stattgefunden hat, ist es auch leichter, Betroffenen nicht zu glauben, zu zweifeln und keine Schritte zur Klärung einzuleiten.

Lasst uns deswegen sagen: Sexismus und sexualisierte Gewalt sind Probleme der Gesellschaft und deswegen ist die Linke nicht frei davon. Das senkt die Hemmschwelle für Betroffene, sich zu erkennen zu geben, und bricht mit der Schweigekultur. Die Frage ist nicht, ob es die Übergriffe überhaupt gibt, sondern welche Strukturen aufgebaut werden, um dagegen anzugehen.

Stellungnahmen und Konsequenzen

Der hessische Landesvorstand hat am 15. April eine kurze Stellungnahme herausgegeben. In dieser wird davon gesprochen, dass dieser Ende November 2021 Kenntnis erlangte und begonnen hat, auf allen Ebenen das Geschehene aufzuarbeiten. Perspektivisch sollen Vertrauenspersonen eingesetzt sowie ein Workshop zur Sexismussensibilisierung organisiert werden. Im Statement der Bundespartei, ebenso vom 15. April, wird klar gemacht: „Patriarchale Machtstrukturen finden sich überall in der Gesellschaft. DIE LINKE ist davon nicht ausgenommen.“ Ebenso wird festgehalten, dass der Parteivorstand im Oktober 2021 die Vertrauensgruppe innerhalb des Parteivorstandes gegründet hat, um Menschen, die innerhalb der LINKEN Erfahrungen mit Sexismus, Übergriffen oder Diskriminierung machen, beratend zur Seite zu stehen. Im SPIEGEL wird dies zwar erwähnt, näher beleuchtet wird die Arbeitsweise und Zusammensetzung dieses Gremiums aber nicht. In den Fokus gestellt wird dafür ein Handout zu den „Vorwürfen sexualisierter Gewalt“ – geschrieben von einem mutmaßlichen Täter.

Es ist gut, dass es die Schritte gegeben hat. Der Kritikpunkt, der intern aufgearbeitet werden muss, lautet: Warum braucht es für die Einrichtung solcher Dinge erst den öffentlichen Druck von Betroffenen? Welche Annahmen hat es gegeben, dass diese nicht schon früher eingeleitet wurden?

Als Antwort auf die Artikel hat auch der Jugendverband einen offenen Brief verfasst, den bisher 500 Mitglieder unterschrieben haben. In diesem werden u. a. gefordert:

  • Transparente und lückenlose Aufklärung aller Vorfälle.
  • Verpflichtende Awarenessstrukturen, deren Mitglieder nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Partei stehen oder Abgeordnete sind.
  • Verpflichtende Seminare zum Thema Awareness und Feminismus für Funktionär:innen und Angestellte.
  • Finanzielle Unterstützung durch DIE LINKE für alle Betroffenen, wenn sie juristische oder auch psychologische Beratung und Hilfe in Anspruch nehmen.
  • Eine Vertrauensperson für Mitarbeitende von Partei, Mandatsträger:innen und Fraktionen, die von Sexismus, verbalen Übergriffen und sexualisierter Gewalt betroffen sind.

Dies sind unterstützenswerte Forderungen. Die Aufarbeitung scheint begonnen zu haben und die Forderung nach Strukturen, die nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Funktionen stehen, ist enorm wichtig. Auf weitere Punkte, die sinnvoll sein könnten, gehen wir im späteren Teil des Artikels ein. Zuerst wollen wir uns jedoch mit einer anderen Frage beschäftigen:

Rücktritt als Lösung?

Ebenso wird in dem offenen Brief auch der Rücktritt aller beteiligten Personen gefordert – ob sie nun selber Täter:in sind oder die Taten anderer gedeckt haben. Dazu soll an der Stelle gesagt werden: Ein Wechsel von Personen bedeutet nicht immer, dass der Umgang sich verbessert und nachhaltige Strukturen geschaffen werden. Vielmehr kommt es auf Einsicht an. Damit ist nicht gemeint, dass alle, die jetzt aufschreien, aus dem Schneider sind. Das heißt: Jene, die beiseite treten, die offen Fehler eingestehen, jene, die den Raum für Aufklärung freimachen, sollten bedacht werden – denn es ist ein Zeichen, mit den Strukturen brechen zu wollen. So hat Janine Wissler selbst eine Stellungnahme verfasst, in der sie zu den aufgeworfenen Fragen des SPIEGEL Stellung bezieht und klarmacht, dass sie nicht wusste, dass es sich für die Betroffene um eine Grenzüberschreitung gehandelt hat. Ob diese ausreichend ist oder nicht, sollte eine Kommission entscheiden – nicht nur bei ihr, sondern allen, die involviert waren. Besagte Kommission sollte aus FLINTA-Mitgliedern bestehen, die unabhängig vom Parteiapparat sind und die verschiedenen politischen Strömungen der Partei repräsentieren. Auch kann so verhindert werden, dass solche Fälle für politische Machtkämpfe um Posten benutzt werden können.
Aber Achtung: Das Problem bei Awarenessstrukturen und Meldestellen liegt immer darin, dass diese nur so effektiv sind wie das Bewusstsein der Leute dort selber. Denn ein Problem, warum Diskriminierungen totgeschwiegen werden und man auf soviel Widerstand bei der Aufklärung stößt, sind die unklaren Konsequenzen. Wer Angst hat, für jeden Fehler abgestraft zu werden, wird das Beste versuchen, diese Fehler unter den Teppich zu kehren, insbesondere wenn Einkommen und Karriere davon abhängig sind. Das ist an der Stelle kein Appell für einen Freifahrtschein für Täter:innen und jene, die sie schützen. Es ist ein Appell dafür, künftig mit den Konzepten von Transformative Justice zu arbeiten, wo es Sinn macht.

Der Kampf für Verbesserung ist ein gesamtgesellschaftlicher

Viele Dinge müssen geschehen. Die Diskussion in DIE LINKE und [‚solid| könnte so einen Beitrag leisten im Kampf gegen Sexismus und Gewalt in der Linken und in der Arbeiter:innenbewegung. Aber wie? Gesamtgesellschaftlich brauchen wir einen anderen Umgang mit sexualisierter Gewalt. Zuerst braucht es eine politische Kampagne, die konkrete Verbesserungen erkämpft. Forderungen, die dringend notwendig sind:

1. Flächendeckende Meldestellen für sexuelle Gewalt!

Für flächendeckende Anlaufstellen zur Meldung von sexueller Gewalt, die ebenso, wenn gewünscht, kostenlose psychologische Beratung anbieten. Dies muss damit verbunden werden, dass es breite Aufklärungskampagnen bezüglich Gewalt an Frauen an Schulen, Universitäten und in Betrieben gibt.

2. Finanzielle Unterstützung für Betroffene!

Im Falle eines konkreten gerichtlichen Prozesses braucht es besondere Unterstützung für die Betroffenen. Dabei reden wir nicht nur von psychologischer, sondern kostenloser Rechtsberatung und Übernahme der Prozesskosten, unabhängig von dessen Ausgang. Darüber hinaus bedarf es längerfristige Hilfeangebote für Betroffene von sexueller Gewalt, finanziert durch den Staat. Solche Verfahren sind keine Kleinigkeit. Deswegen bedarf es des Rechts auf mehr bezahlte Freistellung, zusätzliche Urlaubstage sowie eine Mindestsicherung, angepasst an die Inflation! Dies ist notwendig, um die ökonomische Grundsicherung für Betroffene zu gewährleisten, ihnen überhaupt die Möglichkeit zu geben, sich so einem aufreibenden Prozess zu stellen.

3. Öffentliche Untersuchungen und Verfahren unter Kontrolle der Betroffenen und der Arbeiter:innenbewegung!

Die ersten beiden Forderungen wären im Hier und Jetzt einfach umzusetzen. Die dritte ist nicht so einfach, aber die substantiellste. Solange der bürgerliche Polizei- und Justizapparat die Untersuchungen und Rechtsprechung beherrscht, werden Verbesserungen immer wieder an diesen Strukturen scheitern oder bestenfalls auf halbem Wege steckenbleiben. Es braucht daher vom Staatsapparat unabhängige Untersuchungskommissionen sowie von den Betroffenen gewählte Richter:innen. Diese sollten mehrheitlich aus Frauen und geschlechtlich Unterdrückten zusammengesetzt sein.

Ebenso sollten sie für den Umgang mit Betroffenen von Gewalt sensibilisiert und geschult worden sein. So kann man gewährleisten, dass Entscheidungen hinterfragt werden und nicht abhängig von der männlichen Sozialisierung der Richtenden und Untersuchenden sind. Im Zuge dessen könnte auch das Sexualstrafrecht überarbeitet werden und festhalten, dass das Konsensprinzip „Nur Ja heißt Ja“ eine sinnvolle Grundlage wäre. Warum? Dies liegt dem Ansatz zu Grunde, dass Polizei und Staat zum einen kein materielles Interesse an der Verfolgung solcher Vorwürfe hegen. Zum anderen sind diese Formen wesentlich fortschrittlicher, als wenn jede/r für sich alleine bestimmt, was richtig ist und nicht. Ausführlicher leiten wir das in diesem Artikel her: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/03/17/kampf-gegen-sexuelle-gewalt-abseits-des-staates-gegen-oder-mit-ihm/

Und in linken Strukturen?

Der Kampf für so eine Kampagne ist essentiell. Denn linke Strukturen sind aus sich heraus nicht nur meist zu schwach, dauerhafte und professionelle Hilfe für Betroffene zu gewährleisten – was es diesen wiederum erschwert, wieder in politischen Zusammenhängen aktiv zu werden. Sie können und sollen auch keinen Ersatz die Herstellung allgemeiner gesellschaftlicher Rechte im Kampf gegen Unterdrückung bilden. Doch das heißt nicht, dass man bis dahin nichts tun kann. Präventionsarbeit durch beispielsweise regelmäßige Debatten über sexuellen Konsens sind ein Beispiel – unabhängig davon, ob es Übergriffe gegeben hat oder nicht. Dabei braucht es das Verständnis, insbesondere für männlich Sozialisierte, dass ein Ausbleiben eines Ja keine Zustimmung ist. Nur Ja heißt Ja und aktives Nachfragen ist nicht nur nett, sondern notwendig. Zudem braucht es eine Sensibilisierung für den Umgang mit Machtverhältnissen wie Alter, Herkunft oder auch Stellung in der eigenen Gruppe. Für weiblich sozialisierte Menschen macht es Sinn, sich dessen bewusst(er) zu werden und zu lernen, wie die eigenen Bedürfnisse artikuliert werden können. Darüber hinaus braucht es eigene Treffen – Caucusse – für gesellschaftlich diskriminierte Gruppen, die sich über Missstände innerhalb von linken Strukturen austauschen und Veränderungen einfordern.

DIE LINKE hat sicher Mist gebaut. Aber sie hat die Chance, ja die Pflicht, ihre Politik zu ändern. Sie verfügt über die Ressourcen, eine Kampagne zu starten, wie sie hier umrissen ist. Das würde nicht nur den Betroffenen am ehesten gerecht werden. Es kann auch dafür sorgen, dass DIE LINKE mal wieder irgendeinen ernstzunehmenden Kampf führt, was zur Zeit sicher keine/r behaupten kann.




Vor 40 Jahren: der Malvinas-Krieg

Bernie McAdam, Infomail 1184, 12. April 2022

Vor vierzig Jahren führte die britische Tory-Regierung Margaret Thatchers einen unerklärten Krieg gegen Argentinien um die Kontrolle über die Malwinen oder, wie Großbritannien sie nennt, die Falklandinseln. Am 2. April 1982 befahl der argentinische Militärdiktator General Galtieri die Invasion sowohl der Malwinen als auch von Südgeorgien/Sandwichinseln. Beide Inselgruppen waren von Großbritannien abhängige Territorien im Südatlantik. Ein zehnwöchiger Krieg endete schließlich mit der Kapitulation der argentinischen Streitkräfte und der Rückgabe der Gebiete, nachdem 649 argentinische und 255 britische Militärangehörige getötet worden waren.

