100. Todestag Lenins: „Leninismus“ contra Lenin

Rex Rotmann, Infomail 1242, 21. Januar 2024 (Ursprünglich veröffentlicht 2004)

Am 21. Januar 1924 starb Lenin. Aufgrund schwerer Krankheit – teilweise gelähmt, konnte er kaum noch schreiben und sprechen – war sein aktives politisches Leben jedoch schon Monate vorher beendet.

Es blieb nicht aus, dass der Umgang mit Lenins politischem Erbe wesentlich vom Schicksal der internationalen Revolution beeinflusst wurde. In Russland hatte die Arbeiter:innenklasse die Macht übernommen, doch Russland war isoliert und rang schwer mit dem Erbe von Zarismus, Rückständigkeit und Krieg. Die Weltrevolution war nach mehreren gescheiterten Versuchen stecken geblieben. Ohne die Ausweitung der Revolution, ohne die Nutzung der immensen wirtschaftlichen Ressourcen vor allem Deutschlands standen Sowjetrussland schwere Jahre bevor.

Aufgrund von Isolation, Rückständigkeit, allgemeinem Mangel und der Erschöpfung der Arbeiterklasse formierte sich eine bürokratische Kaste, die immer mehr Einfluss erlangte und sich schließlich Staat und Partei unterordnete. Die lebendige Struktur der Sowjets (Räte) war vielerorts nur noch eine leere Hülle, u.a. deshalb, weil viele revolutionäre Arbeiter:innenkader im Bürgerkrieg gefallen waren. Das erleichterte es der Bürokratie, die Sowjet- und Parteidemokratie vollends auszumerzen und die Machtorgane der Arbeiter:innen und der Dorfarmut in bürokratische Vollzugsorgane der allmächtigen Zentrale umzuformen.

Aufstieg Stalins

Während die bürgerlichen Kritiker:innen Lenins „die Partei“ selbst und die Revolution für die Übel des danach folgenden Stalinismus verantwortlich machen, waren es die sozialen Bedingungen, war es das Steckenbleiben der Weltrevolution, welche Partei, Staat und Gesellschaft deformierten. Gerade die Sozialdemokraten, die in Deutschland selbst die Revolution abgewürgt hatten, werden nicht müde, die russische Revolution – eine wahrhafte Massenbewegung – als bolschewistischen „Putschismus“ zu verurteilen.

Die sozialen Konflikte in der jungen Sowjetunion schlugen sich in heftigen Debatten und Tendenzkämpfen in der Partei nieder. Die politischen Pole waren einerseits Stalin als Zentrum und Bonaparte der Bürokratie, andererseits Trotzki als Führer der „Linken Opposition“.

Stalins – gänzlich „unleninistisches“ – Konzept des „Sozialismus in einem Land“, zielte darauf ab, die politische Herrschaft der Bürokratie über die Arbeiter:innenklasse auf Basis nichtkapitalistischer Eigentumsverhältnisse zu sichern.

Dieses Projekt war mit einem Zickzackkurs verbunden: zuerst langsame Entwicklung auf Basis der Landwirtschaft, dann plötzliche Wendung Richtung forcierte bürokratische Industrialisierung. Die soziale Folge von bürokratischen Projekten wie der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft waren Hungersnöte und tiefe soziale Verwerfungen.

Die „Begleitmusik“ dazu waren Terror und Schauprozesse. Jede Demokratie innerhalb von Staat und Partei wurde erstickt, jede politische Opposition zerschlagen und die gesamte bolschewistische Führung ausgelöscht. Nicht die Revolution fraß ihre Kinder – die Totengräber der Revolution entledigten sich der Verteidiger der Revolution.

Demgegenüber verteidigten Trotzki und die Linke Opposition die Strategie der Weltrevolution und der planmäßigen Industrialisierung Sowjetrusslands.

Die politischen Differenzen zwischen Lenin und Trotzki einerseits und Stalin andererseits, die sich schon Monate vor Lenins Tod bezüglich der nationalen Frage Georgiens entzündet hatten, waren nur die Vorzeichen für jene grundsätzliche strategische und methodische Differenz, die sich seit Mitte der 1920er Jahre immer mehr zuspitzte.

Um Terror und politische Manöver zu rechtfertigen, bediente sich Stalin der Mystifizierung Lenins – des „Leninismus“. Stalin wurde zu Lenins „Ziehkind“ und engstem Kampfgefährten stilisiert. Das war Teil einer groß angelegten Umdeutung und Verfälschung der Geschichte der Revolution und der Rolle, die Stalin dabei spielte. Zugleich diente es der Stigmatisierung und Verleumdung Trotzkis, des neben Lenin anerkannt wichtigsten Führers der Bolschewiki und der Revolution.

Stalins „Leninismus“ brach methodisch mit allem, was Lenins politisches Wirken und was den Marxismus überhaupt ausmachte.

Aus der Einheitsfrontpolitik der frühen Kommunistischen Internationale (Komintern) wurde die Volksfront. Aus dem Konzept der Zerschlagung des Staates und dessen Ersetzung durch die Demokratie der Arbeiter:innenräte machte Stalin die Installierung modifizierter, der Form nach bürgerlicher Staatsapparate unter der Alleinherrschaft der Partei. Alles, was nach Eigenständigkeit der Arbeiter:innenklasse roch und nach Räten ausschaute, wurde ausgemerzt. Aus der Perspektive der internationalen Revolution wurde in den 1930ern schließlich die friedliche Koexistenz mit dem Kapitalismus als Strategie.

Internationale

Was vielen Kommunist:innen damals nicht bewusst war, ist leider eingetreten. Drapiert mit den „Prinzipien des Leninismus“, aufgebauscht durch einen monströsen Personenkult und abgesichert durch Lügen und Terror missbrauchte Stalin das Ansehen der russischen Revolution in der Weltarbeiter:innenklasse, um die Komintern aus einer Weltpartei der Revolution zu einem moskautreuen Werkzeug Stalinscher Außenpolitik umzuformen – bis sie schließlich 1943 von ihm selbst aufgelöst wurde.

Der Kontrast könnte nicht größer sein: als klar war, dass der Faschismus geschlagen werden würde, als klar war, dass sich damit wie 1917 in etlichen Ländern revolutionäre Situationen ergeben würden, löste Stalin die Komintern, den internationalen Generalstab der Revolution auf, während Trotzki für den Aufbau einer neuen, der Vierten Internationale, stritt.

Es ist eine historische Tatsache, dass die Länder des „Ostblocks“ zusammengebrochen und die herrschenden „kommunistischen“ Parteien gestürzt worden sind. Trotz aller Unterschiede und politischen Friktionen zwischen den „führenden Genossen“ der jeweiligen Länder waren die von Stalin erdachten und erzwungenen Grundstrukturen dieser Gesellschaften – kein Rätesystem, Herrschaft der Bürokratie – gleich.

Trotzkis These, dass die Herrschaft der Bürokratie entweder durch eine politische Revolution der Arbeiter:innenklasse gestürzt wird oder aber die Bürokratie ihren „Sozialismus“ so weit ruiniert, bis er wieder in den Kapitalismus zurück fällt, hat sich leider vollauf bestätigt.

Wenn revolutionäre Marxist:innen von „Leninismus“ reden, dann meinen sie damit die Leistungen und Beiträge Lenins zur Weiterentwicklung und Anwendung des Marxismus. Dazu zählt der Kampf Lenins für eine revolutionäre Kaderpartei, sein konsequentes Beharren auf dem Primat des revolutionären Pogramms und sein unversöhnlicher Kampf gegen alle nichtrevolutionären Ideologien in der Arbeiter:innenbewegung.

Dazu zählen insbesondere auch Lenins Kampf für den Aufbau der Kommunistischen Internationale und seine Beiträge zur politisch-programmatischen Entwicklung der Komintern.

Es ist kein Zufall, dass die Stalinist:innen sich heute zwar in dutzenden Parteien organisieren, keine einzige von diesen oft höchst obskuren Organisationen jedoch ernsthaft den Aufbau einer Internationale anstrebt oder gar zu einer solchen gehört. Mehr als alle Phrasen zeigt das, wie weit entfernt ihr selbstgenügsames politisches Dasein und ihr als „Marxismus-Leninismus“ bezeichnete inhaltsleere und fruchtlose „Theorie“ von den Intentionen Lenins entfernt sind.

Aprilthesen

Das Zerrbild, das Stalins „Leninismus“ aus Lenin machte, ist so lächerlich wie abstoßend. Ganz im Gegenteil zum Götzenbild von Lenin, war dieser als Theoretiker, Revolutionär und Parteiführer Teil eines kollektiven Mechanismus und kein „Halbgott in Rot“. Lenins Schriften zeugen davon, wie er selbst ständig darum rang, seine politischen Konzepte zu präzisieren – und gegebenenfalls zu korrigieren.

So zeigte die russische Revolution, dass Lenins ursprüngliche „arithmetische“ Formel von der „revolutionär-demokratischen Diktatur“ hinter der Dynamik der Revolution zurückblieb.

Lenin änderte sie – in den Aprilthesen, wo klar das Ziel der proletarischen Machtergreifung, der Schaffung der Diktatur des Proletariats ausgesprochen wird. Die Stalinist:innen leugnen diese programmatische Weiterentwicklung, weil sie ihr mechanisches Etappen-Konzept der Revolution retten und zugleich die methodische Kongruenz der Aprilthesen mit Trotzkis Permanenter Revolution leugnen wollen. Der „Leninismus“ zerrte den toten Lenin theoretisch wieder auf seine von ihm selbst überwundene frühere Ansicht zurück.

Menschewismus

Trotzki, der profundeste und konsequenteste Kritiker der Politik und der Verbrechen Stalins, wies theoretisch nach, wie viele Elemente des Menschewismus, d.h. jener Politik, die Lenin bekämpft und von der er sich theoretisch losgearbeitet hatte, Stalin in seine Konzeption übernommen hatte. Wobei von „Konzeption“ angesichts des Eklektizismus` Stalins kaum gesprochen werden kann.

Es ist äußerst bezeichnend, dass Stalin und seinen servilen „Theoretiker:innen“ keine Lüge und keine Verleumdung groß genug waren, um sie nicht gegen den „Trotzkismus“ – oder besser: was man darunter verstand – zu gebrauchen. Wenn die „Argumente“ dabei nicht ausreichten – der Galgen war immer effektiv. Stalins Kampf gegen Trotzki war in Wahrheit eine Kampf um das Erbe Lenins, war ein Kampf um die Revolution und ihre programmatischen Grundlagen.

Lenin war ein herausragender, schöpferischer politischer Geist. Doch sein Wirken beim Aufbau der bolschewistischen Partei und der Kommunistischen Internationale wie als Führer der Revolution blieben nur ein mystisches und unerklärliches individuelles „Wunderwerk“, wenn sie nicht im Zusammenhang gesehen wird mit einem lebendigen marxistischen Diskurs, der nichts zu tun hat, mit „leninistischen“ Dogmen; wenn sie nicht in den Kontext einer lebendigen, revolutionär kämpfenden Arbeiterbewegung gestellt wird.

Vermächtnis

Beides – Lenins Politik und die revolutionäre Arbeiter:innenbewegung und ihre Partei – hat Stalin fast ausradiert.

Lenin starb 1924. Seitdem wurde er tausendmal umgebracht durch die stalinistischen Leichenfledderer und missbraucht durch jene Linke, die sich mit seinem Bild schmücken, sich aber weigern, Lenins theoretisches Vermächtnis zu studieren, für den Klassenkampf nutzbar zu machen und weiter zu entwickeln.

Im Moskauer Mausoleum liegt ein toter Lenin. Doch dort, wo Menschen gegen den Kapitalismus kämpfen, wo sie für den Aufbau einer neuen, revolutionären Internationale kämpfen – dort ist Lenin lebendig.




Debatte: Warum Russland eine imperialistische Macht ist

Markus Lehner, Neue Internationale 274, Juni 2023

In der linken Auseinandersetzung um die Positionierung im Ukrainekrieg spielt die Frage des imperialistischen Charakters der Russischen Föderation eine wichtige Rolle. Schon lange vor diesem Krieg hatten wir im Unterschied zu solch unterschiedlichen Strömungen wie der „Fracción Trotskista“ (RIO) bis hin zu den meisten poststalinistischen Gruppierungen Russland als sich neu etablierende imperialistische Großmacht analysiert(1).

Die verschiedenen linken Kritiker:innen unserer Charakterisierung stützen sich dabei meist auf eine behauptet „orthodoxe“ Bezugnahme auf Lenins „Imperialismusdefinition“. Beliebt ist dabei insbesondere das Heranziehen der berühmten „5 Kriterien“ aus Lenins Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß“(2). Dabei wird dann z. B. gern als „Beweis“ herangezogen, dass Russland eine negative Bilanz in Bezug auf Direktinvestitionen aufweise und sehr viel mehr vom Rohstoffexport als von der Stärke seiner finanzkapitalistischen Monopole abhänge.

Lenins Imperialismusbegriff

Zunächst einmal ist hier wichtig, den Verkürzungen von Lenins Imperialismusbegriff entgegenzutreten. Die immer wieder angeführten „5 Kriterien“ werden tatsächlich auf der Ebene einer allgemeinen Analyse des gegenwärtigen Entwicklungsstadiums des Kapitalismus eingeführt – also hinsichtlich der Bestimmung des imperialistischen Systems als Ganzem, nicht des imperialistischen Charakters eines besonderen Teiles oder einzelnen Staates.

Darüber hinaus spricht Lenin von „Merkmalen“, die eine korrekte Definition des Imperialismus enthalten müsse, nicht von einer Art endgültiger, mechanisch anwendbarer, unveränderlicher Definition. An anderer Stelle betont er auch, dass die kürzeste Bestimmung sei, dass der Imperialismus das monopolitische Stadium des Kapitalismus als Weltsystem darstelle.

 Dies beinhaltet, dass in dieser Epoche der Kapitalismus zur Totalität der Weltökonomie geworden ist, also keine vor- und nicht-kapitalistischen Nischen mehr bestehen, die nicht letztlich von den übergeordneten Kapitalverwertungsgesetzen bestimmt sind, und das Ausmaß von Konzentration/Zentralisation des Kapitals eine modifizierende Wirkung auf die Tendenzen zur Ausgleichung der Profitraten zur Durchschnittsprofitrate zeitigt.

Dies bedeutet auch, dass eine bestimmte Verbindung von Finanz- und Industriekapital und staatlichen Akteur:innen in der Lage ist, die eigene Profitabilität bzw. (ökonomische und politische) Stabilität auf Kosten anderer Kapitale und Staaten, trotz aller Krisentendenzen, abzusichern (zumindest zeitweise, da es kein absolutes Monopol gibt und die Monopolprofitraten letztlich nicht von den allgemeinen Verwertungsproblemen des Kapitals abgekoppelt werden können). Diese ökonomische Basis führt dann zu den Lenin’schen Merkmalen: Auch die Wichtigkeit des Kapitalexportes begründet sich letztlich aus der Verschärfung des Problems der Überakkumulation in den imperialistischen Zentren, die diese durch Investition von überschüssigem Kapital in andere Länder überwinden, in denen der mangelnde Ausgleich der internationalen Profitrate günstigere Anlagemöglichkeiten schafft (z. B. durch billigeren Zugang zu Arbeitskräften und Rohstoffen). Kapitalexport ist also nicht „an sich“ ein definierendes Element, sondern ist für diejenigen imperialistischen Kapitale unausweichlich, bei denen fallende Profitraten bereits in verstärkte Überakkumulation umgeschlagen sind (also eigenes Wachstum und Warenexport für das Anlagekapital nicht mehr ausreichende Profitaussichten bieten).

Entscheidend für die Lenin’sche Begriffsbildung ist aber nun vor allem, dass diese monopolistische Totalität des Imperialismus zu einer Aufteilung der Weltwirtschaft unter große Kapitalverbände geführt hat, die Neuaufteilungen bzw. neue Player nur in sehr engen Grenzen zulässt – oder wenn doch in größerem Ausmaß, dann notwendigerweise mit heftigen Erschütterungen, analog einem tektonischen Beben. Dieses System der Aufteilung der Weltökonomie findet auf politischer Ebene kein Pendant in Gestalt ähnlich einem bürgerlichen Nationalstaat wie in den Einzelökonomien, sondern kann auf Weltebene aufgrund dieser monopolistischen Basis nur stabilisiert werden durch ein System von imperialistischen Großmächten.

Russland damals und heute

Der Aufteilung der Welt unter Kapitalverbände geht somit einher – allerdings nicht eins zu eins – mit ihrer politischen Aufteilung in Einflusssphären von Großmächten. Hier finden wir auch den Grund, warum Lenin das zaristische Russland als imperialistische Macht analysierte, obwohl es zu seiner Zeit den „5 Kriterien“ nicht entsprach, denn es war in Bezug auf Kapitalkonzentration, die Bedeutung seines Industrie- und Finanzkapitals, das Übergewicht an Zufluss von Kapital gegenüber eigenen Direktinvestitionen etc. weit von den anderen imperialistischen Mächten entfernt. Dies wurde zwar ausgeglichen durch eine dynamische Entwicklung bestimmter industrieller Sektoren und einer beginnenden Expansion russischen Kapitals auch nach außen. Entscheidend war aber die starke Stellung Russlands seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert als expansive Großmacht, die mit dieser noch untergeordneten ökonomischen Dynamik verbunden war. Dies führte in Zentralasien und Teilen Europas zu einer dem Kolonialismus der anderen europäischen Großmächte vergleichbaren Rolle im imperialistischen Gesamtsystem vor dem Ersten Weltkrieg.

Auch das gegenwärtige Russland ist von solchen widersprüchlichen Tendenzen geprägt. In den Turbulenzen der Restauration des Kapitalismus nach dem Zusammenbruch des Stalinismus wurden in der „wilden Privatisierungsperiode“ der 1990er-Jahre zum Teil viele Produktionskapazitäten zerstört, andere rasch aufgebaut – jedenfalls unter enormer Bereicherung einer kleinen Schicht von Manager:innen und Finanzkapitalist:innen. In dieser Phase hätte durchaus ein Ausverkauf Russlands an westliches Kapital geschehen können, was aber aufgrund der hohen Risiken insbesondere nach dem ökonomischen Zusammenbruch 1998 („Russlandkrise“) vereitelt werden konnte.

Rohstoffe und industrielles Kapital

Unter Putin wurden in den 2000er-Jahren teilweise eine Renationalisierung und Wiederverstaatlichung (zumindest Absicherung staatlicher Sperrminoritäten) durchgeführt – ohne das System der Oligarch:innen grundlegend zu überwinden. Dadurch geriet insbesondere der Rohstoff- und Energiesektor zu einem stabilisierenden Faktor des russischen Kapitalismus, jenseits der Einflussnahme von westlichem Kapital. Seitdem weist die russische Handelsbilanz kontinuierlich nicht einfach nur positive Überschüsse auf, sondern die Exporte übersteigen die Importe im Durchschnitt systematisch um ein Drittel. Dies betrifft nicht nur Öl, Kohle und Gas oder Getreide, sondern Russland wurde inzwischen zu einem der größten Exporteure bei strategisch wichtigen Rohstoffen. Dazu gehören Kupfer, Nickel, Uran (mit dem von Russland abhängigen Kasachstan), Palladium, Aluminium, Gold, Diamanten, Holz, …(3). Russland konnte durch diesen Rohstoffreichtum unter eigener Kontrolle (d.h. unabhängig von jeglichen ausländischen Monopolen) nicht nur beträchtliche Reichtümer ansammeln, sondern auch ein starkes Maß an wirtschaftlicher Autarkie gewinnen.

Angesichts des Staatsschatzes und der Beteiligungen ist auch nicht verwunderlich, dass der russische Staat zu den am wenigsten verschuldeten der Welt zählt. So lag der Anteil der Staatschuld am BIP 2020 bei 19 %, im Vergleich dazu jener der USA bei 133 %.

Im Windschatten dieser Stabilisierung konnten sich auch strategische Industrien im IT-Sektor, Maschinenbau und Hochtechnik mit starker Dynamik aufbauen. Dies hat auch mit der großen Bedeutung des militärisch-industriellen Komplexes in Russland zu tun. Nicht nur, dass auch vor dem Ukrainekonflikt schon regelmäßig über 4 % des BIP für Rüstungsausgaben verausgabt wurden – Russland zählt zu den größten Waffenexporteuren der Welt, was sich auch insgesamt auf die Wachstumsraten der russischen Wirtschaft ausgewirkt hat. Die größten Waffenexporteure der Welt sind in dieser Reichenfolge: USA, Russland, Frankreich, China, Deutschland. Nach den USA ist die Russische Föderation die zweitgrößte Militärmacht auf der Welt. Auch wenn ihr Abschneiden im Ukrainekrieg Zweifel aufkommen lässt, so muss auch bedacht werden, dass die dabei von ukrainischer Seite zum Einsatz kommenden westlichen Waffen- und Informationstechniksysteme eben auch eine weiterhin bestehende qualitative Überlegenheit insbesondere von US-Rüstungstechnik zum Ausdruck bringen.

Finanzkapital

Auch das Finanzkapital in der Russischen Föderation weist eine beachtliche Größe auf. Banken wie die Sberbank oder VTB sind ausreichend groß für die Bedürfnisse des russischen Kapitals für In- und Auslandsgeschäfte. Dazu kommen Fondsgesellschaften, die ursprünglich aus dem Energie- und Rohstoffbereich stammten und inzwischen mit gewaltigen Summen operieren können wie der „National Wealth Fund“ oder der „Russian Direct Investment Fund“. Inzwischen gibt es mit China, Saudi-Arabien, Katar, Kuwait und einigen anderen Ländern gemeinsame Investitionsfonds, die dem russischen Finanzkapital (auch nach den westlichen Sanktionen) immer größere Spielräume schaffen.

Hinzuzurechnen ist auch, dass sich die Russische Föderation ein breites Band an Weltregionen geschaffen hat, in die ihre Direktinvestitionen fließen können. Wie schon dargestellt, ist der Druck auf die russische Ökonomie in Bezug auf nötige Auslandsinvestitionen nicht so groß wie bei anderen imperialistischen Ländern, da sie einerseits über einen eigenen billigen Arbeitskräftemarkt für eine weiterhin wachsende Wirtschaft verfügt, andererseits durch Energie-/Rohstoff-/Rüstungsexporte genügend Ausgleich findet. Andererseits verkörpern die ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien ein großes Areal für abgesicherte Investitionen als auch für leicht ausbeutbares „Arbeitskräftematerial“. Russland ist weiterhin eine postkoloniale Macht, in der eine riesige rassistisch und national unterdrückte „nicht-russische“ Bevölkerung (aus Migrant:innen oder kolonialisierten Ethnien) einen großen Teil der unteren Ränge der Beschäftigung ausführt. So war der brutale Krieg in Tschetschenien ein wesentlicher Faktor für die autoritäre Befestigung der inneren Kolonien in der Russischen „Föderation“ – und spielte durch die Herausbildung entsprechender Sicherheitsstrukturen im Zusammenhang mit dieser russischen Variante des „Kampfes gegen den Terror“ die Vorbereitungsrolle bei der allgemeinen Wende zum Autoritarismus in Russland.

Neben den Direktinvestitionen in Zentralasien und dem Nahen Osten sind in den letzten Jahren auch die Direktinvestitionen in Afrika und Lateinamerika aus Russland (oft in Verbindung mit der Rüstungsindustrie) stark gestiegen. Seit 2016 (und den schon seit damals stark sinkenden Kapitalflüssen aus „dem Westen“) weist Russland demnach auch eine positive Bilanz in Bezug auf Direktinvestitionen aus. Exemplarisch für diese Tendenz war 2018, als die ausländischen (neuen) Direktinvestitionen auf 8,9 Mrd. US-Dollar sanken, gegenüber einer Steigerung der russischen Direktinvestitionen im Umfang von 28 Mrd. im Ausland. Dabei muss auch noch Folgendes festgehalten werden: Der größte westliche Direktinvestor in der Russischen Föderation war bis vor wenigen Jahren die Republik Zypern (2020: 147 Milliarden US-Dollar Bestandsinvestitionen). Genauere Untersuchungen darüber, wie aus einem Pleitestaat plötzlich seit 2008 ein Milliardeninvestor in Russland werden konnte, zeigen jedoch, dass der Ursprung dieses Kapitals zumeist bis nach Russland selbst verfolgt werden kann (2020: FDIs in Höhe von 193 Milliarden US-Dollar aus Russland). Dies hängt wohl damit zusammen, dass viele russische Kapitalist:innen ihrem eigenen Staat nur bedingt vertrauen und so von den Steuervorteilen und der Bankenpolitik in Zypern mehr überzeugt waren – und von dort aus die eher riskanteren Investitionen in Russland getätigt haben. Zypern hat zugleich großzügige Regelungen für Doppelstaatsbürgerschaften bei entsprechenden Investitionen gewährt. Rechnet man die zyprischen Milliarden ab, war Russland bereits in den 2010er Jahren eher Nettokapitalexporteur als -importeur. Die Fähigkeit des russischen Kapitals, den massiven Stopp von Kapitalzufluss aufgrund der westlichen Sanktionen nach dem Angriff auf die Ukraine zu kompensieren, zeigt, wie wenig Russland mit einer Halbkolonie zu tun hat, die nach solchen Sanktionen nicht mal einen Monat ökonomisch überleben würde.

Klassenstruktur

Russland als größtes Land mit der zweitgrößten Armee der Welt, als einer der größten globalen Rohstoff- und Energielieferanten, mit sehr großen darauf aufbauenden Monopolen und Finanzkapitalen ist sicherlich niemandes „Halbkolonie“, obwohl die relativ große Rolle des Staates im Finanz- und Monopolkapital sowie die im Vergleich höhere kriminelle Ader des einheimischen Großkapitals sicherlich ein Zeichen seiner Schwäche darstellen.

Im Rahmen der nachholenden Entwicklung und aufgrund seines Ursprungs aus einem ehemaligen degenerierten Arbeiter:innenstaat weist der russische Kapitalismus noch in vielen Bereichen Merkmale der „ursprünglichen Akkumulation“, in der Staat und mafiaartige Ausbeutungsverhältnisse eine relativ große Bedeutung einnehmen, auf. Dies führt auch dazu, dass eine unabhängige Mittelschicht in größerem Ausmaß bis jetzt nicht entstanden ist und eine relativ große Kluft zwischen Superreichen und der Masse der Bevölkerung besteht.

Für ein stabiles parlamentarisches Regime fehlt dem russischen Imperialismus daher die soziale Basis mit einer entsprechend großen Arbeiter:innenaristokratie und lohnabhängigen Mittelschichten (wie im Westen). Er ist daher auf das bonapartistische Putinregime angewiesen, das jegliche Form einer konsequenten Interessenvertretung der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen unterdrückt oder durch nationalistischen Populismus einfängt. Anders als der westliche Imperialismus kann er sich nicht als „Hort der Demokratie und Menschenrechte“ verkaufen, sondern muss in seinem weltweiten Agieren statt auf „Softpower“ und „Scheckkarten“ immer wieder auch auf unmittelbare militärische Drohung oder Gewalt zurückgreifen. Der russische Imperialismus ist daher ein noch um seine Anerkennung und globale Rolle ringender Kapitalismus, der in vielen Feldern gegenüber den etablierten imperialistischen Mächten in einer schwächeren Position verbleibt – die er umso stärker durch seine militärisch-politischen Mittel überspielen muss.

Rolle als Großmacht

Die entscheidende Frage für den imperialistischen Charakter Russlands ist also die Rolle, die es im Konzert der Großmächte und im Kampf um die gegenwärtige Neuaufteilung der Welt spielt. In der Konsolidierung des russischen Kapitalismus in den 2000er-Jahren hat es sich vor allem durch eine Art Deal mit den europäischen Führungsmächten eine Rückkehr auf die globale Bühne ermöglicht: Als wesentlicher Energie- und Rohstofflieferant für die europäischen Produktionsketten (insbesondere für Deutschland und Frankreich) wurde auch seine besondere Rolle als militärisch-politische Großmacht in Konkurrenz zu den USA akzeptiert. Letztere betraf zunächst vor allem Zentralasien, später aber auch Afrika und insbesondere den Nahen Osten (z. B. Syrien).

In der EU gab es Tendenzen, mit Russland zusammen ein Gegengewicht in der sich abzeichnenden Konfrontation USA versus China zu bilden. Die Stabilisierung der europäischen Kernwirtschaften in der Globalisierungsperiode ist bis etwa 2014 eng mit dem ökonomischen und politischen Wiederaufstieg Russlands verbunden. Doch zeichnete sich schon relativ bald ab, dass diese „Partnerschaft“ mit wachsenden Interessenkonflikten verbunden war.

Während einige osteuropäische EU-Länder sowieso eine „atlantische Partnerschaft“ vehement bevorzugten bzw. die „NATO-Osterweiterung“ propagierten, stießen in Georgien, Moldawien, Belarus und vor allem in der Ukraine die jeweiligen Einflussnahmen und Interessenvertretungen auf immer mehr gegenseitigen Widerspruch. Letztlich setzten auch die USA alles daran, in ihrer Hauptkonfrontation mit China die EU-Imperialismen eindeutig auf ihre Seite zu ziehen und eine lavierende EU aus ihren Verbindungen mit Russland zu lösen. Während Russland in Georgien und Syrien noch militärisch-politische Erfolge erzielen konnte und sich durch kleinere Interventionen in zentralasiatischen Krisen (im Rahmen des OVKS-„Sicherheitsbündnisses“)  dort als „Gendarm“ etablierte, konnte die EU in Belarus, Moldawien und vor allem der Ukraine Russland und seine örtlichen Verbündeten nicht einfach gewähren lassen, ohne ihre Glaubwürdigkeit in Osteuropa zu verspielen.

Bedeutung der Ukraine

Der Ukrainekrieg zeigt wieder einmal den grundlegend verrotteten Charakter des Imperialismus auf: Anders als hierzulande dargestellt, geht es auch bei diesem nicht um „Demokratie“ gegen „unrechtmäßigen Annexionsüberfall“, sondern um den Kampf um Einflusssphären imperialistischer Mächte. Auch wenn das westliche Narrativ „Einflusssphären“ für ein Konzept aus dem letzten Jahrhundert erklärt wird, stellt natürlich auch für die USA und der EU eine langfristige Schwächung eines imperialistischen Rivalen in Osteuropa und eine Absicherung ihrer Einflusssphären bis an seine Grenzen ein Herzensanliegen dar.

Der russische Imperialismus versucht, seine „traditionelle Einflusssphäre“ zu sichern, da die Ukraine sowohl industriell, agrarisch als auch von den Rohstoffen her ein wichtiger Bestandteil des russischen Monopolkapitals war und wieder sein könnte. Russischsprachige Minderheiten bzw. historische Verbindungen wurden bzw. werden ausgenutzt, um entsprechenden Druck aufzubauen und Vorwände zu finden. Nachdem Russland nicht über die ökonomischen und ideologischen („Demokratie!“) Mittel des Westens verfügt, bleibt ihm nur seine militärische Stärke, um im Konzert der Großmächte mitzuspielen und seine Einflusssphäre zu sichern.

Die Herrschenden in der Ukraine versuchten seit der Unabhängigkeit zwischen den beiden imperialistischen Lagern zu lavieren, einmal mehr in Richtung EU/NATO, einmal mehr Richtung Moskau. Mit dem Maidan-Umsturz 2014 war diese Phase vorbei. Während eine Mehrheit der Ukrainer:innen sicherlich tatsächlich Illusionen in eine demokratische und unabhängige Ukraine hat, haben sich in der ukrainischen Politik diejenigen Kräfte durchgesetzt, die das Land letztlich objektiv zu einer Halbkolonie des westlichen Imperialismus machen. Das wird ökonomisch, ganz simpel, durch die IWF-Programme seither und die daraus folgenden „Liberalisierungen“, Ausverkaufspläne und „Reformvorhaben“ (insbesondere im Arbeitsrechtsbereich) überaus deutlich. Aber auch die völlige Abhängigkeit der Verteidigungsfähigkeit der Ukraine von westlichen Waffen- und Munitionslieferungen, sowie von Ausbildung-, Aufklärungs- und IT-Infrastrukturleistungen (insbesondere durch die USA) zeigen den sich herausbildenden Charakter einer militärisch hochgerüsteten Halbkolonie. Die Ukrainer:innen wurden so also zum Spielball des Kampfes um Einflusssphären der imperialistischen Mächte. Auch wenn ihr Kampf um Selbstbestimmung und die Verteidigung gegen die russische Aggression mehr als berechtigt ist, kann ihr Kampf um eine wirklich unabhängige Ukraine nicht mit der Zurückschlagung der russischen Invasion zu Ende sein – für die Masse der Ukrainer:innen wird die folgende, als „Aufbauhilfe“ verkleidete, Invasion der westlichen „Freiheitsfreunde“ die nächste Etappe in ihrem Überlebenskampf (dann auf der ökonomischen Ebene) sein.

Eine neue russische Revolution ist notwendig! 

Mit dem Eingriff in den Ukrainekonflikt, der Annexion der Krim und letztlich der Invasion 2022 hat Russland seinen Charakter als schwächstes Glied im Chor der imperialistischen Großmächte offengelegt – alles andere würde nur das westliche Narrativ von der Invasion als Werk des „wahnsinnig gewordenen Putins“ bestärken. Auch die Entwicklung des Krieges seither bestätigt diesen: Einerseits war die russische Armee schwach genug, um gegen eine vom Westen hochgerüstete und in ihrem berechtigten Selbstverteidigungswillen hochmotivierte ukrainische Armee keinen entscheidenden Sieg zu erringen. Andererseits war Russland trotz massiver Wirtschaftssanktionen in der Lage, auf Kriegswirtschaft umzustellen, und ist wahrscheinlich fähig, auf längere Dauer einen Abnutzungskrieg durchzuhalten, der letztlich auch den westlichen Ökonomien als Lieferantinnen der Ukraine zu kostspielig werden wird.

Der weitere Verlauf des Ukrainekrieges wird natürlich entscheidend auch für die weitere Entwicklung in Russland werden. Die ökonomischen und menschlichen Folgen des Krieges sind auch dort immer schwerer zu ertragen. Auch wenn die russische Ökonomie bisher den Zusammenbruch verhindern konnte, wird sie immer mehr abhängig von der Unterstützung durch „befreundete“ Mächte. Bisher setzt insbesondere China weiterhin auf ein Ende, das Russland gewisse Gewinne gewährleistet und jedenfalls nicht zum Zusammenbruch des jetzigen Regimes führt. Ein Zusammenbruch könnte nämlich zu einer Radikalisierung der herrschenden nationalistischen Politik zur Rettung der Interessen des russischen Monopolkapitalismus führen. Angesichts der Schwäche der liberalen, aber vor allem auch der linken Opposition und des Mangels an kämpferischen Organisationen der Arbeiter:innenklasse ist dies durchaus wahrscheinlich. Während jetzt viele in Verkennung des tatsächlichen Wesens des Faschismus das gegenwärtige Regime bereits als faschistisch bezeichnen, könnte die Unzufriedenheit mit dem Kriegsverlauf tatsächlich zu einer grausamen Form eines revanchistischen russischen Faschismus führen, der zu einer neuen Stufe von Militarismus und militärischer Aggression dieser Atommacht führt!

Insofern ist es für Linke in Russland und ihre Unterstützer:innen im Westen unbedingt notwendig, sowohl den imperialistischen Charakter der russischen Politik und Ökonomie klar aufzuzeigen als auch dieses Übel an seiner Wurzel zu packen, nämlich mittels der Zerschlagung des russischen Kapitalismus und seines Staatsapparates – durch eine „neue Oktoberrevolution“!

Endnoten

(1) Siehe z.B.: schon in den FT-Resolutionen zum Ukraine-Konflikt seit 2014 (https://www.leftvoice.org/ukraine-political-crisis-and-disputes-between-the-imperialist-powers-and-russia/) war zu lesen, dass Russland nur eine „regionale Macht“ ist, die eine Herausforderung für „den Imperialismus“ ist. Während damals noch die Rede davon ist, dass es dem US-Imperialismus nicht gelungen sei, Russland in eine Halbkolonie zu degradieren, wird in einer im Februar 2022 veröffentlichten Resolution immer noch von der Konfrontation zwischen „dem Imperialismus“ und der autoritären Regionalmacht Russland geredet, aber zusätzlich noch behauptet, das Zweck des Krieges für den Imperialismus sei eben die „Halbkolonialisierung Russlands“ (https://www.leftvoice.org/crisis-in-ukraine-between-the-threat-of-war-and-negotiations-under-fire/)

(2) LW 22, Berlin/DDR 1972, S. 270 f. Die fünf Kriterien sind kurzgefasst: (1) Herausbildung bedeutender Monopolkapitale (Großkonzerne), (2) Dominanz des Finanzkapitals in Verflechtung mit den Monopolen, (3) gestiegene Bedeutung der Kapitalströme gegenüber dem Welthandel (Dominanz des Kapitalexports), (4) Beherrschung der Welt durch konkurrierende internationale Kapitalverbände, (5) Aufteilung der Welt durch mit den Monopolen verbundene Großmächte.

(3) Beispielhafte Zahlen zum Weltmarktanteil Russlands in den Warenmärkten: Öl (12 %), Getreide (17 %), Kupfer (4 %), Nickel (7 %), Uran (48 % mit Kasachstan), Palladium (38 %), Aluminium (6 %).




Vor 100 Jahren: Gründung der Sowjetunion

Bruno Tesch, Infomail 1208, 30. Dezember 2022

Am 30. Dezember 1922 wurde die Sowjetunion gegründet. 100 Jahre später interpretieren russische wie westliche Medien das Ereignis zu ihrem eigenen Nutzen im Krieg um die Ukraine. Während Putin’s verlogene und zynische Propagandamaschinerie die Sowjetunion mit Großrussland gleichsetzt – inklusive einer positiven Bezugnahme auf Stalins großrussischen Chauvinismus -, stößt sie sich zugleich daran, dass es eben die Politik Lenins war, die eine Loslösung der Ukraine aus dem ehemaligen Zarenreich ermöglichte.

In der BRD wiederum gerät diesbezüglich selbst die FAZ zu einer schwachen „Verteidigerin“  der sowjetischen Politik Anfang der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts, vor dem Stalinismus. Zugleich werden auch westliche Medien nicht müde, den heutigen russischen Imperialismus mit der Sowjetunion zusammenzuwerfen – unter weitgehender Verkennung des unterschiedlichen gesellschaftlichen Inhalts und großteiliger Ignoranz der Unterschiede zwischen 1917, 1922 und der nationalen Unterdrückung der Ukraine unter dem Stalinismus. Der Staat Putins ist eine kapitalistische, imperialistische Großmacht, die Sowjetunion war selbst zur Hochzeit Stalins und des Kalten Krieges ein degenerierter Arbeiter:innenstaat, mag dieser auch noch so russisch-nationalistisch aufgeladen gewesen sein. Dass Putin sich positiv auf Stalin bezieht, ist freilich kein Wunder. Beide eint eine tiefe Feindschaft den fortschrittlichen Errungenschaften des Oktobers gegenüber, wozu auch das Recht auf nationale Eigenständigkeit zählte.

Wir wollen hier daher selbst ein Blick auf das Ereignis vor 100 Jahren werfen – und damit auch ein revolutionäre Erbe gegen die Ideolog:innen der modernen imperialistischen Blöcke verteidigen.

Gründungsvorbedingungen

Am 30. Dezember jährt sich der 100. Gründungstag der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, kurz Sowjetunion genannt. Russland, Ukraine, Weißrussland und Transkaukasien (Armenien, Aserbaidschan und Georgien) schlossen sich zu einem föderativen Staatenbund zusammen.

Nach einem 4-jährigen Bürger:innenkrieg war die Konterrevolution im Lande trotz Unterstützung durch imperialistische Mächte militärisch besiegt. Die verheerenden Folgen dieses Krieges stellten die neu entstandenen Sowjetrepubliken aber vor gewaltige Aufgaben. Neben der gesamtgesellschaftlichen Aufbauarbeit musste auch die Isolierung seitens des Imperialismus durchbrochen werden.

3 Jahre zuvor war die Kommunistische Internationale ins Leben gerufen worden. Sie steckte sich die Internationalisierung des Klassenkampfes und der Ausweitung der sozialistischen Revolution zum Ziel. Tragischerweise band jedoch der Überlebenskampf der Revolution in Russland viele revolutionäre Kräfte und kostete etlichen erfahrenen Kadern das Leben.

Eine durch Bürger:innenkrieg und bereits einsetzende Bürokratisierung geschwächte Kommunistischen Partei hatte zwar gesiegt, stand aber zugleich unter dem Druck klassenfremder Elemente im eigenen Land und der Weltbourgeoisie. Der durch Krieg, Isolierung und Rückständigkeit bedingte taktische Rückzug auf die „Neue Ökonomische Politik“ (NEP) verstärkte diesen Widerspruch objektiv.

Zugleich sollte sich aber auch die politische Schlussfolgerung, die die Kommunistische Partei unter Führung Lenins zog, um diese Situation zu bewältigen, selbst als Teil des Problems erweisen. Die Einschränkung der Parteidemokratie und das Fraktionsverbot (1921) stärkten die beginnende Bürokratisierung, die sich im Staat schon vollzog, bildeten einen Nährboden für die kommende bürokratische Konterrevolution unter Stalin.

Verfassung 1924

Auch wenn niemand während der Diskussion um die Gründung der Sowjetunion und deren Verfassung die spätere Entwicklung vorhersehen konnte, zeigten sich schon damals Auseinandersetzungen um diese Frage.

Mit der Russischen Revolution hatten sich zunächst nicht nur in Russland, sondern auch in Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Ukraine und Weißrussland Republiken mit eigenen politischen Machtorganen gebildet. Sie verfügten jedoch über eine gemeinsame Armee und einen ebensolchen Etat.

Im August 1922 wurde auf Initiative des Politbüros des Zentralkomitees der Russischen KP eine Kommission gegründet, die damit beauftragt wurde, den Entwurf für einen Vertrag zwischen den Sowjetrepubliken vorzubereiten.

Die Resolution über den Beitritt der Sowjetrepubliken zur Russischen Föderativen Republik, die von Stalin vorbereitet und von der Kommission verabschiedet worden war, stellte Lenin nicht zufrieden. Er erblickte darin ein Zeichen für den stärker werdenden großrussischen Chauvinismus in der Partei und im Land, wie er schon bei Ordschonikidses Vorgehen in Georgien deutlich wurde. Lenin charakterisiert dessen Vorgehen in „Zur Frage der Nationalitäten oder der ‚Autonomisierung‘“ (Lenin, Werke, Band 36, S. 590 – 596) als „russisch-nationalistische Kampagne“, für die er Stalin und Dzierzynski politisch verantwortlich machte.

Daher auch Lenins massives Drängen darauf, dass der zukünftige Sowjetstaat kein um andere Republiken erweitertes Russland sein solle oder dürfe. Stattdessen schlug er vor, einen multinationalen Bundesstaat auf der Grundlage des Gleichberechtigungsprinzips seiner einzelnen Bestandteile zu gründen. Das Plenum des Zentralkomitees unterstützte diese Idee.

Die Vertreter:innen der anderen Sowjetrepubliken stimmten dem Vorschlag zu und nach Diskussion auf dem 2. Sowjetkongress 1923 und seiner Bestätigung trat die gemeinsame Verfassung 1924 in Kraft. Sie enthielt 11 Abschnitte und regelte sowohl die einzelnen konstitutiven und gemeinsamen Organe wie auch das Verhältnis der Föderativrepubliken zueinander und zur Union.

Der Unionsvertrag schrieb eine „symmetrische“ Struktur der Föderation fest: Jedes Föderationsmitglied verfügte – zumindest de jure – über die gleichen Rechte. Im Grunde genommen wurde ein Bundesstaat neuen Typs geschaffen, für den es keine historischen Vorbilder gab: Jede Republik erhielt das Austrittsrecht aus der Union.

Die Verfassung enthält zwar sehr detaillierte Anweisungen über Gliederungen und Zuständigkeiten der einzelnen Organe der Sowjetunion – angefangen von der Zusammensetzung des Zentralexekutivkomitees der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken aus Unions- und Nationalitätensowjet, bis auf die Ebene der Stadtsowjets, (1 Deputierte/r auf 25.000 Wähler:innen) und Gouvernementssowjetdeputierte (1 Vertreter:in auf 125.000 Einwohner:innen) –, lässt jedoch wichtige Mechanismen der Arbeiter:innendemokratie zur Kontrolle der bestimmte Funktionen ausübenden Gremien vermissen. Die unmittelbare Wahl von Vertreter:innen und deren Rechenschaftspflicht sowie die jederzeitige Abberufbarkeit aus den Ämtern bleiben unerwähnt.

Nationalitäten und Territorialfrage

Lenin betonte stets das Problem der Nationalitäten als Hinterlassenschaft der bürgerlichen Ordnung, die bei unterdrückten Nationalitäten Ambitionen auf die Bildung eines bürgerlichen Nationalstaates wecken konnte. Er drückte klar aus, dass dies einen Gefahrenherd auch für eine Sowjetrepublik darstellen könne und schlug deshalb als Lösung nicht nur die Gleichstellung innerhalb der Sowjetunion, sondern auch die Aufnahme des Selbstbestimmungsrechts bis hin zur Lostrennung aus dem Verband der Sowjetrepubliken vor, selbst um den Preis seiner territorialen Verkleinerung.

Diesen grundlegenden Gedanken entwickelte er in zahlreichen Schriften vor allem während des Ersten Weltkriegs. In der Diskussion um die Verfassung der Sowjetunion kommt Lenin darauf zurück. In der um die Gründung der UdSSR begreift er die Nationalitätenfrage als eine Schlüsselfrage für deren Ausgestaltung.

Die Erfahrungen in Georgien führten ihn zur Überzeugung, dass das bloße Recht auf freiwilligen Ein- bzw. Austritt aus dem Sowjetverband nicht reicht. Wenn der gesamte, vom Zarismus übernommene Staatsapparat im wesentlichen großrussisch geprägt ist, wenn alle wesentlichen Machtpositionen von diesem zentralisiert werden, droht das Recht auf Austritt aus der Union ein „wertloser Fetzen Papier“ zu werden, „der völlig ungeeignet ist, die nichtrussischen Einwohner Rußlands vor der Invasion jenes echten Russen zu schützen, des großrussischen Chauvinisten … “ (LW 36, S. 591)

Lenin bezieht sich hier auf den Staatsapparat Sowjetrusslands. Um zu verhindern, dass das Selbstbestimmungsrecht faktisch nur auf dem Papier besteht, schlägt er weitere Maßnahmen vor, darunter strenge Vorschriften zum Schutz des Rechts auf Gebrauch der nationalen Sprache in den nichtrussischen Republiken.

Vor allem aber geht er auf die Frage der Staatsapparatstrukturen der jeweiligen Republiken ein. Lenin wendet sich dabei gegen die Forderung, den Staatsapparat der gesamten Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zu zentralisieren. Er erkennt zwar an, dass die Nichtvereinigung des Apparates der russischen Republik mit dem anderer Republiken auch Nachteile, Reibungsverluste und Ineffizienz mit sich bringen kann. Aber „der Schaden, der unserem Staat daraus entstehen kann, daß die nationalen Apparate mit dem russischen Apparat nicht vereinigt sind, ist unermeßlich geringer, unendlich geringer als jener Schaden, der nicht nur uns erwächst, sondern auch der ganzen Internationale, den Hunderte Millionen zählenden Völkern Asiens, dem in der nächsten Zukunft bevorsteht, nach uns ins Rampenlicht der Geschichte zu treten. Es wäre unverzeihlicher Opportunismus, wenn wir am Vorabend dieses Auftretens des Ostens, zu Beginn seines Erwachens, die Autorität, die wir dort haben, auch nur durch die kleinste Grobheit und Ungerechtigkeit gegenüber unseren eigenen nichtrussischen Völkern untergraben würden.“ (LW 36, S. 596)

Während sich Lenin in der Formulierung der Verfassung der Sowjetunion durchsetzen konnte, vermochten er und auch später die Linke Opposition nicht, die Bürokratisierung des Staates, schließlich die politische Machtergreifung einer bürokratischen Kaste zu verhindern.

Staatscharakter

Revolutionäres Ziel konnte natürlich nie die Errichtung eines voluminösen Staatsgebildes sein, sondern Voraussetzungen für das Absterben jeglichen Staatswesens, das immer eine Form des Gewaltapparats beinhaltet, zu schaffen.

Bereits Erfahrungen der Pariser  Kommune führten Marx dazu, die Zerschlagung, nicht Umwandlung und Übernahme der bürgerlichen Staatsmaschine, als Voraussetzung für eine sieg- und dauerhafte sozialistische Revolution zu postulieren, d. h. Enteignung der ausbeutenden Klassen und Beseitigung des sich über die Gesellschaft erhebenden bürokratischen Apparats, v. a. seiner unmittelbaren Gewaltorgane Polizei, stehendes Heer. Die Arbeiter:innenklasse braucht einen Staat, der von vorn herein die Möglichkeit zu seinem Absterben eröffnet, einen „Halbstaat“.

Dies kann nur erreicht werden durch proletarische Formen, die Verwaltungs- und Vollzugsaufgaben und deren Kontrolle durch die Masse der Bevölkerung übernehmen. Ein solcher Halbstaat war Sowjetrussland jedoch allenfalls in Ansätzen.

Bei Schaffung der Roten Armee verschmolzen reguläre Streitkräfte mit dem Milizsystem. Sie war ein der Existenzbedrohung der Revolution durch den Bürger:innenkrieg geschuldeter Kompromiss. Die Erbschaft des Zarismus, deren Armeebestände und Personal, musste in Ermangelung landesweit aufgebauter proletarischer Miltärstrukturen zunächst übernommen, aber deren Befehlshaberränge sollten durch Parteikommissar:innen einer Arbeiter:innenkontrolle unterzogen werden. Diese Armee sollte, v. a. auf Vorschlag Trotzkis, am Ende des Bürgerkriegs in ein allgemeines Milizsystem überführt werden. Aber dazu kam es nicht.

Die Bürokratie (…) brauchte eine Kasernenarmee, losgelöst vom Volk. ( RM 24, S. 28, L. T., zit. nach WP/IWG Degenerated Revolution, S. 51)

Stalinistische Konterrevolution

War 1924 noch das klassische Modell einer Räterepublik  von 1917/18 Leitmotiv für die erste Sowjetverfassung, glichen sich spätere Umarbeitungen – als erste 1936 festgeschrieben unter dem Beinamen „Stalinverfassung“ –  immer mehr dem bürgerlichen Parlamentarismus an.

Der Stalinismus hatte, beginnend bereits Mitte der 1920er Jahre, auf Basis der Zementierung einer Bürokratie jegliche Selbsttätigkeit der Klasse, jegliche innerparteiliche Demokratie erstickt. Zentralisierung der Gewalt, die Amalgamierung von Staat und Partei zu einer bürokratischen Kaste, Filterung  durch Stellvertreterprinzipien, Kontrolle von oben nach unten, Abschaffung von Räte- und Milizsystem und Liquidierung politischer Gegner:innen, v. a. bolschewistischer Revolutionär:innen, bildeten die Eckpfeiler dieser Entwicklung.

Flankiert wurde dies durch Zickzackbewegungen der politischen Linie, die über eine brachiale Industrialisierung, die buchstäblich über Millionen Leichen v. a. im ländlichen Raum ging, zur mit der Bourgeoisie paktierenden und Arbeiter:innenkämpfen in den Rücken fallenden Volksfrontpolitik auf Weltebene schwenkte. Alles wurde den Interessen der herrschenden Bürokratie in der UdSSR untergeordnet. Der Gedanke an Weltrevolution geriet in Verbannung. Die Kommunistische Internationale, die bis dato ohnehin nur noch als Akklamationsorgan für die Richtlinien der Moskauer Bürokratie gedient hatte, fand 1943 ihr unrühmliches offizielles Ende als Verbeugung vor den westlichen imperialistischen Mächten.

Niedergang und Ende

Trotz Bürokratie überstand die Sowjetunion den Zweiten Weltkrieg. Doch nach Jahrzehnten wirtschaftlichen Aufschwungs zerplatzten mit Einbrüchen in der Weltkonjunktur ab den 1970er Jahren, durch eine bürokratisch geplante Wirtschaft und das Zurückbleiben im Rüstungswettlauf mit dem Imperialismus ab den 1980er Jahren verstärkt, nicht nur die Seifenblasen von einem „Einholen des Westens“, sondern es wankten und fielen die gesellschaftlichen Grundfesten in der UdSSR und ihren Vasallenstaaten, so dass ihr Schicksal ab 1990 besiegelt war.

Die Sowjetunion als Leuchtfeuer der Revolution und somit Hoffnungsträgerin für Millionen Arbeiter:innen hat in ihrer stalinistischen Degeneration zugleich ein Zerrbild von sozialistischen Prinzipien und Entwicklungsfähigkeit geliefert, in den Köpfen der Arbeiter:innenbewegung weltweit Verwirrung hinterlassen.

Ihr Ende und die Restauration des Kapitalismus bedeuten gleichzeitig eine historische Niederlage des Proletariats, aber auch die Chance zur schonungslosen Aufarbeitung der Geschichte und zum Neuanfang für die Reorganisation einer internationalen Arbeiter:innenbewegung, angeführt von einer revolutionären Internationale – dringend notwendiger denn je.




Marxistische Imperialismustheorie: Bestandsaufnahme und Aktualisierung

Martin Suchanek, Revolutionäre Marxismus 53, November 2020

1. Einleitung

Der Begriff Imperialismus ist wieder modern geworden. Nach dem Zusammenbruch des Stalinismus und der Restauration des Kapitalismus in den ehemaligen degenerierten ArbeiterInnenstaaten [i], mit dem Beginn der Globalisierung und dem scheinbar endgültigen, wenn auch kurzlebigen Triumph der Bourgeoisie schien er in der Öffentlichkeit marginalisiert. Die Möchtegern-ChefideologInnen des Weltkapitalismus schwärmten vom „Ende der Geschichte“ [ii], proklamierten naiv wie seit über einem Jahrhundert nicht mehr den angeblich endgültigen Triumph der liberalen Demokratie und der Marktwirtschaft. Nicht nur die reformistischen Führungen der ArbeiterInnenbewegung passten sich dem Zeitgeist an, sondern auch die „radikale“ Linke stimmte teils zähneknirschend, teils euphorisch in den Kanon ein.

In dieser Periode des scheinbar endgültigen Triumphs des Kapitalismus wirkten auch alle Theorien überholt, die von den inneren Widersprüchen dieser Produktionsweise ausgehen, die darauf pochen, dass dieses System auf der Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse, der Aneignung der Reichtümer der sog. „Dritten Welt“ und der Natur beruht. Die bürgerliche Gesellschaft hätte in den Zeiten der kapitalistischen Globalisierung auch ihre inneren Krisen hinter sich gelassen, so jedenfalls die vorschnelle Hoffnung ihrer ApologetInnen bis hinein ins vormals linke Lager.

Der Sieg des Kapitalismus im Kalten Krieg manifestierte sich notwendigerweise auch als ideologischer. In den 1990er Jahren und am Beginn dieses Jahrhunderts schien also jede Theorie „veraltet“ und „überholt“, die von einer materialistischen Analyse des Kapitalismus als Klassengesellschaft und des Imperialismus als ökonomisch-politischer Ordnung ausging. Ihre Widerlegung bedurfte im journalistischen wie im bürgerlich-wissenschaftlichen Diskurs eigentlich keiner Argumente. Es reichte der Verweis auf die vordergründige „Macht des Faktischen“.

An die Stelle der Klassentheorie traten oft geradezu reaktionäre weltanschauliche und geistige Strömungen wie der Postmodernismus, die bis heute in der akademischen Welt, vor allem in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften eine dominierende Rolle spielen. Auch wenn sich diese Strömungen oftmals als „links“ präsentieren und die Überwindung des angeblich überholten Gegensatzes von bürgerlicher Wissenschaft und marxistischer Theorie proklamieren, stellen sie ideologisch eine Kapitulation dar, eine Regression zum subjektiven Idealismus und Irrationalismus. Die verschiedenen Spielarten des Postmodernismus eint letztlich, dass sie jeden Versuch, die Entwicklungsdynamik einer Gesellschaftsformation, deren innere Triebkräfte, Widersprüche und Gesetzmäßigkeiten zu entschlüsseln, als bloß subjektives „Narrativ“, also bloße gedankliche Konstruktion verwerfen. Allein dieser Anspruch einer objektiven Fundierung linker Politik wird als Form der „Unterwerfung“ der Menschen unter eine „Konstruktion“ und als „Herrschaftsanspruch“ denunziert. Damit verwirft der Postmodernismus zugleich jeden Versuch, die Entwicklungsdynamik von Geschichte und Gesellschaft zu entschlüsseln, die der Menschheit bisher als blinde, außerhalb ihrer Kontrolle liegende Macht entgegentraten. Nichts demonstriert den reaktionären, antiemanzipatorischen Charakter der neumodischen „kritischen“ bürgerlichen Antitheorie deutlicher als ihr vehementes Bestreiten auch nur der Möglichkeit, dass die Menschheit gesellschaftliche Beziehungen und ihr Verhältnis zur Natur bewusst gestalten könnte.

Aus der behaupteten Unmöglichkeit und Verwerflichkeit einer materialistischen Theorie der Gesellschaft folgt die kategorische Ablehnung jeder objektiven Fundierung revolutionärer und notwendigerweise auch jeder proletarischen Klassenpolitik. Wie kritisch sich die IdeologInnen postmoderner Theorie gegenüber den Normen und Sitten der bürgerlichen Gesellschaft, ja gegenüber dieser selbst wähnen mögen, steht doch der Marxismus (oder was sie dafür halten) im Mittelpunkt ihrer Kritik und Polemik. Dies ist kein Zufall. Die bürgerlichen Theorien der Gesellschaft und die Erkenntnistheorie haben längst den Anspruch auf eine rationale, historische Erklärung und Rechtfertigung der Geschichte sowie auf die Ausarbeitung einer wissenschaftlich fundierten, umfassenden Weltanschauung aufgegeben [iii]. Im Gegensatz dazu versucht der Marxismus, nicht nur die Gesellschaft, ihre inneren Widersprüche und damit auch ihre Historizität zu verstehen. Er begründet auch die Möglichkeit und Notwendigkeit einer rationalen, von den Menschen bewusst gestalteten Produktion und Reproduktion der Gesellschaft und des Verhältnisses von Mensch und Natur.

Die marxistische Kapitalismus- und Imperialismustheorie mündet daher notwendigerweise immer in einer Revolutionstheorie, untrennbar verbunden mit der Frage der Subjektbildung und der rationalen Neugestaltung der Gesellschaft auf Basis einer Planwirtschaft.

Wo der Imperialismusbegriff in den neuen postmodernen oder auch in den postkolonialen Theorien auftaucht, ist er seines Bezugs zur marxistischen Kapitalismustheorie, zum Klassenbegriff und auch zur Theorie Lenins und anderer RevolutionärInnen vollständig beraubt [iv].

Neben diesen direkt reaktionären Auffassungen brachte die Globalisierungsperiode jedoch auch Konzeptionen hervor, die bestimmte Aspekte der Entwicklung des globalen Kapitalismus hervorhoben und oft genug auch einseitig überbetonten. Dazu gehören zum Beispiel Werke wie Negris und Hardts „Empire“ [v] und dessen Behauptung, dass der Gegensatz von Empire und Multitude den Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital abgelöst habe, dass an die Stelle des Imperialismus ersteres getreten sei[vi]. Die häufigen und heftigen Kriegszüge und Interventionen der Großmächte seit dem Beginn des Jahrtausends ließen die eklektische Theorie, die ihrerseits zahlreiche Anleihen beim Postmodernismus gemacht hatte, zunehmend empirisch fragwürdig erscheinen. Etliche ihrer Gedanken wirken jedoch bis heute nach. Einerseits schwingt die Konzeption der Multitude weiter in der postautonomen Theorie und Politik fort, andererseits knüpfen z. B. Postkapitalismustheorien wie jene von Paul Mason mehr oder minder offen an Hardt und Negri an – so z. B. mit der Vorstellung, dass der Mehrwert „unmessbar“ werde und aufgrund der enorm gestiegenen Arbeitsproduktivität verschwinde.

Schon im ersten Jahrzehnt der Globalisierungsperiode wurde dieser ideologische Schein mehr und mehr durch die reale Entwicklung desavouiert. Die historische Krise der Weltwirtschaft und der Globalisierung trat für alle, die sich noch einen Funken klaren Verstandes bewahrt hatten, spätestens seit 2008 immer deutlicher zutage. Ihre krisenhafte Eruption hatte sich schon lange davor vorbereitet.

Eine Folge dieser realen Entwicklung bestand und besteht darin, dass die Begriffe Kapitalismus und Imperialismus wieder ins öffentliche Bewusstsein rückten. Allein das weist schon darauf hin, dass der Mainstream der bürgerlichen Wissenschaft über kein begriffliches Instrumentarium verfügt, auch nur einigermaßen tief unter die Oberfläche der Erscheinungsformen des realen Wirtschaftslebens, des Weltmarktes und des darauf aufbauenden globalen politischen Systems zu dringen und die realen Bewegungsgesetze dieser Ordnung, ihre innere Dynamik zu fassen. Nicht nur der Neoliberalismus, alle anderen mehr oder weniger obskuren bürgerlichen sozialwissenschaftlichen Theorien des letzten halben Jahrhunderts haben sich bis auf die Knochen blamiert. Das offenbart – nebenbei bemerkt –, dass die bürgerliche Gesellschaftswissenschaft in der imperialistischen Epoche im Wesentlichen stagnierte oder regredierte, zu einer ideologischen Magd einer historisch überfälligen, reaktionär gewordenen imperialistischen Bourgeoisie verkam.

Die Krise manifestiert sich  nicht nur als eine ökonomische und politische. Sie begann auch, die Köpfe durchzurütteln. Begriffe wie Kapitalismus haben nun Konjunktur, insbesondere im linken Diskurs. Kaum eine Neuerscheinung auf dem Markt der Ideen, die nicht auch wieder vom Imperialismus spricht. Autoren wie David Harvey bemühen sich um den „neuen“ Imperialismus [vii]. In einer seiner letzten Arbeiten, „Konkurrenz für’s Empire“ [viii] , rekurriert Elmar Altvater, jahrzehntelang Ideengeber des akademischen Marxismus, auf den Imperialismusbegriff, dessen Bedeutung er und die Berliner Weltmarktschule lange relativiert hatten. Auch Joachim Bischoff, der den Lenin’schen Imperialismusbegriff eigentlich verwirft, kommt in seinem Buch „Die Herrschaft der Finanzmärkte“ nicht umhin, das Vordringen des Finanzkapitals zu konstatieren, auch wenn er dies für eine atypische Entwicklung des Kapitalismus hält [ix]. Die Zeitschrift Prokla widmet mehrere Schwerpunkte der Imperialismustheorie und neueren Entwicklungen [x]. Die indischen AutorInnen Patnaik [xi] versuchen eine alternative Fundierung der Imperialismustheorie. Bei zentristischen, also zwischen Reformismus und revolutionärem Marxismus schwankenden Strömungen und TheoretikerInnen finden wir eine Hinwendung und verstärkte Rezeption der Imperialismustheorie, auch wenn sie zentrale Erkenntnisse der Lenin’schen Theorie ablehnen, insbesondere die Konzeption der ArbeiterInnenaristokratie.

In diesem Artikel können wir die verschiedenen Ansätze keiner detaillierten Kritik unterziehen, das wird weiteren Arbeiten vorbehalten sein. An dieser Stelle geht es uns vielmehr darum aufzuzeigen, dass der zunehmende Rekurs auf den Begriff Imperialismus – einschließlich der Debatten zu seiner theoretischen Fundierung – die Realität einer globalen Krise ausdrückt.

Deren umfassender Charakter drängt geradezu zur Bezugnahme auf eine Theorie, die die Totalität der internationalen Entwicklung, ja, auch des Mensch-Natur-Verhältnisses zu fassen vermag. Die Hinwendung oder wenigstens Reflexion auf die Marx’sche Kapitalismuskritik und auf die Imperialismustheorie stellt daher keine zufällige Entwicklung dar, sondern liegt schlichtweg daran, dass diese überhaupt das Problem auf eine umfassende Art zu erklären versuchen. Eine der wenigen linksbürgerlichen ökonomischen Theorien, auf die daher in Krisenperioden auch verstärkt rekurriert wird, stellt  der Keynesianismus dar, gerade weil er die Krisenhaftigkeit der Marktwirtschaft anerkennt und nach einer makroökonomischen und gesamtgesellschaftlichen, wenn auch bürgerlichen Antkrisenpolitik sucht.

Nur die Marx’sche Analyse des Kapitals und seiner Bewegungsgesetze ermöglicht jedoch ein tiefgehendes und radikales Verständnis der aktuellen Krise, ihrer Erscheinungsformen wie ihrer tieferen Ursachen. Eine materialistische Theorie muss versuchen, den Begriff des Imperialismus, die Besonderheiten dieser Epoche sowie einzelne Entwicklungsstadien oder Perioden innerhalb dieser Formation aus den Begriffen der Marx’schen Kapitalanalyse herzuleiten und zu erklären.

Diesen Anspruch versuchten so unterschiedliche AutorInnen wie Lenin, Luxemburg, Hilferding, Bucharin, Trotzki – um nur einige zentrale zu nennen – einzulösen. Im folgenden Text werden wir sie einer kurzen kritischen Würdigung unterziehen. Im Zentrum des Interesses steht jedoch die Theorie Lenins, weil sie die Gesamtheit des Imperialismus am besten zu fassen vermag. Ihr entscheidender Vorzug besteht gerade darin, dass Lenin den Imperialismus nicht bloß als ökonomisches und schon gar nicht als rein politisches Phänomen verstand, sondern als politisch-ökonomische Totalität, als Entwicklungsstadium einer Gesellschaftsformation.

Die Stärke seiner Theorie besteht, wie wir sehen werden, darüber hinaus darin, dass er den Imperialismus als globales Verhältnis begriff, also von der Realität eines Weltmarktzusammenhangs und einer darauf basierenden Weltordnung, eines globalen Systems, ausging. Dies bildet im Übrigen auch eine Schnittstelle zu der Theorie der permanenten Revolution Leo Trotzkis, gewissermaßen das Alter Ego von Lenins Theorie.

Eine an Lenin und Trotzki anknüpfende Imperialismustheorie erlaubt bei aller Kritik im Einzelnen, die gegenwärtige Periode im Rahmen der historischen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, der kapitalistischen Gesellschaftsformation zu verstehen. Nur die darauf basierenden programmatischen und politischen Schlussfolgerungen und die darin verkörperte Methode, wie sie von Marx und Engels grundgelegt und später im Kampf der internationalistischen Linken der Zweiten Internationale, vom Bolschewismus, von der Dritten Internationale unter Lenin und Trotzki, dem Kampf der ILO und der frühen Vierten Internationale entwickelt wurden, liefern eine Grundlage für die politische Bewaffnung, das unverzichtbare Werkzeug der Führung der kommenden Revolution, einer neuen, Fünften Internationale, deren Aufbau die große Aufgabe unserer Zeit ist.

Wenn wir von der historischen Bestätigung des Marxismus sprechen, so heißt das natürlich nicht, dass wir es mit einer Sammlung überhistorischer Wahrheiten, einer abgeschlossenen Wissenschaft zu tun hätten, die nur wie ein Tableau über aktuelle Ereignisse gestülpt werden müsse, um dann das „richtige“ Ergebnis zu erhalten. Wie wir weiter unten zeigen werden, war die Lenin’sche Imperialismustheorie allen anderen Theorien auch in der II. und III. Internationale aufgrund ihres Epochenbegriffs zwar qualitativ überlegen, keineswegs jedoch frei von eigenen begrifflichen Schwächen. Noch weniger konnte sie natürlich alle weiteren Entwicklungen einfach „vorwegnehmen“.

Dass die Imperialismustheorie seit den 1920er Jahren trotz einiger Versuche wenig weiterentwickelt wurde, dass wir bis heute – und sei es auch noch so „kritisch“ – auf die AutorInnen des Beginns des 20. Jahrhunderts mehr als auf andere rekurrieren, bedarf einer Erklärung. Die Degeneration der ArbeiterInnenbewegung, die Verbürgerlichung der Sozialdemokratie, die Bürokratisierung der Sowjetunion und das Verkommen dieses „Marxismus“ zu einer Herrschaftsideologie der Staatsbürokratie und ihrer Gefolgsleute in Ost und West stellen dafür eine zentrale Ursache dar. Die revolutionäre Minderheit der ArbeiterInnenbewegung, die sich in den 1930er Jahren und 1940er Jahren um den Aufbau einer neuen, revolutionären Vierten Internationale und die Verteidigung des kommunistischen Programms formierte, blieb marginalisiert und versackte selbst in Opportunismus und/oder SektiererInnentum.

Dies hatte unvermeidlich auch theoretische Konsequenzen. Die Weiterentwicklung der Lenin’schen Theorie blieb auf der Strecke. Sie wurde wie z. B. in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus vereinseitigt, entstellt und zur Begründung klassenübergreifender Bündnisse wie der antimonopolistischen Demokratie missbraucht. Andere AutorInnen wie z. B. Mandel in seiner Theorie des „Spätkapitalismus“ knüpften zwar an Lenins Theorie an, aber ihr Versuch, die Entwicklung des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg zu erklären, enthielt wichtige Revisionen des Marxismus (z. B. eine eklektische Krisentheorie oder Zugeständnisse an die Theorie der langen Wellen) und oft genug ein eklektisches Nebeneinander. Nichtsdestotrotz bilden Arbeiten wie jene von Mandel einen Referenzpunkt bis heute, weil er sich als einer der wenigen überhaupt die Aufgabe stellte, eine umfassende Theorie der Entwicklung des Kapitalismus bis in die 1980er und 1990er Jahre auszuarbeiten.

Zweifellos lassen sich auch in den Arbeiten anderer AutorInnen wichtige Elemente finden, an denen es anzuknüpfen gilt. Besonders hervorgehoben seien an dieser Stelle nur Henryk Grossmann [xii], Paul Mattick [xiii] und Roman Rosdolsky [xiv].

Insgesamt zeichnet die Entwicklung der marxistischen Theorie nach 1945 jedoch aus, dass Imperialismus- und Krisentheorie weitgehend voneinander getrennte Wege gehen, dass viele, die an der Marx’schen Krisentheorie festhalten, keinen Bezug zur Imperialismustheorie herstellten oder herstellen wollten. Umgekehrt verwerfen zahlreiche nach 1945 entwickelte Imperialismustheorien die von Marx entwickelten grundlegenden Gesetzmäßigkeiten, die die Krisen im Kapitalismus erklären, insbesondere das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate.

Schließlich mutierte die Imperialismustheorie bei etlichen „marxistischen“ und linksradikalen Strömungen und Gruppierungen von einer Theorie der Analyse der konkreten Situation zu einer rein formellen Selbstvergewisserung, als ob die wesentliche Leistung einer revolutionären Theorie einzig darin bestünde, den „Charakter“ einer bestimmten Entwicklungsphase zu bestimmen. Wir wollen das Problem im folgenden Absatz verdeutlichen.

So ist es zweifellos richtig, „die Globalisierung“ als einen Abschnitt der imperialistischen Epoche zu charakterisieren, in dem die Wesensmerkmale des Imperialismus hervortreten. Ich habe damit aber noch gar nichts ausgesagt, was diese Periode von anderen, in ihrer Erscheinungsform sehr verschiedenen Abschnitten der Epoche unterscheidet. Ich habe daher auch gar nichts ausgesagt darüber, welche Formen des Klassenkampfes, welche politischen und sozialen Fragen im Vordergrund stehen, geschweige denn über die spezifische Entwicklungsdynamik innerhalb der Periode, das Zusammenwirken von Politik und Ökonomie, von Basis und Überbau, über die konkrete Verlaufsform der Zuspitzung der Widersprüche. Vor allem habe ich damit gar nichts ausgesagt über die Programmatik, über Strategie und Taktik. Das Ganze wird vielmehr zu einer mehr oder weniger dürren und sterilen „allgemeinen Wahrheit“ – die auch äußerst begrenzt ist, weil sie über die konkrete Lage keine konkrete Aussage zu treffen vermag, weil sie eben nicht hilft, eine konkrete Situation genauer zu verstehen und somit zielgerichteter zu handeln. Eine solche Herangehensweise verurteilt also nicht nur zu Sterilität gegenüber der aktuellen Periode oder Situation. Sie macht letztlich auch den Epochenbegriff oder den Begriff des Imperialismus (oder, wenn dieselbe Herangehensweise verwendet wird, auch jenen des Kapitalismus) zu einer schalen Angelegenheit. Dies insbesondere, weil so auch nicht geklärt wird, warum sich der Imperialismus als historische Epoche in so unterschiedlichen Formen präsentieren kann, welche Faktoren nicht nur die Entwicklung innerhalb einer Periode bestimmen, sondern auch, welche ihre krisenhaften Übergänge determinieren.

Wir haben uns mit diesem Punkt so lange aufgehalten, weil die Bestimmung des Verhältnisses von Epoche zu längeren und kürzeren Perioden der Entwicklung, zu den zyklischen Bewegungen der Kapitalakkumulation einen zentralen Problempunkt bildete, um den die Debatten über die Imperialismus- und Krisentheorie nach dem Zweiten Weltkrieg, nach Zusammenbruch und Degeneration der Vierten Internationale kreisten.

2. Kapitalismus als historische Gesellschaftsformation

Wie alle MarxistInnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchte auch Lenin, den Imperialismusbegriff aus den Kategorien der Marx’schen Kapital- und Gesellschaftstheorie herzuleiten. Die Überlegenheit seiner Auffassung lässt sich nur schwer verstehen, wenn wir nicht auf letztere eingehen. So wird auch verständlich, worin eigentlich die Schwächen konkurrierender Theorien z. B. jener Hilferdings, Luxemburgs oder Bucharins liegen. Bevor wir uns mit den Konzeptionen des linken Flügels der II. Internationale und der frühen III. Internationale beschäftigen, müssen wir jedoch auf für unsere Darlegung wesentliche Besonderheiten und Schlussfolgerungen der Marx’schen Theorie zu sprechen kommen.

Im Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie“ (1859) gibt Marx einen kurzen und bekanntgewordenen Abriss über das Verhältnis von ökonomischer Basis einer Gesellschaft zu ihrem politischen, ideologischen, geistigen, staatlichen etc. Überbau.

„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. (…)

Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. (…)

Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.“ [xv]

Für unsere weitere Betrachtung der Imperialismustheorie entscheidend ist, dass Marx eine historische Gesellschaftsformation als Einheit von ökonomischer Basis und dem entsprechenden politischen und ideologischen, ideellen usw. Überbau betrachtet.

Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse bestimmen die ökonomische Struktur der bürgerlichen Gesellschaft, ganz so wie die feudalen die Feudalgesellschaft oder die Kaufsklaverei die Antike. Marx verweist darauf, dass die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse die ökonomische Basis der Gesellschaft bildet. So existieren z. B. im Kapitalismus neben den kapitalistischen noch weitere Formen. Je mehr die dominante Produktionsweise expandiert, jeden Winkel der Erde erreicht, jede chinesische Mauer überwindet, den Weltmarkt weiterentwickelt, je mehr die Unterordnung der Lohnarbeit unter das Kapital voranschreitet, werden andere Produktionsverhältnisse entweder aufgelöst und zerstört oder mehr und mehr der kapitalistischen untergeordnet, dieser funktional einverleibt. Hinsichtlich bestimmter Produktionsformen lassen sich beide Phänomene beobachten, z. B. beim Kleineigentum an Produktionsmitteln und damit der Reproduktion des KleinbürgerInnentums als auch bei der privaten Hausarbeit.

In bestimmten Phasen der Entwicklung entstehen sogar Formen vorhergehender Ausbeutungsverhältnisse neu. So war z. B. die Sklaverei in den Amerikas ein Resultat und Mittel der kapitalistischen Durchdringung und Expansion, wobei sich diese grundlegend von der antiken unterscheidet, weil sie immer schon auf den kapitalistischen Weltmarkt bezogen war, ja ein entscheidendes Mittel zu dessen Herstellung. Daher bezeichnet Marx den/die SklavInnen ausbeutende/n PlantagenbesitzerIn auch zu Recht als KapitalistIn. „Daß wir jetzt die Plantagenbesitzer in Amerika nicht nur Kapitalisten nennen, sondern daß sie es sind, beruht darauf, daß sie als Anomalien innerhalb eines auf der freien Arbeit beruhenden Weltmarkts existieren.“ [xvi] Ebenso entstehen feudale Formen der Ausbeutung in Indien erst als direkte Folge des Kolonialismus und der Integration in das britische Welt- und Handelsimperium.

Schließlich bildet die private Hausarbeit der LohnarbeiterInnen eine, dem Kapitalverhältnis untergeordnete und von diesem bestimmte Produktionsweise, die zwar Ähnlichkeiten mit der Subsistenzproduktion aufweist, sich von dieser jedoch grundlegend unterscheidet. Sie ist nämlich – ähnlich der Sklaverei in den Amerikas – fest in die Welt der Warenproduktion und des Warentausches eingebunden, weil die LohnarbeiterInnen ihre Lebensmittel, ihre Wohnung … als Waren kaufen und dazu ihre Arbeitskraft verkaufen müssen.

Für Marx bedeutet die ökonomische Struktur also keineswegs die Existenz nur einer Produktionsweise. Entscheidend ist vielmehr, dass in den jeweiligen historischen Gesellschaftsformationen eine bestimmte Produktionsweise die gesamte ökonomische Struktur der Gesellschaft bestimmt. Große historische Umbrüche stellen auch dieses Verhältnis in Frage. So entwickelt sich die kapitalistische Produktionsweise schon in der Übergangsepoche der Neuzeit und drängt die feudale immer mehr zurück. Politisch entspricht dem der Absolutismus als Übergangsregime. Die bürgerliche Revolution kann sich also auf die Herausbildung wesentlicher Elemente einer ihr entsprechenden Produktionsweise schon vor ihrem Sieg stützen, die ökonomische Vorherrschaft der Bourgeoise beginnt sich bereits mehr und mehr zu entwickeln, bevor sie die politische endgültig erringt.

Für die proletarische Revolution ist das unmöglich, weil sich keine sozialistische Produktionsweise im Kapitalismus entwickelt, ja nicht entwickeln kann. Wohl aber bilden sich die Voraussetzungen für eine bewusste, rationale, globale Planung. Um dies zu erreichen, muss aber das Proletariat zuerst die politische Macht erobern.

Darum ist auch die Kapitalismustheorie, die Analyse des antagonistischen Charakters der Produktionsweise für Marx und Engels so eng mit der Revolutionstheorie verflochten. Für sie besteht der ganze Zweck der Kritik der politischen Ökonomie schließlich darin, die Bedingungen, die Notwendigkeit und das Programm der proletarischen Machtergreifung wissenschaftlich zu unterfüttern.

Wenn wir – wie alle MarxistInnen – von Imperialismus sprechen, so meinen wir eine bestimmten Epoche der kapitalistischen Entwicklung, genauer der Entwicklung der kapitalistischen oder bürgerlichen Gesellschaftsformation.

Der Imperialismus wird bestimmt als Epoche des Übergangs und Niedergangs des Kapitalismus und zwar in einem spezifischen Sinn. Die Produktionsverhältnisse sind zu einer Fessel der Entwicklung der Produktivkräfte, der Entwicklung der Gesellschaft geworden. Der Kapitalismus hat aufgehört, eine fortschrittliche Produktionsweise zu sein und zwar in den beiden Bestimmungen:

1. Die Zerstörung vorkapitalistischer Produktionsweisen und sich darauf erhebender politischer Formen ist im globalen Maßstab vollzogen. Wo sie fortbestehen, existieren sie entweder weiter als in den Weltmarkt eingebettete, funktionale Formen oder als Marginalien.

2. Die Bildung der zentralen Voraussetzungen für eine globale, bewusst gelenkte Produktionsweise – große Industrie und ArbeiterInnenklasse – ist auf globaler Ebene erfolgt.

Keineswegs darf diese Bestimmung damit verwechselt werden, dass in der imperialistischen Epoche die Produktivkräfte dauerhaft stagnieren würden oder überhaupt dauerhaft stagnierten könnten. Diese, oft katastrophistisch konnotierten Interpretationen finden sich teilweise im Stalinismus der Dritten Periode, teilweise im zentristischen Nachkriegstrotzkismus. Sie gehen davon aus, dass die Stagnation der Produktivkräfte Voraussetzung für den revolutionären Charakter einer bestimmten Epoche oder Geschichtsperiode wäre.

Geht man nämlich einmal davon aus, dass die Möglichkeit der proletarischen Revolution von der Stagnation der Produktivkräfte abhängt, so muss diese geradezu ständig „bewiesen“ werden, will man nicht gegen den eigenen revolutionären Willen zum Utopismus abgleiten. Dann muss – was jeder revolutionären Theorie schlecht zu Gesicht steht – die reale Entwicklung umgedeutet werden. Die gigantische Entwicklung der Produktivkräfte seit 1945 wird geleugnet und zur „Entwicklung“ von „Destruktivkräften“ umbenannt. Dass damit nichts gewonnen ist, liegt auf der Hand.

Methodisch betrachtet wurde ein dialektisches Widerspruchsverhältnis zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen auf die Betrachtung einer Seite reduziert. Für die kapitalistische Produktionsweise ist es jedoch gerade kennzeichnend, dass sie die Produktivkräfte ständig, wenn auch auf Kosten von ArbeiterInnen und Natur (insofern natürlich destruktiv!) umwälzen muss. Die Umwälzung erfolgt notwendig krisenhaft, gelingt, historisch betrachtet, immer schwieriger und geht daher tendenziell mit immer größeren gesellschaftlichen Konflikten einher.

Der Begriff der Gesellschaftsformation inkludiert darüber hinaus neben den Produktionsverhältnissen auch den gesamten Überbau – und somit auch das Verhältnis zwischen allen Klassen, sowie die staatlichen und internationalen Verhältnisse.

Gesellschaftsformation und Staat

Marx und Engels verwiesen in ihren Untersuchungen und Analysen von Staats- und Herrschaftsformen, Ideologien usw. immer wieder darauf, dass die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung der verschiedenen Nationalökonomien, deren historisch bedingte Unterschiede, ihre verschiedenartige Integration in den Weltmarktzusammenhang usw. eine enorme Formenvielfalt und Kombinationen des staatlichen, ideellen, institutionellen und gesellschaftlichen Überbaus hervorbringen.

So entfaltete sich die kapitalistische Produktionsweise über einen langwierigen und blutigen Prozess des Klassenkampfes bekanntlich zuerst in England. Die epochemachende, weltgeschichtliche Umwälzung vollzieht sich jedoch im ökonomisch eigentlich rückständigeren Frankreich – ein früheres Beispiel für das Gesetz der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung. Andererseits bildet Deutschland, das Land der gescheiterten Revolutionen, ein Musterbeispiel für die Umwälzung der Produktionsweise durch eine Klassenallianz von aufstrebendem Großkapital und Aristokratie. Bonapartismus und Verpreußung bilden die entsprechende staatliche und ideologische Überbauform. Der US-amerikanische Kapitalismus hingegen brauchte weder feudale Überreste hinwegzufegen, noch bedurfte es eines Kompromisses mit tradierten herrschenden Klassen und Herrschaftsformen. Die bürgerliche Gesellschaft entwickelte sich ohne Rücksichtnahme auf diese, zugleich jedoch auf Basis von Sklaverei, Vertreibung und Ausrottung der indigenen Bevölkerung.

Unbeschadet dieser enormen Unterschiede des gesellschaftlichen Lebens, der Öffentlichkeit wie der gesamten ideologischen Sphäre können, wie Marx und Engels immer wieder hervorheben, diese berechtigterweise als bürgerliche Staaten und Gesellschaften charakterisiert und begriffen werden, weil sie auf derselben ökonomischen Grundlage, auf der kapitalistischen Produktionsweise beruhen.

„Und nun gar der wüste Mißbrauch, den das Programm mit den Worten ‚heutiger Staat’, ‚heutige Gesellschaft’ treibt, und den noch wüsteren Mißverstand, den es über den Staat anrichtet, an den es seine Forderungen richtet!

Die ‚heutige Gesellschaft’ ist die kapitalistische Gesellschaft, die in allen Kulturländern existiert, mehr oder weniger frei von mittelaltrigem Beisatz, mehr oder weniger durch die besondre geschichtliche Entwicklung jedes Landes modifiziert, mehr oder weniger entwickelt. Dagegen der ‚heutige Staat’ wechselt mit der Landesgrenze. Er ist ein andrer im preußisch-deutschen Reich als in der Schweiz, ein andrer in England als in den Vereinigten Staaten. ‚Der heutige Staat’ ist also eine Fiktion.

Jedoch haben die verschiednen Staaten der verschiednen Kulturländer, trotz ihrer bunten Formverschiedenheit, alle das gemein, daß sie auf dem Boden der modernen bürgerlichen Gesellschaft stehn, nur einer mehr oder minder kapitalistisch entwickelten. Sie haben daher auch gewisse wesentliche Charaktere gemein. In diesem Sinn kann man von ‚heutigem Staatswesen’ sprechen, im Gegensatz zur Zukunft, worin seine jetzige Wurzel, die bürgerliche Gesellschaft, abgestorben ist.“ [xvii]

Die Institutionen des Überbaus dienen nicht nur der gewaltsamen wie auch ideologischen, über bürgerliche Medien, Wissenschaft und Öffentlichkeit vermittelte Sicherung der Herrschaft des Kapitals. Der Staat muss auch als Garant der Reproduktion des Kapitalverhältnisses, als Sachwalter des gesellschaftlichen Gesamtkapitals, als ideeller Gesamtkapitalist fungieren.

Um diese Rolle erfüllen zu können, muss er als über den Klassen und einzelnen Kapitalfraktionen stehend erscheinen, als Sachwalter des gesellschaftlich Allgemeinen. Schon bei Betrachtung der Oberflächenerscheinungen der Gesellschaft – z. B. empirisch der Resultate staatlicher Entscheidungen, Gesetze und auch des konkreten Handelns von Gerichten, Behörden, Polizei und anderen ehrwürdigen Institutionen – wird rasch klar, dass  die Ideologie der Gleichheit, die die kapitalistische Warenproduktion notwendigerweise erzeugt und reproduziert und als deren Sachwalter der Staat erscheint, mit der Reproduktion und Verstärkung der reellen Ungleichheit einhergeht, wenn auch in einer durchaus elastischen Form.

Das liegt einerseits an den Kämpfen der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten, die progressive Reformen und eine Ausdehnung demokratischer Rechte erzwingen können, freilich ohne dass dabei die klassenspezifische Substanz des Staatsapparates berührt wird. Nicht zuletzt durch diesen Druck erweist sich der bürgerliche Staat als  überaus wandlungs- und anpassungsfähig, wenn es darum geht, solche erzwungenen Reformen in das Gesamtsystems zu integrieren und seine Herrschaftsform zu modifizieren. Fast alle bedeutenden gesetzlichen und sozialen Reformen gingen aus sozialen und politischen Konflikten hervor, einschließlich von revolutionären Kämpfen oder BürgerInnenkriegen. Rosa Luxemburg bringt diese Dialektik von Reform und Revolution als eine der Ersten auf den Punkt, wenn sie die gesetzliche Reform als Nebenprodukt, als Resultat des revolutionären Klassenkampfes bestimmt. [xviii]

Die Tatsache, dass solche Reformen durchsetzbar sind, verweist nicht nur darauf, dass der Kampf um Verbesserungen ein notwendiges, wenn auch beschränktes Moment des Klassenkampfes darstellt. Diese Form der Veränderung bildet – ganz ähnlich wie der erfolgreiche gewerkschaftliche Kampf um Verbesserungen – zugleich auch eine Wurzel von Illusionen in die Reformierbarkeit des Gesamtsystems. Die relativ elastische demokratische Herrschaftsform des Kapitals erweist sich als Mittel zur Integration vor allem der Mittelschichten, des KleinbürgerInnentums, aber auch der ArbeiterInnenklasse oder jedenfalls ihrer privilegierteren Schichten ins politische und institutionelle System. Wie Marx und Engels immer wieder verdeutlichen, ändert das jedoch nichts am Klassencharakter des Staates. Auch die demokratischste Republik bleibt eine Form der demokratisch verhüllten Diktatur des Kapitals.

Gerade dass in der demokratischen Republik Unterschiede des Besitzes und des Reichtums offiziell keine Ungleichheit ausmachen sollen und LohnarbeiterInnen und KapitalbesitzerInnen als gleich erscheinen, erweitert die Möglichkeiten zur Integration von Ausgebeuteten und Unterdrückten. So wie das Lohnarbeitsverhältnis selbst eine gewisse „Elastizität“ aufweist, so fließt in die Ausgestaltung des bürgerlichen Staates immer auch ein gesellschaftliches Kräfteverhältnis ein, das seinerseits auch die Vorstellung von dessen scheinbarer Klassenneutralität verstärkt. Damit hängt außerdem zusammen, dass der Staat selbst die allgemeinen Reproduktionsbedingungen des Gesamtkapitals sichern muss, und zwar auch gegen widerstreitende Teile der herrschenden Klasse. Weil sich die Hauptklassen der Gesellschaft aus freien, formell gleichen Individuen, aus WarenbesitzerInnen zusammensetzen, deren Mitglieder selbst in einem Konkurrenzverhältnis stehen (wenn auch in einem für die Klasse der KapitalistInnen und der LohnarbeiterInnen jeweils spezifischen), so muss der Staat notwendigerweise als scheinbar über den Klassen erscheinen.

Ideeller Gesamtkapitalist

Damit der Staat als ideeller Gesamtkapitalist agieren kann, muss er bis zu einem gewissen Grad auch unterschieden sein von der KapitalistInnenklasse oder selbst von deren dominierenden Fraktionen. Mandel führt dies in der Einleitung zu Trotzkis „Schriften über Deutschland“ [xix] recht plastisch anhand der Politik des New Deal aus:

„Die artikulierte Mehrheit der amerikanischen Großbürger schrie Zeter und Mordio über Roosevelts ,New Deal’; sogar Trumans ‚Fair Deal’ wurde mit nicht wenig Geschrei über ‚schleichenden Sozialismus’ beantwortet. Aber kein objektiver Beobachter der Entwicklung der amerikanischen Wirtschaft und Gesellschaft der letzten 35 Jahre könnte heute bestreiten, daß sich in dieser Epoche die Akkumulation des Kapitals erweitert und nicht eingeschränkt hat; daß die amerikanischen Großkonzerne unvergleichbar reicher und mächtiger geworden sind, als sie in den zwanziger Jahren waren; daß die Bereitschaft anderer Gesellschaftsklassen – hauptsächlich der Industriearbeiterschaft – die Herrschaft dieser Konzerne unmittelbar gesellschaftlich und politisch in Frage zu stellen, geringer geworden ist, als sie während und sofort nach der großen Wirtschaftskrise war.“ [xx]

Ob der New Deal dem Interesse des US-amerikanischen Gesamtkapitals entspricht, zeigt sich nicht daran, ob alle oder selbst die Mehrheit der Konzerne diesem von Beginn an zustimmt. Im Gegenteil. Da das Kapital als konkurrierende Einzelkapitale in Erscheinung treten muss, erfordert die Herausbildung eines Gesamtinteresses der Klasse einen politischen, staatlichen Vermittlungsprozess, der notfalls auch gegen die unmittelbaren Einzelinteressen durchgesetzt werden muss.

Internationaler Charakter

Abschließend müssen wir beim Marx’schen Begriff der bürgerlichen Gesellschaftsformation darauf eingehen, dass diese (auch im Unterschied zu vorhergehenden) immer schon als globale betrachtet und gedacht werden muss. Dieser Gedanke wird bereits im Kommunistischen Manifest betont, wo Marx und Engels darauf verweisen, dass eine Besonderheit des Kapitalismus und dessen historisch fortschrittliche Mission gerade darin bestehen, dass sich die Bourgeoisie im Unterschied zu vorhergehenden herrschenden Klassen revolutionär gegenüber vorkapitalistischen Produktionsweisen verhält. Es gehört zum Wesen des Kapitals, diese zurückzudrängen, zu zerstören. Es drängt zur globalen Expansion, nistet sich ein, überwindet chinesische Mauern.

„Die Entdeckung Amerikas, die Umschiffung Afrikas schufen der aufkommenden Bourgeoisie ein neues Terrain. Der ostindische und chinesische Markt, die Kolonisierung von Amerika, der Austausch mit den Kolonien, die Vermehrung der Tauschmittel und der Waren überhaupt gaben dem Handel, der Schiffahrt, der Industrie einen nie gekannten Aufschwung und damit dem revolutionären Element in der zerfallenden feudalen Gesellschaft eine rasche Entwicklung.“ [xxi]

In den Grundrissen legt Marx dar, dass der Weltmarkt im Begriff des Kapitals eingeschrieben ist, von diesem vorausgesetzt und geschaffen wird. „Wie das Kapital daher einerseits die Tendenz hat, stets mehr Surplusarbeit zu schaffen, so die ergänzende, mehr Austauschpunkte zu schaffen; d. h. hier vom Standpunkt des absoluten Mehrwerts oder Surplusarbeit aus, mehr Surplusarbeit als Ergänzung zu sich selbst hervorzurufen, au fond (im Grunde) die auf dem Kapital basierte Produktion oder die ihm entsprechende Produktionsweise zu propagieren. Die Tendenz, den Weltmarkt zu schaffen, ist unmittelbar im Begriff des Kapitals selbst gegeben.“ [xxii]

Die Tendenz zur Schaffung des Weltmarktes, das „propagandistische“ Wirken des Kapitals prägt seine Entwicklung von Beginn an. Die koloniale Expansion, die „Entdeckung“ Lateinamerikas und von dessen Reichtümern verleiht der Ausbreitung des Kapitalismus in England einen mächtigen Impuls, der durch die bloß innere Akkumulation viel langsamer und langwieriger erfolgt wäre. Im Unterkapitel „Genesis des industriellen Kapitalisten“, Teil der Abhandlung über die sog. ursprüngliche Akkumulation im Ersten Band des „Kapital“, verweist Marx darauf, dass sich die Genesis der/s industriellen KapitalistIn in einem engen Zusammenhang mit dem Weltmarkt vollzog:

„Die Genesis des industriellen Kapitalisten ging nicht in derselben allmählichen Weise vor wie die des Pächters. Zweifelsohne verwandelten sich manche kleine Zunftmeister und noch mehr selbständige kleine Handwerker oder auch Lohnarbeiter in kleine Kapitalisten und durch allmählich ausgedehntere Exploitation von Lohnarbeit und entsprechende Akkumulation in Kapitalisten sans phrase (schlechthin). In der Kindheitsperiode der kapitalistischen Produktion ging’s vielfach zu wie in der Kindheitsperiode des mittelaltrigen Städtewesens, wo die Frage, wer von den entlaufnen Leibeignen soll Meister sein und wer Diener, großenteils durch das frühere oder spätere Datum ihrer Flucht entschieden wurde. Indes entsprach der Schneckengang dieser Methode in keiner Weise den Handelsbedürfnissen des neuen Weltmarkts, welchen die großen Entdeckungen Ende des 15. Jahrhunderts geschaffen hatten.“ [xxiii]

Vielmehr erlaubt die koloniale Plünderung, also die Herausbildung eines Weltmarktes – vermittelt über die Entwicklung des Wucher- und Handelskapitals – eine extreme Beschleunigung der Akkumulation der Industrie, die Schaffung der eigentlichen kapitalistischen Produktionsweise in jenen Ländern wie England, wo die feudalen Verhältnisse auf dem Land bereits aufgelöst oder jedenfalls in Auflösung begriffen waren, eine disponible Klasse doppelt freier LohnarbeiterInnen zur Verfügung stand. Marx bringt die Verhältnisse sarkastisch auf den Punkt:

„Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation. Auf dem Fuß folgt der Handelskrieg der europäischen Nationen, mit dem Erdrund als Schauplatz. Er wird eröffnet durch den Abfall der Niederlande von Spanien, nimmt Riesenumfang an in Englands Antijakobinerkrieg, spielt noch fort in den Opiumkriegen gegen China usw.

Die verschiednen Momente der ursprünglichen Akkumulation verteilen sich nun, mehr oder minder in zeitlicher Reihenfolge, namentlich auf Spanien, Portugal, Holland, Frankreich und England. In England werden sie Ende des 17. Jahrhunderts systematisch zusammengefaßt im Kolonialsystem, Staatsschuldensystem, modernen Steuersystem und Protektionssystem. Diese Methoden beruhn zum Teil auf brutalster Gewalt, z. B. das Kolonialsystem. Alle aber benutzten die Staatsmacht, die konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft, um den Verwandlungsprozeß der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern und die Übergänge abzukürzen. Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz.“ [xxiv]

Die Schaffung einer universellen, die Partikularität vorhergehender Produktionsweisen überwindenden, auf den Weltmarkt bezogenen Produktionsweise stellt für Marx und Engels einen historischen Fortschritt dar – trotz des von ihnen geschilderten, notwendigerweise extrem brutalen und gewalttätigen Prozesses in Bezug auf die Herausbildung der ArbeiterInnenklasse und der kolonialen Ausbeutung. Der Kern des geschichtlichen Fortschritts besteht für Marx nämlich nicht in der Schaffung einer kapitalistischen Ökonomie und der bürgerlichen Gesellschaft als solcher, sondern darin, dass dies eine notwendige Voraussetzung für die Schaffung einer zukünftigen universellen Entwicklung der Menschen ist. [xxv]

Die Frage der Expansion des Kapitalverhältnisses und des Weltmarkts inkludiert daher auch in einem anderen Sinn ein grundlegend historisches Moment. Sobald es sich gemäß seiner eigenen technischen Grundlage – der großen Industrie – durchgesetzt hat und der Weltmarkt etabliert ist, hört die Bourgeoisie auf, eine fortschrittliche Klasse zu sein. Die Welt ist unter die großen Kapitale und Mächte aufgeteilt, die ihrerseits auch den Eintritt und die Form der Weltmarktintegration der sog. Dritten Welt bestimmen.

Alle marxistischen Imperialismustheorien beziehen sich im Grunde auf ein solches, historisches Stadium der kapitalistischen Gesellschaftsformation, mögen ihre Erklärungsansätze auch sehr verschieden sein. Auch eine Aktualisierung und Weiterentwicklung der Lenin’schen Imperialismustheorie muss vom internationalen Charakter des Kapitalismus ausgehen – oder sie ist im Voraus zum Scheitern verurteilt.

Obiges Zitat enthält schließlich auch die zentralen Elemente der Marx’schen Revolutionstheorie und den historisch-spezifischen Charakter der proletarischen Revolution. Die bürgerliche Gesellschaft bildet den Abschluss der „Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft“, die kapitalistische die letzte antagonistische Form des Produktionsprozesses. Damit ist auch die zentrale Rolle der klassenbewussten Organisierung des Proletariats grundgelegt – die Formierung der revolutionären Partei.

3. Kapitalbegriff, Krisentheorie und Imperialismus

Marx’ politischer Ökonomie geht es u. a. darum, die Notwendigkeit der Verschärfung der inneren Widersprüche des Kapitalismus darzulegen, die Notwendigkeit der Krise, der Lösung, Aufhebung dieser inneren Widersprüche der Gesellschaftsformation.

Dem Kapitalbegriff von Marx ist daher die Möglichkeit und Notwendigkeit der Krise immanent, nichts von außen Hineingetragenes. Vielmehr legt er nicht nur die Unvermeidbarkeit der Krisen, sondern auch die in der widersprüchlichen Kapitalbewegung angelegten Tendenzen zur Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise dar.

Im ersten Band leitet er die historischen Entwicklungstendenzen des Kapitals her:

„Je ein Kapitalist schlägt viele tot. Hand in Hand mit dieser Zentralisation oder der Expropriation vieler Kapitalisten durch wenige entwickelt sich die kooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter, die bewußte technische Anwendung der Wissenschaft, die planmäßige Ausbeutung der Erde, die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel, die Ökonomisierung aller Produktionsmittel durch ihren Gebrauch als Produktionsmittel kombinierter, gesellschaftlicher Arbeit, die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts und damit der internationale Charakter des kapitalistischen Regimes. Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“ [xxvi]

In diesem Zitat wird schon deutlich, dass das Kapital selbst die eigentliche Schranke der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise ist.

„Die kapitalistische Produktion strebt beständig, diese ihr immanenten Schranken zu überwinden, aber sie überwindet sie nur durch Mittel, die ihr diese Schranken aufs neue und auf gewaltigerm Maßstab entgegenstellen.

Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst, ist dies: daß das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint; daß die Produktion nur Produktion für das Kapital ist und nicht umgekehrt die Produktionsmittel bloße Mittel für eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten sind. Die Schranken, denen sich die Erhaltung und Verwertung des Kapitalwerts, die auf der Enteignung und Verarmung der großen Masse der Produzenten beruht, allein bewegen kann, diese Schranken treten daher beständig in Widerspruch mit den Produktionsmethoden, die das Kapital zu seinen Zwecken anwenden muß und die auf die unbeschränkte Vermehrung der Produktion, auf die Produktion als Selbstzweck, auf unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit lossteuern. Das Mittel – unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte – gerät in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck, der Verwertung des vorhandnen Kapitals. Wenn daher die kapitalistische Produktionsweise ein historisches Mittel ist, um die materielle Produktivkraft zu entwickeln und den ihr entsprechenden Weltmarkt zu schaffen, ist sie zugleich der beständige Widerspruch zwischen dieser ihrer historischen Aufgabe und den ihr entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen.“ [xxvii]

In diesen wie in vielen anderen Passagen von Marx und Engels zeigt sich, dass die Marx’sche Theorie im Kern eine Krisentheorie darstellt. Die Produktionsweise strebt auf das Eklatieren ihrer inneren Widersprüche zu. Entscheidend ist dabei, dass die Entwicklung der Produktivkräfte an einem bestimmten Punkt selbst zu einer Schranke für die weitere Verwertung des Kapitals wird, dass sie, wie es Marx in den Grundrissen ausdrückt, „die Selbstverwertung des Kapitals aufhebt, statt sie zu setzen.“ [xxviii]

Der tendenzielle Fall der Profitrate führt dazu, dass ab einem bestimmten Punkt der Stachel der Akkumulation erlahmt, die Verwertung des neu geschaffenen Profits nicht mehr profitabel erscheint für das Gesamtkapital – Stagnation und Krise sind die Folge, deren einziger Ausweg in der Vernichtung überschüssigen Kapitals besteht. Dies zeigt für Marx zugleich die historischen Grenzen, die Überholtheit der kapitalistischen Produktionsweise selbst an und die Notwendigkeit, die gesellschaftliche Produktion der Kontrolle der Bourgeoisie zu entreißen und in bewusster Form zu gestalten.

„In schneidenden Widersprüchen, Krisen, Krämpfen drückt sich die wachsende Unangemessenheit der produktiven Entwicklung der Gesellschaft zu ihren bisherigen Produktionsverhältnissen aus. Gewaltsame Vernichtung von Kapital, nicht durch ihm äußere Verhältnisse, sondern als Bedingung seiner Selbsterhaltung, ist die schlagendste Form, worin ihm advice (Rat) gegeben wird, to be gone and to give room to a higher stage of social production (abzutreten und einem höheren Stadium der gesellschaftlichen Produktion Raum zu geben).“ [xxix]

In diesem Sinne vertritt Marx durchaus eine Zusammenbruchstheorie oder kann man von einer Tendenz zum Zusammenbruch sprechen, die immer wieder historische Krisen nicht nur der Akkumulation, sondern der gesamten Gesellschaftsformation hervorbringt. In seiner Arbeit „Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital’“ würdigt Roman Rosdolsky nicht nur zu Recht die Verdienste von Luxemburg und Grossmann bei der Verteidigung der Marx’schen Theorie und verweist auf die Ursachen der Angriffe auf die „Zusammenbruchstheorie“: „Die Behauptung, Marx hätte keine ‚Zusammenbruchstheorie’ aufgestellt, ist wohl vor allem auf die revisionistische Auslegung des Marxschen ökonomischen Systems vor und nach dem ersten Weltkrieg zurückzuführen.“ [xxx]

Zweifellos wurde die „Kritik“ an der sog. Zusammenbruchstheorie auch dadurch gerechtfertigt, dass ihren VertreterInnen unterstellt wurde, dass sie nicht nur von einer Krisentendenz ausgegangen seien, sondern auch deren Unüberwindbarkeit oder eine unvermeidliche Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus unterstellen würden.

Im marxistischen Verständnis bedeuten solche Krisen oder Krisenperioden jedoch keinesfalls, dass es einen rein ökonomisch fixierbaren Endpunkt des Kapitalismus gibt oder auch nur geben könne. Ein Zusammenbruch stellt immer eine zeitlich begrenzte Phase dar, die auf verschiedenen Wegen möglich ist. Erstens durch eine massive Kapitalvernichtung und eine Neuordnung der Verhältnisse durch die herrschende Klasse – und sei es durch den Gebrauch barbarischer Mittel wie Krieg, Eroberung, diktatorische oder gar faschistische Herrschaft. Zweitens die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft durch eine sozialistische Weltrevolution, also die fortschrittliche Aufhebung der inneren Widersprüche, wie sie Marx skizziert. Drittens kann eine historische Krise mit der Vernichtung der Hauptklassen der Gesellschaft und deren Regression in die Barbarei (oder im Extremfall der Vernichtung der Menschheit oder ihrer natürlichen Lebensgrundlagen) enden. Allein das verweist auf die entscheidende Bedeutung des subjektiven Faktors, der Entwicklung von revolutionärer Organisation und des Klassenbewusstseins für eine gesellschaftliche Umwälzung.

Daher kann sich eine revolutionäre Theorie der Gesellschaft niemals nur auf die Enthüllung der inneren Bewegungsgesetze der Kapitalismus beschränken, sondern sie muss die Notwendigkeit ihrer Verschärfung und der schließlichen revolutionären Aufhebung dieser Widersprüche ins Zentrum rücken. Jede marxistische Imperialismustheorie ist daher notwendig eine Theorie über die Niedergangsepoche des Kapitalismus, der Verschärfung seiner inneren Widersprüche.

Alle Imperialismustheorien, die revolutionären und marxistischen Anspruch erheben, müssen daher an der von Marx im Kapital entwickelten inneren Krisenhaftigkeit des Kapitalismus festhalten. Alle AutorInnen der klassischen Imperialismustheorie der II. und III. Internationale erheben diesen Anspruch, verteidigen ihn und versuchen, ihn zur Geltung zu bringen. Aber alle offenbaren auch bedeutende Schwächen, wenn es darum geht, diesen Anspruch einzulösen. So vermag z. B. keine der klassischen Imperialismustheorien, das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate zu integrieren, geschweige denn seinen zentralen Charakter für die Marx’sche Krisentheorie aufzunehmen. Im Folgenden wollen wir auch daher noch einmal einige zentrale Momente des Kapitalbegriffs darstellen, die auch Ansatzpunkte für ein Verständnis des Imperialismus bilden.

Zentrale Momente des Kapitalbegriffs

Erstens ist im Marx’schen Kapitalbegriff, wie wir gesehen haben, immer schon inkludiert, dass der Kapitalismus seinem Wesen nach eine internationale, auf den Weltmarkt bezogene Produktionsweise darstellt. In der Schaffung des Weltmarktes, dem Niederreißen vorhergehender Produktionsweisen, der Verwandlung aller Nationen in bürgerliche besteht schließlich eine der unbestritten progressiven Leistungen der kapitalistischen Produktionsweise und die weltgeschichtlich revolutionäre Rolle der Bourgeoisie in der Früh- und Blütezeit des Kapitalismus.

Zweitens verhält sich das Kapital, anders als vorhergehende Produktionsweisen, zur technischen Grundlage der Produktion und zu den Produktivkräften revolutionär, wälzt diese im Hunger auf die Aneignung von Mehrwert ständig um. Marx zeigt, dass sich dieser Mechanismus aus dem Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital, aus der Begrenztheit der Möglichkeiten zur Steigerung der absoluten Mehrwertrate und der Notwendigkeit der Steigerung des relativen Mehrwerts ergibt. Daraus folgt notwendigerweise auch immer, dass die ArbeiterInnenklasse selbst beständig „umgewälzt“ wird und permanenter Veränderung unterliegt. Der Klassenkampf, der Kampf um die Höhe des Mehrwerts bildet ein integrales Element des Kapitalbegriffs selbst und nichts von außen, „exogen“ Hineingetragenes.

Die ständige Erhöhung der Produktivität der Arbeit drückt sich in einer fortschreitenden höheren organischen Zusammensetzung des Kapitals und einer Tendenz zum Fallen der Profitrate aus – selbst ein Ausdruck der historischen Tendenzen der Akkumulation.

Drittens – und als ein Resultat davon – führt die Entwicklung des Kapitalismus zu einer ständigen größeren Anhäufung des Kapitals, zu seiner fortschreitenden Zentralisation und Konzentration. Ein/e KapitalistIn schlägt die/den andere/n tot. Die Konkurrenz ist die Form, in der sich die inneren Gesetzmäßigkeiten des Kapitals manifestieren müssen.

Viertens entdeckt Marx die Bedeutung des industriellen Zyklus für die ständige Umwälzung und Erneuerung der technischen Grundlage der Produktion, als Basis einer neuen, erweiterten Grundlage der Akkumulation, einer dynamischen Form der Reproduktion der Widersprüche im Kapitalismus. Das „Bett“ der Dynamik des industriellen Zyklus bildet die Reproduktionsdauer der Masse des fixen Kapitals, die auch eine durchschnittliche Länge des Zyklus von 7 bis 10 Jahren konstituiert.

Das Marx’sche Verständnis des industriellen Zyklus enthält ein wichtiges Spezifikum, das es von bürgerlichen Theorien unterscheidet. Die verschiedenen Momente des Zyklus kulminieren in der Krise, dem „Ende eines Zyklus und Ausgangspunkt eines neuen“ [xxxi], dem bestimmenden Moment des Zyklus. In ihr zeigt sich die Einheit der in den anderen Phasen des Zyklus gegeneinander verselbstständigten Elemente. In ihr konzentrieren sich die Widersprüche der Kapitalbewegung und kommen eruptiv zum Ausbruch.

Fünftens muss das Kapital zur „Lösung“ seiner inneren Widersprüche, zum Entgegenwirken gegen den Fall der Profitrate, zur Aufrechterhaltung der Akkumulationsdynamik und zur weiteren Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion im Kapitalismus Rechnung tragen. Es muss selbst mehr und mehr zu gesellschaftlichen Formen – Formen, die das Kapital auf dem Boden des Kapitalismus negieren – zurückgreifen: Aktienkapital, Kredit, Verstaatlichung.

Dahinter manifestiert sich nichts anderes als der grundlegende Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise: gesellschaftliche Produktion bei fortgesetzter privater Aneignung. Oben genannte Formen „gesellschaftlichen Kapitals“ lösen diesen Widerspruch nicht, sondern treiben ihn vielmehr auf die Spitze. Sie rufen nach ihrer Überwindung durch die proletarische Revolution.

Marx und Engels arbeiten nicht nur in der Analyse des Kapitals, sondern auch in den konkreten Betrachtungen der Entwicklung in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern heraus, dass die innere Entwicklung des Kapitals wie auch die Politik der herrschenden Klasse mehr und mehr zu solchen „Übergangsformen“ führen, dass sich eine Veränderung der Entwicklungsrichtung des Kapitalismus selbst abzeichnet. Scharfsinnig beobachten sie deren Ausprägungen im 19. Jahrhundert.

Für Marx und Engels stellen die Ausdehnung des Aktienkapitals und andere gesellschaftliche Formen des Kapitals, seine weitere Konzentration und Zentralisation sowie die Entstehung des Finanzkapitals Zeichen dieser Entwicklung dar, um Schranken für die Entwicklung der Produktivkräfte zu überwinden. Sie sind nicht nur Ausdruck dafür, dass das Kapital auf Grenzen seiner Entwicklungsmöglichkeiten trifft, sondern bilden zugleich Austragungsformen dieses Widerspruchs. Sie verweisen darauf, dass die Bourgeoisie selbst mehr und mehr auf den Staat und solche gesellschaftlichen Formen des Kapitals zurückgreifen muss, die dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion indirekt Rechnung tragen. In der imperialistischen Epoche schlagen sie in ihrer Gesamtheit in ihr Gegenteil um. Das Finanzkapital wird selbst zu einer Fessel der Entwicklung der Produktivkräfte und der Gesellschaft.

Sechstens sind das Finanzkapital und seine immer ausufernder werdende Bedeutung genauso wenig ein „Abirren“ der kapitalistischen Entwicklungsgeschichte wie Finanzkrisen zufällige Spekulationsverirrungen darstellen, die mit den sonstigen Krisentendenzen nicht verbunden wären. Vielmehr stellt das zinstragende Kapital die höchste Stufe der Entwicklung der Wertform der Arbeitsprodukte dar: Der Titel auf verwertbares Eigentum selbst wird zum Grund der Aneignung von Mehrwert, unbeschadet des unmittelbaren Kommandos über den zugrundeliegenden Produktionsprozess. Die Verwandlung von Geld in mehr Geld (G – G‘), die Bewegungsform des zinstragenden Kapitals, drückt in praktischer Weise die widerspruchsvolle Schrankenlosigkeit der Kapitalverwertungsbewegung aus, die sich von ihren materiellen Bedingungen in realen, produktiven Kapitalverwertungsbedingungen zu lösen versucht. Mit der notwendigen Dopplung von Kapital in Geldkapital und Unternehmensführung wird ein bestimmter Teil der Kapitalistenklasse, trotz seiner besonderen Verwertungsinteressen als Finanzkapital, gleichzeitig in gesellschaftlicher Form zum Vertreter der Verwertungsinteressen des Gesamtkapitals:

„Es kommt hinzu, daß mit Entwicklung der großen Industrie das Geldkapital mehr und mehr (…) nicht vom einzelnen Kapitalisten vertreten wird, (…) sondern als konzentrierte, organisierte Masse auftritt, die ganz anders als die reelle Produktion unter die Kontrolle der das gesellschaftliche Kapital vertretenden Bankiers gestellt ist“. [xxxii]

In der imperialistischen Epoche erscheinen die Finanzkapitale wie riesige „Planungsagenturen“, die auf Basis der Renditeziele ihrer AnlegerInnen mit ihrem Buchgeld riesige Industrie- und Handelsunternehmen auf- und abbauen, umstrukturieren, neu zusammensetzen etc. Selbst wenn die realen Verwertungsbedingungen es nicht mehr hergeben, können mit Hilfe ihrer Kreditmacht noch lange Renditen simuliert werden, im Versprechen auf sagenhafte zukünftige Profite. Auf diese Weise kann das Finanzkapital die industriellen Zyklen und Krisenperioden überlagernde Finanzmarktzyklen initiieren, die den zugrundeliegenden Krisentendenzen zeitweise entgegenwirken. Damit wird die Finanzkrise (Kreditklemme, Geldkrise, Banken- und Firmenzusammenbrüche in großem Umfang,…) zum notwendigen Moment der Krisen- und Zusammenbruchstendenz im Imperialismus. Mit der Finanzkrise wandelt sich der Finanzmarktzyklus von einer entgegenwirkenden, zu einer verstärkenden Tendenz der Kapitalverwertungsprobleme. Im Allgemeinen kündigen daher Finanzkrisen einen Periodenwechsel an (auch wenn dies nicht unmittelbar erfolgen muss).

Siebtens entwickeln sich mit dem Weltmarkt auch Weltmarktzyklen und -krisen. Ihre Bedeutung kann schwerlich überschätzt werden. „Die Weltmarktkrisen müssen als die reale Zusammenfassung und gewaltsame Ausgleichung aller Widersprüche der bürgerlichen Ökonomie gefaßt werden.“ [xxxiii]

Mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, des internationalen Handels und des Kapitalverkehrs nimmt auch das Gewicht der Weltmarktbewegungen für die industriellen Zyklen der jeweiligen Nationalökonomien zu, die selbst integrale Bestandteile des Weltmarktes bilden. Dieser stellt dabei nicht bloß eine Summe nationaler Märkte und Ökonomien dar, sondern bildet eine seine Teile bestimmende Realität. Wie sehr die nationalen industriellen Zyklen synchronisiert werden und einen einheitlichen Weltmarktzyklus bilden, stellt einen widersprüchlichen Prozess dar, weil das Kapital zwar einerseits zur Überwindung nationaler Barrieren drängt, andererseits die Kapitalbildung jedoch immer auf einen Nationalstaat bezogen ist. Mit der Entwicklung des Imperialismus verstetigt sich zudem die von den Metropolen und dort gebildetem Großkapital dominierte, hierarchische Ordnung der internationalen Ökonomie – ein Widerspruchsverhältnis, das auf Basis des Kapitalismus nicht überwunden werden kann, sondern vielmehr selbst Ausdruck der zunehmenden globalen Vergesellschaftung (internationale Produktionsketten, Ausweitung des Handels, des Austausches zwischen den Nationen, …) des Kapitals einerseits und seiner privaten Aneignung und damit einhergehender bornierter Zwecksetzung andererseits ist.

Achtens geht die Entwicklung der Akkumulation des Kapitals immer mit der Unterminierung und tendenziellen Zerstörung der beiden Quellen des gesellschaftlichen Eigentums einher – der lebendigen Arbeit und der natürlichen Lebensgrundlagen der Gattung Mensch. Dem Kapitalismus ist die Tendenz zur Verelendung der ausgebeuteten Klasse der Lohnabhängigen immanent. Ohne ökonomischen Kampf und den politischen Kampf um gesetzliche Schranken der Ausbeutung könnte die ArbeiterInnenklasse auf Dauer nicht einmal den Preis der Ware Arbeitskraft und somit ihre eigene Reproduktion sichern. Doch nicht nur sie ist einer ständigen Tendenz zur Zerstörung ihrer eigenen Lebensbedingungen unterworfen.

Der Kapitalismus untergräbt notwendigerweise auch die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit selbst – und zwar nicht erst seit der, spätestens in den 1970er Jahren immer offenkundiger gewordenen, Drohung einer ökologischen Katastrophe. Marx weist diesen immanenten, zerstörerischen Charakter der Produktionsweise schon im Kapital nach. [xxxiv] Er verweist aber auch schon darauf, dass die kapitalistische Produktionsweise nicht nur die Klasse hervorbringt, die die zunehmend gesellschaftliche Produktion rational organisieren kann, sondern auch die Voraussetzungen für eine vernünftige Ausgestaltung des Mensch-Natur-Verhältnisses schafft – die Entwicklung der großen Industrie und der Naturwissenschaft. Doch so wie die Produktivkräfte der Menschheit letztlich von den Schranken der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse befreit werden müssen, so kann auch nur auf Grundlage einer bewusst gesellschaftlichen Planung ein rationales Verhältnis der Menschheit im Umgang mit ihren natürlichen Lebensgrundlagen etabliert werden.

Neuntens ist die gesamte Kapitalismustheorie von Marx untrennbar mit seiner Revolutionstheorie verbunden. Die Analyse des Kapitals und seiner inneren Bewegung zeigt die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution. Zu ihr drängt die kapitalistische Entwicklung selbst, weil der Sozialismus die einzige Lösungsform ist, in der die gesellschaftliche Entwicklung, die der Kapitalismus mit sich gebracht hat, überhaupt rational gebändigt und auf eine höhere Stufe gehoben werden kann.

In ihrer Analyse des Kapitals und der bürgerlichen Gesellschaft weisen Marx und Engels zugleich die spezifischen Elemente der proletarischen, der sozialistischen Umwälzung nach. Bekanntlich sind die vorherrschenden Gedanken – auch der beherrschten Klassen – in jeder geschichtlichen Formation jene der Herrschenden.

Im Kapitalismus werden diese auf besondere Weise geprägt. Die Wertform bringt auch eigene Formen der Ideologie hervor, objektive ideologische Gedankenformen. Die Lohnform, die Vorstellung vom „gerechten Lohn“ etc. prägen das Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse unwillkürlich. In ihr verschwindet scheinbar die Mehrarbeit, der Mehrwert. Es erscheint, als würde der/die KapitalistIn nicht nur die notwendige, sondern die ganze Arbeit bezahlen. Auf solchen Formen – selbst Resultat der formalen rechtlichen Gleichheit des/r ArbeiterIn und KapitalistIn als WarenbesitzerInnen – baut eine ganze weitere Kette von Ideologien, Fetischformen auf. So z. B. den Staats- und Demokratiefetisch, also den Schein, dass „die Demokratie“, der „Staat“, „die Menschenrechte“ keine Herrschaftsformen oder Ideologien einer bestimmten Klasse wären, sondern über diesen stünden.

Während die Bourgeoisie als „Mittelklasse“ der feudalen Gesellschaft ihre Produktionsweise schon in deren Poren hervorbringt, in der Periode der absoluten Monarchie, sich in einer geschichtlichen Übergangsepoche im Bund mit dem Monarchen mehr und mehr herausbildet und mit dieser Entwicklung ihre spezifische Produktionsweise entfaltet, während der Adel mehr und mehr in Abhängigkeit und eine miserable Lage gerät, kann die ArbeiterInnenklasse „ihre“ zukünftige Produktionsweise nicht im Rahmen des Kapitalismus etablieren. Entwickelt, vorbereitet werden „nur“ die Produktivkräfte, die Technik, Verkehrsformen und vor allem nicht zuletzt die gesellschaftliche Gesamtarbeit selbst, die reale Lenkung der Produktion und Reproduktion der Gesellschaft durch die ArbeiterInnenklasse selbst.

Im Kapitalismus – und in der imperialistischen Epoche wird das sozusagen auf die Spitze getrieben – geht diese Entwicklung einher mit immer stärkerer Subsumtion der Arbeit unter das Kapital, immer manifester werdender Herrschaft der toten über die lebendige Arbeit. Diese Hülle, dieses Hemmnis der gesellschaftlichen Entwicklung kann nur durch die bewusste revolutionäre Aktion der Klasse gesprengt werden.

Anders herum, die Frage des Bewusstseins hat eine qualitative andere Bedeutung in der proletarischen Revolution als in der bürgerlichen. Natürlich bildeten auch die revolutionären VertreterInnen der Bourgeoisie (oft sozial gesehen radikale Angehörige des KleinbürgerInnentums) gegen den Feudaladel und seine AnhängerInnen revolutionäre Organisationen (Clubs, Parteien, Vereinigungen usw.) und brachten radikale, bürgerlich-revolutionäre Ideologien hervor, indem sie an Reformation und Aufklärung anknüpften. Aber sie konnten sich der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie kämpften, keinesfalls voll bewusst werden, ja, sie bedurften, wie Marx in „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“[xxxv] anmerkt, einer gewissen (Selbst-)Täuschung, um die weltgeschichtliche Umwälzung überhaupt durchführen zu können, die zum Sieg des Kapitals führte.

Sie mussten sich diese notwendigerweise ideologisch verkleistern, weil die gesellschaftlichen Bedingungen und ihr eigenes gesellschaftliches Sein dafür noch zu unreif waren – was natürlich auch auf die mehr oder minder utopischen oder radikalen, über die bürgerlichen Kräfte hinausgehenden Ideologien und gesellschaftlichen Visionen der Unterklassen, der Verbündeten der Bourgeoisie zutrifft. Die weltgeschichtliche Selbsttäuschung, der Heroismus der bürgerlichen Revolutionen, ihr Bezug auf imaginierte oder stilisierte Idole der Vergangenheit – seien es das Alte Testament in der Englischen oder die römische Republik in der Französischen Revolution – waren notwendig, damit die Volksmasse, die plebejischen Schichten der Bevölkerung überhaupt mobilisiert werden konnten. Mit der Konsolidierung der bürgerlichen Verhältnisse und der notwendigen Enttäuschung darüber, dass sie sich nicht als Befreiung der Menschheit, sondern als Herrschaft des Kapitals entpuppten, verschwand regelmäßig das Pathos.

Die proletarische Revolution bedarf solcher Verkleisterungen nicht mehr, ja, sie sind für sie schädlich, blenden sie doch nur die eigene Klasse und ihre besten KämpferInnen.

„Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus.“ [xxxvi]

Die ArbeiterInnenklasse kann sich nur befreien, wenn sie selbst die gesamte Gesellschaft von einem mehr oder weniger blinden, scheinbar automatischen, sich als wirtschaftlicher „Sachzwang“ manifestierenden Reproduktionszusammenhang befreit, das Verhältnis der Menschen zueinander und zur Natur bewusst und vernünftig reguliert. Zum Sozialismus und erst recht zum Kommunismus kann das Proletariat nur bewusst kommen, nur indem es sich als Klasse für sich konstituiert, sein eigenes Verschwinden als besondere Klasse vorbereitet und bewusst herbeiführt.

Diese Umgestaltung kann nur durchgeführt werden, wenn sich das Proletariat aller zentralen Produktionsmittel der Gesellschaft bemächtigt, die Staatsmacht ergreift und seine eigene Herrschaft ausübt. Nur so kann es den kapitalistischen Produktionsprozess umstrukturieren und zugleich konterrevolutionären Umstürzen vorbeugen.

Daraus ergibt sich aber auch, dass es eine ganze Periode der proletarischen Herrschaft, der Umwälzung zu einer sozialistischen Gesellschaft braucht, der Diktatur des Proletariats, in der „alte“ und „neue“, sich erst entwickelnde, Gesellschaftsformation im Überlebenskampf stehen, in der der Entscheidungskampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus ausgefochten wird.

Wie aber kann nun das Proletariat als Klasse, dessen Dasein zwar tagtäglich zum Kampf mit dem Kapital zwingt und zum Sozialismus drängt, dessen Bewusstsein jedoch „spontan“ bürgerlich ist, zu einer revolutionären Klasse werden, von einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich?

Indem seine bewusstesten Elemente, also die TrägerInnen des Gesamtinteresses der Klasse, zu einer politischen Kampforganisation verschmelzen. Eine solche Partei muss auf einem wissenschaftlich fundierten Programm basieren. Sie muss den anderen Parteien der ArbeiterInnenklasse die Einsicht in die historischen Ziele, den allgemeinen Werdegang usw. der Bewegung voraushaben. Sie selbst stellt die Verbindung von revolutionärer Theorie und Avantgarde dar. Die Partei ist das Vermittelnde in der Bewegung der Klasse von einer Klasse an sich zu einer für sich. Ohne revolutionäre Partei kann diese Verbindung nicht geschaffen werden und ist damit auch die Herausbildung einer in der ArbeiterInnenklasse wirkenden und verwurzelten Trägerin von Klassenbewusstsein, einer bewussten Vertreterin von revolutionärer Strategie, Taktik, Programmatik unmöglich. Ohne Herausbildung dieses bewussten Elements bleibt freilich auch die proletarische Revolution und die Transformation zum Sozialismus eine Utopie, eine Unmöglichkeit.

Schließlich geht Marx’ Revolutionstheorie – wie schon seine Kapitalanalyse – immer vom internationalen Charakter des Klassenkampfes aus. Die zukünftige sozialistische (und kommunistische) Gesellschaft kann nur international sein, oder sie ist nicht. Daher geht es vom Bund der Kommunisten, über die Erste Internationale bis zur Zweiten Internationale nie um die Formierung bloß nationaler Parteien, sondern immer um den Aufbau einer Internationale der ArbeiterInnenklasse.

4. Lenins Imperialismustheorie und die Bedeutung seines Begriffs der Epoche

Grundsätzlich liegt Lenins Imperialismustheorie das Marx’sche Kapitalismus- und Revolutionsverständnis zugrunde. Die Politik des Bolschewismus, der Kampf der internationalistischen Linken in der Zweiten Internationale, die revolutionären GegnerInnen der Burgfriedenspolitik und vor allem die frühe Dritte Internationale versuchen bewusst, an einen „unverfälschten“, vom Schematismus der Zweiten Internationalen befreiten Marxismus anzuknüpfen und diesen in einer neuen weltgeschichtlichen Lage herauszuarbeiten und weiterzuentwickeln.

Lenins Theorie kann also nicht isoliert von der geistigen Situation der damaligen internationalen ArbeiterInnenbewegung verstanden werden. Sein Werk kennzeichnet grundsätzlich ein Ringen um marxistische Prinzipien und Theorie, das selbst in Wechselwirkung zu den Arbeiten anderer MarxistInnen der Zweiten Internationale steht, ja, von diesen auch inspiriert ist. So  hebt er selbst an etlichen Stellen, durchaus mit Recht, Hilferding und seine Arbeit „Das Finanzkapital“ [xxxvii] als inhaltlichen Bezugspunkt hervor.

Schon Rosa Luxemburg hatte gefordert: „Daß die Erklärung der ökonomischen Wurzel des Imperialismus speziell aus den Gesetzen der Kapitalakkumulation abgeleitet und mit ihnen in Einklang gebracht werden muß“. [xxxviii] Doch so groß Luxemburgs Verdienste in der Verteidigung der marxistischen Theorie und Positionen in vielen Fragen – nicht zuletzt auch auf dem Gebiet der ökonomischen Theorie – sind, muss festgehalten werden, dass ihre Imperialismustheorie grundlegende methodische Schwächen aufweist und ihrer eigenen Zielsetzung, die „ökonomischen Wurzeln (…) aus den Gesetzen der Kapitalakkumulation“ herzuleiten, gerade nicht erfüllt.

Darauf haben u. a. Roman Rosdolsky in „Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital’“ und Henryk Grossmann in „Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems“ [xxxix] hingewiesen. Grossmann fasst seine Kritik wie folgt zusammen:

„Nicht aus den immanenten Gesetzen der Kapitalakkumulation, aus einer bestimmten Höhe derselben, leitet sie die Notwendigkeit des Untergangs des Kapitalismus ab, sondern aus der transzendenten Tatsache des Fehlens nichtkapitalistischer Länder. War für Marx die Problematik des Kapitalismus mit dem Produktionsprozeß verknüpft, so verlegt Rosa Luxemburg die für die Existenz des Kapitalismus entscheidenden Probleme aus der Produktionssphäre in die Zirkulationssphäre.“ [xl]

Hilferdings „Finanzkapital“ kommt das Verdienst zu, überhaupt den Begriff geprägt, die Formveränderungen des Kapitals und die Entstehung des Finanzkapitals ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt zu haben. Aber seine falsche Geldtheorie, die mit der Marx’schen Werttheorie bricht und unvereinbar ist, führt auch zu eine Blindheit gegenüber den sich weiter verselbstständigenden Formen des fiktiven Kapitals, zu einer Unterschätzung der Bedeutung der Börsen und Aktienmärkte. Nach dem Zusammenbruch der Zweiten Internationale treten auch die offen reformistischen und harmonistischen politischen Schlussfolgerungen zutage, die als theoretische Schwächen schon in seinem Werk angelegt sind.

Die Grundfehler, die sich exemplarisch bei Hilferding und Luxemburg zeigen, hängen mit zwei Faktoren zusammen. Erstens einer falschen Erschließung und Interpretation des Marx’schen Kapitals bzw. zentraler Kategorien; bei Hilferding die Geldtheorie (und damit auch eine Revision der Werttheorie); bei Luxemburg auch ihre Kritik am Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate, ein falsches Verständnis der Reproduktionsschemata und die Ablehnung der Marx’schen Geldtheorie. Diese Fehler stehen in Verbindung mit einem ungenügenden Verständnis der Bedeutung der Abstraktionsebenen in der Methode des „Kapital“, wenn sie z. B. die Reproduktionsschemata des Zweitens Bandes als „leblose“ Darstellung missversteht, weil sie von der Existenz eines Dritten, also anderer Klassen absähen. In Wirklichkeit verkennt Luxemburg, dass es Marx bei den Reproduktionsschemata nicht um einer Darstellung der geschichtlichen Realität, sondern um einen Aspekt in der Entfaltung des Kapitals im Allgemeinen geht.

Für unseren Zusammenhang jedoch noch gewichtiger ist aber der Umstand, dass Hilferding und Luxemburg – sowie der Großteil der nachleninschen Imperialismus- und KrisentheoretikerInnen – keinen umfassenden Begriff der Epoche entwickeln.

Bei Lenins Theorie handelt es sich zweifellos um die reifste und entwickeltste Imperialismustheorie, gerade weil sein Begriff des Imperialismus auf die Totalität der Gesellschaftsformation zielt.

In seiner Broschüre „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß“ [xli] wie auch in zahlreichen anderen Arbeiten entwickelt er den Begriff des Imperialismus aus der inneren Entwicklungslogik des Kapitals. Bekanntlich arbeitet Lenin in seinem Buch Merkmale dieser neuen Formation des Kapitalismus heraus – Konzentration der Produktion und Monopol, neue Rolle der Banken, Finanzkapital (Verschmelzen von Industrie und zinstragendem Kapital), Kapitalexport, Aufteilung der Welt unter die Kapitalistenverbände und Aufteilung der Welt unter die Großmächte.

Der Begriff des Finanzkapitals und des Monopols stehen dabei im Zentrum von Lenins ökonomischer Bestimmung des Imperialismus.

„Konzentration der Produktion, daraus erwachsende Monopole, Verschmelzung oder Verwachsen der Banken mit der Industrie – das ist die Entstehungsgeschichte des Finanzkapitals und der Inhalt dieses Begriffs.“ [xlii]

Oder an anderer Stelle: „Würde eine möglichst kurze Definition des Imperialismus verlangt, so müßte man sagen, daß der Imperialismus das monopolistische Stadium des Kapitalismus ist. Eine solche Definition enthielte die Hauptsache, denn auf der einen Seite ist das Finanzkapital das Bankkapital einiger weniger monopolistischer Großbanken, das mit dem Kapital monopolistischer Industriellenverbände verschmolzen ist, und auf der anderen Seite ist die Aufteilung der Welt der Übergang von einer Kolonialpolitik, die sich ungehindert auf noch von keiner kapitalistischen Macht eroberte Gebiete ausdehnt, zu einer Kolonialpolitik der monopolistischen Beherrschung des Territoriums der restlos aufgeteilten Erde.“ [xliii]

Lenin erklärt diese Entwicklung im Anschluss an Marx und Engels aus der zunehmenden Zentralisation und Konzentration des industriellen Kapitals und der Ausdehnung „gesellschaftlicher Formen“ des Kapitals (Banken, Kredit, …). So Marx z. B. in den Grundrissen dazu:

„Solange das Kapital schwach ist, sucht es selbst noch nach den Krücken vergangner oder mit seinem Erscheinen vergehnder Produktionsweisen. Sobald es sich stark fühlt, wirft es die Krücken weg und bewegt sich seinen eigenen Gesetzen gemäß. Sobald es anfängt, sich selbst als Schranke der Entwicklung zu fühlen und gewußt zu werden, nimmt es zu Formen Zuflucht, die, indem sie die Herrschaft des Kapitals zu vollenden scheinen, durch Züglung der freien Konkurrenz zugleich die Ankündiger seiner Auflösung und der Auflösung der auf ihm beruhenden Produktionsweise sind.“ [xliv]

Marx und Engels erkennen, dass mit der Entwicklung des Kapitalismus die „freie Konkurrenz“ selbst ihr gegenläufige innere Tendenzen – eine Tendenz zum Monopol – hervorbringt. Allerdings – und darauf werden wir im nächsten Abschnitt näher eingehen müssen – inkludiert der Monopolbegriff bei Lenin eine problematische und theoretisch unklare Seite, wenn er im Anschluss an Hilferding von einer Ablösung der Konkurrenz durch das Monopol spricht.

So richtig Lenin die Tendenz zur Monopolbildung erkennt, so enthält der Begriff des „monopolistischen Stadiums“ ein grundlegendes Problem, als sein Verhältnis zur Konkurrenz als regulierendem Zwangsgesetz, das den einzelnen Kapitalen die Gesetzmäßigkeiten der Akkumulation aufzwingt, unausgearbeitet und unklar bleibt. Bei TheoretikerInnen wie Hilferding, Bucharin oder später im Stalinismus zeigen sich diese Probleme nur zu klar, da in diesem Verständnis des Imperialismus andere Gesetzmäßigkeiten das Verhältnis der Kapitale zueinander regulieren als in der „freien Konkurrenz“. Wird dies einmal als dauerhaft gegeben unterstellt oder anerkannt, hängen auch die Marx’sche Krisentheorie und insbesondere das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate in der Luft.

Wie wir weiter unten zeigen werden, bedarf die Lenin’sche Theorie an dieser Stelle einer begrifflichen und theoretischen Korrektur, um die Imperialismustheorie auf dem Boden der Marx’schen Krisentheorie ausformulieren zu können.

Hier nur soviel: Monopol und Finanzkapital wirken ähnlich wie andere „gesellschaftliche Formen“ des Kapitals Krisen entgegen, indem diese zeitweilig die Ausgleichsbewegung der Profitrate modifizieren.

Die privaten Kapitale, die eine monopolistische Stellung als Einzelkapital oder als eine Gruppe dominierender Unternehmen eines Wirtschaftszweiges erzielen, können diese Position zeitweilig nutzen, um sich auf Kosten anderer Kapitalgruppen, der imperialisierten Länder und der Gesellschaft einen höheren Anteil am Gesamtmehrwert anzueignen.

Dieser Monopolprofit geht also zeitweilig nicht in die Ausgleichsbewegung der Profitrate ein und erlaubt so, das Abladen von eigenen Krisen auf imperialisierte Länder, die ArbeiterInnenklasse und schwächere, nicht monopolistische Kapitale, deren Profitraten im Durchschnitt sinken.

Imperialismus als politisch-ökonomische Totalität

Der Imperialismus stellt – wie wir sehen werden, auch für Lenins Theorie – jedoch keineswegs nur ein rein ökonomisches Verhältnis, sondern eine historische Stufe dar, wo der Kapitalismus den Weltmarkt nicht nur geschaffen, sondern auch alle Länder, Regionen, Gebiete in diesen eingegliedert hat. Vorgefundene vorkapitalistische Produktionsweisen wurden zerstört oder der kapitalistischen untergeordnet. Die Aufteilung der Welt unter die großen Mächte und Kapitale ist abgeschlossen und kann, innerhalb gewisser Grenzen, nur durch einen Weltbrand, Krieg, Revolutionen, Konterrevolutionen verändert werden.

Zugleich sind zugeteilte Gebiete, Länder – ob nun Kolonien oder Halbkolonien – fest in diese Ordnung eingebunden. Eine „nachholende“, die fortgeschrittenen Länder einholende Entwicklung ist, von außergewöhnlichen, einzelnen Ausnahmen abgesehen, unmöglich geworden. Im Gegenteil: Die Entwicklung des Weltmarktes und der internationalen Arbeitsteilung verfestigt die von den Zentren der Kapitalakkumulation abhängige Entwicklung dieser Länder. Dass sich China als imperialistische Weltmacht etablieren konnte, hängt ironischer Weise auch eng damit zusammen, dass es für eine ganze Periode als bürokratische Planwirtschaft und degenerierter ArbeiterInnenstaat nicht von der Weltmarktkonkurrenz bestimmt war.

Grundsätzlich sind jedoch die Länder der sog. Dritten Welt in der Epoche des Finanzkapitals zur halbkolonialen oder kolonialen Einbindung in ein Weltsystem verdammt, das ihnen einen untergeordneten Platz auf dem Weltmarkt zuweist, diesen über die Institutionen des Finanzkapitals reproduziert und verfestigt und durch die diplomatische und militärische Macht der imperialistischen Staaten absichert. Nur durch die Verbindung der demokratischen (antiimperialistischen) Revolution mit der proletarischen können diese Länder befreit werden. Trotzkis Theorie der permanenten Revolution[xlv] bringt diese Entwicklung auf den Punkt. Auch aus diesem Grund stellte sie eine, an den Grundtendenzen der imperialistischen Epoche anknüpfende revolutionäre Konzeption dar, das Alter Ego von Lenins Imperialismus- und Revolutionstheorie.

Der Begriff des Finanzkapitals inkludiert auch korrekterweise, dass eine bestimmte, die fortgeschrittenste Kapitalfraktion, die Gesellschaft, einschließlich anderer Kapitalgruppen, beherrscht. Diese Herrschaft prägt und verändert auch die gesamte Klassenformierung und den gesellschaftlichen Überbau.

Daher ist Imperialismus nicht bloß eine bestimmte reaktionäre, aggressive Politik, sondern die Politik des Finanzkapitals. Eine nichtimperialistische Politik der Weltmächte ist unmöglich.

Die Unterordnung der gesamten Welt unter ein imperialistisches System und die Vorherrschaft des Finanzkapitals und Monopols bedeuten auch notwendig eine enorme Zunahme von Fäulnis, Parasitismus. Zweifellos haben diese Charakterisierungen oft auch eine missverständliche Seite, weil sie – durchaus entgegen Lenins eigenen Anmerkungen – dazu verleiten, die imperialistische Epoche als eine Jahrzehnte andauernde ökonomische Stagnations- oder Niedergangsphase zu betrachten. Wenn wir diesen Irrtum einmal geklärt haben, erweisen sich Lenins Verweise, insbesondere auf den Parasitismus als durchaus zutreffend. Der Imperialismus steigert erstens eine Tendenz, die die kapitalistische Entwicklung auch schon im 19. Jahrhundert kannte, nämlich das Auseinandertreten von Eigentum und Leitung des kapitalistischen Betriebes. Ein Teil der KapitalistInnenklasse (und ihr angelagerter kleinerer Schichten von AnlegerInnen) wird faktisch zu einer Gruppe von Menschen, die den geschaffenen Reichtum in Form der Revenue einstreifen und die operativen Geschäfte des Managements, die Überwachung der Produktion, deren Kontrolle usw. anderen Teilen der KapitalistInnenklasse oder den lohnabhängigen Mittelschichten überlassen. Die Bourgeoisie wird ökonomisch eigentlich längst überflüssig, wie schon Marx und Engels bemerken. Das verändert aber auch die Klassenstruktur des globalen Kapitalismus, sowohl in den Zentren als auch in den von den imperialistischen Staaten beherrschten Ländern, ob diese nun als Kolonien oder Halbkolonien existieren.

Lenins selbst gibt nicht nur eine knappe ökonomische Definition und Darlegung der grundlegenden Merkmale des Imperialismus. Er geht mit gutem Grund weiter:

„Wir werden später sehen, wie der Imperialismus anders definiert werden kann und muß, wenn man nicht nur die grundlegenden rein ökonomischen Begriffe (auf die sich die angeführte Definition beschränkt) im Auge hat, sondern auch den historischen Platz dieses Stadiums des Kapitalismus in bezug auf den Kapitalismus überhaupt oder das Verhältnis zwischen dem Imperialismus und den zwei Grundrichtungen innerhalb der Arbeiterbewegung. Es sei gleich bemerkt, dass der Imperialismus, in diesem Sinne aufgefasst, zweifellos ein besonderes Entwicklungsstadium des Kapitalismus darstellt.“ [xlvi]

Dieser Abschnitt über die historische Stellung des Imperialismus bildet in seinem Buch keinen „Anhang“, keinen willkürlichen Zusatz, sondern einen essenziellen Bestandteil seiner Konzeption. Für Lenin bedeutet Imperialismus „Übergangskapitalismus“. Immer wieder verwendet er auch den Terminus „sterbender Kapitalismus“ – eine Bezeichnung, die hinsichtlich der historischen Einordnung des Imperialismus und erst recht angesichts der revolutionären Lage treffend ist, die der Erste Weltkrieg schuf und die mit der Russischen Revolution einen ersten Höhepunkt fand. Auch wenn sie in der Folge  dahingehend falsch interpretiert wurde, dass der Kapitalismus „automatisch“ abtreten oder „absterben“ müsse/werde oder dass die Tendenz um Absterben bzw. Übergang in jeder Entwicklungsphase der imperialistischen Epoche gleich ausgeprägt wäre. Im weltgeschichtlichen Sinn stellt sie jedoch eine Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus dar, daher eine von Kriegen und Revolutionen (und somit auch von Konterrevolutionen).

Lenins Epochenbegriff bezieht sich hier nicht nur auf die Ökonomie, sondern auf die Gesamtheit der bürgerlichen Gesellschaftsformation. Hier liegt die eigentliche, entscheidende Stärke seine Konzeption. Imperialismus wird nicht nur allgemein als Epochenbruch verstanden, sondern in seiner gesamtgesellschaftlichen Dimension (Klassenstruktur, Politik, Kultur etc.) erfasst.

Imperialistische Kette

Lenins Imperialismustheorie, insbesondere in ihren politischen Schlussfolgerungen, hatte erwiesenermaßen eine ausreichende Tiefe, um daraus richtige, revolutionäre Schlussfolgerungen zu ziehen.

Bei aller Kritik an ihr (siehe dazu weiter unten) gibt es in seiner Theorie einen damit zusammenhängenden Aspekt, der diesen Ansatz von allen anderen klassischen Imperialismustheorien positiv unterscheidet und zu politisch bedeutsamen Konsequenzen führt: Das ist der Gedanke der „imperialistischen Kette“. Während vor und im 1. Weltkrieg bei den TheoretikerInnen der Linken der 2. Internationale gewissermaßen „der Weltkapitalismus“ die Analyseebene war, sozusagen der Kapitalismus als sozioökonomische Struktur auf Weltebene gesehen wurde, führt Lenin die Differenzierung der „imperialistischen Kette“ ein (ein Gedanke, der ihm – dies nur nebenbei – auch seine einzigartige Position zur „nationalen Frage“ ermöglicht).

Der Begriff der imperialistischen Kette beinhaltet, dass die einzelnen Glieder nicht einfach als Nationalökonomien innerhalb eines globalen Weltkapitalismus begriffen werden, sondern als Staaten. D. h., es geht nicht nur um ökonomische, sondern auch um politische und militärische Faktoren, ja um die Gesamtheit der Klassenbeziehungen eines Landes. Revolutionen fänden nicht zunächst in den Ländern statt, die am weitesten entwickelt sind, sondern die imperialistische Kette bricht am schwächsten Glied. Dieser Gedanke stellt einen grundlegenden Bruch mit dem ökonomistischen Marxismusverständnis der II. Internationale dar.

Der Kapitalismus bilde auf globaler Ebene keine einheitliche Struktur. Er stelle eine Verbindung verschiedener Ebenen nationalstaatlicher wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturen dar, wobei die „Kette“ als kapitalistische Kette reproduziert werden müsse. Die ökonomische Stärke bilde nur einen Faktor für den Handlungsspielraum eines imperialen Staates. Es ist jedoch die Gesamtheit der Klassenbeziehungen eines Staates, die diesen Handlungsspielraum determiniert (wobei diese wiederum durch internationale Konstellationen beeinflusst wird).

Veränderungen der Klassenstruktur

Die ökonomischen Merkmale – Monopol, Finanzkapital –, auf deren Boden der Imperialismus basiert, gehen nicht nur mit einem „Weltsystem“ einher. Sie führen natürlich auch zu einer grundlegenden Umwälzung der inneren Beziehungen jeder Nation, jedes Staates, der imperialistischen wie der vom Imperialismus beherrschten Länder.

Herrschaft des Finanzkapitals wäre undenkbar ohne eine massive Ausdehnung des repressiven Staatsapparates in allen imperialistischen Ländern, des Militarismus, der Überwachung, Durchdringung der Gesellschaft. Wie die Erfahrung zeigt, sind diese Entwicklungen durchaus auch mit der Ausdehnung formaler Demokratie und der Ausweitung demokratischer Rechte (Wahlrecht, formale Gleichheit etc.) vereinbar.

Damit geht eine viel engere Verquickung politischer und ökonomischer Macht einher als in der vorimperialistischen Epoche. Die Lenkung aller wesentlichen Geschäfte wird über Kanäle, „Netze“ von Abhängigkeitsverhältnissen mitbestimmt, die alle Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft umspannen.

Das Finanzkapital strebt, so Lenin, nach „Herrschaft“, nicht nach „Freiheit“. D. h., der Widerspruch zwischen demokratischen Forderungen und deren reaktionären Einschränkungen nimmt in der Epoche des Finanzkapitals zu. Generell geht der Imperialismus mit der Einschränkung der Demokratie einher, er ist „Reaktion auf ganzer Linie“. Auch wächst die Bedeutung reaktionärer Ideologien wie Nationalismus, Chauvinismus, Rassismus in der imperialistischen Epoche.

Das führt zu einer Transformation des bürgerlichen Staates zur Formierung eines imperialistischen Staates/Staatapparats. Das sichert zugleich, dass die Vertiefung und viel stärkere Durchdringung der Gesellschaft durch den Staat einhergehen mit der Ausdehnung der formalen parlamentarischen Demokratie in bestimmten Perioden der Entwicklung, insbesondere in den imperialistischen Staaten.

Die Ursache dafür liegt neben der Entwicklung des imperialistischen Staatsapparates auch in der Auswirkung des Imperialismus auf die Klassenformierung der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang können wir eine weitere Stärke von Lenins Imperialismustheorie festhalten: Mit der theoretischen Herausarbeitung der Entstehung und Existenz einer privilegierten Schicht der ArbeiterInnenklasse, der „ArbeiterInnenaristokratie“ in den imperialistischen Ländern gelingt es ihm, eine materialistische, klassenanalytisch fundierte Erklärung für den Opportunismus in der ArbeiterInnenbewegung und die Existenz einer ArbeiterInnenbürokratie zu geben.

Schon Engels beobachtete die Entstehung einer solch privilegierten Schicht im Britannien der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und bemerkte, dass sie eine soziale Basis des Opportunismus und bürgerlicher ArbeiterInnenpolitik bilde. Er führt diese Entwicklung auf das Welthandelsmonopol des britischen Kapitalismus und dessen industrielle Überlegenheit zurück. Mit deren Niedergang verknüpft er die Erwartung, dass die sozialen Grundlagen für eine ArbeiterInnenaristokratie erodieren und damit auch der Opportunismus zurückgedrängt würde.

Entgegen seiner Prognose verallgemeinerte sich diese Entwicklung jedoch in allen imperialistischen Ländern. Selbst in den Halbkolonien entwickeln sich mehr oder weniger große Schichten der ArbeiterInnenaristokratie. Deren Entstehung (und das Wachstum bestimmter Teile der lohnabhängigen Mittelschichten) bedeutet in den imperialistischen Ländern auch eine wichtige Verbreiterung der sozialen Basis des Imperialismus. Zu Recht charakterisiert Lenin die ArbeiterInnenaristokratie als eine „soziale Hauptstütze“ des Imperialismus, deren Existenzquelle wesentlich die Extraprofite aus der kolonialen Ausbeutung bilden.

„Diese Schicht der verbürgerten Arbeiter oder der „Arbeiteraristokratie“, in ihrer Lebensweise, nach ihrem Einkommen, durch ihre ganze Weltanschauung vollkommen verspießert, ist die Hauptstütze der II. Internationale und in unseren Tagen die soziale (nicht militärische) Hauptstütze der Bourgeoisie.“ [xlvii]

Die Etablierung und Reproduktion einer relativ stabilen ArbeiterInnenaristokratie wird in der imperialistischen Epoche zu einem Kennzeichen aller wichtigen kapitalistischen Länder. Erst auf dieser Grundlage kann sich eine ArbeiterInnenbürokratie auf politischer und gewerkschaftlicher Ebene festigen und über Jahrzehnte halten. Die Gewerkschaften wie die gesamte reformistische ArbeiterInnenbewegung werden durch die institutionelle Regulation des Lohnarbeitsverhältnisses (Tarifsystem, Betriebsräte, …) und dessen Verlängerung auf politischer Ebene (Reformen, Systeme der Inkorporation) eingebunden. Diese Institutionalisierung des Klassenverhältnisses geht mit einer Entpolitisierung und Formalisierung einher, die die bürokratische Kontrolle einer solcherart verknöcherten ArbeiterInnenbewegung befördert und verstärkt.

Hinzu kommt die Tendenz zur Inkorporation der Gewerkschaften und reformistischen ArbeiterInnenbewegung in den bürgerlichen Staat – insbesondere seit dem New Deal und mit Entwicklung der Nachkriegsordnung. Wie Trotzki in seinen Arbeiten über die Gewerkschaften nachgewiesen hat, war diese Tendenz auch in der tiefen Krise der 1920er und 1930er Jahre manifest. Kurz rekapituliert, Lenins Imperialismustheorie hatte erwiesenermaßen eine ausreichende Tiefe, um daraus richtige, revolutionäre Schlussfolgerungen zu ziehen.

5. Lenins Imperialismustheorie und ihr Alter Ego – Trotzkis Theorie der permanenten Revolution

Der Beginn der imperialistischen Epoche läutet eine wichtige Transformation der internationalen sozialistischen Bewegung ein, die Entstehung vergleichsweise stabiler bürgerlicher Agenturen in der ArbeiterInnenklasse, die nicht nur eine spontane Tendenz zum bürgerlichen Bewusstsein in der Klasse zum Ausdruck bringen, sondern auch eine soziale Basis im imperialistischen System haben, einer ArbeiterInnenaristokratie (sowie die Ausweitung lohnabhängiger Mittelschichten) v. a. in den imperialistischen Ländern,  später auch in den Halbkolonien.

Zugleich war es auch eine Periode, in der das theoretische, programmatische und taktische Rüstzeug der ArbeiterInnenbewegung, wie es in der vorimperialistischen Epoche entwickelt und kodifiziert wurde, einem geschichtlichen Test unterzogen wurde.

Es waren große historische Ereignisse – darunter die erste Russische Revolution, der imperialistische Krieg –, die zur Zuspitzung der politischen Kämpfe in der Zweiten Internationale und ihren Parteien führten und zu einer Weiterentwicklung und zunehmend zu einer systematischen Abrechnung mit den inneren Schwächen der Zweiten Internationale zwangen.

Zweifellos haben nicht nur Lenin und Trotzki Anteil an den theoretischen und programmatischen Fortschritten dieser Periode. Aber sie stehen für zwei miteinander verbundene bahnbrechende Fortentwicklungen der marxistischen Theorie.

Trotzkis „Theorie der permanenten Revolution“, die zuerst anhand der Russischen Revolution 1905 entwickelt und später im Zuge des Kampfes gegen die stalinistische Degeneration und in deren Gefolge anhand der Erfahrungen der chinesischen Revolution weiterentwickelt und verallgemeinert wurde, gilt es hier besonders hervorzuheben.

In seiner Analyse der Russischen Revolution knüpft Trotzki (wie viele andere russische Revolutionäre) an Marx’ und Engels’ Charakterisierung der Rolle der Bourgeoisie in der 1848er Revolution und folgenden an. Die KapitalistenInnenklasse hätte die Revolution verraten, weil sie die sich entwickelnde ArbeiterInnenklasse und deren Bestrebungen, die Revolution „zu weit“ zu treiben, schon mehr fürchtete als die Reaktion der alten Feudalklassen, zumal sie auch erkannt hatte, dass letztere zwar das politische Regime, keineswegs aber die Produktionsverhältnisse, also die Gesellschaftsordnung selbst zurückzudrehen vermochte.

Diese Unfähigkeit der russischen Bourgeoisie, die demokratische Revolution zu führen und ein ihr gemäßes politisches Regime gegen den Zarismus zu erkämpfen, erkannten auch Lenin und die Bolschewiki. Doch der entscheidende Schritt Trotzkis bestand darin, dass er erkannte, dass die Forderungen der Demokratie nur durch die Herrschaft der ArbeiterInnenklasse, nur durch das Weitertreiben der demokratischen Revolution zur sozialistischen erfüllt werden konnten – und dass umgekehrt, die ArbeiterInnenklasse diese Aufgabe nur lösen kann, wenn sie selbst an die sozialistische Umgestaltung der Produktion geht und die Russische Revolution untrennbar mit der sozialistischen Revolution im Westen verbindet.

Diese Konzeption wurde von der Geschichte spektakulär bestätigt. Anders als von den StalinistInnen und teilweise auch den SozialdemokratInnen später behauptet, stellte sie überhaupt keinen Bruch mit der Marx’schen Theorie dar. Im Gegenteil, schon im Kommunistischen Manifest oder vor allem in der Märzansprache an den Bund der Kommunisten vom März 1850 findet sich die Vorstellung der permanenten Revolution:

„Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst rasch und unter Durchführung höchstens der obigen Ansprüche zum Abschlusse bringen wollen, ist es unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, daß die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und daß wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind. Es kann sich für uns nicht um Veränderung des Privateigentums handeln, sondern nur um seine Vernichtung, nicht um Vertuschung der Klassengegensätze, sondern um Aufhebung der Klassen, nicht um Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um Gründung einer neuen.“ [xlviii]

In den Briefen an Sassulitsch [xlix] entwickelt Marx in einer genialen Skizze den Gedanken der Verbindung der Russischen Revolution mit der des Westens – ein Beleg unter vielen, der zeigt, wie fremd Marx und Engels das Schema einer „Etappentheorie“ war, die in der „Orthodoxie“ der Zweiten Internationale Einzug gehalten hatte und zum politischen Credo des Stalinismus geworden war.

Die Fassung der Theorie der permanenten Revolution, die Trotzki im Laufe der Revolution 1905 entwickelt und in  „Ergebnisse und Perspektiven“ [l] darlegt, bricht entschieden mit der Vorstellung, dass die Russische Revolution nur einen bürgerlichen Charakter annehmen könne. Im Vorwort zur Neuauflage der Schrift 1919 fasst er den Standpunkt der Theorie der permanenten Revolution knapp zusammen:

„Der Standpunkt, den der Autor damals einnahm, kann in schematischer Weise folgendermaßen formuliert werden: Gemäß ihren nächsten Aufgaben beginnt die Revolution als bürgerliche, bringt dann aber sehr bald mächtige Klassengegensätze zur Entfaltung und gelangt nur zum Sieg, wenn sie die Macht der einzigen Klasse überträgt, die fähig ist, an die Spitze der unterdrückten Massen zu treten – dem Proletariat. Einmal an der Macht, will und kann sich das Proletariat nicht auf den Rahmen eines bürgerlich-demokratischen Programms beschränken. Es kann die Revolution nur dann zu Ende führen, wenn die russische Revolution in eine Revolution des europäischen Proletariats übergeht. Dann wird das bürgerlich-demokratische Programm der Revolution zugleich mit seinem nationalen Rahmen überwunden werden, und die zeitweilige politische Herrschaft der russischen Arbeiterklasse wird sich zu einer dauernden sozialistischen Diktatur weiterentwickeln. Wenn sich aber Europa nicht vom Fleck rührt, dann wird die bürgerliche Konterrevolution die Regierung der werktätigen Massen in Rußland nicht dulden und das Land weit zurückwerfen – weit hinter die demokratische Republik der Arbeiter und Bauern. An die Macht gekommen, darf sich das Proletariat daher nicht auf den Rahmen der bürgerlichen Demokratie beschränken, sondern muß die Taktik der permanenten Revolution entfalten, d. h. die Grenzen zwischen dem Minimal- und dem Maximalprogramm der Sozialdemokratie aufheben, zu immer tiefgreifenderen sozialen Reformen übergehen und einen direkten und unmittelbaren Rückhalt in der Revolution des europäischen Westens suchen. Diese Position soll die jetzt wieder herausgegebene Arbeit, die 1904 – 1906 geschrieben wurde, entwickeln und begründen.“ [li]

In diesem Vorwort verweist Trotzki zugleich auf eine objektivistische Schwäche seiner Position und der Schriften aus den Jahren 1904 – 1906, nämlich die Vorstellung, dass alle Flügel der russischen Sozialdemokratie – Bolschewiki wie Menschewiki – unter dem Druck der Revolution „gezwungen“ wären, eine ArbeiterInnenregierung zu bilden, die bürgerliche Revolution permanent zu machen und in eine sozialistische Richtung zu treiben. Er schreibt:

„Der Autor hat anderthalb Jahrzehnte den Standpunkt der permanenten Revolution verteidigt, er erlag aber bei der Einschätzung der miteinander kämpfenden Fraktionen der Sozialdemokratie einem Irrtum. Da sie damals beide von den Perspektiven einer bürgerlichen Revolution ausgingen, nahm der Autor an, daß die Meinungsverschiedenheiten nicht so tief wären, als daß sie eine Spaltung rechtfertigten. Zur gleichen Zeit hoffte er darauf, daß der weitere Gang der Ereignisse einerseits die Kraftlosigkeit und Ohnmacht der russischen bürgerlichen Demokratie, andererseits die Tatsache, daß es für das Proletariat objektiv unmöglich sei, sich im Rahmen eines demokratischen Programms an der Macht zu halten, allen deutlich zeigen und so den Meinungsverschiedenheiten der Fraktionen den Boden entziehen würde.“ [lii]

Spätestens 1917, mit dem Übergang zum Bolschewismus bricht Trotzki mit diesem versöhnlerischen Verständnis der Partei und der objektivistischen Vorstellung, die durchaus den spontaneistischen Schwächen Luxemburgs ähnelte, dass die Macht der Ereignisse auch die OpportunistInnen wider Willen und Bewusstheit zum revolutionären Handeln zwingen würde.

Für unseren Zusammenhang – also das Verständnis der Bedeutung des Imperialismusbegriffes – noch wichtiger ist, dass Trotzki in den 1920er Jahren die Verallgemeinerung der Theorie mit dem Verständnis der Epoche knüpft.

Den kolonialen und halbkolonialen Ländern ist keine „aufholende“, die fortgeschritteneren Länder nachahmende Entwicklung mehr möglich, weil das kapitalistische Weltsystem bereits etabliert und unter einer Reihe imperialistischer Großmächte aufgeteilt ist. Die demokratische Revolution kann daher in den halbkolonialen Ländern nur unter Führung der ArbeiterInnenklasse im Bündnis mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft durchgeführt, also nur durch das Hinüberwachsen zur sozialistischen Revolution durchgeführt werden.

„In bezug auf die Länder mit einer verspäteten bürgerlichen Entwicklung, insbesondere auf die kolonialen und halbkolonialen Länder, bedeutet die Theorie der permanenten Revolution, daß die volle und wirkliche Lösung ihrer demokratischen Aufgabe und des Problems ihrer nationalen Befreiung nur denkbar ist mittels der Diktatur des Proletariats als des Führers der unterdrückten Nation und vor allem ihrer Bauernmassen.“ [liii]

Auch wenn das Proletariat daher in den „rückständigeren“ Ländern leichter an die Macht kommen mag, so kann die Umwälzung zum Sozialismus im nationalen Rahmen nicht geleistet werden. Diese Möglichkeit hängt vielmehr von Beginn an von der internationalen Entwicklung entscheidend ab.

Schließlich verweist Trotzki immer wieder darauf, dass von einer endgültigen sozialistischen Umwälzung überhaupt nur im internationalen Rahmen gesprochen werden kann. Ein „nationaler Aufbau“, der „Sozialismus in einem Land“ ist nirgendwo möglich, selbst im fortgeschrittensten kapitalistischen Land der Welt nicht.

„Der Abschluß einer sozialistischen Revolution ist im nationalen Rahmen undenkbar. Eine grundlegende Ursache für die Krisis der bürgerlichen Gesellschaft besteht darin, daß die von dieser Gesellschaft geschaffenen Produktivkräfte sich mit dem Rahmen des nationalen Staates nicht vertragen. Daraus ergeben sich einerseits die imperialistischen Kriege, andererseits die Utopie der bürgerlichen Vereinigten Staaten von Europa. Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der Weltarena. Folglich wird die sozialistische Revolution in einem neuen, breiteren Sinne des Wortes zu einer permanenten Revolution: sie findet ihren Abschluß nicht vor dem endgültigen Siege der neuen Gesellschaft auf unserem ganzen Planenten.“ [liv]

Trotzkis Theorie der permanenten Revolution stellt für die Entwicklung des revolutionären Marxismus einen Meilenstein des 20. Jahrhunderts dar. Für die theoretische und programmatische Fortentwicklung des Kommunismus steht sie auf einer Stufe mit Lenins Imperialismustheorie oder mit der Marx’schen Analyse des 18. Brumaire des Louis Bonaparte und später der Commune [lv].

Dass Lenin selbst zur Theorie der permanenten Revolution überging, die er vor dem Ersten Weltkrieg scharf bekämpft hatte (wenn auch keineswegs in der „Schärfe“, wie die StalinistInnen gern darstellen), bedarf aber einer Erklärung. Sicherlich mag Trotzkis Übergang zum bolschewistischen Parteiverständnis dabei geholfen haben, erklärt dies aber nicht.

Wichtiger ist vielmehr erstens, dass Lenins Verständnis der Russischen Revolution und der Losung der „demokratischen Diktatur der ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen“ immer eine eingeständige Klassenpolitik des Proletariats inkludierte. Hierin liegt übrigens ein substantieller Unterschied zur Verwendung dieses Terminus durch den Stalinismus, bei dem diese Formel zu einer der Unterordnung der ArbeiterInnenklasse unter die nationale Bourgeoisie führt. Insofern hatte sie einen, wie Trotzki richtig bemerkt, „algebraischen“ Charakter, was zur Folge hatte, dass jede zukünftige Revolution eine genauere Bestimmung des Verhältnisses zur Bauern-/Bäuerinnenschaft, des Inhalts dieser Klassenpolitik und des Klassencharakters der Regierungsform, die die Revolution hervorbringen sollte, erfordern würde. In den Aprilthesen hatte sich Lenin anhand der Erfahrungen der Russischen Revolution diesem Problem gestellt – und war, wie Kamenew und andere rechte Bolschewiki zu dieser Zeit richtig bemerkten, zur Position Trotzkis übergangen, ein Übergang, ohne den der Sieg des Proletariats in der Oktoberrevolution, ja, die Oktoberrevolution selbst unmöglich gewesen wäre.[lvi]

Diese Wende hatte sich jedoch schon länger vorbereitet, nämlich in der Analyse des imperialistischen Krieges, der Entwicklung der Politik des revolutionären Defätismus und der politischen Schlussfolgerung, dass die Aufgabe des Proletariats im Kriege darin bestünde, den imperialistischen Krieg zu einem „Bürgerkrieg gegen die eigene Bourgeoisie“ umzuwandeln und zur Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse zu nutzen. Darin zeigt sich im Grunde schon ein Übergang zur Theorie der permanenten Revolution. Es ist kein Zufall, dass Lenin die politischen und programmatischen Konsequenzen, überhaupt die revolutionäre Politik im Krieg gründlicher und klarer als jede/r andere MarxistIn seiner Zeit ausarbeitete.