Die Tatsache, dass Großbritannien Inseln besaß, die über 8.000 Meilen entfernt lagen, war ein typisches Erbe seines riesigen Imperiums, das natürlich auf imperialer Plünderung und Diebstahl beruhte. Spanien hatte die Inseln zuvor besetzt, war aber nach dem argentinischen Unabhängigkeitskrieg, der 1818 endete und 1820 mit der Anerkennung der argentinischen Souveränität endete, gezwungen, sich zurückzuziehen. Die Inseln waren jedoch 1833 Argentinien genommen worden und wurden 1841 zur britischen Kolonie. Sie wurden von britischen Kolonist:innen besiedelt, deren Nachkommen und spätere Siedler:innen die 1.800 Einwohner:innen zur Zeit des Krieges ausmachten.

General Galtieri beanspruchte also, was Argentinien gestohlen worden war und es seit 1833 immer wieder für sich reklamiert hatte. Seine Invasion der Inseln war nicht durch antiimperialistische Prinzipien motiviert, auch wenn die meisten Argentinier:innen diese für gerechtfertigt hielten. Vielmehr wollte er damit von seiner Unbeliebtheit im eigenen Land ablenken, die vor allem auf die wirtschaftliche Not und die von seiner Junta verübten Verbrechen zurückzuführen war. Ein ebenso wichtiger Grund war sein Bestreben, die Souveränität über ein Gebiet auszuüben, das als reich an Bodenschätzen und Erdöl galt.

Die Reaktion Großbritanniens beruhte nicht zuletzt auf dem Wissen um die unerschlossenen Ressourcen der Region und auf der Geschichte der Malwinen als wichtiger Außenposten des Empire. Natürlich war der imperiale Stolz stark angekratzt, und Großbritannien wollte nicht als schwaches Glied unter den großen imperialistischen Mächten erscheinen, was die unterdrückten Völker in der ganzen Welt nur noch mehr ermutigen könnte. Die militärische Expedition und der Sieg hatten auch zur Folge, dass sich Thatchers damalige extreme Unbeliebtheit als „Eiserne Lady“ völlig umkehrte. Nachdem sie den „äußeren Feind“ besiegt hatte, konnte sie sich dem „inneren“ zuwenden: den Bergleuten, Hafenarbeiter:innen, Drucker:innen und linken Labour-Gemeinderäten.

Argentinien: eine Halbkolonie

Thatcher konnte die Kriegshysterie vor allem dank der Reaktion des „linken“ Labour-Führers Michael Foot anheizen. Obwohl er sich selbst als „Friedensstifter“ bezeichnete, entpuppte er sich im Krieg mit Argentinien als ausgesprochener Sozialimperialist, sobald die Interessen Großbritanniens bedroht waren. Im Unterhaus verhöhnte er Thatcher in infamer Weise dafür, dass sie einen Besitz der Königin an einen argentinischen Diktator verloren hatte, sowie für die jüngsten Kürzungen im Marinehaushalt. Außerdem verklärte er den Krieg als legitime Unterstützung für das Selbstbestimmungsrecht der Falkland-Insulaner:innen. Infolgedessen hielt sich der Widerstand gegen den Krieg sehr in Grenzen. Selbst unter denjenigen, die in der britischen Linken gegen den Krieg waren, setzten viele Großbritannien und Argentinien einfach als zwei kapitalistische Staaten gleich, die um Ressourcen konkurrierten.

Großbritannien ist jedoch ein imperialistisches Land, während Argentinien eine Halbkolonie ist und war. Es existierte damals wie heute in einer Weltwirtschaft, die von einer kleinen Zahl sehr mächtiger Staaten beherrscht wird. Marxist:innen stellen sich auf die Seite der Opfer der imperialistischen Ausbeutung, wenn es zu einer bewaffneten Konfrontation zwischen den Imperialist:innen und den unterdrückten Völkern kommt. Workers Power, die britische Sektion der Liga für die Fünfte Internationale, war fast die einzige linke Gruppe in diesem Land, wenn auch nicht international, die sich aus Solidarität mit Argentiniens historischem Recht auf die Inseln und zu seiner Verteidigung gegen Großbritannien gegen den Krieg stellte. Für uns, wie für viele in der argentinischen Linken, bedeutete dies keinerlei politische Unterstützung für Galtieri. Wir haben das Wesen und die Geschichte Argentiniens als Halbkolonie, die dem Imperialismus unterworfen ist, klar dargelegt.

Argentinien war von der kolonialen Knechtschaft unter Spanien zu einer nominellen Unabhängigkeit übergegangen, die jedoch zunehmend den wirtschaftlich mächtigeren Nationen untergeordnet wurde. Ausländisches Kapital dominierte die Wirtschaft, und in den 1870er Jahren wurde das britische Kapital zum wichtigsten Akteur, insbesondere in der lukrativen Fleischverpackungsindustrie. Lenin beschrieb 1916 in seinem Pamphlet zum Imperialismus den halbkolonialen Status Argentiniens, der das Land „fast zu einer britischen Handelskolonie“ machte. Die Rolle, die das Land bis nach dem Zweiten Weltkrieg bei der Versorgung der Märkte Großbritanniens und seiner Kolonien mit Nahrungsmitteln spielte, ermöglichte jedoch einen gewissen Wohlstand, relativ hohe Löhne und einen europäischen Lebensstandard für Teile der Arbeiter:innenklasse. Die Eisenbahnen, Häfen, Industrien und Banken des Landes und die Kredite, die sie an die Viehzüchter:innenbourgeoisie vergaben, führten jedoch dazu, dass Argentinien wirtschaftlich und damit letztlich auch politisch vom britischen und später US-amerikanischen Imperialismus beherrscht wurde.

Die einzige wirkliche Veränderung in dieser Beziehung zwischen dem Imperialismus und Argentinien vor dem Zweiten Weltkrieg war die zunehmende Verdrängung des britischen Kapitals durch US-Investitionen, die sich seither noch weiter ausgedehnt haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte Argentinien einen bedeutenden staatskapitalistischen Sektor. Aber auch dieser war von Krediten des ausländischen Finanzkapitals abhängig, was zu einer Verschuldung und wachsenden Rolle des Internationalen Währungsfonds in der Wirtschaft führte. So bleibt es eine Halbkolonie, keine gleichberechtigte kapitalistische oder rivalisierende imperialistische Macht.

Anfang der 1980er Jahre war es also hauptsächlich eine Halbkolonie der USA, aber die Hoffnung, dass diese es in einem Konflikt mit Großbritannien unterstützen würden, war vergebens. Nach krampfhaften Versuchen, eine diplomatische Lösung zu vermitteln, unterstützte Präsident Ronald Reagan das Vereinigte Königreich nach Kräften, indem er Raketen für die Harrier-Düsenjäger, Harpoon-Schiffsabwehrraketen, Mörser usw. bereitstellte und die US-Telekommunikationssysteme nutzte und vieles mehr.

Weitere Unterstützung für Großbritannien kam, als die Resolution 502 des UN-Sicherheitsrates am 3. April von den USA unterstützt wurde. Sie forderte Argentinien zum Rückzug auf und wurde mit 10 gegen 1 Stimme angenommen. Nur Panama war dagegen, und Spanien, die Sowjetunion, China und Polen enthielten sich der Stimme. Trotz der Aufforderung zu Verhandlungen war die UN-Resolution ein Sieg für Thatcher, da sie sich nur auf das argentinische Militär konzentrierte und die Frage offenließ, ob Großbritannien im Rahmen der UN-Charta zur Selbstverteidigung gehandelt hatte.

Der Krieg

Die Thatcher-Regierung versammelte rasch ihre Einsatztruppe und requirierte verschiedene zivile Schiffe, um ihre schrumpfende Marine zu verstärken, und die britische Luftwaffe richtete einen Stützpunkt auf der mittelatlantischen Insel Ascension ein. Zunächst wurde Südgeorgien zurückerobert. Eines der ersten Gefechte führte zum Untergang der General Belgrano, eines der größten, wenn auch ältesten Kriegsschiffe Argentiniens, bei dem 368 Menschen in den eisigen Gewässern des Südatlantiks umkamen. Da sich das Schiff außerhalb der vom Vereinigten Königreich verhängten Sperrzone befand, sich nicht in der Nähe der Einsatztruppen aufhielt und sogar in Richtung Argentinien zurückfuhr, stieß diese Aktion auf breite Kritik, insbesondere aus lateinamerikanischen Ländern und von der Antikriegsbewegung im Vereinigten Königreich.

Die britische Flotte erlitt erhebliche Verluste durch die argentinische Luftwaffe. Die HMS Sheffield wurde als erste versenkt, gefolgt von der HMS Coventry, der Ardent, der Antelope. Eine Exocet-Rakete traf das Transportschiff Atlantic und zerstörte eine große Menge an Material. Der Verlauf des Krieges hätte ganz anders aussehen können, wenn die argentinischen Bomben bei direkten Treffern auf mehreren anderen Schiffen explodiert wären. Aber die argentinische Seite erlitt erhebliche Verluste aus der Luft. Schließlich landete die britische Armee auf den Inseln, und es kam zu kurzen, aber heftigen Gefechten. Die argentinischen Streitkräfte kapitulierten am 14. Juni.

Reaktion der Linken

Der Labour-Vorsitzende Michael Foot machte sich einen Namen als „eingefleischter Friedensaktivist“ und marschierte viele Male mit der CND (Kampagne für nukleare Abrüstung). Doch als ein tatsächlicher Krieg ausbrach, war sein Pazifismus dahin und er unterstützte den Krieg Thatchers. Das Argument lautete, Galtieri sei nicht besser als ein Faschist und die Falkland-Insulaner:innen hätten ein Recht auf Selbstbestimmung. Workers Power argumentierte, dass Selbstbestimmung das Recht ist, einen eigenen unabhängigen Staat zu bilden. Diese Forderung erhoben die Falkland-Insulaner:innen nicht. Sie wollten Teil des britischen Empires bleiben, was Sozialist:innen nicht unterstützen sollten. Argentinien hatte sich von ihm die Inseln stehlen lassen.

Tony Benn von der Linken der Partei war gegen die Flotte und die Kriegsvorbereitungen, aber er setzte seine Opposition nicht in einer Abstimmung im Unterhaus durch. Als sich die Flotte nach Süden bewegte, wurden die Forderungen der Linken zunächst dahingehend geändert, dass die Einsatztruppe gestoppt werden sollte, anstatt sich zurückzuziehen. Dann, als die Aktion losbrach, in „für einen sofortigen Waffenstillstand“, wobei die Flotte vermutlich in Position bleiben sollte! Benn schlug auch Wirtschaftssanktionen gegen Argentinien vor, die im Grunde die gleichen Kriegsziele verfolgten wie Thatcher. Wie andere in der Labour-Führung forderte er die von den Imperialist:innen geführten Vereinten Nationen auf einzugreifen.

Alle großen linken Gruppen haben es versäumt, eine Position der Solidarität mit einer Halbkolonie, die von einer imperialistischen Macht angegriffen wird, zu vertreten, einschließlich Socialist Worker und Militant. Militant war besonders verwerflich, da es die Forderung nach einem Rückzug der Flotte oder gar dem Aufbau einer Antikriegsbewegung ablehnte. Soldat:innen wären schließlich Arbeiter:innen in Uniform! Die International Marxist Group war besser: Sie sprach sich zumindest für die Rückgabe der Malwinen an Argentinien aus, aber nicht für ausdrückliche Solidarität zu dessen Verteidigung. Wie die meisten Linken passten sie sich den Versuchen der CND an, eine Massenantikriegsbewegung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner aufzubauen, den diese in der Umsetzung der UN-Resolution 502 sah, die die Grundlage für Thatchers Kriegseintritt bildete!