Ein Verdienst dieser Arbeit bestand gerade darin, dass Lenin in der Kritik des „imperialistischen Ökonomismus“[lvii] das Verhältnis von demokratischen (insbesondere des Rechts auf nationale Selbstbestimmung) und ökonomischen Forderungen im Kampf für die sozialistische Revolution präzise darlegte.

Lenin geht im Anschluss an seine Imperialismustheorie, und auch hier im Grunde in einer Parallele zur Theorie der permanenten Revolution, davon aus, dass die imperialistische Epoche generell eine der Einschränkung demokratischer Rechte bedeutet, dass die Entrechtung unterdrückter Nationen und Nationalitäten verschärft wird usw. Daraus folgert er, dass die demokratischen Fragen einen überaus explosiven Charakter erhalten werden, dass sich daher das Proletariat, will es die nichtproletarischen Massen in den Kolonien und Halbkolonien gewinnen, als Verbündeter auf die Seite der Unterdrückten stellen und um die politische Führung im Kampf um die demokratischen Aufgaben kämpfen müsse.

Andersherum: Lenin zeigt, dass in der imperialistischen Epoche eine systematische Verknüpfung der Aufgaben der bürgerlichen Revolution mit dem sozialistischen Kampf möglich ist. Er verweist dabei schon gelegentlich darauf, dass ebenso eine systematische Verknüpfung der ökonomischen Tagesaufgaben mit dem Kampf um die sozialistische Revolution notwendig ist.

6. Der programmatisch-methodische Durchbruch der Kommunistischen Internationale und des Übergangsprogramms

Diese beiden theoretischen Errungenschaften, untrennbar mit Lenin und Trotzki verknüpft, sind freilich nicht einfach nur das Werk zweier großer Theoretiker und Revolutionäre. Sie bilden vielmehr Teil einer kollektiven Anstrengung und lebendigen Debatte, gründlichen Forschung und scharfer Polemik, die die Entwicklung der Linken in der Zweiten Internationale und die Frühphase der Kommunistischen Internationale prägte.

In der Zweiten Internationale war – auch bei den Linken – das programmatische Verständnis vom Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie geprägt. Diese klassische Fassung eines Minimal-/Maximalprogramms stand als Blaupause für die Programme vieler sozialdemokratischer, formell marxistischer Parteien, darunter auch der österreichischen, der Parteien auf dem Balkan oder der russischen.

Es wäre eine ahistorische Verkürzung, das Erfurter Programm mit den reformistischen Programmen unserer Epoche nur textlich zu vergleichen. Gerade der von Kautsky verfasste und von Engels begrüßte einleitende Teil stellt einen großen Fortschritt gegenüber dem Gothaer Programm dar und verortet den Grundsatzteil auf den Boden des Marxismus. Der Minimalteil war schon 1891 von Engels heftig kritisiert worden wegen seines opportunistischen Charakters.[lviii]

Die Trennung von Minimal- und Maximalprogramm stellte außerdem nicht einfach eine politische und theoretische Abweichung dar, sondern spiegelte den Charakter einer ganzen Entwicklungsphase, vor allem nach der Niederschlagung der Pariser Commune, wider, einer relativ stetigen Entwicklung, die auch einer ebensolchen Entwicklung der Politik von Partei und Gewerkschaften entsprach.

„Der Begriff der revolutionären Strategie hat sich erst in den Nachkriegsjahren durchgesetzt, ursprünglich zweifellos unter dem Einfluß der militärischen Terminologie. Aber er hat sich keineswegs zufällig durchgesetzt. Vor dem Krieg sprachen wir nur von der Taktik der proletarischen Partei, und dieser Begriff entsprach genau genug den damals herrschenden gewerkschaftlichen und parlamentarischen Methoden, die nicht über den Rahmen alltäglicher Anforderungen und Aufgaben hinausgingen. Die Taktik bezieht sich auf ein System von Maßnahmen, die auf eine besondere, naheliegende Aufgabe oder oder auf ein besonderes Feld des Klassenkampfes bezogen sind. Die revolutionäre Strategie hingegen umfaßt ein kombiniertes System von Aktionen, die in ihrer Kombination und Konsequenz darauf abzielen, das Proletariat zur Eroberung der Macht zu führen.“ [lix]

Doch mit dem Beginn der imperialistischen Epoche werden die Grenzen des sozialdemokratischen Programms deutlicher, die innerparteilichen Gegensätze in der sozialistischen Bewegung verschärften sich. Der rechte Flügel schritt praktisch zur Tat bis hin zum Ministerialismus in Frankreich, verfocht dies organisatorisch, z. B. im Ruf nach der Unabhängigkeit der Gewerkschaften von der Partei und in jeder Zurückweisung verpflichtender – als zu radikal begriffener –, Fragen, wie sich z. B. in der Generalstreikdebatte oder auch bei den Kongressen der II. Internationale zeigte. Interessanterweise versuchten zuerst TheoretikerInnen des rechten Flügels der opportunistischen Praxis höhere Weihen zu verleihen und eine Revision des Marxismus vorzunehmen. Beispielhaft dafür steht der theoretische Angriff Bernsteins auf die revolutionäre Theorie.

Schon diese Tatsache ist bezeichnend, weil sie die veränderte, zunehmend rein ökonomisch reduzierte Arbeit der Gewerkschaften und die parlamentarische, reformistische Ausrichtung vieler Parteien widerspiegelt. Noch mehr zeigt sich eine wachsende Differenz zwischen dem formell marxistischen (zentristischen) Zentrum der Zweiten Internationale und der internationalen Linken, die die zuerst um Fragen der Parteitaktik hervorbrechenden Differenzen als Grundsatzfragen zu begreifen beginnt und einen entschlosseneren Kampf gegen die Rechten fordert.

Die historischen Errungenschaften dieser Kämpfe – oft mit dem Namen Luxemburgs verbunden – bestehen darin, die marxistische Orthodoxie auf theoretischer Ebene (z. B. in Sozialreform oder Revolution) zu verteidigen und zur Entwicklung der revolutionären Taktik der ArbeiterInnenbewegung neue Anstöße zu geben. Die Linke greift in ihren Polemiken und Aktivitäten nicht zufällig Themen auf, die auch heute oft den Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen gemäßigtem und radikalem Flügel der ArbeiterInnenbewegung bilden – Fragen der Unterdrückung der Frauen und der Jugend; die Kolonialfragen und Fragen der Migration; Militarismus und Kriegsfrage; Verhältnis von Kampfmethoden zu Reform und Revolution (siehe Generalstreikdebatte).

Aber ihre Kritik bewegt sich selbst noch wesentlich auf der Ebene des Minimal-/Maximalprogramms, sprich auf der der grundsätzlichen Revision des Marxismus durch die Rechten, oder auf der Ebene der Taktik. Die Frage der Strategie, ja, den Begriff der Strategie im Unterschied zur Taktik kennt die Zweite Internationale nicht.

In den Revolutionen 1917/1918 wird die Notwendigkeit des Bruchs mit den alten Programmen der sozialdemokratischen Parteien offensichtlich (wie die Neugründung Kommunistischer Parteien). Das trifft nicht nur auf Russland und die Bolschewiki zu. Es zeigt sich auch in Deutschland.

Auf dem Gründungsparteitag der KPD bezieht sich Luxemburg direkt auf die Notwendigkeit, das Erfurter Programm, das Minimal-/Maximalprogramm hinter sich zu lassen. In der Programmrede auf dem Gründungspartei der KPD erklärt sie zum Programm:

„Es befindet sich im bewußten Gegensatz zu dem Standpunkt, auf dem das Erfurter Programm bisher steht, im bewußten Gegensatz zu der Trennung der unmittelbaren, sogenannten Minimalforderungen für den politischen und wirtschaftlichen Kampf von dem sozialistischen Endziel als einem Maximalprogramm. Im bewußten Gegensatz dazu liquidieren wir die Resultate der letzten 70 Jahre der Entwicklung und namentlich das unmittelbare Ergebnis des Weltkrieges, indem wir sagen: Für uns gibt es jetzt kein Minimal- und kein Maximalprogramm; eines und dasselbe ist der Sozialismus; das ist das Minimum, das wir heutzutage durchzusetzen haben.“ [lx]

Ihre Lösung ist freilich ungenügend, zum Teil problematisch: Das Maximalprogramm sei nun das Minimalprogramm, das Minimalprogramm gleich der Diktatur des Proletariats. Diese Aussage mag für eine revolutionäre Lage angehen, insbesondere, wenn man bedenkt, dass sich Luxemburg sehr wohl der Notwendigkeit bewusst war, dass die neu gegründete KPD Tages- und Übergangslosungen brauchte, um die Revolution zu vertiefen, und Taktiken entwickeln musste, um überhaupt erst in der Avantgarde der Klasse, geschweige denn in der Masse des Proletariats Fuß zu fassen.

Bei Luxemburgs Formulierung erhebt sich jedoch auch die Frage, wie sich das Verhältnis von Minimal- und Maximalteil gestaltet, sollte die ArbeiterInnenklasse den revolutionären Ansturm nicht zur Machtergreifung nutzen können, sollte die herrschende Klasse neues Selbstvertrauen gewinnen und die Lage zeitweilig stabilisieren können. Musste dann das alte Minimal-/Maximalprogramm doch wieder herhalten? Oder sollte die revolutionäre Lage künstlich durch die permanente Offensive der revolutionären Minderheit wiederhergestellt werden, wie es die Ultralinken vorschlugen?

Genau auf diese Frage gibt die Kommunistische Internationale auf ihren ersten vier Kongressen (v. a. auf dem zweiten, dritten und vierten) eine Antwort – die Entwicklung der Übergangsforderungen, genauer: der Methode des Übergangsprogramms. Auch wenn die KI letztlich nie ein solches Programm annahm, so hat sie auf den ersten vier Kongressen einen historischen Beitrag dazu geleistet. Ihre Debatten, Thesen und Resolution sind bis heute eine unerlässliche Schule der kommunistischen Strategie und Debatte. Die ersten vier Kongresse waren auch eine wichtige Quelle für die Bestimmung nicht nur des Charakters der Epoche, sondern auch konjunktureller Entwicklungen des Klassenkampfes.

„Revolutionäre Politik ist ohne revolutionäre Theorie undenkbar. Hier wenigstens müssen wir nicht von vorn anzufangen. Wir stehen auf dem von Marx und Lenin geschaffenen Fundament. Die ersten Kongresse der Kommunistischen Internationale haben uns ein unschätzbares programmatisches Erbe hinterlassen. Die Charakterisierung der gegenwärtigen Epoche als der Epoche des Imperialismus, d. h. einer Epoche des kapitalistischen Niedergangs; das Wesen des gegenwärtigen Reformismus und die Methoden zu seiner Bekämpfung; die Beziehung von Demokratie und proletarischer Diktatur; die Rolle der Partei in der proletarischen Revolution; die Beziehungen zwischen Proletariat und Kleinbürgertum, insbesondere zwischen Proletariat und Bauernschaft (die Agrarfrage); die nationale Frage und der Befreiungskampf der Kolonialvölker; die Arbeit in den Gewerkschaften; die Einheitsfront-Politik; das Verhältnis zum Parlamentarismus usw. – all diese Fragen sind von den ersten vier Kongressen in bisher unübertroffener Weise prinzipiell geklärt worden.“ [lxi]

Natürlich bildete auch die beste Debatte keine Garantin gegen Fehler. Das Ausbleiben der Weltrevolution und Niederlagen hatten natürlich schon vor der Degeneration der Russischen Revolution und der Komintern zu Bürokratisierungstendenzen geführt, die ihrerseits durch politische Fehler und daraus folgende Niederlagen verschlimmert wurden.

Ohne Zweifel war das Versäumnis, die revolutionäre Situation im Sommer 1923 in Deutschland überhaupt als solche wahrzunehmen, ein Kardinalfehler nicht nur der KPD, sondern auch der gesamten Komintern. Die Niederlage des deutschen Oktober warf das Proletariat in ganz Europa weit zurück und stabilisierte die bürgerliche Herrschaft (gemeinsam mit der Wirksamkeit des Dawes-Plans).

Die „Analyse“ der Niederlage durch die KPD und die Komintern signalisieren freilich auch einen Wendepunkt in der politischen Entwicklung der KI, auch ihrer Analyse. In  „Die neue Etappe“ [lxii] aus dem Jahr 1921 nimmt Trotzki auf dem dritten Weltkongress eine genaue, konkrete Analyse der Weltlage und der Frage revolutionärer Strategie und Taktik vor. Er begnügt sich nicht damit, den Charakter der imperialistischen Epoche als solchen nachzuweisen, sondern zeigt, warum ein dauerhaftes „kapitalistisches Gleichgewicht“ nicht wiederhergestellt werden konnte (einschließlich der hypothetischen Betrachtung, auf welcher Grundlage das im Verlauf von zwei bis drei Jahrzehnten  möglich wäre). Er zeigt, warum „die Weltsituation und die Perspektiven“ einen „tiefen revolutionären Charakter“ tragen. Zugleich stellt er aber in Rechnung, dass das „Gleichgewicht“ des Kapitalismus „sehr elastisch“ ist und „große Widerstandskraft“ besitzt, auch wenn die Lage, wie er selbst wiederholt betont, nach wie vor „äußerst revolutionär ist“.

Schließlich weist er – und das ist in gewisser Weise das Thema des KI-Kongress – darauf hin, dass die Niederlagen der ArbeiterInnenklasse und Fehler der revolutionären ArbeiterInnenbewegung auch die Herrschaft der Bourgeoisie gefestigt hätten, ihr Selbstvertrauen, ihren Apparat, die konterrevolutionäre Rolle der ArbeiterInnenbürokratie stärkten. Statt einer ultralinken, abenteuerlichen Politik wäre daher eine Politik der Eroberung der Massen notwendig. Trotzki verweist dabei darauf, dass es keine mechanische Ableitung aus ökonomischen Krisenphänomenen zu ihrer politischen Ausformung gibt, dass daher die taktischen Aufgaben der revolutionären Parteien nicht mechanisch aus dem Charakter einer Epoche oder der „fundamentalen“ Betrachtung der Widersprüche, die zu einer weiteren Auflösung relativer Stabilität (oder überhaupt zu deren Verhinderung) führen, „abgeleitet“ und deduziert werden können. Die Sphären der Politik und des Verhältnisses zwischen den Klassen sind sehr viel vermittelter und wirken auch ihrerseits auf die Möglichkeit (oder Nicht-Möglichkeit) der herrschenden Klasse ein, das Gesamtsystem weiter zu stabilisieren.

Ganz anders verhält sich die Dritte Internationale nach dem 4. Weltkongress. Angeführt von Sinowjew setzt eine impressionistische und sterile Politik ein.

Nach ganz offensichtlichen und schweren Niederlagen wie im Oktober 1923 in Deutschland hieß es auf dem 5. Kominternkongress dazu lapidar: „Die Fehler in der Einschätzung des Tempos der Ereignisse [was für Fehler? L. T.], begangen im Oktober 1923, haben der Partei viele Schwierigkeiten gebracht. Dies ist trotz allem nur eine Episode. Die grundlegende Einschätzung bleibt bestehen.“ [lxiii]

Statt die Ursachen der Niederlage zu analysieren und eine entsprechende Neuausrichtung der deutschen Sektion zu beschließen, wurde die falsche Politik der Komintern als „im Prinzip richtig“ fortgeschrieben und nur die verantwortlichen „Umsetzer“ in Deutschland – die damalige Parteiführung um Heinrich Brandler – als „Parteirechte“ abgesetzt. Hier zeigte sich die Komintern-Führung bereits als typisch bürokratische Maschinerie, der die Selbstbeweihräucherung wichtiger ist als eine wirklich revolutionäre Führung.

Auch wenn der 5. Kongress noch eine Reihe richtiger Positionen gegen prinzipienlose Blockpolitik, falsch verstandene Einheitsfrontpolitik und andere rechte Abweichungen beschloss, so gab er auf die entscheidenden Fragen der internationalen Politik keine Antworten: auf die der neuen strategischen Orientierung nach dem Ende der revolutionären Nachkriegsperiode in Europa wie auch auf die immer drückender werdende von Bürokratisierung der Sowjetunion und ihrer weiteren ökonomischen Entwicklung angesichts des Ausbleibens der Revolution im Westen. Wie Trotzki es formulierte, wurde auf dem Kongress „jede Mücke eingehend beschaut und die Kamele glatt“ übersehen. [lxiv]

Der fünfte Kongress begann außerdem auch mit einer Abkehr von der Methode der Übergangsforderungen – beispielsweise in der falschen Identifizierung von ArbeiterInnenregierung und Diktatur des Proletariats. Die Ultralinken in der KI (in der KPD z. B.) nutzten die Gelegenheit, Übergangsforderungen wie jene nach ArbeiterInnenkontrolle überhaupt als „reformistisch“ und „sozialdemokratisch“ zu denunzieren.

Diesen Kurs setzte die stalinisierte Komintern mit Siebenmeilenschritten fort. Mit der Proklamation einer neuen, „Dritten Periode“, die eine Vertiefung der kapitalistischen Krise proklamierte, wurde der Grundstein für eine ultralinke Wendung vollzogen. Das Programm der Komintern, entworfen von Bucharin und angenommen auf dem 6. Kongress, ersetzte die konkrete Analyse vollends durch eine Sammlung allgemeiner Wahrheiten und eine Kanonisierung der „richtigen Linie“, der ihr Verfasser kurz darauf selbst zum Opfer fiel.

Die Stalinparteien führten in der „Dritten Periode“ den Kampf gegen jede Form von Übergangsforderungen – ein historisches Erbe, das jeder Form von Stalinismus bis heute anhaftet. Unwillkürlich bereitete der Stalinismus wie auf vielen anderen Ebenen die Rückkehr zur Theorie und Programmatik der Sozialdemokratie – in diesem Fall zum Minimal-/Maximalprogramm vor. Auch die „Krisentheorie“ wurde unter Stalin zu einer Rechtfertigungsideologie.

Nur Trotzki und die Vierte Internationale verteidigten die Methode der frühen Komintern und kodifizierten sie im Übergangsprogramm von 1938, dessen Methode bis heute Grundlage für das Herangehen von RevolutionärInnen an die Fragen des Programm ist.

7. Partei als Kampforganisation, Internationale als internationaler Kampfverband

Ebenso wie die Frage des Charakters des Programms und der politischen Praxis der ArbeiterInnenbewegung stellt die imperialistische Epoche die vorherrschende Parteiform der Zweiten Internationale auf den Prüfstand der Geschichte.

Die Klassenkämpfe zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Debatten in der russischen Sozialdemokratie und insbesondere das Scheitern der Zweiten Internationale im Krieg verdeutlichten die Notwendigkeit einer Partei und Internationale „neuen Typs“.

Es waren revolutionäre Kampforganisationen, die auf einer gemeinsamen, wissenschaftlich fundierten Programmatik, gemeinsamer Disziplin, einer aktiven, klassenbewussten Mitgliedschaft und verantwortlichen Führung, auf einem durch die Prinzipien des demokratischen Zentralismus regulierten Parteileben beruhten.

Anders als für bürgerliche oder reformistische Parteien war und ist das Programm für KommunistInnen keine Sammlung von Wünschen oder beliebigen Zielen. Es stellt eine Anleitung zum Handeln dar, ist eine Grundlage, die die Partei nicht nur ideell verbindet, sondern auch für die Aktion, zum Kampf ausrichtet und ihren Weg weist, überprüfbar und auch korrigierbar macht.

Anders als die Zweite Internationale, die letztlich eine Föderation nationaler Parteien darstellte, bildete die Dritte bis zu ihrer stalinistischen Degeneration eine Internationale, der nationale Sektionen angegliedert und ihrer revolutionären Disziplin untergeordnet waren – ein Prinzip, auf dem auch die revolutionäre, frühe Vierte Internationale basierte.

Die Bestimmung der Partei als Kampforganisation stellt das zentrale und unverzichtbare Instrument dar, die Klasse zum Sturz des Kapitalismus zu führen. Das schließt notwendigerweise nicht nur den Kampf gegen die unmittelbaren VertreterInnen und Parteien der herrschenden Klasse ein, sondern auch gegen ihre AgentInnen in der ArbeiterInnenklasse – Sozialdemokratie, Stalinismus und Gewerkschaftsbürokratie.

Im Unterschied zu frühen OpponentInnen des Marxismus in der ArbeiterInnenbewegung des 19. Jahrhunderts, die keine feste soziale Basis in der Gesellschaft hatten oder oft den Standpunkt historisch überholter Klassen vertraten, besitzt die ArbeiterInnenbürokratie im imperialistischen System eine strukturelle, soziale Basis – die Absonderung der ArbeiterInnenaristokratie als privilegierte Schicht der Klasse –, die erst mit dem Untergang des Imperialismus selbst verschwinden wird, und auch das nicht mit einem Schlag, sondern nur während einer längeren oder kürzeren Übergangsperiode.

Umgekehrt bedeutet das aber, dass eine revolutionäre Avantgardepartei und Internationale in der imperialistischen Epoche umso unverzichtbarer sind: Ein Zurückweisen der leninistischen Partei und Führung als Voraussetzung jeder erfolgreichen, genuin proletarischen Revolution ist daher nicht nur mit dem marxistischen Revolutionsverständnis, sondern auch mit einem revolutionären Verständnis der imperialistischen Epoche unvereinbar.

8. Schwächen der Theorie Lenins

Nach der Darstellung von zentralen Errungenschaften der Lenin’schen Imperialismustheorie und ihres damit einhergehenden programmatischen Erbes, das bis heute eine unverzichtbare Grundlage jeder revolutionären Politik darstellt, müssen wir jedoch auch auf Schwächen seiner Theorie eingehen. Im Laufe der letzten Jahrzehnte wurden diese vom revolutionären wie vom akademischen Marxismus zwar immer wieder thematisiert, ohne jedoch zu einer befriedigenden Lösung, also zu einer Erweiterung und Reformulierung der Imperialismustheorie geführt zu haben. Im Gegenteil, viele KritikerInnen Lenins, die durchaus zu Recht auf die fehlende Integration der Marx’schen Krisentheorie, des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate und auf Schwächen des Monopolbegriffs hinwiesen, kippten selbst das Kind mit dem Bade aus. Erstens identifizierten sie oft fälschlich die Theorie Hilferdings mit der Lenins, zweitens verwarfen sie auch gleich jede Imperialismustheorie – damit auch den Antiimperialismus.

Um die Schwierigkeiten von Lenin zu begreifen, seine Imperialismustheorie konsequent auf den Boden der Marx’schen Kapitalanalyse zu stellen, müssen wir diese im Kontext der theoretischen Entwicklung und Diskussion der 2. Internationale und der verschiedenen theoretischen Erklärungen sehen.

In seiner Broschüre definiert Lenin den Imperialismus ökonomisch als das monopolistische Stadium des Kapitalismus. „Würde eine möglichst kurze Definition des Imperialismus verlangt, so müßte man sagen, daß der Imperialismus das monopolistische Stadium des Kapitalismus ist.“ [lxv]

Oder ausführlicher:

„Zum kapitalistischen Imperialismus aber wurde der Kapitalismus erst auf einer bestimmten, sehr hohen Entwicklungsstufe, als einige seiner Grundeigenschaften in ihr Gegenteil umzuschlagen begannen, als sich auf der ganzen Linie die Züge einer Übergangsperiode vom Kapitalismus zu einer höheren ökonomischen Gesellschaftsformation herausbildeten und sichtbar wurden. Ökonomisch ist das Grundlegende in diesem Prozeß die Ablösung der kapitalistischen freien Konkurrenz durch die kapitalistischen Monopole. Die freie Konkurrenz ist die Grundeigenschaft des Kapitalismus und der Warenproduktion überhaupt; das Monopol ist der direkte Gegensatz zur freien Konkurrenz, aber diese begann sich vor unseren Augen zum Monopol zu wandeln, indem sie die Großproduktion schuf, den Kleinbetrieb verdrängte, die großen Betriebe durch noch größere ersetzte, die Konzentration der Produktion und des Kapitals so weit trieb, daß daraus das Monopol entstand und entsteht, nämlich: Kartelle, Syndikate, Trusts und das mit ihnen verschmelzende Kapital eines Dutzends von Banken, die mit Milliarden schalten und walten. Zugleich aber beseitigen die Monopole nicht die freie Konkurrenz, aus der sie erwachsen, sondern bestehen über und neben ihr und erzeugen dadurch eine Reihe besonders krasser und schroffer Widersprüche, Reibungen und Konflikte. Das Monopol ist der Übergang vom Kapitalismus zu einer höheren Ordnung.“ [lxvi]

Lenin leitet hier die Entstehung des Imperialismus und neuer, vorherrschender Kapitalformen im wesentlichen aus dem Zentralisations- und Konzentrationsprozess des Kapitals ab, der eine neue, qualitative Stufe der Vorherrschaft großer Kapitalgruppen in den Zentren eingenommen hätte. Lenin führt dies auch recht plastisch anhand der wichtigsten Großmächte seiner Zeit – insbesondere anhand der Entwicklung des deutschen Imperialismus aus. Er verweist in seiner Kritik am Utopismus der kleinbürgerlichen Antitrustbewegung in den USA darauf, wie hoffnungslos unmöglich und reaktionär die Rückkehr einer romantisierten Marktwirtschaft, kleiner, scheinbar unabhängiger ProduzentInnen geworden sei. Hoffnungslos und unmöglich, weil die höhere Konzentration und Zentralisation des Kapitals eine höhere Entwicklung der Produktivität und Technik, einen gesellschaftlich höher stehenden Stand der Produktion und Verteilung darstellt. Reaktionär wäre die Zerschlagung der Großunternehmen oder Monopole, weil sie einen Rückschritt bedeuten würde, da mit ihrer Zerschlagung auch ein integrierter, wenn auch für die bornierten Zwecke des Kapitals zurechtgestutzter, planmäßig abgestimmter, Arbeitsprozess zerstückelt würde.

Der rasche Konzentrations- und Zentralisationsprozess und darüber die Verwandlung der Konkurrenz in Monopole, besonders, aber nicht nur, im Bank- und Kreditwesen stellen zweifellos historische Entwicklungstendenzen und empirisch nachvollziehbare Fakten dar.

Problematisch erweist sich jedoch die Gegenüberstellung von Konkurrenz und Monopol. Wenn wir das Monopol oder  Trusts, Kartelle und anderen Organisationsformen der Monopole betrachten, so zeigt sich ein ungelöstes Spannungsverhältnis bei Lenin. Die „freie Konkurrenz“ wird einerseits als Grundeigenschaft des Kapitalismus und der Warenproduktion überhaupt bestimmt. Andererseits wird mit dem Monopol nicht nur eine bestimmte Kapitalgruppe gebildet, sondern eine, in deren innerem Bereich die Konkurrenz weitgehend verschwunden und aufgehoben sei, selbst wenn es sich beim Monopol um mehrere Kapitale handle. Das Monopol tritt nicht einfach neben die Konkurrenz, sondern anstelle der Konkurrenz, was das Verhältnis der dominierenden Kapitalgruppen in einer Nationalökonomie zueinander betrifft.

Zweifellos liegt eine gewisse Stärke von Lenin darin, dass er diese Tendenz wie im obigen Zitat auch relativiert und darauf verweist. „Zugleich aber beseitigen die Monopole nicht die freie Konkurrenz, aus der sie erwachsen, sondern bestehen über und neben ihr und erzeugen dadurch eine Reihe besonders krasser und schroffer Widersprüche, Reibungen und Konflikte.“

Um welche Widersprüche, welche Reibungen und Konflikte es sich dabei handelt, bleibt jedoch unklar. Bei diesen Formulierungen zeigt sich aber auch der Einfluss von Hilferdings „Das Finanzkapital“ aus dem Jahr 1910, wo dem Verhältnis von Finanzkapital und freier Konkurrenz sowie dem von Finanzkapital und Krisen zwei Abschnitte gewidmet sind.

Hilferding verweist zwar an einigen Stellen auf die Bedeutung der Marx’schen Krisentheorie und des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate, zugleich stellt er zum Verhältnis von Kartellierung und Konkurrenz Folgendes fest:

„Die Kartelle bewirken, daß die Konkurrenz innerhalb eines Produktionszweiges aufhört oder, besser gesagt, latent wird, daß die preissenkenden Wirkungen der Konkurrenz innerhalb dieser Sphäre nicht zur Geltung kommen; sie bewirken zweitens, daß die Konkurrenz der kartellierten Sphären auf Grund einer höheren Profitrate vor sich geht gegenüber den nichtkartellierten Industrien. Aber sie können nichts ändern an der Konkurrenz der Kapitalien um die Anlagesphären, an den Wirkungen der Akkumulation auf die Preisgestaltung und deshalb die Entstehung von Disproportionalitätsverhältnissen nicht verhindern.“ [lxvii]

Für Hilferding kann zwar die Kartellierung oder Monopolisierung einzelner Branchen die Konkurrenz nicht ausschalten. Entscheidend ist jedoch, dass – anders als bei Marx – die Ausgleichsbewegung der Profitraten zwischen den Branchen, genauer zwischen kartellierten und nichtkartellierten Sektoren nicht stattfindet. Diese bilden vielmehr beständig, der Tendenz nach zunehmend, unterschiedliche Profitraten heraus. Das Kartell kann sich der Ausgleichsbewegung einer einheitlichen Profitrate des Gesamtkapitals nicht nur entziehen, es breitet seine Sphäre beständig aus, vergrößert also den Bereich, in dem die Konkurrenz außer Kraft gesetzt ist. Damit kann die Ausgleichsbewegung zur gesellschaftlichen Durchschnittsprofitrate logischerweise nicht die Bewegungen des nationalen Gesamtkapitals regulieren. Sie wirkt allenfalls im nichtkartellierten Sektor. Dasselbe gilt für das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate. Hilferdings Verweise darauf, die sich im „Finanzkapital“ durchaus finden, wirken als Fremdkörper.

Anders als in den 1920er Jahren wird die Bildung eines Generalkartells, das die gesamte kapitalistische Ökonomie planmäßig regulieren könne und solle, von Hilferding 1910 noch als „soziale und politische Unmöglichkeit“ verworfen, auch wenn es rein ökonomisch möglich wäre. Die Ursachen für die Krise des Kapitalismus bilden freilich nicht die Überakkumulation von Kapital und der tendenzielle Fall der Profitrate, sondern die Disproportionen zwischen den verschiedenen Branchen, die aus dem anarchischen Charakter der Produktion erwüchsen und sich im Imperialismus aufgrund des Gegensatzes von kartellierten und nichtkartellierten Sektoren massiv steigerten.

Lenin übernahm Hilferdings „Finanzkapital“ keineswegs kritiklos, sondern er polemisierte durchaus heftig gegen bedeutende theoretische Schwächen, so z. B. gegen dessen falsche Geldtheorie und die damit verbundene Unterschätzung von Finanz- und Bankenkrisen in der imperialistischen Epoche. Zugleich schimmert jedoch auch bei Lenins Konzeptualisierung der Konkurrenzfrage Hilferding durch. Die Konkurrenz, Reibungen und Widersprüche erwachsen wesentlich aus den nichtmonopolisierten Sphären und ihrem Verhältnis zu den monopolisierten. Daher findet sich auch bei ihm keine Behandlung des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate, daher auch keine Integration der Marx’schen Krisentheorie in seinem Werk.

Sicherlich hängt das damit zusammen, dass der zentrale Zwecke seiner Imperialismustheorie darin bestand, eine politische und theoretische Orientierung zu geben und eine revolutionäre Programmatik (Defaitismus, internationale Strategie, Programm für die Russische Revolution, zur nationalen Frage, …) herzuleiten und nicht 1916 „nebenbei“ sämtliche Fragen zu beantworten, die MarxistInnen in den letzten mehr als 100 Jahren umtrieben. Dass seine Theorie nicht primär an Fragen orientiert war, die sich im Laufe der Entwicklung als problematisch erwiesen, kann ihm daher, wenn überhaupt, nur sehr bedingt angekreidet werden.

Dennoch müssen wir nach diesen Ausführungen zu einem Kernpunkt der Schwäche kommen, der erklärt, warum die Integration von Krisen- und Imperialismustheorie bis heute solche Probleme bereitet. Lenins Konzeptualisierung des Verhältnisses von Monopol und Konkurrenz bleibt hinter einem wesentlichen Moment des Marx’schen Kapitalbegriffs zurück. Lenin gelingt es nicht, die Erscheinungsformen der Kapitalbewegung auf der Grundlage der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten kapitalistischer Produktion und Reproduktion zu begründen.

Bei den Marx´schen Ausführungen (im „Kapital“) ist zu unterscheiden zwischen den allgemeinen Bestimmungen bzw. abstrakten Bewegungsgesetzen des Kapitals und den realen historischen Formen, in denen sie sich darstellen.

Im Band 3 des „Kapital“ geht es eben nicht um eine konkrete Phase der „freien Konkurrenz“ des Kapitalismus, sondern die „freie Konkurrenz“ ist hier eine Abstraktion. Marx will aufzeigen, wie die Bewegungsgesetze des Kapitals sich dem Einzelkapital aufzwingen. Es ist die Form, in der sich das Einzelkapital verwertet und auf das Gesamtkapital bezieht.

Marx abstrahiert hier von allem, was die Herausbildung einer Durchschnittsprofitrate in der Realität behindert (in der Wirklichkeit setzt sich die Durchschnittsprofitrate immer nur tendenziell durch).

Marx betont, dass sich die dem Kapitalismus inhärenten Eigenschaften über die „Zwangsgesetze“ der Konkurrenz durchsetzten. In den Grundrissen formuliert das Marx so: „Begrifflich ist die Konkurrenz nichts als die innre Natur des Kapitals, seine wesentliche Bestimmung, erscheinend und realisiert als Wechselwirkung der vielen Kapitalien aufeinander, die innre Tendenz als äußerliche Notwendigkeit.) (Kapital existiert und kann nur existieren als viele Kapitalien, und seine Selbstbestimmung erscheint daher als Wechselwirkung derselben aufeinander.)“ [lxviii]

Dadurch, dass die Einzelkapitale über die Konkurrenz und die Bildung einer Durchschnittsprofitrate die Ausbeutung „vergesellschaften“, zu einem nationalen Gesamtkapital werden, werden sie zu einer Macht, die der ArbeiterInnenklasse entgegentritt.

Natürlich ändern sich historisch die Formen, in denen die Einzelkapitale versuchen, (mindestens) einen Durchschnittsprofit abzuwerfen. Aber: „Das Monopol ist nur eine Form dieses Versuchs, ist eine Erscheinungsform der Konkurrenz und ist außer durch die Konkurrenz auch nicht zu erklären. Die Aussage, das Monopol löse die ,freie Konkurrenz’ ab … impliziert, daß die ,freie Konkurrenz’ nicht eine logische Abstraktion, sondern eine tatsächliche historische Phase der Kapitalentwicklung ist, daß also Marx im 3. Band nicht die allgemeinen Bestimmungen des Kapitals als Kapital entwickelt habe, sondern eine Phase des Kapitalismus real analysiert habe … “ [lxix]

Als Folge dieser Verwechslung der Analyseebenen steht dann bei Lenin das Monopol außerhalb und/oder neben der „freien Konkurrenz“. „Man stellt in seiner Schrift durchgängig fest, daß Lenin das Verhältnis der Konkurrenz der vielen Kapitale und der Monopole nur auf der Ebene der realen Beziehungen der Einzelkapitale zueinander analysiert.“[lxx]

Es müssen zwei Ebenen unterschieden werden: a) die bei Marx abstrakt entfalteten, dem Kapitalbegriff inhärenten Bestimmungen und b) die Durchsetzung kapitalistischer Bewegungsgesetze auf der konkreten Ebene. Aus der auch von Marx vermerkten Tendenz des Kapitals zur Konzentration und Zentralisation kann nicht unmittelbar die Existenz von Monopolen abgeleitet werden, um dann auf dieser Grundlage sämtliche (oder zumindest die wesentlichen) Bewegungsformen der Kapitalakkumulation zu begreifen. Die ökonomische Basis für die Analyse des Imperialismus kann (zumindest) nicht im Konzentrationsprozess allein liegen, sondern in der Entfaltung aller Widersprüche, die im Kapital angelegt sind.

9. Kapitalbegriff und Epochenwechsel

An dieser Stelle müssen wir jedoch auch auf einen fundamentalen methodischen Schwachpunkt vieler Lenin-KritikerInnen eingehen. Ihre durchaus wichtigen Kritikpunkte gebrechen freilich an einer Schwäche – sie schütten das Kind mit dem Bade aus und verwerfen mit ihrer Kritik an Schwächen des Monopolbegriffes und der Fassung des Finanzkapitals bei Hilferding und Lenin, sofern er Hilferding übernimmt, auch die Imperialismustheorie als solche. Allenfalls taucht der Begriff in einer letztlich kautskyanischen Fassung auf, also als expansive, militärisch vorgetragene Eroberungspolitik.

Die methodische Schwäche dieser AutorInnen liegt in einer letztlich rein begriffslogischen Bestimmung der Kategorien der Kapitalanalyse. Sie verfehlen dabei jedoch gerade das Spezifische an der Marx’schen Gesellschaftstheorie und seines Bruchs mit dem Hegel’schen Systemgedanken.

Im Buch „Die ontologischen Grundprinzipien von Marx“ [lxxi], Teil der „Ontologie des gesellschaftlichen Seins“, beschäftigt sich Lukács sehr ausführlich mit dem Verhältnis von logischer und historischer Analyse des Kapitals oder generell der Gesellschaft und ihre Entwicklung. Er verweist darauf, dass die einfache Gegenüberstellung von „logischer“ oder „historischer“ Herleitung z. B. des Kapitalbegriffs zu einer ungewollten Wiederkehr des Systemgedankens Hegels führt, sei es in Form einer letztlich idealistischen Illusionen, dass verschiedenste Formen der gesellschaftlichen Wirklichkeit (Staat etc.) einfach nur aus den Kategorien des Kapitals „abgeleitet“ werden müssten, oder sei es in Form eines Geschichtsobjektivismus, demzufolge wie z. B. in der stalinistischen Geschichtsphilosophie und der Etappentheorie alle Länder und alle Regionen dieselben Gesellschaftsformationen in der „richtigen“ Reihenfolge zu durchlaufen hätten.

Das Entscheidende an Marx’ neuer, revolutionärer Methode besteht gerade in der Überwindung des Gegensatzes:

„Nicht umsonst hat Marx im ‚Kapital’ den Wert als erste Kategorie, als primäres ‚Element’ untersucht. Besonders durch  die Art, wie dieser hier in seiner Genesis erscheint: Diese Genesis zeigt einerseits abstrakt, auf ein entscheidendes Moment reduziert, den allgemeinsten Abriß einer Geschichte der gesamten ökonomischen Wirklichkeit, andererseits erweist die Auswahl sogleich ihre Fruchtbarkeit, indem diese Kategorien selbst, zusammen mit den Verhältnissen und Beziehungen, die aus ihrer Existenz notwendig folgen, das Wichtigste an der Struktur des gesellschaftlichen Seins, die Gesellschaftlichkeit der Produktion zentral erhellen. Die Genesis des Werts, die Marx hier gibt, beleuchtet sofort die Doppelheit seiner Methode: Diese Genesis selbst ist weder eine logische Deduktion aus dem Begriff des Werts noch eine induktive Beschreibung der einzelnen historischen Etappen seiner Entfaltung, bis er seine reine gesellschaftlichen Gestalt erhält, sondern eine eigenartige, neuartige Synthese, die die historische Ontologie des gesellschaftlichen Seins mit dem theoretischen Aufdecken seiner konkret und real wirksamen Gesetzlichkeiten theoretisch-organisch vereint.“ [lxxii]

Marx selbst reflektiert diese Zusammenhänge immer wieder in den methodischen Überlegungen zu den Grundrissen oder im Kapital. Entscheidend für unsere Diskussion der Imperialismustheorie erweist sich, dass auch der Kapitalbegriff von Marx notwendigerweise ein historisches Moment, ein Entwicklungsmoment enthält. Wenn Marx die geschichtlichen Tendenzen der kapitalistischen Akkumulation im ersten Band des Kapitals zusammenfasst: „Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“ [lxxiii]

Marx’ und Engels’ häufige Hinweise darauf, dass das Kapital in seinem Entwicklungsprozess mehr und mehr  gesellschaftliche Formen (Aktienkapital, Rolle von Banken und Börse, Staatsintervention, … ) annehme, verbinden sie korrekterweise damit, dass sich darin unbewusst und auf Basis des Privateigentums der zunehmende gesellschaftliche Charakter der Produktion artikuliert. Die von Hilferding und Lenin konstatierten Monopolisierungstendenzen und die Herausbildung eines Finanzkapitals, also die enge Verbindung oder gar Verschmelzung von Banken- und Industriekapital sind selbst ein Teil dieser Tendenz zur Vergesellschaftung. Insofern kommt beiden das Verdienst zu, eine reale Veränderung der Kapitalbewegung mit dem Epochenwechsel in Verbindung zu bringen.

Der Monopolbegriff enthält jedoch entscheidende Schwächen, wie wir gesehen haben, als das Verhältnis von Monopol und Konkurrenz falsch bestimmt wird, als wären sie auf derselben Ebene der Abstraktion angesiedelt – übrigens ein ähnlicher Fehler wie die Ansiedelung des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate und der entgegenwirkenden Ursachen auf derselben.

Vielmehr setzen die entgegenwirkenden Ursachen das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate logisch und geschichtlich voraus. Sie heben es nicht auf oder setzen es auch nicht zeitweilig „außer Kraft“, als ob einmal jene geschichtliche Tendenz und einmal die andere dominieren würde, sie sind vielmehr Modifikationen einer grundlegenden Gesetzmäßigkeit und zugleich auch Formen, über die sich diese Gesetzmäßigkeit durchsetzt. Dasselbe kann von der Konkurrenz im Verhältnis zum Monopol gesagt werden, was Lenin in gewisser Weise auch andeutet und weit mehr als  Hilferding u. a. betont, aber begrifflich nicht zu fassen kriegt.

Die begriffliche Schwäche hat aber nicht nur Auswirkungen auf den Monopolbegriff, Hilferdings „kartellierte Sphäre“, sondern auch auf den des Finanzkapitals. Die wachsende Bedeutung des zinstragenden Kapitals und seiner Institutionen diskutierten bekanntlich schon Marx und Engels. Diese Entwicklung konstatiert Lenins sicher zu Recht:

„Die Trennung des Kapitaleigentums von Anwendung des Kapitals in der Produktion, die Trennung des Geldkapitals vom industriellen oder produktiven Kapital, die Trennung des Rentners, der ausschließlich vom Ertrag des Geldkapitals lebt, vom Unternehmer und allen Personen, die an der Verfügung über das Kapital unmittelbar teilnehmen, ist dem Kapitalismus überhaupt eigen. Der Imperialismus oder die Herrschaft des Finanzkapitals ist jene höchste Stufe des Kapitalismus, wo diese Trennung gewaltige Ausdehnung erreicht. Das Übergewicht des Finanzkapitals über alle übrigen Formen des Kapitals bedeutet die Vorherrschaft des Rentners und der Finanzoligarchie, bedeutet die Aussonderung weniger Staaten, die finanzielle ‚Macht’ besitzen.“ [lxxiv]

Lenins Begriff des Finanzkapitals enthält jedoch zwei wichtige Probleme. Einerseits schwebt ihm die spezifische Organisationsform des Verhältnisses von Industrie und Geldkapital nicht nur als Beispiel zur Veranschaulichung dieser Tendenz vor, sondern geradezu als Muster einer globalen Entwicklungstendenz. Die extrem enge Verbindung von Industrie und Banken im Deutschen Reich, die im Ersten Weltkrieg noch massiv verstärkt wurde, stellte jedoch eine Besonderheit des deutschen Imperialismus dar, während sie insbesondere in den USA immer andere, losere Formen annahm. Erst recht trifft das auf die Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg zu.

Sicherlich ist Lenins Vorstellung einer Verallgemeinerung des Verhältnisses von industriellem und Geldkapital nach dem Modell des deutschen Imperialismus historisch nachvollziehbar. Angesichts der real viel stärkeren Integration von staatlichem Kommando und verschiedenen Kapitalgruppen im imperialistischen Weltkrieg drängte sie sich geradezu auf. Angesichts der historischen Entwicklung bedarf dies jedoch einer Korrektur. Sein Begriff des Finanzkapitals ist zu konkret auf spezifische historische Formen fokussiert.

Damit verbunden ist ein weiteres Problem, das das innere Verhältnis des Finanzkapitals betrifft. Die Konkurrenz erscheint bei Hilferding und Lenin im Wesentlichen außerhalb des monopolisierten oder kartellierten Sektors zu bestehen, d. h. auch außerhalb des Finanzkapitals. Die darin zusammengefassten Einzelkapitale erscheinen faktisch tendenziell als ein vereintes Kapital, jedenfalls als eines, dessen Binnenbeziehungen nicht durch die Konkurrenz vermittelt werden. Betrachten wir die Entwicklung des Finanzkapitals in der gesamten imperialistischen Epoche, erweist sich diese Vorstellung als unhaltbar. Selbst in ihren Frühphasen ist sie fragwürdig, auch wenn eine solche Entwicklungstendenz gerade im Ersten Weltkrieg durchaus plausibel gewesen sein mag.

Im Rückblick, also angesichts einer ein ganzes Jahrhundert  umfassenden weiteren Entwicklung, erweist sich Lenins Fassung des Begriffs des Finanzkapitals als zu wenig abstrakt, und wir müssen ihn allgemeiner bestimmen.

Korrekt ist zweifellos (a) die Tendenz zur engeren Verbindung von Industrie und Finanzsektor und (b) die Dominanz des Geldkapitals bzw. des zinstragenden Kapitals. Die Dominanz des Letzteren ergibt sich daraus, dass es an keine stoffliche Basis gebunden ist, dass es rascher und freier von einer Anlagesphäre zur anderen geleitet werden kann. Zweitens bedarf jede große industrielle Unternehmung enormer zusätzlicher Aufwendungen für Investitionen über den im eigenen Betrieb erwirtschafteten Akkumulationsfonds hinaus, die über Aktienmärkte, Anlagefonds, Unternehmensanleihen, Kredite etc. gefunden werden müssen.

Marx selbst beschäftigt sich mit den Auswirkungen des Kredits auf das industrielle Kapital, insbesondere im Kapitel „Die Rolle des Kredits in der kapitalistischen Produktion“ und konstatiert dabei bedeutende Phänomene, die auf die Entstehung eines Finanzkapitals im Sinne Lenins durchaus hinweisen. Neben der Vermittlung der Ausgleichsbewegung der Profitrate, der Beschleunigung der Zirkulation und der Verringerung der Zirkulationskosten verweist er mit der Bildung des Aktienkapitals – wenn man so will, einer Form von Finanzkapital – auf folgende Auswirkungen:

„1. Ungeheure Ausdehnung der Stufenleiter der Produktion und Unternehmungen, die für Einzelkapitale unmöglich waren. Solche Unternehmungen zugleich, die früher Regierungsunternehmungen waren, werden gesellschaftliche.

2. Das Kapital, das an sich auf gesellschaftlicher Produktionsweise beruht und eine gesellschaftliche Konzentration von Produktionsmitteln und Arbeitskräften voraussetzt, erhält hier direkt die Form von Gesellschaftskapital (Kapital direkt assoziierter Individuen) im Gegensatz zum Privatkapital, und seine Unternehmungen treten auf als Gesellschaftsunternehmungen im Gegensatz zu Privatunternehmungen. Es ist die Aufhebung des Kapitals als Privateigentum innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst.

3. Verwandlung des wirklich fungierenden Kapitalisten in einen bloßen Dirigenten, Verwalter fremdes Kapitals, und der Kapitaleigentümer in bloße Eigentümer, bloße Geldkapitalisten. Selbst wenn die Dividenden, die sie beziehn, den Zins und Unternehmergewinn, d. h. den Totalprofit einschließen (denn das Gehalt des Dirigenten ist, oder soll sein, bloßer Arbeitslohn einer gewissen Art geschickter Arbeit, deren Preis im Arbeitsmarkt reguliert wird, wie der jeder andren Arbeit), so wird dieser Totalprofit nur noch bezogen in der Form des Zinses, d. h. als bloße Vergütung des Kapitaleigentums, das nun ganz so von der Funktion im wirklichen Reproduktionsprozeß getrennt wird wie diese Funktion, in der Person des Dirigenten, vom Kapitaleigentum. Der Profit stellt sich so dar (nicht mehr nur der eine Teil desselben, der Zins, der seine Rechtfertigung aus dem Profit des Borgers zieht) als bloße Aneignung fremder Mehrarbeit, entspringend aus der Verwandlung der Produktionsmittel in Kapital, d. h. aus ihrer Entfremdung gegenüber den wirklichen Produzenten, aus ihrem Gegensatz als fremdes Eigentum gegenüber allen wirklich in der Produktion tätigen Individuen, vom Dirigenten bis herab zum letzten Taglöhner. In den Aktiengesellschaften ist die Funktion getrennt vom Kapitaleigentum, also auch die Arbeit gänzlich getrennt vom Eigentum an den Produktionsmitteln und an der Mehrarbeit.“ [lxxv]

Darüber hinaus verweist er auch darauf, dass diese bestimmten Formen des zinstragenden Kapitals zeitweilig dazu führen können, dass diese Gesellschaftsunternehmungen von der Ausgleichsbewegung der Profitrate ausgenommen werden können [lxxvi] und auch auf die Tendenz zur Monopolbildung.

Allerdings bleibt die Bewegung, diese Tendenz zur Aufhebung des Kapitalismus auf Basis des Kapitalismus, in inneren Widersprüchen befangen:

„Es ist dies die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise selbst und daher ein sich selbst aufhebender Widerspruch, der prima facie (anscheinend, offensichtlich; d. Red.) als bloßer Übergangspunkt zu einer neuen Produktionsform sich darstellt. Als solcher Widerspruch stellt er sich dann auch in der Erscheinung dar. Er stellt in gewissen Sphären das Monopol her und fordert daher die Staatseinmischung heraus. Er reproduziert eine neue Finanzaristokratie, eine neue Sorte Parasiten in Gestalt von Projektenmachern, Gründern und bloß nominellen Direktoren; ein ganzes System des Schwindels und Betrugs mit Bezug auf Gründungen, Aktienausgabe und Aktienhandel. Es ist Privatproduktion ohne die Kontrolle des Privateigentums.“ [lxxvii]

Und weiter: „In dem Aktienwesen existiert schon Gegensatz gegen die alte Form, worin gesellschaftliches Produktionsmittel als individuelles Eigentum erscheint; aber die Verwandlung in die Form der Aktie bleibt selbst noch befangen in den kapitalistischen Schranken; statt daher den Gegensatz zwischen dem Charakter des Reichtums als gesellschaftlicher und als Privatreichtum zu überwinden, bildet sie ihn nur in neuer Gestalt aus.“ [lxxviii]

Daraus erklärt sich auch, warum die Bewegungen des zinstragenden Kapitals, zumal wenn wir den Kredit nicht nur auf das industrielle, sondern auf Kapitaleigentum selbst, auf Kapital als Ware beziehen, dass sich – ähnlich wie das Monopol – das zinstragende Kapital von den Schranken der Ausgleichsbewegung der Durchschnittsprofitrate zu „befreien“ versucht, was die Form von Spekulation, Finanzblasen, abgeleiteten Geschäften, Glücksritterei annimmt. In jedem Fall geht diese mit einer Zunahme des Parasitismus einher, weil eine ganze Schicht von VermögensbesitzerInnen geschaffen wird, die keine Rolle für die eigentliche Produktion spielt, wohl aber eben, weil sie Kommando über das gesellschaftliche Gesamtkapital immer wesentlicher mit ausübt, sich daran bereichert.

Letztlich bleibt aber auch das Finanzkapital an die Ausgleichsbewegung der gesellschaftlichen Durchschnittsprofitrate und die Mehrwertproduktion gebunden – so sehr es sich auch über längere Zeitabschnitte davon zu befreien scheint (oder den AnlegerInnen ein solche Befreiung mit ständig steigenden Renditeversprechen verheißt). Daher bleibt letztlich auch das Verhältnis der verschiedenen Seiten des Finanzkapitals – von industriellem und zinstragendem, der verschiedenen Profitabilitätserwartungen auch der Großkapitale – über die Konkurrenz vermittelt.

Eine solche Korrektur des Begriffs des Finanzkapitals erscheint uns notwendig, weil er so für die gesamte Epoche nutzbar gemacht werden kann und weil er so gerade der Phase nach 1945 weitaus mehr entspricht.

10. Vereinseitigungen der Theorie und ihre Folgen

Wir haben gesehen, dass im Monopolbegriff von Hilferding, aber auch von Lenin bereits ein grundlegendes Problem angelegt ist – die Frage der Bestimmung des Verhältnisses von Konkurrenz und Monopol.

Bei Hilferding kommt dies schon im „Finanzkapital“ zum Ausdruck, wenn er die theoretische Möglichkeit eines organisierten, regulierten Kapitalismus ins Auge fasst. Hinzu kommt, dass er – unter anderem auch eine Folge seiner falschen Geldtheorie, die dieses wesentlich als Zirkulationsmittel auffasst und die Wertbestimmung des Geldes in die Zirkulation verlagert – die Ungleichgewichte (Disproportionen) in den Tauschbeziehungen als eigentliche Krisenursache im Kapitalismus betrachtet. Es ist daher in seinem Sinne nur folgerichtig, dass, je stärker monopolisiert eine Ökonomie, je mehr sie über Kartelle oder staatliche Intervention reguliert und staatskapitalistisch geplant wird, die Krisen in den Hintergrund treten –  jedenfalls bei einer richtigen staatlichen Lenkung.

„Mit der Entwicklung des Bankwesens, mit der immer enger werdenden Verflechtung der Beziehungen zwischen Bank und Industrie verstärkt sich die Tendenz, einerseits die Konkurrenz der Banken untereinander immer mehr auszuschalten, anderseits alles Kapital in der Form von Geldkapital zu konzentrieren und es erst durch die Vermittlung der Banken den Produktiven zur Verfügung zu stellen. In letzter Instanz würde diese Tendenz dazu führen, daß eine Bank oder eine Bankengruppe die Verfügung über das gesamte Geldkapital erhielte. Eine solche ‚Zentralbank’ würde damit die Kontrolle über die ganze gesellschaftliche Produktion ausüben.“ [lxxix]

Von hier ist es nicht mehr weit zum „Generalkartell“, das bei Hilferding die kapitalistische Ökonomie umfasst:

„Es entsteht aber die Frage, wo die Grenze der Kartellierung eigentlich gegeben ist. Und diese Frage muß dahin beantwortet werden, daß es eine absolute Grenze für die Kartellierung nicht gibt. Vielmehr ist eine Tendenz zu stetiger Ausbreitung der Kartellierung vorhanden. Die unabhängigen Industrien geraten, wie wir gesehen haben, immer mehr in Abhängigkeit von kartellierten, um schließlich von ihnen annektiert zu werden. Als Resultat des Prozesses ergäbe sich dann ein Generalkartell. Die ganze kapitalistische Produktion wird bewußt geregelt von einer Instanz, die das Ausmaß der Produktion in allen ihren Sphären bestimmt. Dann wird die Preisfestsetzung rein nominell und bedeutet nur mehr die Verteilung des Gesamtprodukts auf die Kartellmagnaten einerseits, auf die Masse aller anderen Gesellschaftsmitglieder anderseits. Der Preis ist dann nicht Resultat einer sachlichen Beziehung, die die Menschen eingegangen sind, sondern eine bloß rechnungsmäßige Art der Zuteilung von Sachen durch Personen an Personen. Das Geld spielt dann keine Rolle. Es kann völlig verschwinden, da es sich ja um Zuteilung von Sachen handelt und nicht um Zuteilung von Werten. Mit der Anarchie der Produktion schwindet der sachliche Schein, schwindet die Wertgegenständlichkeit der Ware, schwindet also das Geld. Das Kartell verteilt das Produkt. Die sachlichen Produktionselemente sind wiederproduziert worden und werden zu neuer Produktion verwendet. Von dem Neuprodukt wird ein Teil auf die Arbeiterklasse und die Intellektuellen verteilt, der andere fällt dem Kartell zu beliebiger Verwendung zu. Es ist die bewußt geregelte Gesellschaft in antagonistischer Form. Aber dieser Antagonismus ist Antagonismus der Verteilung. Die Verteilung selbst ist bewußt geregelt und damit die Notwendigkeit des Geldes vorüber. Das Finanzkapital in seiner Vollendung ist losgelöst von dem Nährboden, auf dem es entstanden. Die Zirkulation des Geldes ist unnötig geworden, der rastlose Umlauf des Geldes hat sein Ziel erreicht, die geregelte Gesellschaft, und das Perpetuum mobile der Zirkulation findet seine Ruh’.“ [lxxx]

Im „Finanzkapital“ betrachtet Hilferding das Generalkartell jedoch noch als bloß theoretische Möglichkeit, weil es nur aus enormen Klassenkämpfen und Erschütterungen der Gesellschaft entstehen könne. Die reformistischen und harmonistischen Schlussfolgerungen liegen jedoch schon in der „Hypothese“ klar auf der Hand. Mit seinem Übergang  vom marxistischen Zentrum der II. Internationale zum offenen Reformismus und Sozialpatriotismus geht Hilferding auch in seinen politischen Schlussfolgerungen nach rechts. Das „Generalkartell“ soll, mit ihm als sozialdemokratischem Finanzminister, als „organisierter Kapitalismus“ Wirklichkeit werden.

Auf dem Kieler Parteitag der SPD 1927 präsentierte Hilferding seine Theorie und stellte fest, dass wir „zu einer kapitalistischen Organisation der Wirtschaft kommen, also von der Wirtschaft des freien Spiels der Kräfte zur organisierten Wirtschaft. (…) Organisierter Kapitalismus bedeutet also in Wirklichkeit den prinzipiellen Ersatz des kapitalistischen Prinzips der freien Konkurrenz durch das sozialistische Prinzip der planmäßigen Produktion.“ [lxxxi]

Hier zeigt sich, welche fatalen Schlussfolgerungen in der Theorie Hilferdings angelegt sind. Natürlich sind es nicht einfach seine Schwächen, die dazu führen. Der Übergang der Sozialdemokratie ins bürgerliche Lager bildet die Triebkraft, die Hilferding nach rechts treibt und damit das Generalkartell von einer theoretischen Möglichkeit in eine Form des „organisierten Kapitalismus“ zur theoretischen Rechtfertigung bürgerlicher ArbeiterInnenpolitik verwandelt.

Natürlich wird nicht jede/r ReformistIn, der/die einen falschen oder unzureichenden Begriff von Monopol, Finanzkapital und ihrem Verhältnis zu den allgemeinen Gesetzen des Kapitalismus hat. Aber unabhängig vom Willen Einzelner enthalten die Theorien und Begrifflichkeiten immer eine Eigenlogik, deren innere Probleme früher oder später als politische Fehler, im schlimmsten Fall als Revisionismus zum Vorschein treten.

Es ist jedenfalls kein Zufall, dass die Hilferding’sche falsche Konzeption von Krisen, Geldtheorie und der geschichtlichen Tendenzen des Finanzkapital zu reformistischen Schlussfolgerungen führte, ja führen musste.

Lenin war sich dieser Tatsache durchaus bewusst – und zwar nicht nur, weil sich Hilferding als Sozialpazifist im Weltkrieg erwies und, ähnlich Kautsky, die Rolle eines Versöhnlers gegenüber der Mehrheitssozialdemokratie spielte, in deren Schoß er schließlich zurückkehrte. Lenin bemerkt und kritisiert in den Exzerpten zum „Finanzkapital“ [lxxxii] wie in seinen Schriften Hilferdings idealistische philosophische Anschauungen (seinen „Machismus“), die Vorstellung, dass Geld ohne Wert in die Zirkulation eingehe, seine harmonistische Vorstellung, dass die zunehmende Konzentration und Zentralisation von Banken die Krise abschwäche. Lenin notiert in den Exzerpten auch, dass „von den einzelnen Kartellen eine Aufhebung der Krisen erwarten“ einer „Einsichtslosigkeit“ [lxxxiii] auf Seiten Hilferdings gleichkomme.

Im Unterschied zu Letzterem geht Lenin auch nicht von einer Beseitigung der Konkurrenz und der Krisen aus – er betrachtet die zunehmende Tendenz zum Monopol durchaus auch als etwas, das gegenläufige Tendenzen mit hervorbringt. Aber wie wir gesehen haben, greift hier Lenins Kritik gegenüber Hilferding zu kurz. Seine ausgewogenere, offenere und dialektischere Position unterscheidet sich daher jedoch durchaus grundsätzlich vom Reformismus als Kernelement der Hilferding’schen Auffassung.

Doch gerade dessen Fehler wirken bis heute nach. Einerseits greifen sehr viele reformistische Konzeptionen auf eine falsche Krisentheorie, sei es eine Disproportionalitätstheorie oder eine Unterkonsumtionstheorie zurück. Letztere Auffassung findet sich bei Kautsky (und auch bei Rosa Luxemburg). Die Krisen werden nicht aus der Akkumulation des Kapitals, also seiner inneren Bewegung hergeleitet, sondern aus der Zirkulationssphäre oder dem beschränkten Konsum, sodass es naheliegt, dass sie mithilfe staatlicher Regulierung und Intervention beseitigt, durch Umverteilung gelöst werden können. Während die Sozialdemokratie (und die von ihr dominierten Gewerkschaften) nach dem Ersten Weltkrieg die Theorie des „organisierten Kapitalismus“ in eine bürgerlich-harmonistische Politik einbetteten und nach 1945 mit bürgerlichen Theorien wie dem Keynesianismus kombinierten, griffen einige kommunistische TheoretikerInnen, vor allem Bucharin, die Hilferding’sche Vorstellung einer Ausschaltung der Konkurrenz im Rahmen einer Nationalökonomie auf und radikalisierten sie gewissermaßen, wenn auch zuerst mit ultralinken und keineswegs mit harmonischen Vorstellungen der Weltwirtschaft.

Für Bucharin entwickelt sich, wie er in „Imperialismus und Weltwirtschaft“ [lxxxiv] darlegt, die nationale kapitalistische Ökonomie zu einem einzigen staatskapitalistischen Trust. Auch wenn das noch nicht ganz vollzogen sein mag.

„Das Finanzkapital schlägt das gesamte Land in eiserne Fesseln. Die „Volkswirtschaft“ verwandelt sich in einen einzigen gewaltigen kombinierten Trust, dessen Teilhaber die Finanzgruppen und der Staat sind. Solche Bildungen nennen wir staatskapitalistische Trusts. Es ist natürlich unmöglich, ihre Struktur mit der Struktur eines Trusts im engeren Sinne des Wortes zu identifizieren; dieser ist eine mehr zentralisierte und weniger anarchische Organisation. Aber bis zu einem gewissen Grade und besonders im Vergleich zu der vorhergehenden Phase des Kapitalismus haben die wirtschaftlich entwickelten Staaten sich in einem bedeutenden Grade bereits dem Punkt genähert, wo man sie als eine Art von trustähnlichen Organisationen oder, wie wir sie genannt haben, als staatskapitalistische Trusts betrachten kann. Deshalb kann man jetzt von einer Konzentration des Kapitals in staatskapitalistischen Trusts als den Bestandteilen eines viel bedeutenderen gesellschaftlich-wirtschaftlichen Feldes, der Weltwirtschaft, sprechen.“ [lxxxv]

Anders als bei Hilferding hebt diese Entwicklung jedoch die Konkurrenz nicht auf, sie beseitigt sie nur im Rahmen des nationalen gesellschaftlichen Gesamtkapitals, um sie umso heftiger und in Permanenz auf dem Weltmarkt und in der Weltpolitik zum Ausbruch kommen zu lassen.

„Der Kapitalismus hat versucht, seine eigene Anarchie dadurch zu überwinden, daß er ihr die eiserne Fessel der staatlichen Organisation anlegte. Indem er aber die Konkurrenz innerhalb des Staates aufhob, ließ er alle Teufel im internationalen Kampf los.“ [lxxxvi]

Oder an anderer Stelle: „Die Konkurrenz erreicht die höchste und letzte denkbare Entwicklungsstufe: die Konkurrenz der staatskapitalistischen Trusts auf dem Weltmarkt. In den Grenzen der ,nationalen’ Wirtschaften wird sie auf ein Minimum reduziert, aber nur, um in gewaltigem, in keiner der vorhergehenden Epochen möglichen Umfange aufs neue zu entbrennen.“ [lxxxvii]

Diese enge Verschmelzung von Staat und Kapital bedeutet aber auch, dass die Konkurrenz eine andere Form annimmt:

„Hier feiert die Konkurrenz ihre wildesten Orgien, und zugleich mit ihr verwandelt sich der Prozeß der Zentralisation des Kapitals und erreicht eine höhere Phase. Die Aufsaugung kleiner Kapitale, die Aufsaugung schwacher Trusts, ja sogar die Aufsaugung großer Trusts tritt in den Hintergrund und erscheint als ein Kinderspiel gegenüber der Aufsaugung ganzer Länder, die gewaltsam von ihren wirtschaftlichen Mittelpunkten losgerissen und in das wirtschaftliche System der siegreichen ,Nation’ einbezogen werden. Die imperialistische Annexion ist somit ein Sonderfall der allgemeinen kapitalistischen Tendenz zur Zentralisation des Kapitals, zu seiner Zentralisation in dem maximalen Umfang, der der Konkurrenz der staatskapitalistischen Trusts entspricht.“ [lxxxviii]

Der Begriff der kapitalistischen Konkurrenz bezieht sich hier nicht darauf, wie die Gesetzmäßigkeiten des Kapitals im Allgemeinen den Einzelkapitalien aufgezwungen werden können, sondern wird eigentlich zu einer politischen Kategorie. Es stehen sich Staatenkapitale als Konkurrenten gegenüber, die mit allen Mitteln um die Vorherrschaft auf der Welt kämpfen. Krieg wird, wie Bucharin weiter ausführt, zum Mittel das Anschlusses eines Trusts an einen anderen (z. B. Eroberung Belgiens durch Deutschland) oder eines Agrargebietes an einen Trust (Eroberung Ägyptens durch Britannien).

Bucharins Fehler besteht nicht darin, dass er auf die zentrale Bedeutung bestimmter Eroberungen von Kolonien und Krieg im Rahmen des imperialistischen Systems und der Verfolgung von Interessen nationaler Kapitalgruppen hinweist. Im Gegenteil, angesichts des Flächenbrands des imperialistischen Weltkrieges rückt diese Form der Verfolgung des Kapitalinteresses wie auch die Zentralisierung der Ökonomien im Krieg in den Mittelpunkt des Interesses.

Bucharin begeht hier aber den Fehler, die kapitalistische Konkurrenz als ökonomische Kategorie mit den Aktionen des bürgerlichen Staates, des konzentrierten Gesamtkapitalisten zu identifizieren. Die Tendenz zur staatlichen Zwangsregulierung (und damit auch zum Monopol) während des Krieges interpretiert Bucharin fälschlicherweise als lineare geschichtliche. Die Krise wird für ihn permanent, weil der ständige Kampf um die Neuaufteilung der Welt ständig zur brutalsten Austragungsform, zu Eroberung, Plünderung, Krieg drängt.

Die konzeptionelle Nähe zu Hilferding ist bei den theoretischen Grundvorstellungen (Generalkartelle und Staatstrust) offenkundig, die Schlussfolgerungen sind jedoch entgegengesetzt.

Jedoch problematisch und politisch falsch sind  die Schlussfolgerungen von Bucharin auch. Seine „linksradikale“ Weiterführung von Hilferding kennt im Grunde keine Stabilisierung mehr. Wenn, dann sei diese  nur vorübergehend, nebensächlich angesichts der Permanenz der „Krise“, der ständig sich verschärfenden innerimperialistischen Widersprüche, die eigentlich keine Atempause für die herrschende Klasse erlauben.

In der „Ökonomik der Transformationssperiode“ [lxxxix] radikalisiert er dieses Ansicht noch:

„Die kapitalistische ,Volkswirtschaft’ ist aus einem irrationalen System zu einer rationalen Organisation geworden, aus einer subjektlosen zu einem wirtschaftenden Subjekt. Diese Umwandlung ist durch das Wachstum des Finanzkapitalismus und die Verschmelzung der wirtschaftlichen und politischen Organisation der Bourgeoisie gegeben. Zugleich aber wurde weder die Anarchie der kapitalistischen Produktion überhaupt, noch die Konkurrenz der kapitalistischen Warenproduzenten aufgehoben. Diese Erscheinungen sind nicht nur geblieben, sondern haben sich vertieft, indem sie sich im Rahmen der Weltwirtschaft reproduzieren.” [xc]

Der Kapitalismus sei insgesamt in eine Phase der „negativen erweiterten Reproduktion“ getreten, also eines permanenten Niedergangs, einer Dauerkrise:

„Wir sahen bereits deutlich, daß der Zerfallsprozeß mit absoluter Unvermeidlichkeit einsetzt, nachdem die erweiterte negative Reproduktion den gesellschaftlichen Mehrwert (m) verschluckt hat … Die konkrete Sachlage in der Wirtschaft Europas in den Jahren 1918 – 1920 zeigt deutlich, daß diese Verfallsperiode bereits eingetreten ist und daß Anzeichen für eine Auferstehung des alten Systems der Produktionsverhältnisse fehlen. Umgekehrt. Alle konkreten Tatsachen weisen darauf hin, daß die Elemente des Zerfalls und der revolutionären Auflösung der Verbindungen mit jedem Monat fortschreiten.” [xci]

Und daraus folgt die Schlussfolgerung:

„Aber jetzt dürfen wir behaupten, daß eine Wiederherstellung des alten kapitalistischen Systems unmöglich ist … Die Menschheit steht also vor dem Dilemma: entweder ,Untergang’ der Kultur oder Kommunismus, nichts Drittes ist möglich.[xcii]

Diese theoretische Konzeption führte Bucharin und andere zu mehreren, potentiell fatalen politischen Schlussfolgerungen. Erstens einer sektiererischen Haltung zu demokratischen Fragen (siehe z. B. die nationale Frage) und Teilforderungen. Zweitens machte es ihn zu einem Befürworter einer voluntaristischen Offensive, bei der das konkrete Kräfteverhältnis eine nachrangige Rolle spielte. Hier lässt sich der innere Zusammenhang zwischen einer ultralinken Lesart der Endkrise und „negativen erweiterten Reproduktion“ mit seiner Ablehnung des Friedens von Brest-Litowsk und seiner Befürwortung eines revolutionären Krieges leicht erkennen. Diese politischen Differenzen zwangen Lenin schließlich auch, selbst die Vereinseitigungen der Bucharin’schen Theorie kritisch in den Blick zu nehmen. So kritisiert er in der Diskussion um ein neues Parteiprogramm die Tendenz, den Imperialismus als mehr als eine Entwicklungsstufe des Kapitalismus zu sehen:

„Der Imperialismus gestaltet in Wirklichkeit den Kapitalismus nicht von Grund aus um, und er kann es auch nicht. Der Imperialismus kompliziert und verschärft die Widersprüche des Kapitalismus, er ‚verknotet’ die Monopole mit der freien Konkurrenz, aber den Austausch, den Markt, die Konkurrenz, die Krisen usw. beseitigen kann der Imperialismus nicht. ( … ) Nicht reine Monopole, sondern Monopole neben dem Austausch, dem Markt, der Konkurrenz, den Krisen – das ist überhaupt die wesentlichste Eigenart des Imperialismus.

Darum ist es theoretisch falsch, die Analyse des Austauschs, der Warenproduktion, der Krisen usw. überhaupt zu streichen und sie durch die Analyse des Imperialismus als eines Ganzen zu ‚ersetzen’. Denn ein solches Ganzes gibt es nicht. Es gibt einen Übergang von der Konkurrenz zum Monopol, und daher wird ein Programm, das die allgemeine Analyse des Austauschs, der Warenproduktion, der Krisen usw. beibehält und eine Charakteristik der heranwachsenden Monopole hinzufügt, viel richtiger sein, die Wirklichkeit viel exakter wiedergeben. Gerade diese Verkoppelung der einander widersprechenden ‚Prinzipien’ – Konkurrenz und Monopol – ist für den Imperialismus wesentlich, gerade sie bereitet den Zusammenbruch, d. h. die sozialistische Revolution vor.“ [xciii]

In den Diskussionen um den VIII. Parteitag der KPR(B) im Jahr 1919 wendet sich Lenin explizit gegen Bucharins Vorstellungen und deren Untauglichkeit für eine Neufassung des Programms:

„Theoretisch begreift das Gen. Bucharin vollkommen, und er sagt, das Programm müsse konkret sein. Aber etwas begreifen ist eins, es tatsächlich durchführen ist etwas anderes. Das Konkretsein des Gen. Bucharin – das ist eine büchergelehrte Darlegung des Finanzkapitalismus. In der Wirklichkeit beobachten wir verschiedenartige Erscheinungen. In jedem landwirtschaftlichen Gouvernement beobachten wir neben der monopolisierten Industrie freie Konkurrenz. Nirgendwo in der Welt hat der Monopolkapitalismus ohne freie Konkurrenz in einer ganzen Reihe von Wirtschaftszweigen existiert und wird er je existieren. Ein solches System aufstellen heißt ein vom Leben losgelöstes, ein falsches System aufstellen. (…) Auf dem Standpunkt stehen, es gäbe einen einheitlichen Imperialismus ohne den alten Kapitalismus, heißt das Gewünschte für die Wirklichkeit nehmen.“ [xciv]

Lenins Bemerkungen verweisen auf zwei wichtige Aspekte. Erstens wendet er sich gegen die „leblose“ Vorstellung, dass das Monopol und Finanzkapital die Konkurrenz stetig mehr und mehr verdrängen oder gar ersetzen und die Gesetze des „alten Kapitalismus“ aufheben würden, auch wenn er selbst keine korrekte begriffliche Bestimmung von Konkurrenz und Monopolkapital leistet. Gerade Lenins Insistieren auf der „konkreten Analyse der konkreten Situation“ wappnet gegen den Versuch, komplexe historische Verhältnisse in starre Schemata zu pressen.

Zweitens verweist Lenin in obigen Passagen und seinen längeren Ausführungen darauf, dass Schematismus leicht dazu führt, sich anstelle eines konkreten Aktionsprogramms für eine bestimmte Situation oder Phase des Klassenkampfes mit Generalisierungen, allgemeinen Erwägungen zu begnügen und in einen abstrakten Maximalismus und Pseudoradikalismus abzugleiten.

Unglücklicherweise knüpfte jedoch die Kommunistische Internationale nach Lenins Tod wesentlich an die Methode Bucharins an – das betrifft sowohl den von Sinowjew inspirierten V. Weltkongress als auch Bucharins Programmentwurf für den VI.

Einerseits wurden die programmatischen Errungenschaften der ersten vier Weltkongresse, also die gesamte Methode der Übergangsforderungen, mehr und mehr über Bord geworfen und entweder durch opportunistische (Anglo-Russisches Gewerkschaftskomitee, Chinesische Revolution) oder durch ultralinke Fehler („Dritte Periode“, Ablehnung der Einheitsfrontpolitik, Sozialfaschismustheorie) ersetzt. Vor allem aber verabschiedete sich die Komintern vom Internationalismus und ersetzte diesen durch die Theorie vom Aufbau des Sozialismus in einem Land, einer reaktionären Rechtfertigungsideologie der sich mehr und mehr verfestigenden Herrschaft der Bürokratie in der Sowjetunion unter Stalin.

Die schematische Fassung des Monopolkapitals durch Hilferding und dann auch durch Bucharin ging jedoch in mehrfacher Hinsicht in die theoretische Begründung der Politik der kommunistischen Parteien nach der Wende zur Volksfrontpolitik ein.

Insbesondere die Theorie des „staatsmonopolistischen Kapitalismus“ wurde zur Leitideologie von Parteien wie der DKP oder KPÖ. Diese Konzeption knüpfte an Vorstellungen von Hilferding und Bucharin an, namentlich, dass die großen Kapitalgruppen und der Staat miteinander verschmolzen wären und die gesamte Wirtschaft und sozialen Verhältnisse dominieren würden. Dies würde das Monopolkapital und die von ihm dominierten politischen Institutionen in einen Gegensatz zu allen anderen Teilen der Gesellschaft, ArbeiterInnenklasse, KleinbürgerInnentum bis hin zum „nichtmonopolistischen“ Kapital, bringen. Gegen die Herrschaft des Monopols bräuchte es ein Bündnis all dieser Klassen, die gemeinsam eine „antimonopolistische Demokratie“ errichten sollten, die ihrerseits irgendwann auf wundersame Weise zur Diktatur des Proletariats führen würde, ganz so, wie die sozialdemokratische Regierungsbeteiligung irgendwann in den friedlichen Übergang zum Sozialismus münden sollte.

Im Grunde war und ist die „antimonopolistische Demokratie“ nur eine Neuauflage reformistischer Politik und der Volksfrontpolitik, die über ein Bündnis mit einem „fortschrittlichen“, in diesem Fall dem „nichtmonopolistischen“, also eigentlich ökonomisch rückständigsten, Teil des Kapitals realisiert werden sollte. Auch wenn es nie zu einer solchen Regierung kam – am ehesten wurden noch Regierungsbeteiligungen westlicher KPen an sozialdemokratischen Regierungen in diesem Sinn interpretiert –, so waren die Wirkungen dieser Strategie auf die ArbeiterInnenklasse dieselben wie bei jeder reformistischen. Um „antimonopolistische“ Bündnisse überhaupt herstellen zu können, mussten selbstverständlich auch die Interessen des „nichtmonopolistischen“ Kapitals berücksichtig werden, im Klartext also die der ArbeiterInnenklasse mit jenen dieser Kapitalfraktion in Einklang gebracht, also letztlich untergeordnet werden.

Anders jedoch als die Theorie Bucharins – von Lenin ganz zu schweigen – bildete in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der internationale Klassenkampf allenfalls eine Nebenrolle. Das „antimonopolistische“ Bündnis war immer als eines in einem Nationalstaat gedacht. Dies drückte sich auch in den Programmen der eigentlich reformistischen „Kommunistischen Parteien“ der Nachkriegsperiode aus, die einen „britischen“, „italienischen“ usw. Weg zum Sozialismus versprachen. Die KPÖ nannte ihr Programm gar „Sozialismus in rot-weiß-roten Farben“. Rückblickend erscheint das fast schon wie eine unfreiwillige Selbstparodie. Nichtsdestotrotz sollten die verheerenden Auswirkungen dieser Theorien, zu deren Rechtfertigung reihenweise Leninzitate herangezogen und oft genug auch entstellt wurden, nicht unterschätzt werden. Die sogenannte „Stamokaptheorie“ und ähnliche Vorstellungen über den zeitgenössischen Imperialismus prägten die Politik der westlichen Kommunistischen Parteien und etlicher linker AktivistInnen für ganze Generationen – und banden sie letztlich an eine reformistische Theorie und Praxis.

Die Kritik dieser Theorie bildete daher eine wichtige Aufgabe von RevolutionärInnen, genauso wie jeder Rückbezug darauf, jede Rehabilitierung dieser Konzeption bekämpft werden muss.

Dies erfordert freilich nicht nur Kritik, sondern auch eine ständige Aktualisierung der Imperialismustheorie selbst.

11. Wertgesetz auf dem Weltmarkt

11.1 Wertbildung und gesellschaftliches Gesamtkapital

Die Diskussionen über die Modifikation des Wertgesetzes und dessen generelle Wirkungsweise auf dem Weltmarkt, die in der deutschsprachigen Linken Anfang der 1970er Jahre geführt wurden, versuchten, einige dieser Probleme und offene Stellen der Lenin’schen Theorie und ihre Entstellungen zu überwinden. Bei allen Schwächen, die eine Reihe dieser Beiträge auch hatte – insbesondere die mit einer rein begriffslogischen Betrachtung der Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus und der damit einhergehenden Verwerfung des Imperialismus- und Epochenbegriffs –, warfen sie wichtige Fragen auf, die jede Imperialismustheorie auch zu beantworten hat.

Schließlich hatten sich die Erscheinungsformen des Imperialismus seit dem Tod Lenins und seit der frühen Kommunistischen Internationale nach dem 2. Weltkrieg fundamental verändert, und dies bedurfte daher einer theoretischen Erklärung und Begründung. Die Frage der werttheoretischen Fundierung der internationalen Beziehungen oder generell des Imperialismus drängte sich geradezu auf. Wie eigentlich das Wertgesetz auf dem Weltmarkt wirkt, wie es modifiziert wird, wie Extraprofit aus den halbkolonialen Ländern gezogen werden kann usw. usf. musste notwendigerweise beantwortet werden. Mit dem Zusammenbruch der großen Kolonialreiche und der folgenden Entkolonialisierung, also dem Übergang zur halbkolonialen Form der imperialistischen Durchdringung und Ausbeutung der sog. Dritten Welt, musste notwendigerweise auch die Frage der Wirkung des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt eine größere Bedeutung einnehmen als in der Ära des Kolonialsystems.

Die Behandlung dieser Fragestellung schließt notwendigerweise eine Betrachtung der Wertbestimmung selbst ein, die wir auch an den Beginn der folgenden Ausführungen stellen werden. Hier liegt zweifellos ein Verdienst verschiedener AutorInnen dieser Strömung, die sich um Zeitschriften wie „Probleme des Klassenkampfes“ gruppierte. [xcv] Die folgende Darstellung verdankt diesen Beiträgen wichtige Anregungen, insbesondere Wolfgang Schoellers „Weltmarkt und Reproduktion des Kapitals“ [xcvi].

Um die Modifikationen des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt genauer darstellen zu können, müssen wir kurz wesentliche Momente der Wertbestimmung im Rahmen einer Nationalökonomie, genauer die Herstellung eines nationalen Gesamtkapitals betrachten.

a) Wertbestimmung der Ware

Wenn wir der Marx’schen Theorie folgen, so bereitet die Wertbestimmung einer Ware zunächst keine weiteren Schwierigkeiten. „Gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist Arbeitszeit, erheischt, um irgendeinen Gebrauchswert mit den vorhandenen gesellschaftlich-normalen Produktionsbedingungen und dem gesellschaftlichen Durchschnittsgrad von Geschick und Intensität der Arbeit darzustellen.“[xcvii]

Der Wert einer Ware wird durch die Menge der gesellschaftlichen Durchschnittsarbeit bestimmt, die dem vorherrschenden Entwicklungsgrad einer Ökonomie zu einem bestimmten Zeitpunkt entspricht. Dies kann, ja wird mit dem Fortschritt der Produktionsbedingungen wechseln, aber zu einem bestimmten Zeitpunkt kann sie als gegeben betrachtet werden. Den Durchschnitt darf man außerdem auch nicht einfach als „statistisches Mittel“ ansehen, sondern als vorherrschende Produktionsbedingung.

In einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft – also einer, deren Produktion auf der großen Industrie beruht – erfolgte die Reduktion der verschiedenen Arbeiten auf den jeweiligen gesellschaftlichen Durchschnitt, vermittelt durch die Zirkulation der Waren und des Kapitals.

In diesem Zusammenhang erhalten auch ergänzende Bemerkungen von Marx, die sich auf die Realisierung des Werts beziehen und Gebrauchsquanten der Arbeit in die Wertbestimmung einfließen lassen, ihre Bedeutung:

„Wie es Bedingung für die Waren, daß sie zu ihrem Wert verkauft werden, daß nur die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit in ihnen enthalten, so für eine ganze Produktionssphäre des Kapitals, daß von der Gesamtarbeitszeit der Gesellschaft nur der notwendige Teil auf diese besondre Sphäre verwandt sei, nur die Arbeitszeit, die zur Befriedigung des gesellschaftlichen Bedürfnisses (demand) erheischt. Wenn mehr, so mag zwar jede einzelne Ware nur die notwendige Arbeitszeit enthalten; die Summe enthält mehr als die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, ganz wie die einzelne Ware zwar Gebrauchswert hat, die Summe aber, unter den gegebnen Voraussetzungen, einen Teil ihres Gebrauchswerts verliert.“ [xcviii]

Diese ergänzende und untergeordnete Bestimmung bildet einen notwendigen Bestandteil jeder Gesellschaft, die auf Warenproduktion basiert, da sich immer erst im Nachhinein, also im Kauf/Verkauf der Waren herausstellt, ob eine bestimmte Arbeit auch wirklich einen Gebrauchswert für andere darstellt, also KäuferIn findet. Findet sie diese nicht, wird das Resultat der Arbeit entwertet, bleibt als nutzlose Ware liegen, wird vernichtet. Gesamtgesellschaftlich erzwingt dies eine Anpassung der Produktion und der Verteilung der Arbeit auf die verschiedenen Branchen. Insofern stellt dieser zweite Aspekt der Wertbestimmung eine Form dar, die gesellschaftliche Durchschnittsarbeit immer wieder neu zu bestimmen.

b) Extramehrwert

Die Steigerung der Produktivität der Ware reduziert den Wert der Ware. Im selben Zeitraum werden zwar mehr Waren, also auch mehr Gebrauchswerte geschaffen, es wird aber kein zusätzlicher Wert gebildet, weil keine zusätzliche Arbeitsmenge verbraucht wird.

Der/die einzelne KapitalistIn jedoch, der/die zu überdurchschnittlichen gesellschaftlichen Bedingungen produziert, also in der Regel über höhere organische Zusammensetzung seines Kapitals verfügt, was zumeist einer fortgeschritteneren technischen Ausstattung entspricht, kann gegenüber der Konkurrenz, die zu durchschnittlichen Bedingungen schafft, einen Extramehrwert erzielen. Diesen eignet sich der/die produktivere KapitalistIn einer Branche an, indem er/sie seine/ihre Waren entweder über ihren individuellen Kosten verkaufen kann und damit mehr Mehrwert aneignet. Oder er/sie kann die Waren zum Wert verkaufen und damit die Konkurrenz unterbieten, da der Wert seiner Waren unter dem gesellschaftlichen Durchschnitt liegt. Diese wird dann ihrerseits gezwungen, entweder unter Wert zu verkaufen oder den Verlust von Marktanteilen zu riskieren. In jedem Fall wird sie versuchen müssen, den Produktivitätsvorsprung des/r fortgeschritteneren WarenproduzentIn einzuholen.

Höhere Intensität der Arbeit bedeutet, dass z. B. durch Verdichtung der Arbeit in derselben Zeit mehr Arbeit verausgabt wird. Das heißt, es werden/wird nicht nur mehr Gebrauchswerte, also Warenquanta, geschaffen, sondern auch größerer Wert. Auch das Kapital, das eine höhere Intensität der Arbeit einsetzt als der Durchschnitt, kann sich Extramehrwert aneignen.

Es findet in diesen Fällen jedoch kein Werttransfer statt, sondern das Einzelkapital nutzt zeitweilig günstigere Bedingungen, die solange bestehen, wie es über den gesellschaftlichen Durchschnittsbedingungen produzieren kann.

Schoeller beschreibt das als „ungleichen Tausch von Arbeitsquanta“: „Die ‚Substanz’ des Extramehrwerts beruht nicht auf einer Umverteilung von Werten innerhalb einer Branche, sondern darauf, daß das produktivste Kapital pro aufgewendeter Menge Arbeitszeit ein vergleichsweise umfangreicheres Mehrprodukt erhält und sich somit durch einen ungleichen Tausch von Arbeitsquanta in der Zirkulation mehr Ansprüche auf fremde produzierte Warenwerte aneignen kann, als dieses selbst in die Zirkulation gegeben hat.“ [xcix]

c) Marktwert und Marktpreis

Die Veränderungen der Produktivität sowohl innerhalb einer Branche wie zwischen den Branchen werden über die Bewegungen des Marktpreises um den Marktwert vermittelt. Nehmen wir z. B. eine Branche mit Unternehmen verschiedener Produktionsbedingungen an. Bei relativ ausgeglichen Verhältnissen bestimmen die Unternehmen mittlerer Produktionsbedingungen den Marktwert, um den die Preise bei kurzzeitigen Schwankungen von Angebot und Nachfrage oszillieren.

Bei anhaltenden Ungleichgewichten zwischen Angebot und Nachfrage jedoch kann es auch zu einer Verschiebung des Marktwertes kommen. Wenn z. B. die Unternehmen mit mittleren und überdurchschnittlichen Produktionsbedingungen die Bedürfnisse der (zahlungsfähigen) Nachfrage nicht mehr bedienen können, kann der Marktwert von Unternehmen mit den schlechtesten Produktionsbedingungen bestimmt werden. Auch dies kann eine Quelle von Extramehrwert sein, wie oben beschrieben, indem Unternehmen mit höheren oder durchschnittlichen Produktionsbedingungen ihre Waren unter Wert verkaufen können.

Ein weiterer Aspekt tritt hier hinzu, der jedoch von den TheoretikerInnen der „Ableitungsschule“ wenig behandelt wird, nämlich dass Zentralisations- und Monopolisierungstendenzen des Kapitals eine solche Situation auch verlängern können, wie natürlich das große Kapital generell auf Verstetigung solcher Bedingungen drängt. Dies kann durchaus unterschiedlich behauptet werden, einerseits durch Anhalten von gesellschaftlicher Entwicklung (z. B. indem wie etwa im Energiesektor Innovation zurückgehalten wird, um auf fossilen Energieträgern basierende Produktion weiterzuführen), andererseits auch durch die Jagd nach Extramehrwert (indem die marktbeherrschenden Konzerne Innovationen monopolisieren, ihre Konkurrenz faktisch von diesen ausschließen und ihnen überhaupt erst keinen Marktzugang ermöglichen. Solche Fälle, wo faktisch Monopolpreise durchgesetzt werden, finden wir im heutigen Kapitalismus zuhauf, z. B. im Energiesektor, wo wenige Konzerne, die die Märkte unter sich aufgeteilt haben, durchsetzen, dass der „Übergang“ zu anderen Energieträgern von der Gesellschaft subventioniert wird und Preise für die KonsumentInnen entstehen, die einen Monopolprofit für faktisch jede/n ProduzentIn garantieren.

d) Durchschnittsprofit, Werttransfer

Die gesamtgesellschaftliche Verteilung der Waren wird über die Durchschnittsprofitrate und die Transformation der Werte zu Produktionspreisen vermittelt. Das Kapital mit einer höheren organischen Zusammensetzung eignet sich über die Ausgleichsbewegung der Profitrate und die Herstellung einer gesellschaftlichen Durchschnittsprofitrate einen größeren Teil des Mehrwerts an. Es findet also ein Werttransfer statt innerhalb der KapitalistInnenklasse selbst.

Die Ausgleichsbewegung der Profitrate konstituiert auch einen Druck zur Angleichung der Produktionsbedingungen innerhalb verschiedener Branchen sowie die Tendenz zum Fluss von Kapital in neue Anlagesphären.

Sie zwingt die Kapitale mit geringerer organischer Zusammensetzung zur Erneuerung des konstanten Kapitals, um ihren Konkurrenznachteil auszugleichen. Schließlich konstituiert sich mit der Ausgleichsbewegung der Profitrate auch ein gemeinsames Interesse der KapitalistInnenklasse hinsichtlich der Steigerung der Ausbeutungsrate. Wie auch immer der Gesamtprofit zwischen verschiedenen Branchen und Formen des Kapitals, ob als industrieller Gewinn, Handelsprofit oder Zins, verteilt sein mag: Die Masse, die verteilt werden kann, steigt natürlich mit der Masse der Mehrarbeit, die sich das Gesamtkapital aneignet.

e) Zentralisation, Monopolisierungstendenzen und Finanzkapital

Unter den einzelnen konkurrierenden Kapitalen versuchen jene, die eine marktbeherrschende Stellung erlangt haben, die z. B. Kartelle, Trusts, Monopole oder Oligopole in einer oder mehreren Branchen bilden, ihre Stellung zu verewigen. Dies  liegt schon in der Logik der Zentralisation des Kapitals.

In der Diskussion um die Bewegung der Profitrate führt Marx auch eine Reihe von Faktoren an, die dem Fall der Profitrate entgegenwirken. Einige betreffen direkt die Erhöhung der Mehrwertrate, andere die Herausbildung von gesellschaftlichen Formen des Kapitals (Aktiengesellschaft, Kredit), schließlich die Ausdehnung der Operationen des Kapitals auf dem Weltmarkt (Waren- und Kapitalverkehr; Reduktion des Wertes der Ware Arbeitskraft infolge des Imports günstigerer Waren).

Die Entwicklung von gesellschaftlichen Formen des Kapitals inkludiert zugleich auch eine Tendenz, die Bewegung der Profitrate zu modifizieren. Nicht zuletzt vermittelt das Finanzkapital (in Form des Kredits, in Form der Verbindung der großen industriellen oder auch kommerziellen Kapitale mit Banken und Finanzinstitutionen) die Neuinvestitionen des gesellschaftlichen Gesamtkapitals.

Daraus entstehende Zentralisation und Monopolisierungstendenzen führen daher immer wieder dazu, die Ausgleichsbewegung der Profitrate zu modifizieren oder einschränken zu können. Durch die Sicherung von Monopolprofiten können sich die stärker zentralisierten, dominierenden Sektoren der Industrie der Ausgleichsbewegung der Profitrate zeitweilig entziehen. Es findet ein Werttransfer vom nichtmonopolisierten Sektor zum zentralisierteren statt.

Diese Bewegung darf jedoch nicht als eine lineare Entwicklung hin zu einem Staatskapitalismus missverstanden werden. Das Monopol stellt nicht „die“ Form des vergesellschafteten Kapitals dar, sondern nur eine von ihnen. So war z. B. die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg  in den imperialistischen Zentren in der Regel von der Konkurrenz verschiedener Großkapitale auf den nationalen Märkten geprägt, und zwar sowohl in der Phase des „langen Booms“ als auch im Neoliberalismus. Staatlich monopolisierte Sektoren, die privatkapitalistisch lange als unrentabel galten (z. B. Infrastruktur, Eisenbahnen, Gesundheitssektor, Bildungswesen) wurden privatisiert und zur Quelle privater Akkumulation. Ein ähnlicher Prozess kann bei der Privatisierung ehemaliger staatlicher Monopole (z. B. Post, Telekommunikation) beobachtet werden, die sich zu riesigen privatwirtschaftlichen Konzernen (teilweise auch zu privaten Monopolen) transformierten.

Die Zentralisationstendenz freilich ist am größten im Bereich des zinstragenden Kapitals, wo sie zugleich, die imperialistische Epoche in ihrer Gesamtheit betrachtet, mit großen Formveränderungen einhergeht. Damit verändert sich die relative Bedeutung von Banken, Börse, Fonds, Versicherungen in den verschiedenen Entwicklungsphasen.

Gemeinsam ist der Herausbildung des Finanzkapitals jedoch, dass das zinstragende Kapital, wie auch immer das Verhältnis zum industriellen Kapital sei, letzteres dominiert, weil ersteres die Akkumulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals vermittelt. Mit der wachsenden Mindestgröße an Kapital, die für industrielle Unternehmungen erforderlich ist, um überhaupt am Markt agieren zu können, kann dieses Startkapital nur über Kapitalmärkte aufgebracht werden, muss also  über das Finanzkapital laufen.

Seine dominierende Rolle hängt ferner damit zusammen, dass  es die abstrakteste Form des Kapitals darstellt, dass seine Bewegung die Form G – G’ annimmt, in der jeder Bezug zur Mehrwertproduktion als Basis dieser Bewegung ausgelöscht scheint. Mit seiner eigenen Entwicklung nimmt diese Bewegung immer bizarrere, abgeleitetere Formen an. Das Kapital versucht, sich gewissermaßen von den Schranken seiner Expansion loszureißen, die mit der Produktion und Realisierung des Mehrwerts unvermeidbar einhergehen, z. B. durch die Fixierung des Kapitals in Produktionsmittel und Arbeitskraft während der Produktion oder in Warenform beim kommerziellen Kapital.

Die Reduktion der Lagerhaltung, Just-in-Time-Produktion, Verringerung der Umschlagszeit sind Mittel, nicht nur den Wert des konstanten Kapitals zu reduzieren, sondern auch die Bindung des Kapitals an die Produktion möglichst zu verringern. Wie gering diese Transaktionszeit und Kosten auch werden mögen, wie sehr die Produktion auch „verschlankt“ werden mag, letztlich kann sie nie eine zeitliche Fixierung des konstanten Kapitals gänzlich überwinden. Im Gegenteil, alle diese Versuche gehen oft auch mit einer Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals und des im Kapitalstock gebundenen Teils des Gesamtkapitals einher. So sehr das Finanzkapital auch versucht, sich von diesen Fixierungen freizumachen, letztlich kann es dieser Bindung nicht entfliehen.

Als herrschendes Kapital weist das Finanzkapital die stärksten Tendenzen zur Monopolisierung, zur Verewigung seiner beherrschenden Stellung auf und verfügt dazu auch über enorme Hebel. Umgekehrt ist seine Bewegung, sind seine Investitionsentscheidungen selbst an Profitabilitätserwartungen orientiert und damit über die Konkurrenz vermittelt. Wo sie selbst bestimmte Operationen für Nationalökonomien vornehmen (z. B. Schulden in der sog. Dritten Welt finanzieren oder auf monopolisierten Märkten wie dem Wohnungsmarkt agieren), können sie natürlich auch reinste Formen von Parasitismus und Plünderung annehmen.

Mit der Entwicklung des Außenhandels und der zentralen Bedeutung des Kapitalexports vervielfacht sich die Macht des Finanzkapitals.

f) Begriff des gesellschaftlichen Gesamtkapitals und der allgemeinen Voraussetzungen der kapitalistischen Produktion

Bevor wir jedoch auf die globalen Verhältnisse eingehen, müssen wir uns noch mit einer Kategorie beschäftigen, die für das Verständnis des Imperialismus von zentraler Bedeutung ist: dem Begriff des gesellschaftlichen Gesamtkapitals.

In jeder imperialistischen Ökonomie entwickelt sich ein gesellschaftliches Gesamtkapital, das die allgemeinen Voraussetzungen der kapitalistischen Produktion sichert. Diesem kommt eine eigenständige Realität zu.

Marx zeigt in den drei Bänden des Kapitals in verschiedenen Schritten, wie das Kapital selbst solche allgemeinen Durchschnittsbedingungen der Reproduktion erzeugt, die den einzelnen Kapitalien aufgezwungen werden, bzw. über welche Mechanismen eine solche Ausgleichung erfolgt (z. B. bei der Diskussion von Metamorphosen des Kapitals im 2. Band, bei den Reproduktionsschemata, bei der Diskussion um Profit, Profitrate, Zins, …).

Den „Durchschnittsbedingungen“ kommt eine Realität zu, die nicht bloß eine Addition einzelner Kapitale darstellt oder deren Ausgleichung. Das gesellschaftliche Gesamtkapital erstreckt sich auf mehr als die Summe der Einzelkapitale. Es schließt vielmehr auch die Sicherung allgemeiner Reproduktionsbedingungen ein.

Dazu gehören allgemeine gesellschaftliche Produktivkräfte, ob diese nun privat oder staatlich geleistet werden wie z. B. Kommunikation, Infrastruktur, Verkehr, Wissenschaft. In diesen Bereich fallen auch die Sicherung der Geldstabilität, die Festlegung einer allgemeinen Zinsrate oder die Währungspolitik. Ein weiteres, für die Kapitalakkumulation wesentliches, Moment besteht in der Sicherung eines bestimmten Niveaus der Reproduktion der Arbeitskraft, so dass genügend hinreichend ausgebildete Arbeitskräfte für die Erfordernisse des Kapitals und die Institutionen zur Sicherung der gesellschaftlichen Gesamtreproduktion produziert und reproduziert werden.

Hier tritt der Staat als ideeller Gesamtkapitalist auf den Plan, eben nicht bloß als passiver Garant des Privateigentums, sondern als Verfechter des Interesses des gesellschaftlichen Gesamtkapitals, nicht bloß einzelner Kapitale oder einiger Kapitalgruppen. Der Staat des Kapitals ist zwar über verschiedene Institutionen staatlicher wie zivilgesellschaftlicher Art (Stiftungen, Unternehmerverbände, Parteien, Medien) mit dem Kapital verbunden. Er muss aber zugleich bis zu einem gewissen Grad unabhängig von den konkurrierenden Einzelkapitalen bleiben, um seine Rolle als Vermittler des Gesamtinteresses der herrschenden Klasse überhaupt nach innen wie nach außen erfüllen zu können.

Um die Bedeutung der Konstituierung eines gesellschaftlichen Gesamtkapitals zu verstehen, wollen wir daher noch einmal schematisch seine wesentlichen Leistungen für die Sicherung und Reproduktion des Kapitalverhältnisses anführen:

  • Ausgleichsbewegung zu ideellem Durchschnitt, Werttransfer zwischen Branchen, damit überhaupt erst Ausgleichung der   Profitrate möglich ist
  • Etablierung eines durchschnittlichen Grades der Intensität und Produktivität der Arbeit
  • Etablierung einer nationalen Währung, Sicherung des Geldwerts
  • Sicherung der allgemeinen Produktions- und Reproduktionsbedingungen des Kapitals
  • Staat als ideeller Gesamtkapitalist; Vermittlung des Gesamtinteresses des Kapitals.

Die Herausbildung eines gesellschaftlichen Gesamtkapitals kennzeichnet die Entwicklung praktisch aller imperialistischer Staaten. Wie wir sehen werden, ist sie jedoch wesentlich verschieden, wenn wir die von imperialistischen Mächten beherrschte Welt, – sei sie kolonial oder halbkolonial verfasst – betrachten. Bevor wir dazu kommen, wollen wir auf die Modifikation des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt eingehen und dieses kurz umreißen. Anders als in der Nationalökonomie existiert kein „Weltstaat“, keine Weltwährung, die unabhängig von den nationalen Währungen wäre, und auch keine Ausgleichsbewegung der Profitraten.

11.2 Weltmarkt und kapitalistisches System

Der Weltmarkt ist für Marx und Engels, wie wir schon gesehen haben, im Begriff des Kapitals eingeschlossen. Wir dürfen daher die Betrachtung des Weltmarktes, auch wenn wir oben den Rahmen eines nationalen Gesamtkapitals skizziert haben, nicht so auffassen, als würden Wert, Preis, Produktion, Profitrate, Akkumulation usw. „zuerst“ auf nationaler Basis entstehen und bestimmt werden und erst ab einem bestimmten Entwicklungsstadium auf den Weltmarkt „expandieren“.

Dieser stellt vielmehr von Beginn an eine Realität dar, in deren Rahmen sich das Kapital bewegt und entwickelt. Der Weltmarkt ist also etwas von Beginn an Gesetztes, Vorhandenes – zugleich entwickelt er sich aber auch. Die Entdeckung der Amerikas, der sog. Dreieckhandel zwischen Afrika, den Amerikas und Europa, v. a. Britanniens, belegen, wie eng die Entwicklung des Kapitalismus mit dem Weltmarkt verbunden ist.

Dessen Realität und damit auch jene eines globalen Austauschs zeigen sich zudem auch an der Bestimmung der Bedürfnisse einer Gesellschaft und der verschiedenen Klassen, die notwendigerweise von der vorherrschenden, entwickeltsten kapitalistischen Ökonomie bestimmt werden.

Schließlich verändert sich auch die Bedeutung des Weltmarktes für die nationale Kapitalentwicklung mit Entwicklung und Verallgemeinerung der kapitalistischen Produktionsweise. So erweist sich beispielsweise im 19. Jahrhundert, dass Schutzzölle und eine Abschottung des nationalen Marktes eine nachholende und aufholende industrielle Entwicklung v. a. Deutschlands und der USA, später auch Japans, ermöglichten.

Auch die Hauptformen der Bewegung am Weltmarkt ändern sich mit der Entwicklung der Produktionsweise, wie die von Hilferding, Lenin und anderen konstatierte zunehmende und zentrale Bedeutung des Kapitalexports, im Verhältnis zum Warenexport, in der imperialistischen Epoche veranschaulichen.

Nun aber zur Frage der Modifikationen des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt. Im ersten Band des „Kapital“ verweist Marx selbst darauf  bei der Diskussion der nationalen Verschiedenheit der Arbeitslöhne und richtet die Aufmerksamkeit auf die  Frage von Intensität und Produktivität der nationalen Durchschnittsarbeiten auf dem Weltmarkt:

„In jedem Lande gilt eine gewisse mittlere Intensität der Arbeit, unter welcher die Arbeit bei Produktion einer Ware mehr als die gesellschaftlich notwendige Zeit verbraucht, und daher nicht als Arbeit von normaler Qualität zählt. Nur ein über den nationalen Durchschnitt sich erhebender Intensitätsgrad ändert, in einem gegebnen Lande, das Maß des Werts durch die bloße Dauer der Arbeitszeit. Anders auf dem Weltmarkt, dessen integrierende Teile die einzelnen Länder sind. Die mittlere Intensität der Arbeit wechselt von Land zu Land; sie ist hier größer, dort kleiner. Diese nationalen Durchschnitte bilden also eine Stufenleiter, deren Maßeinheit die Durchschnittseinheit der universellen Arbeit ist. Verglichen mit der weniger intensiven, produziert also die intensivere nationale Arbeit in gleicher Zeit mehr Wert, der sich in mehr Geld ausdrückt.

Noch mehr aber wird das Wertgesetz in seiner internationalen Anwendung dadurch modifiziert, daß auf dem Weltmarkt die produktivere nationale Arbeit ebenfalls als intensivere zählt, sooft die produktivere Nation nicht durch die Konkurrenz gezwungen wird, den Verkaufspreis ihrer Ware auf ihren Wert zu senken.

Im Maß, wie in einem Lande die kapitalistische Produktion entwickelt ist, im selben Maß erheben sich dort auch die nationale Intensität und Produktivität der Arbeit über das internationale Niveau. Die verschiedenen Warenquanta derselben Art, die in verschiedenen Ländern in gleicher Arbeitszeit produziert werden, haben also ungleiche internationale Werte, die sich in verschiedenen Preisen ausdrücken, d. h. in je nach den internationalen Werten verschiednen Geldsummen. Der relative Wert des Geldes wird also kleiner sein bei der Nation mit entwickelterer kapitalistischer Produktionsweise als bei der mit wenig entwickelter. Folgt also, daß der nominelle Arbeitslohn, das Äquivalent der Arbeitskraft ausgedrückt in Geld, ebenfalls höher sein wird bei der ersten Nation als bei der zweiten; was keineswegs besagt, daß dies auch für den wirklichen Lohn gilt, d. h. für die dem Arbeiter zur Verfügung gestellten Lebensmittel.“[c]

Diese Passage nimmt eine bedeutende Stellung in den gesamten Debatten  um die Modifikation des Wertgesetzes ein, weil hier jedenfalls eine entscheidende Form,  nämlich wie Ungleichheit zwischen verschiedenen Nationalökonomien unterschiedlicher Entwicklungsstufen auf dem Weltmarkt reproduziert und verstärkt wird, in den Blick genommen wird.

Wenn wir von einer Wertbildung im nationalen Rahmen und deren Erscheinen auf dem Weltmarkt ausgehen, so wirft Marx hier zuerst die Frage auf, wie unterschiedliche, im nationalen Rahmen gebildete Durchschnittsarbeit auf dem Weltmarkt auftritt. Höhere Intensität der Arbeit wie auch höhere Produktivität werden auf eine Stufenleiter der „universellen Arbeit“ bezogen.

Dies hat zur Folge, dass die Waren aus den Ländern mit unterschiedlicher Durchschnittsintensität und höherer Produktivität auf dem Weltmarkt verschieden „gewichtet“ sind, sich also in mehr oder weniger Geld darstellen. Die Waren jener aus der entwickelteren kapitalistischen Nation werden also billiger sein und daher auf dem Weltmarkt einen Vorteil genießen, solange die andere Nation nicht an dieses Niveau anschließen kann. Dies bedeutet, dass zwar kein Werttransfer von einem Kapital/Land in das andere analog zum Werttransfer bei der Ausgleichsbewegung der Profitrate stattfindet, wohl aber kann das Land mit höherer Durchschnittsproduktivität einen Extramehrwert erzielen, analog zum Wertbildungsprozess auf dem nationalen Markt.

Im Rahmen einer nationalen Ökonomie kann sich ein Kapital den Extramehrwert in der Regel nur vorübergehend aneignen. Anders im System der universellen Arbeit. Natürlich kann auch dort immer wieder eine Angleichung in bestimmten Entwicklungsphasen stattfinden und bis zu einem gewissen – aber auch nur bis zu einem gewissen – Grad können die weniger entwickelten Ökonomien dem Nachteil durch Abwertungen der nationalen Währung entgegenwirken. Aber generell zeichnet die Weltwirtschaft auf Grund der Ungleichzeitigkeit der Entwicklung der Nationalökonomien und aufgrund der internationalen Arbeitsteilung, in die „abhängige Länder“ verspätet und immer schon auf den Weltmarkt bezogen eintreten, eine viel größere Festigkeit dieser Ungleichheit. Sie wird im imperialistischen System nicht rasch überwunden, sondern auf Dauer gestellt und bildet daher eine bedeutende Form der Aneignung von in den Halbkolonien geschaffenem Reichtum durch die (Gesamt-)Kapitale der imperialistischen Metropolen.

Auf internationaler Ebene findet – wie wir an anderer Stelle gezeigt haben und im Gegensatz zu den theoretischen Grundnahmen verschiedener Theorie des ungleichen Tauschs – keine Ausgleichung der Profitraten zu einer internationalen Durchschnittsprofitrate statt. Diese findet auch in der imperialistischen Epoche im nationalstaatlichen Rahmen statt. Umgekehrt dürfen wir uns aber die Entwicklung des Weltmarktes, die Entstehung internationaler Wertschöpfungsketten usw. nicht so verstellen, dass das Verhältnis zwischen nationalen Ökonomien und der Weltwirtschaft hinsichtlich der Bildung von Profitraten ein konstantes, unveränderliches wäre.

Der Nationalstaat stellt nicht nur einen Garanten des gesellschaftlichen Gesamtkapitals und einen Rahmen zur Bildung nationaler Profitraten dar, er bildet auch eine Schranke für die Internationalisierungstendenzen des Kapitals, einen inneren Widerspruch. Mit seiner eigenen Entwicklung versucht das Kapital immer wieder,  die Enge des Nationalstaates zu überwinden, was sich z. B. in der Ausdehnung des Weltmarktes und der Entstehung globaler Produktionsketten zeigt bis hin zur Herausbildung regelrechter Weltmarktbranchen. In diesen Branchen können wir durchaus eine Tendenz zur Herausbildung internationaler Produktionspreise und zu einer Ausgleichung von Profitraten auf Branchenebene beobachten, die jedoch immer prekär bleibt, weil  es keine globale Ausgleichung zu einer Durchschnittsprofitrate gibt oder geben kann.

Wo sich solche Tendenzen zur Ausgleichung einer branchenübergreifenden internationalen Profitrate herausbilden, entwickeln sich logischerweise auch Formen des Werttransfers auf globaler Ebene, ähnlich jener im nationalen Rahmen. Aber diese werden nicht nur durch andere Formen des Weltmarktes (Währungsbewegungen etc.) durchkreuzt, sondern bleiben im Rahmen des kapitalistischen Gesamtsystems letztlich partiell, weil es zu einer Angleichung der unterschiedlichen Entwicklungsniveaus der nationalen Gesamtkapitale nicht kommt und auch  nicht kommen kann.

Entscheidend für unsere Betrachtung ist daher, dass wir diese Tendenzen als Widerspruch fassen müssen, der im Rahmen der kapitalistischen Ökonomie nicht aufgelöst werden kann, sondern nur im Übergang zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung.

Bisher haben wir die Fragen des Tausches von Waren auf dem Weltmarkt behandelt. Marx verweist auf einige andere, folgenreiche Wirkungen des Welthandels auf die nationalen Profitraten und Akkumulationsbewegungen, die in der imperialistischen Epoche eine wichtige Rolle spielen.

Im dritten Band des „Kapital“ geht er direkt auf den Außenhandel ein, wo er diesen unter den „entgegenwirkenden“ Ursachen zum Fall der Profitrate behandelt.

„Soweit der auswärtige Handel teils die Elemente des konstanten Kapitals, teils die notwendigen Lebensmittel, worin das variable Kapital sich umsetzt, verwohlfeilert, wirkt er steigernd auf die Profitrate, indem er die Rate des Mehrwerts hebt und den Wert des konstanten Kapitals senkt. Er wirkt überhaupt in diesem Sinn, indem er erlaubt, die Stufenleiter der Produktion zu erweitern. Damit beschleunigt er einerseits die Akkumulation, andrerseits aber auch das Sinken des variablen Kapitals gegen das konstante und damit den Fall der Profitrate. Ebenso ist die Ausdehnung des auswärtigen Handels, obgleich in der Kindheit der kapitalistischen Produktionsweise deren Basis, in ihrem Fortschritt, durch die innere Notwendigkeit dieser Produktionsweise, durch ihr Bedürfnis nach stets ausgedehnterm Markt, ihr eignes Produkt geworden. Es zeigt sich hier wieder dieselbe Zwieschlächtigkeit der Wirkung.“ [ci]

Der Import billigerer Lebensmittel und Konsumgüter für die ArbeiterInnenklasse führt zur Senkung des Werts der Ware Arbeitskraft und damit, bei sonst gleichbleibenden Bedingungen, zur Erhöhung des relativen Mehrwerts und der Profitrate. Diese Faktoren haben bis heute enorme Bedeutung, weil sie ein Stück weit die Senkungen der Löhne, Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen, Ausweitung von Billiglohnsektoren im Zuge neoliberaler Angriffe abfedern und zugleich eine Erhöhung der Ausbeutungsrate erlauben. Der Aufstieg Chinas und anderer asiatischer Ökonomien als industrieller Produktionsstandort von Konsumgütern spielte für die Senkung des Werts der Ware Arbeitskraft v. a. in den USA in den letzten Jahrzehnten eine wesentliche Rolle.

Zweitens erfüllt der Außenhandel auch eine Funktion hinsichtlich der Akkumulationsbedingungen des nationalen Gesamtkapitals. Der akkumulierte Mehrwert kann so zur Erweiterung der Produktion für den Weltmarkt oder in anderen Ländern investiert werden und Anlage suchen, die das Kapital sonst auf dem begrenzten nationalen Markt nicht mehr finden kann. Kapitalexport stellt in diesem Zusammenhang einen Weg dar, auf die Überakkumulation im imperialistischen Zentrum zu reagieren und überschüssiges Kapital im Ausland zu investieren.

Drittens findet das Kapital aus den fortgeschrittenen (imperialistischen) Ländern aufgrund der höheren Produktivität der gesellschaftlichen Durchschnittsarbeit gegenüber jenem aus Kolonien und Halbkolonien Konkurrenzvorteile vor und kann sich so einen Extramehrwert aneignen (siehe oben).

Viertens erlaubt die geringere organische Zusammensetzung des Kapitals in der Halbkolonie dem investierten Kapital mit höherer organischer Zusammensetzung aus dem imperialistischen Land, einen höheren Extraprofit/Wertanteil aus der Ausgleichung der Durchschnittsprofitrate in der Halbkolonie zu ziehen. Es findet hier ein Werttransfer innerhalb der KapitalistInnenklasse (wie bei jeder Ausgleichsbewegung der Profitrate), und zwar von den halbkolonialen zu den imperialistischen Unternehmen statt. Dieser bildet nicht nur eine wesentliche Quelle von Extraprofiten, sondern erklärt auch, warum im halbkolonialen System die Sicherung der Freiheit des Kapitaltransfers eine so große Rolle spielt, sowohl hinsichtlich der Abschaffung aller Investitionsbeschränkungen des imperialistischen Kapitals als auch zur Sicherung der Repatriierung der Profite. (Gleichzeitig unterliegt der Zugang der imperialistischen Märkte für halbkoloniale ProduzentInnen und InvestorInnen in der Regel viel größeren Beschränkungen.)

Die Dauerhaftigkeit und Reproduktion ungleicher Verhältnisse auf dem Weltmarkt wären jedoch vollkommen unerklärlich, wenn wir nicht die Frage des Währungs-, des Finanzsystems und sein Verhältnis zum Staatensystem betrachten würden. Dem einzelnen Nationalstaat ist es durchaus möglich, das nationale Kapital gegenüber ungünstigeren Bedingungen auf dem Weltmarkt zu schützen. Aber diese Fähigkeit ist beschränkt, wie die Geschichte zeigt, und hängt letztlich von der wirtschaftlichen Stärke des jeweiligen Landes ab.

Im Rahmen der Nationalökonomie wird Geld von der Zentralbank emittiert. Der Staat tritt als dessen Garant auf. Auf dem Weltmarkt existiert kein Weltstaat oder auch nicht irgendeine Staatengemeinschaft als Garant der allgemeinen Verhältnisse der Kapitalreproduktion.

Im Weltgeld, so Marx, kommt das Geld eigentlich zu sich, hier wird seine Daseinsweise seinem Begriff adäquat, weil es direkt als Verkörperung abstrakter Arbeit fungiert (während bestimmte Geldfunktionen immer nur auf eine nationale Währung bezogen sind oder sein können). Aber das Weltgeld braucht, wenn es keinen Weltstaat gibt, einen Garanten. Auch wenn Gold und Silber weiter als Geldware fungieren, so monopolisiert in einem entwickelten kapitalistischen System entweder eine Währung den internationalen Zahlungsverkehr und vor allem das Kredit- und Schuldensystem, oder es besteht Konkurrenz zwischen den Leitwährungen der dominierenden Großmächte. So fungierte in der Phase der britischen Weltmarktdominanz im 19. Jahrhundert das Pfund Sterling als Weltwährung. Selbst im Niedergang versuchte der britische Imperialismus, weiter an der Goldparität und der Dominanz des Pfunds in der Weltmarktkonkurrenz gegenüber den USA festzuhalten.

Nach 1945 setzte sich der US-Dollar als Leitwährung durch. Mit dem Aufstieg Deutschlands und Japans, der Bildung der EU und vor allem mit der Etablierung Chinas als imperialistischer Macht wurde natürlich auch die Vorherrschaft der USA auf diesem Gebiet unterminiert, ein Prozess, der im Grunde schon seit den 1970er Jahren mit dem Ende des Bretton-Woods-Systems vor sich geht. Dieses legte einen festen Wechselkurs zwischen der Ankerwährung Dollar und den Währungen der Teilnehmerländer zugrunde und verpflichtete die US-Notenbank zum Umtausch von Dollar aus deren Zentralbanken zu einem festen Kurs in Gold (flexibler Goldstandard). Dennoch fungiert der Dollar bis heute als die entscheidende internationale Währung, in der die Mehrheit aller Finanztransaktionen notiert wird, in der Börsengeschäfte abgewickelt werden, in der Schulden auf den internationalen Kreditmärkten aufgenommen und bedient werden müssen. Der Dollar stellt bis heute faktisch Weltgeld dar, auch wenn er mit dem Euro und dem Aufstieg Chinas unter Druck geraten ist. Der als Weltgeld fungierenden Leitwährung treten also allenfalls die Währungen imperialistischer KonkurrentInnen als annähernd gleichwertig hinzu.

Die Frage, welches Geld sich als Weltgeld durchsetzt, ist somit Ausdruck des Stellenwertes eines nationalen Gesamtkapitals im Verhältnis zu den anderen. In bestimmten Perioden der kapitalistischen Entwicklung vermögen einzelne Staaten aufgrund ihrer weltmarktbeherrschenden Stellung, die auf überlegener Produktion beruht und von militärischer und politischer Vormacht begleitet wird, als „Demiurgen“ (Hervorbringer, Schöpfer) des Weltmarktes zu fungieren.

Das Monopol auf Weltgeld macht zwischen den nationalen Währungen einen enormen Unterschied aus. Es bringt die unterschiedliche Stellung der verschiedenen Staaten in der weltweiten Arbeitsteilung und in der geopolitischen Ordnung nicht nur zum Ausdruck, sondern reproduziert und verfestigt sie zugleich.

Im Kolonialsystem waren Geld und Geldfunktionen in der Regel ohnedies vom jeweiligen Mutterland bestimmt, da keine politisch-staatliche Unabhängigkeit der Kolonie existierte. Im halbkolonialen System der imperialistischen Herrschaft monopolisieren die imperialistischen Mächte das Weltwährungssystem, bestimmen das Weltgeld. Die Währungen der imperialistischen Mächte, die nicht als Demiurgen des Weltmarktes fungieren, gelten als relativ stabil tauschbare Währungen zur Leitwährung. Ein großer Teil des Warenverkehrs wird über die zentrale Leitwährung oder andere imperialistische Währungen vermittelt. Noch viel wichtiger ist freilich, dass die Währungen der imperialistischen Staaten, besonders der Leitwährung, auch gehortet werden, z. B. als Schatzpapiere. Währungen halbkolonialer Länder üben  diese und andere Geldfunktion außerhalb ihres Landes faktisch nicht aus.

Kapitalverkehr, Anlagen, Börsen, Staatsschulden usw. werden also faktisch ausschließlich in Dollar oder einer anderen harten Währung notiert (Euro, Pfund, Renminbi/Yúan, Yen). Das bedeutet aber auch, dass die halbkolonialen, ökonomisch schwächeren Länder im Voraus zu den Bedingungen und in Währungen der imperialistischen Zentren  ihre Geld- und Kapitalgeschäfte abwickeln müssen.

Um am internationalen Kapitalmarkt agieren zu können, muss das halbkoloniale Land über Weltgeld oder eine leicht gegen dieses tauschbare Währung verfügen. Nur so kann es Investitionen anziehen, Güter importieren oder Schulden bedienen und aufnehmen. Je mehr ein halbkoloniales Land von den Finanzmärkten abhängig wird, desto drückender auch die Abhängigkeit von deren Institutionen (IWF, Weltbank) und den Bedingungen, die diese diktieren.

Schon die Bezugspunkte zu Marx hinsichtlich der Modifikation des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt verweisen darauf, dass unterschiedliche Intensität und Produktivität nicht bloß als unterschiedliche Produktivität oder Intensität eines Einzelkapitals, sondern eines gesellschaftlichen Durchschnitts begriffen werden müssen. Dies reflektiert schon die unterschiedliche Entwicklung des Kapitalstocks, der Produktivkräfte, der Stellung in der internationalen Arbeitsteilung.

Offenkundig war es für – im Vergleich zu Großbritannien – später gekommene Nationen auf dem Weltmarkt (z. B. Frankreich, Deutschland, USA, Japan) unter bestimmten Bedingungen möglich, im 19. Jahrhundert eine Ökonomie zu entwickeln, die mit der fortgeschrittensten kapitalistischen gleichzog.

Dies verweist darauf, dass es durchaus eine Wirkung des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt zur Ausgleichung der Produktions- und Verkaufsbedingungen gibt, d. h., es gibt auch eine Angleichung verschiedener „nationalen Werte“ auf dem Weltmarkt. Wichtig ist hier aber zu betonen, dass diese keineswegs nur spontan, sondern unter kräftiger Zuhilfenahme des Staates erfolgt, insgesamt mit dem Ziel, im Rahmen der Weltmarktkonkurrenz ein wettbewerbsfähiges nationales Gesamtkapital zu schaffen. Ab einem bestimmten Punkt schlug das in ein Zurückbleiben der ursprünglich führenden Macht (Britannien) um. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch im Verhältnis USA-Europa-Japan ab den späten 1960er Jahren beobachten, als sich letztere zu Weltmachtkonkurrenten entwickelten.

Heute versucht sich China als Konkurrent zu etablieren, was unter anderem auch bedeutet, dass die KP-geführte Regierung sich als Sachwalterin „ihres“ gesellschaftlichen Gesamtkapitals (nicht „nur“ als Geburtshelferin weltmarktfähiger Einzelkapitale und Monopole) zu erweisen versucht.

Wenn wir aber auf die dauerhafte, systematische Unterordnung von kolonialen und halbkolonialen Ländern und deren Ausbeutung eingehen und diese erklären wollen, so kann das nicht einfach durch eine modellhafte „Ableitung“ von internationalen Marktbeziehungen erfolgen.

Die Wirkungsweise des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt – nehmen wir z. B. die Kredit- und Geldgeschäfte – reproduziert und verschärft die Unterschiede zwischen den imperialistischen und den vom Imperialismus beherrschten Ländern.

Die Ursache dafür kann freilich nicht einfach auf dem Weltmarkt gefunden werden. Wir müssen uns vielmehr vor Augen halten, dass die kolonialen und später die halbkolonialen Länder unter Bedingungen in den Weltmarkt gezogen wurden und werden, die ihnen einen Platz im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung unter den Bedingungen zuweisen, die von den entwickelten Kapitalen der Metropolen geschaffen wurden und in diesem System reproduziert werden. Anders als in den „entwickelten“, imperialistischen Ländern gestaltet sich die Konstituierung eines gesellschaftlichen Gesamtkapitals von Beginn an prekär.

Daher wollen wir uns noch einmal seine wesentlichen Funktionen vor Augen halten:

  • Ausgleichsbewegung zu ideellem Durchschnitt, Werttransfer zwischen Branchen, damit überhaupt erst Ausgleichung der Profitrate möglich ist
  • Etablierung eines durchschnittlichen Grades der Produktivität und Intensität der Arbeit
  • Etablierung einer nationalen Währung, Sicherung des Geldwerts
  • Sicherung der allgemeinen Produktions- und produktionsbedingungen des Kapitals
  • Staat als ideeller Gesamtkapitalist; Vermittlung des Gesamtinteresses des Kapitals.

Betrachten wir die halbkolonialen Staaten hinsichtlich der Erfüllung dieser Funktionen, so zeigt sich rasch, dass sie diese nur eingeschränkt, wenn überhaupt, einhalten können.

Die Etablierung einer durchschnittlichen nationalen Intensität der Arbeit findet oft nicht oder nur sehr beschränkt statt (z. B. in Indien). Extreme Ungleichzeitigkeit der Entwicklung kennzeichnet die halbkoloniale Ökonomie und sie wird über Jahrzehnte oft genug reproduziert.

Das betrifft daher auch den Werttransfer zwischen den Branchen, also die Ausgleichsbewegung der Profitrate. Die halbkolonialen Ökonomien sind – gerade in ihren kapitalistisch entwickelteren Teilen – in der Regel auf den Weltmarkt bezogen. Das Gesetzt der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung begegnet uns in den halbkolonialen Ländern in besonders drastischer Form auf Schritt und Tritt.

Die geschichtlichen Voraussetzungen der Arbeitsteilung, die selbst Folge des Kolonialismus und Imperialismus sind und zugleich von ihm reproduziert werden, bedeuten daher die Etablierung einer ungleichen internationalen Arbeitsteilung, die die innere Struktur, wie sie von der tradierten Abhängigkeit herrührt, aufgreift, reproduziert und festigt.

In den halbkolonialen Ländern drückt sich das in der Reproduktion einer einseitigen Kapitalentwicklung, die von den Akkumulationsbedürfnissen des Kapitals im imperialistischen Land bestimmt wird, aus. Daher begegnen uns in Ländern wie Indien moderne, auf den Weltmarkt bezogene Hightechindustrien neben extremer Rückständigkeit, sei es in den städtischen Armutsvierteln, bei der Wanderarbeit oder auf dem Land.

Die Industrialisierung und Entwicklung der Ökonomie war in der Regel auf Exporte bestimmter Branchen (Rohstoffe, Nahrungsmittel), später auch bestimmte selektive Produktion von Zwischenprodukten, bezogen. Für diese Sparten äußert sich die extreme Ungleichzeitigkeit der Entwicklung in der Kombination besonders ausbeuterischer, rückständiger Formen (Kontraktarbeit, … ) mit der Produktion für den Weltmarkt.

Wir haben es bei der Wirkungsweise des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt daher einerseits mit einer widersprüchlichen Tendenz zur Angleichung der Nationalökonomien (beobachtbar insbesondere im Verhältnis zwischen imperialistischen Staaten) und andererseits mit der Reproduktion einer internationalen Hierarchie der Kolonien und Halbkolonien zu tun.

Deren Quelle muss auch in der Zusammensetzung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals gesucht werden, genauer: in der Blockade von dessen Herausbildung in der Halbkolonie.

Das halbkoloniale Ausbeutungsregime des Finanzkapitals bildet somit  die eigentlich angemessene Form der abhängigen Akkumulation der „Dritten Welt“  unter der Dominanz einer entwickelten imperialistischen Weltwirtschaft.

12. Epoche, Periode, Zyklus, Metazyklen, Klassenkampfperiode

Weiter oben haben wir die imperialistische Epoche grundsätzlich als ein bestimmtes Entwicklungsstadium der kapitalistischen Gesellschaftsformation, als Übergangskapitalismus oder sterbenden Kapitalismus charakterisiert.

Die zyklische industrielle Krise besteht zweifellos nicht nur in der vorimperialistischen, sondern auch in der imperialistischen  Epoche. Aber der industrielle Zyklus wird modifiziert durch die Vorherrschaft des Finanzkapitals.

Erstens dahingehend, dass die Zyklen in der Regel einen flacheren Verlauf annehmen, weil a) der monopolistische Charakter des Finanzkapitals die Perioden für Ersatzinvestitionen des fixen Kapitals dehnt, b) das Monopolkapital zeitweilig nicht in die Ausgleichsbewegung der Profitrate eingeht und daher in seinem Investitionsrhythmus von den Bewegungen des industriellen Zyklus teilweise freigespielt ist. Dies wird noch durch den parasitären Charakter des Monopols und seine Tendenz zur Stagnation verstärkt.

Zweitens führt die Krise dazu, dass die Monopolisierungstendenzen, die Dominanz des Finanzkapitals weiter verstärkt werden (Aufkäufe, Abwälzung der Krisenkosten auf nichtmonopolistische Kapitale etc.). D. h., jeder neue industrielle Zyklus findet nicht nur einfach auf mehr oder minder neuer technischer Basis, auf Grundlage einer neuen Zusammensetzung des Gesamtkapitals, sondern auch auf Grundlage eines im Vergleich zum vorherigen Zyklus und im Verhältnis zu anderen Kapitalen gestärkten Finanzkapitals statt.

Neben den einzelnen industriellen Zyklen lassen sich auch Reihen von ihnen mit ähnlicher Akkumulationsdynamik konstatieren. Ihre gemeinsame Basis findet sich – wie jene des einzelnen industriellen Zyklus – in der vorhergegangenen Krise, sprich: ob diese die Bedingungen für eine expansive Akkumulationsdynamik herstellen konnte oder nicht, also in letzterem Fall zu einer stagnativen oder gar depressiven Entwicklungsdynamik geführt hat.

Die Frage ist jedoch, was eine bestimmte Dynamik, die verschiedene Zyklen umfasst, in Gang setzt. Im Folgenden nennen wir diese Reihen von Konjunkturzyklen Akkumulationsperioden. Im Anschluss an Trotzkis „Kurve der kapitalistischen Entwicklung“ unterscheiden wir zwischen solchen mit expansivem, stagnativem und depressivem Charakter.

Perioden mit stagnativem oder gar depressivem Charakter sind immer durch eine, ihrer Krisenhaftigkeit ökonomisch zugrundeliegenden strukturellen Überakkumulation von Kapital geprägt. Die industriellen Zyklen in den Stagnationsperioden tendieren außerdem  dazu, „flacher“ auszufallen, da aufgrund geringer Profitraten und -erwartungen relativ geringe Kapitalmengen in den industriellen, Mehrwert schaffenden Sektor fließen und damit auch in die Neuausstattung des fixen Kapitals.

Auch die vorherrschende Form der Mehrwertaneignung ändert sich – nämlich von der relativen Mehrwertproduktion, die in expansiven Perioden vorherrscht, zur Produktion absoluten Mehrwerts – eine logische Folge der geringeren Erneuerungs- und Erweiterungsinvestitionen, der „Flucht“ in spekulatives Kapital.

Die Ausweitung des Kreditsystems im Zeitalter des Finanzkapitals ermöglicht es speziell den imperialistischen Zentren, die Wirkungsweise von industriellen Zyklen und längerfristigen Krisentendenzen eine gewisse Zeit aufzuhalten. Diese Behinderung der bereinigenden Wirkungen der kapitalistischen Krise führt umgekehrt dazu, dass der folgende Kriseneinbruch umso heftiger und einschneidender wird. Auf diese Weise überlagert den normalen Krisenzyklus ein scheinbar eigenständiger Finanzmarktzyklus, der in der imperialistischen Epoche zum wesentlichen Bestimmungsmoment von Akkumulationsperioden wird. Der Finanzmarktzyklus ist wesentlich bestimmt durch die Organisierungsformen des Finanzkapitals, der Steuerungsmechanismen des Produktivkapitals, seiner Verbindungen zu staatlichen Strukturen sowohl im ökonomischen als auch im politischen Sinn etc. Vor allem aber ist er bestimmt durch die Formen internationaler Kapitalströme, ob in Direktinvestitionen, Kredite, Beteiligungen, Geldmarktbewegungen etc. Gerade in Bezug auf internationale Kapitalströme sind in der imperialistischen Epoche klare Auf- und Abwärtsbewegungen von großem Ausmaß festzustellen, die jeweils mit dem Wechsel wesentlicher AkteurInnen bzw. Institutionen verbunden sind: z. B. Goldstandard und Vorherrschaft von Staatskredit in der „klassischen“ imperialistischen Periode; institutionelle Kredite (Privatbanken unter Schirmherrschaft des IWF), Bretton-Woods-System und System direkt beherrschter Tochterunternehmen in der Zeit des „langen Booms“; fondsgestütztes Investmentbanking, Dollar als Weltwährung und durch den Finanzmarkt organisiertes Unternehmensbeteiligungssystem in der „Globalisierungs“periode. Diese unterschiedlichen Strukturen des Finanzkapitals bedingen unterschiedliche Krisendynamiken am Ende des Finanzmarktzyklus, die sich auch unterschiedlich auf die Krisentendenz der Akkumulationsperiode als Ganze auswirken. Finanzmarktkrisen können auch eingedämmt werden oder nur den Auftakt einer sich entwickelnden Krisenphase der Periode bilden, so z. B. die Börsenkräche 1907 und 1986 (mitsamt der Krise des US-Hypothekenbanksystems) oder die Asienkrise der 1990er Jahre und die folgende Internetblase.

Die Ausgangsbasis für diese Akkumulationsperioden wird jedoch nicht einfach durch die ökonomische Entwicklung der Kapitalbewegung bestimmt, sondern durch Klassenkämpfe zwischen Lohnarbeit und Kapital, geopolitische Verschiebungen, imperialistische Konkurrenz und Kriege, Revolutionen und Konterrevolutionen. In der Tat bildet die Herstellung einer bestimmten Weltordnung die Basis (resp. der Zusammenbruch einer vorhergehenden aufgrund politischer Ereignisse – z. B. Erster Weltkrieg, Zusammenbruch des Weltmarktzusammenhangs etc.), auf der sich längerfristige, mehrere Zyklen umfassende Akkumulationsperioden überhaupt bilden können.

Kurzum, wenn wir von geschichtlichen Perioden im Rahmen der imperialistischen Entwicklung sprechen, können diese nicht einfach durch Referenz auf eine Folge von industriellen Zyklen  ökonomisch bestimmt werden. Die Akkumulationsperioden bilden vielmehr die ökonomische Basis für geschichtliche Perioden im Rahmen der imperialistischen Epoche.

Um den Gesamtcharakter geschichtlicher Perioden zu bestimmen, müssen wesentlich auch andere Fragen des Verhältnisses zwischen den imperialistischen Mächten und zwischen den Klassen einfließen. Während Akkumulationsperioden (oder metazyklische Perioden) ökonomische Kategorien darstellen, bezieht sich der Begriff der historischen Periode – ebenso wie jener der Epoche selbst – auf die Gesamtheit der Entwicklung der Gesellschaftsformation.

Ihr Beginn oder Ende können, müssen aber keinesfalls, mit dem Beginn ökonomischer Zyklen zusammenfallen. Ja, in der Regel werden sie das nicht tun. Vielmehr sind für den Beginn (oder das Ende) einer Periode einschneidende weltpolitische Ereignisse konstitutiv, die eine grundlegende Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und den imperialistischen Mächten markieren.

Die Akkumulationsdynamik einer bestimmten historischen Periode (und auch andere Faktoren wie die historisch spezifische Form der Kapitalbildung, das innerimperialistische Verhältnis usw.) führt notwendig dazu, dass bestimmte Merkmale und Wesenszüge der Epoche stärker oder weniger stark in den Vordergrund treten. So ist z. B. in der Periode des „langen Booms“ – selbst eine außergewöhnliche Periode – die Tendenz zum Niedergang und zur Stagnation vergleichsweise gering ausgeprägt. Das hat ja auch viele RevisionistInnen zur Annahme geführt, dass es gar keine imperialistische Epoche mehr gäbe.

In der ersten Phase der Globalisierungsperiode wiederum erscheint die innerimperialistische Konkurrenz eliminiert. Dies wird noch durch die Formierung gigantischer Konzerne verstärkt, deren Terrain der Weltmarkt ist, und die, so die „moderne“ revisionistische Argumentation, zur Bildung eines „transnationalen Kapitals“ geführt hätten, das nicht mehr mit bestimmten imperialistischen Staaten verbunden wäre, dass es nur noch „globalen Norden“ und „globalen Süden“ gäbe, dass der „Imperialismus“ einer neuen Form des Ultraimperialismus gewichen sei.

In diesen längeren historischen Perioden sind kürzere „Klassenkampfperioden“ inkludiert. In der kommunistischen Literatur werden diese auch öfter als „Situationen“ oder „Lagen“ bezeichnet. Wir haben dafür gelegentlich den Begriff „Phasen“ verwendet.

Die Klassenkampfperioden werden durch politische Ereignisse von globaler Bedeutung bestimmt, sowohl was ihren Beginn als auch ihr Ende betrifft. Das sind politische Phasen, die in der Regel nur wenige Jahre umfassen.

Die Bestimmung dieser kurzen Klassenkampfperioden ist umgekehrt erstens sehr wichtig, weil sie grundlegende Auswirkungen auf die Strategie und Taktik des revolutionären Proletariats in einer bestimmten Periode mit sich bringen. Zweitens sind insbesondere Perioden von revolutionärem oder vorrevolutionärem Charakter von größter Wichtigkeit, weil sich in ihnen der allgemeine Charakter der Epoche sowie der historischen Periode konzentriert ausdrückt.

Auch wenn die Dauer der Klassenkampfperioden relativ kurz ist – einige Jahre, vielleicht bis zu einem Jahrzehnt umfassend –, so können wir generell davon ausgehen, dass der Wechsel zwischen verschiedenen Klassenkampfperioden umso rascher vonstattengeht, je instabiler und revolutionärer der Charakter der historischen Periode ist, deren Bestandteil sie  verkörpert. Der vergleichsweise rasche Wechsel zwischen revolutionären und konterrevolutionären Klassenkampfperioden, jenen relativer Stabilität mit jenen größerer revolutionärer (und konterrevolutionärer) Erschütterungen, konstituiert ein Wesensmerkmal von historischen Perioden der sozialen Revolution,  revolutionären Perioden wie, in klassischer Form, jener von 1914 – 1948.

Es macht außerdem Sinn, zwischen Klassenkampfperiode und -situation zu unterscheiden, auch wenn dies keineswegs einfach und immer trennscharf ist. Das ist kein Zufall. Erstens handelt es sich in beiden Fällen um politische Kategorien. Zweitens tendieren diese in revolutionären historischen Perioden (z. B. in der Zwischenkriegszeit) dazu zusammenzufallen. Das ist  durch den Charakter der historischen Periode, den raschen Wechsel der Weltlage usw. bedingt.

In anderen historischen Perioden macht es einen offenkundigen Sinn, zwischen der Klassenkampfperiode und einer Situation zu unterscheiden (wobei letztere einen Wechsel des Charakters der Klassenkampfperiode einläuten kann, aber nicht muss). So kann der Beginn des Krieges gegen Afghanistan nach dem 11. September 2001 durch die globale „Allianz der Willigen“ durchaus als konterrevolutionäre Situation beschrieben werden, in der, allerdings nicht für allzu lange Zeit, der Widerstand, die Antiglobalisierungs-, die ArbeiterInnenbewegung usw. paralysiert wurden.

Die längeren, historischen Perioden in der imperialistischen Epoche lassen sich in sechs Abschnitte einteilen:

a) Entstehungsperiode des klassischen Imperialismus bis 1914

b) Revolutionäre Krisen- und Zusammenbruchsperiode 1914 – 1948

c) Periode des langen Booms und der konterrevolutionären Nachkriegsordnung 1948 – 1968

d) Periode des Niedergangs der Nachkriegsordnung 1968 – 1989

e) Globalisierungsperiode seit 1989 – 2007/2008

f) Periode einer neuen globalen Krise des Kapitalismus seit 2007/2008 – Periode der Krise der Globalisierung.

13. Perioden der imperialistischen Epoche, ihre grundlegenden Charakteristika und die in ihnen inkludierten Klassenkampfperioden

Im Folgenden wollen wir einen kurzen Abriss der geschichtlichen Perioden der imperialistischen Epoche liefern. Wir werden darin auch beispielhaft wichtige Klassenkampfperioden darstellen, freilich ohne jedes Jahr und jeden Tag der letzten hundert Jahre zuzuordnen. Ein besonderes Augenmerk wollen wir auf die Übergänge von einer Periode zur anderen legen.

13.1 Die Entstehungsperiode des Imperialismus bis 1914

Die Periode bis 1914 kann im Anschluss an Trotzki als eine der Herausbildung der Widersprüche des Imperialismus charakterisiert werden. Die Krise von 1873 stellte einen wichtigen Bruchpunkt in der Entwicklung des Kapitalismus im 19. Jahrhundert dar. [cii] Verglichen mit den vorhergehenden zyklischen Krisen trat der internationale Charakter besonders stark hervor, die Krise traf alle wichtigen Nationalökonomien. In den jüngeren kapitalistischen Ländern oder Mächten (Vereinigte Staaten, Deutschland, Österreich-Ungarn) war sie besonders ausgeprägt, wirkte sich aber auch auf England and Frankreich stark aus. Vordergründig erschien sie durch ein massives „Spekulationsfieber“ indiziert, aber das verschleierte eher ihre Ursachen und vor allem ihre Auswirkungen.

Rückblickend können wir feststellen, dass sie eine wirkliche Weltmarktkrise darstellte, in allen Ländern zu einer massiven Vernichtung von überschüssigem Kapital und zu einer massiven Erneuerung des Kapitalstocks, vor allem im Bereich der Herstellung von Produktionsmitteln, führte. Die Krise signalisierte und verstärkte also eine Durchsetzung der industriellen Großproduktion in allen wichtigen Sektoren, sie gab der Zentralisation und Konzentration von Kapital einen mächtigen Schub und damit auch der Bildung und Durchsetzung des Finanzkapitals.

Natürlich lässt sich der Übergang von einer Epoche des Kapitalismus zur nächsten nicht genau datieren, wohl aber können wir vom Beginn einer neuen Epoche beim Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert sprechen.

Mit ihr fallen auch die Herstellung des Weltmarktes und der Abschluss der Aufteilung der Welt unter die großen Kapitale und Großmächte zusammen. Es ist die Periode des Übergangs zum Imperialismus. Es ist die Periode, in der die Verschmelzung von industriellem und zinstragendem Kapital unter Dominanz des Letzteren zur Bildung und Durchsetzung des Finanzkapitals führte. Die wesentliche Form dieser Verschmelzung ist in jener Periode sowie auch in der folgenden jene von industriellem Kapital mit den Banken. Die Börse und die Finanzmärkte spielten in vielen Ländern in dieser Periode eine relativ geringe Rolle.

Die Aufteilung der Welt ist zu Beginn der imperialistischen Epoche faktisch bereits abgeschlossen. Britannien bildete die dominierende, hegemoniale Macht aufgrund der Funktion des Pfunds als Weltgeld, des riesigen Kolonialreiches und der überlegenen militärischen Schlagkraft der britischen Flotte. Während Frankreich als zweitgrößte Kolonialmacht zwar einen globalen, geopolitischen Rivalen darstellte, wurde es von anderen aufsteigenden Mächten bedrängt und in vieler Hinsicht bereits überflügelt.

Die USA und Deutschland als größte industrielle Mächte etablierten sich als wichtigste aufstrebende RivalInnen des britischen Hegemons. Hinzu kam Japan. Während die USA über einen gigantischen Binnenmarkt verfügten und frühe Formen der halbkolonialen Dominanz in den Amerikas entwickelten, waren Deutschland und Japan bei der kolonialen Aufteilung der Welt „zu kurz“ gekommen. Drei Imperien befanden sich schon in der frühen imperialistischen Epoche in äußerst prekärer Lage. Das traf vor allem auf das Osmanische Reich zu, das praktisch in Schuldknechtschaft der imperialistischen Banken gezwungen wurde. Der Widerspruch zwischen imperialer Ambition und einer Ökonomie, die einem halbkolonialen oder kolonialen Gebiet entspricht, trat hier am deutlichsten hervor. Aber auch in der Habsburger Monarchie und im zaristischen Russland zeigte sich der Gegensatz zwischen imperialer Stellung und Ambition einerseits und extremer Rückständigkeit andererseits in äußerst widersprüchlicher Form. Beide entwickelten im Gegensatz zum Osmanischen Reich neben Formen der Rückständigkeit auch modernste und gigantische Großindustrien (Russland) oder ein bedeutendes Bankkapital (Österreich), für das die unterdrückten Länder der Doppelmonarchie bevorzugte Ziele des Kapitalexports darstellten.

Kleinere oder schwächere imperialistische Staaten, wie z. B. Belgien oder Portugal, fungierten faktisch als Mitpartizipierende einer globalen Arbeitsteilung und politischen Ordnung, als Pufferstaaten oder untergeordnete Vasallen einer Großmacht.

All das verdeutlicht schon am Beginn der imperialistischen Epoche, dass Imperialismus vor allem eine globale politische und ökonomische Ordnung ist und nicht einfach eine Ansammlung von Eigenschaften voneinander isoliert betrachteter Ökonomien und Staaten darstellt. Ob  ein Land als imperialistisch zu charakterisieren ist oder nicht, kann daher nur im Rahmen einer Betrachtung der Totalität der ökonomischen und politischen Weltordnung erfasst werden, die den Ländern ihren Platz in der globalen Hierarchie der kapitalistischen Ökonomien und Mächte zuweist.

Die technologischen Neuerungen in Schwerindustrie, Chemie, Transport und Kommunikation bildeten ein weites Feld für rasante Akkumulation. Gleichzeitig war genug Anlagekapital zu günstigen Zinsen verfügbar. Mit dem Aufschwung der Monopolindustrien ging eine „Explosion“ der Kapitalexporte einher. Wie Lenin ausführlich zeigt[ciii], konzentrierte sich dieser Kapitalexport auf die Jahre 1900 – 1914. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde in England, Frankreich und Deutschland ein Niveau erreicht, das jenes von Mitte des 19. Jahrhunderts fast um das Hundertfache übertraf.

Dabei wurde der Kapitalexport vor allem durch Staatsanleihen und Kredite organisiert, die über Regierungen und Bankenkonsortien vermittelt wurden. Dieser Kapitalfluss war an die Bedingungen geknüpft, Infrastrukturaufträge an große Industriemonopole der imperialistischen Staaten zu vergeben. Zur Sicherung dieser Kapitalbeziehungen wurde in bestimmten Regionen in bisher ungekanntem Ausmaß zum Mittel des direkten Kolonialismus gegriffen, während anderswo die „Unabhängigkeit“ formal bestehen blieb, aber de facto der Status von „Halbkolonien“ entstand.

Die USA und Deutschland als aufstrebende industrielle und finanzielle Mächte gerieten mehr und mehr an die Grenzen der unter britischer Vorherrschaft vorgenommenen Aufteilung der Welt. Das traf vor allem auf Deutschland zu, das, im Kolonialsystem zu kurz gekommen, an die Grenzen eines für die Akkumulationsbedürfnisse des Großkapitals zu klein gewordenen Binnenmarkts stieß. Die USA befanden sich in einer weit besseren Situation wegen des größeren und noch nicht entwickelten inneren Marktes und ihrer Dominanz über Lateinamerika als halbkoloniale Einflusssphäre.

Ökonomisch war diese Periode von 1900 – bis 1914 expansiv, da Monopol- und Finanzkapital mit der enormen Ausdehnung der Produktion, den großen industriellen und sonstigen Unternehmungen auch fortschrittliche Potenzen an den Tag legten.

Aber das Monopol verschärft die krisenhaften Tendenzen gerade auch deshalb, weil es entwertende und damit expansive Voraussetzungen wiederherstellende Wirkungen der industriellen Krise modifizieren kann – z. B. indem die Vernichtung überschüssigen Kapitals aufgeschoben wird und die Kosten seiner Erhaltung der Gesellschaft aufgebürdet werden.

Das sich entwickelnde Finanzkapital begann  in dieser Periode, sich alle Aspekte des Wirtschaftslebens unterzuordnen. Überaus wichtige Beispiele dafür waren Forschung und Wissenschaft, die mehr und mehr auf die Bedürfnisse des Großkapitals bezogen wurden, immer größere Kapitalauslagen brauchten oder staatlich organisiert werden mussten. Daher nahm logischerweise auch die Bedeutung des Eigentums und exklusiven privatkapitalistischen Anspruchs auf Resultate der Forschung und Wissenschaft (inkl. Patentrecht) zu. Insgesamt verschärfte all das die Dominanz des Finanzkapitals gegenüber nichtmonopolistischem Kapital und der Gesellschaft insgesamt.

Die industriellen Krisen trieben die Monopolisierungstendenzen mit voran, führten zur Verschärfung der internationalen Konkurrenz, schließlich zum Krieg.

Politisch ging diese Periode einher mit einer ökonomischen Vertiefung des Kolonialsystems und damit auch der Notwendigkeit seiner militärischen Absicherung und Durchsetzung. Der Militarismus bildete ein immer stärker werdendes Kennzeichen aller imperialistischen Mächte. Seine Durchsetzungsformen reichten von der Kanonenbootpolitik bis hin zu größeren, ins Landesinnere ausgreifenden kolonialen „Missionen“.

Der Russisch-Japanische Krieg, die erste Russische Revolution, die Marokkokrise und die Balkankriege signalisierten schon den Übergang zur nächsten Periode, verdeutlichten, dass sich die inneren Widersprüche zuspitzten.

Die Periode bis zum Ersten Weltkrieg stellte eine der Entwicklung der Widersprüche auch in dem Sinne dar, dass sich die gesellschaftlichen Hauptklassen (auch mit inneren Kontroversen) des Epochenbruchs zum Imperialismus bewusst wurden.

Die ArbeiterInnenbewegung machte in dieser Periode mit der Vergrößerung der ArbeiterInnenaristokratie, Veränderungen des Gewerkschaftswesens und der Entwicklung einer ArbeiterInnenbürokratie als Resultat erfolgreicher gewerkschaftlicher und politischer Kämpfe für Reformen einen wichtigen Formwandel durch.

Auch die sozialen Verhältnisse in den Kolonien und Halbkolonien wurden dahingehend umgewälzt, dass eine, wenn auch kleine, aber oft hoch konzentrierte moderne ArbeiterInnenklasse entstand. Zugleich war ihnen eine, gegenüber dem Westen, einfach „nachholende Entwicklung“ aufgrund des kolonialen oder halbkolonialen Charakters ihres Landes im Rahmen des imperialistischen Weltsystems nicht möglich. Gerade was die Entwicklung dieser, vom imperialistischen Finanzkapital beherrschten Länder betrifft, zeigte sich der hemmende Charakter der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse in der imperialistischen Epoche, was die Entwicklung der Produktivkräfte der Menschheit betrifft, und zwar für ihren weitaus größeren Teil.

In dieser Periode spitzten sich in der ArbeiterInnenbewegung auch die inneren politischen Gegensätze zu. Die reformistische Alltagspraxis, die in den westlichen ArbeiterInnenparteien und Gewerkschaften mehr und mehr dominierte, suchte mit den Vorstößen des Revisionismus auch nach einem theoretischen Ausdruck ihrer Politik.

Insgesamt kann man jedoch konstatieren, dass sich das Bewusstsein der sich formierenden Fraktionen in der internationalen Sozialdemokratie hinsichtlich des Charakters ihrer Meinungsverschiedenheiten und deren politischer und organisatorischer Konsequenzen erst allmählich entwickelte und dieser von allen Fraktionen an bestimmten Punkten unterschätzt wurde.

Der imperialistische Weltkrieg und der Zusammenbruch der Zweiten Internationale zwangen die RevolutionärInnen dazu, sich die Frage nach den materiellen Wurzeln des Verrats der Zweiten Internationale in allen Aspekten zu stellen und grundlegende, radikale Konsequenzen daraus zu ziehen, d. h., den konsequenten Bruch mit dem reformistischen Sozialchauvinismus zu vollziehen sowie die Notwendigkeit einer Dritten Internationale zu proklamieren und diese schließlich als Weltpartei der proletarischen Revolution zu gründen.

13.2  1914 – 1948: Periode des Zusammenbruchs der imperialistischen Ordnung – Revolution und Konterrevolution

Die Periode von 1914 bis 1948 entsprach offensichtlich in ihrer Erscheinungsform am deutlichsten den klassischen Imperialismustheorien der revolutionären ArbeiterInnenbewegung.

Mit dem Ersten Weltkrieg traten die inneren Widersprüche, die sich in der vorhergehenden Periode aufgeladen hatten, explosiv hervor. Doch der Weltkrieg löste diese nicht. Die Frage der imperialistischen Führung und der Neuaufteilung der Welt blieben ungelöst, ja, verschärfte sich. Die USA wurden zur führenden Wirtschaftsmacht, zur Industriellen der Welt. Auch Japan verzeichnete einen starken industriellen Aufschwung.

Britannien und Frankreich konnten jedoch ihr Kolonialmonopol behaupten, aber auf ungleich schwächerer industrieller Grundlage. Das Pfund blieb Leitwährung. Seine Weltmarktfunktion als Weltgeld vermochte es jedoch nicht mehr recht auszufüllen, was den britischen Imperialismus vielmehr von innen aushöhlte. In der prekärsten Lage befand sich jedoch der deutsche Imperialismus.

Die unmittelbare Nachkriegsperiode war neben den politischen auch durch massive ökonomische Erschütterungen, v. a. in Deutschland, charakterisiert – bis hin zur Hyperinflation 1923. Diese konnte durch eine Änderung der US-Politik und deren Weltmachtrolle (neben dem für das Kapital positiven Scheitern der Revolution) ab Ende 1923 relativ stabilisiert werden. Aber die Probleme blieben.

Die 1920er Jahre sahen einen enormen Anstieg von privaten Investitionen, speziell aus den USA in Form von Anleihen in lateinamerikanischen und osteuropäischen Staaten sowie in Deutschland, die durch US-Investmentbanken gebündelt und vermittelt wurden. Diese Anlagen wiederum dienten als Deckung für eine Kreditausdehnung auf Basis niedriger Zinsen. Mit dem Steigen der US-Zinsen Ende der 1920er Jahre und den wachsenden Problemen bei der Schuldentilgung durch die Schuldnerstaaten platzte die Spekulationsblase in der ausgedehnten Finanzkrise nach 1929. Die nächsten Jahre sahen einen gewaltigen Rückfluss an Schuldentilgung, Auflösung von Reserven, sinkenden Wechselkursen und stark ungünstige „Terms of  Trade“ auf Seiten der betroffenen Länder. Insbesondere in Lateinamerika war „Importsubstitution“ eine logische Antwort auf diese Probleme. Ebenso wechselte damit die vorherrschende Form des Kapitalexports in die der Direktinvestition, insbesondere in Landesgesellschaften der US-Konzerne in Lateinamerika.

Gleichzeitig bedeutete das Kolonialsystem für die USA, Deutschland und Japan aus unterschiedlichen Gründen enorme Einschränkungen. Das US-Kapital investierte auch wegen des Kolonialsystems in den 1920er Jahren v. a. in Deutschland, Lateinamerika und Osteuropa, während ihm die britischen und französischen Kolonialgebiete oft verschlossen waren.

Das deutsche Monopolkapital war zu groß für den inneren Markt. Zugleich verhinderten Schutzzölle und andere Auflagen des französischen und britischen Imperialismus den Zugang zum Weltmarkt, v. a. für die Stahl- und Chemieindustrie.

Damit verschärfte sich der Gegensatz zwischen den größten Kolonialmächten sowie den USA, Deutschland und Japan weiter. Der Gegensatz musste sich, sofern nicht die proletarische Revolution zuvorkommen würde, in einem weiteren Weltbrand, dem Zweiten Weltkrieg, entladen.

Insgesamt waren weite Teile dieser Periode gekennzeichnet durch die Erschütterungen, ja, den Zusammenbruch der imperialistischen Ordnung und des Weltmarktes. Die imperialistische Vormachtstellung Britanniens ist in offenen und akuten Gegensatz zu seiner ökonomischen Potenz getreten. Anders als vor dem Ersten Weltkrieg und unmittelbar danach gab es keine imperialistische Hegemonialmacht, die als „Weltmarktgarantin“ hätte fungieren können.

Gerade deshalb stellen die kurzen, fieberhaften wirtschaftlichen Aufschwungsperioden von 1923 – 29 ökonomische Entwicklungen dar, die große Katastrophen vorbereiteten, weil die globalen geopolitischen Verhältnisse und die klassenmäßigen Voraussetzungen nicht in der Lage waren, eine anhaltende Stabilisierung herbeizuführen.

Das zeigte sich auch in der Entwicklung der Technik. So bereiteten die 1920er und 1930er Jahre viele Entwicklungen vor, die später, in der Periode des langen Booms (s. u.), verallgemeinert wurden und wichtige Elemente der ökonomischen Grundlagen dieser Periode darstellten (Anwendung des Taylorismus in der US-Autoindustrie ab 1913 und dessen beginnende Ausbreitung nach dem Ersten Weltkrieg, Zentralisation des Kapitals im Handelssektor, „Entdeckung“ der ArbeiterInnenklasse als Massenkonsumentin, „Entdeckung“ der kolonialen oder halbkolonialen Länder für Direktinvestitionen).

Doch all diese Entwicklungen konnten ihr ökonomisches Potential in dieser Periode unmöglich realisieren, weil die globalen Bedingungen dafür, d. h. massive Vernichtung bestehender Kapitale, Neuaufteilung der Welt und Etablierung einer imperialistischen Hegemonialmacht, über Jahrzehnte fehlten.

Die Zwischenkriegsperiode und der Zweite Weltkrieg markierten auch aus einem anderen Grund einen Wendepunkt., eine globale Durchsetzung des Imperialismus. Anders als in jeder vorhergehenden Periode waren die Kolonialländer und die Halbkolonien direkt in die Weltpolitik, in das globale politische System im Rahmen der globalen Auseinandersetzung eingefügt, in der diesen Ländern, respektive den sich bildenden, in ihrer Formierung durch das imperialistische Weltsystem letztlich blockierten, modernen Gesellschaftsklassen in diesen Ländern (ArbeiterInnenklasse und Bourgeoisie), eine ungleich größere Rolle zukam als in der vorimperialistischen Epoche oder in der ersten Periode des Imperialismus. Die Kolonialvölker wurden in viel größerem Maße als je zuvor AkteurInnen im revolutionären Kampf.

Wir können also von einer globalen Periode des Zerfalls des Kapitalismus, seines Niedergangs sprechen, in der der Übergang zum Sozialismus den einzigen möglichen Ausweg bildete, um historische Katastrophen – Krieg, Faschismus, Barbarei –  abzuwenden. In dieser insgesamt revolutionären Geschichtsperiode, einer von Revolution und Konterrevolution, kam dem subjektiven Faktor, der Frage des Bewusstseins, der Reife, Organisiertheit, der strategischen und taktischen Richtung der kommunistischen Bewegung, eine bis dahin nie dagewesene geschichtliche Bedeutung zu.

Die Periode von 1914 bis 1948 muss also auch von dieser Seite charakterisiert werden, und zwar als eine revolutionäre Periode, weil sie wiederholt einen Ansturm der WeltarbeiterInnenklasse auf die politische Macht im Weltmaßstab mit sich brachte. Der Sieg und das Behaupten der Russischen Revolution, die Errichtung der Sowjetunion usw. belegen auch den Charakter der imperialistischen Epoche als „Übergangskapitalismus“.

Zugleich offenbart sich der Charakter der weltgeschichtlichen Periode keineswegs immer in derselben Form. In seiner Kritik des 6. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale verwies Trotzki auf dieses Problem folgendermaßen:

„Der revolutionäre Charakter der Epoche besteht nicht darin, dass er es in jedem gegebenen Augenblick gestattet, die Revolution durchzuführen, d. h. die Macht zu ergreifen, sondern in scharfen Schwankungen und abrupten Übergängen von einer unmittelbar revolutionären Situation, in der die Kommunistische Partei Anspruch auf die Macht erheben kann, zu einem Sieg der faschistischen oder halbfaschistischen Konterrevolution, und von letzterem zu einem provisorischen Regime der goldenen Mitte (dem „Linken Block“, der Einbeziehung der Sozialdemokraten in die Koalition, dem Übergang der Macht an die Partei MacDonalds usw.), um gleich darauf wieder die Gegensätze auf die Spitze zu treiben und in aller Schärfe die Machtfrage zu stellen.“ [civ]

Wenn wir einmal beiseitelassen, dass Trotzki hier die geschichtliche Periode mit der gesamten imperialistischen Epoche identifiziert, so zeigt das für diese Zeit sehr deutlich, welche zentrale Bedeutung die Einschätzung der Klassenkampfperiode oder der konkreten Lage für die konkrete revolutionäre Politik, für die Bestimmung ihrer konkreten Taktik, der Losungen, Forderungen, die in den Mittelpunkt ihrer Agitation und Propaganda gerückt werden, hat. Eine Politik, die der jeweils konkreten Lage nicht Rechnung trägt, ist, unbeschadet aller guten Vorsätze und des Heroismus ihrer AnhängerInnen, letztlich zum Scheitern verurteilt. Sie führt unvermeidlich zur politischen Desorientierung der Klasse. Darin liegt eben eine der großen Tragödien des Linksradikalismus, ultralinker politischer Ungeduld oder auch opportunistischer Passivität. Wenn die sich verändernden Situationen nicht rechtzeitig erkannt werden, wird die revolutionäre Organisation notwendigerweise unangemessene Taktiken verwenden oder die falschen Losungen in den Mittelpunkt stellen. Ein solches Unvermögen wirkt sich bei allen Wendungen im Klassenkampf – sowohl bei revolutionären Zuspitzungen als auch nach grundlegenden Niederlagen – verheerend aus. Trotzki verdeutlicht das Problem unter anderem nach der Niederlage des deutschen Oktober 1923, als sich die Komintern weigerte, die Niederlage zur Kenntnis zu nehmen:

„Nach der Periode der Sturmflut während des Jahres 1923 begann die Periode einer langdauernden Ebbe. In der Sprache der Strategie bedeutete das einen geordneten Rückzug, Nachhutgefechte, die Befestigung der Stellungen innerhalb der Massenorganisationen, die Überprüfung der eigenen Reihen und die Reinigung und Schärfung der theoretischen und politischen Waffen. Diese Haltung wurde als Liquidatorentum gebrandmarkt. Mit diesem, wie auch mit anderen Begriffen aus dem Wörterbuch des Bolschewismus wurde in den letzten Jahren der allergrößte Missbrauch getrieben. Man lehrte und erzog nicht mehr, sondern säte nur Zwietracht und Verwirrung. Liquidatorentum bedeutet die Zurückweisung der Revolution, es ist der Versuch, deren Wege und Methoden durch die Wege und Methoden des Reformismus zu ersetzen. Die leninistische Politik hat nichts mit Liquidatorentum gemein. Doch genausowenig hat sie mit einer Mißachtung der Veränderungen in der objektiven Lage zu tun, damit, den Kurs des bewaffneten Aufstands in Worten aufrechtzuerhalten , wenn die Revolution uns bereits den Rücken gekehrt hat und es notwendig ist, wieder den langwierigen Weg hartnäckiger, systematischer und mühseliger Arbeit unter den Massen einzuschlagen, um die Partei auf eine neue Revolution vorzubereiten .

Um eine Treppe hinaufzusteigen, braucht der Mensch eine andere Art der Bewegung, als wenn er sie hinuntergeht. Am gefährlichsten wird es, wenn der Mensch, nachdem er das Licht gelöscht hat, den Fuß zum Hinaufsteigen hebt, während es vor ihm die Stufen hinuntergeht. Stürze, Verletzungen und Verrenkungen sind  dann unvermeidlich. Die Führung der Komintern hat im Jahre 1924 alles getan, um die Kritik der Erfahrungen des deutschen Oktobers und jede Kritik überhaupt zu unterdrücken. Sie wiederholte halsstarrig: Die Arbeiter steuern unmittelbar auf die Revolution zu – die Treppe führt hinauf. Kein Wunder, daß die Direktiven des 5. Kongresses, angewandt während des Zurückflutens der Revolution, zu schweren politischen Stürzen und Verrenkungen führten!“ [cv]

Die Bedeutung einer konkreten Analyse der politisch-ökonomischen Lage, der kurzfristigen Klassenperiode oder Situation ergibt sich daraus, dass diese jeweils unterschiedliche, konkrete Politik erfordern. Daher bilden die Einschätzung und Charakterisierung der aktuellen Lage ein unterlässliches Moment revolutionärer Tätigkeit. Ohne diese agiert eine Organisation oder Gruppe blind. Die Einschätzung der Veränderung solcher Perioden und von deren Übergängen bereiten naturgemäß oft Schwierigkeiten, weil diese nur aus einer Gesamteinschätzung der Lage gewonnen werden können, deren alternative Entwicklungsmöglichkeiten durchaus offen sein mögen – nicht zuletzt, weil sie selbst im Klassenkampf und nicht am Kopf des/r Analysierenden entschieden werden. Das relativiert ihre Bedeutung und die ständige kritische Überprüfung von Prognosen und Einschätzungen jedoch nicht. Im Folgenden wollen wir zur Illustration kurz die politischen Klassenkampfperioden in dieser längeren Periode von 1914 – 1948 skizzieren.

1914 – 1916: Imperialistische Schockwelle, Phase der Defensive und Vorbereitung

Die historische Katastrophe des Ersten Weltkrieges und des Zusammenbruchs der II. Internationale eröffnete eine Periode der nationalistischen Verhetzung der ArbeiterInnenklasse und der Masse der Unterdrückten. Die sozialpatriotische, tatkräftige Hilfe der Sozialdemokratie und der bürokratischen Gewerkschaftsapparate bildeten dabei in den meisten Ländern eine wesentliche soziale Stütze, die den Einfluss nationalistischer Ideologien und der Kriegshetze in der ArbeiterInnenklasse verstärkte.

Viele Untersuchungen zeigen, dass die Kriegsbegeisterung im Proletariat, anders als bürgerliche, aber auch viele sozialdemokratische IdeologInnen verbreiten, keineswegs allgemein war, sondern ein bedeutender Teil der Klasse dem Krieg von Beginn an skeptisch bis offen ablehnend gegenüberstand. Der Verrat der Sozialdemokratie bedeutete aber gerade die Illegalisierung, Isolierung und gezielte Marginalisierung dieser Teile.

In dieser weltgeschichtlichen Lage stellte der Kampf der Bolschewiki und anderer internationalistischer Linke für einen Bruch mit der II. Internationale, einschließlich des unversöhnlichen Kampfes gegen das Versöhnlertum, eine unerlässliche Voraussetzung für die Neuformierung der ArbeiterInnenklasse.

1917 – 1919: Periode des offen revolutionären Ansturms

Diese Periode des revolutionären Ansturms wurde durch politische Ereignisse, erste internationalistische Massendemonstrationen gegen den Krieg und v. a. die Februarrevolution, eingeläutet. Gegen Ende des Krieges und danach  stellte sich in einer Reihe europäischer Länder unmittelbar die Machtfrage bis hin zur Errichtung von landesweiten oder städtischen bzw. lokalen Räterepubliken und Doppelmachtorganen. Doch in Deutschland, Italien, Deutsch-Österreich, Ungarn, der Slowakei usw. wurde die Revolution geschlagen durch das Zusammenwirken von Reaktion und Sozialdemokratie. Mit den Niederlagen dieser Revolutionen wurde diese Klassenkampfperiode beendet.

1920 – 1923: Instabile Periode der Defensive und des Kampfes um die Massen

Dies war die Periode, die vor allem dadurch gekennzeichnet war, dass das revolutionäre Proletariat aus der Organisierung von Abwehrkämpfen heraus die Offensive vor dem Hintergrund einer nach wie vor turbulenten und höchst instabilen Weltlage organisieren musste.

Aber aufgrund der Niederlagen des unmittelbar revolutionären Ansturms konsolidierten sich die bürgerliche Herrschaft und die Sozialdemokratie und die Gewerkschaftsbürokratie einigermaßen.

Ökonomisch und politisch blieb diese Periode jedoch weiter äußerst instabil. Sie zeigte enorm große Zuspitzungen des Klassenkampfes in einzelnen Ländern (z. B. Kapp-Lüttwitz-Putsch, Ruhrkrise). Sie kulminierte und endete 1923 im deutschen Oktober, der einer strategischen Niederlage der WeltarbeiterInnenklasse gleichkam.

Diese Periode erforderte von den KommunistInnen, die Lehren aus dem Scheitern des ersten Ansturms zu ziehen und ihr strategisches Ziel mit dem Kampf um die Massen in Phasen der Defensive, der leicht in den um die Macht umschlagen konnte, zu verbinden. Auch wenn die kommunistische Bewegung in dieser Phase viel Lehrgeld zahlen musste, wurden entscheidende politische, taktische und programmatische Schlussfolgerungen entwickelt (Einheitsfront, Übergangsforderungen), die bis heute ihren Wert behalten haben.

1924 – 1929: Periode der relativen Stabilisierung

Die Niederlage im Oktober 1923 ging Hand in Hand mit einer politischen Kursänderung der imperialistischen Mächte, v. a. mit einer stärkeren und die Lage in Europa stabilisierenden Rolle des US-Imperialismus (Zurückdrängen des rabiaten französischen Revanchismus, Währungsreform und Stabilisierung in Deutschland durch die USA). Diese Periode der relativen Stabilisierung der bürgerlichen Herrschaft kannte auch wichtige verpasste Chancen der ArbeiterInnenbewegung (Britannien), vor allem aber die Niederlage der chinesischen Revolution und die Stärkung der Stalinbürokratie sowie das massive Voranschreiten der Degeneration der Kommunistischen Internationale nach 1924.

Diese veränderte ihren Charakter von einer revolutionären zu einer zentristischen Organisation. Diese Degeneration stellte selbst einen Faktor dar, der den Spielraum der Weltbourgeoisie vergrößerte.

1929 – 1936: Weltwirtschaftskrise, große Depression, Zuspitzung der Klassenkämpfe

Die Weltwirtschaftskrise, die verschiedene Länder ab 1929 zeitversetzt traf, führte zu massiven inneren Erschütterungen, einer Reihe von Revolutionen und Konterrevolutionen.

Verschiedene Länder (Deutschland, Frankreich, Spanien) bildeten in dieser Phase den Schlüssel zur internationalen Lage, weil die Klassenkämpfe derartig intensive Formen angenommen hatten, dass deren Ausgang wesentlich nicht nur über Revolution und Konterrevolution im Inneren entschied, sondern auch das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen auf weltweiter Ebene prägte.

Deutschland bildete am Beginn der 1930 Jahre in mehrfacher Hinsicht das Zentrum des Klassenkampfes. Erstens warf die tiefe Krise die Alternative Faschismus oder sozialistische Revolution und damit die zentrale Frage der ArbeiterInneneinheitsfront gegen die drohende Naziherrschaft und deren Verknüpfung mit dem Kampf um die Macht auf. Während die Sozialdemokratie die Klasse an das Bündnis mit der „demokratischen“ Bourgeoisie zu binden versuchte, einschließlich der Unterstützung bonapartistischer Herrschaftsformen, erlebte die ultralinke Politik der KDP und der von Stalin geführten Komintern ihren historischen Bankrott. Sie erwies sich  als unfähig, ja, als Hindernis, die sozialdemokratischen ArbeiterInnen zu gewinnen und so überhaupt die Grundlage zu schaffen, den Nationalsozialismus zu schlagen.

Mit dieser historischen Niederlage und der Weigerung, dieses Fiasko selbstkritisch überhaupt nur zu diskutieren, war auch das Schicksal der Kommunistischen Internationale als revolutionärer Kraft besiegelt.

Die Erschütterungen durch die Weltwirtschaftskrise, aber auch die Schockwirkungen des Versagens der deutschen ArbeiterInnenbewegung eröffneten vorrevolutionäre und revolutionäre Möglichkeiten in Frankreich und Spanien, die jedoch von Sozialdemokratie und Stalinismus durch die Politik der Volksfront konterrevolutionär gestoppt wurden bzw. dem Sieg der Reaktion (Franco in Spanien) den Weg bereiteten.

Die Niederlage in Spanien vollzog sich im Grunde schon 1936 und eröffnete eine neue Periode im internationalen Klassenkampf, die vom Vormarsch der Konterrevolution auf allen Ebenen geprägt war.

1936 – 1943: Vormarsch der Konterrevolution

Die Niederlage in Spanien vollzog sich im Grunde schon 1936, und sie eröffnete, wie oben gesagt, eine neue Periode im internationalen Klassenkampf, die von einem Vormarsch der Konterrevolution auf allen Ebenen geprägt war. In Deutschland festigte sich die Nazidiktatur. Doch auch viele andere Länder griffen mehr und mehr zu bonapartistischen Herrschaftsformen. Die Vorbereitungen eines neuen Weltkriegs und dessen Ausbruch prägten diese Phase.

Für die ArbeiterInnenklasse waren das denkbar ungünstige Bedingungen. Nach dem Übergang der Sozialdemokratie ins bürgerliche Lager muierte eine weitere Internationale, die Komintern, zum Instrument einer reaktionären Bürokratie und zu einem Hindernis für die Revolution. Die Politik des Kreml nahm einen offen konterrevolutionären Charakter an, der sich direkt gegen das Proletariat bzw. die kommunistische Avantgarde richtete (spanischer Bürgerkrieg, Moskauer Prozesse, Hitler-Stalin-Pakt).

1943 – 1948: Revolutionäre Periode

Mit der Wende für den deutschen Imperialismus im Russlandfeldzug nach Stalingrad, der Konferenz von Jalta, aber vor allem auch mit der Entwicklung des Partisanenkriegs in Italien, Frankreich, Griechenland, Jugoslawien zeichnete sich der abschließende offene Kampf um die Neuordnung der Welt ab.

Die innerimperialistischen Kräftefragen waren im Grunde schon zu diesem Zeitpunkt bereits gelöst. Der Gegensatz einer zukünftigen US-dominierten Weltordnung zur Sowjetunion trat mehr und mehr in den Vordergrund. Zugleich führten das kommende Kriegsende und die Nachkriegsperiode zu Doppelmachtsituationen in halb Europa. Die ehemaligen Kolonialmächte standen außerdem Aufstands- oder jedenfalls Massenbewegungen der Kolonialbevölkerungen gegenüber. Die Frage des Kampfes um die Macht stand insbesondere in Europa auf der Tagesordnung, und zwar in Gestalt des Ringens zwischen proletarischer Revolution und bürgerlicher Konterrevolution (wenn auch oft in „demokratischer“ Form, mitunter aber auch äußerst blutig, z. B. Griechenland).

Das waren die zentralen Voraussetzungen, damit andere ökonomische und politische Resultate des Zweiten Weltkriegs wirken konnten: die massive Vernichtung überschüssigen Kapitals, die Revolutionierung der Technik der US-Wirtschaft, die Ausdehnung der Konsumgüterindustrie in den USA, die damit verbundene Erhöhung der „Produktionsweise“ des relativen Mehrwerts und die Integration der ArbeiterInnenschaft als KonsumentInnen, die Etablierung einer globalen, vom US-Imperialismus bestimmten und garantierten globalen Finanz- und Wirtschaftsordnung, u. a. in Form der Gründung von IWF und Weltbank (Bretton Woods), der Zusammenbruch des Kolonialsystems (auch wenn die Entkolonialisierung noch mehr als ein Jahrzehnt brauchte und blutiger und heroischer Befreiungskämpfe bedurfte) und damit die Durchsetzung der US-Hegemonie (Open Door Policy).

Die Niederlagen der ArbeiterInnenklasse in Frankreich, Italien, Griechenland, kurzum die konterrevolutionäre Befriedung wären unmöglich gewesen ohne die Kollaboration von Sozialdemokratie, Stalinismus und Gewerkschaftsbürokratie.

Schon im Zweiten Weltkrieg und im Aufbau der Nachkriegsordnung wurden die britischen und US-amerikanischen Gewerkschaften, die Labour Party und die schwedische ArbeiterInnenbewegung als zuverlässige, antikommunistische Bollwerke aufgebaut. Diese unterstützten tatkräftig die Rekonstruktion der reformistischen Parteien und der Gewerkschaften in der westlichen Einflusssphäre im Sinne des Imperialismus. Nicht minder wichtig war die Kooperation des Stalinismus mit seiner Politik der „friedlichen Koexistenz“, die zwar einerseits als Gegnerin der US-geführten imperialistischen Welt im Kalten Krieg auftrat, zugleich aber unverzichtbare, konterrevolutionäre Garantin der Nachkriegsordnung war.

Die Degeneration der Vierten Internationale 1948 und ihr organisatorischer Zerfall 1953 waren ein wichtiges, wenn auch keineswegs unvermeidliches Resultat der historischen Niederlagen der ArbeiterInnenklasse in der Nachkriegsperiode und der darauf aufbauenden konterrevolutionären Stabilisierung. Die Vierte Internationale war trotz ihrer geringen Größe – ähnlich wie die InternationalistInnen am Beginn des Ersten Weltkriegs – ein gewichtiger Faktor der Weltpolitik. Die Tatsache, dass sie zu keinem Generalstab der Weltrevolution wurde, ihre Degeneration und ihr Zerfall und der damit verbundene Abbruch der revolutionären Kontinuität, das Fehlen einer revolutionären Internationale seit Jahrzehnten verkörpern ebenfalls einen wesentlichen Faktor der Weltpolitik und Weltordnung, der die kommenden Perioden mit charakterisierte.

Allein die Tatsache, dass die verschiedenen Reste der Vierten Internationale, dass der Trotzkismus nach 1948 bei allen wichtigen Wendepunkten des Klassenkampfes versagt hatte, verdeutlicht, dass die Vierte Internationale für die Revolution gestorben ist, dass der Aufbau einer neuen, revolutionären Fünften Internationale die drängende Aufgabe unserer Zeit schlechthin bedeutet. Ein wesentlicher Grund für dieses Versagen bestand darin, dass die Vierte Internationale nach dem Zweiten Weltkrieg nicht in der Lage war, eine veränderte Weltlage konkret zu analysieren, die relative Stabilisierung des Weltkapitalismus spätestens nach 1948 lange bestritt. Dies führte tragisch-ironisch mit dazu, dass zugleich zentrale revolutionäre Momente des programmatischen Verständnisses der Vierten revidiert wurden (Stalinismus, Bedeutung der revolutionären Partei).[cvi]

13.3 1948 – 1968: Periode des Langen Booms und der unumstrittenen US-Vorherrschaft

Die USA waren die eindeutige Hegemonin, die den Dollar als Weltgeld durchgesetzt hat. Mit dem Abkommen von Bretton Woods war ein System fester Wechselkurse gegenüber dem Dollar, seine Goldanbindung und ein Mechanismus des Gegensteuerns gegen Währungsungleichgewichte (IWF = Internationaler Währungsfonds) geschaffen. Die Struktur der Kapitalströme im Nachkriegsboom kennzeichnete ein großer Anstieg von Kapitalexporten zwischen den imperialistischen Zentren USA, Deutschland und Japan, die gleichzeitig ökonomische Netze von Landesgesellschaften in den Halbkolonien aufbauten.

Die wichtigsten Voraussetzungen für mehrere Zyklen erweiterter Reproduktion des Kapitals in allen imperialistischen Zentren waren folgende:

  • Die massive Vernichtung fixen Kapitals in Europa und Japan im und auch nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die Erneuerung des Kapitalstocks.
  • Die Öffnung der britischen und französischen Kolonien für den Weltmarkt des Kapitals.
  • Die Etablierung einer auf die fast absolute Hegemonie des US-Imperialismus gestützten internationalen Finanzordnung
  • – Damit verbunden die Herstellung zentraler Felder für den Export des US-Kapitals nach 1945 und somit die Überwindung seiner eigenen inneren Expansionsschranken.
  • Die hohen Profitraten im industriellen Sektor und die damit verbundene Expansionsdynamik.
  • Die dramatische Erhöhung der Ausbeutungsrate der ArbeiterInnenklasse in allen imperialistischen Staaten während des Zweiten Weltkrieges und weitere Entwertung der Einkommen der Lohnabhängigen durch die Währungsreformen nach 1945.
  • Die größere Bedeutung der Arbeitsmigration (v. a. halbkoloniale Arbeitsmärkte, aber in Deutschland auch Vertriebene) nach 1945 und ein damit verbundener „Neustart“ der Akkumulation in Japan und Westeuropa unter Einschluss von Arbeitskräften, deren Preis weit gedrückt wurde oder deren Herstellung das eigene Kapital nichts gekostet hat (und damit verbunden Senkung des Durchschnittswerts der Ware Arbeitskraft).
  • Weitaus stärkere Einbeziehung von Frauen in die Lohnarbeit, was umgekehrt auch eine Veränderung der privaten Hausarbeit erforderte.
  • Die Vernichtung von Kapital und die relativ billige Arbeitskraft nach 1945 gingen einher mit einer massiven, über mehrere Zyklen laufenden Ausdehnung der Produktion.
  • Ein wesentlicher Aspekt der Ausdehnung der Produktion bildete die Ausdehnung des Konsumgütersektors, die stetige Steigerung der Produktivität der zu ihrer Herstellung verwandten Arbeitskraft und damit die Kombination von erweiterter Reproduktion des Kapitals, steigenden Profitmassen, Erweiterung der Nachfrage nach Arbeitskraft sowie Aneignung von Mehrwert, v. a. durch relative Mehrwertproduktion.

Auf der Grundlage der zyklenübergreifenden erweiterten Reproduktion des Kapitals haben die USA und ihre Verbündeten eine ganze Reihe globaler Institutionen geschaffen, die diese Ordnung zugleich absichern: Bretton Woods und Goldstandard; Dollar als Weltgeld; internationaler Währungsfonds und Weltbank; die UNO als Institution, die alle imperialistischen Staaten und alle degenerierten ArbeiterInnenstaaten umfasst. Hinzu kamen die imperialistischen Allianzen wie die NATO, die Gründung der EG usw. Zum Teil existieren diese Institutionen, wenn auch mit großen Veränderungen bis hin zu veränderten Zielsetzungen (z. B. EG – EU), bis heute.

All das erlaubte eine ganze Periode mehrerer expansiver industrieller Zyklen, eine Akkumulationsperiode der erweiterten Reproduktion. Die Produktivkraft der Arbeit wuchs über mehrere Zyklen.

Die USA fungierten in dieser Periode faktisch als Demiurgin des Weltmarktes. Sie stellten nicht nur das Weltgeld (Dollar), der US-Konjunkturzyklus bestimmte nach dem Zweiten Weltkrieg auch den Weltmarktzyklus, der faktisch parallel zur US-Konjunktur verlief.

„Innerhalb des Welthandels dominieren die USA nach dem 2. Weltkrieg absolut. Gemessen an den Weltexporten bestritten sie in den 1950er Jahren eine Quote von rund 20 %. Dies war doppelt so viel wie die der nächstfolgenden Nation Großbritannien, die trotz der fortbestehenden Begünstigung durch Handelsschranken nur auf 10 % kam. Wiederum die Hälfte des britischen Anteils konnte Frankreich in diesem Zeitraum auf sich vereinigen (5 %), sodass die westlichen Siegermetropolen des 2. Weltkriegs in dem dem Krieg folgenden Jahrzehnt mehr als ein Drittel der Weltexporte bestreiten. ( … )

Diese ausgeprägte Ungleichheit der Welthandelsanteile zwischen den führenden kapitalistischen Weltmarktmetropolen, wie  sie sich als Ergebnis langfristiger ökonomischer Entwicklungstendenzen sowie politischer Konstellationen im Anschluss an den 2. Weltkrieg ergab, verschaffte dem zyklischen Verlauf der Kapitalakkumulation in den USA zunächst den prägenden Einfluss auf die Konjunkturen des Weltmarkts. Obwohl das US-Nationalkapital aufgrund seines großen Binnenmarkts nur eine vergleichsweise niedrige Außenhandelsverflechtung ausweist, war die prägende Kraft des USA-Zyklus für die Konjunkturen des Welthandels und in weiterer Instanz für die nationalen industriellen Zyklen der nachgeordneten kapitalistischen Metropolen evident.“ [cvii]

Die 20 % müssen ins Verhältnis zum Gewicht der US-Ökonomie nach dem Zweiten Weltkrieg in der Weltwirtschaft gestellt werden. Rund 40 % der Industrieproduktion entfielen auf die USA, ihr Markt stellte den mit Abstand größten und bedeutendsten Binnenmarkt dar. Sie verfügten im eigenen Land und in Venezuela über Zugang zu relativ günstigem Öl als dem entscheidenden Energieträger, die US-Landwirtschaft erzeugte Überschüsse. Europa und die Öffnung des Weltmarktes erlaubten dem US-Kapital zu expandieren, faktisch als Monopolist hinsichtlich von Industriewaren- und Kapitalexport zu fungieren und sich gleichzeitig auf die den Weltmarkt prägende Binnenökonomie zu stützen.

Es sind also Sonderbedingungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg, nach erfolgter Neuaufteilung der Welt und der faktisch absoluten Hegemonie der USA gegenüber ihren imperialistischen RivalInnen durchgesetzt wurden, die die Grundlage für den außergewöhnlichen Charakter der Nachkriegsperiode bildeten und deren Sonderstellung für die gesamte imperialistische Epoche erklären.

Bestimmte Aspekte der Epoche traten jedoch sogar stärker hervor. Zugleich etablierte das Finanzkapital mit der halbkolonialen Neuordnung der Welt die dem Kapitalismus eigentlich entsprechende Form der Unterordnung und Abhängigkeit der von den imperialistischen Mächten beherrschten Teile der Welt.

Die Vorherrschaft des Finanzkapitals festigte sich noch mehr durch die enge Bindung zwischen Banken, Industriekapital und staatlicher Politik. In jenen imperialistischen Ländern, wo die großen Monopole der vorherigen Periode z. T. zerschlagen wurden (z. B. IG Farben in Deutschland) etablierten sich rasch neue Großkonzerne, die in Summe eine nicht minder marktbeherrschende Stellung im globalen Rahmen einnahmen (Bayer, Höchst, BASF). Gerade im Agrar- und Konsumgütersektor erreichte die Tendenz zur Monopolisierung oder eine oligarchische Aufteilung der Märkte einen Umfang, der vor dem Zweiten Weltkrieg nicht oder nur ausnahmsweise bekannt war. Dies reflektiert nicht nur die Zentralisations- und Konzentrationstendenzen in den Metropolen, sondern vor allem auch die Erweiterung der Operationen dieser Kapitale in den halbkolonialen Ländern und die Umwälzung der landwirtschaftlichen Produktion nach 1945 überhaupt.

Zweitens wurden die kolonialen und die halbkolonialen Länder stärker als vor 1945 qualitativ stärker in den kapitalistischen Weltmarkt integriert. Die kolonialen Befreiungsbewegungen und der Übergang der Länder Asiens und Afrikas von einer kolonialen zur indirekten, halbkolonialen Herrschaftsform und Einbindung in den Weltmarkt spiegelten einerseits den Druck demokratischer und revolutionärer Bewegungen wider. Andererseits brach auf diese Weise nicht nur der privilegierte Zugang der alten Kolonialmächte zu diesen Märkten auf. Die staatliche, formale Unabhängigkeit entsprach auch der Verbreiterung des kapitalistischen Verhältnisses in den Ländern, was zu ihrer auf den Weltmarkt bezogener Teilindustrialisierung und zu einem Wachstum des Proletariats führte, aber auch zur Umwälzung der Verhältnisse auf dem Land und der prekären Einbindung der Agrarproduktion in den Weltmarkt. Die sog. Grüne Revolution in Indien illustriert diese Veränderung, indem sie Millionen und Abermillionen von Bauern abhängig machte von Saatgut und Pestiziden, die von wenigen Agrarkonzernen der imperialistischen Zentren monopolisiert werden. Die für Halbkolonien typische Form der Weltmarktabhängigkeit bedeutete auch, dass die formale Unabhängigkeit der Länder mit einer Verstärkung der Abhängigkeit vom Weltmarkt einherging. An die Stelle formeller Fremdbestimmung trat auch in diesen Ländern die stumme Macht der Verhältnisse, die im Zweifelsfall durch direkte Interventionen abgesichert wurde und wird.

Drittens war die Periode auch von einer Ausdehnung der degenerierten ArbeiterInnenstaaten nach 1948 geprägt (China, Osteuropa, Nordkorea, Kuba, Vietnam). Der polare Gegensatz von USA und UdSSR kennzeichnete die Weltpolitik, der aufgrund der Politik der stalinistischen Bürokratie selbst eine stabilisierende Funktion für die Gesamtperiode mit sich brachte –  ja, ohne deren Politik wäre die relative Stabilität der Weltordnung unmöglich gewesen.

Die stalinistische Bürokratie unterdrückte nicht nur die ArbeiterInnenklasse in den von ihr beherrschten Staaten, sie stellte zugleich ein Haupthindernis für die Revolutionierung der antikolonialen Befreiungsbewegungen und des Proletariats dar. Sie offenbarte hier deutlich ihren Charakter als Agentur des Weltimperialismus.

Die erweiterte Reproduktion in den kapitalistischen Ländern ging auch mit einer Ausdehnung der industriellen und produktiven Basis in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten, v. a. der UdSSR und Osteuropas auf Basis der Erneuerung der Industrie infolge der Zerstörungen des Krieges, einher. Dies führte mit zu einer Stabilisierung der bürokratischen Herrschaft nach 1953 – 1956, aber auch zu einer Festigung des globalen Status quo.

Die Zunahme von degenerierten Arbeiterstaaten nach 1948 verdeutlicht den Übergangscharakter der imperialistischen Epoche, aber auch, dass diese selbst in das imperialistische Weltsystem zeitweilig integriert werden können und die Politik der Bürokratie zu deren Stabilität funktional beiträgt.

Schließlich erlaubten die Expansion des Kapitalismus und die geopolitische Frontstellung zwischen dem US-Imperialismus und der Sowjetunion den halbkolonialen Ländern auch einen gewissen Spielraum. Die UdSSR versuchte, verbündete Staaten wie Kuba nach der Revolution zu stützen. Eine Reihe linksnationalistischer Regime verfolgte eine staatskapitalistische oder eine, jedenfalls über bedeutende staatliche Interventionen vermittelte, Strategie zur industriellen Entwicklung, was jedoch letztlich scheiterte. Interessanterweise konnten ähnliche Phänomene auch bei Ländern beobachtet werden, die von den USA gestützt wurden (z. B. Türkei, Israel, Südkorea, Taiwan), die zeitweilig günstige Bedingungen zur Kapitalakkumulation eingeräumt erhielten, weil sie als wichtige geostrategische Verbündete gegen  „Kommunismus“ und Befreiungsbewegungen fungierten.

Damit wären wir bei einem weiteren zentralen Charakteristikum der Periode des Langen Booms und der uneingeschränkten US-Hegemonie unter den imperialistischen Staaten angekommen: die qualitativ stärkere Einbindung der ArbeiterInnenaristokratie und der ArbeiterInnenbürokratie in die bürgerliche Gesellschaftsordnung. Die Gewerkschaften und die bürgerlichen ArbeiterInnenparteien wuchsen nicht nur zu bislang unüblichen und ungeahnten Größen, sie wurden auch in die Formen staatlicher Herrschaft und die Regulation des Kapitalverhältnisses eingebunden. Die bürgerliche Herrschaft wurde in diese Organisationen verlängert. Die Gewerkschaftsbürokratie, die Führungen und der Apparat der Sozialdemokratie oder der Labourparteien agierten als politische Polizei in der ArbeiterInnenklasse.

Die Expansion des Kapitalismus führte in den 1960er Jahren zu einer massiven Ausdehnung der privilegierten Schichten des Proletariats in den imperialistischen Ländern, wobei auch in den Halbkolonien und in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten solche Phänomen, wenn auch in geringerem Maße und auf einer schwächeren ökonomischen Grundlage, beobachtbar waren. Die Akkumulationsdynamik zog aber auch für einige Zeit die mittleren und selbst unteren Schichten der Klasse in ihren Bann, da die Masse der Gebrauchswerte zunahm, die die  ArbeiterInnenklasse konsumieren konnte. Diese reale Ausdehnung der Konsummöglichkeiten und eine partielle Öffnung von Bildungschancen (aufgrund der Nachfrage nach qualifizierter Arbeitskraft) untermauerten das soziale Aufstiegsversprechen des Langen Booms. Schließlich schuf dieser auch die Basis für eine viel tiefere Durchdringung der ArbeiterInnenklasse mit bürgerlicher Ideologie und „Massen“kultur.

All das darf keineswegs zur falschen Einschätzung führen, dass diese geschichtliche Periode frei von massiven Klassenkämpfen und Krisen gewesen wäre. An dieser Stelle verweisen wir nur auf den Koreakrieg, antikoloniale Befreiungsbewegungen wie z. B. in Algerien, (StellvertreterInnen-)Kriege, Vertreibung der PalästinenserInnen, Aufstände und Revolutionen in der DDR, in Polen und Ungarn, die bolivianische und die kubanische Revolution, um zu verdeutlichen, dass auch diese Abschnitte reich an Kämpfen waren. Aber die expansive Dynamik der Kapitalakkumulation, die Vorherrschaft der USA und die konterrevolutionären Rolle von Stalinismus und Sozialdemokratie bildeten die Grundlage für eine längere Periode relativ stabiler Herrschaft in den imperialistischen Zentren, die auch Erschütterungen in anderen Regionen vergleichsweise unbeschadet überstand.

Das Fehlen einer revolutionären Alternative zum bürgerlichen und kleinbürgerlichen Nationalismus, zu Stalinismus und Sozialdemokratie, also zu den vorherrschenden Kräften in der ArbeiterInnenklasse und unter den Unterdrückten in dieser Periode, verstärkte diese Dynamik.

13.4 1968 – 1989: Periode des Niedergangs der Nachkriegsordnung

Das Ende des Langen Booms kündigte sich bereits mit dem Niedergang der Profitraten, dem Erlahmen der Akkumulationsdynamik an. Auch wenn der Akkumulationszyklus nach dem Zweiten Weltkrieg, streng genommen, bis Anfang der 1970er Jahre, bis zur Krise 1973/74 dauerte, so begann die neue geschichtliche Periode schon 1968. Gleichwohl müssen wir uns kurz mit der ökonomischen Entwicklung beschäftigten, die ihr zugrunde lag.

Die Profitraten in den imperialistischen Staaten entwickelten sich dabei schon vor der Krise ungleichmäßig. Im Folgenden stützen wir uns auf Berechnungen von Stefan Krüger.[cviii] Auch wenn die Zahlen verschiedener marxistischer AutorInnen im Einzelnen abweichen, so geben sie wieder, was für uns an dieser Stelle entscheidend ist: nämlich die gleiche Entwicklungslinie. Die Profitrate von US-Kapitalgesellschaften lag nach dem Krieg (bis 1954) auf ihrem höchsten Niveau (12 %), sank in den 1950er Jahren, um sich in den 1960er Jahren bis in die 1980er Jahre auf einem niedrigen Niveau von 6 bzw. 5 % einzupendeln. Die Profitrate des westdeutschen und japanischen Kapitals lag seit den 1950er Jahren deutlich höher als jene des US-Kapitals. Anfang der 1950er Jahre lag die des BRD-Kapitals bei über 25 % und sank in den folgenden Zyklen stetig, fiel aber langsamer als jene der USA, um sich in den 1970er Jahren bei unter 10 % einzupendeln. Die Kurve der Profitratenentwickelung des japanischen Gesamtkapitals zeigte eine wichtige Besonderheit. Sie erreichte in den 1960er Jahren mit rund 35 % ihren Höhepunkt, fiel in den siebziger Jahren deutlich ab und erreichte 10 – 15 % für die späten 1970er und 1980er Jahre.[cix]

Uns geht es an dieser Stelle nicht um eine Diskussion der Profitraten in einzelnen Ländern, wohl aber um einen internationalen Trend. Die Entwicklung des deutschen und japanischen Kapitals (Profitraten, Wachstumsraten ihrer Nationalökonomien, Weltmarktanteile) reflektieren das wachsende Gewicht der beiden wichtigsten und ökonomisch dynamischsten Rivalen der USA. Sie entwickelten sich für die USA zu Herausforderern ihrer ökonomischen Vorherrschaft, die Ende der 1960er Jahre ihren absoluten Charakter eingebüßt hatte. Auch der Weltmarktzyklus wurde nun nicht mehr bloß von einer Nation bestimmt, vielmehr gingen v. a. die Bewegungen des japanischen und westdeutschen Kapitals in diese ein. Beide konnten, was den Anteil am Welthandel betrifft, zu den USA in den 1970er und 1980er Jahren aufschließen oder diese gar überholen. Dass sich die USA gezwungen sahen, den Goldstandard aufzugeben, brachte die Verschiebung der Weltwirtschaft schlagend zum Ausdruck.

Zweitens verweisen die niedergehenden Profitraten in imperialistischen Weltökonomien wie auch eine Untersuchung für Frankreich, Britannien, Italien und Kanada darauf, dass die Weltwirtschaft insgesamt in eine lang andauernde strukturelle Überakkumulationsperiode des Kapitals geriet. Diese prägt die Weltwirtschaft bis heute entscheidend, auch wenn die verschiedenen Entwicklungsphasen seit den 1970er Jahren immer von bestimmten ökonomischen und geopolitischen Konstellationen geprägt sind, die dieses Problem überwinden oder zumindest  kompensieren sollen.

Insofern markierte 1968 den einschneidenden, eigentlichen Periodenwechsel hinsichtlich der politisch-ökonomischen Gesamtentwicklung. Die Krisentendenzen des globalen Systems äußerten sich in der wachsenden, globalen Protest- und Widerstandsbewegung gegen den US-Imperialismus wie auch im „Prager Frühling“. Den entscheidenden Wendepunkt markierte jedoch der Mai 1968 in Frankreich und damit die Entwicklung einer revolutionären Situation in einem imperialistischen Kernland.

1968 – 1974/75: Revolutionäre Klassenkampfperiode

Anders als die Klassenkämpfe während des Langen Booms trug die Entwicklung nach 1968 einen globalen Charakter, die in allen wichtigen Regionen der Welt zu einem massiven Anwachsen von Klassenkämpfen bis hin zu revolutionären Erschütterungen und Krisen führte: revolutionäre Situationen in Frankreich und Italien 1968 und 1969, die Radikalisierung in den USA, das allgemeine abrupte Anwachsen der radikalen Linken wie der ArbeiterInnenbewegung weltweit, die bolivianische und chilenische Revolution, die Nelkenrevolution in Portugal, der Prager Frühling.

Bei aller Unterschiedlichkeit war den Kämpfen gemeinsam, dass sie die Aktualität der Revolution auf die Tagesordnung setzten – bis hin zur Entwicklung von Doppelmachtorganen, die die Machtfrage praktisch aufwarfen.

1968 bis 1974/75 stellte eine revolutionäre Klassenkampfperiode im Weltmaßstab dar. Die Tiefe der Führungskrise des Proletariats zeigte sich freilich auch darin, dass weit über die einzelnen Länder hinausgehende Niederlagen den Sieg der Konterrevolution markierten – sei es auf extrem blutige, diktatorische Art wie z. B. in Chile 1973 oder durch die konterrevolutionären Befriedung wie in der portugiesischen Revolution 1974/75, deren Niederlage auch den Endpunkt dieser Klassenkampfperiode darstellte.

1975 – 1979: Die sozialdemokratische Befriedungsperiode

Die Niederlage des US-Imperialismus in Vietnam, der Aufstieg europäischer und japanischer Rivalen und die Unfähigkeit der imperialistischen Bourgeoisie, einerseits die ArbeiterInnenklasse in der ersten großen Nachkriegskrise „direkt“ zu schlagen sowie  die Unreife und politische Schwäche der subjektiv revolutionären StudentInnen und ArbeiterInnen andererseits  riefen die Sozialdemokratie als eine zentrale Agentur zur Rettung und Stabilisierung auf den Plan. Sie versuchte dabei auch, auf Reserven zur Befriedung und sozialpolitischen Abfederung der Krise zurückgreifen. Ihre ökonomische Hauptmethode bildete der Keynesianismus und die damit einhergehende enorme Ausweitung der Staatsschulden.

Schon Anfang der 1970er Jahre war die Goldbindung des Dollars längst Fiktion, ebenso das System fester Wechselkurse. Mit dem Zusammenbruch von Bretton Woods verlor die US-Zentralbank die Kontrolle über einen Teil der weltweiten Dollarguthaben. Durch das Entstehen der großen Offshore-Dollarguthaben („Petrodollars“ genannt, da ihre Quelle oft in ölexportierenden Ländern lag) in den 1970ern wurde mit dem Ende des Nachkriegsbooms eine neue Periode der Kreditvergabe in großem Stil an lateinamerikanische und asiatische Staaten eingeleitet. Diesmal waren es vor allem Geschäftsbanken in den imperialistischen Zentren, sofern sie über diese Dollarreserven verfügten, die diese Verschuldungswelle in Gang hielten.

Das Problem der sozialdemokratischen Politik war letztlich, dass sie keine Hauptklasse der Gesellschaft befriedigen konnte. Die Einkommen der ArbeiterInnenklasse erodierten schon aufgrund der Inflation und der geforderten „Zurückhaltung“ angesichts der krisenhaften Entwicklung. Zugleich war die ArbeiterInnenbewegung oft noch zu stark, um eine bürgerliche Krisenpolitik einfach zu schlucken. Konnte und wollte die Sozialdemokratie schon den Lohnabhängigen nicht geben, was diese erwarteten, so konnte ihre Politik der Vermittlung zwischen den Klassen erst recht nicht das Kapital zufriedenstellen.

1979 – 1989: Periode der neoliberalen Offensive

Die Bildung der Regierung Thatcher 1979 und ihr offensives, neoliberales Kampfprogramm markierten den Bruch mit der sozialdemokratischen Politik und bildeten den politischen Einschnitt in dieser geschichtlichen Periode. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die neoliberalen IdeologInnen ihre Strategie nur in Halbkolonien, am blutigsten in Chile, umgesetzt. Der Thatcherismus präsentierte einen strategischen Angriff auf allen Fronten, einen regelrechten Krieg gegen die ArbeiterInnenklasse und ihre Avantgarde, die BergarbeiterInnen. Auf dem Weg dazu brach Thatcher aus gutem Grund den Malwinenkrieg vom Zaun, um damit ihre unangefochtene Führung im bürgerlichen Lager zu festigen, KleinbürgerInnentum und rückständige ArbeiterInnen an den Nationalismus zu binden. Gleichzeitig offenbarte sie auch die sozialpatriotische Ohnmacht der Labour-Führungen, die den reaktionären Krieg unterstützten und damit Thatcher in die Hände spielten. Die Niederlage der BergarbeiterInnen nach einem rund einjährigen Streik stellte eine historische Niederlage für die britische ArbeiterInnenklasse dar, die auch international nachhaltige, demoralisierende Auswirkungen hatte.

Der Reaganismus folgte auf dem Fuß. Er markierte nicht nur eine klare strategische Neuausrichtung des US-Imperialismus hin zu einem aggressiven Kurs gegenüber der UdSSR, sondern auch zur Reetablierung verlorengegangener US-Hegemonie und Dominanz. Ökonomisch gesehen hatten sich die keynesianischen Maßnahmen erschöpft. Ähnlich wie Thatcher in Britannien führte auch Reagan einen regelrechten Klassenkrieg gegen wichtige Sektoren der US-ArbeiterInnenklasse. So hatte z. B. die Niederlage des Fluglotsenstreiks eine weit über diesen Bereich hinausgehende Bedeutung.

Die veränderte US-Zinspolitik trug maßgeblich zur Ausbreitung der massiven Schuldenkrisen Anfang der 1980er Jahre bei, die durchaus auch als Kampfmittel, v. a. des US-Finanzkapitals, genutzt wurde. Das Resultat ist bekannt: Die Interessen der betroffenen Gläubigerstaaten wurden kombiniert durch den IWF vertreten und führten mindestens ein Jahrzehnt zu einem harten „Entschuldungsregime“ in Lateinamerika und Asien. Als Konsequenz des Endes von Bretton Woods und der Verschuldungskrise müssen halbkoloniale Länder nun einerseits große Währungsreserven in Dollar oder anderen harten Währungen (Yen; DM, später Euro) halten, andererseits restriktive Haushaltspolitik betreiben, um nicht zu Opfern massiver Spekulationswellen gegen ihre Währung oder ihren Anleihemarkt zu geraten.

Insgesamt markierten Thatcherismus und Reaganismus eine globale Offensive des US-Imperialismus gegen:

  • die eigene ArbeiterInnenklasse. Ähnliche Angriffe wurden in anderen imperialistischen Ländern gefahren, wenn auch nicht in vielen und nicht mit demselben durchschlagenden Erfolg wie in Britannien. So blieb Kohls „geistig-moralische Wende“ in Ansätzen stecken;
  • die halbkoloniale Welt durch die Politik der strukturellen Anpassungsprogramme und die Benutzung der Schulden und der Finanzpolitik als Instrumente, diese für imperialistisches, anlagesuchendes, überschüssiges Kapital zu öffnen;
  • die degenerierten ArbeiterInnenstaaten durch die Hochrüstungspolitik der 1980er Jahre und zugleich die Schuldenfalle, in die v. a. die osteuropäischen Länder in den 1970er Jahren getappt sind;
  • und schließlich einen erfolgreichen Versuch, die wichtigsten, auf den Plan getretenen imperialistischen Rivalen Japan und BRD dazu zu zwingen, einen Teil der Rettungskosten für die US-Ökonomie zu übernehmen (Volcker-Schock).

Der Reaganismus und der Thatcherismus stießen in den 1980er Jahren auf den Widerstand großer und starker Massenbewegungen, einschließlich des einjährigen Streiks der britischen BergarbeiterInnen, der Bewegung gegen die NATO-Nachrüstung, des Widerstands von Sandinismus und Bürgerkrieg in Nicaragua, der Kämpfe der brasilianischen und südafrikanischen ArbeiterInnenklasse, die zu militanten, klassenkämpferischen gewerkschaftlichen Bewegungen und zur Formierung einer zentristischen Massenpartei im Falle der PT führten.

Generell endete diese Periode der imperialistischen Offensive trotz heroischer Abwehrkämpfe mit einer Reihe wichtiger Niederlagen der ArbeiterInnen und einer Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der imperialistischen Bourgeoisien. Die neoliberalen Reformen, die in den 1990er Jahren verallgemeinert wurden, bedeuteten für die Massen, insbesondere in Lateinamerika, ein „verlorenes Jahrzehnt“.

Vor allem aber erschütterte der Rüstungswettlauf die UdSSR und Osteuropa nachhaltig, da sie die seit den 1970er Jahren immer stärker hervortretende wirtschaftliche Stagnation weiter verschärften. Die stalinistische Bürokratie versuchte, auf die Offensive der USA mit einer Mischung aus „offensiver Friedenspolitik“ (Gorbatschows „Unser Haus Europa“), marktwirtschaftlichen Reformen (Perestroika) und begrenzter politischer Öffnung unter bürokratischer Kontrolle (Glasnost) zu antworten. Diese schlug fehl, ja, verschärfte die innere Krise der stalinistischen Staaten und führte zur zunehmenden Fragmentierung der Bürokratien selbst. Die Todeskrise des Stalinismus und damit der politischen Nachkriegsordnung war eingeläutet.

13.5 1989 – 2008: Globalisierungsperiode unter US-Hegemonie

Die Periode nach 1989 stellt in vieler Hinsicht eine Verallgemeinerung der neoliberalen Agenda dar. Doch sie bildet nicht einfach deren Fortsetzung, weil die Erfolge von Reagan und Thatcher auch die gesamte imperialistische Nachkriegsordnung erschütterten, als sie zur Todeskrise des weltpolitischen und geostrategischen Konkurrenten (der UdSSR und ihres Lagers) führten und, nach der Phase des Umbruchs 1989 – 1991, eine qualitativ andere Weltlage entstehen ließen.

1989 – 1991: Todeskrise des Stalinismus

Die Globalisierungsperiode begann mit einer kurzen, weltgeschichtlich revolutionären Klassenkampfperiode, die sich von 1989 bis spätestens 1991, dem Sturz Gorbatschows und der Etablierung eines bürgerlich restaurativen Staates in Russland erstreckte.

Aufgrund der Führungskrise der ArbeiterInnenklasse, der Passivität und ideologischen Schwäche wie auch akkumulierten Niederlagen des Proletariats im Westen dauerte diese jedoch nur sehr kurz an. Als die großen Siegerinnen dieser Periode gingen die imperialistischen Mächte, allen voran die USA und zu einem bedeutenden, wenn auch geringeren Teil, Deutschland hervor. Sie schaffte die politischen, klassenmäßigen Vorbedingungen für die Reetablierung der US-Hegemonie in einem noch in den 1980er Jahren für unmöglich gehaltenen Ausmaß.

Der deutsche Imperialismus ging als Sieger aus der ersten, kurzen Klassenkampfperiode der Globalisierung hervor a) wegen der Inkorporation eines ganzen Staates (der DDR) in ein Land, dessen Wiedervereinigung die Gestalt einer Ausweitung des Systems der BRD annahm, b) wegen des Abstreifens zentraler Einschränkungen der Handlungsfähigkeit des deutschen Imperialismus nach dem Zweiten Weltkrieg, c) wegen der Verschiebung des ökonomischen Kräfteverhältnisses zugunsten Deutschlands in Europa.

1992 – 1998: Blüte der Globalisierung, demokratisch-konterrevolutionäre Periode

Als unbestrittener Sieger des Kalten Kriegs und der Restauration des Kapitalismus versuchte der US-Imperialismus, sowohl die ökonomischen als auch politischen Früchte des Sieges zu ernten und dauerhaft zu nutzen. Die Niederlagen der ArbeiterInnenklassen in den USA und Britannien in den 1980er Jahren und die Restauration des Kapitalismus haben Anfang der 1990er Jahre die Kapitalistenklasse in die Offensive gebracht.

Gestützt auf eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der herrschenden Klasse aufgrund realer materieller Erfolge sowie einer beginnenden Restrukturierung des Kapitals erleben wir seit Beginn der 1990er Jahre eine neue Entwicklungsphase der imperialistischen Epoche, welche gemeinhin „Globalisierung“ genannt wird.

In den 1970er Jahren hatten die imperialistischen Länder versucht, des Problems der Überakkumulation durch keynesianische Wirtschaftspolitik Herr zu werden. Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre war dieses Mittel erschöpft. Statt einer Lösung kam es zu einer krisenhaften Zuspitzung in Form des weltweiten Schuldenproblems. Daher änderte sich auch die politische Strategie in allen großen kapitalistischen Ländern, wobei die USA unter Reagan und Britannien unter Thatcher eine Vorreiterrolle spielten.

Durch den Zusammenbruch des Stalinismus, den Sieg der USA und ihrer Verbündeten im Kalten Krieg erhielten diese Strategien auf dem Feld der internationalen Beziehungen einen enormen zusätzlichen Schub.

Was waren die entscheidenden Entwicklungen?

Erstens wurden Schranken des internationalen Handels, vor allem des Kapitalverkehrs seit den 1980er Jahren und besonders zu Beginn der 1990er in rasender Geschwindigkeit außer Kraft gesetzt. Auch wenn diese Internationalisierung notwendigerweise selektiv vor sich ging, auf die imperialistischen Länder und einige Halbkolonien konzentriert war, so hatte diese Ausdehnung des Welthandels insgesamt eine stützende Funktion für die kapitalistische Weltwirtschaft.

Wichtiger als diese waren und sind jedoch die Ausdehnung von Direktinvestitionen und der Spekulation.

Diese stellen selbst einen Ausdruck verschärfter Konkurrenz unter den großen Nationalökonomien und stärkerer Dominanz des Banken- und Fondskapitals über das industrielle dar. Schließlich spekulieren die großen Banken und Konzerne nicht, weil sie die Spekulation an sich der Profitmacherei in der Produktion vorzögen. Vielmehr ergibt sich die „Flucht“ in Aktienmärkte, Währungsspekulation, Termingeschäfte usw. selbst aus relativ geringen Profiterwartungen in der Industrie.

Die verschärfte Konkurrenz führt gleichzeitig zu immer größerer Zentralisation. Investiert wird nur zum geringen Teil in die Erweiterung bestehender Anlagen. Viel wichtiger sind die Fusion, die Übernahme, die Ballung des Kapitals in einer Hand oder Rationalisierungsinvestitionen, die rasche Einführung neuester Technik.

So können sich die größten Konzerne die entsprechenden Konkurrenzvorteile, nämlich Präsenz auf allen Märkten sowie Monopolpreise und Extraprofite aus kurzfristigen technologischen Vorsprüngen, sichern.

Es ist in diesem Zusammenhang nur folgerichtig, dass die großen multinationalen Konzerne nicht mehr wie noch Anfang der 1980er Jahre Diversifikation (also die Präsenz auf möglichst vielen Geschäftsfeldern) anstreben, sondern die Konzentration auf bestimmte Sparten, in denen die Weltmarktführerschaft oder zumindest Position zwei oder drei anvisiert oder verteidigt werden sollen.

Insgesamt führte das zu einer enormen Zentralisation des Kapitals (weniger der Konzentration), die selbst wiederum nur durch eine riesige Ausdehnung des Kredites und der Aktienmärkte möglich war, um das für die „Übernahmeschlacht“ notwendige Kapital bereitstellen zu können. Die stärker gewordene Dominanz der größten „multinationalen“ Konzerne lässt sich an allen Indikatoren der Weltwirtschaft ablesen.

Alle großen, die Weltwirtschaft (und in letzter Instanz die Welt) beherrschenden Konzerne beanspruchen den Weltmarkt als ihr Operationsfeld. Anders als noch vor 20 oder 30 Jahren brauchen sie sich aufgrund ihrer Größe nicht auf eine Region zu beschränken. Sie müssen wirklich „global“ agieren – oder sie werden früher oder später nicht mehr existieren, jedenfalls nicht unter den Top 100 oder Top 500 der Welt des Großkapitals.

Hier können wir tatsächlich von einer neuen Entwicklung innerhalb der imperialistischen Epoche sprechen, die aus dem quantitativen Anwachsen der großen Kapitale entstand, die jedoch auch durch die nach wie vor nationalstaatliche Gebundenheit der einzelnen Kapitale gebrochen wird. In den 1990er Jahren und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hat sich diese Tendenz sehr stark entwickelt, weil die USA als einzige Weltmacht die Konkurrenzbedingungen auf dem Weltmarkt und die geopolitische Ordnung bestimmen.

Der Heißhunger nach Profit treibt – gestützt auf nationale und internationale Organisationen – das Kapital außerdem in Sphären, die über Jahrzehnte staatlich oder halbstaatlich organisiert waren. Die kapitalistische Globalisierung wäre jedoch ohne Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und ohne technische und arbeitsorganisatorische Basis nicht möglich gewesen.

Die Mischung aus technischen Innovationen, die Reorganisation von Arbeitsabläufen und des Arbeitsprozesses sowie die Schaffung internationaler Produktionsketten ermöglichten die Reduktion der Kosten für Lagerhaltung und die Verkürzung der Umlaufzeit. Die Restrukturierung der Arbeitsorganisation und die Zentralisation im internationalen Maßstab führten in einigen Branchen auch zur Herausbildung einer internationalen Profitrate (Autoindustrie).

Zusammen mit einer massiven Erhöhung der Ausbeutungsrate (aufgrund der Niederlagen der ArbeiterInnenbewegung) konnte so in einigen Ländern – insbesondere in den USA – in den 1990er Jahren zeitweilig die industrielle Profitrate in die Höhe getrieben werden, wenn auch bei weitem nicht auf das Niveau des Langen Booms.

Es ist müßig, darüber zu spekulieren, wie viel davon auf eine Revolutionierung der Technik und der Arbeitsorganisation, wie viel auf die Kürzung der Löhne, die Intensivierung der Arbeit und die Flexibilisierung zurückzuführen ist. Wichtig ist vielmehr, dass sich das US-amerikanische Modell nicht weltweit ausdehnen ließ und lässt, weil es die grundlegenderen Probleme der Überakkumulation des Kapitals nicht lösen konnte und kann.

In dieser Periode änderten sich auch die Strukturen der Kapitalflüsse wie jene des Finanzkapitals selbst.

Mit der Erholung der US-Konjunktur Anfang der 1990er Jahre setzte eine Welle sehr hoher Portfolio- und Direktinvestitionen, speziell in Asien, aber auch z. B. in Mexiko, ein und eröffnete die „Globalisierung“. Diesmal waren es wieder vor allem Privat- bzw. institutionelle AnlegerInnen aus den internationalen Finanzzentren, die in Aktien, Wertpapiere bzw. Derivate von Basiswerten in den halbkolonialen Ländern investierten. Daher konnte mit den in der IWF-Periode einstudierten Maßnahmen das Platzen der Spekulationsblase 1995 in Mexiko („Tequila-Krise“) und 1997 in Thailand (als Auslöser der „Asienkrise“) nicht verhindert werden.

In der Kapitalzuflussperiode 1990 – 1994 spielten „offizielle“ Schulden (z. B. Staatsanleihen) kaum mehr eine Rolle (nur noch 11 % des Kapitalzuflusses). Auch die Geschäftsbanken spielten eine weitaus geringere Rolle als in der Periode 1978 – 1981. Entscheidend waren einerseits Deregulierungen in den Halbkolonien (z. B. Privatisierungen), die Direktinvestitionen in die Höhe schnellen ließen.

Andererseits war es die wachsende Verbriefung internationaler Kapitalschulden (also die Deregulierung der internationalen Finanzmärkte), die es ermöglichte, Offshore-Anlagen auch ohne staatliche Absicherung gegen Risiken abzuschirmen (z. B. Ausweitung des Derivate- und Devisenmarktes).

Als die Phase der niedrigen Zinsen und des niedrigen Dollarkurses Mitte der 1990er Jahre zu Ende ging, ebbten sowohl der Kapitalzufluss ab, wie auch das exportorientierte Wachstum z. B. in Asien durch die Anbindung der Währungen an den Dollar in Schwierigkeiten geriet. Da half keine restriktive Haushalts- bzw. Hochzinspolitik mehr. Offshore-Banken, Investmentbanken, Hedgefonds, Derivate- und DevisenhändlerInnen erzeugten eine massive Spekulationsblase, die letztlich die betroffenen Währungen in die Knie zwang und tief verschuldete Privatunternehmen in den Halbkolonien hinterließ. Der Kapitalfluss bewegte sich fortan massiv in Richtung USA, während in den von der Finanzkrise betroffenen Ländern eine neue Welle von Firmenübernahmen bzw. Kapitalvernichtung durch das imperialistische Finanzkapital vor sich ging.

Die US-Konjunktur der 1990er Jahre beruhte schon stark auf einer Ausdehnung fiktiven Kapitals und war auch durch Kapitalabfluss aus anderen imperialistischen Staaten und Stagnation in Japan und Fast-Stagnation in Deutschland erkauft.

Die Ausdehnung des Weltmarktes, die viel stärkere Durchdringung der Halbkolonien und der ehemaligen degenerierten ArbeiterInnenstaaten wirkten dem Fall der Profitrate entgegen und halfen bei der Aneignung von Extraprofiten für das imperialistische Finanzkapital.

Zugleich ging die Periode der „Hochblüte“ mit massiver Kapitalvernichtung in Osteuropa und der ehemaligen UdSSR einher. Die osteuropäischen Länder wurden als Halbkolonien in den Einflussbereich des deutschen Kapitals und, in Konkurrenz dazu, anderer europäischer Länder und der USA einbezogen. Russland machte eine permanente Krisenperiode durch, die mit einer historisch fast einzigartigen Deindustrialisierung des vormals zweitgrößten Industrielandes der Erde einherging, die, würde sie nicht gebremst werden, auch die Zukunft Russlands als imperialistischen Staat in Frage stellen würde.

Modernes Finanzkapital

Die eigentliche Triebkraft der kapitalistischen Globalisierung stellt das imperialistische Finanzkapital dar. Das Monopolkapital – jedenfalls sein stärkster und konkurrenzfähigster Teil – tritt als multinationaler oder transnationaler Konzern auf und ist der eigentliche Herrscher des globalen Kapitalismus.

Multinational oder transnational hat hier nichts mit einer Entbindung der nationalstaatlichen „Verankerung“ bestimmter Kapitale zu tun. Es bedeutet nur, dass wir es mit einem wichtigen Wandel des wirtschaftlichen Operationsgebietes des Großkapitals zu tun haben.

Das Finanzkapital macht jedoch gleichzeitig einen wichtigen Formwandel durch. Wir erleben eine Neuorganisation des Verhältnisses von Geldkapital und produktivem Kapital. Es ist dabei keineswegs so, dass die „SpekulantInnen“ und „Finanzhäuser“ dem produktiven Kapital entgegengestellt wären. Wir haben es vielmehr mit einer anderen Form der Verschmelzung von Industrie- und Geldkapital zu tun.

In der Geschichte des Imperialismus bildeten sich immer wieder unterschiedliche Formen mehr oder weniger enger, direkter Verschmelzungen (z. B. unmittelbarer Besitz der Unternehmen durch Banken und vice versa, wie lange Zeit in Deutschland vorherrschend) oder – wie in den USA – als eine über Aktienmärkte regulierte, „losere“ Verbindung von zinstragendem zu industriellem Kapital. Der Unterschied besteht darin, dass das Kapital in der zweiteren Form stärker versucht, sich von bestimmten stofflichen Schranken der Expansion zu befreien, nämlich den konkreten Produktionsmitteln, in denen das industrielle Kapital vergegenständlicht ist.

Eine gänzliche Befreiung des Kapitals aus dem inneren Widerspruch zwischen einer bestimmten stofflichen (und damit die Expansion des Kapitals begrenzenden) Form und dem schrankenlosen Trieb zur ständigen Selbstverwertung ist selbstverständlich unmöglich. In den 1990er Jahren, ja, bis hin zur Krise 2007/2008 und darüber hinaus erlebten wir in allen westlichen imperialistischen Ländern eine Verschiebung zu dieser Form.

Dies liegt an mehreren Faktoren. Erstens stellt es eine Weise dar, wie die dominierenden Fraktionen des gesellschaftlichen Gesamtkapitals der Überakkumulation entgegenwirken wollen, die sie umgekehrt zu dieser Formveränderung unter den Bedingungen der Globalisierung treibt. Zweitens bringt diese Entwicklung eine innere Tendenz des Kapitals selbst zum Ausdruck, sich von seiner stofflichen Basis freizumachen. Drittens hängt sie jedoch auch mit bestimmten historischen Bedingungen, der Erneuerung und versuchten Festigung der US-Hegemonie zusammen, weshalb die USA auch versuchten, die Operationen dieser Form von Finanzkapital durch ihr gemäße Regularien der Weltwirtschaft (WTO, Freihandelsabkommen … ) zu stärken.

Der Aufstieg Chinas und die Festigung Russlands im 21. Jahrhunderts verdeutlichen jedoch, dass diese Form keineswegs die einzige ist, wie Finanzkapital auf dem Weltmarkt auftritt. Eine Verstärkung der imperialistischen Konkurrenz, somit auch die Tendenz zur Bildung von Blöcken bis hin zur Fragmentierung des Weltmarktes, bedeutet wahrscheinlich auch, dass die Formen des Finanzkapitals, die eine direktere Bindung an den Staat kennzeichnen, verstärkt, teilweise auch parallel und in Konkurrenz zu anderen auftreten können.

Weltimperialismus

Die globale Struktur des Finanzkapitals erfordert in dieser geschichtlichen Periode eine, natürlich immer auch selektive, Open Door Policy bei gleichzeitigem Schutz des „Heimatblocks“. Sie erfordert internationale Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds (IWF) oder die Weltbank bzw. ihre regionalen Entsprechungen (z. B. Europäische Entwicklungsbank).

Sie erfordert von den imperialistischen Mächten, global interventionsfähig zu sein, und zwar nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch und militärisch, um eigene Interessensphären gegen die Massen der Halbkolonien oder missliebige Regime, aber auch gegen imperialistische Konkurrenten absichern zu können. Politisch wird der Weltimperialismus durch folgende Faktoren geprägt:

• Politische, militärische und ökonomische Vorherrschaft des US-Imperialismus;

• Institutionen wie IWF, Weltbank, WTO, G 7/8 agieren als ideelle GesamtimperialistInnen unter US-Hegemonie;

• Massive Verelendung der Halbkolonien, stärkere direkte imperialistische Kontrolle;

• Suche nach neuen, der „Globalisierung“ adäquaten Formen politischer, diplomatischer und militärischer imperialistischer Herrschaft, was zu einer Wiederkehr der Kanonenbootpolitik (in einigen Aspekten ähnlich jener am Beginn der imperialistischen Epoche) führt.

Die Widersprüche zwischen den imperialistischen Ländern sind keineswegs verschwunden, sondern verschärfen sich unter der Oberfläche, teils auch offen. Alle potentiellen Rivalen der USA achten darauf, den Gegner nicht zu einem ungünstigen Zeitpunkt herauszufordern. Vielmehr müssen unter dem Deckmantel der Kooperation eigene Positionen gegen die USA gehalten oder neue erobert werden. Das geht umso leichter, als es immer auch ein reales Element gemeinsamer Interessen der imperialistischen Mächte gegenüber den Massen und den Halbkolonien gibt.

Die Herausbildung transnationaler Monopole führt keineswegs zu einem „Ultraimperialismus“ oder zu einer kollektiven imperialen Friedensordnung. Sie verringert auch nicht die Rolle des bürgerlichen Staates als Sicherer und Garant der nationalstaatlich verwurzelten Großkapitale. Aber sie treibt zunehmend den Widerspruch zwischen internationaler Produktion und internationalisiertem Austausch einerseits und nationalstaatlicher oder blockmäßiger Verwurzelung des Kapitals andererseits auf die Spitze. Die Blockbildung (oft missverständlich als „Regionalisierung“ bezeichnet) stellt selbst eine Form der Internationalisierung des Kapitals dar.

Die Neuzusammensetzung des Kapitals verändert auch die ArbeiterInnenklasse. Damit Kapital rascher die Wandlung von einer Form in die andere vollziehen kann, Stockungen im Produktionsprozess vermieden werden, muss sich auch das variable Kapital uneingeschränkt bewegen können und zugleich in seiner Bewegung kontrolliert werden. Alle kollektiven Sicherungsrechte der ArbeiterInnenklasse, die die möglichst unbeschränkte Flexibilität der Arbeitskraft einschränken, stehen daher notwendigerweise auf der Abschussliste. Der Vorsprung der USA, die Vorherrschaft des am meisten entwickelten Kapitals, d. h. einer Form des Kapitals, die mehr seinem Begriff entspricht als in anderen Ländern, wäre ohne die Niederlagen der US-ArbeiterInnenklasse in den 1980er Jahren undenkbar.

Die Schaffung einer „neuen Weltordnung“ bildete über fast drei Jahrzehnte, also bis zu Trump, Leitideologie und Doktrin des US-Imperialismus. Schon in den frühen 1990er Jahren formulierten US-IdeologInnen, aber auch deren geostrategische Doktrin offen das Ziel, die durch den Zusammenbruch des Stalinismus gewonnene Rolle als einzige Weltmacht möglichst zu verewigen, mit dem Ziel keine potentiellen Rivalen – Deutschland, Frankreich, China, Russland – emporkommen zu lassen.

Zbigniew Brzezinski, Sicherheitsberater mehrerer US-Präsidenten, stellte die Konzeption in seinem 1997 erschienenen Buch „Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ wie folgt dar: „Eurasien ist das Schachbrett, auf dem der Kampf um globale Vorherrschaft auch in Zukunft ausgetragen wird.“[cx]

Schon 1992 formulierte das Pentagon in einem strategischen Papier (Defense Planning Guidance) den sog. „No Rivals-Plan“, in dem es u. a. heißt: „Wir müssen versuchen zu verhüten, dass irgendeine feindliche Macht eine Region dominiert, deren Ressourcen – unter gefestigter Kontrolle – ausreichen würden, eine Weltmachtposition zu schaffen. Solche Regionen sind Westeuropa, Ostasien, das Gebiet der früheren Sowjetunion und Südwestasien.“ [cxi]

Die US-Strategie unterschied zwischen den vermeintlichen und wirklichen Herausforderern. Die europäischen Mächte und die EU sollten durch Bündnispolitik, Allianzen und PartnerInnenschaft eingehegt werden. China und Russland gelten als mögliche Konkurrenten und als besonders gefährlich, weil sie auch eine Systemalternative zur westlichen „Wertegemeinschaft“ verkörpern könnten. Aus diesem Grund tauchte auch schon zu diesem Zeitpunkt der islamische Fundamentalismus als Bedrohung auf, obwohl dieser weder eine militärische noch eine staatliche Macht darstellte – sich aber umso besser als ideologischer Gegner zur inneren, rassistischen Mobilisierung als auch zum Angriff auf diverse „Schurkenstaaten“ und zur Rechtfertigung asymmetrischer Kriege eignet. Dass der antimuslimische Rassismus zur vorherrschenden Form des Rassismus in den meisten westlichen Staaten geriet, stellt keinesfalls eine Reaktion auf islamistische Anschläge im 21. Jahrhundert dar, sondern wurde in den 1990er Jahren bewusst forciert und popularisiert (z. B. in Huntingtons 1996 erschienenem  Bestseller „Krieg der Kulturen“).

Wandel der ArbeiterInnenklasse

Die letzten Jahrzehnte sahen einen starken Wandel der ArbeiterInnenklasse als Resultat der Restrukturierung des Kapitals und der Angriffe der herrschenden Klasse. Worin bestehen deren wichtigsten Elemente?

  • Anwachsen der Klasse in einigen imperialistischen Ländern und wichtigen, fortgeschrittenen Halbkolonien;
  • Schrumpfen der produktiven Arbeit, Ausdehnung der unproduktiven Arbeit;
  • Proletarisierung lohnabhängiger Mittelschichten aus ehemaligen höheren“ Berufen (z. B. IngenieurInnen) oder dem Staatsdienst (z. B. LehrerInnen);
  • Schaffung einer gigantischen Masse nicht- oder unterbeschäftigter ProletarierInnen, prekär Beschäftigter und von „working poor“, teilweises Absinken dieser Schichten ins Lumpenproletariat, Millionen und Abermillionen, die in ständiger Armut leben;
  • Verringerung und Schwächung des Proletariats in dramatischem Ausmaß in Osteuropa, Russland und vielen Halbkolonien; Ausdehnung der langfristig überausgebeuteten Schichten der ArbeiterInnenklasse, die unter ihren Reproduktionskosten bezahlt werden (Kontraktarbeit, …);
  • Verringerung, teilweise auch Auflösung der tradierten ArbeiterInnenaristokratie im industriellen Sektor bei gleichzeitiger Schaffung einer neuen ArbeiterInnenaristokratie (oft aus ehemaligen lohnabhängigen Mittelschichten);
  • Schaffung eines zunehmend international kooperierenden Proletariats in den großen Konzernen (im Sinne der realen Kooperation in international integrierten Produktionsprozessen), Teile davon gehören gleichzeitig Kernschichten der ArbeiterInnenaristokratie in verschiedenen Ländern an.

In den relativ entwickelten Halbkolonien in Ostasien und Lateinamerika sowie im kapitalistischen China wachsen die ArbeiterInnenklassen in dieser Periode. Letztere nimmt zunehmend eine strategische Bedeutung für das Weltproletariat ein. In Kontinentaleuropa und zumal in (West-)Deutschland haben wir es damit zu tun, dass die ArbeiterInnenklasse zwar in ihrer Kampfkraft geschwächt, jedoch noch nicht strategisch geschlagen ist.

Diese Veränderungen haben auch die historisch gewachsenen Organisationen des Proletariats, insbesondere die Gewerkschaften, die stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien massiv beeinflusst – und die Veränderungen sind seither in Riesenschritten weitergetrieben worden. Die Gewerkschaften sind in den Zentren zunehmend Organisationen der traditionellen ArbeiterInnenaristokratie. Ihr Überleben hängt davon ab, ob und wie sie neuen proletarisierten Schichten, insbesondere aber den nichtarbeiteraristokratischen Teilen der Klasse, eine Perspektive bieten können.

Die sozialdemokratischen Parteien haben in den letzten Jahrzehnten einen Wandel hin zu neu entstehenden arbeiteraristokratischen Schichten und lohnabhängigen Mittelschichten gemacht. Ein Teil der Gewerkschaftsbürokratie ist diesen Schritt mitgegangen, ein anderer hat sich auf die „Kernschichten“ konzentriert. Für die nichtorganisierten Teile des Proletariats (und dabei geht es keineswegs nur um abfällig als „Randschichten“ bezeichnete Sektoren) haben alle Flügel der ArbeiterInnenbürokratie immer weniger zu bieten. Die stalinistischen Parteien haben in Europa weitgehend an Bedeutung verloren, nicht jedoch in wichtigen Halbkolonien. Sie unterscheiden sich jedoch oft nur im Namen von der Sozialdemokratie.

Die Hinwendung des Reformismus zur neuen ArbeiterInnenaristokratie und zu den neuen Mittelschichten hat sich politisch-programmatisch in der Neuen Mitte (oder im „Dritten Weg“) manifestiert. Sie drückt auch einen stärkeren Einfluss der Mittelschichten (und über diese der Bourgeoisie) auf die bürgerlichen ArbeiterInnenparteien, aber auch auf die Gewerkschaften aus.

1998 – 2007: Zuspitzung der inneren Widersprüche der Globalisierung

Die Asienkrise und die Börsenkrise Ende der 1990er Jahre verdeutlichten schlagartig die Krisenhaftigkeit der Globalisierung. Sie brachten zum Ausdruck, dass die grundlegenden Probleme der Weltwirtschaft nicht gelöst wurden, sondern die fiktive Blüte der 1990er Jahre erkauft wurde um den Preis einer weiteren Vertiefung und Zuspitzung der Widersprüche.

Spiegelbildlich zur Asienkrise und zur Entwicklung der Schuldenblase in den USA begann das chinesische „Exportwunder“. Dessen Voraussetzung bildete die nur beschränkte, kontrollierte Öffnung für Direktinvestitionen, bei einem weiterhin stark regulierten chinesischen Finanzmarkt. Damit konnten lange Zeit sowohl eine Aufwertung der chinesischen Währung verhindert als auch Exportüberschüsse in großen Dollarreserven in China gehalten werden. Zugleich floss Kapital nach der Asienkrise von den Börsen hin zum US-Immobilienmarkt, wo es über die folgenden Jahre einen neuen, spekulativen Zyklus entwickelte.

Diese Faktoren führten dazu, dass die Krise um die Jahrhundertwende relativ flach blieb und aufgeschoben wurde.

Aber zugleich eröffnete sie schon wichtige, vorbereitende Elemente des Niedergangs und der folgenden Krise der Globalisierung:

a) Die Dynamik der Weltwirtschaft konnte im Wesentlichen nur durch die Ausweitung fiktiven Kapitals angeschoben und aufrechterhalten werden, der eine Stagnation des industriellen Sektors gegenüberstand, insbesondere in den imperialistischen Kernländern.

b) Die Ausweitung der Finanzmärkte, der Spekulation und der Verschuldung in den USA waren wesentliche Mittel, die Expansion des Welthandels sicherzustellen sowie des US-Konsums als „Lokomotive“ vor der Weltwirtschaft.

c) Auch wenn die ökonomischen Auswirkungen der Krise relativ abgemildert werden konnten, so wurden ihre Ursachen nicht beseitigt, sondern verstärkten vielmehr die Krisentendenzen, die jetzt zum Ausbruch kommen.

d) Untrüglich zeichnete sich eine kommende Schwächung der US-Hegemonie auf ökonomischer Ebene – Einführung des Euro, Voranschreiten der EU-Integration (trotz alle Schwächen ist sie nun der größte Wirtschaftsraum der Erde), Aufstieg Chinas und Restabilisierung Russlands – ab.

e) Der sog „permanente Krieg“ Bushs – eine Neuformulierung der US-Doktrin – stand im engen Verhältnis zur ökonomischen Basis des US-„Booms“ – sprich Kriegskeynesianismus, Eroberung, Sicherung von Rohstoffen und Reichtümern anderer Länder als Faustpfande gegenüber imperialistischen und anderen potentiellen Rivalen.

f) Die imperialistische Politik des US-Imperialismus sicherte in dieser Periode nicht nur die US-Hegemonie, sondern auch, dass das Wachstum der US-Binnenwirtschaft auf Kosten anderer Staaten und Rivalen weiter aufrechterhalten werden konnte. Allerdings geschieht das schon (anders als in den 1990er Jahren unter Clinton) auf Kosten der US-Industrie, also bei gleichzeitiger Unterminierung ihrer Wettbewerbsfähigkeit.

g) Entscheidend für die veränderte politische Lage und den Beginn einer neuen Klassenkampfperiode sind jedoch nicht nur die ökonomische Stagnationstendenz und die zunehmende Aggressivität des US-Imperialismus, sondern auch die nachhaltige Erschütterung der neoliberalen Hegemonie. Auch wenn der Neoliberalismus vorherrschende Ideologie der herrschenden Klassen in den imperialistischen Staaten und in den meisten Halbkolonien bleibt, auch wenn er in Form des „Neuen Realismus“ und „Dritten Weges“ in den großen, bürokratisierten Gewerkschaften der imperialistischen Welt sowie in den sozialdemokratischen Parteien faktisch anerkannt wird, so entstand nach der Asienkrise auch eine globale Gegenbewegung.

h) Diese Gegenbewegung, ihre Entstehung und Geschichte stellte keinen Nebenaspekt, sondern einen prägenden Faktor der Periode von 1998 – 2007/8 als Periode der Zuspitzung der inneren Widersprüche der Globalisierung dar.

i) Diese äußerte sich:

– in revolutionären Bewegungen und Situationen (Indonesien … )

– der riesigen Antikriegsbewegung

– im Widerstand gegen EU/Euro, in vorrevolutionärer Situation in Frankreich

– dem entschlossenen und heroischen Widerstand in Afghanistan, Irak, Libanon und seinen Erfolgen gegen den Imperialismus (wenigsten in dem Sinne, dass die Ziele des Imperialismus nicht erreicht werden konnten)

– der Entstehung linkspopulistischer und/oder linksbonapartistischer Regime und Bewegungen – insbesondere Chávez und Morales – inkl. ihrer kontinentalen und internationalen Ausstrahlung

– der Entstehung einer globalen internationalen Bewegung, der Antiglobalisierungs- oder auch antikapitalistischen Bewegung. Implizit warf diese die Frage einer neuen Internationalen auf und mit den Sozialforen schuf sie bei all ihren Schwächen eine Form des globalen Austausches von AktivistInnen der radikalen Linken, der ArbeiterInnenbewegung, der Bauern-/Bäuerinnenschaft, rassistisch und national Unterdrückter, die die Internationalisierung des Kapitals und des Klassenkampfes reflektierten. Diese spontane Entwicklung konnte ihr fortschrittliches Potential jedoch aufgrund der politischen Hegemonie von linkem Reformismus, Populismus und kleinbürgerlichem Radikalismus in der Bewegung nicht realisieren.

13.6 Seit 2007/2008: Historische Krisenperiode und Krise der Globalisierung

Mit dem Platzen der Immobilienblase, Finanzkrise, weltweiten Wirtschaftskrise begann eine neue historische Periode.

Diese kennzeichnet erstens eine tiefe, historische Weltwirtschaftskrise. Im Unterschied zu früheren Umschlägen der globalen Lage markierte sie jedoch nicht ein politisches Ereignis, sondern einen globalen ökonomischen Einbruch, einen Periodenwechsel. Dies reflektiert die viel größere Bedeutung des Weltmarktes, die zu einer viel rascheren Verbreitung eines großen wirtschaftlichen Zusammenbruchs im Gesamtsystem führt. Dies gilt übrigens noch viel stärker für die aktuelle globale Krise, deren Kombination mit der Corona-Pandemie zu einer Unterbrechung der Kapitalzirkulation in weiten Teilen der Weltwirtschaft führt und somit die tiefste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg hervorgebracht hat.

Doch zurück zu 2007 und folgenden Jahren. Schon die damalige Rezession erforderte eigentlich eine Vernichtung überschüssigen Kapitals von geschichtlichem Ausmaß und zugleich eine riesige Steigerung der Ausbeutung des Proletariats und der Unterdrückten, um den ihr zugrundeliegenden geringen Profitraten und der strukturellen Überakkumulation entgegenzuwirken. Dem standen aber enorme innere Hindernisse des Kapitals selbst und auch des Klassenverhältnisses entgegen.

Die imperialistische Bourgeoisie verfolgte eine Politik der Rettung des Finanzkapitals – und insbesondere seines zinstragenden Teils. Diese schob zugleich die eigentlich notwendige Vernichtung von Kapital auf oder wälzte sie auf schwächere Teile ab (industrielles Kapital, kleinere und mittlere Unternehmen, Halbkolonien usw.). Anders als z. B. in der Großen Depression der 1930er Jahre fand jedoch kein „Ausbluten“ des Finanzsektors, also keine strukturelle Vernichtung von fiktivem Kapital statt. Im Gegenteil, gerade diese Teile wurden gerettet und diese Politik fand schon Mitte des Jahrzehnts vor dem Hintergrund sich formierender imperialistischer Konkurrenz der Blöcke (EU) und der aufstrebenden Weltmacht China und einzelner Regionalmächte statt (Indien, Brasilien … ).

Die gegenwärtige Krise unterscheidet sich von der Weltwirtschaftskrise 1929 und folgenden in einem wichtigen Punkt: Der Weltmarktzusammenhang war nicht zusammengebrochen, der Dollar weiter die wichtigste Währung der Welt.

Die USA agierten weiter als Hegemonialmacht. Der US-Imperialismus organisierte im Bund mit der EU, auch mit China, die Welt so weit, dass ökonomische Gegenmaßnahmen ergriffen wurden, um die Weltwirtschaft wieder zum Laufen zu bringen (Politik des billigen Geldes). Anders als zu Beginn der Globalisierungsperiode streifen die USA dafür aber keine ökonomische Dividende mehr ein.

Die hegemoniale Rolle ließ sich nur aufrechterhalten durch die weitere, zwangsläufige Unterminierung ihrer wirtschaftlichen, industriellen Basis. Die anderen ImperialistInnen und potentiellen KonkurrentInnen „stützten“ die USA, doch wollten sie sich diese Stützung durch größere Anteile am Weltmarkt, mehr „Mitsprache“rechte und größeren Einfluss auf die Weltordnung „bezahlen“ lassen, sprich durch weitere Aushöhlung der US-Hegemonie.

Aber die USA können die Einheit unter den großen Mächten, den G 20, vor allem noch dadurch herstellen, dass ihr Zusammenbruch die ganze Welt in den Untergang mitreißen würde. Ein positives Programm für eine neue Periode der „Expansion“ haben sie nicht.

Allerdings fürchten auch die RivalInnen den Zusammenbruch der Weltwirtschaft, des Terrains, auf dem sie die USA zugleich zu besiegen oder jedenfalls weiter zurückzudrängen versuchen.

Daher kommt die Konferenzkonjunktur, der Neuordnungs- und Regulierungshype in den herrschenden Klassen, permanentes Krisenmanagement, das immer mehr auf die Grenzen verstärkter gegensätzlicher Interessen trifft.

Die „Ratlosigkeit“, das Fehlen eines gemeinsamen „Plans“ oder Programms, einer klaren Wirtschaftsdoktrin der herrschenden Klasse ist jedoch nicht nur ein Resultat verschärfter innerer Gegensätze des Kampfes, wer innerhalb der Kapitalistenklassen und unter den imperialistischen Bourgeoisien die Krisenkosten tragen soll.

Es ist auch ein Zeichen für die Überlebtheit der bürgerlichen Herrschaft selbst – so wie jede Krise auch die Zusammenbruchstendenzen des Systems selbst in Erinnerung ruft. Die herrschende Klasse kann ihr System nur retten, wenn sie bestehende Formen der Vergesellschaftung und Produktivkräfte zurückdrängt, weitere Kriege vorbereitet und zugleich die Welt einem ökologischen Desaster entgegenführt.

Gerade die Globalisierung hat als ein Moment, um dem Fall der Profitraten und dem Problem der Überakkumulation entgegenzuwirken, den Weltmarkt massiv ausgedehnt und auch die Produktionsabläufe in enormem Ausmaß international  vorangetrieben. Doch die nationalstaatliche Form erweist sich als unüberwindbare Schranke, eine Barriere, auf die die herrschende Klasse zur Rettung ihrer nationalen Interessen und imperialen Ambitionen zugleich mehr und mehr zurückgreifen muss.

Schon die Krise ab 2007 verdeutlichte schlagartig, dass ihre Überwindung eigentlich eine globale, bewusste Planung erfordert, um die weitere Entwicklung, die Entwicklung der Produktivkräfte zu gewährleisten und den Fortbestand und die Schaffung wahrlich menschlicher Lebensverhältnisse überhaupt zu sichern. Dazu ist die herrschende Klasse nicht in der Lage.

Diese widersprüchliche Situation, historisch tiefe Krise des Produktionsverhältnisses und  zugleich Bestehen einer untergehenden Hegemonialordnung und innerimperialistischen Kooperation, die die Herrschenden noch hoffen lässt, dass sie „das Schlimmste“ verhindern können, eröffnete eine längere Periode des „permanenten Krisenmanagements“, der Kooperation auf ökonomischer, politischer und diplomatischer Ebene, um „den Zusammenbruch“ (oder verschiedene, jäh auftauchende Zusammenbruchsszenarien) zu verhindern. Zugleich aber werden sich die inneren Konflikte zwischen den imperialistischen Mächten (und jenen, die solche werden möchten) weiter zuspitzen.

Bei aller Unterschiedlichkeit und „Schwankungen“ der herrschenden Klassen, wenn es um eine „pragmatische“ Lösungsstrategie für das Kapital geht, so bedeutet die Krise für die ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten eine Periode des Frontalangriffs, bis in die ArbeiterInnenaristokratie und Mittelschichten hinein, von dramatischem, weltweit verallgemeinertem Ausmaß.

In jedem Fall führte die historische Krise, die 2007 begonnen hatte, rasch zu großen Kämpfen: Hungerrevolutionen und Massenproteste in einem Viertel aller Länder der Erde, vorrevolutionäre Situationen, Aufstände usw. Sie eröffnete eine Periode, in der die Frage, wer herrscht, wer bestimmt den weiteren Gang der geschichtlichen Entwicklung, also die Machtfrage, direkt gestellt wurde, auch wenn sich die Gesellschaftsklassen erst allmählich des Charakters der Entwicklung bewusst wurden. Das traf auch auf die herrschenden Klassen zu, die von der Krise „überrascht“ wurden, aber auch die SozialimperialistInnen in der ArbeiterInnenbürokratie, die noch bis Ende 2008 die Existenz der Krise zu leugnen versuchten und behaupteten, dass doch alles beim Alten geblieben sei (eine jener tröstlichen „Wahrheiten“, mit denen die Bürokratie sich selbst über jeden historischen Wendepunkt zu „retten“ versucht).