In Wirklichkeit existierte keine demokratische Rechtfertigung für den Krieg. Die Inseln gehörten Argentinien, und Sozialist:innen unterstützen unterdrückte Nationen gegen imperialistische, unabhängig von ihren Regierungen. Neben einer Mobilisierung zur Bezwingung des Imperialismus auf den Malwinen mussten die argentinischen Arbeiter:innen den Kampf gegen ihre Unterdrücker:innen vertiefen, indem sie die imperialistischen Fabriken und Besitzungen enteigneten, sich weigerten, die internationalen Schulden zu bezahlen und den Sturz Galtieris als Teil dieses Kampfes zur Niederlage des Imperialismus durchsetzten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Thatchers Sieg eine große Niederlage für die Arbeiter:innen hierzulande bedeutete, da er den Chauvinismus innerhalb der Arbeiter:innenklasse verstärkte, die Labour-Partei in der Folge bei den Wahlen besiegte und Thatchers Ruf als Eiserne Lady stärkte. Auf der internationalen Bühne führte der Sieg auch zur Stärkung der imperialistischen Reaktion und verkörperte einen Schlag gegen antiimperialistische Kämpfe. Eine Niederlage Großbritanniens wäre ein Schlag für die Unterdrückten gegen den Imperialismus gewesen, deshalb haben wir sie gefordert. Die britische Linke hatte den Test des Internationalismus nicht bestanden.




Solidarität mit der Antikriegsbewegung in Russland

Jaqueline Katharina Singh, Neue Internationale 263, April 2022

Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine gibt es weltweit Proteste – auch in Russland selbst. Ihnen ist dieser Artikel gewidmet.

Die Aktivist:innen selber begegnen dabei seit dem ersten Tag des Krieges einer massiven Repression seitens des russischen Staates. Es drohen Haftstrafen von bis zu 15 Jahren sowie Geldstrafen bis zu 5 Millionen Rubel (nach derzeitigem Kurs ca 50.000 Euro).

Vereinzelt ist es auch zu Hausdurchsuchungen gekommen sowie Fällen von Folter wie bei dem baschkirischen Umweltaktivisten Aytugan Sharipov. Dieser wurde stundenlang Elektroschocks ausgesetzt wegen der Versendung von Antikriegs-Nachrichten auf WhatsApp. Darüber hinaus spricht die massive Zahl der Festnahmen für sich. Seit Beginn der Invasion wurden laut Tagesschau bis zum 13. März rund 14.000 Menschen festgenommen. Häufig enden diese in 10 – 15 Tagen „Ordnungsverwahrung“.

Deutlich wird die Härte, wenn man sich die Festnahmen nur vom Aktionstag am 6. März genauer anschaut. In Moskau demonstrierten ca. 2.500 Menschen, in St. Petersburg 1500. Verhaftet wurden in Moskau 1.700 aufgrund der Teilnahme an einer „nicht genehmigten Kundgebung“, in St. Petersburg 750. Also rund die Hälfte bis zwei Drittel jener, die sich auf die Straße gewagt haben. Ein weiteres großes Problem stellt die  Informationsblockade an sich dar. Fast alle unabhängigen sowie viele westliche Medien und soziale Netzwerke sind blockiert oder geschlossen, während staatliche Stellen Desinformationen über die „militärische Sonderoperation“ verbreiten.

Grober Überblick

Als unmittelbare Reaktion auf den Einmarsch gab es mehrere Petitionen und Positionierungen von bekannten Personen der russischen Öffentlichkeit gegen den Krieg. So unterzeichneten mehr als 30.000 Techniker:innen, 6.000 Mediziner:innen, 3.400 Architekt:innen, mehr als 4.300 Lehrer:innen, über 17.000 Künstler:innen, 5.000 Wissenschaftler:innen und 2.000 Schauspieler:innen, Regisseur:innen und andere Kreative offene Briefe, in denen sie Putins Regierung aufforderten, den Krieg zu beenden.

Etliche Unterstützer:innen der Petitionen gegen die Invasion verloren ihren Arbeitsplatz. Es folgten Aktionen von Künstler:innen wie beispielsweise aus dem Kollektiv Nevoina aus Samara. Diese veranstalteten eine Aktion mit dem Titel „Ein Wort an die Toten“. Die Aktivist:innen zogen sich schwarze Säcke an und formten auf dem Eis der Wolga eine Linie aus ihren Körpern aus, um die Opfer des Krieges zu symbolisieren. Andere Protestformen zeigt die anonyme Bewegung „Krankschreibung gegen den Krieg“ auf. Darüber hinaus gibt es viele Guerilla-Aktionen und „stille Mahnwachen“ als Alternative zu Straßenprotesten.

Den Höhepunkt der Proteste bilden bisher jedoch die zwei zentralen Aktionstage gegen den Krieg am 6. und 13. März.

Frauen und Jugend voran!

Präsent war bei den Protesten der „Feministische Widerstand gegen Krieg“. Eine der Gründerinnen gab an, dass Antimilitarismus ein integraler Bestandteil des Feminismus sei, denn dieser wende sich gegen alle Formen von Gewalt, einschließlich militärischer Aggression. Das Netzwerk fokussiert sich im Rahmen der Proteste vor allem darauf, die Informationsblockade zu überwinden, bspw. durch virale WhatsApp-Nachrichten oder Guerilla-Straßenaktionen.

Auch zu erwähnen ist die Jugendbewegung Vesna. Sie ist Teil der Europäischen Liberalen Jugend und hat mit zu beiden Aktionstagen aufgerufen, wo sie klar sagte, dass Putin nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen die eigene Bevölkerung Krieg führe. Den nächsten Aktionstag hat sie für den 2. April ausgerufen.

Wesentlich kleiner ist die Initiative „Studierende gegen den Krieg“. Diese hat am 18. März auf ihrem Telegram-Kanal (3.100 Follower) zu Aktionen an den russischen Universitäten aufgerufen, nachdem sie zwischen dem 9. und 12. März versuchten, dort Bildungsstreiks durchzuführen. Sie riefen dazu auf, sich mit Dozierenden in Verbindung zu setzen, die gegen den Krieg sind und diesen in Seminaren zu thematisieren, Flugblätter und Aufschriften gegen die Informationsblockade zu hinterlassen und Studierenden zu helfen, die von Exmatrikulation bedroht sind. Darüber hinaus sollen Hochschulrektor:innen aufgefordert werden, ihre Unterschrift auf Unterstützungsschreiben für den Krieg zurückzuziehen.

Russische Linke

Die Kommunistische Partei Russlands KPRF (mit 43 Sitzen zweitgrößte Partei in der Staatsduma nach Putins „Einiges Russland“ – 334 Sitze) ist als „kremltreu“ zu begreifen und ordnet sich dem russischen Imperialismus unter. Trotzdem gibt es Bewegung gegen deren Führung. So entstand die Initiative „KPRF/KOMSOMOL-Mitglieder gegen den Krieg” mit der sich mehrere Abgeordnete der Staatsduma für die Beendigung des Krieges einsetzen. Darüber hinaus gibt es ein Schreiben von 462 Mitgliedern der KPRF, das die „die sofortige Beendigung des Bruderkriegs zwischen den Völkern Russlands und der Ukraine“ und ein Programm für die Veränderung Russlands und der Welt nach dem Krieg fordert. Dieses soll auf allen Ebenen der Partei diskutiert werden. Ebenso positiv hervorzuheben ist, dass der Krieg Russlands klar als imperialistischer bezeichnet wird.

Die Föderation der Unabhängigen Gewerkschaften Russlands (FNPR) mit mehr als 27 Millionen Mitgliedern wiederum ist stark in den Putinismus eingebunden. Eine Partnerin gegen den Krieg ist sie unter ihrer bürokratischen Führung nicht. Diese steht stramm hinter dem russischen Überfall, wobei eine Führung nicht mit der Basis verwechselt werden darf.

Jedoch sieht es bei der KTR, der Konföderation der Arbeit Russlands, anders aus. Der Zusammenschluss von rund 20 Gewerkschaften hat 2 Millionen Mitglieder. Eine der Mitgliedsgewerkschaften ist die MPRA, die als kämpferische Organisation in der transnationalen Automobilindustrie (Ford, VW, BENTELER) aktiv ist. Seit ihrer Gründung im Jahr 2006 hat sie sich durch militante Streiks ihren Platz erkämpft. Ihre Führer:innen sind immer wieder der Repression ausgesetzt und manche von ihnen vertreten sozialistische Positionen. Am 26. Februar hat die KTR ein Statement abgegeben, das zwar keine offene Ablehnung des Krieges ist, aber auffordert, dass es eine „schnellstmögliche Einstellung der Militäraktionen und die Wiederaufnahme des friedlichen Dialogs und der Koexistenz zwischen den multinationalen Völkern Russlands und der Ukraine“ geben muss.

Herausforderungen

Die Proteste gegen den Krieg ziehen sich durch ein breites Spektrum. Es gab Petitionen, Guerilla-Aktionen sowie Mobilisierungstage. Zudem darf der stille Protest tausender Menschen, die Russland nun verlassen, nicht verkannt werden. Der diffuse und weitgehend vereinzelte Charakter der Gegenwehr hängt dabei jedoch mit einer Schwäche der Linken in Russland selbst zusammen.

Das unmittelbar größte Problem für alle auf der Straße ist der massive und allgegenwärtige Repressionsapparat des Putin-Regimes. Es fehlt an Strukturen, die in dieser Situation illegale Arbeit mit der Nutzung der eng beschränkten legalen Möglichkeiten verbinden könnten.

Weiterhin fehlt eine Verankerung der radikalen Linken innerhalb der Arbeiter:innenklasse. Letztere ist massenhaft vor allem in der staatstragenden Gewerkschaftsföderation organisiert und kontrolliert. Die aktuellen Proteste können sich somit richtigerweise gegen den Krieg Russlands richten, aber darüber hinaus können sie in der aktuellen Form nur die Keimform einer breiten Antikriegsbewegung darstellen. Davon, den Krieg stoppen zu können, sind sie weit entfernt, die Linke ist marginalisiert, die Arbeiter:innenklasse tritt nicht als eigenständige Kraft auf.

Die eher autonom geprägte Gruppe „Alt-Left“ geht dementsprechend in ihrer Auswertung eines Aktionstages davon aus, dass die Führung der Bewegung eine liberale Prägung habe und es in der Bevölkerung eine mehrheitliche Unterstützung für die Krimoperation und eine starke Zunahme des Nationalismus gäbe. Natürlich ist das auch ein Ergebnis von Putins Propagandahoheit, aber auch der Tiefe der historischen Niederlage, die mit der Restauration des Kapitalismus einherging, und einer Linken, die an sich selbst den Zusammenbruch des Stalinismus erfuhr und sich und die Arbeiter:innenklasse bisher nicht so reorganisieren konnte, dass sie einen alternativen gesellschaftlichen Pol gegen Putin darstellt.

Aufgaben

Revolutionär:innen und Antikriegsaktivist:innen stehen in Russland vor zwei großen Herausforderungen:

  • Sie müssen programmatische Klarheit über den imperialistischen Charakter Russlands und des Krieges entwickeln. Der Krieg ist nicht einfach ein „Bruderkrieg“, sondern einer, der die Ukraine Russland unterwerfen soll. Er ist zugleich auch ein innerimperialistischer Konflikt und eine Vorstufe zum direkten Krieg gegen die NATO, USA und EU.

Daraus leitet sich die Position ab, nicht einfach nur für einen falschen (weil imperialistischen) Frieden einzutreten, sondern offen gegen den russischen Imperialismus und seine Kriegsziele aufzutreten. In Russland muss der Kampf gegen den Krieg mit dem zum Sturz des Putin-Regimes und des russischen Kapitalismus real verbunden werden.