Zweifellos hatte die spezifische Form des Wendepunktes – eine ökonomische Krise – damit zu tun. Ein Weltkrieg oder eine Revolution in einem bestimmten Land stellen per se die Machtfrage. Eine Wirtschaftskrise trägt einen zeitlich ausgedehnteren Charakter. Außerdem erscheint sie als „Sachzwang“, als „Verhängnis“, als fast natürliche Katastrophe, die alle „gleichermaßen“ trifft. D. h., selbst wo sie am tiefsten wirkt, erscheint ihre Ursache nicht direkt, offen als notwendiges Resultat des Kapitalverhältnisses, sondern ihre Oberflächenerscheinungen prägen des Bewusstsein. Daher bleibt das Bewusstsein in solchen historischen Umbrüchen auch oft zurück, wodurch die Führungskrise und die konterrevolutionäre Rolle der bürgerlichen Apparate in der ArbeiterInnenklasse noch verstärkt werden.

Schließlich wurde die gegenwärtige Periode von Beginn an auch davon geprägt, dass die ökologische Frage zu einer Menschheitsfrage geworden ist, dass die Fortexistenz des Kapitalismus das Überleben der Menschheit selbst in Frage stellt. Diese Bedrohung wird selbstredend in der aktuellen Krise dramatisch verschärft.

Klassenkampfperioden seit 2008

Die ersten Jahre der Krise waren von einer Erschütterung des bürgerlichen Systems gekennzeichnet, die die Legitimität der kapitalistischen Ordnung in Frage stellte. Die bürgerlichen Medien und die herrschenden Klasse trieb die Furcht um, dass die globale Linke, die ArbeiterInnenklasse von der Krise profitieren würden. Schließlich hatten alle Kräfte links von der Sozialdemokratie immer schon auf die Krisenhaftigkeit des Systems verwiesen. Seit Beginn der Antiglobalisierungsbewegung hatte sich eine, wenn auch reformistisch und populistisch geführte, Bewegung gegen den Neoliberalismus gebildet, deren linker Flügel offen, wenn auch theoretisch und programmatisch sehr heterogen, direkt antikapitalistisch auftrat.

Die Kämpfe gegen die große Krise konnten nicht nur daran, sondern auch an wichtige Mobilisierungen und Massenkämpfe anknüpfen, an Bewegungen wie Blockupy und die Platzbesetzungen im Süden Europas, die, gewissermaßen als Vorbotinnen der historischen Krise, eine tief sitzende Unzufriedenheit, aber auch Handlungsbereitschaft großer Bevölkerungsschichten zum Ausdruck brachten.

Dabei stellten sie selbst nur das Vorspiel zu den revolutionären Erhebungen des Arabischen Frühlings oder der vorrevolutionären Krise in Griechenland dar, die scheinbar fest etablierte Regime stürzten und Millionen im Kampf um eine andere Gesellschaftsordnung in Bewegung brachten. In anderen Ländern wie Indien oder China erwachten hunderte Millionen von Lohnabhängigen zum gewerkschaftlichen und politischen Leben. In Brasilien, in den USA oder in Frankreich unter Hollande demonstrierten Millionen ihren Willen, sich einem putschistischen Regime (Temer), einem rassistischen Präsidenten oder knallharter Austeritätspolitik in den Weg zu stellen. Die sog. „Flüchtlingskrise“, also der zeitweilige Zusammenbruch der rassistischen Grenzen der EU, hat zu Beginn auch eine Solidarisierung unter großen Teilen der Bevölkerung hervorgebracht.

Aber die meisten dieser Bewegungen endeten in bitteren Niederlagen. Insbesondere der faktische Sieg der Konterrevolution im Arabischen Frühling (Ägypten, Syrien, Libyen) bis spätestens 2016, Kapitulation und Verrat von Syriza gegenüber der Troika aus EU-Kommission, EZB und dem IWF im Jahr 2015 markierten einen Wendepunkt der internationalen Lage. Die antirassistische Solidarität am Beginn der massiven Fluchtbewegungen aus dem Nahen Osten und Afrika verwiesen zwar auf das Potential für eine fortschrittliche Bewegung, aber erlitten auch eine Niederlage mit dem Aufstieg des Rassismus und der Formierung einer europaweiten und internationalen rechtspopulistischen Welle. So verschob sich das Kräfteverhältnis auf der ganzen Welt zugunsten der herrschenden Klassen oder gar Elementen der extremen Reaktion – zu rassistischen, rechtspopulistischen, autoritären und diktatorischen Regimen und Kräften.

Diese Niederlagen verdichteten sich 2016. Innerhalb der aktuellen globalen Krisenperiode, deren grundlegende Ursachen längst nicht gelöst sind, begann eine Phase, die vom Vormarsch der Reaktion, der Konterrevolution auf allen Ebenen und von einer weiteren dramatischen Verschärfung des Kampfes um eine Neuaufteilung der Welt gekennzeichnet ist. Die politische Klassenkampfperiode, die damals begann, wird vom Vormarsch der Konterrevolution, des Rechtspopulismus und des Irrationalismus geprägt. Dies bedeutet keineswegs, wie wir bei den Kämpfen der letzten Jahre sehen können, dass es keine Massenbewegungen, ja selbst Generalstreiks oder Aufstandsbewegungen geben kann. Aber diese werden in der Regel durch vorhergehende Angriffe der Rechten, als Reaktion aus einer Situation der Defensive ausgelöst. Beispiele finden sich zuhauf: die befristeten Generalstreiks in Brasilien oder in Indien gegen Modi, die Aufstände im Sudan oder im Libanon, die Massenbewegungen des internationalen Frauen*streiks, die auch durch die extreme Reaktion eines Trumps entfacht wurde, antirassistische Massenbewegungen wie Black Lives Matter und die Rebellionen in den USA, die globale internationale Umweltbewegung, die mit den Schulstreiks von Fridays for Future einen ersten Höhepunkt erreichte.

Zugleich verdeutlichen diese Kämpfe die Führungskrise auch von einer anderen Seite. Linkspopulistische, linksbürgerliche und kleinbürgerliche Kräfte prägen oft und zunehmend auch die politische Ausrichtung dieser Bewegungen. Das Erstarken dieser Ideologien stellt selbst einen Ausdruck der Defensive dar, eines zunehmenden Einflusses von bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Bewegungen unter den Unterdrückten und selbst in der ArbeiterInnenklasse. Diese Entwicklung wurde durch die Niederlagen in Griechenland oder in den Arabischen Revolutionen und durch die klassenkollaborationistische Politik der Führungen von Gewerkschaftsbürokratie und Reformismus begünstigt, ja, in diesem Ausmaß überhaupt erst ermöglicht. Ebenso wie der Kampf gegen Reformismus und NurgewerkschafterInnentum einen unverzichtbaren Teil des ideologischen und theoretischen Klassenkampfes bildet, muss dieser auch gegen die klein- und linksbürgerlichen Kräfte geführt werden, deren theoretischen Ausdruck z. B. Linkspopulismus, Identitätspolitik, Intersektionalismus, Postmodernismus oder kleinbürgerlicher Ökologismus bilden.

Die innerimperialistischen Gegensätze, der Kampf zwischen „alten“, tradierten Mächten (den USA, Japan, den europäischen Mächten wie Deutschland) und „neuen“ Imperialismen (China und Russland) machten sich zugleich bei jedem globalen Konflikt, in jeder „Krisenregion“ bemerkbar. Der Vormarsch der Reaktion im Nahen Osten, die Dauerkrise in Zentralasien, der neue „Run um Afrika“ usw. können nur im Rahmen dieser Konkurrenz verstanden werden. Dasselbe gilt für die US-Offensive gegen missliebige „linke“, also linkspopulistische oder reformistisch geführte Regierungen in Lateinamerika, ebenso für Chinas Jahrhundertprojekt der neuen „Seidenstraße“.

Die verschärfte Ausbeutung der sog. „Dritten Welt“, Interventionen der führenden Großmächte, aber auch regionaler, in der imperialistischen Ordnung untergeordneter Staaten führen dazu, dass die Weltlage immer explosiver wird. Die Kriegsgefahr steigt. Sog. „Stellvertreterkriege“ oder nukleare Drohungen wie gegen Nordkorea können unter diesen Umständen zu einem Weltenbrand werden.

Gerade weil die strukturellen Probleme der kapitalistischen Weltwirtschaft ungelöst sind, müssen sich sowohl die Angriffe auf die Massen als auch die innerimperialistische Konkurrenz weiter verschärfen.

Die Ursache der Finanzkrise, der tiefen Rezession und des Rückgangs der Produktion in allen tradierten imperialistischen Staaten war und ist die Überakkumulation von Kapital. Eine immer größere Masse an Kapital kann im produktiven Sektor nicht mehr mit ausreichend hohen Gewinnerwartungen angelegt werden. Die „Flucht“ in den Finanzsektor, das Entstehen spekulativer Blasen war und ist die unvermeidliche Folge.

Innerkapitalistisch kann das nur durch zwei miteinander verbundene Wege gelöst werden – einerseits die Vernichtung „überschüssigen“ Kapitals, andererseits durch eine Neuaufteilung der Welt, bei der auch entschieden wird, wessen Kapital zerstört wird, welcher Imperialismus (oder welcher Block) sich letztlich durchsetzt. Daraus ergibt sich auch, warum die Frage der Formierung Europas für den deutschen Imperialismus so entscheidend ist.

Daraus ergibt sich aber auch, warum eine Lösung der grundlegenden Menschheitsprobleme wie z. B. der ökologischen Krise, also der drohenden und rapide fortschreitenden Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, von Hungerkatastrophen, Armut und Verelendung immer größerer Massen unter dem kapitalistischen System zunehmend unmöglich wird. Die Krise und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt verschärfen vielmehr notwendigerweise diese Probleme, gerade und vor allem in den von imperialistischen Staaten beherrschten Ländern. Die gegenwärtige Krisenperiode umfasst alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens wie des Mensch-Natur-Verhältnisses.

Zugleich bestätigt sie auch die Aktualität der Methode des Übergangsprogramms. Losungen wie die nach Aufteilung der Arbeit auf alle, Enteignung der Banken und Konzerne, Notpläne unter ArbeiterInnenkontrolle, Generalstreik, Besetzungen, die Frage der ArbeiterInnenregierung – also alles Losungen, die zur Machtfrage führen und zum Übergang zur proletarischen Diktatur, sind zentral  für jedes Aktionsprogrammen, das einen Weg zur Lösung der entscheidenden Fragen bietet, vor denen nicht nur die ArbeiterInnenklasse, sondern die gesamte Menschheit steht.

Der Sturz des Imperialismus, das Programm der proletarischen Machtergreifung, der sozialistischen Reorganisation der Weltwirtschaft wird auch strategisches Ziel zur Rettung der Menschheit vor sozialem Verfall und zur Rettung ihrer natürlichen Lebensgrundlagen.

14. Imperialismus, Weltwirtschaftskrise und der Übergang zum Sozialismus

Die gegenwärtige Krisenperiode bestätigt Lenins Analyse des Imperialismus als Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, als Epoche, die weltgeschichtlich die Alternative Sozialismus oder Barbarei aufwirft.

Der Imperialismus ist eine Epoche, in der die Bourgeoisie aufgehört hat, eine fortschrittliche Klasse zu sein, in der die weitere Herrschaft der Kapitalistenklasse, in der die kapitalistische Produktionsweise insgesamt reaktionär ist, weil sie zu einem Hemmnis für die Entwicklung der Produktivkräfte und Gesellschaft geworden ist.

Es geht nicht einfach um die Epoche der Herrschaft „des Kapitals“, sondern des Finanzkapitals, der Fusion von industriellem und zinstragendem (financial) Kapital, einer schon gesellschaftlichen Form des Kapitals, die, historisch betrachtet, immer schon beinhaltet, dass das Kapital zu Mitteln seiner eigenen Negation greifen muss, um sich selbst als herrschendes gesellschaftliches Verhältnis zu behaupten.

Die Epoche des Imperialismus ist nicht nur eine Epoche, wo die Produktionsweise reaktionär wurde, wo der Kapitalismus zu Niedergang und Stagnation tendiert, wo zur Sicherung der Herrschaft des Finanzkapitals die gesamte Welt unter wenige große Kapitale und Mächte aufgeteilt ist (resp. immer wieder neu aufgeteilt werden muss). Mit der Bildung des Finanzkapitals, der Entstehung riesiger, weltumspannender Monopole wird gleichzeitig auch die direkte, bewusste Vergesellschaftung der sich jetzt in den Händen einer kleinen Gruppe von Konzernen, Banken und Finanzinstitutionen befindenden Produktionsmittel zu einer unmittelbaren Möglichkeit und Notwendigkeit.

Im Kapitalismus ist das natürlich unmöglich. New Deal, keynesianischer Sozialstaat, Staatskapitalismus in den Halbkolonien, aber auch die weniger augenscheinliche staatliche Protektion des nationalen Finanzkapitals unter Globalisierung/Neoliberalismus sind Zeichen dafür, dass der bürgerliche Staat ein weit wichtigeres Element der Ökonomie des Kapitalismus darstellt, als dies in der vorimperialistischen Epoche der Fall war.

Der reaktionäre Charakter der Epoche zeigt sich wohl am sinnfälligsten darin, dass sich die Herrschaft des Finanzkapitals nur durch äußerst barbarische Mittel (Völkermord, faschistische Herrschaft samt industrieller Massenvernichtung des jüdischen Volkes, zwei Weltkriege, nukleare Auslöschung von Hiroshima und Nagasaki, generell Krieg als großindustrielles Vernichtungsunternehmen) überhaupt halten konnte. Ohne Vernichtung solchen Ausmaßes hätte es die Prosperitätsphasen des Imperialismus, insbesondere den Langen Boom, nicht geben können.

Doch auch der „Normalzustand“ des Imperialismus grenzt an Barbarei. Die systematische „Unterentwicklung“ der Halbkolonien, täglicher Hungertod Tausender, Hunger und Elend für Milliarden Menschen sind Erscheinungen, die sich durch alle Perioden seiner Entwicklung ziehen.

Zeichen für den reaktionären Charakter der Epoche sind diese Perioden jedoch nicht nur wegen der barbarischen Ausmaße von Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen und ihres gigantischen Blutzolls. Reaktionär sind sie v. a., weil sie von einem Großteil der Staaten und Menschen der Erde erzwingen, in einem Zustand der „Unterentwicklung“, der sozialen Paralyse zu verharren.

Zugleich war der Kapitalismus in seiner langen Entstehungsphase wie in seiner Blüte und industriellen Durchsetzung im 19. Jahrhundert keineswegs „nichtbarbarisch“ gewesen. Die Kolonisierung, die Schaffung von Märkten für die Arbeitskraft der SklavInnen und Kulis gingen einher mit der Ausradierung eines Großteils der indianischen Bevölkerung Amerikas und einer Stagnation der Bevölkerungsentwicklung Afrikas im 18./19. Jahrhundert.

Sie gingen aber auch einher mit eine Umwälzung gesellschaftlicher Verhältnisse, der Zerstörung vorkapitalistischer Gesellschaftsformationen und mit der Schaffung globaler moderner Produktions- und Klassenverhältnisse. Doch dieses Werk ist längst vollendet.

Der Imperialismus des 20. und 21. Jahrhunderts zerstört im Wesentlichen keine vorkapitalistischen Verhältnisse mehr, er hat den Weltmarkt schon verallgemeinert. Er verunmöglicht dem Großteil der Menschheit, aus halbkolonialer Abhängigkeit samt Unterentwicklung zu entfliehen, und hat zugleich die vorkapitalistischen Produktionsweisen als relativ stabile Verhältnisse zerstört. Zugleich schafft er immer wieder auch „hybride“ Produktionsweisen, die die Nachteile beider verchmelzen.

Die Wiederherstellung des Kapitalismus in Osteuropa, Russland, China, Vietnam hat der imperialistischen Bourgeoisie politisch wie auch wirtschaftlich Mittel zur Expansion oder jedenfalls zur Abfederung der Krisentendenzen des Systems geliefert. Aber sie hat das in einer ganz anderen Form getan als bei der Zerstörung vorkapitalistischer Eigentumsverhältnisse im 19. Jahrhundert. Der Kapitalismus hat in Russland, Osteuropa China, Vietnam keine rückständige Produktionsverweise zerstört, zurückgesetzt oder inkorporiert. Er hat vielmehr einen gesellschaftlichen Rückschritt mit sich gebracht: bürokratische Planwirtschaften durch halbkoloniale Staaten oder schwache Imperialismen ersetzt und/oder  äußerst autokratische Formen der Herrschaft des Kapitals und Formen, die der ursprünglichen Akkumulation ähneln (mafiose Strukturen, kriminelle Formen der Aneignung … ), errichtet.

Noch dramatischer ist das Bild im Großteil der halbkolonialen Länder. In der sog. „Subsistenzwirtschaft“ der „Dritten Welt“, in den Megastädten und Slums, aber auch in den Ghettos der großen imperialistischen Metropolen sammelt sich ein immer größerer Teil der Weltbevölkerung, der nicht vor und nicht zurück kann, der in der permanenten Krise einer Gesellschaftsformation gefangen ist.

Zugleich ist diese Abhängigkeit eine unvermeidliche Funktion der Herrschaft des Finanzkapitals. Bis auf wenige Ausnahmeperioden ist das Fortschreiten der Unterentwicklung notwendige Kehrseite der fortschreitenden Zusammenballung und Bereicherung des Finanzkapitals. Die Globalisierung hat dies auf bisher ungeahnte Spitzen getrieben.

Dabei musste das Finanzkapital auch auf Mittel zurückgreifen, die die Produktion und den gesellschaftlichen Verkehr über die bestehenden nationalstaatlichen Grenzen und Formen hinaustreiben: die Zunahme internationaler, koordinierter Produktionsketten und Planungszusammenhänge in Konzernen mit 100.000en Beschäftigen samt einem Vielfachen von ArbeiterInnen in Zulieferindustrien. Die logistischen Leistungen auf dem Gebiet des Transportwesens usw. bezeugen alle auch, zu welchem Ausmaß globaler Wirtschaftsplanung die Menschheit, d. h. die gesellschaftliche Arbeit, fähig geworden ist. Selbst die Einführung des Euro bezeugt nicht nur die imperialen Ambitionen Deutschlands und Frankreichs – sie bezeugt auch, wenn auch im Rahmen des Kapitalismus, dass die modernen Produktivkräfte über den Nationalstaat hinausdrängen.

Programm der herrschenden Klasse

Aber worin besteht das Programm der herrschenden Klasse angesichts dieser Problemstellung in der gegenwärtigen Krise?

Um der schärfsten Explosion vorzubeugen, besteht die unmittelbare Reaktion v. a. der US-Bourgeoisie darin, der Krise durch Staatsverschuldung, also Ausdehnung des Kredits und damit der „Vorbereitung“ der nächsten spekulativen Blase, zu begegnen.  Das wird den Prozess einer Kapitalvernichtung nicht aufheben, auch wenn es diesen verzögern oder sogar zu einem kurzfristigen Aufschwung führen kann.

Angesichts der gigantischen Massen  fiktiven Kapitals, das in den letzten Zyklen angehäuft wurde, angesichts der gigantischen Massen von Kapital, das in Industrien vergegenständlicht ist, die von chronischer Überproduktion betroffen sind, angesichts der gigantischen Widersprüche droht  nach wie vor eine „Bereinigung“, die bisherige Ausmaße dramatisch übersteigt – und die keineswegs sicherstellt, dass danach „der Kapitalismus“ wieder seinen Lauf nimmt.

Die gegenwärtige Krise kann und wird zwar nach einer bestimmten Phase einem zeitweiligen konjunkturellen Aufschwung Platz machen. Die Frage ist jedoch: Werden neue Bedingungen geschaffen, die eine ganze, längerfristige Periode der Expansion ermöglichen? Wird ein relativ stabiles Gleichgewichtig zwischen den großen Kapitalen und Mächten hergestellt werden können, auf dessen Basis auch ein politisches, zwischenimperialistisches Gleichgewicht neu aufbauen kann? Die Frage zu stellen, heißt schon die Probleme zu benennen, die dem gegenüberstehen: Ein neuer tieferer Aufschwung des industriellen Zyklus müsste schließlich nicht nur eine Vernichtung bestehender Kapazitäten, sondern auch eine grundlegende technische Erneuerung des Produktionsapparates oder wenigstens der Zirkulationskosten (wie z. B. Ende der 1980er Jahre und dann v. a. in der Globalisierungsperiode durch die Computerisierung) beinhalten.

Hinzu kommt, dass Kapitalvernichtung ein ungleicher Prozess sein wird und im Rahmen des imperialistischen Gesamtsystems sein muss. Manche kapitalistischen und imperialistischen Staaten und Kapitale gewinnen auf Kosten anderer. Das verschärft wie schon in früheren Phasen die Ungleichgewichte der Weltwirtschaft und die Konkurrenz untereinander. Der Aufstieg Chinas zur imperialistischen Macht hat diese weiter angeheizt, er hat die Weltwirtschaft und die internationale Politik nicht stabilisiert, sondern bringt sie längerfristig aus dem Gleichgewicht.

Die Konkurrenz zwischen den alten imperialistischen Staaten und aufstrebenden Mächten wie China führt dazu, dass das Hauen und Stechen verschärft wird, dass Blockbildung und Protektionismus voranschreiten werden.

Die Lösung der herrschenden Klasse in der aktuellen Krise besteht also letztlich darin, schon erreichte Formen des globalen Austausches, der Produktion zu vernichten, das Rad der Geschichte zurückzudrehen – ein Beleg mehr dafür, dass die Bourgeoisie eine reaktionäre Klasse ist. Das ist auch der Grund, warum wir es heute mit einer historischen Krise des gesamten Systems zu tun haben.

Wie wenig die herrschende Klasse Herrin ihrer eigenen Produktionsweise ist, wie sehr ihr die gesellschaftlichen Probleme über den Kopf gewachsen sind, zeigt die drohende ökologische Katastrophe. Der Kapitalismus war, wie schon oben dargestellt, immer mit der Zerstörung der menschlichen Umwelt, neben der lebendigen Arbeit die andere große Quelle des Reichtums, verbunden. Von sich aus vermag der Kapitalismus – wie alle früheren Gesellschaftsformationen – keinen rationalen, bewussten Umgang mit der Natur, kein vernünftiges Mensch-Natur-Verhältnis zu etablieren. Als verallgemeinerte Warenproduktion stellt sich eben immer erst im Nachhinein heraus, welche Arbeit gesellschaftlich nützlich war, welche vergebens etc. Die „Umwelt“ tritt in diesem Verhältnis immer nur als Kostenfaktor auf, der individuelle Unternehmens- und Investitionsentscheidungen gemäß ihrer Profiterwartungen modifizieren mag, dessen gesamtgesellschaftliche Folgen aber immer unbewusst bleiben müssen.

Ein rationales Verhältnis zur Natur kann nur vorausschauend, auf Basis von Wissenschaft und rationaler Planung gemäß den Bedürfnissen der Menschen und den Reproduktionserfordernissen ihrer natürlichen Lebensgrundlagen (selbst auch ein menschliches Bedürfnis), verankert werden. Mit dem Kapitalismus ist das unvereinbar. Er treibt vielmehr das Problem als Produktionsweise, die auf den Weltmarkt bezogen ist, also immer schon global bestimmt ist, auf die Spitze.

Ebenso wie die modernen Produktivkräfte dem Nationalstaat entwachsen sind, so ist die Frage der Schaffung eines vorausschauenden und nachhaltigen Verhältnisses zur Natur (inkl. der Wiederherstellung menschengerechter Bedingungen) im nationalstaatlichen Rahmen nicht machbar. Es erfordert internationale Planung, offene und transparente Bestandsaufnahme, offenen Austausch von Erfahrung, Wissen, Wissenschaft, Technologie usw. – alles Dinge, die mit einer Weltgemeinschaft imperialistischer Staaten und der großen Monopole, die im immer schärfer werdenden politischen und ökonomischen Wettstreit liegen, einfach unmöglich sind.

Imperialismus und Sozialismus

Doch die imperialistische Epoche hat nicht nur die inneren Widersprüche, die Probleme auf die Spitze getrieben. Sie hat auch den Weg zu ihrer Lösung sichtbar gemacht.

Die imperialistische Epoche ist somit nicht nur die Epoche des Niedergangs, der Tendenz zu Stagnation. Sie stellt auch den Sturz des Kapitalismus und den Übergang zum Sozialismus, zur zukünftigen klassenlosen Gesellschaft auf die Tagesordnung.

Die imperialistische Epoche ist daher auch die Epoche der proletarischen Diktatur. Die Oktoberrevolution 1917 hat nicht von ungefähr die Welt des 20. Jahrhunderts geprägt wie kein anderes Ereignis.

Die Oktoberrevolution und der revolutionäre Ansturm nach 1917 sowie die Gründung der Dritten Internationale, die zahllosen Revolutionen, Krisen, ja, auch die Entstehung der degenerierten ArbeiterInnen0staaten haben bewiesen, dass die sozialistische Revolution ein gesellschaftliches Bedürfnis geworden ist in der imperialistischen Epoche. In seiner Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie verweist Marx zu Recht darauf, dass die Menschheit, die Geschichte nur solche Probleme und Fragen aufwerfen, die sie auch zu lösen vermögen. Die Häufung revolutionärer Krisen, Situationen, ja, die Entstehung von Übergangsgesellschaften, die sich auf der Basis bürokratischer Planung über Jahrzehnte behaupten und reproduzieren konnten, zeigen auch, dass die gesellschaftliche Entwicklung objektiv über den Kapitalismus hinausdrängt.

Die Russische Revolution hat außerdem auch bewiesen, dass die ArbeiterInnenklasse, auch wenn sie unter äußerst schwierigen Bedingungen an die Macht kommt, diese behaupten und beginnen kann, die Gesellschaft in ihrem Sinne bewusst umzugestalten. Die ersten Jahre der Russischen Revolution sind, ohne dass wir unkritisch zu Schwächen und Fehlern sein wollen, eine heroische Periode der größten revolutionären Umwälzung der bisherigen Geschichte, die auch für zukünftige Transformationen reich an Erfahrung und Lehren ist.

Die Erfahrung zeigt aber auch die Grenzen des Weges. Die Isolierung der Oktoberrevolution hat zu ihrer bürokratischen Entartung und Degeneration, zum Stalinismus, der Liquidierung der revolutionären Partei und zur Machtergreifung der Bürokratie geführt. Trotz aller Unterschiede waren sie durch die Herrschaft einer bürokratischen Kaste und die politische Unterdrückung der ArbeiterInnenklasse charakterisiert.

Stalinismus bedeutete auf dem Feld der Theorie einen vollständigen Bruch mit dem Marxismus, in der Praxis wandte er  nicht nur barbarischste Mittel des „Aufbaus“ bis hin zum Massenmord und Zwangsarbeit an. Die bürokratische und letztlich national fixierte Planung ging auch bis hin zu absurden Formen der Nichtkooperation zwischen den Staaten des Ostblocks, zur Spaltung in feindliche „sozialistische Lager“ um China und die Sowjetunion herum, zum Bruch von Tito und Stalin, zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit der ArbeiterInnenklasse selbst im Landesinneren (also nicht nur bezüglich des „eisernen Vorhangs“, sondern auch in der SU und China).

All diese Auswüchse waren und sind in den verbleibenden degenerierten ArbeiterInnenstaaten Resultat der Herrschaft der Bürokratie und ihrer reaktionären, konterrevolutionären Politik. Die Politik des „Aufbaus in einem Land“ bedeutet nicht Überwindung der Fesseln, die der Kapitalismus der Entwicklung der Produktivkräfte auflegt, sondern stellt selbst eine Fesselung der Produktivkräfte in das Zwangsbett des Nationalstaates dar.

Diese Politik führt keineswegs nur zur technologischen Rückständigkeit, überflüssiger selbstgenügsamer Anstrengung, jede Erfindung oder Neuerung im „eigenen Land“ parallel zu entwickeln. Vor allem bedeutet sie auch ein Hindernis für die Entwicklung der Produktivkraft der lebendigen Arbeit. Nicht nur die Technik und die ökonomischen Kreisläufe, auch die ArbeiterInnenklasse bleiben zwanghaft „national“.

Die politische Unterdrückung durch die Bürokratie heißt aber vor allem, dass sich die ArbeiterInnenklasse nicht als Klasse für sich konstituieren kann (das wäre nur möglich, wenn sie die bürokratische Herrschaft selbst stürzt). In den stalinistischen Regimen wurde gewissermaßen der „Versuch“ unternommen, eine sozialistische Umgestaltung bei gleichzeitiger zwangsweiser Verhinderung der Bildung von Bewusstsein der revolutionären Klasse über diese Umgestaltung durchzuführen. Eine solche Utopie kann nur reaktionär sein und enden. Sie musste scheitern, und sie ist gescheitert – und das mit vollem Recht.

Die sozialistische Umwälzung muss aber ihrem Wesen nach international sein und muss bewusst durchgeführt werden. Die Frage der ArbeiterInnendemokratie, der in Räten und anderen Formen der direkten und aktiven Demokratie als Staatsmacht und Selbstverwaltung der Gesellschaft organisierten ArbeiterInnenklasse und ihrer Verbündeten ist keineswegs eine bloß politische, sondern auch ökonomische Frage der Übergangsperiode.

Die Frage der Räte und ihrer Demokratie darf daher niemals nur negativ gefasst werden – z. B. als Mittel, die Etablierung einer Bürokratie, die Verselbständigung neuer „Eliten“ zu verhindern und diese an gesellschaftliche Kontrolle, Verantwortlichkeit und Abwählbarkeit zu binden. Sie ist auch unbedingt positiv zu fassen als unverzichtbares Mittel, wie sich die Gesellschaft in der Epoche des Übergangs, der Diktatur des Proletariats mit sich selbst über ihre eigenen Bedürfnisse, wirtschaftliche (und politische) Prioritäten, Schwerpunkte verständigen kann. Sie ist das Mittel, wie die technischen Notwendigkeiten der Planung mit den gesellschaftlichen Zielen, Schwerpunkten, Teilzielen usw. in Einklang gebracht werden können, so dass die einzelnen ArbeiterInnen, ja, alle Gesellschaftsmitglieder zunehmend bewusster in diesen Prozess eingreifen.

Nur so kann das Proletariat zu einer bewusst herrschenden Klasse werden und zugleich das Überflüssigmachen seiner Herrschaft vorbereiten und durchsetzen.

Die Tendenz dazu, die Produktivkräfte bewusst nach den Zielen der gesamten Gesellschaft auszurichten, wurde nicht nur im Stalinismus blockiert (bei gleichzeitiger Einführung bestimmter Voraussetzungen dafür). Sie wird noch viel mehr im Kapitalismus blockiert, auch wenn (oder gerade weil) die Entwicklung der Produktivkräfte in diese Richtung drängt. Das trifft nicht nur auf die internationale Arbeitsteilung und Produktion zu, die auf die Möglichkeit, ja Notwendigkeit internationaler Planung verweisen.

Es trifft auch darauf zu, dass im Kapitalismus die Steigerung der Produktivität der ArbeiterInnen immer wieder auch auf dem  zwiespältigen Prozess der Enteignung ihres Wissens basiert. So muss das Kapital selbst in bestimmten Phasen auf „modernere“, scheinbar „partizipativere“ Formen der Arbeitsorganisation (wie Gruppenarbeit) zurückgreifen, um dieses Wissen über den Produktionsprozess besser inkorporieren zu können. Alle großen Kapitale kennen mehr oder weniger haarsträubende Formen des „Verbesserungswesens“. Aber dies geht immer auch mit einem gewissen Konflikt in Bezug auf die Erfordernisse des Ausbeutungsregimes einher. So werden Gruppen in der Gruppenarbeit von den Vorgesetzten nach bestimmter Zeit regelmäßig zerschlagen, weil diese nicht nur die Arbeitsorganisation verbessern, sondern ab einem bestimmten Zeitpunkt auch dazu tendieren, den Zusammenhalt unter den ArbeiterInnen gegen ihre Vorgesetzten zu stärken. Hinzu kommt z. B., dass auch viele Lohnabhängige sehr genau wissen, wie eigentlich besser, schonender produziert werden kann oder einfach bessere Produkte gefertigt werden könnten, dass dies jedoch den Profitinteressen des/r jeweiligen KapitalistIn entgegensteht. Kurzum, die lebendige Arbeit wird einerseits befähigt, immer mehr Reichtum hervorzubringen, und die ArbeiterInnen wie die Gesamtarbeit werden im Zuge der technischen Entwicklung oft auch viel qualifizierter, aber sie werden zugleich immer drakonischer und offensichtlicher den bornierten Zwecken des Kapitals unterworfen.

Schließlich verweist die Frage der Ökologie, die drohende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, aber auch andere große Menschheitsfragen wie jene nach der Bekämpfung von Hunger und Seuchen, die Frage der Umgestaltung der Landwirtschaft darauf, dass auch durchdacht werden muss, wofür was produziert wird.

Stalinismus und Sozialdemokratie haben die Frage nach der Umwandlung der Gesellschaft, nach dem Sozialismus, nach dem Fortschritt nicht von ungefähr technisch und organisatorisch behandelt: Sicherung von Arbeitsplätzen, von Einkommen, eines bestimmten Lebensstandards.

Die Umwandlung des Verhältnisses der ProduzentInnen zu ihren Arbeitsmitteln und zum Produkt waren für sie keine Fragen, weil sie mit ihrer „Vision“ von „Sozialismus“ nichts zu tun hatten und auch nicht haben konnten. Für beide war die ArbeiterInnenklasse im Grunde nicht Subjekt, sondern Objekt einer „Umwandlung“.

Wenn sie jedoch nicht zum bewussten Subjekt der Umwandlung wird und das Verhältnis zwischen den Menschen zunehmend bewusst zu gestalten beginnt, so ist natürlich auch ein bewusstes, rationales Verhältnis zur Natur unmöglich.

Die objektiven Voraussetzungen für die sozialistische Umgestaltung der Weltwirtschaft bestehen schon seit über einem Jahrhundert. Sie ist heute brennend aktuell und notwendig, weil sowohl die aktuelle Weltwirtschaftskrise und alle größeren, tieferen Probleme der Menschheit danach drängen. Ohne diese sind massive Zerstörung, Vernichtung, Heraufbeschwören neuer „natürlicher“ und zivilisatorischer Katastrophen unabwendbar. Die Alternative „Sozialismus oder Barbarei“ droht – und weist zugleich auf den Ausweg.

Doch so dramatisch zugespitzt die Verhältnisse sind, so sehr nicht nur moderne Technik, Produktions- und Kommunikationsmittel und eine wissenschaftlich und technisch hochqualifizierte ArbeiterInnenklasse vorhanden sind, die schon jetzt die Fähigkeit hat, unter ihrer Regie die ganze Weltwirtschaft neu, rational und vernünftig zu reorganisieren, so ist sie sich dieser Fähigkeiten als Klasse  aber nicht bewusst.

Ein solches Bewusstsein kann in ihr freilich nicht spontan entstehen – so wie revolutionäres Klassenbewusstsein nicht. „Spontan“ erscheint es den ArbeiterInnen so, dass ihr Zugewinn an Wissen und Fähigkeiten, den Gesamtprozess zu organisieren, zusätzliche Potenzen für das Kapitals wären.

Dieser Schleier, diese Umkehrung der realen Verhältnisse, die der Kapitalismus aber notwendig als „falsches Bewusstsein“ hervorbringt, kann nur durch den revolutionären Kampf um Kontrolle, Enteignung des Kapitals, gesellschaftliche Planung, also den Kampf um ein Programm von Übergangsforderungen durchbrochen werden.

Was dazu fehlt, ist eine politische Strategie, ein Programm der sozialistischen Revolution und wirtschaftlichen Umgestaltung zum Sozialismus, eine Partei, eine Führung.

Auch in diesem Sinne ist die Krise der Menschheit die Krise der proletarischen Führung. Es gibt nur ein Mittel, diese Krise zu überwinden: die Schaffung einer neuen Weltpartei der sozialistischen Revolution – einer neuen, Fünften Internationale.


Endnoten

[i] Degenerierte ArbeiterInnenstaat sind Staaten, in denen zwar das Kapital enteignet wurde, die politische Herrschaft jedoch nicht von der ArbeiterInnnenklasse ausgeübt wird, sondern von einer bürokratischen Kaste, einer privilegierten Schicht. Während die Sowjetunion erst durch die stalinistische Konterrevolution zu einem solchen Staat degenerierte, stellten jene Osteuropas, China, Nordkorea, Kuba, Vietnam oder Kambodscha von Beginn an degenerierte, von einer ihrem Wesen nach konterrevolutionen Bürokratie beherrschte ArbeiterInnenstaaten dar.

[ii] Francis Fukayama, Das Ende der Geschichte, Kindler, München 1992

[iii] Siehe dazu: Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1984 bzw. Lukács, Existenzialismus oder Marxismus? Aufbau-Verlag, Berlin 1951

[iv] Siehe die Kritik der Postkolonialismustheorie in diesem RM und die Kritik von Chibber, Vivek: Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals, Dietz Verlag, Berlin 2018

[v] Michael Hardt undAntonio Negri, Empire – Die neue Weltordnung, Campus Verlag, Frankfurt/M. 2020

[vi] Rodney Edvinsson und Keith Harvey, „Empire“: Jenseits des Imperialismus?, in: Revolutionärer Marxismus 33, Theoretisches Journal der Liga für die Fünfte Internationale, Global Red, Berlin 2003, und Martin Suchanek, Das reformistische Schaf im autonomen Wolfspelz, in: Revolutionärer Maxismus 41, Global Red, Berlin 2010

[vii] David Harvey, Der neue Imperialismus, VSA Verlag, Hamburg 2005 und ders., Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln, VSA Verlag, Hamburg 2014

[viii] Elmar Altvater, Konkurrenz für das Empire, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster/Westf. 2007

[ix] Joachim Bischoff, Die Herrschaft der Finanzmärkte, VSA Verlag Hamburg 2012

[x] Siehe insbesondere PROKLA 194: Welmarktgewitter: Politik und Krise des globalen Kapitalismus, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster/Westf. 2019, PROKLA 195: Umkämpfe Arbeit – reloaded, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster/Westf. 2019, PROKLA 198: Globale Stoffströme und internationale Arbeitsteilung, Verlag Bertz + Fischer, Berlin 2020; PROKLA 199: Politische Ökonomie des Eigentums, Verlag Bertz + Fischer, Berlin 2020

[xi] Utsa Patnaik und Prabhat Patnaik, A Theory of Imperialism, Columbia University Press, New York 2017

[xii] Grossmann, Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems, Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M. 1970; ders., Aufsätze zur Krisentheorie, Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M. 1971

[xiii] Paul Mattick, Economic Crisis and Crisis Theory, The Merlin Press, London, 1981; ders., Kritik der Neomarxisten, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt/M. 1974

[xiv] Rosdolsky, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ,Kapital’, Bd. I und II, EVA, Frankfurt/M. 1973

[xv] Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, MEW 13, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1964, S. 8

[xvi] Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1983, S. 420

[xvii] Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1974, S. 28

[xviii] Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, Gesammelte Werke, Band 1, 1. Halbband, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1987, S. 367ff.

[xix] Trotzki, Schriften über Deutschland, Band 1, EVA, Frankfurt/M. 1971

[xx] Mandel, Trotzkis Faschismusanalyse, Einleitung zu Schriften über Deutschland, in: a. a. O., S. 14.

[xxi] Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1964, S. 463

[xxii] Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 321

[xxiii] Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1964, S. 777 f.

[xxiv] Ebenda, S. 779

[xxv] Siehe dazu z. B. Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 95

[xxvi] Marx, Kapital Band 1, a. a. O., S. 790f.

[xxvii] Marx, Kapital Band 3, MEW 25, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1969, S. 260

[xxviii] Marx, Grundrisse, a. a. O.,  S. 641

[xxix] Ebenda, S. 642

[xxx] Rosdolsky, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital’, Bd. 2, a. a. O., S. 449, FN 38

[xxxi] Marx, Das Kapital Band 1, a. a. O., S. 662 (in Einschaltung 1* aus der autorisierten französischen Ausgabe)

[xxxii] Marx, Das Kapital Band 3, a. a. O., S. 381

[xxxiii] Marx, Theorien über den Mehrwert Band 2,  MEW 26.2, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1972, S. 510

[xxxiv] So zum Beispiel im Abschnitt „Große Industrie und Agrikultur“ im 1. Band des Kapitals, siehe: Das Kapital, Band 1, a. a. O., S. 527 – 530

Zur ausführlichen Darstellung unserer Position: Gruppe ArbeiterInnenmacht, Umwelt und Kapitalismus. Zu den grundlegenden Widersprüchen zwischen Nachhaltigkeit und kapitalistischer Produktionsweise, Berlin 2019, http://arbeiterinnenmacht.de/2019/06/26/umwelt-und-kapitalismus/

[xxxv] Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 8, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1973, S. 111 – 207

[xxxvi] Ebenda, S. 117

[xxxvii] Hilferding, Das Finanzkapital, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1955

[xxxviii] Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals oder Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben. Eine Antikritik, in: Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 5, Dietz Verlag Berlin 1975, S. 431

[xxxix] Grossmann, a. a. O.

[xl] Ebenda, S. 21

[xli] Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß, in: LW Band 22, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1988, S. 189 – 309

[xlii] Ebenda, S. 230

[xliii] Ebenda, S. 270

[xliv] Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 551

[xlv] Trotzki, Die permanente Revolution, in: ders.: Ergebnisse und Perspektiven. Die permanente Revolution, EVA, Frankfurt/M. 1971

[xlvi] Lenin, Der Imperialismus … , a. a. O., S. 271

[xlvii] Ebenda, Vorwort zur französischen Ausgabe, a. a. O., S. 198

[xlviii] Marx, Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850, MEW 7, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1964, S. 247f.

[xlix] Marx, Entwürfe einer Antwort auf den Brief von V. I. Sassulitsch, MEW 19, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1974, S. 384 – 406

[l] Trotzki, Ergebnisse und Perspektiven. Die permanente Revolution. Mit Einleitungen von Helmut Dahmer und Richard Lorenz, a. a. O.

[li] Ebenda, S. 122f.

[lii] Ebenda, S. 123f.

[liii] Trotzki, Was ist nun die permanente Revolution? Grundsätze, These 2, in: ders., Ergebnisse und Perspektiven … , a. a. O., S. 158

[liv] Trotzki, Was ist nun die permanente Revolution; Grundsätze, These 10, in: ders., Ergebnisse und Perspektiven … , a. a. O., S. 161

[lv] Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation, in: MEW 17, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1973, S. 313 – 365

[lvi] Zur Ausführlichen Darstellung der Entwicklung der bolschewistischen und Lenin’schen Konzeption siehe: Martin Suchanek, Bruch und Wandel des Bolschewismus. Das Programm der Russischen Revolution, in: Revolutionärer Marxismus 49, global red, Berlin 2017, S. 5 – 82

[lvii] Lenin, Über die aufkommende Richtung des „imperialistischen Ökonomismus“, in: LW Band 23, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1972, S. 1 – 10; ders., Antwort auf P. Kijewski (J. Pjatakow), ebenda, S. 11 – 17; ders., Über eine Karikatur auf den Marxismus oder über den „imperialistischen Ökonomismus“, ebenda, S. 18 – 71

[lviii] Engels, Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, in: MEW 22, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1977, S. 225 – 240

[lix] Trotzki, Die internationale Revolution und die Kommunistische Internationale, Zweiter Teil: Strategie und Taktik in der imperialistischen Epoche; in: ders., Kritik des Programmentwurfs für die Kommunistische Internationale (29.6.1928), Schriften Band 3.2, Linke Opposition und IV. Internationale 1927 – 1928, Rasch und Röhring Verlag, Hamburg 1997, S. 1251; auch in: ders., Die Dritte Internationale nach Lenin, Arbeiterpresse Verlag, Essen 1993, S. 89

[lx] Luxemburg, Gründungsparteitag der KPD 1918/19, III: Unser Programm und die politische Situation, 31. Dezember 1918, in: dies., Gesammelte Werke Band 4, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1987, S. 494

[lxi] Trotzki, Der Zusammenbruch der beiden Internationalen. Erklärung der Bolschewiki-Leninisten auf der Pariser Konferenz (17.8.1933), in: ders., Schriften Band 3.3., Linke Opposition und IV. Internationale 1928 – 1934, Neuer ISP Verlag, Köln 2001, S. 440

[lxii] Trotzki, Die neue Etappe. Die Weltlage und unsere Aufgaben, Verlag der Kommunistischen Internationale, Hamburg 1921, Reprint

[lxiii] Inprekorr vom 24. April 1924, zitiert nach Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, a. a. O., S. 111

[lxiv] Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, a. a. O., S. 113

[lxv] Lenin, Der Imperialismus … , a. a. O., S. 270

[lxvi] Ebenda, S. 269f.

[lxvii] Hilferding, Das Finanzkapital, a. a. O., S. 439

[lxviii] Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, a. a. O., S. 327; in der deutschen Erstausgabe, noch außerhalb der MEW, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1953, findet sich das Zitat nahezu gleich auf S. 317

[lxix] Margaret Wirth, Zur Kritik der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, in: Probleme des Klassenkampfs Nr. 8/9, Berlin/West 1973, S. 24

[lxx] Joachim Schubert, Die Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus – Kritik der zentralen Aussagen, in: Mehrwert (Beiträge zur Kritik der politischen Ökonomie) Nr. 4, Berlin/West 1973, S. 8

[lxxi] Lukács, Ontologie – Marx, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Die ontologischen Grundprinzipien von Marx, Sammlung Luchterhand 86, Darmstadt/Neuwied 1972

[lxxii] Lukács, Ontologie – Marx, a. a. O., S. 45

[lxxiii] Marx, Das Kapital Band 1, a. a. O., S. 791

[lxxiv] Lenin, Der Imperialismus … , a. a. O., S. 242

[lxxv] Marx, Das Kapital Band 3, a. a. O.,  S. 452f.

[lxxvi] Ebenda, S. 453

[lxxvii] Ebenda, S. 454

[lxxviii] Ebenda, S. 456

[lxxix] Hilferding, Das Finanzkapital, a. a. O., S. 258

[lxxx] Ebenda, S. 349

[lxxxi] Zitiert nach Oelßner, Vorwort zur Neuausgabe von „Das Finanzkapital“, a. a. O., S. XXXIII

[lxxxii] Lenin, Heft Hilferding. „Das Finanzkapital“, LW 39, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1965, S. 330 – 336

[lxxxiii] Ebenda, S. 334

[lxxxiv] Bucharin, Imperialismus und Weltwirtschaft, Archiv Sozialistischer Literatur 13, Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M. 1969

[lxxxv] Ebenda, S. 131

[lxxxvi] Ebenda, S. 191

[lxxxvii] Ebenda, S. 133

[lxxxviii] Ebenda, S. 133

[lxxxix] Bucharin, Ökonomik der Transformationsperiode, Texte des Sozialismus und Anarchismus, rororo Klassiker 261 – 263, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1970

[xc] Ebenda, S. 19

[xci] Ebenda, S. 50

[xcii] Ebenda, S. 54f.

[xciii] Lenin, Einige Erwägungen zu den Bemerkungen der Kommission der gesamtrussischen Aprilkonferenz, LW 24, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1972, S. 465f.

[xciv] Lenin, VIII. Parteitag der KPR (B), 18. – 23. März 1919, Bericht über das Parteiprogramm, 19. März, LW 29, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1971, S. 153

[xcv]Busch/Schoeller/Seelow, Weltmarkt und Weltwährungskrise, Bremen 1971; Christel Neusüss, Imperialismus und Weltmarktbewegung des Kapitals, Verlag POLITLADEN, Politladen-Druck Nr. 4, Erlangen 1972; Wolfgang Schoeller, Werttransfer und Unterentwicklung – Bemerkungen zu Aspekten der neueren Diskussion um Weltmarkt, Unterentwicklung und Akkumulation des Kapitals in unterentwickelten Ländern (anhand von E. Mandel, Der Spätkapitalismus), in: Probleme des Klassenkampfes 6, März 1973, S. 99 – 120, Verlag Politladen, Erlangen1973; Margaret Wirth, Zur Kritik der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, in: Probleme des Klassenkampfs 8/9, S. 17 – 44, Verlag Politladen, Erlangen 1973; Klaus Busch, Ungleicher Tausch – Zur Diskussion über internationale Durchschnittsprofitrate, Ungleichen Tausch und Komparative Kostentheorie anhand der Thesen von Arghiri Emmanuel (1), Probleme des Klassenkampfs 8/9, a. a. O., S. 47 – 88; Ders., Die multinationalen Konzerne. Zur Analyse der Weltmarktbewegung des Kapitals, Suhrkamp Verlag, edition suhrkamp 741, Frankfurt/M., 1974

[xcvi] Wolfgang Schoeller, Weltmarkt und Reproduktion des Kapitals, EVA, Frankfurt/M., Köln 1976

[xcvii] Marx, Kapital, Bd. 1, a. a. O., S. 53

[xcviii] Marx, Theorien über den Mehrwert Band 2, a. a. O., S. 521

[xcix] Schoeller, Weltmarkt und … , a. a. O., S. 23

[c] Marx, Kapital Band 1, a. a. O., , S. 583f.

[ci] Marx, Das Kapital Band 3, a. a. O., 247

[cii] Zur Darstellung der Krise von 1973 und ihrer Bedeutung siehe: Oelßner, Die Wirtschaftkrisen. Die Krisen im vormonopolistischen Kapitalismus, Reprint Frankfurt/Main 1973, S. 244 – 262

[ciii] Lenin, Der Imperialismus … , a. a.O., S. 246

[civ] Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, a. a. O., S. 94f.

[cv] Ebenda, S. 125f.

[cvi] Zu einer ausführlichen Darstellung siehe: Gruppe ArbeiterInnenmacht, Der Letzte macht das Licht aus. Die Todesagonie des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale http://arbeitermacht.de/broschueren/vs/index.htm

[cvii] Stephan Krüger, Profitraten und Kapitalakkumulation in der Weltwirtschaft. Arbeits- und Betriebsweisen seit dem 19. Jahrhundert und der bevorstehende Epochenwechsel, VSA Verlag, Hamburg 2019, S. 117f.

[cviii] Stephan Krüger, Profitraten und Kapitalakkumulation in der Weltwirtschaft … , a. a. O.

[cix] Ebenda, S. 119 – 122

[cx] Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Fischer Verlag (7. Auflage), Frankfurt/M. 2003, S. 57

[cxi] Zitiert nach Leo Mayer und Fred Schmid: Welt-Sheriff  NATO. Weltwirtschaftsordnung und neue NATO-Doktrin, isw report 40, München 1999, S. 22




Zum Verständnis des Populismus bei Lenin und Trotzki

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 50, November 2018

Einleitung

Fast überall sind herkömmliche ArbeiterInnenparteien auf dem Rückzug. Sozialdemokratische und zum Parlamentarismus übergegangene stalinistische Parteien verlieren, mit einzelnen Ausnahmen, bei jeder Wahl Stimmen oder sind bereits in die Bedeutungslosigkeit geschrumpft.

Gleichzeitig ist besonders in den letzten Jahre nach der kapitalistischen Krise ab 2007 ein Aufstieg rechtspopulistischer Parteien und Kräfte eingetreten, deren Erfolge bei Wahlen und Volksabstimmungen die Machtausübung traditioneller Koalitionen aus konservativen, liberalen und reformistischen Parteien bedrohen. Auf der anderen Seite gibt es Beispiele von Wachstums- und Wahlerfolgen linker Kräfte, die den Klassengegensatz über Bord geworfen haben und, meistens von außen, teilweise selbst als populistisch bezeichnet werden.

Bürgerlichen PolitikerInnen gelingt es zumindest, die Bedrohung, die von populistischen Bewegungen und Parteien für ihre eigenen Formationen ausgeht, zu identifizieren. Sie sind aber entweder nicht in der Lage, das mit einer zutreffenden Analyse des Wesens und der Herkunft des Populismus zu verbinden. Dort wo linksbürgerliche Intellektuelle darüber hinausgehen, kommt es, zum Beispiel bei Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, zu einem unkritischen Bejubeln der Wahlerfolge und dem Hochstilisieren der neuen Formationen als Alternative zum gescheiterten „Klassenkampf-Marxismus“. Das zugrundeliegende Verständnis mag besser sein, eine marxistische Analyse bieten sie aber nicht.

Die Auseinandersetzung mit populistischen Bewegungen, aber auch Phänomenen, die dem Populismus in Erscheinung und historischen Umständen sehr ähnlich sind, hat eine Tradition in der marxistischen Theorie und Praxis. Weder der Populismus noch eine marxistische Kritik daran sind etwas Neues. Um eine marxistische Analyse des Populismus zu entwickeln, ist es deshalb notwendig, diese historischen Auseinandersetzungen aufzuarbeiten und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.

Weder Lenin noch Trotzki entwickeln in ihren Schriften eine umfassende Theorie des „Populismus“. Das ist insofern nicht verwunderlich, als der Terminus zu den Lebzeiten der beiden Revolutionäre noch wenig gebräuchlich war. Als „populistisch“ bezeichnete Bewegungen oder Parteien treten erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Russland mit den VolksfreundInnen (Narodniki) sowie in den USA mit der Farmerbewegung und der „People’s Party“ auf.

Gerade für die russische ArbeiterInnenbewegung stellte jedoch der politische und theoretische Kampf gegen die PopulistInnen einen wesentlichen Aspekt in der programmatischen, taktischen und organisatorischen Herausbildung des Sozialismus dar. Wenn Lenin, Trotzki und andere marxistische RevolutionärInnen vor dem Ersten Weltkrieg und während des Krieges den Begriff „Populismus“ verwenden, dann beziehen sie sich in der Regel auf die VolksfreundInnen (Narodniki), die SozialrevolutionärInnen, die 1901 aus der Vereinigung verschiedener Gruppierungen der VolkstümlerInnen hervorgingen, oder die Trudowiki (Parteigruppe der Arbeit), die 1906 gebildete Fraktion der Bauerndeputierten in der zaristischen Duma.

Die Haltung zum imperialistischen Krieg, der Übergang der Mehrheit der VolkstümlerInnen zur Vaterlandsverteidigung, die Politik der Regierung Kerenski wie auch die Spaltung der SozialrevolutionärInnen in der russischen Revolution offenbaren praktisch das Wesen dieser Strömung. Um aber die ideologischen Wurzeln dieses Versagens und Verrats – nicht zuletzt an der Bauernschaft – zu verstehen, ist eine Kritik der theoretischen und politischen Grundannahmen dieser Strömung unerlässlich.

Die Kritiken, Schriften und Analysen bezüglich des Klassencharakters der SozialrevolutionärInnen sind auch ein wichtiger Ansatzpunkt für ein marxistisches Verständnis des Populismus. Das trifft ebenfalls auf die Diskussionen der Kommunistischen Internationale wie der trotzkistischen Bewegung bezüglich der rechten und linken „populistischen“ Formierungen nach dem Ersten Weltkrieg zu. Darunter fallen so unterschiedliche Phänomene und Personen wie der „linke“ Republikanismus eines La Follette in den USA, der kroatische „Bauernführer“ Radic, Pilsudski in Polen, der Faschismus und andere reaktionären Bewegungen des KleinbürgerInnentums. Schließlich muss in diesem Zusammenhang auch die Haltung zu den „national-revolutionären“ und „anti-imperialistischen“ Parteien und Bewegungen in den Kolonien und Halbkolonien betrachtet werden.

Ein Beispiel: Im Text „Clarity or Confusion“ aus dem Jahr 1939 stellt Trotzki, Bezug nehmend auf die Diskussionen um die peruanische APRA (Alianca Popular Revolucionaria Americana; dt.: Amerikanische Revolutionäre Volksallianz), eine Beziehung zwischen unterschiedlichen Parteien, Bewegungen und ideologischen Strömungen her:

„Die APRA ist in den Augen der Marxisten keine sozialistische Organisation, denn sie ist keine Klassenorganisation des revolutionären Proletariats. Die APRA ist eine Organisation der bürgerlichen Demokratie in einem rückständigen, halb-kolonialen Land. Aufgrund ihres sozialen Typus, der historischen Aufgaben und, bis zu einem bestimmten Grad, ihrer Ideologie, gehört sie derselben Klassifikation (class) an wie die russischen Populisten (Sozialrevolutionäre) und die chinesische Guomindang.

Die russischen Populisten waren viel reichhaltiger hinsichtlich ihrer Doktrin und ‚sozialistischen’ Phraseologie als die APRA. Aber das hinderte sie nicht, die Rolle kleinbürgerlicher Demokraten, ja schlimmer, von rückständigen kleinbürgerlichen Demokraten zu spielen, die nicht über die Kraft verfügten, rein demokratische Aufgaben zu erfüllen – trotz des Opfermutes und der Hingabe ihrer besten Kämpfer.“ (1)

In diesen wenigen Sätzen verweist Trotzki auf das Phänomen „radikaler“, nicht-proletarischer Parteien der „kleinbürgerlichen Demokratie“ sowohl in imperialistischen wie halbkolonialen Ländern.

Die weitere Struktur dieses Artikels ist wie folgt: Zuerst werden die grundlegenden Auseinandersetzungen um die Frage „populistischer“ Parteien dargelegt und Kritik sowie Taktiken ihnen gegenüber diskutiert. Anschließend wird die von Trotzki skizzierte gemeinsame Klammer angewendet, um Schlussfolgerungen für ein marxistisches Verständnis von Populismus zu ziehen.

SozialrevolutionärInnen und VolkstümlerInnen

Ohne die offensive Auseinandersetzung mit der populistischen, volkstümlichen Tradition der revolutionären Intelligenz in Russland wäre die Entwicklung der ArbeiterInnenbewegung, insbesondere des Bolschewismus, unmöglich gewesen. Ein bedeutender Teil der frühen Schriften Lenins und anderer RevolutionärInnen dient der polemischen Abgrenzung und ideologischen Demarkierung von den „VolksfreundInnen“ und anderen „volkstümlichen“ Gruppierungen.

Die Auseinandersetzung am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts konzentriert sich dabei auf zwei, miteinander verbundene Fragestellungen: Muss Russland zwangsläufig eine kapitalistische Entwicklung durchlaufen? Ist die ArbeiterInnenklasse oder „das Volk“ die treibende, revolutionäre Kraft des Kampfes gegen den Zarismus?

Lenins „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“ (2) bietet eine umfassende Antwort auf die erste Frage. Lenin weist darin nach, dass die Fragestellung der VolkstümlerInnen von der Wirklichkeit beantwortet wurde. Der Kapitalismus hat sich durchgesetzt. Er prägt die Entwicklungsdynamik des Landes, wenn auch eine, die von enormer Ungleichzeitigkeit geprägt ist, wo die Ausdehnung der Industrie, des kapitalistischen Marktes, der Lohnarbeit in Stadt und Land mit einer enormen Rückständigkeit und Beibehaltung zahlreicher, die Entwicklung des Kapitalismus hemmender Institutionen einhergeht.

Er wirft den VolkstümlerInnen nicht nur vor, hinter der Realität zurückzubleiben, sondern kritisiert auch ihr grundlegend falsches Verständnis von Entwicklung des Kapitalismus, der Kleinproduktion und des Handwerks, die sie der kapitalistischen Großproduktion schematisch gegenüberstellen. So führt Lenin gegen die VolkstümlerInnen aus:

„Die Anerkennung der Fortschrittlichkeit dieser Rolle (des Kapitalismus; d. Verf.) ist (wie wir in jedem Stadium unserer auf Tatsachen gestützten Darlegung eingehend zu zeigen bemüht waren) durchaus vereinbar mit der vollen Anerkennung der negativen und düsteren Seiten des Kapitalismus, mit der vollen Anerkennung der dem Kapitalismus unvermeidlich eigenen tiefen und allseitigen gesellschaftlichen Widersprüche, die den historisch vergänglichen Charakter dieses ökonomischen Regimes offenbaren.“ (3)

Die Entwicklung des Kapitalismus bedeutet für Lenin unweigerlich die Entwicklung seiner inneren Widersprüche – und damit die Entwicklung der Bedingungen für eine erfolgreiche Revolution.

Die VolksfreundInnen würden nicht nur den widersprüchlichen Charakter der Entwicklung negieren, sondern auch einen starren Gegensatz zwischen der russischen „Volksökonomie“ (der Bäuerinnen und Bauern) und „Volksindustrie“ einerseits sowie der kapitalistischen Industrie andererseits konstruieren.

„Er (Kriwenko; ein Theoretiker der VolksfreundInnen; Anm. d. Red.) konstruiert einen direkten Gegensatz zwischen ‚unserer Volksindustrie’, d. h. der Kustarindustrie (Hausindustrie; d. Red.), und der kapitalistischen Industrie… ‚Die Volksproduktion‘ (sic!), sagt er, ‚entsteht in den meisten Fällen auf natürliche Weise’, die kapitalistische Industrie dagegen ‚wird durchweg künstlich geschaffen’. An einer anderen Stelle konstruiert er einen Gegensatz zwischen der ‚kleinen Volksindustrie’ und der ‚großen kapitalistischen Industrie’.“ (4)

Und weiter:

„Die natürliche Schlussfolgerung besteht darin, dass aus Unverständnis für den Zusammenhang die Kustarindustrie als ‚Volksindustrie’ der kapitalistischen Industrie als ‚künstliche Industrie’ gegenübergestellt wird. So kommt die Idee auf, der Kapitalismus widerspreche unserer ‚Volksordnung’, (…) den Kapitalismus der Fabrikanten und Werke stellt man sich vor, wie er wirklich ist, die Kustarindustrie aber so, wie sie ‚sein könnte’, den ersten auf Grund einer Analyse der Produktionsverhältnisse, die zweite, indem man, ohne auch nur versucht zu haben, die Produktionsverhältnisse gesondert zu betrachten, die Sache vielmehr ohne große Umschweife in das Gebiet der Politik verlegt. Man braucht sich nur der Analyse dieser Produktionsverhältnisse zuzuwenden, und man sieht, dass die ‚Volksordnung’ dasselbe darstellt wie die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, wenn auch in unentwickeltem, keimhaftem Zustand.“ (5)

Diese Zitate illustrieren nicht nur die grundsätzlich unterschiedlichen Positionen zu ökonomischen Einzelfragen, sondern dass Marxismus und Populismus gänzlich verschiedene Vorstellungen vom zentralen Antagonismus der russischen Gesellschaft haben mussten, warum sich Marxismus und Populismus nicht ergänzen konnten, sondern einander politisch ausschließen mussten.

Da die Volksindustrie als „natürlicher“ Teil einer „Volksordnung“ galt, musste diese gegen die „künstliche“ kapitalistische Entwicklung verteidigt und ideologisch beschönigt werden. Ihre „Auswüchse“ wie die Ausbeutung in der Kustarindustrie wurden von den SozialrevolutionärInnen nicht als unreife, unterentwickelte, teilweise besonders brutale Formen der entstehenden und sich durchsetzenden kapitalistischen Verhältnisse betrachtet. Die negativen Erscheinungen in der sog. Volksindustrie wurden als dieser eigentlich „fremd“ eingeschätzt.

Die Schlussfolgerung der „VolksfreundInnen“ bestand daher einerseits in der Idealisierung der „Volksindustrie“, die zur Vorstufe einer harmonischen „Volksordnung“ verklärt wurde und nur von ihren kapitalistischen Auswüchsen gereinigt werden musste, und andererseits dem Ruf nach Staatsintervention, um diese angebliche Harmonie (wieder) herzustellen.

Lenin verweist in seiner Polemik darauf, dass die „revolutionären Narodniki“ der 1870er Jahre noch hofften, ihre utopischen Ziele mit revolutionären Mitteln gegen den Zarismus durchzusetzen, während die VolkstümlerInnen um die Jahrhundertwende mehr und mehr zur systematischen Kompromisslerei mit dem Staat übergingen. Mit der „Volksindustrie“ wurde unwillkürlich und trotz politischer Opposition zum Zarismus auch der russische Staat verklärt.

Ihr Populismus basiert aber nicht nur auf einem Unverständnis des grundlegenden Antagonismus zwischen Lohnarbeit und Kapital und damit einer Ersetzung der ArbeiterInnenklasse durch das „Volk“. Dieses geht vielmehr mit einer Fehleinschätzung der Bauernschaft selbst einher, die zur revolutionären Klasse, gewissermaßen zum Kern des „Volkes“, stilisiert wird. Dabei zeigt die historische Erfahrung nicht nur, dass die Bauernschaft selbst zu keiner eigenständigen, von den Hauptklassen unabhängigen Politik fähig ist. Die VolkstümlerInnen mussten, um ihre utopische Zielsetzung der Wiedererrichtung einer „natürlichen“ Volksökonomie zu stützen, auch die Widersprüche innerhalb der Bauernschaft negieren.

Die Konkurrenz im Kapitalismus führt nicht nur zur fortschreitenden Vernichtung und Zersetzung des KleinbürgerInnentums, sondern notwendigerweise auch zur fortschreitenden Klassendifferenzierung innerhalb der Bauernschaft. Ein Teil wird zu LohnarbeiterInnen und Halb-ProletarierInnen, andere zwingt sie zu einer Existenz als kaum überlebensfähige Kleinbauernschaft oder Landlose. Schließlich steigen Teile auf, werden zu Großbauern und beginnen sogar, selbst TagelöhnerInnen und LohnarbeiterInnen auszubeuten.

Gegenüber dieser Entwicklungstendenz vertraten die SozialrevolutionärInnen (wie viele andere späte Ausprägungen des Populismus) ein reaktionäres, gesellschaftlich rückwärtsgewandtes Programm. Der Durchdringung aller Lebensbereiche durch die moderne industrielle Warenproduktion stellten sie die Rückkehr zu einer idealisierten Form der kleinen Warenproduktion, der zerstörten Dorfgemeinschaft oder der „Volksindustrie“ entgegen.

Diese reaktionäre Zielsetzung impliziert unwillkürlich auch, dass die Widersprüche unter den kleinbürgerlichen Schichten, im konkreten Fall in der Bauernschaft, als künstliche, von „außen“ ins Volk getragene interpretiert werden. Daher zielt das Programm der PopulistInnen, wie Lenin in „Was sind die Volksfreunde…?“ ausführlich darlegt, auf eine Abmilderung und Verschleierung der Widersprüche in der Bauernschaft. Diese wird entgegen ihrer realen Entwicklung als Einheit betrachtet, die es zu bewahren oder über staatliche Reformen wiederherzustellen gelte. Nicht Klassenkampf gegen die UnterdrückerInnen auf dem Land – und das heißt auch gegen die ausbeutenden Schichten der Bauernschaft – sondern Versöhnung mit den Verhältnissen durch mehr oder minder kosmetische Reformen wird zum Ziel.

Das Programm der SozialrevolutionärInnen beinhaltet zwar auch berechtigte demokratische Forderungen, sein grundlegender Gehalt ist jedoch reaktionär. Es versucht, das Rad der Geschichte zurückzudrehen.

Akzeptiert man die Grundannahmen der SozialrevolutionärInnen über den (russischen) Kapitalismus, so ist es nur folgerichtig, die wachsenden Gegensätzen unter der Bauernschaft, im „Volk“, zu leugnen. Ansonsten würde den PopulistInnen ihr Subjekt der Veränderung unwillkürlich zerbrechen.

Im Gegensatz zum Marxismus begreifen sie nämlich „das Volk“ – und das heißt eben auch das gesamte KleinbürgerInnentum – als einheitliches Ganzes, das nicht „gespalten“, sondern miteinander versöhnt werden soll. Was für die Bauernschaft gilt, soll letztlich für die Gesellschaft zutreffen. Daher ist der Ruf nach staatlicher Intervention (und zwar durch den zaristischen Staat) schon bei den VolksfreundInnen kein Zufall, sondern notwendige Ergänzung zu einem utopischen Programm.

In der Haltung zur Bauernschaft zeigt sich aber deutlich der politische Kern der Differenz zwischen Marxismus und Populismus (selbst in einer vergleichsweise linken, „sozialistischen“ Form wie der frühen SozialrevolutionärInnen in Russlands). Während die MarxistInnen die Widersprüche zwischen den Klassen und damit auch unter den verschiedenen Schichten des KleinbürgerInnentums zuspitzen, also auch auf dem Land den Klassenkampf vorantreiben wollen, versuchen die SozialrevolutionärInnen, die Entwicklung des Klassenantagonismus auf dem Land verzweifelt aufzuhalten. Sie wollen nicht die Zuspitzung, sondern die Befriedung des Gegensatzes.

Ideologisch leistet dabei der Volksbegriff den wertvollen Dienst, eine imaginäre Einheit im (russischen) Volk zu schaffen. Alles, was die „Einheit“ stört, kommt von außen, gehört eigentlich nicht zum Volk oder widerspricht in der volkstümlerischen Ideologie dem imaginierten „Volkscharakter“. Die „natürliche Volksordnung“ scheint dabei im Gegensatz zum Kapitalismus zu stehen, der selbst als dem eigentlichen Russland äußerliches Verhältnis begriffen wird. Folgerichtig gehören die GroßkapitalistInnen nicht wirklich „zum Volk“, aber auch die ArbeiterInnenklasse – selbst Produkt einer „volksfremden“ Produktionsweise – kann nicht zentrales Subjekt der Befreiung sein, da das „befreite Russland“ als harmonische Welt kleiner WarenproduzentInnen, von Bauern, HandwerkerInnen, allenfalls Genossenschaften vorgestellt wird, die ein sorgender Staat schützen und fördern soll.

Das taktische Arsenal der revolutionären Sozialdemokratie und später des Bolschewismus gegenüber den VolksfreundInnen und den Sozialrevolutionärinnen beschränkte sich nicht auf Kritik. Lenin betont bei aller polemischen Schärfe die Möglichkeit und Notwendigkeit der taktischen Zusammenarbeit im Kampf um demokratische Forderungen und die Rechte der Bauern. Er betont auch, dass die Sozialdemokratie dazu ein eigenes Agrarprogramm braucht.

Um überhaupt eine Taktik gegenüber den kleinbürgerlichen Massen und deren Parteien anwenden zu können, darf die ArbeiterInnenklasse aber in keinem Fall auf ihre politische, programmatische und organisatorische Unabhängigkeit verzichten. Ansonsten droht sie unweigerlich, selbst in eine kleinbürgerliche Richtung abzugleiten.

Die jahrelange, umfassende Kritik an den SozialrevolutionärInnen und anderen „radikalen“ kleinbürgerlichen Strömungen war eine unterlässliche Voraussetzung zur Formierung und Festigung des Marxismus und der Schaffung einer revolutionären Partei in Russland. Ohne ideologische Abgrenzung und Siege über den Populismus wäre der Aufbau einer proletarischen Partei, die die Massen führen kann, unmöglich gewesen.

Russische Revolution 1917

Mit dem Ersten Weltkrieg und der Russischen Revolution wurden Programm und Doktrin der SozialrevolutionärInnen dem Lackmustest der Geschichte unterworfen. Die „Bauernpartei“ verriet die Bauern. Die Verteidiger der „Volksordnung“ wurden VaterlandsverteidigerInnen und teilweise glühende ChauvinistInnen.

Auf den ersten Blick schien die Februarrevolution jedoch die marxistische Kritik zu widerlegen, das Programm und die Politik der SozialrevolutionärInnen zu bestätigen. Die russische Revolution nahm zwar in den städtischen Zentren ihren Ausgang, aber von Beginn an spielte die Stimmung in der Armee, einem Millionenheer von Bauern, die sich nach Land und Frieden sehnten und zu einer kompakten Masse verbunden worden waren, eine viele größere Rolle als in der Revolution 1905.

Die Vorherrschaft des SozialrevolutionärInnen und der mit ihnen verbündeten Menschewiki drückte jedoch vor allem die Unreife der Revolution und selbst der ArbeiterInnenklasse aus.

„Zu Beginn der Revolution war die Partei der Sozialisten-Revolutionäre auf dem ganzen Gebiete des politischen Lebens dominierend. Bauern, Soldaten, sogar Arbeiter stimmten unter den Volksmassen für die Sozialisten-Revolutionäre. (…) Nach Abzug der rein kapitalistischen und Großgrundbesitzer-Gruppen und der Zensus-Elemente der Gebildeten stimmten Alle und Alles für die revolutionären ‚Nardoniki’. Das entsprach ganz dem anfänglichen Stadium der Revolution, da die Klassengrenzen noch nicht scharf geschieden waren, und der Drang nach einer sogenannten einheitlichen revolutionären Front seinen Ausdruck in dem verschwommenen Programm derjenigen Partei fand, die sowohl den Arbeiter, der sich vom Bauernstand loszutrennen fürchtete, wie den Bauer, der Land und Freiheit suchte, wie auch den Intellektuellen, der diese beiden zu lenken trachtete, und den Beamten, der sich an das neue Regime anzupassen suchte, unter ihre Fittiche nahm.“ (6)

Die Revolution selbst musste jedoch die Basis der SozialrevolutionärInnen untergraben, die letztlich im Zurückbleiben des Bewusstseins der Masse der ArbeiterInnen, Soldaten und Bauern hinter den Erfordernissen der Revolution ihre Ursache hatte. Die SozialrevolutionärInnen (und die Menschewiki) hätten die Macht erobern können – sie hofften aber, diese mit der liberalen Bourgeoisie zu teilen. Wo sie den Massen Substantielles versprechen (Landreform, Konstituierende Versammlung) verschoben sie die Erfüllung in die Zukunft und setzten in der Gegenwart das Programm der Bourgeoisie und des russischen Imperialismus um. Statt „Frieden“ zu schließen, wurde der Krieg fortgesetzt, statt auf ihr Land zurückzukehren, mussten die Bauern nun für den „demokratischen“ Krieg krepieren.

Die IdeologInnen, WortführerInnen und, für eine bestimmte Zeit, selbsternannten „RevolutionsführerInnen“ unter den SozialrevolutionärInnen stellten nicht die Bauern, sondern die VertreterInnen der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Intelligenz – vor allem Anwälte, Beamte, Offiziere, LehrerInnen und JournalistInnen. Das selbst ist kein Zufall. Die bürgerliche Intelligenz bildet im Kapitalismus einen bedeutenden Teil des KleinbürgerInnentums beziehungsweise heute der lohnabhängigen Mittelschichten.

Als solche ist sie unter normalen bürgerlichen Bedingungen immer an vorderster Front des Parlamentarismus, der kleinbürgerlichen Demokratie zu finden. Es entspricht auch ihrer Klassenlage, sich zu den WortführerInnen verschiedener Spielarten des Populismus zu machen. Eine Ideologie, die gegensätzliche Klasseninteressen zu versöhnen trachtet, entspricht der gesellschaftlichen Zwischenstellung dieser „gebildeten“ Schichten.

Doch eine krisenhafte Entwicklung und erst recht eine Revolution enthüllen die Phrasenhaftigkeit des Populismus. Die „allmächtige“ Sozialrevolutionäre Partei – bis zur Oktoberrevolution noch immer eine Partei mit Massenanhang – erweist sich als politisch ohnmächtig. Sie zerbricht in der Revolution und spaltet sich, je mehr sich die Klassengensätze in der russischen Revolution entfalten. Der rechte Flügel geht ins Lager der offenen Reaktion über und versucht sich selbst in der Errichtung einer bonapartistischen Herrschaft, um die Revolution zu zerschlagen. Die Regierung Kerenski bereitet neue „Offensiven“ an der Front vor, paktiert mit putschistischen Militärs, versucht, die Bolschewiki und Räte zu zerschlagen sowie die Aufstandsbewegung der eigenen bäuerlichen Basis zu vernichten. Sie unterstützt die Armeeführung, die GroßkapitalistInnen und GrundbesitzerInnen. Die „Mitte“ der Partei wird immer mehr marginalisiert, geht aber in allen entscheidenden Fragen mit den Rechten.

Die Zuspitzung des Klassenkampfes entfremdet aber zugleich die linken SozialrevolutionärInnen mehr und mehr von ihrer Partei. Der Druck der Massen schiebt sie nach links. Aber ohne die Politik der bolschewistischen Partei wäre diese Bewegung wahrscheinlich nur eine radikale Episode geblieben. Sie sind es, die die linken SozialrevolutionärInnen in der Revolution, im Aufstand führen.

Die Politik der Bolschewiki gegenüber den SozialrevolutionärInnen und vor allem die Taktik gegenüber ihrem linken Flügel stellt bis heute ein zentrales Beispiel für prinzipienfeste revolutionäre Politik gegenüber populistischen Parteien und deren kleinbürgerlicher Massenbasis dar.

Hier gilt es zuerst, deren Unversöhnlichkeit gegenüber der Theorie, dem Programm und der konkreten Taktik dieser Parteien hervorzuheben. Das so genannte „Sektierertum“ der Bolschewiki gegenüber der vorherrschenden versöhnlerischen Stimmung zu Beginn der Russischen Revolution, deren Ausdruck die Stärke der SozialrevolutionärInnen war, schuf die Vorbedingung für den späteren Aufstieg der Partei Lenins. Der Kampf gegen die rechten Bolschewiki, der Bruch mit der Etappentheorie und der Übergang zur Theorie der permanenten Revolution waren die andere Seite dieser charakteristischen Unversöhnlichkeit.

Zum anderen wandten die Bolschewiki systematisch die Taktik der Einheitsfront gegenüber den SozialrevolutionärInnen an. Das betraf keineswegs nur den linken Flügel, sondern die gesamte Partei (und die Menschewiki), trotz ihres kleinbürgerlichen, sozial-chauvinistischen Charakters. So stellten die Bolschewiki an entscheidenden Punkten der Entwicklung der Revolution immer wieder die Forderung an die SozialrevolutionärInnen und Menschewiki, mit der Bourgeoisie zu brechen – wohl wissend, dass die Spitzen der Partei und erste recht deren Minister um jeden Preis diesen Bruch vermeiden wollten.

Gerade diese Politik führte aber dazu, dass der Bolschewismus die Hegemonie der SozialrevolutionärInnen unter den Soldaten und auf dem Land untergraben konnte. Neben einer Stärkung des Kommunismus in Teilen der Armee und auf dem Land trug sie vor allem zur Differenzierung und letztlich zur Spaltung der SozialrevolutionärInnen selbst bei.

Dabei kam den russischen MarxistInnen zugute, dass sich ihre Einschätzung der Bauernschaft als weitaus realistischer erwies als die harmonische Vorstellung der Narodniki. Der Krieg verschärfte die Klassengegensätze in der Bauernschaft sowohl in der Armee als auch auf dem Land, wo ein regelrechter BürgerInnenkrieg entbrannte. Die Bolschewiki verteidigten als einzige Partei konsequent die „illegalen“ Landnahmen der Bauernschaft im Sommer 1917, während die sozial-revolutionär geführte Regierung die GroßgrundbesitzerInnen unterstützte. All das trieb die linken SozialrevolutionärInnen nach links und schuf damit die Basis für ein (schwankendes) Bündnis mit den Bolschewiki.

„Populistische“ Parteien und die Kommunistische Internationale

Die SozialrevolutionärInnen bilden für die Betrachtung des „Populismus“ einen wichtigen Ausgangspunkt. Dass sie sich in Russland bildeten, hängt zweifellos eng mit der verspäteten bürgerlichen Revolution und dem gesellschaftlichen Gewicht der Bauernschaft zusammen. Daher könnten die SozialrevolutionärInnen auch als Ausdruck einer für überwiegend agrarische Länder typischen Rückständigkeit interpretiert werden, die im Lauf der kapitalistischen Entwicklung an Bedeutung verliert, zumal in den fortgeschritteneren Ländern, wo die Bauernschaft nur noch einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung ausmacht.

In seiner Imperialismustheorie weist Lenin jedoch auch auf eine andere Quelle der Bildung von möglichen „populistischen Formationen“ hin, die mit der Entstehung des Imperialismus und der dominierenden Rolle des Finanzkapitals untrennbar verbunden ist.

„Da zu den politischen Besonderheiten des Imperialismus die Reaktion auf der ganzen Linie sowie die Verstärkung der nationalen Unterdrückung in Verbindung mit dem Druck der Finanzoligarchie und mit der Beseitigung der freien Konkurrenz gehören, so tritt mit Beginn des 20. Jahrhunderts in fast allen imperialistischen Ländern eine kleinbürgerlich-demokratische Opposition gegen den Imperialismus auf. Und der Bruch Kautskys und der weitverbreiteten internationalen Strömung des Kautskyanertums mit dem Marxismus besteht gerade darin, daß Kautsky es nicht nur unterlassen, es nicht verstanden hat, dieser kleinbürgerlichen, reformistischen, ökonomisch von Grund aus reaktionären Opposition entgegenzutreten, sondern sich im Gegenteil praktisch mit ihr vereinigt hat.“ (7)

Lenin stellt damit eine Verbindung zwischen Imperialismus und neu entstehenden politischen Bewegungen her, die eine reaktionäre, rückwärtsgewandte Kritik des Kapitalismus vertreten. Er hat dabei Kampagnen wie die Anti-Trust-Bewegung in den USA im Auge, gewissermaßen Vorläuferinnen des kleinbürgerlichen Flügels der Anti-Globalisierungsbewegung. Schon 1916 geht es Lenin dabei vor allem darum, dass diese „Anti-MonopolistInnen“ (ähnlich wie die PazifistInnen) im Krieg in der Regel zu VaterlandsverteidigerInnen werden, den „Imperialismus“ vor allem beim Kriegsgegner erblicken.

Die Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg führt aber auch zur Bildung von „populistischen“ Bewegungen in einer Vielzahl von Ländern. Im Folgenden werden wir uns hier mit zwei verschiedenen Phänomen beschäftigen. Erstens mit der Entstehung von populistischen Strömungen in Europa und den USA. In diesem Zusammenhang werden wir auch auf die Diskussion um den Faschismus kurz eingehen. Zweitens mit national-revolutionären und bürgerlich-nationalistischen Parteien und Bewegungen in den Kolonien und Halbkolonien.

Diskussion um die „Arbeiter- und Bauernparteien“

Nachdem die herrschenden Klassen Europas den ersten revolutionären Ansturm nach dem Weltkrieg mithilfe der Sozialdemokratie und aufgrund der Unreife der kommunistischen Parteien abwehren konnten, bilden sich in vielen Ländern unterschiedlich geartete „populistische“ Formationen. In der Kommunistischen Internationale werden diese Fragen durchaus kontrovers diskutiert, wobei die Degeneration nach dem Vierten Weltkongress unter Führung Sinowjews und später Stalins zu einer Reihe opportunistischer Fehler und prinzipienloser politischer Anpassung führt.