Es gilt dabei, demokratische Forderungen mit sozialistischen zu verbinden: Rückzug der Truppen, weg mit Putin, gegen die Abwälzung der Kosten des Krieges und der Sanktionen auf die Massen, demokratische Kontrolle über Produktion und Verteilung der Güter, Enteignung von Betrieben, für den Streik und die Sabotage des Krieges, antimilitaristische Arbeit und Agitation in der Armee.

Unbedingt Teil der Programmatik muss natürlich auch der Kampf für die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Ukraine sein. Dass das keine wilde Träumerei ist, zeigt die russische Geschichte nach der Oktoberrevolution 1917 selbst.

  • In wechselseitiger Beziehung mit der programmatischen Klärung steht die Organisierung und Kombination von illegaler und legaler Arbeit (Strukturen schaffen zum Schutz vor dem Staat und zur illegalen Publikation und Agitation, Kanäle schaffen zur offenen Diskussion, Legalität ausreizen, …)

Die Klärung der Position und das Schaffen von organisatorischen Strukturen wird umso wichtiger, wenn sich die Bewegung gegen den Krieg spontan und von sich aus verbreitert (z. B. in Streiks gegen die schlechter werdende Lebenssituation). Nur so kann sie politisch aufgefangen und in eine revolutionäre Richtung gelenkt werden.

Abschließend: Der Kampf gegen den Krieg ist auch keine Aufgabe der russischen Arbeiter:innenklasse alleine. Die Linke hierzulande muss sich solidarisch mit den existierenden Protesten zeigen und gleichzeitig die Politik der BRD gegenüber Russland bekämpfen. Es ist essenziell für den Kampf in Russland, dass wir hier gegen Aufrüstung und Sanktionen kämpfen. Damit können wir der russischen Bevölkerung zeigen, dass die internationale Arbeiter:innenklasse ihre Verbündeten ist, ihre Interessen teilt. So können wir auch dazu beitragen, Putins großrussischer nationalistischen Propaganda und damit seiner Unterstützung den Boden zu entziehen.




G7-Gipfel 2022: Spaltung statt Mobilisierung?

Veronika Schulz, Neue Internationale 263, April 2022

Turnusgemäß findet vom 26. – 28. 6. 2022 wieder ein G7-Gipfel unter deutscher Präsidentschaft statt. Tagungsort ist wie bereits vor 7 Jahren das Luxushotel auf Schloss Elmau bei Garmisch-Partenkirchen. Die Klimapolitik, Weltwirtschaft und der weitere Umgang mit der Corona-Pandemie sollten eigentlich im Zentrum des diesjährigen Treffens der Staatschefs der führenden westlichen Industrienationen stehen. Der Kampf um die Ukraine wird es jedoch prägen. Mehr denn je wird der Charakter der G7 als Allianz im Kampf um die Neuaufteilung der Welt in den Vordergrund drängen. Schien es noch vor einigen Jahren, als wäre das Format nicht mehr „zeitgemäß“, so gewinnt der Gipfel wieder an Bedeutung – und zwar als mehr oder weniger unverhohlenes Treffen einer Mächtegruppe, die sicherstellen will, dass sie auch die zukünftige Weltordnung bestimmt.

Die sieben Staaten stehen allesamt ganz weit oben auf der Liste der größten Klimakiller, engstirnigsten Vertreter des Impfstoffnationalismus und größten Militärmächte der Welt – um nur einige Eckdaten der Leistungen dieser illustren Runde aufzuzählen. Und ausgerechnet sie präsentiert sich als „Retterin“ des Klimas, der Gesundheit, der Weltwirtschaft, von „Freiheit“ und „Demokratie“.

Umso wichtiger ist deshalb auch die Gegenmobilisierung durch alle linken und progressiven Kräfte gegen diesen erlesenen Club führender kapitalistischer Nationen, deren Reichtum auf der Ausbeutung der Arbeiter:innenklasse und der halbkolonialen Welt beruht.

Wer mobilisiert wogegen?

Bisher haben sich mehrere Dutzend Gruppen, Organisationen und Einzelpersonen aus dem ökologischen, kommunistischen, kapitalismuskritischen, antirassistischen und antimilitaristischen Spektrum zu einer Plattform zusammengefunden, die das Treffen der G7 nicht ungestört über die Bühne gehen lassen will. Neben Parteien wie DKP und DIE LINKE sind bisher u. a. auch mehrere lokale FFF- und XR-Gruppen, bundesweite Organisationen wie SDAJ, Linksjugend [’solid], SAV, ISO, Arbeiter:innenmacht, Revolution, Aktivist:innen aus der Mieter:innenbewegung, Perspektive Kommunismus, der Funke und das Münchner Bündnis gegen Krieg und Rassismus beteiligt.

Doch das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gegenmobilisierung, anders als vor sieben Jahren oder auch gegen den G-20-Gipfel in Hamburg, letztlich von verschiedenen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) faktisch dominiert wird, darunter Greenpeace, BUND, Campact, WWF, Oxfam, Naturfreunde, Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) und attac.

Rolle der NGOs

Schon zu Beginn hat sich in den Gesprächen ihr Alleingang angedeutet. Sie wurden nicht müde zu betonen, dass sie ihren Status als gemeinnützige Organisationen riskieren, sollten sie gemeinsam mit Parteien und „Linksradikalen“ zu Aktionen aufrufen. Ein weiterer Streitpunkt ergab sich in der Frage der Gewalt bzw. einer klaren Distanzierung der NGOs von Gruppen, die militante Protestformen nicht bereits im Vorfeld ausschließen.

Über mehrere Wochen kam Gegenmobilisierung daher nicht voran, bis am 6. März die Karten auf den Tisch gelegt wurden. Von den NGOs wurden alle übrigen Gruppen davon in Kenntnis gesetzt, dass die anvisierte Großdemonstration am 25. Juni in München, also die sicherlich größte Aktion, von ihnen selbst geplant wird. Der Rest könne sich jedoch gerne einem Aufruf anschließen.

Man sei sich dessen bewusst, so die Vertreterin von Greenpeace und Sprecherin der an der Plattform beteiligten NGOs, dass man an dieser Stelle undemokratisch agiere, es bleibe ihnen aber aus genannten Gründen keine andere Wahl. Die Demonstration wird nun von einem Trägerkreis allein aus NGOs organisiert und „verantwortet“. Ergänzt soll dieser durch einen „Unterstützerkreis“ werden, der Einzelpersonen verschiedener Milieus einbindet – natürlich nur nach einem vorhergehenden Check durch die NGOs.

Ihr provokatorisches und putschistisches Vorgehen führt nun erneut – wie bereits im Vorfeld des G20-Gipfels 2017 in Hamburg – zu einer Schwächung sowohl der Proteste als auch der Mobilisierung. Doch damals war es ihnen nicht möglich, das Bündnis zu übernehmen. Diesmal konnten sie die Großdemonstration kapern.

Wir verurteilen dieses undemokratische Vorgehen und die bewusst herbeigeführte Spaltung aufs Schärfste, nimmt es doch allen weiteren Beteiligten die Möglichkeit, direkten Einfluss auf die politische Gestaltung der zentralen Großdemonstration in München zu nehmen.

Das Manöver der NGOs, selbst ein direkter Kotau vor Regierung und reaktionärer Gesetzgebung, hat freilich weitgehendere politische Gründe. Während die linken Kräfte die Legitmität der G7 selbst zurückweisen und deren Gipfel als Treffen einer imperialistischen Allianz im Kampf um die Neuaufteilung der Welt begreifen, betrachten erstere die G7 ganz wie die Bundesregierung als (mögliche) Partnerinnen bei der Verbesserung der Welt. Die Kontrolle von Demo, Aufruf und politischer Ausrichtung soll also nicht nur die zukünftigen Spendenkassen von Greenpeace und Co. schützen, sondern vor allem auch all jene Kräfte marginalisieren, die die G7 und kapitalistische Weltordnung grundsätzlich ablehnen!

Aus diesem Grund müssen die Erwartungen an eine schlagkräftige Protestbewegung schon jetzt relativiert werden. Die NGOs bringen zweifelsohne Geld und weitere Ressourcen auf, behalten sich aber das Recht vor, die Demo nach ihren Wünschen auszurichten. Alle anderen Gruppen und Organisationen sind gewissermaßen die nützlichen Idiotinnen, die die wirkliche Mobilisierungsarbeit übernehmen. Zusammengefasst dürfen sie also die Hauptlast tragen, während die NGOs ihre finanziellen und personellen Ressourcen aufbieten und die Hoheit über die politische Ausrichtung der Demonstration ausüben.

Eigenständige Mobilisierung

Ein schlagkräftiges „Bündnis“ sieht anders aus. Trotz Dominanz der NGOs wäre es jedoch ein Fehler, die Demonstration am 25. Juni in München rechts liegenzulassen. Trotz ihrer mutmaßlich politisch kleinbürgerlichen bis reformistischen Ausrichtung werden wahrscheinlich Zehntausende nach München kommen. Diese müssen wir als Revolutionär:innen, Antikapitalist:innen, antiimperialistischen und Klassenkämpfer:innen zu erreichen versuchen. Daher werden wir auf jeden Fall mit einem eigenen Aufruf, eigenen Parolen, eigenem Material dafür mobilisieren. Wir werden uns auch der geplanten Gegendemonstration am 26. Juni in Garmisch-Partenkirchen anschließen und hoffen, dass das geplante Protestcamp und Workshops zur Diskussion und Aktionsplanung stattfinden können.

Angesichts der aktuellen krisenhaften Zuspitzung der Weltordnung und Weltwirtschaft müssen wir die Gegenmobilisierung nutzen, um eine Bewegung gegen Krise, Militarisierung und Krieg aufzubauen. Wir brauchen eine massenhafte Mobilisierung in den Betrieben, Schulen, Vereinen, an den Universitäten und in den Kulturstätten – unsere Organisierung muss jetzt beginnen!




Queer-Unterdrückung in Pakistan

Huma Khan & Falak Ali, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9, März 2021

Auf dem Aurat-Marsch (1) 2020 hissten queere (2) Genossinnen und Genossen die Regenbogenflagge. Während wir als SozialistInnen stolz auf diesen Akt des Widerstands gegen sexuelle und Gender-Unterdrückung sind, waren einige feministische FührerInnen anderer Meinung. In der Folge mussten sich queere AktivistInnen mit dem Vorwurf auseinandersetzen, dass es „unfair und dominierend von queeren Menschen sei, die Aurat Marsch-Bewegung auf diese Weise zu kapern“. In diesem Artikel werden wir argumentieren, warum Pakistans Queers ein integraler Bestandteil der sozialen Bewegungen des Landes sein müssen. Insbesondere die Queer- und die Frauenbewegung teilen gemeinsame Interessen. Indem wir sie hervorheben, wollen wir zeigen, wie queere Forderungen zu einem dynamischen Hebel bei der Entwicklung einer sozialistischen und ArbeiterInnenklasse-Politik werden können.

Queer-AktivistInnen sehen seit langem, wie sich das Schweigen, das sie in der Gesellschaft erfahren, in Pakistans linken und feministischen Kreisen reproduziert. Während die meisten linken Parteien und Organisationen sich einfach nicht darum scheren, ist die Stimmung, insbesondere in den etablierteren und damit einflussreichen feministischen Kreisen: „Frauenrechte zuerst“. In der Zwischenzeit sind viele der OrganisatorInnen des Aurat-Marsches, so werden wir argumentieren, nur gegenüber Teilen der queeren Gemeinde einladend. Nur eine kleinere und weniger einflussreiche Gruppe von radikalen FeministInnen und SozialistInnen wie wir will, dass alle queeren Menschen ein integraler Bestandteil des Kampfes gegen das Patriarchat sind. Solche ausgrenzenden Praktiken der derzeitigen Mehrheit der pakistanischen feministischen Bewegung beginnen, unseren Bewegungen zu schaden. Dieses Jahr haben sich queere Kollektive wie das Non-Binary Collective (Nicht-Binäres Kollektiv) aus den Organisationsgremien des Aurat-Marsches zurückgezogen.