Nach der Niederlage der Revolution in Deutschland und der Ausschaltung der linken Opposition setzte die Führung der Kommunistischen Internationale unter Sinowjew auf eine Mischung aus Ultra-Linkstum (kategorische Ablehnung der zeitweiligen Stabilisierung des Kapitalismus nach der strategischen Niederlage in Deutschland, frühe Formen der Sozialfaschismustheorie) und Opportunismus. So schreibt Trotzki über die Entwicklung nach der Niederlage 1923 und die Perspektiven des Fünften Weltkongresses der Kommunistischen Internationale:

„In demselben Maße, in dem innerhalb des Proletariats eine offenbare, wachsende Rechtsschwenkung vor sich ging, begann die Kommunistische Internationale die Linie der Idealisierung des Bauerntums, eine ganz unkritische Übertreibung aller Symptome des ‚Bruchs’ desselben mit der bürgerlichen Gesellschaft, eine Schönfärberei aller möglichen bäuerlichen Scheinorganisationen und eine direkte Hochpäppelung von ‚bäuerlichen’ Demagogen.“ (8)

So wurde neben der Kommunistischen Internationale auch der Aufbau einer eigenen „Bauerninternationale“ forciert. Deren Vertreter entpuppten sich jedoch rasch als unsichere Verbündete. So wurde Stjepan Radic, der Führer der kroatischen „Bauernpartei“, 1924 noch von Sinowjew in höchsten Tönen gelobt:

„Innerhalb der Bauernschaft findet augenblicklich ein wichtiger Umschwung statt. Ihr habt sicher alle bereits gehört von der kroatischen Bauernpartei Radics. Radic befindet sich augenblicklich in Moskau. Das ist ein richtiger Volksführer … Hinter Radic steht einheitlich die gesamte arme und mittlere Bauernschaft Kroatiens … Radic hat jetzt im Namen seiner Partei beschlossen, sich an die Bauerninternationale anzuschließen. Wir halten dieses Ereignis für sehr wichtig …

Die Bildung der Bauerninternationale ist ein außerordentlich großes Ereignis. Einige Genossen haben nicht geglaubt, dass daraus eine große Organisation heraus wachsen wird … Jetzt bekommen wir eine große Hilfsmaschine – das Bauerntum …“ (9)

Kurz nachdem der „Volksführer“ solche politischen Höhen erklommen hatte, kehrte er nach Kroatien zurück, sagte sich schon ein Jahr später, 1925, von der „Bauerninternationale“ los, söhnte sich mit der Monarchie aus und trat der jugoslawischen Regierung bei.

Auf ähnlich tönernen Füßen stand die Anbiederung an La Follette, einen „linken“ Populisten in den USA, der auch zum „Farmerführer“ hochstilisiert wurde. La Follette war bis 1925 Senator für Wisconsin und Mitglied der Republikanischen Partei, trat aber 1924 für die „Progressive Partei“ als dritter Kandidat zu den Präsidentschaftswahlen an. Er war zweifellos ein bürgerlicher Politiker, wenn auch mit Anhang unter Farmern und den Gewerkschaften, und erhielt immerhin 17 Prozent der Stimmen.

Teile der Führung der Kommunistischen Partei der USA betrachteten die Bewegung La Follettes jedoch als Ausgangspunkt für die Schaffung einer „Arbeiter- und Bauernpartei“, die sich immer weiter radikalisieren würde. Millionen Farmer, so die Prawda im Juli 1924, würden durch die Agrarkrise in den USA „freiwillig oder unfreiwillig auf einmal (!) zu der Arbeiterklasse hingestoßen.“ (10)

Die Kommunistische Partei und die Kommunistische Internationale erwogen nicht nur eine Unterstützung der Wahl LaFollettes, sondern sahen auch die Stunde zur Bildung einer „ArbeiterInnen- und Bauernpartei“ in den USA gekommen.

„Die Presse sprach andauernd über die nahe bevorstehende Bildung einer Arbeiter- und Farmerpartei in Amerika zum Sturze des Kapitals, auf einer nicht rein proletarischen, ,aber klassenmäßigen’ Grundlage. Was der ‚nicht proletarische, aber klassenmäßige’ Charakter bedeuten sollte, konnte kein Weiser weder diesseits noch jenseits des Ozeans deuten. Letzten Endes war das ja nur eine pepperisierte Ausgabe des Gedankens einer ‚gemeinsamen Arbeiter- und Bauernpartei’, auf die wir noch in Verbindung mit den Lehren der chinesischen Revolution ausführlicher zu sprechen kommen. Hier genügt es nur festzustellen, dass diese reaktionäre Idee von nichtproletarischen, aber klassenmäßigen Parteien voll und ganz der pseudolinken Politik des Jahres 1924 entsprungen ist, welche sich, da sie den Boden unter den Füßen verlor, an Radic, La Follette und an die aufgebauschten Zahlen der Bauerninternationale klammerte.“ (11)

Das opportunistische Abenteuer in den USA endete abrupt, nachdem sich die FührerInnen der „Progressiven Partei“ als Anti-KommunistInnenen erwiesen hatten und jede Unterstützung durch die KommunistInnen ablehnten. Damit verschwand auch das Projekt der ArbeiterInnen- und Bauernpartei in den USA stillschweigend von der Bildfläche, die von der Kommunistischen Partei vorsorglich schon gegründet worden war.

Die Politik des Jahres 1924 ist so wichtig, weil diese opportunistischen Fehler später in der chinesischen Revolution und bei der Charakterisierung der Guomindang (Kuomintang) in einem weit größeren, tragischen Maße wiederholt werden sollten.

Die Idee der ArbeiterInnen- und Bauernpartei selbst stellt keine „kluge Taktik“, sondern einen fundamentalen Bruch mit dem Marxismus dar. Es geht dabei nicht darum, ob KommunistInnen in eine solche Formation intervenieren sollen oder nicht. In den Diskussionen in den USA ging es darum, eine solche „Zwei-Klassen-Partei“ selbst zu schaffen. Das bedeutet jedoch, dass die KommunistInnen ihr Ziel, ja den Kampf um eine Partei, die auf einem revolutionären, sozialistischen Programm fußt, aufgeben müssen. Schließlich kann eine Partei, die sich einerseits auf das Proletariat, andererseits auf eine Klasse von KleineigentümerInnen und kleinen WarenproduzentInnen stützt, nicht konsequent kommunistisch, also für die Abschaffung der Warenproduktion, sein.

Eine solche Partei würde allenfalls eine linke Neuauflage der russischen SozialrevolutionärInnen darstellen – samt all ihrer inneren Widersprüche.

Die Kommunistische Internationale wandte sich nach dem Fiasko in den USA Ende 1924 von der Ausrichtung auf die Bauernschaft und der Schaffung von ArbeiterInnen- und Bauernparteien ab. Sie vollzog diesen Schritt aber aus rein empirischen Gründen, aufgrund des offenkundigen und peinlichen Scheiterns des opportunistischen Abenteuers. Eine gründliche Bilanz und Selbstkritik blieben aus. Kein Wunder also, dass sich die Tragödie wiederholen sollte.

Pilsudski in Polen

Ein weiteres, dramatischeres Beispiel für eine solche Fehleinschätzung ist die Anbiederung an die Militärregierung Pilsudski 1926. Die Kommunistische Internationale vollzog schon 1925 politisch eine Rechtswende, die sich in der Kodifizierung der Ideologie vom Aufbau des Sozialismus in einem Land und der rechten Politik in der Sowjetunion (inklusive der dafür notwendigen programmatischen Verrenkungen) selbst äußerte; sie forcierte die Bereicherung der mittleren und größeren Bauern auf dem Land und wandte sich gegen eine rasche Industrialisierung der Sowjetunion.

Außenpolitisch sind die wichtigsten Beispiele für diese Wende das „anglo-russische Gewerkschaftskomitee“ und die rechte, opportunistische Politik in China. Die strategische Ausrichtung auf die „demokratische Diktatur der ArbeiterInnen- und Bauern“, die Lenin und die Bolschewiki in der russischen Revolution hinter sich gelassen hatten, wurde wiederbelebt – nicht nur in kolonialen und halb-kolonialen Ländern wie China, Indien oder der Türkei, sondern auch in Polen.

Anschließend an die oben beschriebenen ersten Vorstöße sind die politischen Entwicklungen 1926 für die Diskussion gegenüber kleinbürgerlichen, „radikalen“ wie reaktionären Kräften entscheidend. In diesem Jahr putschte der polnische Marschall Pilsudsiki und errichtete eine bonapartistische Diktatur.

Bei seinem Staatsstreich im Mai 1926 stützte er sich nicht nur auf ganze Regimenter der polnischen Armee, sondern auch auf die Bauernschaft sowie unzufriedene Teile des städtischen Kleinbürgertums und der ArbeiterInnenklasse. Das korrupte, politisch instabile und wenig handlungsfähige Parteiensystem war den Massen verhasst. Die verschiedenen Fraktionen des polnischen „Liberalismus“ stritten im Parlament vor allem um ihre Pfründe und ihren Anteil an den Profiten in einem krisengeschüttelten kapitalistischen System.

Pilsudski, der schon im Krieg gegen die Rote Armee Staatschef und Oberkommandierender der Armee war, präsentierte sich als „Retter der Nation“ vor einem korrupten Parteiensystem – heute würde man „Establishment“ sagen. Der glühende Anti-Kommunist gab sich zugleich als „sozial“ und „volksnah“, wobei ihm seine Wurzeln im nationalistischen Flügel des polnischen Sozialismus (der PPS) zugutekamen. Die PPS selbst stand der Machtergreifung positiv gegenüber, auch wenn sie sich nach 1926 formell als Oppositionspartei präsentierte.

Die Polnische Kommunistische Partei, deren Führung sich dem Kurs der Sowjetbürokratie unter Stalin anzupassen suchte, interpretierte den Putsch Pilsudskis im Sinne der rechten Politik der Kommunistischen Internationale als einen Schritt zur „demokratischen Diktatur der ArbeiterInnen und Bauern“ und rief die ArbeiterInnenklasse zur Unterstützung der Machtergreifung auf.

Die Realität der Diktatur Pilsudiskis zwang die polnische Partei nicht nur zu einer raschen Korrektur, sondern sogar zu einer kritischen Bilanz ihres verheerenden Fehlers, ohne jedoch dessen Ursachen zu erfassen. Im Juli 1926 trat das Exekutivkomitee der KI zusammen und Warski legte im Namen der Partei eine Selbstkritik vor. In der Diskussion konnte auch Trotzki das Wort ergreifen. Sein Beitrag ist von Interesse, weil er die politischen Ursachen des Aufstiegs Pilsudiskis untersucht. Zweifellos enthält Trotzkis eigene Einschätzung die Schwäche, die Diktatur Pilsudskis (im Gegensatz zu Isaac Deutscher und der späteren polnischen Linksopposition) als Form des „Faschismus“ zu bezeichnen. Nichtsdestotrotz liefert Trotzki eine kurze, treffende Analyse des Zusammenwirkens von Krise, Radikalisierung im KleinbürgerInnentum und einer „präventiven Konterrevolution“. Zusammenfassend charakterisierte Trotzki den Putsch folgendermaßen:

„Das ist eine antiparlamentarische und vor allem antiproletarische Konterrevolution, mit deren Hilfe die niedergehende Bourgeoisie – und zumindest für einige Zeit nicht ohne Erfolg – versucht, ihre grundlegenden Positionen zu verteidigen und zu halten.“ (12)

Der Pilsduski-Putsch versuchte, so Trotzki, ähnlich wie der Faschismus in Italien (und am linken Flügel der bürgerlichen Revolution in Frankreich der Jakobinismus) die bürgerliche Ordnung mit den Mitteln einer kleinbürgerlichen Bewegung zu retten, die sich selbst gegen die traditionellen bürgerlichen parlamentarischen Herrschaftsformen wandte, die der Bourgeoisie nicht mehr die reibungslose Herrschaft sichern können. Aber die Bourgeoisie fürchtet zugleich die Turbulenzen, Erschütterungen, Verwerfungen, die eine solche Mobilisierung mit sich bringt. Das erklärt auch den Konflikt zwischen der rechten Reaktion vom rechten Populismus bis hin zum Faschismus einerseits und den traditionellen Parteien der Bourgeoisie andererseits, da die Errichtung einer autoritären oder bonapartistischen Herrschaft sowie eine Reorganisation der Herrschaftsform und Institutionen immer eine Periode der Instabilität einschließt (bis hin zur Institutionalisierung eines präventiven Bürgerkrieges).

In seinem Beitrag nimmt Trotzki dabei Bezug auf einen Einwand Warskis. Dieser weist darauf hin, dass die parlamentarische Demokratie doch die eigentliche politische Domäne des KleinbürgerInnentums wäre. Trotzki entgegnet darauf folgendermaßen:

„Jedoch nicht immer und nicht unter allen Bedingungen. Sie kann ihre Leuchtkraft auch verlieren, dahindämmern und mehr und mehr ihre Schwächen zeigen. Und da sich die Großbourgeoisie auch in einer Sackgasse befindet, wird die parlamentarische Demokratie zu einem Spiegel einer ausweglosen Situation und des Niedergangs der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Das Kleinbürgertum, das dem Parlamentarismus eine so große Bedeutung zugemessen hat, beginnt selbst, dessen Last zu fühlen und nach außerparlamentarischen Auswegen zu suchen. Der Pisludskismus ist ein Versuch, auf die Probleme des Kleinbürgertums eine außerparlamentarische Antwort zu geben. Aber darin liegt auch schon die Ursache für die unvermeidliche Kapitulation vor der Großbourgeoisie. (…) Auf den ersten Blick erscheint es, als würde sich das Kleinbürgertum mit dem Schwert in der Hand gegen das bürgerliche Regime wenden, aber seine Revolte endet mit der Übergabe der Macht an die große Bourgeoisie durch ihre eigenen Führer, jener Macht, die sie auf dem Weg des Blutbades ergriffen hat.“ (13)

Entscheidend ist die Betrachtung des Kleinbürgertum und der Mittelschichten in Krisenperioden, auch wenn Trotzki 1926 eine Tendenz an den Tag legt, diese Reaktionen unisono als mehr oder weniger entwickelte Formen des Faschismus zu charakterisieren. Ohne Probleme lässt sich die Analyse aber auch auf andere, nicht-faschistische Formen „populistischer“ Kräfte anwenden. KleinbürgerInnen und Mittelschichten (bis hin zu Teilen der ArbeiterInnenklasse) verlieren in der Krise ihr Vertrauen in die parlamentarische Demokratie und suchen nach „außerparlamentarischen“ Alternativen, die gegen die etablierten Formen demokratischer Herrschaft und die diese tragenden Parteien gerichtet sind.

Der Fehler der KP lag aber darin, dies als Ausdruck der wirklichen Bedürfnisse des KleinbürgerInnentums zu interpretieren und damit zu ignorieren, dass es vielmehr eine reaktionäre kleinbürgerliche Bewegung war, die nur zu einer Errichtung der Herrschaft der Großbourgeoisie, wenn auch in anderer Form (autoritäre Diktatur) führen konnte. Damit verweist er schon darauf, dass jede solche Bewegung, wo sie an die politische Macht kommt, dazu tendiert, autoritäre oder bonapartistische Herrschaftsformen zu etablieren, die politische Macht in „einer Hand“ zu konzentrieren und damit die Machtmittel gegen die ArbeiterInnenklasse weiter zu zentralisieren und zu festigen.

Der Grundfehler in der Analyse besteht dabei darin, das KleinbürgerInnentum oder die Mittelschichten als eine selbstständige politische Kraft zu betrachten, die unabhängig von den Hauptklassen ein eigenes Regime, im Falle der stalinisierten Kommunistischen Internationale, eine „demokratische Diktatur“ errichten könne.

Deutschland: „Volksrevolution“ oder proletarische Revolution?

Auch die KPD vertrat in den 1920er Jahren und insbesondere auch ihrer ultra-linken Periode einige Abweichungen Richtung Populismus und Nationalismus, die verdeutlichen, welche Fehler eine falsche Klassenanalyse mit sich bringt.

Dabei wurden zwei miteinander verbundene Fragestellungen diskutiert. Erstens warfen die Bedingungen des Versailler Friedens die Frage auf, ob Deutschland noch eine imperialistische Macht oder vielleicht schon eine Halbkolonie geworden wäre und somit der Kampf gegen das „Diktat von Versaille“ eine ungewöhnliche Form des Antiimperialismus darstellen würde. Aus dieser (falschen) Analyse speiste sich nicht nur die reaktionäre Strömung des „National-Bolschewismus“, sondern auch die Position Thalheimers, der der deutschen Bourgeoisie im Kampf gegen die Ruhr-Besetzung eine „objektiv revolutionäre Außenpolitik“ attestierte. Die sogenannte „Schlageter-Rede“ Radeks vor dem Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale stellte eine extrem opportunistische Spielart der Anpassung an die nationalistischen Stimmungen des Kleinbürgertums dar.

Schlageter war ein Angehöriger der Freikorps und der „Großdeutschen Arbeiterpartei“, einer NSDAP-Tarnorganisation. Im Widerstand gegen die Ruhrbesetzung durch Frankreich im Jahr 1923 wurde er festgenommen, von einem französischen Militärgericht wegen Sabotage und mehrerer Sprengstoffanschläge verurteilt und exekutiert.

In seiner Rede vom Juni 1923 ehrt Radek den „mutigen Soldaten der Konterrevolution“, der es verdiene, „von uns Soldaten der Revolution männlich-ehrlich gewürdigt zu werden.“ Und weiter: „Wir werden alles tun, daß Männer wie Schlageter, die bereit waren, für eine allgemeine Sache in den Tod zu gehen, nicht Wanderer ins Nichts, sondern Wanderer in eine bessere Zukunft der gesamten Menschheit werden. (…) Die Sache des Volkes zur Sache der Nation gemacht, macht die Sache der Nation zur Sache des Volkes.“ (14)

Radek und für einige Zeit auch die KPD-Führung hofften, durch eine extreme Anpassung an die rechten ArbeiterInnen und KleinbürgerInnen diese für „die Sache der Revolution“ zu gewinnen. In Wirklichkeit hat dieser Kurs wie alle anderen nationalistischen Anpassungen nur die eigenen Reihen verwirrt und den Internationalismus geschwächt. Zugute kam diese Linie den Rechten, die sie als Bestätigung ihrer nationalistischen Ideologie ausschlachteten, und der Sozialdemokratie, die jedes dieser reaktionären Abenteuer ausnutzte, um die reformistischen ArbeiterInnen gegen die Agitation und Propaganda der KPD zu immunisieren. Oft genug stellten die nationalistischen Anpassungen die Grundlage für die andere Seite der Sozialfaschismustheorie dar.

Besonders dramatisch zeigte sich diese Anbiederung beim sog. „Roten Volksentscheid“ und der „Programmerklärung der KPD zur nationalen und sozialen Befreiung des Deutschen Volkes“ (15) aus dem Jahr 1930. Die Revolution wurde zur „Volksrevolution“. Diese nationalistische Propaganda war die Kehrseite der ultralinken Weigerung, die Sozialdemokratie zur Bildung einer Einheitsfront gegen den Faschismus aufzufordern. Die Ersetzung des Begriffs der proletarischen Revolution durch die „Volksrevolution“ kritisierte Trotzki scharf und klar:

„Natürlich ist jede große Revolution eine Volksrevolution oder nationale Revolution in dem Sinne, daß sie alle lebensfähigen und schöpferischen Kräfte der Nation um die revolutionäre Klasse schart, die Nation um einen neuen Kern herum organisiert. Aber das ist keine Kampfparole, sondern eine soziologische Beschreibung der Revolution, die ihrerseits genaue und konkrete Begriffe erfordert. ‚Volksrevolution’ als Slogan ist eine Leerformel, Scharlatanerie; macht man den Faschisten auf diese Art Konkurrenz, so ist der Preis, daß man die Köpfe der Arbeiter mit Verwirrung erfüllt.“ (16)

Und weiter:

„Nun die neue Wendung: Volksrevolution anstelle der proletarischen Revolution. Der Faschist Strasser sagt: 95 Prozent der Bevölkerung haben Interesse an der Revolution, folglich ist das keine Klassen-, sondern eine Volksrevolution. Thälmann stimmt in den Chor ein. Die Arbeiter-Kommunisten müßten dem faschistischen Arbeiter sagen: Natürlich werden 95, wenn nicht 98 Prozent der Bevölkerung vom Finanzkapital ausgebeutet. Aber diese Ausbeutung ist hierarchisch organisiert: es gibt Ausbeuter, Nebenausbeuter, Hilfsausbeuter usw. Nur dank dieser Hierarchie herrschen die Oberausbeuter über die Mehrheit der Bevölkerung. Damit sich die Nation tatsächlich um einen neuen Klassenkern reorganisieren kann, muß sie ideologisch reorganisiert werden, und das ist nur möglich, wenn sich das Proletariat selbst nicht im ‚Volk’ oder in der ‚Nation’ auflöst sondern im Gegenteil ein Programm seiner proletarischen Revolution entwickelt und das Kleinbürgertum zwingt, zwischen zwei Regimen zu wählen. Die Losung der Volksrevolution lullt das Kleinbürgertum ebenso wie die breiten Massen der Arbeiter ein, versöhnt sie mit der bürgerlich-hierarchischen Struktur des ‚Volkes’ und verzögert ihre Befreiung. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen in Deutschland vermischt die Losung einer ‚Volksrevolution’ die ideologische Demarkation zwischen Marxismus und Faschismus und versöhnt Teile der Arbeiterschaft und des Kleinbürgertums mit der faschistischen Ideologie, da sie ihnen gestattet, zu glauben, daß sie keine Wahl treffen müssen, wenn es doch in beiden Lagern um eine Volksrevolution geht.“ (17)

Die Methode, die der Politik der KPD unter Thälmann (und teilweise schon davor) zugrunde lag, stellt nicht nur eine politische Anbiederung, sondern auch einen Bruch mit dem marxistischen Verständnis von der Klassenlage des KleinbürgerInnentums dar. Im vorrevolutionären Russland war es für die Fähigkeit des Bolschewismus, das KleinbürgerInnentum in einer proletarischen Revolution zu führen, also die Bauernschaft zu gewinnen, entscheidend, eine unabhängige, eigenständige proletarische Politik zu vertreten und eine dementsprechende Klassenpartei aufzubauen. Das bedeutete nicht, die Nöte und Forderungen kleinbürgerlicher Schichten zu ignorieren; aber die ArbeiterInnenklasse kann diese nur führen, wenn sie konsequent ihr eigenes Klassenprogramm und ihre eigene Klassenpolitik verficht. In Trotzkis Worten: sie muss die Mittelschichten vor eine Wahl stellen zwischen bürgerlichem oder proletarischem Regime.

Der theoretische Vordenker des Linkspopulismus, Ernesto Laclau, greift genau diese Position des revolutionären Marxismus in seinem Buch „Politik und Ideologie des Marxismus“ an. So unterschiedlichen TheoretikerInnen und Linken wie Trotzki, Luxemburg, Poulantzas, Bordiga und Grossmann, ja selbst dem Austro-Marxismus wirft er „Klassenreduktionismus“ vor. Daher verteidigt er auch den Kurs der Schlageter-Rede und Thälmanns National-Kommunismus gegen seine KritikerInnen. Laclau gesteht zwar opportunistische Fehler bei deren Umsetzung zu, sein Hauptkritikpunkt an Radek oder Thälmann besteht aber darin, dass sie sich vom „Klassenreduktionismus“ nicht wirklich frei gemacht und die Anpassung an kleinbürgerliche Schichten nur als taktische Zugeständnisse verstanden hätten. Darauf aufbauend formuliert er seine Alternative:

„Die Arbeiterklasse hätte sich als jene Kraft präsentieren müssen, die die historischen Kämpfe des deutschen Volkes zu ihrem Abschluß führt, und zum Sozialismus als deren Vollendung: Sie hätte auf die Grenzen des Preußentums hinweisen müssen, dessen Zweideutigkeiten und Kompromisse mit den alten herrschenden Klassen zur nationalen Katastrophe geführt hatten, und sie hätte an alle popularen Schichten appellieren müssen, für eine Renaissance zu kämpfen, die sich in gemeinsamen ideologischen Symbolen verdichten ließe: Nationalismus, Sozialismus und Demokratie.“ (18)

Zustimmend zitiert Laclau Dimitrows Rede auf dem 7. Weltkongress der Kommunistischen Internationale und begrüßt die Volksfrontpolitik als einen, wenn auch unvollständigen Bruch mit dem „Klassenreduktionismus“.

In der Tat ist die Frage des Verständnisses des KleinbürgerInnentums und seiner lohnabhängigen Schichten eine entscheidende zum Verständnis populistischer Bewegungen. Das unterschiedliche Verständnis markiert auch einen ausschlagebenden Bruchpunkt zwischen Marxismus und Populismus.

Für den Populismus besteht die Antwort auf die Radikalisierung des KleinbürgerInnentums darin, einen strategischen Block des „Volkes“ – von ArbeiterInnenklasse, KleinbürgerInnentum und sogar Teilen der Bourgeoisie – gegen die „Elite“, gegen den bestehenden reaktionären Machtblock zu bilden. Die Politik der KPD in den 1920er Jahren wies – wenn auch auf Grundlage eines formalen Bekenntnisses zur ArbeiterInnenklasse als einzig konsequent revolutionärer Kraft – immer wieder Abgleitflächen zu reaktionären Strömungen des KleinbürgerInnentums und auch zum Faschismus auf.

Die Auswirkungen sind dabei schon verheerend genug: politisch-ideologische Anpassung und die Verwirrung der ArbeiterInnenklasse. Mit der Volksfrontpolitik nimmt das systematische Züge an. An die Stelle eines Zick-Zack-Kurses und eines Abenteurertums, das oft nur episodischen Charakter trug, tritt eine grundlegende Strategie, die zur Unterordnung der proletarischen Revolution unter ein Bündnis mit dem „demokratischen“ Flügel der Bourgeoisie führen muss.

Die Volksfronten in Frankreich und Spanien in den 1930er Jahren führten zur Unterordnung der ArbeiterInnenparteien unter jene des KleinbürgerInnentums und der Bourgeoisie und zu politischen Katastrophen. Die Herrschaft der Volksfront nimmt dabei selbst bonapartistische Züge an, weil die widerstreitenden Klassenkräfte, die sie formieren, nicht nur durch ideologische Verkleisterung gebändigt werden können, sondern die „gemeinsamen“, das heißt bürgerlichen Interessen, im Notfall durch den Staat und seine „Autorität“ gegen die lohnabhängigen und unterdrückten Massen verteidigt werden müssen.

Chinesische Revolution und Guomindang

Die systematische Klassenkollaboration, die in den 1930er Jahren in Frankreich und Spanien als „Volksfront“ ihren konterrevolutionären Charakter offenbarte, wurde von der stalinistischen Kommunistischen Internationale in den kolonialen und halb-kolonialen Ländern schon in den 1920er Jahren ausprobiert. Ihre ersten dramatischen Auswirkungen hatte sie in China im Bündnis mit der Guomindang.

Die Guomindang war 1912 unter Sun Yatsen gegründet worden. Sie war die erste bürgerliche Partei des Landes und umfasste ein breites Spektrum, das von offenen AnhängerInnen der Kapitalistenklasse über Warlords bis zu linkeren intellektuellen Strömungen reichte. Das ideologische Band der Guomindang bildeten die „drei Prinzipien des Volkes“ (Nationalismus, Demokratie und Volkswohlfahrt), die letztlich die Interessen einer ökonomisch schwachen Bourgeoisie zum Ausdruck brachten, die als „gleichberechtige Partnerin“ von den imperialistischen Mächten anerkannt werden wollte.

Unter „Nationalismus“ verstand Sun Yatsen, der Schöpfer der „drei Prinzipien“, von Beginn an nicht nur das Recht auf „Gleichheit“ mit den imperialistischen Mächten, sondern auch auf Vorherrschaft der Han-ChinesInnen in einem Groß-China. Unter „Demokratie“ schwebte ihm keine „Volksherrschaft“, sondern die politische Erziehung der Masse durch aufgeklärte FührerInnen seines Schlages vor. Die „Volkswohlfahrt“ schließlich sollte die Klassengegensätze mildern. Den Klassenkampf lehnte die Sun-Yatsen-Ideologie kategorisch ab. Stattdessen wurde der „Ausgleich“ zwischen allen gesellschaftlichen Kräften versprochen. So sollte zum Beispiel eine Landreform den Armen ihre Rechte sichern, zugleich aber auch denen, die Eigentum besaßen, keine Nachteile bringen.

Der chinesische Kommunismus entwickelte sich ursprünglich aus einer Kritik an und Abgrenzung von der Ideologie der Guomindang. Die 1921 gegründete Kommunistische Partei Chinas charakterisierte sie korrekt als bürgerliche Partei, mit der jedoch die Zusammenarbeit gegen den Imperialismus angestrebt wurde.

„Die Zusammenarbeit mit nationalistischen Bewegungen war unter der äußerst wichtigen Bedingung erstrebenswert und notwendig, dass die Unabhängigkeit der proletarischen Organisation erhalten blieb, ‚sei es auch in ihrer Keimform’.“ (19)

Schon bald sollte die KP Chinas unter dem Druck der Kommunistischen Internationale und ihrer BeraterInnen einen Schwenk zum Eintritt in die Guomindang vollziehen. 1922 traten die Kader einzeln ein, 1923 wurde der Beitritt formell beschlossen. Doch nicht nur das. Während das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale im Januar 1923 noch davon sprach, dass die KommunistInnen, auch wenn sie in der Guomindang arbeiten, ihr eigenes Banner keinesfalls einrollen sollten, änderte sich auch diese Position im Laufes des Jahres. Der dritte Kongress der KP Chinas erklärte, dass „die Guomindang die zentrale Kraft der nationalen Revolution sein und eine führende Position einnehmen sollte.“ (20)

Damit war nicht nur der Eintritt vollzogen. Gleichzeitig änderten die KP Chinas und die Kommunistische Internationale auch ihre Einschätzung der Klassendynamik der Revolution. Da die chinesische Revolution bürgerlich sein werde, müsse die Bourgeoisie auch deren führende Kraft sein. Die Argumentationslinie der Menschewiki aus den Jahren 1905 und 1917 wurde zur jenigen der von Stalin geführten Kommunistischen Internationale. Damit blieb der KP nur die Rolle der loyalen Unterstützerin.

Doch nicht nur die menschewistische Etappentheorie der Revolution wurde wiederbelebt, die KP Chinas und die Kommunistische Internationale definierten auch den Klassencharakter der Goumindang neu. Sie galt nun nicht mehr als bürgerliche Partei.

„Die Komintern tat dasselbe und rationalisierte dieses Verwischen der Klassengrenzen, indem sie die Theorie entwickelte, die Guomindang sei nicht die Partei der Bourgeoisie, sondern eine Partei, in der alle Klassen sich vereinigen, um gemeinsame Sache gegen den ausländischen Eindringling zu machen. Diese Auffassung, die zunächst in der Praxis etabliert wurde, fand bald Eingang in die offiziellen Dokumente der Komintern und bestimmte die gesamte zukünftige Richtung ihrer Strategie.“ (21)

Die Kommunistische Internationale stellte ab 1924 die Guomindang als Vorbild für weitere Länder Asiens hin, indem sie diese als Modell zur Schaffung von „ArbeiterInnen- und Bauernparteien“ propagierte. Stalin selbst brachte die Position folgendermaßen auf den Punkt:

„Von der Politik der nationalen Einheitsfront müssen die (…) Kommunisten zur Politik eines revolutionären Blocks zwischen den Arbeitern und der Kleinbourgeoisie übergehen. Dieser Block kann in solchen Ländern die Form einer Einheitspartei, einer Arbeiter-und-Bauernpartei annehmen, etwa nach Art der Kuo-min-tang.“ (22)

Galt die Guomindang noch am Beginn des Eintritts als bürgerliche Partei, so war wenige Jahre später nicht nur ihr Klassencharakter vollkommen auf den Kopf gestellt, die bürgerliche Klasse schien überhaupt aus der Partei verschwunden zu sein. Dumm nur, dass sie in der chinesischen Revolution als Schlächterin der ArbeiterInnenklasse umso sichtbarer auftrat. Trotzki kritisiert diesen Bruch mit dem Marxismus scharf und verweist zugleich die Guomindang als „maskierte Partei“:

„Die berüchtigte Idee der ‚Arbeiter-und-Bauern’-Parteien scheint speziell zur Maskierung der bürgerlichen Parteien geschaffen zu sein, die gezwungen sind, Rückhalt bei den Bauern zu suchen, aber auch bereit sind, Arbeiter in ihre Reihen aufzunehmen. Als nunmehr klassischer Typ einer solchen Partei ist die Guomindang für alle Zeiten in die Geschichte eingegangen.“ (23)

Der Uminterpretation der Guomindang zu einer „ArbeiterInnen- und Bauernpartei“ oder einer „Partei aller Klassen“ liegt auch eine falsche Vereinfachung der politischen Gegensätze im Land zugrunde. In der Kommunistischen Internationale wurde die Lage in China oft als eine Konfrontation zweier Lager interpretiert, die sich unversöhnlich gegenüberstünden. Einerseits das Lager der ImperialistInnen und MilitaristInnen sowie einiger Schichten der chinesischen Bourgeoisie, andererseits das Lager der ArbeiterInnen, HandwerkerInnen, KleinbürgerInnen, StudentInnen, der Intelligenz und einiger Gruppen der national gesinnten Bourgeoisie, gewissermaßen die Urform des „Blocks der vier Klassen“. Trotzki stellt dieser vereinfachten Sicht seine Position gegenüber:

„In der Tat gibt es in China drei Lager: die Reaktion, die liberale Bourgeoisie und das Proletariat, das um Einfluß auf die unteren Schichten des Kleinbürgertums und der Bauernschaft kämpft.“ (24)

Trotzki betrachtet hier den Kampf um die chinesische Revolution als Kampf der gesellschaftlichen Hauptklassen, die um den Einfluss in den kleinbürgerlichen Massen ringen. Die Vorstellung zweier klassenübergreifender Lager hingegen bedeutet, die selbstständige Politik der ArbeiterInnenklasse im „Block“ aufzulösen und hintanzustellen. Parteien wie die Guomindang tragen im Übrigen dazu bei, eine solche falsche Einheit und den Schein zweier Lager selbst zu erzeugen:

„Die Guomindang in ihrer jetzigen Gestalt schafft die Illusion zweier Lager, indem sie an der nationalrevolutionären Maskierung der Bourgeoisie mitwirkt und folglich deren Verrat erleichtert.“ (25)

Nur wenn die Revolution als eine begriffen wird, in der die ArbeiterInnenklasse um die politische Führung über die Volksmassen (also die Bauernschaft) mit den verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie (Liberale und Reaktion) ringt, kann auch die Frage der Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse, gestützt auf die Bauernschaft, als Aufgabe verstanden werden. Genau diese Sicht auf die eigentliche Dynamik der chinesischen Revolution wird verschleiert, wenn sie als Kampf zweier bürgerlicher „Lager“, eines „fortschrittlichen“ und eines „reaktionären“, begriffen wird. Dann kann die Revolution praktisch nur mit Sieg der Reaktion oder der zum „Volk“ verklärten bürgerlich-demokratischen Bourgeoisie enden. Damit ist die Unterordnung des Proletariats folgerichtig – einschließlich all seiner tragischen Opfer.

Der reaktionäre Gehalt der „klassenübergreifenden“ oder der „ArbeiterInnen- und Bauernpartei“ wird hier ebenso offenbar wie jener der Vorstellung, dass sich in einem Land nicht antagonistische Klasse gegenüberstünden, sondern „Lager“, die ihrerseits heterogene Klassenkräfte als scheinbar gleiche PartnerInnen umfassen. In Wirklichkeit kann das nur bedeuten, dass die ArbeiterInnenklasse ihre unmittelbaren wie historischen Interessen den anderen Klassen im Lager, also deren bürgerlicher Führung, unterordnet.

Die Kommunistische Internationale hat den chinesischen Fehler in zahlreichen Kolonien und Halbkolonien wiederholt. Aber auch in der Volksfrontpolitik findet sich das falsche Konzept verschiedener „Lager“ wieder. So wird z. B. der Kampf gegen den Faschismus nicht als einer zwischen der Bourgeoisie, einer reaktionären Massenbewegung (die letztlich auch zu einer neuen bürgerlichen Ordnung führt) und der ArbeiterInnenklasse begriffen, die um die politische Führung und klassenmäßige Neuorganisation des Landes ringen, sondern auf einen zwischen „Faschismus“ und „Demokratie“ verkürzt. In der spanischen Revolution wurden ArbeiterInnenklasse und Bauernschaft mit äußerster Brutalität und dem ganzen repressiven Apparat des Stalinismus in die Volksfront gezwungen (oder liquidiert) – mit dem Resultat einer vernichtenden Niederlage, die in ihrer historischen Bedeutung jener der chinesischen Revolution gleichkommt.

Volksfrontparteien in Lateinamerika

Ende der 1930er Jahre zwangen die Entwicklungen in Mexiko und anderen lateinamerikanischen Ländern die revolutionäre Linke zu einer Beschäftigung mit links-bürgerlichen Bewegungen und Regimen, die sich auch auf bedeutende Teile der Bauernschaft und der ArbeiterInnenklasse stützten.

Bedeutendes Beispiel für diese Entwicklung waren die 1924 unter Führung des Peruaners Haya de la Torre gegründete APRA, die auf ihrem Höhepunkt in Peru, Chile, Kuba, Argentinien, Mexiko, Costa Rica und Haiti aktiv war. Ursprünglich war sie eine populistische, anti-imperialistische Bewegung auf der Basis eines Fünf-Punkte-Programms: Aktionen gegen den Yankee-Imperialismus; für Industrialisierung und Landreform; lateinamerikanische Einheit; Internationalisierung des Panama-Kanals und Solidarität aller unterdrückten Völker und Klassen. Präsentierte sich die APRA in den 1930er Jahren noch als revolutionär-demokratisch, so vollzog de la Torre nach dem Zweiten Weltkrieg einen scharfen Schwenk nach rechts, um die Legalisierung seiner Partei zu erreichen.

Das andere wichtige Beispiel der Entwicklung linker populistischer Parteien in Lateinamerika der Zwischenkriegszeit stellt die mexikanische PRM dar (Partido de la Revolución Mexicana; dt: Partei der mexikanischen Revolution). Gegründet wurde die Partei 1929 vom damaligen Präsidenten Mexikos, Plutarco Elías Calles. Unter Cárdenas, der von 1934–1940 Präsident war, wurde die Partei nicht nur umbenannt, sondern auch von oben vereinheitlicht und straff reorganisiert. 1946 hieß sie schließlich „Partido Revolucionario Institucional (PRI; dt: Partei der Institutionalisierten Revolution).

Trotzki konnte zwischen der APRA, der PRM, der Guomindang und den SozialrevolutionärInnen leicht Parallelen ziehen.

Gegen allzu euphorische Illusionen in den „linken“ Populisten de la Torre unterzogen Trotzki und Diego Rivera sein Programm einer scharfen Kritik. Dabei begnügten sie sich nicht damit, de la Torre nachzuweisen, dass er kein Sozialist war. Vielmehr zeigten sie, dass er auch kein „konsequenter“ Demokrat war und sein bürgerlicher „Antiimperialismus“ auf tönernen Füßen stand.

Ähnlich wie kleinbürgerliche oder bürgerliche NationalistInnen heute kritisierte de la Torre nicht nur den Chauvinismus und die Anpassung der ArbeiterInnenklassen der imperialistischen Länder an „ihre Bourgeoisie“ scharf. Er folgerte daraus, dass die Lohnabhängigen in den westlichen Ländern überhaupt nicht zur gemeinsamen Aktion und zum solidarischen Kampf gegen den Imperialismus fähig wären, also nicht zu einer revolutionären Klasse werden könnten.

Die Massen Lateinamerikas sollten daher ihre Hoffnungen auf einen gemeinsamen Kampf mit dem internationalen Proletariat fallen lassen und stattdessen auf die klassenübergreifende Einheit des „Volkes“ – der ArbeiterInnen, der Bauern und der „nationalen Bourgeoisie“ – setzen. Daher war die APRA auch von Beginn an als eine klassenübergreifende Partei konzipiert, in der ähnlich wie in der Guomindang nicht die Masse der bäuerlichen, kleinbürgerlichen oder proletarischen AnhängerInnen, die sich als KämpferInnen und AktivistInnen bewähren sollten, sondern eine kleine Schicht bürgerlicher Intellektueller das Sagen hatte.

Hier offenbart sich eine reaktionäre Facette des linken Populismus und des kleinbürgerlichen Nationalismus, die auch heute noch weit verbreitet ist. Während scheinbar radikal der ArbeiterInnenklasse in den imperialistischen Ländern jede Möglichkeit zur revolutionären Entwicklung abgesprochen wird, wird gleichzeitig auch die Notwendigkeit der Klassenunabhängigkeit in den halb-kolonialen und kolonialen Ländern beiseitegeschoben. Die ArbeiterInnenklasse geht in der „Volkspartei“, im „Volk“ auf. In Analogie zur französischen Volksfront charakterisiert Trotzki daher auch Parteien wie die APRA als eine „Volksfront in Parteiform“.

„Die Goumindang in China, die PRM in Mexiko und die APRA in Peru sind sehr ähnliche Organisationen. Sie sind die Volksfront in der Form einer Partei.“ (26)

Das zweite mit dieser scheinbar „radikalen“ Haltung gegenüber der westlichen ArbeiterInnenklasse verbundene Problem besteht darin, dass sich auch PopulistInnen vom Schlage de la Torres in der Stunde der Not, als zum Beispiel die Gefahr des Vormarsches des Faschismus in Lateinamerika drohte, nach internationalen Verbündeten umsehen müssen. Da es die globale oder die US-amerikanische ArbeiterInnenklasse nicht sein kann, findet der „Anti-Imperialist“ de la Torre die Retterin der Völker Lateinamerikas bei einer anderen Klasse, der imperialistischen Bourgeoisie der USA unter Roosevelt. Darauf verweisen Trotzki und Rivera, wenn sie de la Torre als „schlechten Demokraten“ bezeichnen. An diesem Beispiel zeigt sich nämlich einmal mehr, dass die Bourgeoisie der unterdrückten Nationen zu einem konsequenten Anti-Imperialismus, zu einem konsequenten Kampf für die bürgerliche Revolution nicht fähig ist, dass sie im Zweifelsfall den Beistand der herrschenden Klasse der imperialistischen Länder sucht.

Dies hängt unmittelbar mit den Klassenzielen der halb-kolonialen Bourgeoisie selbst zusammen. Sie richtet sich gegen den Imperialismus nur insofern, als sie selbst zu einer mächtigeren Kraft – im Idealfall zu einer imperialistischen Bourgeoisie – aufsteigen will. Dies ist, so weit bleibt die bürgerliche Klasse der unterdrückten Länder „realistisch“, nur in Ausnahmefällen und mit viel Risiko möglich, da die globalen Machtbeziehungen selbst grundlegend verändert werden müssten. Daher sucht die Bourgeoisie der halb-kolonialen Länder, selbst wenn sie Maßnahmen gegen das Auslandskapital oder einzelne imperialistische Länder ergreift, immer auch nach einem Kompromiss, letztlich nur einen etwas sonnigeren Platz in der imperialistischen Arbeitsteilung.

Die „Parteien in Form der Volksfront“ müssen dieser Zielsetzung entsprechen. Das betrifft einerseits ihre klassenversöhnlerische, populistische Ideologie. Andererseits muss auch in der inneren Organisation die Vorherrschaft der bürgerlichen Kräfte gesichert sein. Die interne Parteidemokratie, sofern vorhanden, wird daher immer eingeschränkt und trägt notwendigerweise einen plebiszitären Charakter. Fraktionen und politische Strömungen stehen dem entgegen.

Die „Demokratie“ wird stattdessen auf einzelne charismatische FührerInnen zugeschnitten, die sich durch ständige Zustimmung bestätigen lassen. Caudillismus und politischer Machismus sind keine zufälligen Erscheinungen, sondern folgerichtige Ausdrücke des inneren Verhältnisses zwischen den widerstreitenden Kräften einer solchen Partei. So wie im bonapartistischen Regime der „starke Mann“ scheinbar über den Klassen steht, so verlangt die volksfrontartige Partei nach einer Führungsfigur, die scheinbar über ihren Fraktionen, also über den Klassen in der Partei, steht – und auf diese Art die Hegemonie bürgerlicher Interessen sichert.

Anders als den imperialistischen Ländern, wo die Volksfront eines der letzten Mittel gegen die proletarische Revolution darstellt, muss die Volksfront in Lateinamerika wie generell in der halb-kolonialen Welt differenzierter betrachtet werden:

„Natürlich hat die Volksfront in Lateinamerika nicht denselben reaktionären Charakter wie in Frankreich oder Spanien. Sie ist zweiseitig. Sie kann eine reaktionäre Eigenschaft aufweisen, insofern sie gegen die ArbeiterInnen gerichtet ist; sie besitzt ein aggressives Merkmal, insofern sie gegen den Imperialismus gerichtet ist.“ (27)

Das liefert nicht nur die Grundlage, sondern auch die Notwendigkeit der gemeinsamen Aktion, der anti-imperialistischen Einheitsfront im Kampf gegen nationale Unterdrückung, gegen innere und äußere Reaktion – bei gleichzeitiger Wahrung der eigenen politischen Unabhängigkeit. Ziel muss jedoch trotzdem immer das Zerbrechen der illusorischen „Einheit“ der Klassen, die Errichtung einer eigenständigen, revolutionären ArbeiterInnenpartei sein.

Im Zusammenhang mit der mexikanischen PRM analysiert Trotzki jedoch nicht nur ein populistische Partei in Opposition (wie die APRA), sondern an der Regierung. Die Besonderheiten dieser Rolle hängen dabei selbst mit dem Klassencharakter der Bourgeoisie in den halb-kolonialen Ländern zusammen.

„In den industriell rückständigen Ländern spielt das Auslandskapital eine entscheidende Rolle. Daher auch die relative Schwäche der nationalen Bourgeoisie im Verhältnis zur nationalen ArbeiterInnenklasse… Die Regierung schwankt zwischen ausländischem und heimischem Kapital, zwischen einer schwachen nationalen Bourgeoisie und einem relativ machtvollen Proletariat. Dies verleiht der Regierung einen bonapartistischen Charakter eigener Art (sui generis). Sie erhebt sich sozusagen über die Klassen. Tatsächlich kann sie entweder regieren, indem sie sich zum Instrument des ausländischen Kapitalismus macht und das Proletariat an die Ketten eine Polizeidiktatur fesselt, oder indem sie gegenüber dem Proletariat manövriert und sogar so weit geht, diesem Zugeständnisse zu machen, und sich daher die Möglichkeit gewisser Freiheiten gegenüber den ausländischen KapitalistInnen verschafft.“ (28)

Wo eine solche bonapartische Regierung gegen das imperialistische Kapital vorgeht, in Konflikt mit der Reaktion gerät oder fortschrittliche Reformen (Verstaatlichung, Landreform, …) durchführt, eröffnet sich die Möglichkeit, ja Notwendigkeit, gemeinsam gegen die Reaktion zu kämpfen, müssen Forderungen an die populistische Partei und Regierung gestellt werden, um den Kampf voranzutreiben. Dabei müssen auch demokratische Spielräume wie die zugestandenen Mitbestimmungsrechte auf revolutionäre Art genutzt werden, wie Trotzki betont. Aber all das muss immer mit dem Kampf um die Unabhängigkeit der ArbeiterInnenklasse verbunden werden, um die Partei aus der Umklammerung in der Volksfront zu lösen.

Mehr noch als die oppositionelle populistische Partei tendiert nämlich die Volksfrontpartei an der Regierung dazu, die ArbeiterInnenklasse an den Rand zu drängen, selbst wenn sie sich anti-imperialistisch oder fortschrittlich gibt und progressive Reformen durchführt.

Ein Mechanismus besteht darin, dass die „Volksfrontpartei“ und erst recht ein bonapartistisches Regime der besonderen Art die Bauernschaft als gesellschaftliche Kraft zur Disziplinierung und Unterordnung der ArbeiterInnenklasse nutzt:

„Selbst unter diesen halbbonapartistisch-demokratischen Regierungen benötigt der Staat die Unterstützung der Bauernschaft und diszipliniert durch das Gewicht der Bauern die ArbeiterInnen.“ (29)

Hinzu kommt, dass die populistische Partei an der Macht über ganz andere Mittel zur Integration der ArbeiterInnenklasse und zur Ausschaltung oppositioneller Strömungen verfügt als eine Oppositionspartei. Die links-bonapartistischen Regime drängen auf die Verschmelzung von bürgerlichem Staat und ArbeiterInnenorganisationen, auf die systematischen Inkorporation nicht nur der zur „Einheitspartei“ werdenden populistischen Partei, sondern auch der Gewerkschaften.

Die historische Erfahrung mit links-nationalistischen und populistischen Regimen zeigt weitere, für die Politik der ArbeiterInnenklasse wesentliche Phänomene. Erstens dürfen „Demokratie“ und „Halbbonapartismus“ bzw. Bonapartismus sui generis nicht starr als einander ausschließende Gegensätze gefasst werden. Vielmehr kombiniert der linke Bonapartismus oft beide und schafft somit auch eine Quelle für demokratische Illusionen in sein Regime.

Zweitens können, wie nicht zuletzt die Geschichte Mexikos zeigt, linke bonapartistische Regime zu rechten, pro-imperialistischen Parteien mutieren – und die Unterordnung der ArbeiterInnenklasse unter die „Volksmasse“, die Verstaatlichung der Gewerkschaften können zu einer totalitären Herrschaftsform beitragen.

Trotzkis Analyse der chinesischen Revolution und der Lage in Lateinamerika hilft, die gesellschaftlichen Wurzeln des Populismus, die Entstehung rechter wie linker kleinbürgerlicher Bewegungen oder volksfrontartiger Parteien zu verstehen. Gerade indem er sie in Verbindung zu den Klassenverhältnissen setzt, vermag er herauszuarbeiten, dass die scheinbar klassenübergreifende Partei und Formation im Endeffekt immer eine ist, die die ArbeiterInnenklasse an einen Flügel der Bourgeoisie – entweder direkt über die bürgerlichen Kräfte in einer „Volksfront in Parteiform“ oder über das Kleinbürgertum – bindet und dieser unterordnet.

Dass sich diese Parteien in Klassenkämpfen, revolutionären Zuspitzungen oder an der Regierung an einem bestimmen Punkt offen gegen die ArbeiterInnenklasse wenden, ist daher kein Zufall, sondern entspringt der inneren Notwendigkeit jeder populistischen Partei. Sie ist in letzter Instanz eine bürgerliche Partei und damit auch Vertreterin der Interessen der herrschenden Klasse. Bündnisse der ArbeiterInnenklasse – so notwendig sie auch sein mögen – können immer nur begrenzter und zeitweiliger Art sein und sind nur auf der Basis der politischen Unabhängigkeit der Klasse zulässig.

Populismus

Auch wenn Lenin und Trotzki selbst nur selten den Begriff des Populismus verwenden, können wir doch einige Schlussfolgerungen aus ihrem Verständnis dieses politischen Phänomens ziehen.

Die historische Grundlage einer marxistischen Analyse des Populismus setzt sich aus drei Teilen zusammen. Zum ersten der Auseinandersetzung mit Kräften, die im Widerstand gegen kapitalistische Umwälzungen ein gemeinsames Interesse des Volkes an einem idealisierten, harmonischen und natürlichen Zustand der Gesellschaft vortäuschen. Das wichtigste Beispiel, auch für die Taktiken der KommunistInnen gegen solche Kräfte, sind die VolksfreundInnen im vorrevolutionären Russland, aber auch jene Strömumgen, die sich in der Auseinandersetzung mit dem Imperialismus herausgebildet haben. Die Auseinandersetzungen tragen den Kern der politischen Kritik, aber auch Beispiele für eine prinzipienfeste Herangehensweise an diese Kräfte in sich.

Zweitens ist der marxistische Begriff des Bonapartismus, der schon bei Marx vorkommt, aber von Trotzki systematisch angewandt wird, entscheidend. In einem Moment, in dem sich die Hauptklassen gegenseitig an der effektiven Machtausübung hindern, wird das Versprechen gemacht, sich über den Klassengegensatz und seine (oft bürgerlich-demokratischen) Institutionen hinwegzusetzen. Die Autorität des bonapartistischen Regimes ergibt sich aus der Zustimmung der Massen. Ihre Programme beinhalten oft großmundige Versprechen an die ArbeiterInnen, aber setzen notwendigerweise das Programm der KapitalistInnen um. Der Populismus verspricht (den Herrschenden), dasselbe zugrunde liegende Problem zu beheben, und weist ähnliche Bewegungsgesetze auf. Auch der Bezug auf einen starken bürgerlichen Staat zur Absicherung der Herrschaft, sobald die massenhafte Zustimmung abklingt, ist vergleichbar.

Drittens sind die Lehren aus dem Opportunismus der Kommunistischen Internationale ab 1924 in der Anbiederung an nicht-proletarische, populistische Parteien und besonders aus dem versuchten Aufbau von klassenübergreifenden Parteien (ArbeiterInnen- und Bauernparteien und gemeinsamen Formationen mit dem KleinbürgerInnentum) zu ziehen. Dort wird das Aufgeben eines eigenständigen Klassenstandpunkts der ArbeiterInnen zur Bedingung und der Kampf für den Sozialismus als programmatische Ausrichtung unmöglich. Dasselbe gilt für das wiederholte und blutige Scheitern von Versuchen, gemeinsame Parteien mit den KapitalistInnen in der Volksfronttaktik aufzubauen. Das bedeutet eine Unterordnung unter die KapitalistInnen und ihren Staat, der nur als kriminell gegenüber der ArbeiterInnenklasse bezeichnet werden kann. Beide müssen als Warnung vor der Illusion, als RevolutionärInnen mit Populismus erfolgreich sein zu können, ernst genommen werden.

Dazu kommt die Notwendigkeit, die Gemeinsamkeiten der beschriebenen historischen Situationen und politischen Entwicklungen zu erkennen und daraus das Wesen des Populismus herauszuarbeiten.

Populistische Formationen entstehen in gesellschaftlichen Krisensituationen, ja sind selbst Ausdruck ungelöster, großer gesellschaftliche Probleme (Landfrage, nationale Unterdrückung, …). Das KleinbürgerInnentum und die Mittelschichten finden keinen Platz (mehr) in der bürgerlichen Gesellschaft und befürchten den Ruin.

Der Parlamentarismus erfüllt seine Funktion nicht mehr (oder existiert nicht). Auch für die herrschende Klasse selbst erweisen sich die parlamentarische Demokratie und tradierte Formen des Klassenausgleichs als immer weniger tauglich, ihre eigenen Interessen durchzusetzen.

Jene Klassen bzw. Klassenschichten, die in relativ stabilen Phasen die Basis für die bürgerliche Demokratie bilden, werden unter solchen Bedingungen (teilweise) zur sozialen Basis des Populismus.

In den Halb-Kolonien erhält der Populismus zusätzlichen Nährboden, weil der bürgerlichen Klasse und dem KleinbürgerInnentum innerhalb der imperialistisch dominierten Weltarbeitsteilung selbst eine schwache gesellschaftliche Position zugewiesen wird. Hier kann der Populismus – anders als in den imperialistischen Ländern – noch Ausdruck progressiver Bewegungen sein, wenn auch unter einer bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Führung.

Der Populismus selbst kann alle Schattierungen im Parteienspektrum, von extrem rechten bis zu „linken“ kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Parteien, durchlaufen.

In jedem Fall muss aber eine „Volkspartei“, eine populistische oder kleinbürgerliche Partei vorgeben, einen gesellschaftlichen Missstand zu beheben, und sich zum Anwalt der „kleinen Leute“, des „Volkes“, der „Massen“ machen – einschließlich einer Dosis „anti-kapitalistischer“ Ideologie (und sei es in einer reaktionären Spielart). Dies ist notwendig, um eine soziale Basis nicht nur in der Elite, sondern auch unter kleinbürgerlichen Massen, den Mittelschichten und selbst Teilen der ArbeiterInnenschaft zu erlangen. Nur so können sie auch zu Mitteln der Dominanz über die ArbeiterInnenklasse werden. Nur so sind sie auch in der Lage, außerparlamentarisch, in Bewegungsform zu mobilisieren.

Das Programm des Populismus selbst gleicht einem Gemischtwarenladen. Dass es in sich widersprüchlich und inkonsistent ist, folgt aus dem Charakter der populistischen Partei selbst, die unversöhnliche gesellschaftliche Interessen zu vereinen vorgibt. Daher muss das Programm immer einen reaktionären, illusorischen und demagogischen Charakter tragen, verspricht es doch die Wiederherstellung besserer Zustände für eine zum Untergang verurteilte Klasse (das KleinbürgerInnentum, die Opfer der Konkurrenz, …) und die Wiederherstellung einer angeblich zerstörten gesellschaftlichen Harmonie, wo alle Klassen gleich gewesen wären.

So sehr der Populismus gegen die (vermeintliche oder wirkliche) Elite hetzen mag, so laufen alle seine politischen Bewegungen letztlich darauf hinaus, den bürgerlichen Staat, den Staat der Elite, selbst in die Hände zu bekommen und als Instrument zur Umsetzung seiner Versprechen zu nutzen. Immer zielt seine Politik auf einen „starken“ bürgerlichen Staatsapparat, auf die Stärkung der repressiven, unterdrückerischen Formationen des bürgerlichen Regimes.

An der Macht muss eine solche Partei zu einem Herrschaftsinstrument des Kapitals werden – auch wenn die Wirtschaftspolitik sehr unterschiedlich ausfallen mag, von einer staatkapitalistischen bis hin zu einer neo-liberalen Ausrichtung.

Die marxistische Untersuchung der Klassentriebkräfte ergab: Die Grundlage des Populismus, und das gilt besonders für die Volksfront als seine linke Spielart, ist es, den Klassengegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital (und damit die Frage des Verhältnisses von ArbeiterInnenklasse zu KapitalistInnen und KleinbürgerInnentum) durch einen einfacheren Gegensatz zu ersetzen, der quasi quer zum Klassengegensatz liegt: zum Beispiel das Volk gegen die Elite, die Demokratie gegen den Faschismus oder sogar die DemokratInnen gegen den Populismus.

Für die Ideologie des Populismus ist der Volksbegriff immer zentral, entweder ausgesprochen oder implizit. Gleichzeitig ist es dieser Begriff, den zu kritisieren es für RevolutionärInnen unerlässlich ist.

Der zugrundeliegende Nationalismus war in der bürgerlichen Revolution ein Mittel der Bourgeoisie, die Massen hinter sich zu sammeln, indem sie sich als Vertreterin der Nation oder des Volkes proklamierte und das eigene Klasseninteresse als allgemeines Interesse zu verkaufen versuchte. Ein solches Allgemeininteresse, in dem der Klassengegensatz verschwindet, gibt es aber nicht – und kann es nicht geben!

In den bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts wie in anti-imperialistischen Kämpfen fungierte der Nationalismus, der Appell an das gemeinsame Interesse „des Volkes“ zumindest als Mittel zur Mobilisierung für ein fortschrittliches gesellschaftliches Ziel. Ideologisch und analytisch bleibt der Volksbegriff für RevolutionärInnen aber wertlos und die Kritik daran zentral. Das gilt erst recht in imperialistischen Ländern, wo der Bezug auf Nation und Volk nur reaktionär sein kann.

Mit der Kritik des Volksbegriffes geht auch eine Kritik der „Volksrevolution“ einher, wie sie nicht nur von PopulistInnen, sondern auch vom Stalinismus und Maoismus verwendet wird. Natürlich bringt auch die proletarische Revolution das ganze Volk, alle Schichten und Klassen in Bewegung. In dem Sinne sprechen auch Marx und Engels, Lenin und Trotzki von einer „Volksrevolution“. Sie verstehen aber die Aufgabe der RevolutionärInnen darin, ihr einen bewusst proletarischen, sozialistischen Charakter zu verleihen. Nur so ist es möglich, die Kleinbauern und Teile des städtischen KleinbürgerInnentums und der Armut in Stadt und Land zu führen. Wer das leugnet, vernebelt das Bewusstsein der Klasse, spielt Bourgeoisie und PopulistInnen in die Hände.

Daher lehnen MarxistInnen die Schaffung einer klassenübergreifenden Partei ab. Unser Ziel besteht vielmehr darin, die falsche Einheit der Massen auch in linken populistischen Parteien zu zerbrechen und die ArbeiterInnenklasse aus der ideologischen und organisatorischen Unterordnung unter andere Klassen zu lösen. Das erfordert zwar Taktiken oder auch die Intervention in eine solche populistische Partei in Formierung (gerade wenn die revolutionäre Organisation selbst nur in Keimform vorhanden ist). Das Ziel der KommunistInnen kann aber immer nur in der Schaffung einer Klassenpartei, einer ArbeiterInnenpartei liegen.

 

Endnoten

(1) Trotzki, Leo: „Clarity or Confusion“, 1939: https://www.marxists.org/archive/trotsky/1939/02/clarity.htm

(2) Lenin, W. I.: „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“, in: Werke, Bd. 3, Berlin/O. 1956, S. 7–629

(3) a. a. O., S. 616–617

(4) Lenin, W.I.:, „Was sind die ,Volksfreunde’ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?“, in: Werke, Bd. 1, Berlin/O. 1977, S. 202

(5) a. a. O., S. 210

(6) Trotzki, Leo: „Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedensvertrag“, isp-Verlag, Frankfurt/Main 1983, S. 56

(7) Lenin, W.I.: „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, in: Werke Bd. 22, Berlin/O. 1972, S. 292

(8) Trotzki, Leo: „Die Dritte Internationale nach Lenin“, Dortmund 1977, S. 165

(9) Prawda vom 28. Juli 1924, zitiert nach: a. a. O., S. 165

(10) Prawda vom 22. Juli 1924, zitiert nach: a. a. O., S. 167

(11) a. a. O., S. 167

(12) Trotzki, Leo: „Pilsudskism, Fascism, and the Character of Our Epoch“, in: ders., Writings 1932, New York 1973, S. 161; eigene Übersetzung

(13) a. a. O., S. 160; eigene Übersetzung

(14) Zitiert nach Flechtheim, Ossip K.: „Die KPD in der Weimarer Republik“, Junius, Hamburg 1986, S. 141

(15) Thälmann, Ernst (24. August 1930): „Programmerklärung der KPD zur nationalen und sozialen Befreiung des Deutschen Volkes“ (Proklamation des ZK der KPD), https://www.marxists.org/deutsch/referenz/thaelmann/1930/08/natsozbef.htm 

(16) Trotzki, Leo: „Thälmann und die ‚Volksrevolution’“, in: „Schriften über Deutschland“, Band I, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/Main 1971, S. 102

(17) a. a. O., S. 102 f.

(18) Laclau, Ernesto: „Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus, Faschismus, Populismus“, Argumente Verlag Berlin, 1981, S. 111/112

(19) Isaacs, Harold R.: „Die Tragödie der chinesischen Revolution“, Mehring Verlag, Essen 2016, S. 96

(20) a. a. O., S. 102

(21) ebd.

(22) Zitiert nach Trotzki, Leo: „Ergebnisse und Perspektiven der chinesischen Revolution“, in: Trotzki, Schriften 2.1., Rasch und Röhring, Hamburg 1990, S. 375 f.

(23) a. a. O., S. 377

(24) Ders.: „Brief an Alski (29. März 1927)“, a. a. O., S. 131

(25) ebd.

(26) Trotzki, Leo: „Latin American Problems“, in: Trotsky, Writings, Supplement 1934–40, New York 2004, S. 903; eigene Übersetzung

(27) ebd.; eigene Übersetzung

(28) Trotzki, Leo: „Nationalized industry and workers management“, in: Trotsky, Writings 1938–39, New York 1974, S. 326; eigene Übersetzung

(29) Trotzki, Leo: „Latin American Problems“, a. a. O., S. 903; eigene Übersetzung




Russland auf dem Weg zum Roten Oktober – Lenins Kampf für den Aufstand

Workers Power, Die Taktiken der Bolschewiki in der Revolution, Kapitel 7, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

Der Oktoberaufstand, der den ArbeiterInnen und den armen Bauern die Macht in die Hand gab, war kein historischer Zufall. Er ergab sich aus zwei für den Sieg jeder proletarischen Revolution ausschlaggebenden Faktoren.

Er entstand unvermeidbar aus der sich verschärfenden Krise im Herbst 1917. Die Februarrevolution, die den Zaren gestürzt hatte, führte zu einer instabile Periode der Doppelherrschaft. Die Bourgeoisie hatte mittels der provisorischen Regierung die formale Kontrolle über den Staatsapparat, aber nur, weil die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernsowjets es ihr erlaubten. Die Bourgeoisie lebte, atmete und versuchte zu regieren dank der reformistischen Sowjetführer, den Menschewiki und dem rechten Flügel der sich auf die Bauern stützenden Sozialrevolutionäre.

Im Lauf der Monate wurde die Situation der Doppelherrschaft immer unannehmbarer sowohl für die Kapitalisten wie für die arbeitenden Massen. Dies verursachte Krise auf Krise. So oder so musste die Frage gelöst werden. Entweder würde die Bourgeoisie einen zweiten Kornilow in Marsch setzen, um die Revolution zu zermalmen, oder das Proletariat würde die Gesellschaft aus der Sackgasse führen – durch die Errichtung seiner Herrschaft.

Im Herbst 1917 waren dies die Alternativen für die Klassen in Russland. Es war die objektive Voraussetzung für den Aufstand. Trotzki bemerkte dazu später: „Eine Massenerhebung ist kein isoliertes Unterfangen, das dann heraufbeschworen werden kann, wenn es einem passt. Sie verkörpert ein objektiv bedingtes Element in der Entwicklung einer Revolution, wie die Revolution einen objektiv bedingten Prozeß in der Entwicklung der Gesellschaft darstellt.“

Die Geschichte hat jedoch allzu oft gezeigt, dass günstige objektive Voraussetzungen wie eine zugespitzte revolutionäre Krise nicht allein eine Sieggarantie für das Proletariat sind. Dies hat sich mit tragischem Ausgang in Chile, Portugal oder im Iran erwiesen. Zur Mobilisierung der Arbeiterklasse für den direkten Kampf um die Macht und zum Zusammenschweißen in ein Kampforgan, das den bürgerlichen Staat zerstören kann, bedarf es einer bewussten Führung, eines subjektiven Faktors.

Der Oktoberaufstand bewies, dass die revolutionäre Partei, bewaffnet mit korrektem Programm, Taktik und Strategie und bereit, auch sich und die Klasse mit Gewehren auszurüsten, eine unverzichtbare Vorbedingung für den Sieg ist.

Unmittelbar nach der Kornilow-Episode glaubte Lenin, dass ein friedlicher Verlauf der Revolution wieder möglich sei. In seinem Artikel „Über Kompromisse“ erklärte er, falls „Alle Macht den Sowjets!“ unverzüglich verwirklicht werden könnte, d.h. falls die menschewistischen und SR-Führer in den Sowjets durch den Druck der Massen zum Bruch mit der Bourgeoisie gezwungen werden könnten, dann: „könnte [das] mit größter Wahrscheinlichkeit eine friedliche Vorwärtsentwicklung der ganzen russischen Revolution gewährleisten und außerordentlich viel dazu beitragen, daß die internationale Bewegung für den Frieden und den Sieg des Sozialismus große Fortschritte macht.“

Die geringe Chance zu diesem Kompromiss lag darin, dass die ArbeiterInnen der Bourgeoisie nach dem Kornilow-Putsch aufs Äußerste misstrauten. Ihr Druck war ein handfester Faktor. Er konnte vielleicht bis zu einem Punkt ausgedehnt werden, wo Menschewiki und Sozialrevolutionäre zu einem zumindest formalen Bruch mit der Hauptpartei der Kapitalisten, den Kadetten, gezwungen sein würden.

Loyale Opposition wird abgelehnt

Doch noch ehe die Tinte seines Artikels getrocknet war, erfuhr Lenin, dass Kerenski vorhatte, sein fünfköpfiges Direktorium zu bilden und so seinem Drang nach Errichtung einer bonapartistischen Diktatur für die Bourgeoisie zu verstärken. Sogar jetzt weigerten sich Menschewiki und SR, den Vorschlag für eine rein „sozialistische“ Regierung, die sich auf die Sowjets stützt, zu erwägen. Darin würden die Bolschewiki die Rolle einer loyalen Opposition akzeptieren. Nach Erhalt dieser Nachricht schlug Lenin die Umbenennung des Artikels in „Nachträgliche Gedanken“ vor. Er schrieb: „Die wenigen Tage, in deren Verlauf eine friedliche Entwicklung noch möglich war, sind wohl auch schon vorbei. Ja, als allem ist ersichtlich, daß sie schon vorbei sind.“

Von da an konzentrierte Lenin seine Gedanken darauf, wie die Revolution unter bolschewistischer Führung voranzutreiben sei. Binnen 14 Tagen schloss er, dass der Aufstand eine unmittelbare Notwendigkeit war. Während der folgenden Wochen focht Lenin einen schonungslosen Kampf, um die Bolschewiki für diese Perspektive zu gewinnen. Er erfasste rasch, dass sich die objektive Lage binnen Wochenfrist dramatisch verändert hatte. Er kämpfte deshalb darum, die Partei entsprechend zu verändern und den subjektiven Faktor den objektiven Aufgaben anzupassen.

Die Krise der Doppelherrschaft vertiefte sich im September und Oktober immer mehr. Auf dem Land nahmen die Bauernmassen ihren grimmigen Krieg gegen die Landbesitzer wieder auf. Die Landfrage, von Trotzki „Untergrund der Revolution“ genannt, erhielt ausschlaggebende Bedeutung. Traditionell sahen die Bauern in den Sozialrevolutionären ihre Vertreter. Doch diese arbeiteten offen mit den Landbesitzern zusammen. Die provisorische Regierung, deren fester Bestandteil die SR waren, erklärte im September, als die Fälle von Gewalt gegen Grundbesitzer von 440 im August auf 958 anstiegen, dass: „jedermann alarmiert sein muss wegen der überall in den wildesten Formen herrschenden Unordnung.“

Um die Mistgabeln in den vollgefressenen Bäuchen der Grundeigentümer sorgten sich die SR weit mehr als um den riesigen Landhunger unter den Bauernmassen. Den Bauern konnten die Sozialrevolutionäre nur zu einem unbestimmten Zeitpunkt eine von der Bourgeoisie erfolgreich verhinderte konstituierende Versammlung anbieten, die dann die Landfrage lösen würde.

Unbeeindruckt davon setzten die Bauern ihren Landkrieg fort. Im Oktober fanden 42,1 % der Landbesetzungen seit dem Sturz des Zaren statt.

Natürliche BundesgenossInnen

Der von den Sozialrevolutionären verschmähte und von der Bourgeoisie bekämpfte bäuerliche Landkrieg hatte einen natürlichen Bundesgenossen im revolutionären Kampf der Arbeiterklasse gefunden. Das wiederum bestärkte das Proletariat als Führer aller Geknechteten in Russland ungeheuer. Trotzki sagte: „Damit der Bauer sein Land bebauen und einfrieden kann, muss der Arbeiter an der Spitze des Staates stehen: das ist die einfachste Formel für die Oktoberrevolution.“

Der Landkrieg und der Kampf des Proletariats wurden zunehmend verwoben mit einer Welle von Kämpfen um Autonomie der im Zarenreich gefangenen Nationalitäten. Im Osten kämpften BaschkirInnen und KasachInnen um Autonomie als ein Mittel, Land zu erhalten. Überall im Reich brachen nationale Kämpfe aus und richteten sich gegen Kerenskis entschlusslose Provisorische Regierung. Außerdem zeigte die unglaubliche Verbreitung von Sowjets in den Nationalitäten zusehends, dass Autonomie mit Sowjetmacht identifiziert wurde.

Die Fortsetzung des Krieges und die Gefahr einer Hungersnot steigerten unter den Soldaten, Seeleuten und ArbeiterInnen die Feindseligkeit gegen Kerenski. Die Ostseeflotte war von den Bolschewiki dominiert. Garnison um Garnison folgte ihnen. Die Sowjets wiesen allmählich immer klarere Mehrheiten für die Bolschewiki auf, als sich die Krise verschärfte. Der Prozess der Radikalisierung begann Anfang September. Als einige Bolschewiki Lenins „Über Kompromisse“ zu Gesicht bekamen, zeigten sie sich empört darüber, dass ein rechter Kurs eingeschlagen werden sollte. Slutzki vom Petrograder Komitee meinte am 7. September: „In den Fabriken und auch unter den armen Bauern beobachten wir eine Bewegung nach links (…) Wenn wir jetzt Kompromisse in Erwägung ziehen, ist das lächerlich. Keine Kompromisse! (…) Unsere Aufgabe ist die Klärung unserer Position und die bedingungslose Vorbereitung auf den militärischen Zusammenstoß.“

Doch Lenin selbst kam bald zu derselben Schlussfolgerung. Die Krise war ausgereift. Eine Verzögerung würde sich als unheilvoll erweisen. Die Bolschewiki mussten den Aufstand vorbereiten.

Lenins Ansichten wurden dem Zentralkomitee(ZK) in einer Reihe von Briefen übermittelt und am 15. September erörtert. Lenin legte dar, dass die kommende demokratische Konferenz, zu der die Bolschewiki eine starke Delegation entsenden wollten, nicht das anstehende Problem lösen würde: die Regierungsfrage. Er meinte, dass Menschewiki und SR die Konferenz schwerpunktmäßig auf das Kleinbürgertum ausrichten würden. Sie würde die Bauern und ArbeiterInnen täuschen.

Zur selben Zeit wuchs die Autorität des Bolschewismus stetig. Lenin schrieb:

„Wir haben die Chance eines sicheren Sieges, denn das Volk ist schon fast erschöpft, und nachdem wir ihm die Bedeutsamkeit unserer Führung in den Kornilow-Tagen gezeigt haben und den Block-Mitgliedern einen Kompromiss angeboten haben, den diese dann abgelehnt haben in einer Situation von seither andauernden Hin und Her, dann eröffnen wir dem ganzen Volk einen sicheren Ausweg.“

Dieser Ausweg war eine bolschewistische Regierung, die nur amtieren konnte, wenn die reformistische Führung und der gesamte bürgerliche Staatsapparat hinweggefegt sein würden. Alle Anstrengungen der Bolschewiki sollten auf die Fabriken und Kasernen, nicht auf die demokratische Konferenz angelegt sein. Lenin argumentierte, dass die demokratische Konferenz vor die Wahl gestellt werden sollte, entweder das bolschewistische Programm voll zu akzeptieren, anderenfalls würde es einen Aufstand geben.

In Erwartung von Opposition aus den eigenen Reihen eröffnete er die Auseinandersetzung mit den wankelmütigen Elementen durch die Erklärung, dass diese im „Lager der Zauderer“ gelassen werden sollten. Lenins neuer Kurs traf das ZK wie eine Bombe. Kopien der Briefe wurden vernichtet, aus Angst, sie könnten nach außen gelangen. In dieser Phase war niemand für eine sofortige Erhebung. Die Planungen der Bolschewiki für die demokratische Konferenz waren entlang der politischen Linie, wie sie in „Über Kompromisse“ dargelegt worden war, gelaufen.

Die Erklärung für die Konferenz rief die Versöhnler zum Bruch mit der Bourgeoisie und zur Übergabe der Macht an die Sowjets auf. Sie wandte sich mit einer Reihe von Forderungen an die Versöhnler, aber nicht, wie Lenin es wollte, in Form eines Ultimatums.

Stimmen für die Koalition

Die am 14. September eröffnete demokratische Konferenz war auch dazu bestimmt, mehr eigene Parteigenossen für Lenins Position zu gewinnen. Lenin sollte mit seinen Bedenken über die Zusammensetzung der Konferenz richtig liegen. Der Delegiertenschlüssel war sorgsam ausgeklügelt; die Bolschewiki, die schon die Mehrheit in den Sowjets errungen hatten, befanden sich am Eröffnungstag in einer verschwindenden Minderheit: 532 Sozialrevolutionäre (unter ihnen 71 Linke), 530  Menschewiki (davon nur 56 Internationalisten) und nur 134 Bolschewiki. Die Arbeiterklasse war damit klar unterrepräsentiert.

In dieser Zusammensetzung stimmte die Konferenz erwartungsgemäß für eine weitere Koalition der Sowjetparteien mit den Kadetten, die noch wenige Wochen zuvor Hand in Hand mit Kornilow gearbeitet hatten. Die Konferenz setzte sich fort mit der Einrichtung eines Rates, einem Vorparlament, das nur ein  Beratungsorgan für die Provisorische Regierung sein sollte.

Diese Erfahrung überzeugte Trotzki und Swerdlow, dass die Losung „Alle Macht den Sowjets“ nun nur noch gegen die Versöhnler zu verwirklichen war. Für sie wurde sie zur Aufstandslosung. In der Mitte der Konferenz näherten sie sich sichtlich Lenins Position.

Der Streit über den Aufstand wurde jetzt in Form der Frage ausgetragen, ob die Bolschewiki das Vorparlament boykottieren sollten. Trotzki war für einen solchen Boykott und trat dafür im ZK ein. Er erhielt 9 gegen 8 Stimmen, doch die Knappheit des Resultats legte es dem ZK nahe, die bolschewistische Konferenzdelegation zu befragen. Die Delegation repräsentierte stärker die Regional- und Stadtkomitees als die Parteibasis. Sie tendierten nach rechts. Zu Trotzkis und Lenins Verärgerung stimmten sie mit 77 bei 5o Gegenstimmen für eine Teilnahme am Vorparlament. Lenin schrieb: „Trotzki war für den Boykott. Bravo, Genosse Trotzki! Diese Position wurde in der bolschewistischen Gruppe auf der demokratischen Konferenz niedergestimmt. Lang lebe der Boykott. Wir können und dürfen uns unter keinen Umständen mit der Teilnahme abfinden (…) Es besteht nicht der leiseste Zweifel, dass es bemerkenswerten Wankelmut mit möglicherweise verheerenden Folgen an unserer Parteispitze gibt.”

Trotzdem wendete sich das Blatt in der bolschewistischen Partei zu Lenins Gunsten. Seine Briefe waren auch weiteren Parteikreisen bekannt geworden. Frische Kräfte von der proletarischen Parteibasis schalteten sich in die Diskussion ein und gaben Lenins Linie Rückendeckung. Seine Ungeduld, auch seine Drohung, aus dem ZK zurückzutreten, trug Früchte. Den ersten Sieg errang er, als das ZK am 5. Oktober doch noch beschloss, das zahnlose Vorparlament zu boykottieren. Das kündigte die bolschewistische Überzeugung an, dass die Zukunft der Revolution nun ausschließlich im Kampf um die Sowjetmacht lag.

Trotzki schrieb: „Wir verließen die Konferenz, um zu sagen, dass nur die Sowjetmacht die Losung des Friedens aufstellen und über die Köpfe der internationalen Bourgeoisie hinweg dem Proletariat der ganzen Welt zurufen kann. Lang lebe der direkte und offene Kampf für die revolutionäre Macht im Land.“

Dieser Auszug aus dem Vorparlament erhielt nahezu einhellige Zustimmung durch Resolutionen aus Fabriken aus ganz Russland. Es war das Zeichen, dass das Proletariat genug hatte vom Gemauschel ihrer Führer mit Kerenski und der Bourgeoisie. Jetzt war es Zeit für einen völligen Umschwung gekommen.

Eine neue Dimension

Am 10. Oktober trat das ZK erneut zusammen, um Lenins Positionen zu beraten. Diesmal kam er in seiner Verkleidung (laut Kollontai sah er aus wie ein evangelischer Geistlicher) und nahm teil, obwohl er Gefahr lief, von Kerenskis Polizei verhaftet zu werden. Lenins Resolution fügte seiner Einschätzung der Situation eine neue Dimension hinzu: eine Erhebung in Russland könnte einen europaweiten Aufruhr entfachen.

Lenin hielt die Nachricht von Unzufriedenheit unter den Matrosen der deutschen Flotte für so wichtig, dass er seine Resolution wie folgt begann: „Die internationale Lage, wie sie die russische Revolution betrifft“. Dieser Aspekt an Lenins Strategie ist später von den Stalinisten, deren Lehre vom „Sozialismus in einem Land“ einem wesentlichen Element von Lenins Marxismus widerspricht, systematisch heruntergespielt worden.

Lenins Resolution gelangte zur Abstimmung und es war klar, dass die Scheidelinie die beiden Positionen teilen würde, die das Schicksal der Revolution durch einen Aufstand in naher Zukunft lösen wollte oder die einen Aufschub des Aufstandes und die Anerkennung der „Oppositionsrolle“ in einem demokratischen (d.h. kapitalistischen) Russland wollte. Die Resolution war klar: „In der Erkenntnis, dass ein bewaffneter Aufstand unvermeidbar und die Zeit dafür absolut reif ist, weist das Zentralkomitee alle Parteigliederungen an, sich entsprechend zu verhalten und alle praktischen Fragen von diesem Standpunkt aus zu entscheiden.“

Die Resolution wurde mit 10 zu 2 Stimmen angenommen. Die Gegenstimmen kamen von zwei engen Vertrauten Lenins: von Sinowjew und Kamenew. Beide waren vom ersten Tag an, an dem Lenin den Aufstand befürwortete, bis zum schicksalhaften Tag selbst dagegen. Besonders Kamenew stand ständig auf dem rechten Parteiflügel und hatte sich nie wirklich mit Lenins Aprilthesen abgefunden. Bis in den August hinein versuchte er, die Brücke zur 2. Internationale zu schlagen, indem er sich offen für die Teilnahme an einer beantragten reformistischen Friedenskonferenz in Stockholm aussprach. Das war ein offener Bruch mit der abgestimmten bolschewistischen Politik gegen eine Teilnahme.

Nach Kornilows Putschversuch stürzte sich Kamenew auf Lenins „Über Kompromisse“ und schickte sich an, ihn äußerst rechts und konstitutionalistisch zu interpretieren. Als Lenin den Kurs änderte und für einen Aufstand eintrat, bezeugen die ZK-Protokolle folgenden Antrag Kamenews:

„Nach der Befassung mit Lenins Briefen weist das ZK deren praktische Vorschläge zurück, ruft alle Organisationen auf, sich allein an die Weisungen des ZK zu halten und bekräftigt abermals, dass das ZK jede Art von Demonstration in den Straßen für unstatthaft ansieht.“

Dieser Antrag wurde vom ZK abgelehnt, das Lenins Vorschläge noch nicht rundheraus verwerfen wollte.

Ängste

Kamenew nutzte die Angst aus, die „Zuckung des Zweifels“, wie Trotzki sie nannte, die sich in der Partei seit der Juli-Niederlage ausgebreitet hatte. Dadurch hatte Kamenew mehr Rückhalt als vor dem Juli. Vor allem nahm er Sinowjew für sich ein.

Sinowjew hing an der Idee, dass mit der Niederlage Kornilows Lenins Perspektive einer friedlichen Entwicklung zu „Alle Macht den Sowjets“ zeitlose Gültigkeit erhalten hatte. Im Fall, dass der bevorstehende 2. Nationalkongress der Sowjets stattfand, was beileibe nicht sicher war, würde der Einfluss des Bolschewismus immer mehr wachsen. Sinowjews Gradualismus, der sich mehr auf das politische Leben in den Sowjets orientierte als bei Kamenew, drückte sich in einem Artikel vom 27. September aus: „Nach unserer Meinung ist der am 20. Oktober beginnende Sowjetkongress die allmächtige Autorität über das russische Land. Wenn der Kongress zusammentritt, und falls es dazu kommt, wird die Erfahrung mit der neuen Koalition (unter Kerenski) gescheitert sein und zaudernde Elemente werden sich schließlich unserer Losung „Alle Macht den Sowjets“ anschließen. Von Tag zu Tag werden wir stärker werden.“ In dieser Perspektive werden tragende Entscheidungen dem Zufall oder Schicksal überlassen.