Nach unserem Verständnis sind obengenannte politischen Konzepte mehr als ausgrenzend. Sie folgen einer Logik, die von den klassenbezogenen Strategien der Bewegung geprägt ist. Obwohl der Aurat-Marsch bisweilen eine radikale Terminologie verwendet, würden wir seine vorherrschende Politik zum jetzigen Zeitpunkt jedoch als bürgerlichen Feminismus charakterisieren. Es ist richtig, dass die pakistanische Frauenbewegung mit dem neuen Jahrhundert eine neue Wendung genommen hat. Im Mittelpunkt der heutigen Proteste stehen die individuellen Erfahrungen und Rechte der Frauen. Auch wenn der Aurat-Marsch jedes Jahr einen Forderungskatalog herausgibt, ist der klassische Kampf für eine bestimmte Gesetzgebung nicht mehr so präsent wie früher.

Eine Bewegung mit einem Mittelklassen-Standpunkt

Ohne die wohlwollende Aufmerksamkeit schmälern zu wollen, die der Aurat-Marsch auf die verabscheuungswürdige Frauenunterdrückung in Pakistan gelenkt hat, sei gesagt, dass es sich dabei in der Regel um die spezifischen Erfahrungen von Frauen aus den Mittelschichten und der Bourgeoisie handelt. Als Reaktion auf radikalere Stimmen innerhalb der Bewegung haben einige FührerInnen für eine „klassenübergreifende Bewegung“ plädiert, die „alle Frauen“ repräsentiert. Das praktische Ergebnis bliebe jedoch dasselbe, da eine solche Konzeption notwendigerweise die Zurückstellung der spezifischen Interessen der Bäuerinnen, der Unterschicht und der Arbeiterinnen und damit der Interessen der Mehrheit der sozial Unterdrückten bedeuten würde. Dies hat wichtige Implikationen für die Perspektive sowohl der Frauen- als auch der Queer-Bewegung.

Wenn sich unsere Bewegungen nicht mit der ausbeuterischen Arbeitsteilung des Kapitalismus befassen und sie tatsächlich in den Mittelpunkt stellen, die sowohl in der Industrie und der Landwirtschaft (produktive Sphäre) als auch in unseren Familien (reproduktive Sphäre) zum Ausdruck kommt, werden sie die pakistanische Gesellschaft nicht radikal verändern können. Die Befreiung bleibt also auf den Bereich der formalen Rechte beschränkt, sei es durch eine Änderung des gesunden Menschenverstands oder der Gesetze.

Dies wiederum erklärt den Alibicharakter des Aurat-Marsches in Karatschi gegenüber Khwaja Sira (Trans-Frauen). Diejenigen, denen eine Bühne gegeben wird, wären oft Trans-Frauen, die sich mit Hilfe von Nichtregierungsorganisationen in glamouröse, liberale Berühmtheiten verwandelt haben. Dieser Ansatz stellt die Frage jedoch vom Kopf auf die Füße. Natürlich sollten queere Menschen das gleiche Recht haben, Prominente und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu werden, aber das Problem der queeren Gemeinschaften Pakistans, insbesondere der Khwaja Sira, besteht darin, dass sie gezwungen sind, unter den prekärsten Bedingungen zu leben und zu arbeiten. Die Lösung ihrer Probleme liegt nicht darin, dass einige wenige von ihnen Teil der Elite werden, sondern darin, ein patriarchalisches Klassensystem herauszufordern, das sie in die Prostitution, die Aufführung von Tänzen oder zum Betteln zwingt.

Außerdem zählte diese Inklusion nur für einige queere Menschen. Wie die Cis-Het-OrganisatorInnen des Aurat-Marschs 2019 sagten: „Unsere Mitgliedschaft ist nur für Trans-Frauen offen“. Interne Widerstände radikaler AktivistInnen führten dazu, dass sie ihre Haltung aufweichten, aber nur geringfügig. Während man sich darauf einigte, dass der Marsch die Unterdrückung von „sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten“ thematisieren würde, hieß es, dass nur binäre Trans-Frauen und geschlechtsinkonforme Menschen OrganisatorInnen des Aurat-Marsches werden könnten. Schwule und Trans-Männer wurden ausgeschlossen, da behauptet wurde, dass „schwule Männer auch Frauenfeindlichkeit verinnerlicht haben“.

Bevor wir erörtern, was unserer Meinung nach ein sinnvoller Kampf sein könnte, der sich in die Kämpfe und Forderungen der queeren Menschen integriert, lasst uns einen Blick auf die bestehende Situation der queeren Gemeinschaft in Pakistan werfen.

Vielschichtige Natur der Unterdrückung: Familie, Gesetz und staatliche Strukturen

Die Frauenbewegung in einem halbkolonialen Land wie Pakistan wird eindeutig von globalen Entwicklungen wie den weltweiten Frauenstreiks beeinflusst. Gleichzeitig hat sie aber auch ihre eigenen spezifischen Merkmale und Herausforderungen zu bewältigen, die sich aus den besonderen objektiven Bedingungen der pakistanischen Gesellschaft ergeben. Die Existenz der Khwaja Sirai als soziales und kulturelles Phänomen in der südasiatischen Gesellschaft – aus Gründen, auf die wir in diesem Artikel nicht näher eingehen können – ermöglicht ihre Sichtbarkeit und eine gewisse Akzeptanz für ihre wahrnehmbare Existenz in Pakistan. Für bestimmte TheoretikerInnen mit postkolonialen Neigungen führt dies zu einer Romantisierung der scheinbar fortschrittlichen südasiatischen Gesellschaft im Vergleich zu den oft offen transphoben „westlichen“ Gesellschaften. Die objektiven Bedingungen in Ländern wie Pakistan zeigen jedoch ein anderes Bild. Für die meisten queeren und Transgender-Menschen ist finanzielle Unabhängigkeit nach wie vor das größte soziale Problem für das Funktionieren ihres Lebens. Aber die Schwere dieses Problems ist im Fall von binären Trans-Menschen noch viel gravierender. Ihre Geschlechtsidentität entspricht nicht dem biologischen Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde, was bedeutet, dass sie durch ihr Geschlechtsverhalten und sexuellen Ausdruck sehr sichtbar sind. Der Preis für diese Sichtbarkeit wird zuerst im Elternhaus bezahlt. Familien von Trans-Personen werfen sie aus dem Haus und entziehen ihnen ihren Anteil am Erbe. Dies ist eine weit verbreitete soziale Realität für die große Mehrheit der Trans-Menschen. In diesem Sinne wird die spezifische Natur der Sexualität von Trans-Menschen von der Institution Familie gegen sie verwendet. Diese spezifische Natur nimmt ihnen auch die Möglichkeit, ein geheimes Doppelleben zu führen wie binäre Schwule oder Lesben. Infolgedessen bleiben den Khwaja Sira drei Berufe zur Auswahl: Sexarbeit, Tanzen auf Partys und Betteln.

Während das weithin gefeierte Transgender-Schutzgesetz eine dritte Geschlechtskategorie in allen offiziellen Dokumenten vorsieht, zeigt die Frage der Erbschaft, wie Transgender-Frauen gezwungen werden, sich als Männer eintragen zu lassen. Das liegt daran, dass nach dem Scharia-Gesetz Männer zwei Anteile am Erbe bekommen, Frauen nur einen. Aufgrund dieser patriarchalen Diskriminierung würden sich die meisten Transgender-Frauen in ihren Ausweisdokumenten als Männer eintragen lassen, in der Hoffnung, dass sie in der grausamen Anarchie des Kapitalismus einen größeren Anteil am Erbe erhalten würden.

Transgender-Schutzgesetz: eine progressive bürgerliche Reform?

Das 2018 von der pakistanischen Nationalversammlung verabschiedete Transgender-Schutzgesetz (3) bietet auf dem Papier eine Reihe von Schutzmaßnahmen für Transgender-Menschen, darunter das Recht auf Selbstidentifikation. Es wird sowohl von Liberalen und Nichtregierungsorganisationen (4) (5) als auch von bürgerlichen Medien (6) (7) als fortschrittliche Maßnahme angepriesen. Während wir die Verabschiedung eines Gesetzes begrüßen, das Menschen das Recht auf Selbstidentifikation zugesteht, bleibt das Gesetz weitgehend ein Fortschritt nur auf dem Papier. Erst letztes Jahr wurde eine Transgender-Überlebende einer Vergewaltigung, Julie, acht Tage lang mit männlichen Insassen im Gefängnis eingesperrt. (8)

Außerdem wird die Verabschiedung dieses Gesetzes als eine bürgerliche Reform dargestellt, die von einem Teil der herrschenden Klasse Pakistans aus der Güte ihres „fortschrittlichen“ Herzens gewährt wird. Doch wie jeder anderen Reform geht auch dieser Gesetzgebung eine Geschichte des Widerstands voraus. Sie folgt auf das Urteil des Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 2012, das pakistanischen Transgender-Personen zwar die Anerkennung als BürgerInnen eines dritten Geschlechts gewährte, aber auch empfahl, Tests durchzuführen, um festzustellen, ob „Eunuchen“ – wie das Urteil sie gerne nannte – tatsächlich „Eunuchen“ waren. Diese Empfehlung führte zu Protesten von Trans-Menschen, die argumentierten, dass Männern und Frauen die Identität auf der Grundlage ihres Wortes zugestanden wird. Warum also müssen sich Trans-Menschen entsetzlichen Prozeduren solch invasiver Tests unterziehen? (9)

Darüber hinaus gewährt das Transgender-Personen-Gesetz 2018 Trans-Männern und -Frauen aller Religionen die gleichen Erbrechte, die cis-geschlechtlichen Männern und Frauen nach islamischem Recht zustehen (der Anteil der Frau beträgt die Hälfte des Anteils ihrer männlichen Geschwister am Erbe). (10)

In ähnlicher Weise darf es laut dem Gesetz keine Diskriminierung von Transgender-Personen bei der Zulassung zu öffentlichen oder privaten Bildungseinrichtungen geben, „vorbehaltlich der Erfüllung der vorgeschriebenen Anforderungen“. Wie Semra Islam jedoch veranschaulicht, berücksichtigen die vorgeschriebenen Anforderungen nicht, dass die gelebten Erfahrungen von Trans-Personen diese Anforderungen nicht erfüllen können, da sie oft aus ihren Familienhäusern geflohen sind, unter anderem aufgrund der Auferlegung von normativen männlichen Rollen. (11) Dies wird auch durch Shahnaz Khans Forschung unterstützt:

Viele brechen die Schule ab und laufen von zu Hause weg, um eine einladendere Umgebung unter der Leitung eines Gurus zu finden, der sie ermutigt, zu singen, zu tanzen und Formen der Lust auszudrücken, die zu Hause und in der Schule verboten sind. (12)

Islam weist auch auf die transphobe gelegentliche Verwendung des männlichen Pronomens „er“ für alle Transgender-Personen als eine „eklatante ,Inkonsistenz’ im Gesetz“ (13) hin. Die Verwendung des Begriffs „Eunuchen“ zeigt auch, wie sich die juristischen Eliten an die diskriminierende koloniale Ausdrucksweise angepasst haben. Kurzum, entgegen der Darstellung in den bürgerlichen Medien ist das Gesetz in einem begrenzten Sinne fortschrittlich, und das auch nur auf dem Papier. Das Fehlen von Strafmaßnahmen (14), die für alles, was das Gesetz kriminalisiert, skizziert werden, reduziert es auf einen progressiven Alibicharakter, dessen Anwendungsbereich nur in der Theorie besteht.

Der Fluch von Abschnitt 377 und Hudood-Gesetzen für die sexuell Unterdrückten

Eine weitere wichtige Überlegung, die berücksichtigt werden muss, ist das Vorhandensein von Gesetzen wie Section 377 und der Hudood Verordnungen (4 Verordnungen zur Islamisierung des Strafrechts in Pakistan, die der Diktator Zia ul-Haq 1979 erließ), die Teil des komplexen Rechtssystems in Pakistan sind, in dem zwei parallele Systeme gleichzeitig gelten. Es gibt Gesetze, die auf der Verfassung beruhen, und solche, die sich aus einer bestimmten (hanafitischen; eine der 4 Rechtsschulen des sunnitischen Islams) Lesart der Scharia, also der islamischen Rechtsprechung, ableiten. Wie Khan darlegt, gewähren diese Gesetze Männern und Frauen unterschiedliche Rechte in Bezug auf Heirat und Erbschaft. (15) Auf diese Weise lassen andere diskriminierende Gesetze und soziale Strukturen trotz scheinbar antidiskriminierender und trans-anerkennender Gesetze oft wenig Raum für Trans-Frauen, sich in Personaldokumenten tatsächlich als Frauen auszuweisen. Denn wenn sie das täten, würde dies bedeuten, dass sie auf die Hälfte des Anteils am Erbe verzichten müssten, den sie erhalten würden, wenn sie sich als Männer auswiesen.

Dies verdeutlicht das objektive Interesse von Trans-Frauen und Cis-het-Frauen, einen kollektiven Kampf gegen eine solche Gesetzgebung unter der Führung eines Programms der ArbeiterInnenklasse zu führen. Warum bestehen wir auf der Notwendigkeit eines Programms der ArbeiterInnenklasse?

Wir erkennen zwar an, dass Trans-Menschen aus allen Klassen unter schwerer und systematischer Unterdrückung leiden, aber ihre unterschiedlichen Klasseninteressen verleihen ihr auch einen anderen Ausdruck und prägen das politische Programm und die Forderungen, die sie vertreten und priorisieren. Für Trans-Frauen (und -Männer) aus der ArbeiterInnenklasse, binäre lesbische Frauen oder schwule Männer und nicht-binäre Menschen ist die Unterdrückung selbst an ihre Klassenposition gebunden. Das bedeutet nicht nur, dass sie dieselben objektiven Interessen mit allen Teilen der ArbeiterInnenklasse teilen, sondern auch, dass ihre Befreiung eng mit der Bewältigung der sozialen Benachteiligung, der Armut und des Elends verbunden ist, mit denen sie als Trans-Menschen mit einem ArbeiterInnenhintergrund konfrontiert sind.

Die Situation für unterdrückte Menschen aus einem kleinbürgerlichen oder Mittelschichts-Hintergrund (um nicht von der herrschenden Klasse zu sprechen) stellt insofern anders dar, als sie auch an die sozialen Privilegien gebunden sind, die mit ihrer Klassenposition einhergehen. Daher neigen sie dazu, sich auf den Kampf um gleiche Rechte zu konzentrieren oder ihn sogar zu begrenzen, und vernachlässigen dabei die große Masse der Trans-Menschen. Während wir möglichst viele Unterdrückte aus der ArbeiterInnenklasse, der Bauern-/Bäuerinnenschaft, aber auch aus dem städtischen KleinbürgerInnentum und den Mittelschichten vereinen wollen, bleibt die Frage, welche soziale Klasse eine solche Bewegung anführt.

Aus unserer Sicht ist ein Programm der ArbeiterInnenklasse der Schlüssel, wenn wir konsequent für die Befreiung aller Unterdrückten kämpfen wollen, denn nur ein solches Programm kann den Kampf mit seinen gesellschaftlichen Wurzeln, der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung im Kapitalismus und der damit einhergehenden patriarchalischen Familieninstitution und -gesetze, verbinden.

Wie wir in den folgenden Abschnitten zeigen werden, weist die diskriminierende Gesetzgebung auf die Notwendigkeit eines kollektiven Kampfes zusammen mit allen queeren Menschen hin, einschließlich der binären schwulen und lesbischen sowie der nicht-binären Menschen.

Während es für Transgender-Personen einen gewissen Schutz gibt, wenn auch nur auf dem Papier, gibt es in Pakistan keine BürgerInnenrechtsgesetze zum Schutz von Schwulen und Lesben vor Diskriminierung. (16) Homosexuelle Handlungen sind nach Gesetzen aus der Kolonialzeit wie Abschnitt 377 illegal. Ebenso können eine heterosexuelle Frau und ein heterosexueller Mann, die nicht miteinander verheiratet sind, nach Abschnitt 496B des pakistanischen Strafgesetzbuchs ins Gefängnis gehen und mit einer Geldstrafe belegt werden, wenn sie einvernehmlichen Sex miteinander haben. (17) Wie RechtsexpertInnen wie Rafia Zakaria betonten:

„Die Unterlagen über Frauen, die unter dem Vorwurf der Unzucht oder des Ehebruchs nach den Hudood-Verordnungen inhaftiert wurden, zeigen, dass es die armen Frauen Pakistans sind, die am häufigsten Opfer der unkontrollierten Macht des Staates bei der Gesetzgebung zur Moral im Namen des Islam werden. Daher mögen die versprochenen Änderungen der Rechtsprechung im Rahmen des [Frauenschutz-]Gesetzes zwar ein linderndes Pflaster auf eine eiternde Wunde legen, aber sie gehen an der Realität vorbei, dass eine arme Frau, die sich dazu entschließt, eine Vergewaltigungsklage einzureichen, immer noch mit unglaublichen Herausforderungen konfrontiert ist, die von diesem politisch inspirierten Stück Gesetzgebung grob ignoriert werden.“ (18)

In ähnlicher Weise haben schwule Männer und Khwaja Sira aus der ArbeiterInnenklasse nur zwei Möglichkeiten, wenn sie Angst vor einer HIV/AIDS-Exposition haben: in ein öffentliches Krankenhaus zu gehen, um innerhalb von 72 Stunden nach der Exposition Zugang zu PEP (Postexpositionsprophylaxe) zu erhalten oder zu riskieren, HIV/AIDS zu bekommen, indem sie nichts dagegen unternehmen. An dieser Stelle kommen Abschnitt 377 und die Heuchelei des pakistanischen Staates ins Spiel. Einerseits wird PEP aufgrund internationaler Abkommen und der finanziellen Unterstützung des pakistanischen Staates von der Regierung in öffentlichen Krankenhäusern angeboten, in denen es Abteilungen gibt – separate Räume für Khwaja Sira, Schwule und Lesben. Auf der anderen Seite wird Abschnitt 377 gegen diese Menschen eingesetzt, weil sie „unnatürlichen Sex“ haben, und es gab sogar schon Fälle, in denen ÄrztInnen diese Menschen wegen dieses „Verbrechens“ bei der Polizei angezeigt haben. Die ÄrztInnen in solchen Einrichtungen verfügen über immense Macht über diese verletzlichen PatientInnen, weil PEP nur nach dem Sammeln nicht nur persönlich identifizierbarer Informationen, sondern auch übermäßig eindringlicher Details wie dem Geschlecht der Person, mit der man Sex hatte, bereitgestellt wird.

Währenddessen müssen Schwule aus reichen, gehobenen und bürgerlichen Verhältnissen nicht mit all diesen Hürden kämpfen, wenn sie die „richtigen Kontakte“ haben. Natürlich gibt es auch in der queeren Gemeinschaft verschiedene Klassen, deren objektive Interessen im Kapitalismus unvereinbar sind. Kleinbürgerliche queere Menschen hatten ebenso wie die entsprechenden Cis-het-Menschen ein Problem damit, die Erkennungsfahne beim Aurat-Marsch zu hissen. Ihrer Meinung nach ist eine solche Sichtbarkeit „nicht“ das, was wir brauchen, weil sie uns angreifbarer macht. Auf der anderen Seite sind kleinbürgerliche Queers, die Nichtregierungsorganisationen leiten, ins Ausland reisen und Zuschüsse von der EU bekommen, bereits sichtbar und als schwul geoutet. Ihre sexuelle Identität ist bereits offengelegt, weil sie nicht denselben Gefahren ausgesetzt sind wie ein schwuler Mann aus der ArbeiterInnenklasse aufgrund des Privilegs ihrer sozialen Klasse. Queere Menschen aus der ArbeiterInnenklasse fragen ihre kleinbürgerlichen KollegInnen, warum sie ihre privilegierte Position in der Gesellschaft nicht nutzen, um die Frage der Offenlegung der eigenen sexuellen Identität zu politisieren. „Warum kämpfen sie nicht dafür, dass die große Mehrheit von uns sich outen kann?“, fragen sie. „Queerness ist ein politisches Problem, das im Mainstream verankert werden muss. Unsere Sichtbarkeit ist nicht irgendein liberales Narrativ, es ist eine politische Frage. Indem sie sich weigern, die Frage zu politisieren, drängen privilegierte queere Menschen die größere queere Gemeinschaft dazu, im Verborgenen zu bleiben.“

All dies verdeutlicht, dass Cis-het-Frauen, binäre Trans-, schwule und lesbische sowie nicht-binäre Menschen aus der ArbeiterInnenklasse aufgrund ihrer Klassenlage einer spezifischen sozialen Unterdrückung ausgesetzt sind und daher ein objektives Interesse hegen, gemeinsam zu kämpfen. Es ist wahr, dass Machtkämpfe, Konkurrenz und Gleichgültigkeit die Gemeinschaft derjenigen plagen, die aufgrund ihres Geschlechts unterdrückt werden. Wir sehen das an der mangelnden Bereitschaft von Arbeiterinnen, für die bürgerlichen Freiheiten lesbischer Kolleginnen zu kämpfen. Wir sehen dies auch in der Gleichgültigkeit, die gegenüber der Unterdrückung von Schwulen und Lesben von Trans-Frauen an den Tag gelegt wird, nachdem das Transgender-Schutzgesetz verabschiedet wurde. Der Terfismus (Transphobie) in der Frauen- oder binären Schwulen- und Lesbenbewegung ist ein weiteres Beispiel dafür.

Dies verdeutlicht, was die Liga bereits in ihren Thesen zur Trans-Unterdrückung festgestellt hat: „ … Konflikte zwischen sozial Unterdrückten, das Aufeinanderprallen von gegenseitigen Forderungen und Ansprüchen sind in der bürgerlichen Gesellschaft keine Seltenheit, sie kommen immer wieder vor.“ (19)

Kampf gegen die Institutionen bürgerliche Familie und Kapitalismus

Der entscheidende Punkt hier ist, dass, ob die geschlechtlich und sexuell Unterdrückten sich dessen bewusst sind oder nicht, ihre Unterdrückung in der Institution der bürgerlichen Familie im Kapitalismus verwurzelt ist. Diese Unterdrückung ist entscheidend für die Funktionsweise des Kapitalismus. Ob man sich dessen nun in der gegenwärtigen Lage bewusst ist oder nicht, unser objektives Interesse als Cis-het-Frauen, binäre Trans-, schwule und lesbische und nicht-binäre Menschen aus der ArbeiterInnenklasse liegt daher darin, gemeinsam gegen repressive und diskriminierende Gesetze und für bürgerliche Freiheiten wie das Recht zu heiraten, das Recht zu adoptieren usw. zu kämpfen.

Unsere cis-het und schwulen männlichen GenossInnen aus der ArbeiterInnenklasse sollten auch Teil dieses Kampfes werden. Warum? Ihr objektives Interesse liegt in einem antisexistischen Kampf. Es sind immer diejenigen aus dem ArbeiterInnenmilieu, die für etwas so Menschliches und Natürliches wie Sex zum Opfer werden. Unser Recht auf körperliche Autonomie als Menschen sollte nicht von diesem oder jenem religiösen oder kulturellen Dogma abhängig gemacht werden.

Es stimmt, dass es angesichts der extrem rückständigen Natur des pakistanischen Patriarchats gefährlich sein kann, seine Stimme gegen ein solches Dogma zu erheben. Aber jede politische Arbeit in Pakistan birgt die Gefahr staatlicher Unterdrückung. Wenn wir schon in Bezug auf unsere grundlegenden bürgerlichen Freiheiten unterdrückt  werden, können wir genauso gut mit staatlicher Repression rechnen, wenn wir für das kämpfen, was unser kollektives Recht ist, nämlich das Recht, unser Leben in Würde und mit den Freiheiten zu leben, die jeder Mensch verdient.

Aber kann dieser Kampf nur über die Gesetzgebung gewonnen werden? Nein. Es muss ein Kampf geführt werden. Es muss ein Ringen sein, das von Anfang an sehr klar ist über die unversöhnlichen Interessen der queeren Menschen aus der ArbeiterInn- und der herrschenden Klasse sowie auch jener queeren Menschen, die sich sozialer Privilegien erfreuen und diese gegen die Interessen der ArbeiterInnenklasse verteidigen. Queere Menschen aus der ArbeiterInnenklasse haben ihre Verbündeten in den cis-het Männern und Frauen der ArbeiterInnenklasse. Gleichzeitig versuchen sie, queere kleinbürgerliche und Mittelschichts-Menschen und cis-het Männer und Frauen für ihre Sache zu gewinnen, ohne Zugeständnisse an kleinbürgerliche politische Programme zu machen. Während die ArbeiterInnenklasse in der Lage sein kann, die Mittelschichten der Gesellschaft hinter sich zu versammeln, ist es klar, dass diejenigen, die aus einem bürgerlichen Hintergrund kommen, die die Produktionsmittel besitzen und verwalten, immer im Widerspruch zu denen stehen werden, die mit diesen Produktionsmitteln arbeiten. Daher werden letztere mit ihrer Klasse brechen müssen. Beider Interessen sind unversöhnlich, und das ist das Wesen der Produktionsverhältnisse und die Grundlage der politischen Ökonomie.

Als wissenschaftliche MarxistInnen erkennen wir auch die grassierende Trans- und Queerphobie in der ArbeiterInnenklasse, und wir wollen eine Strategie entwickeln, mit der wir auch gegen solche Übel in der ArbeiterInnenbewegung aufstehen, weil unser wirkliches materielles Interesse darin liegt, gemeinsam zu kämpfen. Aber wir sind uns darüber im Klaren, dass dies – genau wie im Fall des Kampfes gegen die Unterdrückung der Frauen in der ArbeiterInnenklasse – eine scharfe und dauerhafte Auseinandersetzung mit männlichem Chauvinismus und Transphobie innerhalb der Klasse erfordert, einschließlich des Rechts auf Caucus für Trans-Personen und der offenen Herausforderung aller Formen von Transphobie innerhalb unserer Bewegung.

Letztendlich liegt es im objektiven Interesse der gesamten ArbeiterInnenbewegung, einschließlich der cis-het Männer und Frauen sowie aller queeren Menschen der ArbeiterInnenklasse, zu verstehen, dass die Wurzel der geschlechtsspezifischen sozialen Unterdrückung in der Institution der bürgerlichen Familie liegt.  Um gegen diese Wurzel zu kämpfen, müssen wir kollektiv uns für die Abschaffung des Privateigentums engagieren. Damit meinen wir keineswegs, dass wir den Kampf für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen der ArbeiterInnenklasse und queeren Menschen am Erbe aufgeben. Es gibt einen klaren Unterschied zwischen persönlichem Eigentum und Privateigentum. Letzteres ist das Eigentum an den Produktionsmitteln, das die Essenz der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse ist.

Was wir meinen, ist, dass unsere Kämpfe darauf ausgerichtet sein müssen, die Wurzel unserer kollektiven Unterdrückung und Ausbeutung abzuschaffen, das heißt, die ungleichen Eigentumsverhältnisse unter der Anarchie des Kapitals. Nur unter der Führung einer wirklich revolutionären Strategie können wir die gemeinsame Ursache unserer Unterdrückung mit Stumpf und Stiel ausreißen. Eine solche Strategie muss auf unnachgiebiger Klassenunabhängigkeit und der kollektiven Notwendigkeit beruhen, das ausbeuterische und unterdrückerische System des Kapitalismus abzuschaffen und es durch eine demokratische Regierung der ArbeiterInnen zu ersetzen, die alle umfasst, also auch cis-het und queere ArbeiterInnen.

In der gegenwärtigen Situation müssen wir unmittelbare demokratische und soziale Forderungen für Trans-Personen mit den breiteren Fragen der ArbeiterInnenklasse verknüpfen.

Wir können unseren Kampf in diese Richtung beginnen, indem wir eine Kampagne für die Abschaffung von Abschnitt 377 und aller anderen diskriminierenden Gesetze aufbauen. Frauen und Trans-Personen müssen auf allen Ebenen, vor den Gerichten und im privaten und öffentlichen Leben die gleichen Rechte erhalten.

Wir müssen ein Recht auf Bildung, Ausbildung und Arbeit für alle Trans-Menschen bei voller Bezahlung sicherstellen, damit sie nicht zur Prostitution und zum Betteln gezwungen werden.

Trans-Menschen müssen, genau wie Frauen, das Recht auf Schutz vor Gewalt und Entbehrung zu Hause sowie durch reaktionäre Kräfte haben. Wir fordern den Bau von sicheren Häusern für Opfer solcher Gewalt – öffentlich finanziert, aber von Trans-Menschen selbst betrieben.

Solche unmittelbaren Forderungen sollten beim Aurat-Marsch in diesem Jahr und von der gesamten Frauenbewegung sowie von den Gewerkschaften und allen linken Organisationen als Teil des Kampfes gegen soziale Diskriminierung im ganzen Land aufgegriffen werden.

Endnoten

(1) Aurat ist das Urdu-Wort für Frauen. Der Aurat-Marsch wird seit 2018 am achten März organisiert. Für weitere Informationen lesen Sie den Artikel von Minerwa Tahir in Fight 8/2020

(2) Wir verwenden queer als allumfassenden Begriff, um alle Menschen zu bezeichnen, deren sexuelle oder geschlechtliche Identitäten nicht dem heteronormativen binären Geschlecht entsprechen.

(3) Nadir Guramani, “National Assembly passes bill seeking protection of transgender rights”, Dawn, May 8, 2018 https://www.dawn.com/news/1406400

(4) Rimmel Mohydin, “With Transgender Rights, Pakistan has an Opportunity to be a Pathbreaker”, Amnesty International, January 22, 2019 https://www.amnesty.org/en/latest/news/2019/01/with-transgender-rights-pakistan-has-an-opportunity-to-be-a-path-breaker/

(5) “Kami Sid expresses joy as the Transgender Persons (Protection of Rights) Bill 2017 passes”, Images, May 8, 2018 https://images.dawn.com/news/1180033/kami-sid-expresses-joy-as-the-transgender-persons-protection-of-rights-bill-2017-passes

(6) “Education for trans people”, Dawn, April 18, 2018 https://www.dawn.com/news/1402275

(7) “Affirming trans identity”, Dawn, May 11, 2018 https://www.dawn.com/news/14

(8) Saniyah Eman, “The not-so-curious case of trans oppression in Pakistan”, The News, September 11, 2020 https://www.thenews.com.pk/magazine/us/712330-the-not-so-curious-case-of-trans-oppression-in-pakistan

(9) Semra Islam, “The Transgender Community and the Right to Equality in Pakistan: Review of the Transgender Persons Act 2018”, 2020, LUMS Law Journal 2020, 7:1 https://sahsol.lums.edu.pk/law-journal/transgender-community-and-right-equality-pakistan-review-transgender-persons-act-2018

(10) Ebenda

(11) Ebenda

(12) Shahnaz Khan, “What is in a Name? Khwaja Sara, Hijra and Eunuchs in Pakistan”, Indian Journal of Gender Studies, 23(2):218-242, May 18, 2016 https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/0971521516635327

(13) Semra Islam, “The Transgender Community and the Right to Equality in Pakistan: Review of the Transgender Persons Act 2018”, 2020, LUMS Law Journal 2020, 7:1 https://sahsol.lums.edu.pk/law-journal/transgender-community-and-right-equality-pakistan-review-transgender-persons-act-2018

(14) Ebenda

(15) Shahnaz Khan, “What is in a Name? Khwaja Sara, Hijra and Eunuchs in Pakistan”, Indian Journal of Gender Studies, 23(2):218-242, May 18, 2016 https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/0971521516635327

(16) Meghan Davidson Ladly, “Gay Pakistanis, Still in Shadows, Seek Acceptance”, The New York Times, November 3, 2012 https://www.nytimes.com/2012/11/04/world/asia/gays-in-pakistan-move-cautiously-to-gain-acceptance.html?pagewanted=all&_r=0

(17) Rafia Zakaria, “Sex and the state”, The Hindu, December 29, 2006 https://frontline.thehindu.com/world-affairs/article30211901.ece

(18) Ebenda

(19) International Executive Committee, “The Oppression of Transgender People”, League for the Fifth International, March 17, 2019 https://fifthinternational.org/content/oppression-transgender-people




Wiener AktivistInnenkonferenz: Wie weiter mit LINKS?

Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1140, 27. Februar 2021

Im Jänner 2020 haben ein paar Hundert AktivistInnen in Wien mit LINKS eine neue Partei gegründet. Ein bisschen mehr als ein Jahr später steht die zweite AktivistInnenkonferenz an, die auf den anständigen Erfolgen bei der Wienwahl aufbauen und eine Strategie für die nächsten Jahre finden muss.

Diese Konsolidierungskonferenz findet in der tiefsten Wirtschaftskrise nach dem Zweiten Weltkrieg, im Angesicht einer globalen Pandemie, drohender Massenentlassungen und einer grünlackierten BürgerInnenblockregierung statt. Das sind wahrscheinlich mehr Herausforderungen, als sich die meisten AktivistInnen erwartet haben, als sie sich für einen Wahlantritt zusammengetan haben. Aber als größte Kraft links von SPÖ und Grünen hat LINKS die politische Verantwortung, sich in den kommenden Kämpfen klar zu positionieren.

Das bedeutet, dass LINKS zu einer klassenkämpferischen Partei werden, also in den kommenden Kämpfen kompromisslos die Seite der Ausgebeuteten gegen die AusbeuterInnen ergreifen, und wo es möglich ist, mit ihnen kämpfen und gewinnen muss. Das bedeutet konkret, die politischen Widersprüche zu verstehen und selbst zuzuspitzen. Es reicht nicht zu warten, bis Kämpfe aufkommen, die man unterstützt. Es bedeutet auch konkret, sich die Verankerung unter ArbeiterInnen, unterdrückten und marginalisierten Communities zum Ziel zu setzen – diese Fragen mitzudenken, reicht nicht aus. Die Mehrheit der ArbeiterInnenklasse ist von sexistischer, rassistischer, LGBTIQ-feindlicher und anderer sozialer Unterdrückung betroffen. Die Kämpfe dagegen sind ein untrennbarer Teil des Klassenkampfes, den LINKS bewusst führen muss.

Außerdem muss die Organisation aufgebaut und gestärkt werden. Transparente demokratische Strukturen und systematische Wissensweitergabe sind wichtige Aufgaben, wenn wir den kommenden Herausforderungen gewachsen sein wollen. Die AktivistInnen, die LINKS gegründet haben, kommen aus verschiedensten kleineren politischen Strukturen, die Mehrheit aus Kampagnen und Bündnissen, die sich mit einem Thema (zum Beispiel Solidarität mit Geflüchteten oder Klimaschutz) beschäftigt hatten. Dass sie entschieden haben, eine Organisation aufzubauen, die diese Themen zusammenführt und um die Macht kämpft, statt bloß Forderungen aufzustellen, ist ein großer Schritt nach vorne. Deshalb besteht eine mindestens genauso große politische Verantwortung darin, diese Partei möglichst als revolutionäre aufzubauen.

Worauf bauen wir auf?

Die Gründungsversammlung von LINKS hatte sich auf eine praktische Aufgabe geeinigt: den Antritt zu Wienwahl. Gleichzeitig gab es natürlich auch einen politischen Grundkonsens, vor allem klar links von Grünen und SPÖ zu stehen („Wählen ohne Bauchweh“), den Kapitalismus entweder sehr kritisch zu sehen oder abzulehnen, marginalisierte Personen gezielt ansprechen und sichtbar machen, die Klimakrise ernsthaft angehen zu wollen.

Mit dem Antritt zur Wienwahl (und recht anständigen 20.000 Stimmen) wurde die gemeinsame praktische Zielsetzung erreicht. Auch deshalb waren Vorbereitung und Durchführung des Wahlkampfes die Zeit, die LINKS politisch geprägt und geschärft hat. Das gilt für das Programm, das in Aspekten klar antikapitalistisch (aber in anderen eher reformistisch) ist, für den Fokus auf Enteignungen, aber auch die Forderung, dass Wien alle Geflüchteten aus Moria die Aufnahme anbieten soll.

Gleichzeitig war das kein antikapitalistischer Wahlkampf. Es fand zwar eine öffentliche und inhaltliche Verschiebung von kapitalismuskritischem in Richtung antikapitalistischem „Grundkonsens“ statt. Aber schon der Kapitalismus selbst wurde nur selten direkt angesprochen. Die Frage, wodurch wir ihn ersetzen möchten, und auch, wer so eine Überwindung überhaupt durchführen kann, blieb weitgehend undiskutiert. Eine antikapitalistische Partei muss nicht wie eine kaputte Schallplatte alle zwei Minuten die Worte Kapitalismus und Klassenkampf abspulen. Aber sie muss nach innen und außen klarmachen, dass sie den Kapitalismus überwinden und den Sozialismus aufbauen will, und sich dafür auf die gesellschaftliche Mehrheit der ArbeiterInnenklasse (in allen ihren Facetten von Geschlecht, Rassismuserfahrungen und sozialem Ausschluss) stützen. Auch wenn das organisationsintern geklärt wäre und nur nach außen in anderen Worten kommuniziert würde (und eindeutig geklärt ist das in LINKS nicht) wird es sehr schwierig, Antikapitalismus und Klassenkampf umzusetzen, wenn man es den eigenen potentiellen MitstreiterInnen und WählerInnen nicht offen sagt.

Die Zeit nach dem Wahlkampf war für LINKS eine Phase der Konsolidierung. Das war zu erwarten. Trotzdem ist die Partei seit der Wahl deutlich gewachsen und hat inhaltlich wichtige Diskussionen geführt. Es ist weitgehend gelungen, den Wahlerfolg zu nutzen, um eine Organisation aufzubauen, die weiter vor allem außerparlamentarisch arbeiten soll – ein wirklich wichtiger Schritt.

Die politische Debatte und die aktive Teilnahme an klassenkämpferischen (beispielsweise MAN-Streik), antirassistischen (Proteste gegen Abschiebungen, Gedenken an Opfer rassistischer Gewalt) und antisexistischen Bewegungen haben eine Konferenz möglich gemacht, die die Partei nach vorne bringen wird.

Dabei gibt es wenig Potential für große Umbrüche. Das ist gut für die Stabilität der Partei, bedeutet aber auch nicht, dass man die Probleme von LINKS „in einem Aufwasch“ erledigen kann. Das wäre eh eine Illusion, bedeutet aber, dass die Herausforderungen über das nächste Jahr geduldig und stetig bearbeitet werden müssen. Nur weil es keinen Anlass für einen großen Bruch gibt, heißt das nicht, dass LINKS bestehen bleibt, wenn alles so weitergeht wie jetzt.

Klassenkampf

Weil es eine neue linke Partei braucht, ist LINKS zu den Gemeinderatswahlen in Wien angetreten und hat immerhin fast 20.000 Stimmen eingesammelt. Das ist das beste Ergebnis einer Liste links von SPÖ und Grünen seit 1974. Aber die Existenzberechtigung einer Partei zeigt sich dann, wenn sie es schafft, in den politischen Auseinandersetzungen einen Unterschied zu machen. Eine Partei, die es „eigentlich bräuchte“, braucht niemand.

Wer braucht eine neue linke Partei? Alle, die im Kapitalismus den Kürzeren gezogen haben, auf deren Ausbeutung und Unterdrückung die Profite der Herrschenden aufbauen. Das ist die ArbeiterInnenklasse, von denen die Mehrheit gleichzeitig rassistisch, sexistisch, LGBTIQ-feindlich oder sonst wie sozial unterdrückt wird. Dazu gehören auch Erwerbslose und unbezahlte SorgearbeiterInnen, ohne die die Ausbeutung der LohnarbeiterInnen gar nicht möglich wäre.

Auf die alle kommen jetzt unfassbare Angriffe der KapitalistInnen und der Regierung zu. Die UnternehmerInnen werden durch Massenentlassungen und weitere Prekarisierung versuchen, ihre Profite durch die Krise zu retten. Die BürgerInnenblockregierung wird alles daransetzen, die Kosten der Krisenbekämpfung auf uns abzuwälzen: durch Sozialabbau, Privatisierungen und Steuererhöhungen. LINKS muss es schaffen, in diesen Auseinandersetzungen immer auf der Seite der Unterdrückten zu stehen, die politischen Widersprüche geschickt zuzuspitzen und in den gemeinsamen Kämpfen einen echten Unterschied zu machen. LINKS muss diese Kämpfe als Klassenkämpfe führen und gewinnen.

Dafür muss sich LINKS in der ArbeiterInnenklasse verankern, in den Grätzln wo sie lebt, an den Arbeitsplätzen, wo sie ausgebeutet wird, und in den Gewerkschaften, wo sie aktiv ist. Das ist im letzten Jahr nur in kleinen Ansätzen gelungen und auch nicht systematisch angegangen worden.

Wo sich ArbeiterInnen bewusst als ArbeiterInnen politisch organisieren, ist ihre Führung heute reformistisch. Die Sozialdemokratie verspricht maximal kleine Verbesserungen, in der Regel sogar nur langsamere Verschlechterungen angesichts bürgerlicher Angriffe. Trotzdem dominiert sie die ArbeiterInnenbewegung organisatorisch und ideologisch.

Wir müssen LINKS als antikapitalistische ArbeiterInnenpartei aufbauen und die Dominanz der ReformistInnen brechen. Dazu reicht es nicht aus, ihre Politik zu kritisieren, und erst recht nicht, sie zu ignorieren und zu versuchen, daneben stark zu werden. Wo es geht, müssen wir in gemeinsamen Kämpfen (wie zum Beispiel bei den Protesten gegen Abschiebungen Ende Jänner) beweisen, dass wir die besseren politischen Antworten haben, und auch offen Kritik üben (was LINKS-RednerInnen auf denselben Protesten gemacht haben). Das gilt auch für die Gewerkschaften, wo sich ArbeiterInnen dauerhaft organisieren, und Kampagnen mit Basisstrukturen.

Parteiaufbau

Auch der Aufbau von stabilen Strukturen und Verankerung, demokratischen Strukturen innerhalb der Organisation, Arbeitsabläufen und Bildungsarbeit ist eine politische Verantwortung. Die Gründung von LINKS war ein entscheidender Bruch mit der Arbeit vieler linker AktivistInnen in Wien, besonders von denen, die sich an der Versammlung beteiligten: Sie war ein gemeinsames Anerkennen, dass es für nachhaltige politische Arbeit eine Partei braucht.

Statt in klugen und oft radikalen Kampagnen die Mächtigen unter Druck zu setzen, einzelne Forderungen zu erfüllen, versucht eine linke Partei, diese Macht selbst zu erobern (oder durch Verankerung aufzubauen). Statt sich gezielt auf einzelne Themen zu konzentrieren (und die gegebenenfalls mit anderen Fragen „zusammenzudenken“) geht man sie gleichzeitig mit ihrer gemeinsamen Ursache an. Außerdem sind Parteien (zumindest theoretisch) nachhaltiger: Eine erfolgreiche Kampagne löst sich auf, eine erfolgreiche Partei bleibt bestehen. Dass die Wiener Linke viele nie aufgelöste Kampagnenbündnisse und viele aufgelöste Parteiprojekte kennt, spricht für sich.

Auf der Gründungsversammlung hieß es: „Weil es eine neue linke Partei braucht“. Das ist richtig: Die sich zuspitzenden Widersprüche des Kapitalismus im 21. Jahrhundert, Klimakrise, Kriegsgefahr und Ausbeutung lassen sich nur mit einer (internationalen) revolutionären Partei lösen. 2008 hat der Arbeiter*innenstandpunkt nicht ohne Pathos auf sein Aktionsprogramm geschrieben: „Kein Sozialismus ohne Partei“ (das Programm wurde als kleines rotes Büchlein gedruckt). Deshalb ist es dringend notwendig, dass diese Partei auch funktioniert, wächst und ihre Mitglieder stärkere AktivistInnen werden.

Dazu gehört auch ein Ausbau der innerparteilichen Demokratie. Das bedeutet ein transparentes Funktionieren der Leitungs- und Arbeitsstrukturen, dass für alle Mitglieder verständlich und zugänglich berichtet wird, und klare Ansprechpersonen. Aber es bedeutet auch eine Stärkung der AktivistInnen, die diese demokratischen Prozesse füllen. Die müssen das Selbstvertrauen und die Fähigkeiten bekommen, über die Strategie zu bestimmen, und dabei das doch recht große Ganze im Auge behalten können. Dafür braucht es eine systematische Bildungsarbeit, Austausch und Wissensweitergabe, aber auch Räume für eigene Entscheidungen und Kampagnen in den Bezirks- und Interessensgruppen die weiter ausgebaut werden sollten.

Wie weiter?

Die LINKS-AktivistInnenkonferenz 2021 wird die Weichen für die Arbeit der nächsten Jahre stellen. Die Partei ist stabil und wächst. Sie wird sich auf eine inhaltliche Kampagne einigen, um die sich die Organisationsarbeit ähnlich gruppieren kann wie um den Wahlkampf. Ein erster Gradmesser wird sein, ob die Kampagnenauswahl den politischen Herausforderungen der tiefsten Krise seit 1945 entspricht und auch, ob es der erfolgreich abgestimmten Kampagne gelingt, auf dem jeweiligen Gebiet die Widersprüche klassenkämpferisch zuzuspitzen.

Eine weitere entscheidende Frage wird sein, ob das neu gewählte Koordinationsteam an der weitgehend erfolgreichen Arbeit seiner VorgängerInnen anschließen, aber mehr politische Herangehensweisen aus der Mitgliedschaft abbilden kann. LINKS ist keine sehr zentralistische Organisation und hat keine herausgebildete Bürokratie. Eine Koordination, die in der Basis verankert und ihr auch rechenschaftspflichtig ist, kann das auch weiter verhindern.

LINKS ist auch eine sehr dynamische Partei, in der die Kampagnen und Aktionsvorschläge mit Initiativen der Mitgliedschaft gefüllt werden. Wenn wir es schaffen, die Bezirks- und Interessensgruppen so aufzubauen, dass sie radikale Positionen in verständliche Aktionen umsetzen können, ist LINKS gut gerüstet, im Katastrophenjahr 2021 die Partei in Wien zu werden, die es gebraucht hat.