Einwände gegen den Aufstand

Sinowjew und Kamenew meinten, unterstützt von anderen prominenten Bolschewiki wie Nogin, Rykow und Rjasanow, dass Lenins Forderung nach einem Aufstand zu früh käme. Die Zeit wäre nicht reif dafür. Die Massen wären vermutlich noch nicht bereit. Besonders Kamenew glaubte, dass eine Koalition aus Sowjetparteien einschließlich Bolschewiki (was Lenin heftig befehdete) aus der demokratischen Konferenz entstehen könnte. Während Trotzki in jeder Wortmeldung bei der Konferenz auf die Notwendigkeit der Sowjetmacht pochte, meinte Kamenew: „Der einzig gangbare Weg besteht darin, dass die Staatsmacht in Demokratie übergeht, nicht in die Hände der Arbeiter- und Soldatendeputierten, sondern in jene Demokratie, die hier bestens vertreten ist. Wir müssen eine neue Regierung und eine Institution schaffen, der jene Regierung verantwortlich sein muss.“

Auf einer Konferenzpräsidiumssitzung fuhr er fort, die Menschewiki und SR des bolschewistischen Beistands für eine Regierung zu versichern, die ein „homogenes demokratisches Kabinett“ wäre. Er sagte: „Wir werden eine solche Regierung nicht stürzen. Wir werden sie insoweit unterstützen, wie sie eine rein demokratische Politik verfolgt und das Land zu einer konstituierenden Versammlung hinführt.“

„Unterstützung insoweit“ lautete die alte verrottete Formel, die er und Stalin im März verwendet hatten und gegen die Lenins Aprilthesen zielten. Auf der demokratischen Konferenz tauchte sie wieder auf. Selbst die Schlappe dieser Konferenz und des Vorparlaments konnte Kamenew nicht davon abbringen. Er sperrte sich bis zuletzt gegen einen Boykott.

Die entscheidende Auseinandersetzung mit Lenin und Trotzki kam eine Woche nach dem historischen Treffen vom 1o. Oktober. Eine stark erweiterte ZK-Sitzung fand am 16. Oktober unter Teilnahme auch von Vertretern verschiedener Komitees statt. Dort zeigte sich, dass die schwankenden Elemente eine starke Strömung in der Partei verkörperten. Obwohl Lenins Resolution für einen Aufstand erneut angenommen wurde (19 gegen 2 Stimmen), wurde ein Antrag von Sinowjew, bis zum 2. Sowjetkongreß zu warten, nur mit 15 gegen 6 abgelehnt. Bedenkt man, dass die Einberufung des Kongresses gar nicht sicher war, zeigte diese – Lenin schroff entgegenstehende – Resolution das Ausmaß des Rückhalts für Sinowjew. Diese Kräfte waren nur für einen Aufstand im abstrakten Sinne. Angesehene Persönlichkeiten wie Kalinin sprachen vom Aufstand wie von einem fernen Ereignis. Aber die Würfel waren dennoch gefallen.

Sinowjew und Kamenew verrieten angesichts dieses Beschlusses die Partei. Sie verbreiteten unverzüglich unter den Parteimitgliedern ein Schreiben gegen den Beschluss. Das enthüllte mehr denn je den opportunistischen Kern ihrer Perspektive. Sie fragten, ob Russland reif sei für den Aufstand und erwiderten: „Nein, tausendmal nein!“

Sie setzten all ihre Hoffnungen auf die „ausgezeichneten“ Chancen der Bolschewiki, die größte oppositionelle Kraft in der Konstituante zu werden. Sie argumentierten wie der Reformist Hilferding einige Jahre später, dass Sowjetmacht und bürgerliche Demokratie miteinander verbunden werden sollten: „Auch die konstituierende Versammlung kann sich nur auf die Sowjets in der revolutionären Arbeit verlassen. Die konstituierende Versammlung plus Sowjets, das ist der Mischtypus staatlicher Institution, auf die wir zusteuern.“

In der Konsequenz taten sie die Krise, die Russland überflutet hatte, als etwas ab, das eine noch einzuberufende konstituierende Versammlung lösen könnte. Trotzki schrieb später, dass diese Perspektive auf „schicksalsergebenem Optimismus“ beruhte, der „der Arbeitervorhut Hände und Füße bindet und sie mit Hilfe der ‚demokratischen‘ Staatsmaschinerie zu einem oppositionellen Schatten der Bourgeoisie namens Sozialdemokratie macht.“

Ihre Gegnerschaft zum Aufstand konnte noch als Fehler erklärt werden, und ihre Kampagne zur Rücknahme des Beschlusses vom 16. Oktober war ein Verstoß gegen den demokratischen Zentralismus; ihr nächster Schritt allerdings war, wie Lenin sagte, Streikbruch.

In einem Artikel für Gorkis unabhängige Zeitung „Nowaja Shisn“ erklärte Kamenew öffentlich seine Opposition gegen den ZK-Beschluss zum Aufstand – obwohl dieser Beschluss aus offenkundigen Sicherheitsgründen nicht veröffentlicht worden war. Kamenew gab also Kerenski praktisch eine Vorankündigung des Plans der Bolschewiki.

Streikbrecher

Lenin war entschlossen, den Kampf gegen die unsicheren Elemente, die nun zu Streikbrechern geworden waren, auszufechten. Sinowjew hatte Kamenews Verrat beigepflichtet und wurde daher von Lenin als mitverantwortlich gebrandmarkt. Lenin beantragte ihren Parteiausschluss und schrieb: „Es ist nicht leicht für mich, dies über Leute zu schreiben, die einst vertraute Genossen waren, aber ein Zögern würde mir hier wie ein Verbrechen vorkommen, denn eine Partei von Revolutionären, die nicht prominente Streikbrecher bestraft, würde untergehen.“

Das ist eine Lehre für alle RevolutionärInnen heute. Die Partei hatte Kurs auf den Aufstand genommen. Die Entscheidung darüber war demokratisch gefallen. Sinowjew und Kamenew hatten ihre Argumente vorgetragen und verloren. Daraufhin haben sie die Partei verraten. Für Lenin konnte an diesem Punkt der Kampf gegen den Wankelmut nicht auf halbem Weg stehen bleiben, nur weil diese Männer Freunde und Genossen waren. Das Gut der Revolution, der Wille zum Sieg forderte ihren Ausschluss.

Am Ende wurden sie aber doch nicht ausgeschlossen. Stalin veröffentlichte sogar zu dieser Angelegenheit eine redaktionelle Notiz, worin er Lenins Ton kritisierte und sich mit Sinowjew solidarisierte. Aber mit ihrer Aktion zerstörten Sinowjew und Kamenew die Aussicht, den Parteibeschluss umzustoßen.

Danach drängte Lenin, der immer ungeduldiger wurde, darauf, den Angriff zu unternehmen. Am Vorabend der Revolution, an dem er jeden Aufschub als mögliche neue Unschlüssigkeit interpretierte, sagte er über das ZK: „Ich versteh sie nicht. Wovor haben sie Angst (…) Man frage sie, ob sie hundert treue Soldaten oder Rotgardisten mit Gewehren haben. Mehr brauche ich nicht.“

Tatsächlich hatte er gewonnen. Die Verzögerungen Ende Oktober waren eher technisch als durch politische Schwierigkeiten bedingt. Als er dann – ohne ZK-Erlaubnis – am Spätabend des 24. Oktober im Hauptquartier Smolny ankam, standen die Dinge gut. Lenin hatte den entscheidenden subjektiven Faktor, die revolutionäre bolschewistische Partei auf die Höhe der Aufgaben und des Potentials der objektiven Situation gebracht.




Leninistische Partei und demokratischer Zentralismus

Dave Stockton, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

„Die Partei ist keine Arena für die Entfaltung der freien Individualität, sondern ein Instrument der proletarischen Revolution“. Diese Worte Trotzkis von 1939 bilden den Hintergrund, vor dem Lenin sich der Frage der Demokratie in der revolutionären Partei näherte. Wir wollen zeigen, wie Lenins Ansichten über das Gleichgewicht zwischen Zentralismus und Demokratie in der Partei im Kampf für ein revolutionäres Programm gegen den russischen Zarismus entstanden.

Nach dem Zusammenbruch des Stalinismus wurde es in der „extremen Linken“ modern, die Prinzipien des demokratischen Zentralismus in Frage zu stellen. Die radikalsten Kritiken schlagen vor, dass die Arbeiterklasse keine zentralistische Partei braucht, sondern vielmehr eine dezentralisierte amorphe Bewegung, von der Art einer „Bewegungen der Unterdrückten“. Andere meinen, dass, sogar wenn eine demokratische zentralistische Partei auf lange Sicht wünschenswert wäre, es unmöglich ist, sie jetzt aufzubauen. Was heute gebraucht werde, ist ihrer Ansicht nach die Neuformierung der großen Zahl linker Gruppen in ein wechselseitig tolerantes Forum für Diskussion und gemeinsame Aktion.

Den Sozialdemokraten und Liberalen folgten reumütige Stalinisten, die viele der Probleme hinsichtlich der Degeneration der Russischen Revolution den angeblichen demokratischen Unzulänglichkeiten der Bolschewistischen Partei in die Schuhe schoben. Sie behaupten, dass die Wurzeln des Sowjettotalitarismus in der leninistischen Partei und ihrem organisatorischen Grundsatz – dem demokratischen Zentralismus – zu finden wären.

Auch wenn ein Kritiker den demokratischen Zentralismus der Bolschewiki ehrlicherweise nicht mit dem stalinistischen bürokratischen Zentralismus in einen Topf wirft, wird er doch oft als eine Art Mittäter dargestellt – dem die Kontrollen und das Gleichgewicht fehlen, die föderalen und dezentralisierenden Elemente, die die Verbürokratisierung verhindern hätten können. In dieser Sichtweise müsse der Leninismus mit linksreformistischen oder liberalen Traditionen ergänzt werden, oftmals verkleidet als Feminismus.

In den Augen der Kritiker muss das Zentrum einer solchen Gruppierung per Definition von der lebendigen Erfahrung im Kampf und der Praxis abgeschnitten sein. Diese ergäbe sich nur in den lokalen Basiseinheiten, in der Peripherie. Anweisungen „von oben“ würden den demokratischen Selbstausdruck unausweichlich verkrüppeln. Sie würden die Spontaneität und das Selbstvertrauen behindern; ein Zentrum würde aus seiner Natur heraus dazu neigen, zu dominieren und zu unterdrücken.

Dieser Artikel versucht die Frage zu beantworten, ob Lenins Bolschewismus in irgendeinem Sinn für die Verbürokratisierung der Russischen Revolution und des ersten Arbeiterstaats verantwortlich war. Natürlich liegt ein wesentlicher Teil der Antwort in der Analyse der Degeneration dieses Arbeiterstaates. Doch ein gewichtiger Teil liegt auch in der Untersuchung des demokratischen Zentralismus in der bolschewistischen Praxis und wie er sich während der Geschichte der russischen Sozialdemokratie und des Bolschewismus entwickelt hat.

Das ist keine abstrakte historische Frage. Die Bolschewiki sind bis jetzt die einzige Partei, die eine Arbeiterrevolution erfolgreich geführt und die Macht in die Hände direkter Organe der Arbeiterdemokratie – der Sowjets – gelegt hat.

Eine Untersuchung der wichtigsten Stufen der Entwicklung der leninistischen Partei und des demokratischen Zentralismus ist notwendig, denn Beispiele bolschwistischer Praxis und Zitate Lenins werden oft als entscheidendes Argument aus dem Zusammenhang gerissen. Das geschieht sowohl bei übereifrigen Verteidigern des demokratischen Zentralismus wie bei seinen Kritikern.

Erstere verleihen ihnen eine bürokratische und sektiererische Interpretation, letztere einen opportunistischen, spontaneistischen und liberalen Drall. Ihre Gemeinsamkeit liegt darin, dass sie beide glauben, dass es eine stehende Formel für den demokratischen Zentralismus gibt, die gleichermaßen auf die kleine Propagandagruppe, die für ihre Ideen in einer Situation grundlegender ideologischer Konfusion kämpft, wie auch für eine Massenpartei, die die ArbeiterInnenorganisationen in eine revolutionäre Situation führen will, gilt.

Die klarste und prägnanteste Stellungnahme der Methode, die angewendet werden muss, um zu verstehen, was demokratischer Zentralismus heißt, ist Trotzkis kurzer Artikel „Über den demokratischen Zentralismus: Einige Worte über die Parteiordnung“:

„Eine Partei ist ein aktiver Organismus. Sie entwickelt sich in der Auseinandersetzung mit äußeren Hemmnissen und inneren Widersprüchen. (…) Die Ordnung einer Partei fällt nicht fertig vom Himmel, sondern wird allmählich im Kampf gebildet. Eine politische Linie beherrscht die Ordnung. Zuallererst ist es nötig, strategische Probleme und taktische Methoden zu deren Lösung korrekt zu definieren. Die organisatorischen Formen sollen mit der Strategie und der Taktik übereinstimmen. Nur eine korrekte Politik kann eine gesunde Ordnung garantieren.“

Und später: „Demokratie und Zentralismus finden nicht in unveränderlichem Verhältnis zueinander. Alles hängt von den konkreten Umständen, von der politischen Situation im Land, von der Stärke der Partei und ihrer Erfahrung, vom allgemeinen Niveau ihrer Mitglieder und der Autorität, die die Führung vor einer Konferenz gewonnen hat, ab. Wenn das Problem das der Formulierung der politischen Linie für die nächste Periode ist, triumphiert die Demokratie über den Zentralismus. Wenn das Problem die politische Aktion ist, unterwirft der Zentralismus die Demokratie. Die Demokratie setzt ihre Rechte durch, wenn es für die Partei notwendig ist, ihre Aktionen kritisch zu betrachten. Das Gleichgewicht zwischen Demokratie und Zentralismus bildet sich im realen Kampf, in gewissen Momenten ist es gestört und dann wieder hergestellt (1).“

Die Fundamente für eine revolutionäre Partei in Russland

Eine Partei ist ein Teil einer Klasse, die die Notwendigkeit versteht, sich zu organisieren, um ins politische Geschehen zu intervenieren, um die Politik oder sogar den Charakter des Staats zu formen. Sie muss daher ein paar klar definierte Ziele haben, die das Programm bilden. Sie muss auch über Taktiken zur Erreichung dieser Ziele verfügen. Sie muss Prinzipien aufweisen, die ihre Konflikte oder die Zusammenarbeit mit anderen Parteien regeln.

Eine Partei der Arbeiterklasse muss das historische Interesse des Proletariats verfolgen, seine unmittelbaren oder begrenzten Interessen verstehen sowie die Taktiken zur Erlangung der strategischen Ziele. Keine marxistische Partei kann ohne programmatische Basis gegründet werden. Das Lebenswerk von Marx und Engels war der Entwicklung eines solchen Programms und seines organisatorischen Ausdrucks gewidmet. Ihre Arbeit in der Ersten Internationale fand ihren Höhepunkt am Londoner Kongress im September 1871, der erklärte, dass „die Arbeiterklasse gegen diese Gesamtgewalt der besitzenden Klassen nur als Klasse handeln kann, indem sie sich selbst als besondere politische Partei konstituiert, im Gegensatz zu allen alten Parteibildungen der besitzenden Klassen (2).“

Marx und Engels erarbeiteten kein Konzept der Form, die eine solche Partei annehmen sollte und auch keinen Ausblick auf die Beziehung zwischen Demokratie und Disziplin in der Partei. Das blieb dem russischen Marxismus und hier vor allem Lenin überlassen. Doch die Theorie und Praxis der leninistischen Partei bildet eine Kontinuität zu Marx‘ und Engels‘ Ausblick und gleichzeitig einen Sprung nach vorn.

Eine wichtige Übergangsfigur zwischen Marx und Engels einerseits und Lenin andererseits war Plechanow. 1883 war er bei der Gründung der Gruppe „Befreiung der Arbeit“ dabei gewesen. Diese winzige Gruppierung konzentrierte sich über eineinhalb Jahrzehnte lang auf die Anwendung des Marxismus auf Russland. Mit der Produktion einer Reihe von Büchern, Pamphleten und Übersetzungen der wichtigsten marxistischen Texte legte sie die theoretische Basis für den russischen Marxismus und die zukünftige Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (RSDAP).

Die Ausarbeitung der allgemeinen Perspektive, Strategien und Schlüsseltaktiken dieses Programms ist notwendigerweise die Aufgabe eines kleinen Kerns politischer Kader, Intellektueller oder proletarischer Intellektueller. Ein neues Programm, eine neue Partei kann nur im Kampf gegen bereits bestehende Parteien oder Bewegungen und deren Ideen und Programme entstehen und ihren Weg finden. Ein solcher Gründungskern muss daher die größtmögliche Homogenität entwickeln, um seine Ideen siegen zu sehen. Polemische Konflikte sind in diesem Gründungsstadium unvermeidlich.

Viele solche Kerne werden während dieser ersten Schritte untergehen. Jene, deren Ideen mit den fundamentalen Strömungen und Aufgaben der ArbeiterInnenklasse übereinstimmen, werden triumphieren – wenn sie von einer entschlossenen und kreativen Gruppe von Kämpfern getragen werden. In diesem frühen Stadium des Parteiaufbaus ist der Zentralismus zuerst vor allem programmatisch, d.h. alle Arbeit hat die mögliche Schaffung einer revolutionären Strategie zum Mittelpunkt. Die Demokratie ist die Freiheit der Ideen und Diskussion innerhalb einer solchen Organisation.

Dieses Stadium ist weit davon entfernt, unbeschränkt offen für alle Ideen und Theorien zu sein, die die kleinbürgerliche Intelligenzia umtreiben. Es ist hart, voller Konflikt, gegen jeden Fehler unduldsam; systematische Fehler zeigen den Einfluss der Bourgeoisie. Die ersten Jahre des russischen Marxismus waren von solchen Kämpfen geprägt.

Agitation und der Kampf gegen den Ökonomismus

Doch es war Vladimir Uljanow Lenin, der für die praktische und theoretische Ausarbeitung der Art und Weise des Aufbaus einer Arbeiterpartei unter russischen Umständen von zentraler Bedeutung war. 1890 war er Sozialdemokrat geworden. Seit Herbst 1893 war er in marxistischen Propagandazirkeln in St. Petersburg aktiv. Diese Entwicklung erforderte einen Bruch mit den Narodniki, den russischen Populisten, deren Politik eine Mischung aus revolutionärer Demokratie und utopischem Sozialismus war und deren Taktiken sich auf illegale Konspiration und den Gebrauch des individuellen Terrors konzentrierten.

Lenin zog aus dem revolutionären Populismus von 1880 eine Lehre: Ohne ernsthafte, professionelle, illegale Organisation würde die Sozialdemokratie in Russland keinen Fuß in die Tür setzen können. Für Lenin war es nur mit einer solchen Organisation möglich, Verbindung zu den russischen Arbeitern herzustellen. Und mit einer solchen Organisation, die in der Arbeiterklasse verwurzelt wäre, könnte und würde der Zarismus überwunden werden.

Lenin hatte eine aktive, kämpferische Vorstellung von der revolutionären Partei – eine, die sich in die aktuellen Tageskämpfe einlassen und sie entfachen sowie sie mit dem Ziel der Zerstörung des Zarismus und darüber hinaus der sozialistischen Revolution verbinden würde.

Doch in der zweiten Hälfte der 1890er führte der Erfolg der frühen Marxisten zu Konflikten innerhalb und zwischen den bestehenden Propagandazirkeln, Konflikte, die Fragen des Programms und der Organisation betrafen. In Bezug auf das Programm wurde die Frage gestellt: Braucht die Arbeiterklasse überhaupt ein Programm? Reicht es nicht, dass die spontane Bewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter in Richtung Kampf geht?

Wenn das die Grundlage der Politik ist, ist eine Partei entweder gar nicht notwendig oder sie hat lediglich die Rolle inne, Spontaneität zu ermutigen oder Verbindungen zwischen bestehenden Gruppen herzustellen. Wenn es aber die Aufgabe ist, den unmittelbaren Kampf der Arbeiter mit dem Kampf um die Macht zu verbinden, muss eine organisatorische Form entwickelt werden, die den Alltagskampf mit dem revolutionären Ziel verknüpft. Eine solche Partei wird, im jeweils möglichen Ausmaß, intern und in ihren Beziehungen zu anderen Massenorganisationen der Arbeiter demokratisch sein, doch in der Verfolgung ihrer Ziele wird sie zentralisiert und diszipliniert sein müssen.

Die Diskussion konzentrierte sich auf eine neue Methode sozialdemokratischer Arbeit, die kürzlich unter jüdischen (jiddisch sprechenden) Arbeitern um Vilna in Litauen entstanden war. Dort hatte Arkadi Kremer zusammen mit einem anderen jungen Intellektuellen, Julius Martov, ein kurzes Pamphlet geschrieben, „Über Agitation“

Dieses befürwortete einen entschlossenen Bruch mit der alten Methode der marxistischen Studierzirkel zu Gunsten der Produktion und Verteilung von Flugblättern vor den Betrieben, die die unmittelbaren Ärgernisse der Arbeiter aufarbeiteten. Das würde eher die kämpferischsten Proletarier als jene, die nur theoretisch interessiert waren, an die sozialdemokratischen Zirkel heranziehen. Die Aufnahme dieser Methode war ein größerer Schritt vorwärts und der junge Lenin begrüßte sie und wandte sie an.

Die „Agitatoren“ meinten, dass Marxisten nicht nur die Aufgabe hätten, einzelne Arbeiter im Marxismus zu unterweisen und auf die Revolution zu warten, sondern diesen Tag tatsächlich herbeizuführen, indem eine Massenbewegung der Arbeiterklasse mitaufgebaut wurde. Das ging über die illegale Verteilung von Schriften hinaus bis zur Werbung für direkte Aktionen durch die Arbeiter in den Fabriken. Dass das Sache einer sozialdemokratischen Organisation (im Gegensatz zu einer Gewerkschaft) war, war eine neue Idee.

Die neue Agitationsmethode breitete sich nach St. Petersburg aus. Martov brachte Kopien von „Über Agitation“ in die Hauptstadt. Hier traf er erstmals Lenin und beide stimmten über die neue Arbeitsweise überein. Im Herbst 1895 gründeten sie die “St. Petersburger Liga des Kampfes für die Emanzipation der Arbeiterklasse.”

Dieser Schwenk verursachte notwendigerweise organisatorische Probleme. Er schloss Aktivitäten mit ein, die für das Spionagenetzwerk der Ochrana leicht zu entdecken waren. Die Frage war, wie sollte man sich geheim organisieren, um öffentlich zu intervenieren. Der Propagandazirkel allein konnte die Antwort darauf nicht geben. Tatsächlich war die Liga des Kampfes gerade dabei, ihre erste Zeitungsnummer herauszugeben, als die gesamte Führung verhaftet wurde. Lenin führte das später auf den eigenen Mangel an Professionalität in der konspirativen Arbeit zurück.

Nichtsdestotrotz zeigte das Wachstum der Massenkämpfe, dass die neue Methode funktionieren konnte. 1896/97 überschwemmte eine Streikwelle der Textil- und anderer Arbeiter für Neuregelung der Löhne und der Länge des Arbeitstags St. Petersburg, Moskau und andere Fabrikstädte. Die Sozialdemokraten wurden in den Fabriken freudig begrüßt.

Das verleitete einige der „Agitatoren“ wie Arkadi Kremer dazu, falsche einseitige Schlüsse zu ziehen, die von einer revolutionären Strategie wegführten. Begeistert von den Arbeitskämpfen um Löhne, Länge des Arbeitstags und Arbeitsbedingungen kamen sie zu dem Schluss, dass nur solche unmittelbaren ökonomischen Forderungen die Basis der Agitation sein könnten. Zumindest eine Zeit lang sollte der politische Kampf gegen den Zarismus den bürgerlichen Liberalen und den Intellektuellen der Narodniki überlassen werden. Die Arbeiter sollten sich darauf konzentrieren, „offenkundige Errungenschaften“ zu erzielen. Plechanow und dann Lenin nannten diesen Richtung „Ökonomismus“.

Im Sommer 1900, nach Diskussionen mit Martov in St. Petersburg, verließ Lenin Russland mit dem Projekt, Übereinstimmung mit Plechanow und Axelrod dahingehend zu erzielen, eine anti-ökonomistische Zeitung zu produzieren, die die programmatischen und organisatorischen Grundlagen für eine wirklich sozialdemokratische Partei in Russland schaffen würde. Diese Zeitung war die Iskra.

Lenin, Iskra und Was tun?

Die Iskra wollte sowohl ein Programm und taktische Prinzipien erstellen als auch die Untergrundkomitees und -zirkel quer durch das Russische Reich für ihr Projekt gewinnen. Das Ziel war ein Schritt vorwärts zu einer zentralisierten, notwendigerweise illegalen Partei. Die Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (RSDAP) war 1898 gegründet worden, doch die Polizei hatte den größten Teil der Führung verhaftet und um 1900 war sie nur noch fragmentarisch vorhanden.

Die Iskra war in Wirklichkeit eine offene Fraktion innerhalb der RSDAP und nach außen hin homogen – wie Fraktionen es sein müssen, denn sie kämpfen, um an die Führung der Partei zu kommen. Lenin stellte fest, dass die Leserschaft kaum erkennen konnte, wer welchen Artikel in der Iskra geschrieben hatte, so geschlossen und homogen arbeitete die Redaktion. Von Ende Dezember 1900 bis zum Juli 1903 führten 44 Nummern der Iskra den Kampf für eine einheitliche zentralisierte Partei für das gesamte Russische Reich auf Grundlage eines gemeinsamen Programms, mit einem zentralen, im Ausland produzierten, Parteiorgan, das der ganzen Partei die politische Richtung vorgeben sollte.

Die Zeitung verfolgte sowohl eine ideologische wie auch eine organisatorische Absicht. Sie startete eine wilde Schlacht gegen alle programmatische Konfusion, Heterogenität und Opportunismus. In der vierten Nummer der Iskra schrieb Lenin einen Artikel mit dem Titel „Womit beginnen (3)?“, der den Ökonomismus der Emigranten-Zeitung Rabochaja Mysl („Arbeitergedanke“) als „sehr bemüht, die Arbeit der politischen Organisation und Agitation zurückzustutzen und einzuengen“ definierte und attackierte.

Doch die halb-ökonomistische Zeitung Rabocheje Delo („Arbeitergrund“) greift er wegen ihrer Praxis des „prinzipienlosen Eklektizismus in organisatorischen und taktischen Fragen“ noch schärfer an und zeigt auf, dass sie „es nicht versteht, die Erfordernisse des Tages von den Grundaufgaben und den ständigen Bedürfnissen der Bewegung in ihrer Gesamtheit zu unterscheiden (4)“.

Lenin scheute sich nicht davor, offen für eine politische Organisation einzutreten, die vom Zentrum nach außen hin oder „von oben her“ strukturiert war, und die dazu imstande ist, jedes lokale Komitee zu mobilisieren und zu dirigieren und die notwendigerweise aus Parteikadern besteht. Als Zusammenfassung des gesamten Anspruchs der Iskra ist die berühmte Broschüre „Was tun?“, die 1902 erschien.

Hier griff Lenin den Kern der ökonomistischen Methode an, die Idee, dem spontanen Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse hinterher zu hinken. Lenin argumentierte, dass das sozialistische Bewusstsein nicht spontan und allmählich bei den Arbeitern wuchs. Wir wollen hier betonen, dass Lenin dabei nicht über den allgemeinen Klasseninstinkt, das Bewusstsein allgemeiner Interessen der Arbeiter als Arbeiter spricht, sondern vom sozialistischen Bewusstsein. Er beharrt, dass dieses von außen in die Arbeiterklasse hineingebracht werden muss – d.h. von außerhalb des alltäglichen, partikularen ökonomischen Kampfes.

Lenin geht natürlich davon aus, dass die Arbeiterklassse durch ihre jeweiligen Umstände der sozialen Existenz in den Kampf gegen das Kapital gezogen wird und dass solche Kämpfe mit dem Staat zusammenprallen und politische Fragen aufwerfen.

Seine Ansicht war, dass „das spontane Element nicht mehr und nicht weniger repräsentiert als Bewusstsein in einer embryonischen Form“, dass es „den Klassenkampf als Embryo. aber nur als Embryo“ repräsentierte, d.h. noch kein sozialdemokratisches Bewusstsein. Es ist keine Beleidigung oder Geringschätzung der Arbeiter und ihres Kampfes, dass sie „sich des unversöhnlichen Antagonismus ihrer Interessen zum gesamten modernen politischen und sozialen System nicht bewusst waren und nicht sein konnten“.

Lenins Anfangspunkt bei der Verteidigung einer Organisation „professioneller Revolutionäre“ sind die Bedingungen tiefer Illegalität, die in Russland herrschten. Organisierungsversuche waren während des gesamten vorangegangenen Jahrzehnts gescheitert, hatten Aktivisten zu langen Gefängnisstrafen, Exil oder in einigen Fällen zum Tod verdammt. Viele mehr wurden demoralisiert und verließen die aktive Politik. Nur Menschen, die ihr gesamtes Leben dieser Arbeit widmeten, konnten das angepeilte Ziel der Partei, die sogar unter Bedingungen der Illegalität und Repression überleben und wachsen konnte, erreichen.

Lenin dachte keine Minute daran, dass dieser Apparat ein eigenständiger, selbstgenügsamer „Repräsentant der Arbeiterklasse“ wäre. Seine Aufgabe war, sich auf die spontanen Kampfausbrüche zu beziehen, auf die zeitweilige Organisation des Kampfes, auf das Wachstum der halböffentlichen oder öffentlichen Körperschaften, die die Arbeiterbewegung bildeten oder in Zukunft bilden würden. Lenin verwechselte diese geheime Untergrundpartei niemals mit der Arbeiterbewegung. Ein wichtiger Teil ihrer Aufgabe war es, dieser Bewegung zu dienen, sie so weit wie möglich vor Störung durch die Polizei zu schützen:

„Die Zentralisation der konspirativsten Funktionen durch eine Organisation der Revolutionäre wird den Umfang und den Inhalt der Tätigkeit vieler anderer Organisationen, die auf ein breites Publikum berechnet und darum möglichst lose und möglichst wenig konspirativ sind, nicht vermindern, sondern vergrößern; dazu gehören sowohl die Gewerkschaftsverbände der Arbeiter als auch die Arbeiterzirkel für Selbstbildung und die Lesezirkel für illegale Literatur, ferner die sozialistischen und auch demokratischen Zirkel in allen übrigen Bevölkerungsschichten usw, usf. (5).“

Die „professionellen Revolutionäre“ wurden fast sofort ein Ziel der Angriffe professioneller Opportunisten und Karrieristen. Das wäre, sagten sie, ein bürokratisches Konzept, das die Massen von der Kontrolle ihrer eigenen Organisation ausschließen würde.

Trotz der Tatsache, dass „Was tun?“ für die russischen Bedingungen von der Revolution von 1905 geschrieben wurde, bleibt es ein Hauptwerk, sogar der Grundstein für die leninistische Partei. Sogar die Kapitel, die sich am stärksten auf den „illegalen Zusammenhang“ beziehen, sind weit davon entfernt, irrelevant in einer Epoche zu sein, in der Legalität für eine revolutionäre Partei auf dem Weg zur Ergreifung der Macht höchst unwahrscheinlich ist und in der nur kleine und höchst privilegierte Teile der Welt mehrere Jahrzehnte lang demokratische Freiheiten genießen können. Die Fähigkeit, sich geheim zu organisieren, bleibt in vielen Ländern und für alle internationalen Organisationen, die Kader in Ländern mit wenig verbürgten Rechten haben, zentral.

Das Konzept der professionellen Revolutionäre ist ein breiteres als das des Kampfes in der Illegalität. Es wurde, wie wir sehen werden, durch Lenins Entwicklung der Theorie des Parteikampfes unter halb- oder volllegalen Bedingungen, die volle interne Demokratie auf allen Parteiebenen erlauben, ausgeweitet und ergänzt.

Der Zweite Kongress und die Spaltung von 1903

Der zweite Kongress der RSDAP versammelte sich am 30. Juli 1903 in Brüssel. Der Kongress war das einzige voll demokratische Element, das in einer Untergrundpartei möglich war und es war klar, dass die Fraktion der Iskra unter den 70 Delegiertenstimmen die überwiegende Mehrheit hatte. Gegen die Iskra standen die ökonomistischen „öffentlichen Fraktionen“ um die Zeitungen Rabocheye Delo und Rabochaya Mysl, die mächtige jüdische Arbeiterorganisation „Der Bund“ und die Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens (SDKPLi).

Die Iskra schlug eine Einheitspartei vor, jedoch mit drei, nicht einer, zentralen Körperschaft: ein Zentralkomitee in Russland, eine Zeitungsredaktion im Ausland und einen Parteirat bestehend aus Repräsentanten dieser zwei Kreise.

Natürlich war das ein Kompromiss, viele Zentren statt eines einzigen. Doch das war unter den Umständen tiefgreifender Illegalität notwendig. Die zentralisierte Lenkung der lokalen Parteieinheiten musste innerhalb Russlands stattfinden. Doch die Freiheit und Freimütigkeit eines illegalen Parteiorgans konnte nur im Ausland erzielt werden. Diese zwei Gremien mussten jedoch koordiniert werden – daher der Parteirat. Die Iskra schlug also die Auflösung aller Emigranten-Zeitungen und Organisationen außer jener, die vom Kongress anerkannt würden, vor.

Doch von beiden Seiten völlig unerwartet zerfiel die Fraktion der Iskra im Laufe des Kongresses. Eine scheinbar kleinere Formulierungsfrage bei der Definition der Mitgliedschaft in den Parteistatuten wurde später durch einen schärferen Konflikt über die Zusammensetzung der Redaktion und des Zentralkomitees zum Streitpunkt.

Martov gewann mit Hilfe der Stimmen des Bundes und Rabocheye Delo bezüglich der Parteistatuten. Es gelang ihm, eine Mehrheit für die Definition der Parteimitgliedschaft als „persönliche Zusammenarbeit unter der Führung einer der Parteiorganisationen“ zu gewinnen, die Lenins Formulierung von „persönlicher Teilnahme in einer der Parteiorganisationen“ gegenüberstand.

Lenin und Plechanow kämpften hart gegen die zu weit gefasste und lockere Formulierung Martovs. Lenin bestand nicht darauf, wie einige Autoren immer noch behaupten, dass ein Parteimitglied ein Vollzeitrevolutionär sein müsse, geschweige denn, dass solch „professionelle Revolutionäre“ ausschließlich aus der Intelligenz kommen und keine Arbeiter sein dürften. Lenin und Plechanow argumentierten, dass unter den gegenwärtigen russischen Bedingungen ein Mitglied die Risiken und Gefahren der illegalen Parteiarbeit auf sich nehmen müsste: Produktion, Transport und Verteilung der Zeitungen und Flugblätter, Agitation in den Fabriken und Universitäten. Ohne diese Arbeiten hätte ein Mitglied kein Recht, an den Entscheidungen der Partei mitzuwirken.

Natürlich würde bei Bestehen legaler Rechte und einer Verfassung in Russland die Beengtheit einer illegalen Partei einer breiteren Massenorganisation weichen – wenngleich immer noch einer, die auf aktive Teilnahme an der Parteiarbeit bestand. Als Lenin die Abstimmung verlor, dachte er nicht, dass irgendeine Spaltung durchgeführt werden müsste. Er glaubte, dass der Kampf zeigte, das Martov und seine Unterstützer dem Opportunismus in der Frage der Organisation nachgegeben hätten.

Nach der Debatte über den Rest der Statuten verlangte „Der Bund“ mit den Worten des Hauptsprechers Lieber, „als einziger Repräsentant des jüdischen Proletariats in der Partei“ anerkannt zu werden. „Der Bund“ wollte völlig freie Hand in der Organisation und Repräsentation der jüdischen Arbeiter im zaristischen Reich. Die Iskra stellte sich dem entgegen, darauf beharrend, dass „Der Bund“ eine Organisation der RSDAP sein sollte und keine quasi nationale Organisation aller einzelnen jüdischen Arbeiter.

Die gesamte Iskra-Fraktion war in der Zurückweisung dieser föderalistischen Konzeption der Partei vereint. Martov und Trotzki sprachen beide sehr leidenschaftlich in der Diskussion. Als die Abstimmung stattfand, gingen „Der Bund“ und Rabocheye Delo hinaus.

Ihr Abgang verschuf Lenin und Plechanow eine Mehrheit ( auf russisch „bolschewik“). Sie konnten auf 24 Iskra-Anhänger gegen 20 Martov-Unterstützer (genannt „Menschewiki“ oder Minderheit) zählen. Lenin war entschlossen, aus politischen wie praktischen Gründen die Redaktion der Iskra und das Zentralkomitee auf je drei Personen zu beschränken. Die praktischen Gründe waren klar. Axelrod, Potresov und Zasulic hatten trotz ihrer bis dahin gegebenen Mitgliedschaft in der Redaktion außer der Verfassung einiger Artikel keine aktive Rolle gespielt und nie beim Herausgeben mitgemacht.

Martov wollte in der Redaktion eine Mehrheit. Lenin und Plechanow, die nur in der Frage der Parteimitgliedschaftsdefinition durch die Stimmen der nun abwesenden Bündler und Ökonomisten unterlegen waren, wollten eine geschlossene Linie. Sie kämpften für eine Mehrheit in der Iskra-Redaktion und im Zentralkomitee. Martov, Axelrod, Potresov und Zasulic opponierten dagegen mit dem Vorschlag, die alte Redaktion mit sechs Mitgliedern zu erhalten und erhoben außerdem der Forderung, bei Zwei-Drittel-Mehrheit neue Vollmitglieder kooptieren zu können.

Tatsächlich hätte das der Kongressminderheit eine Zwei-Drittel-Mehrheit über die Redaktion gegeben und die Macht, diese sogar durch Kooptierung anderer – wahrscheinlich Trotzki, der sie unterstützte, den Plechanow jedoch stark verabscheute – zu vergrößern. Die Lenin-Plechanow-Mehrheit wählte schließlich ordnungsgemäß ihre Drei-Personen-Variante (sich selbst und Martov) in die Iskra-Redaktion.

Der Protest, mit dem die Menschewiki Lenin als Diktator, Bonaparte, Robespierre verunglimpften, geschah in böser Absicht und verschleierte die ihrerseits beschämend undemokratischen Aktionen der Minderheit am Ende des Kongresses und danach. Als sie unterlagen, verweigerten sie jede weitere Teilnahme. Martov wies die Beteiligung an der Iskra-Redaktion zurück, wenn nicht drei seiner Unterstützer kooptiert würden. Er verweigerte auch die Beteiligung am Zentralkomitee. Somit erhielten Lenins und Plechanows Unterstützer alle drei Sitze im Zentralkomitee. Später boykottierten die Menschewiki die am Kongress gewählten Führungs- und Exekutivorgane. Dies war, wie Lenin sagte, „der Generalstreik der Generäle“.

Dieses Verhalten zeigte den kleinbürgerlichen, intellektualistischen Charakter der Menschewiki, ihre Entschlossenheit, am Zirkelgeist jener Tage vor der Parteiorganisation festzuhalten, als persönliches Engagement, persönliches Vertrauen und persönliche Beziehungen verständlicherweise eine zentrale Rolle gespielt hatten. Doch es war nötig, zur Stufe einer wirklichen Partei mit einem Programm, souveränen Kongressen, gewählten Führungen, einer regelmäßig erscheinenden illegalen Propagandazeitung zu gelangen. Unter diesen Umständen war der alte Personalismus fehl am Platze. Der konnte nur zur Amateurhaftigkeit, Ineffizienz und Nachgiebigkeit gegenüber dem Opportunismus führen – wie Martov es am Zweiten Kongress gezeigt hatte.

Die Spaltung der Partei selbst wurde von den Menschewiki, nicht den Bolschewiki, durchgeführt. Die Menschewiki wollten eine Mehrheit in der Redaktion der Iskra trotz der Entscheidungen des Kongresses, der die Repräsentanten der Partei in Russland wie im Ausland zusammengebracht hatte. Das war durch und durch undemokratisch und Lenin wies das richtigerweise zurück. Ein oder zwei Monate unterstützte ihn Plechanow, dann gab er Martovs Ruf an den Parteirat im Herbst 1903 zur Kooptierung der Primadonnen nach.

Das war eine klare Verletzung der Entscheidungen des Zweiten Kongresses und Lenin wollte unter diesen Umständen der Iskra nicht mehr länger angehören. Er organisierte daher eine öffentliche Fraktion und zog die Untergrundorganisationen in Russland, wo er auf eine Mehrheit zählen konnte, auf seine Seite.

Der Menschewismus wurde nach der Verabschiedung der alten Iskra-Arbeit der Sammelpunkt für alle früheren Ökonomisten, der Sozialdemokraten, die für den Föderalismus waren oder verschiedene Formen des Nationalismus anhingen. Ihre allgemeine Entwicklung ging nach rechts. Lenin zweifelte seit dieser Zeit niemals, was immer seine Sicht bezüglich einer einheitlichen oder zweier getrennter Parteien war, dass die Menschewiki einen opportunistischen Trend verkörperten, der bekämpft und niedergeschlagen werden musste und mit dem keine Kompromisse geschlossen werden oder Versöhnung stattfinden durfte. Hier unterschied er sich von zwei Personen, denen er in Bezug auf Ergebenheit an das Ziel der Arbeitermacht und revolutionäre Taktik am nächsten stand – Leo Trotzki und Rosa Luxemburg.

Ihr Zugang wies aktiven Spontanismus oder Objektivismus auf und zeigt zu jener Zeit ihr Versagen, die Beziehung zwischen dem Konzept der demokratisch zentralistischen Partei und der Erfüllung der revolutionären Strategie zu verstehen. Sie glaubten, dass das militante Vorwärtsdrängen des Proletariats in revolutionären Situationen opportunistische und sektiererische Abweichungen der Revolutionäre hinwegfegen würde. Sie teilten allerdings Martovs und Axelrods wachsende Tendenz nicht, die demokratische Revolution der Bourgeoisie zu überlassen, was eine Spaltung zwischen ihnen und den Menschewiki unausweichlich machte, als sich die revolutionäre Krise verschärfte. Doch sie verstanden Lenins Entwicklung des Konzepts einer aktiven Rolle der Partei als Sektierertum und Bürokratismus. Sie konnten sein spezifisches und zeitweiliges Beharren, dass Demokratismus (nicht Demokratie im Allgemeinen) unter illegalen Bedingungen „ein gefährliches Spielzeug“ für diktatorische undemokratische Grundsätze war, nicht verstehen.

Im Juli 1904 gelang es den Menschewiki, Rosa Luxemburg in den Disput zu verwickeln. Sie schrieb einen ausgedehnten Artikel, der in der Iskra wie im theoretischen Journal der Deutschen Sozialdemokratie Neue Zeit erschien. In den „Organisatorischen Fragen der russischen Sozialdemokratie“ attackierte sie Lenins vielbesprochenes Zitat, dass der Sozialdemokrat „der unauflöslich mit der Organisation des klassenbewussten Proletariats verbundene Jakobiner“ sei. Sie charakterisierte Lenins Position als Rückfall in den Blanquismus.

„Tatsächlich ist die Sozialdemokratie aber nicht mit der Organisation der Arbeiterklasse verbunden, sondern sie ist die eigene Bewegung der Arbeiterklasse. Der sozialdemokratische Zentralismus muß also von wesentlich anderer Beschaffenheit sein als der blanquinistische. Er kann nichts anderes als die gebieterische Zusammenfassung des Willens der aufgeklärten und kämpfenden Vorhut der Arbeiterschaft ihren verschiedenen Gruppen und Individuen gegenüber sein, es ist dies sozusagen ein ‚Selbstzentralismus‘ der führenden Schicht des Proletariats, ihre Majoritätsherrschaft innerhalb ihrer eigenen Parteiorganisation (6).“

Luxemburg lag falsch: die Tatsache, dass Opportunismus in Fragen der Organisation zu Opportunismus in Fragen der Taktik und später in Fragen des Programm führen kann, wurde in den Jahren 1904 und 1905 klarer. Die neue Iskra passte sich für Kampagnen und Aktivitäten der Linie der Liberalen an, was die Differenzen verstärkte. Die Iskra vertrat eine Position der Vermeidung des Verschreckens der liberalen Kampagnenführer, die sich um die Protestbanketts um die lokalen Regierungsorgane des Semstvo im Herbst 1904 versammelten.

In scharfem Kontrast dazu verbreiteten die Bolschewiki eine deutliche Warnung vor der Feigheit und der reaktionären Natur der liberalen Bourgeoisie und versuchten, das Maximum an politischer Unabhängigkeit der Arbeiterklasse von den bürgerlichen Bankettiers sicherzustellen. Innerhalb eines Jahres nach der Spaltung wurden, wie Lenin sagte, „die taktischen Differenzen unüberbrückbar (7)“.

Im Frühling 1905 organisierten sich die zwei offenen Fraktionen getrennt, jede mit ihren eigenen Organen: die Menschewiki mit der Iskra und die Bolschewiki mit Vperyod (Vorwärts). Zu dieser Zeit hielten sie beide Kongresse, auf denen sie für sich beanspruchten, die RSDAP zu sein. Für die Menschewiki lag die Rolle des Proletariats darin, die Bourgeoisie zu ermutigen, ihre eigene Revolution durchzuführen. Das war klarerweise ein stillschweigender Verrat der alten „Emanzipation der Arbeit“ und der Iskra-Perspektive der hegemonischen Rolle des Proletariats in der bürgerlichen Revolution. Die Polemiken der bolschewistischen Zeitung Vperyod in den frühen Monaten von 1905 waren offen dagegen gerichtet. In einem Brief an Alexander Bogdanov und Sergej Gusev, zwei wichtige bolschewistische Führer in Russland, schrieb Lenin:

„Wir haben die Spaltung verkündet, wir rufen zu einem Kongress der Vperjod-Anhänger, wir wollen eine Partei im Sinne des Vperyod organisieren… (8)“

Lenins Versuch, die Bolschewiki als RSDAP neu zu beleben, war völlig gerechtfertigt. Wenn die russischen Arbeiter in der nahenden Revolution eine aktive Führungsrolle spielen sollten, eine, die nicht die unabhängige Aktion der Arbeiterklasse zu Gunsten der Reformbewegung zurückhielt, dann war Freiheit der Aktion und der Kritik essenziell.

Die Revolution von 1905 – von scharfen Trennungen zur Wiedervereinigung

Am 22. Jänner 1905 entfesselten die von den Regimentswachen auf zehntausende friedliche Demonstranten abgefeuerten Geschosse die Revolution. Diese Revolution sollte kurz gesagt die organisatorischen Pläne sowohl der bolschewistischen wie der menschewistischen Fraktion durcheinander wirbeln und sie auf den Weg der Wiedervereinigung führen. Warum? Weil die Perspektive der Menschewiki widerlegt und die der Bolschewiki bestätigt wurde.

Die Illusionen der Menschewiki in eine liberale Führung der Revolution wurden ganz einfach sehr rasch hinfällig, während die Ansicht der Bolschewiki über den revolutionären Charakter und das Potenzial der Arbeiter und Bauern bestätigt wurde. Im Sommer 1905 war der Menschewismus immer noch eine Form des Zentrismus – kleinbürgerliche Opportunisten oder in Lenins zeitgenössischer Terminologie Wendehälse. Sie konnten unter dem Druck der revolutionären Ereignisse nach links schwenken und taten es auch.

Einige der menschewistischen Führer wie Dan und Martinov waren fast so weit, Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution anzuerkennen. Im Oktober unterstützten die Menschewiki Aufrufe zum Aufstand. Die de facto vorhandene revolutionäre Legalität brachte ein „spontan“ revolutionäres Proletariat in Form der Sowjets, bei deren Errichtung die Menschewiki eine wichtige Rolle gespielt haben, auf die Bildfläche. Der Bolschewismus in Form der professionell revolutionären „Komiteeleute“ andererseits legte für kurze Zeit eine einseitige, möglicherweise sektiererische Feindseligkeit gegenüber den Sowjets an den Tag. Lenin musste einen politischen Kampf zur Korrektur des Bolschewismus durchführen.

Während des Sommers und Herbstes 1905 änderte Lenin seine Position zur Möglichkeit der Wiedervereinigung mit den Menschewiki. Als Ergebnis des Wirkens des revolutionären Proletariats auf die Fraktionen und wegen der Notwendigkeit einer möglichst großen Avantgardepartei zur Führung eines landesweiten Aufstands gelangte Lenin zu der Überzeugung, dass Einheit und voller demokratischer Zentralismus nötig und möglich waren.

Das bedeutete keine Verweichlichung seiner Linie gegenüber den opportunistischen Positionen der Menschewiki. Eine mit den Menschewiki vereinte Partei war weder absolut gut noch absolut schlecht. Es war ein Mittel zur Gewinnung der Arbeiterklasse für die revolutionäre Linie der Partei. Wenn es auch nur eine Minute die Unterordnung der revolutionären Kräfte unter die Strategie der Akzeptanz der Hegemonie der Liberalen in einer demokratischen Revolution bedeutet hätte, hätte er dies niemals unterstützt.

Im Oktober gab es einen landesweiten Eisenbahnerstreik und in Moskau und St. Petersburg wurden Sowjets gebildet. Am 17. Oktober war Nikolaus II. als Ergebnis eines von den Sowjets organisierten Generalstreiks gezwungen, ein Manifest herauszugeben, das eine öffentlich gewählte Duma und eine Reihe von demokratischen Rechten, Presse- und Parteifreiheit versprach.

Als Ergebnis der Fehleinschätzung ihrer Perspektive befanden sich die Menschwiki in einem Zustand fortgeschrittener politischer Verwirrung. Im Herbst 1905 wurde das Hauptorgan der Menschwiki, Nachalo, von Trotzki und Parvus, den Theoretikern der Permanenten Revolution, herausgegeben.

Lenin erkannte, dass nun Einheit möglich war, basierend auf den revolutionären Handlungen der Klasse. In einer Periode des Massenkampfes pflegt Druck auf die Menschewiki sie vor die Wahl zwischen Revolution und Opportunismus zu stellen – vorausgesetzt, die Bolschewiki würden nicht die Waffen abgeben, sondern nach der Führung in der vereinten Partei streben:

„Die Taktik der Epoche des ‚Wirbelsturms‘ hat die beiden Flügel der Sozialdemokratischie nicht voneinander entfernt, sondern einander näher gebracht. Anstatt der einstigen Meinungsverschiedenheiten kam es zu einer einheitlichen Auffassung in der Frage des bewaffneten Aufstands (9).“

Außerdem eröffnete sich eine nie dagewesene Periode der Legalität und unter solchen Bedingungen war es möglich, eine sozialdemokratische Partei mit Massenbasis aufzubauen, in der linke und rechte Flügel vertreten waren, wobei die Revolutionäre im Aufsteigen begriffen waren. Die Partei sollte sich den Massen sozialdemokratischer revolutionärer Arbeiter öffnen, die durch die Revolution „spontan“ zum politischen Leben gestoßen waren und mit eigenen Augen die Arbeit der Revolutionäre erlebt hatten. Um das umzusetzen, musste das demokratische Prinzip auf allen Ebenen der Partei angewendet werden.

Bereits im September 1905 stellte Lenin die Frage der Ausweitung des demokratischen Prinzips in Bezug auf Wahlen innerhalb der Partei. Wenn die Partei junge militante Arbeiter und Arbeiterinnen an sich und in den Kampf ziehen wollte, musste sie demokratische Strukturen mit fortgesetzter zentraler Führung verbinden. Lenin musste sich an die im Untergrundkampf angelernten sektiererischen Zweifel und Ängste der bolschewistischen Kader gegen die Menschewiki wenden:

„Eine Gefahr könnte man darin sehen, dass mit einem Mal Massen von Nichtsozialdemokraten in die Partei strömen. Dann würde die Partei in der Masse aufgehen, sie würde aufhören, der bewusste Vortrupp der Klasse zu sein, sie würde in den Nachtrag geraten. (…) Und diese Gefahr könnte zweifelsohne höchst ernste Bedeutung erlangen, wenn bei uns die Neigung zur Demagogie vorhanden wäre, wenn die Grundlagen des Parteilebens (Programm, taktische Regeln, organisatorische Erfahrung) völlig fehlten oder schwach und brüchig wären. Aber der springende Punkt ist eben, dass dieses ‚Wenn‘ gar nicht vorhanden ist. Bei uns Bolschewiki hat es nie keinerlei Neigung zu Demagogie gegeben, im Gegenteil, wir haben die ganze Zeit entschieden, offen und direkt selbst die geringsten Ansätze zu Demagogie bekämpft, von den in die Partei Eintretenden Klassenbewusstsein verlangt, die gewaltige Bedeutung der Kontinuität in der Parteientwicklung stets unterstrichen, Disziplin und Erziehung aller Parteimitglieder in einer Parteiorganisation propagiert (10).“

Ein Ausdruck des menschewistischen Schwenks nach links 1905 zeigte sich darin, dass sie nach über einem Jahr der Sabotage gegen die legitime Führung und die organisatorischen Strukturen, die am Zweiten Kongress beschlossen worden waren, nun wieder zur Einheit bereit waren. Tatsächlich waren es die Menschewiki, im Speziellen Axelrod, die den Terminus „demokratischer Zentralismus“ prägten. Auf einer gesamtrussischen menschewistischen Konferenz am 20. November 1905 verabschiedeten sie eine Resolution, die diese Worte beinhaltete: „Die RSDAP muss in Übereinstimmung mit dem Prinzip des demokratischen Zentralismus organisiert werden. Alle Parteimitglieder nehmen an der Wahl von Parteieinrichtungen teil (11).“

Nur drei Wochen später verabschiedete eine bolschewistische Konferenz eine ähnliche Reolution „Über die Neuorganisierung der Partei“.

„In Erkenntnis der Unbestreitbarkeit des Prinzips des demokratischen Zentralismus betrachtet die Konferenz die weite Umsetzung des Wahlprinzips als notwendig, und unter Gewährleistung der vollen Macht der gewählten Zentren in ideologischen und praktischen Führungsangelegenheiten sind diese gleichzeitig abwählbar, ihre Handlungen stehen unter breiter Beobachtung und sie sind für ihre Taten streng rechenschaftspflichtig (12).“

Die Geschehnisse in Russland erreichten einen Höhepunkt und zwangen die Menschewiki und Bolschewiki zu gemeinsamer revolutionärer Aktion. In St. Petersburg geriet der Sowjet unter die Führung Trotzkis, der mit den Menschewiki gebrochen hatte und sich selbst als „fraktionsloser Sozialdemokrat“ betrachtete. Ihm zur Seite stand Parvus, bislang Mitglied des linken Flügels der deutschen SPD und Co-Autor Trotzkis in Bezug auf die Theorie der Permanenten Revolution.

Mitte November musste ein weiterer Generalstreik in St. Petersburg abgebrochen werden, der Acht-Stunden-Tag konnte nicht gewonnen werden. Am 3. Dezember beschloss die Regierung, angesichts der Abnahme der Anzahl der Streikenden, die den Aufrufen der Sowjets zu Aktionen folgten, den gesamten Sowjet zu verhaften – und seine Mitglieder der Vorbereitung eines bewaffneten Aufstands anzuklagen.

Die Nachricht der Verhaftung des St. Petersburger Sowjet veranlasste den Moskauer Sowjet, den Generalstreik, der vom 7.- 11. Dezember dauerte, auszurufen. Er ging in einen bewaffneten Aufstand über, der Kontrolle über den Arbeiterbezirk Presnaya erlangte und ihn abriegelte und die Hauptbahnhöfe der Stadt eroberte. Aus St. Petersburg gesandte Truppen machten dem schließlich ein Ende.

Ohne dass es die Revolutionäre erkannten, war das der Höhepunkt der Revolution, wenngleich es weitere 18 Monate dauern sollte, bis der Zar wieder die Autokratie, die er vor dem Oktober 1905 ausgeübt hatte, erlangte. Die Jahre 1905-07 waren wesentlich für die Geburt und das Wachstum des vollen demokratischen Zentralismus. Ausgehend vom Zustrom der revolutionären Arbeiter in die Partei dehnte er sich auf Wahlen und Absetzbarkeit aller Führungsorgane der Partei, vom Lokalkomitee bis zum Zentralrat, aus. Grundlage waren jährliche souveräne Kongresse. Das demokratische Prinzip erlaubte die Existenz von Gruppierungen innerhalb der Partei, die Lenin „Tendenz“ nannte, die sich aber auch verhärten und verschärfen konnten, um Fraktionen zu bilden. Die Grundlage des demokratischen Zentralismus blieb jedoch die Disziplin in der Aktion.

Diese sehr demokratische Struktur wurde durch die revolutionäre Situation, die weitgehende de facto-Legalität, die Existenz legaler täglicher Zeitungen, großer öffentlicher Treffen und Debatten in den Fabriken und anderen Arbeitsstätten möglich und notwendig. Einige Kommentatoren – wie Marcel Liebmann – haben diese Situation zur ewig gültigen Norm idealisiert (13). Andere – wie die „Spartakist Arbeiterpartei“ – beharrten darauf, dass Lenin in Wirklichkeit eine Entrismustaktik in eine nicht-bolschewistische, nicht-leninistische Massenpartei durchführte und daher der demokratische Zentralismus dieser Periode überhaupt kein wahrer Leninismus war (14).

Beide liegen falsch. Wenn sich Lenins Ansichten über den Bereich der Parteidemokratie, die Möglichkeit des Austragens offener Parteikonflikte, verändert hatten und wieder verändern sollte, lag das in den Jahren 1908 – 1914 nicht an einem Rückfall ins Sektierertum oder den Bürokratismus (Liebmann) und auch nicht daran, dass sich der ausgereifte Bolschewismus erst 1912 entfaltete (Spartakisten). Der unvoreingenommene Beobachter wird unschwer erkennen, dass die bolschewistische Partei 1917 mit ihren heftigen internen Polemiken, die sich wiederholt in der Parteipresse wiederfanden, den häufigen Konferenzen, den Änderungen in der Strategie und Taktik, eine Partei umreißen, die sehr nahe an dem war, was Lenin in seinen Schriften über demokratischen Zentralismus 1905-06 dargestellt hatte.

Wenn es widersprüchliche Positionen gab, lag das daran, dass die Handhabung des demokratischen Zentralismus mit Trotzkis Worten vom „Kampf mit äußeren Hindernissen und inneren Widersprüchen“ abhängt. Natürlich kann das Modell von 1906 nicht für alle Zeiten gültig sein. Es „fiel nicht fertig vom Himmel“, sondern war selbst das Produkt des Kampfes und sollte sich im Kampf weiterentwickeln.

1906-1908: eine vereinte Partei mit zwei Fraktionen

Im April/Mai 1906 wurde die RSDAP wiedervereint, die Menschewiki hielten die Mehrheit der Mandate. Nichtsdestotrotz wurde Lenins umstrittene Formulierung von 1903 über die Mitgliedschaft in der Debatte über die Parteistatuten ohne Opposition angenommen!

„1. Ein Mitglied der Partei ist jemand, der das Parteiprogramm akzeptiert, die Partei finanziell unterstützt und zu einer Parteiorganisation gehört;

2. Alle Parteiorganisationen werden auf dem Prinzip des demokratischen Zentralismus errichtet (15).“

Die Statuten fassten die neuen Grundsätze des demokratischen Zentralismus zusammen und sie blieben die des Bolschewismus bis zur und nach der Russischen Revolution. In einem Aufruf an die Partei durch Delegierte zum Einheitskongress kommentierten die „ehemaligen Bolschewisten“ speziell die Minderheitenrechte:

„Alle waren wir einig über das Prinzip des demokratischen Zentralismus, über die Wahrung der Rechte jeder Minderheit und jeder loyalen Opposition, über die Autonomie jeder Parteiorganisation, über die Anerkennung der Wählbarkeit, Rechenschaftspflicht und Absetzbarkeit aller Parteifunktionäre. In der praktischen Einhaltung dieser Organisationsprinzipien, in ihrer aufrichtigen und konsequenten Verwirklichung sehen wir eine Garantie gegen Spaltungen, als Garantie dafür, dass der ideologische Kampf in der Partei mit der strengsten organisatorischen Einheit, mit der Unterordnung aller unter die Beschlüsse des allgemeinen Parteitags durchaus vereinbar sein kann und muss (16).“

Als kurz nach dem Kongress das Zentralkomitee versuchte, die Kritikfreiheit auf die Parteipresse und Parteitreffen zu beschränken und sie in öffentlichen Treffen zu verbieten, hielt Lenin dem entgegen:

„Das Prinzip des demokratischen Zentralismus und der Autonomie für lokale Organisationen umfasst universelle und volle Freiheit der Kritik, solange das nicht die Einheit einer bestimmten Aktion stört: das schließt alle Kritik aus, die die Einheit einer von der Partei beschlossenen Aktion stört oder erschwert … Kritik innerhalb der Grenzen des Parteiprogramms muss frei sein … nicht nur auf Partei-, sondern auch auf öffentlichen Treffen (17).“

Für Lenin schloss der demokratische Zentralismus während dieser Periode und unter diesen Umständen das Recht mit ein, Differenzen in den Parteipublikationen zu veröffentlichen, dass Minderheiten ihre eigenen Publikationen herausgeben, auf öffentlichen Treffen gegen die Partei zu sprechen. Doch es war nicht gestattet, sich einem beschlossenen Aktionsplan entgegenzustellen. Beispielsweise sollte kein Mitglied in der Öffentlichkeit zur Wahlenthaltung aufrufen dürfen, wenn eine Parteientscheidung zur Teilnahme an Wahlen getroffen worden war, „noch soll Kritik an der Entscheidung toleriert werden, bis alles vorbei ist“.

Der Kongress bestärkte die meisten revolutionären programmatischen Positionen der alten Partei. Die Menschewiki wagten unter dem Massendruck nicht, ihre opportunistische Position zur Rolle der Bourgeoisie vorzubringen. Dennoch war Lenin während und nach dem Kongress absolut offen bezüglich der fortgesetzten Existenz des Bolschewismus als ideologische Tendenz und drängte auf einen ideologischen Kampf gegen menschewistische Rückfälle weg vom historischen Programm der Partei, insbesondere in Bezug auf die führende Rolle der Arbeiterklasse in der kommenden Revolution.

Das war wichtig, denn die Menschewiki ignorierten von 1906 an zunehmend die Vorbereitung auf den revolutionären Kampf und Aufstand zu Gunsten parlamentarischer Manöver. Lenin rief die Parteimitglieder offen auf, die Entscheidungen des menschewistsich dominierten Zentralkomitees sorgfältig zu beobachten und es zur Ordnung zu rufen, sollte es opportunistisch werden. Im Besonderen warnte er vor der menschewistischen Neigung, prinzipienlose Blocks mit den Kadetten (einer neugegründeten liberalen Partei) zu bilden, während die Trudoviki (eine radikale Bauernpartei) ignoriert wurden.

Lenins begrenztes Vertrauen in die Menschewiki zeigt sich auch in der Tatsache, dass er die Existenz der bolschewistischen Untergrundorganisation samt eigener Führung aufrechterhielt. Trotz der Tatsache, dass die Bolschewiki eine Mehrheit auf dem Londoner Kongress von 1907 und daher eine Mehrheit für sich selbst und ihre polnischen und lettischen Alliierten am Zentralkomitee gewonnen hatten, war die revolutionäre Periode, die sich im Januar 1905 aufgetan hatte, mit dem Putsch vom 3. Juni durch den Premierminister des Zaren, Stolypin, endgültig beendet. Seitdem wurden die Verhältnisse immer schlechter und die RSDAP wurde tiefer und tiefer in die Illegalität zurückgeworfen.

1909 – 1911: Erneute Bildung einer bolschewistischen Fraktion, schließlich einer eigenständigen Partei

Das Streben nach Einheit in der RSDAP dauerte nicht länger als die revolutionäre Periode. Die Menschewiki schwenkten unter den Auswirkungen sich mehrender Niederlagen wieder nach rechts, zurück zu ihren schlimmsten opportunistischen Positionen von 1904, zurück zu Axelrods Idee einer breiten legalen Arbeiterorganisation. Sie konnten die Vorstellung nicht ertragen, ins illegale Leben von Untergrundkomitees zurückgestoßen zu werden. Doch Legalität zu beanspruchen hieß, ausschließlich innerhalb des von Stolypins Gesetzen vorgegebenen Rahmens zu operieren. Axelrod begann von einer Labour Partei, ähnlich der britischen, die 1906 gegründet worden war, zu reden. Das war nicht nur nicht-sozialistisch und nicht- revolutionär, sondern in Russland in Lenins Worten eine „Stolypin-Arbeiterpartei“.

Im Dezember 1908 waren Lenin und fast alle anderen Führer gezwungen, in verschiedene westliche europäische Ländern ins Exil zu gehen. Die Menschewiki begannen in ihrer Verzweiflung, das legale, „normale“ Parteileben aufrechtzuerhalten, wieder politisch zu verkürzen und ihre Losungen abzuschwächen. Da sie die neue legale Organisation der alten Untergrundstruktur – in denen die Bolschewiki viel stärker waren – nicht unterordnen wollten, griffen sie wieder Axelrods alte Losung eines breiten demokratischen Arbeiterkongresses, um „die Partei zu restrukturieren“, auf. Das hätte ihnen eine überwältigende Mehrheit gegeben und hätte sie den „realistischen“ (d.h. pessimistischen) Druck der demoralisierten Nachhut der Arbeiter auf die Partei übertragen lassen.

Die Bolschwisten blieben bei der Position, die sie bei der Parteifusion 1906 vertraten, nämlich, dass ein illegaler Parteiapparat und illegale Publikationen so lange aufrecht erhalten werden mussten, so lange der Zarismus bestand. Doch auch sie bevorzugten legale oder halblegale Arbeit um die Dumaabgeordneten (die parlamentarische Immunität genossen) und versuchten, eine legale Presse, legale Gewerkschaftsarbeit und die Beibehaltung eines Netzwerks sozialdemokratischer Kultur- und Sportvereine zu bewahren.

Der politische Grund dafür war offensichtlich. Nur die illegalen Publikationen und Agitationen konnten das volle revolutionäre Programm und seine Taktik frank und frei verbreiten. Legale oder halblegale Agitation erforderte eine „Sklaven-Sprache“ wie Hinweise auf die „ungekürzten Ansichten aufrechter Demokraten“. Erfahrene Sozialisten konnten das als das interpretieren, was es war, doch die Massen konnten das oft nicht. Die Parteiarbeit dieser Art Agitation zu überlassen, gäbe den Opportunisten einen enormen Vorteil.

Doch die bolschewistisch-menschewistische fraktionelle Polarität wurde nun durch Spaltungen innerhalb der Bolschwisten und Menschenwisten noch verwirrender. Bald gab es vier halblegale Fraktionen plus die von Trotzki geführten Versöhnler (eine Gruppierung linker Menschewiki und einem früheren Bolschewiki).

1905-1907 wurde der Bolschewismus von Lenin, Krupskaya, Alexander Bogdanov und Leonid Krasin geführt. Bogdanov zog Leute wie Anatoly Lunacharsky, Maxim Gorky, M.N.Pokrovsky in die Partei und ihren bolschewistischen Flügel. Bereits im Juni 1907 gab es scharfe Differenzen innerhalb der bolschewistischen Fraktion, ob an den dritten Dumawahlen teilgenommen oder sie boykottiert werden sollten. Eine Mehrheit der von Bogdanov, Krasin und anderen geführten Bolschewiki favorisierten den Boykott. Sie weigerten sich zu akzeptieren, dass die Revolution niedergeschlagen worden war und dass eine konterrevolutionäre Situation bestand, in der die parlamentarische Tribüne (und die Immunität der Dumaabgeordneten) wichtige Verteidigungswaffen waren, so wie die Teilnahme in den Gewerkschaften.

Stattdessen blieben sie bei der Perspektive von 1905/06. Für sie war die Vorbereitung zum Aufstand zentral. Daher ihre Geringschätzung der Arbeit in den Gewerkschaften und ihre Forderung nach dem Boykott der Dumawahlen oder Wiedereinberufung der Dumafraktion. Mitte 1907 eskalierte der Konflikt in der bolschewistischen Fraktion. Eine neue Schicht bolschewistischer Führer trat ans Licht: Grigory Zinoviev, Lev Kamenev, Alexej Rykov und Mikhail Tomsky. Sie alle waren an Lenins Seite. Bogdanov ging in seinem sektiererischen Zynismus über die abgestimmte bolschewistische Linie über die Duma an die Öffentlichkeit, worauf Lenin Bogdanov und seine Unterstützer aus dem bolschewistischen Zentrum ausschloss.

Bogdanov forderte daraufhin eine Generalkonferenz der bolschewistischen Fraktion, was nicht umzusetzen war angesichts der Schwierigkeiten, Repräsentanten aus dem russischen Untergrund hervorzuholen. Statt dessen berief Lenin von 8. – 17. Juni 1909 eine erweiterte Redaktionskonferenz ein. Diese entschied sich gegen Bogdanov. Als Bogdanov sich weigerte, diese Konferenz anzuerkennen, wurde er endgültig aus der bolschewistischen Fraktion ausgeschlossen. Er gründete eine neue Fraktion um die wieder aufgelegte Vperyod. Der Kampf zwischen seiner Gruppe und den Bolschewiki innerhalb der fragmentierten RSDAP war nun ein offener – und drehte sich um fundamentale Fragen der Perspektiven und Taktiken.

Lenin erklärte seine Handlungsweise und bestand auf relativer Einheitlichkeit innerhalb des Bolschewismus, was auf die Differenz zwischen Fraktion und Partei hinweist. In einer Fraktion gab es keinen Raum für öffentliche Diskussionen über essenzielle Fragen über Perspektive und Taktik. Lenin erklärte, dass die Entscheidung nicht übereilt oder ohne ausreichende Debatte innerhalb der Fraktion getroffen wurde:

„Wir haben alle Möglichkeiten und alle Mittel ausgeschöpft, die abweichenden Genossen zu überzeugen, wir haben daran über 18 Monate gearbeitet. Doch als Fraktion, d.h. als Verbindung gleichgesinnter Leute in der Partei, können wir nicht ohne Einheit in fundamentalen Angelegenheiten arbeiten. Sich von einer Fraktion abzuspalten ist nicht dasselbe wie sich von der Partei abzuspalten. Jene, die von unserer Fraktion wegbrechen, sind der Gelegenheit, in der Partei zu arbeiten, in keinster Weise beraubt. Entweder werden sie „freischwebend“, d.h. kein Mitglied irgendeiner Fraktion und werden durch die allgemeinen Umstände der Parteiarbeit angezogen werden, oder sie versuchen, eine neue Fraktion zu gründen – das ist ihr legitimes Recht, wenn sie ihre besondere Sichtweise und Taktik aufrechterhalten und weiterentwickeln wollen (18).“

Im Jänner 1910 wandte sich Lenins Kampf wieder einmal den Menschewiki zu, als die Fünfte Gesamtrussische Konferenz der RSDAP in Paris zusammentraf. Sie verurteilte die Versuche, „die bestehende Organisation der RSDAP aufzulösen und durch eine formlose Verbindung zu ersetzen.“ Mittlerweile argumentierten Axelrod und Potresov offen für die Auflösung der alten RSDAP einschließlich ihres illegalen Untergrundapparats. Axelrod behauptete demagogisch, dass das das Proletariat befähigen würde „…der Revolution das Ziel der Auflösung des Regimes der Vormundschaft der Intelligenzia über die werktätigen Massen zu verleihen und … unser altes Parteiensystem aufzulösen und ein neues Parteiregime in den Reihen der Sozialdemokratie zu begründen (19).“

Lenin war sich zunehmend sicher, dass die menschewistischen Liquidatoren nie wieder als disziplinierte Minderheit zur Partei zurückkommen würden. Der Zugang Trotzkis, alle Fraktionen und Tendenzen zu vereinen und zu hoffen, dass der Klassenkampf, die Revolution sie alle schon das Richtige machen ließe, wie es zwischen Oktober und Dezember 1905 geschehen ist, war ein hoffnungsloser Objektivismus.

Die Liquidatoren hatten deutlich alle Verpflichtungen und Prinzipien der RSDAP hinter sich gelassen. Lenin beharrte darauf, dass die bolschewistische Fraktion der Kern der dem Programm der Partei gegenüber loyalen waren und wenn andere zurückkehren sollten, müsste ein klares Abkommen mit diesen Tendenzen und Fraktionen getroffen werden und keine Schein-Organisation, in der alle sagten und taten , was sie wollten:

„… Einheit mag zur gegenwärtigen Zeit nur durch die Wiederannäherung, die bereits begonnen hat, erreicht werden, zwischen bestimmten Fraktionen, die stark und einflussreich in den aktiv tätigen Arbeiterbewegungen sind und nicht durch moralisierendes Jammern nach ihrer Abschaffung. Mehr noch, diese Wiederannäherung muss stattfinden und sich auf Basis der revolutionären sozialdemokratischen Taktiken und einer organisatorischen Politik, die auf einen entschlossenen Kampf gegen den Liquidationismus sowohl der „linken“ wie der „rechten“ abzielt (vor allem gegen den letzteren, denn der „linke“ Liquidationismus, der bereits geschlagen wurde, ist eine geringere Gefahr), entwickeln (20).“

1912 – die Gründung der Bolschewistischen Partei

Im Herbst 1912 verschärfte Lenin die Kampagne gegen die bolschewistischen Versöhnler und begann mit Vorbereitungen für eine Parteikonferenz, die die Liquidatoren entfernen und die Versöhnler ignorieren sollte. Hunderte streikende MinenarbeiterInnen in den Goldlagerstätten von Lena waren von Soldaten brutal erschossen worden. Solidaritätsstreiks entstanden in allen Industriezentren Russlands, die ein Ende der dunklen Jahre der Konterrevolution (1908-1911) anzeigten. Im Jänner 1912 fand der Sechste Gesamtrussische Kongress der RSDAP in Prag statt. Eine kleine Versammlung von 18 Bolschewiki und zwei Nicht-Liquidatoren-Menschewiki konferierten vom 18. bis zum 30. Januar.

Als ein Kongress der Untergrundarbeiter Russlands war er sehr kritisch der fraktionellen Polemik aus dem Exil gegenüber eingestellt und Lenin musste mehrere Zurechtweisungen für das Versagen, im Ausland „für Arbeiter geeignete“ Literatur herzustellen, einstecken. Gegen seinen Willen entschied die Konferenz, eine Zeitung in Russland erst dreimal pro Woche und später täglich erscheinen zu lassen. Ganz deutlich war das keine Konferenz der Jasager. Doch über eines waren sich alle einig: die Liquidatoren sollten nicht mehr der RSDAP angehören.

Die Prager Konferenz wurde von allen anderen Fraktionen und Tendenzen der alten Partei verunglimpft: von den Versöhnlern, den Liquidatoren und den Vperyiodisten. Die Konferenz musste ihren Vertretungsanspruch gegenüber der Partei rechtfertigen, indem „die extrem dringenden praktischen Aufgaben der Arbeiterbewegung“, das enorme Bedürfnis „ein kompetentes, praktisch orientiertes Parteizentrum, das mit den lokalen Organisationen eng verbunden“ sein sollte, zu errichten, angeführt wurden, nachdem es nicht gelungen war, einen Kongress innerhalb von 2 Jahren einzuberufen.

Die von Trotzki geführten Versöhnler organisierten 1912 die berühmte Konferenz des „Augustblocks“ in Wien – eine buntgemischte Versammlung von Liquidatoren und Versöhnlern, die nur durch ihre Feindseligkeit dem Bolschewismus gegenüber zusammengekommen waren. Die meisten Versöhnler waren Lenin politisch näher, doch weigerten sie sich beharrlich, den Liquidationismus bis zum Ende zu bekämpfen. Daher charakterisierte Lenin sie und Trotzki im Speziellen als „Phrasendrescher“ und „Windbeutel“. Ihr Block gegen die Prager Konferenz war politisch prinzipienlos, daher die spezielle Boshaftigkeit in Lenins Beschuldigungen. Als Tendenz charakterisierte Lenin sie als das, was er später „Zentristen“ nennen sollte:

„Wo es eine Spaltung und im Allgemeinen einen erbitterten Kampf zwischen Tendenzen gibt, ist es unausweichlich, dass Gruppen sich bilden, die ihre Existenz auf fortwährendes Seitenwechseln und kleinliche Intrigen gründen (21).“

Lenin charakterisierte diese zentristische Haltung so: „Ich verurteile den Liquidationismus – doch ich sage nicht offen, wer die unverhohlenen und beständigen Liquidatoren sind. Ich gebe zu, dass der Liquidationismus die Existenz der Partei gefährdet – doch ich sage nicht offen, ob eine solche Gruppe in der Partei sein soll oder nicht (22)!“

Die Dringlichkeit des Bruchs mit dem Liquidationismus (und dem Versöhnlertum 1912) ergab sich aus dem Wiederaufschwung der Arbeiterbewegung und der Notwendigkeit, die illegale Organisation als Vorbereitung auf die bevorstehenden Kämpfe wiederaufzubauen. Bald war klar, dass ein neuer revolutionärer Aufschwung begann. Arbeiter strömten wieder in Massen in die Parteiorganisationen und -fronten. Eine bolschewistisch dominierte Tageszeitung – Prawda – wurde in St. Petersburg herausgegeben. Während der vierten Dumawahlen wurden fünf bolschewistische und sieben menschewistische Abgeordnete gewählt.

Unter den halblegalen Umständen, die in diesen zwei Jahren bestanden, kehrte die Partei zu einem beachtlich Grad der demokratischen Elemente, die in den Parteistatuten 1906 festgelegt worden waren (und sich niemals geändert hatten), zurück Doch in einer Frage waren die Regeln nun strenger. Lenin sagte nun, dass „die Minderheit das Recht haben soll, vor der gesamten Partei Unstimmigkeiten in Programm, Taktiken und Organisation in einem Diskussionsjournal, das eigens für diese Absicht produziert wird, zu diskutieren, doch sie soll nicht das Recht haben, in einer Konkurrenzzeitung Erklärungen, die die Aktionen und Entscheidungen der Mehrheit stören, zu veröffentlichen (23).“

Angesichts des Kampfes mit den Liquidatoren war es einem Mitglied der RSDAP nicht länger zu gestatten, Legalität um jeden Preis zu befürworten, die Losungen des Programms zu missbilligen usw. Offensichtlich war die Partei nach 1912 zentralisierter und disziplinierter als sechs Jahre zuvor. Doch diese Einmütigkeit und Disziplin sollte im Jahr der Revolution – 1917 – nicht bestehen bleiben.

Das Gleichgewicht musste sich einmal mehr der Demokratie zuwenden, um die hunderttausenden jungen revolutionären Arbeiter, die in die Partei strömten und die Revolution unterstützten, zu halten. Aber sie fanden hier einen stabilen Kern von Bolschewiki vor, die das Parteiprogramm und die Taktiken verstanden. Sie fanden auch eine lebendige interne Demokratie vor, die die Partei befähigte, ihr Programm wieder einmal zu überarbeiten, um schließlich auch mit Trotzkis Block, der schließlich die Essenz und Richtigkeit des Bolschewismus verstanden hatte, zu fusionieren.

Nur eine solche Partei, aufgebaut auf solchen Methoden der Organisation, konnte Millionen Arbeiter und Bauern, organisiert in Sowjets, nicht nur in einem Jahr der Revolution, sondern in drei Jahren des Bürgerkriegs führen. Dass dieser Krieg den demokratischen Zentralismus wieder verhärtete und einengte, kann nicht bezweifelt werden. Doch es war schließlich die von diesem Krieg, der Isolation und Blockade und dann der Öffnung für Korruption, die die Neue Ökonomische Politik mit sich brachte, verursachte Bürokratisierung, die die soziale Basis für die Zerstörung dieser Partei schuf.

Der tragische Fehler der Verbannung von Fraktionen in der Partei von 1921, wofür Lenin und Trotzki volle Verantwortung übernehmen müssen, beruhte auf der verfehlten Sichtweise, dass die Gefahr von außen, von den Kulaken, den NEP-Leuten und der Weltbourgeiosie größer war als die von innerhalb der Partei und des Staatsapparats. Der Prozess der Bürokratisierung führte zur Schwächung des selbstregulierenden Mechanismus der inneren Parteidemokratie und hemmte schließlich den Kampf Trotzkis und der Linksopposition dagegen.

Methode, nicht Blaupause

Die gesamte Geschichte der Partei bis 1917, wenn nicht 1921, war nicht nur eine des unerbittlichen Kampfes gegen den Kapitalismus (einschließlich nach 1914 gegen den imperialistischen Krieg), sondern der heftigen internen Debatten. Der Bolschewismus war weder bürokratisch noch monolithisch. Auch war er nicht sektiererisch; er gewann eine Führungsrolle an der Spitze der Massen und führte die Revolution.

Die leninistische Partei und der demokratische Zentralismus entsprang nicht fertig modelliert der Stirn Lenins. Keine einzige Arbeit, nicht einmal „Was tun?“ beinhaltet davon eine Blaupause. Nichtsdestotrotz wäre es falsch, daraus zu schließen, dass es keine leninistischen Organisationsprinzipien gäbe oder dass Lenin ein freischwebender Pragmatiker gewesen wäre – oder noch schlimmer, ein zynischer Manövrist in diesen Fragen. Praxis und Theorie erwuchsen im Klassenkampf und in scharfen internen und externen Schlachten und Polemiken zwischen Möchtegern-Sozialisten und Revolutionären über die drei Jahrzehnte Lenins politischen Lebens. Jedes Stadium trug etwas Wichtiges bei. Er dachte nicht daran, dass er „eine Partei neuen Typus“ erfände. Doch das war es letztlich, was er tat.

Er entwickelte eine Theorie und eine Praxis der Partei zur Organisierung der AvantgardekämpferInnen der Arbeiterklasse. Diese Kämpfer wurden an der Front aller Kämpfe der Arbeiterklasse, sowohl der ökonomischen wie der sozialen, gebildet. Sie waren die klassenbewusstesten Elemente, die in den Abschwüngen des Klassenkampfes genauso wie in den Aufschwüngen, zu Zeiten der Niederlagen und des Rückzugs genauso wie in jenen der revolutionären Aufwallung und Siege überleben und sich neu orientieren konnten. Diese Avantgardeelemente mussten während der unvermeidlich rapiden Wechsel im Bewusstsein der Arbeiterklasse stabil bleiben und der Passivität, Rückständigkeit und den reaktionären Ideen des jeweiligen Zeitgeistes widerstehen und die Klasse in Zeiten der militanten Offensive führen.

Lenin entwickelte seine Sicht der Partei in einer Reihe von Stadien des Aufbaus: beginnend bei einer Gründungsperiode von Zirkeln, die zuerst reiner Propaganda und dann der Teilnahme an Agitationen gewidmet waren, dann rivalisierende ideologische Strömungen in einem wilden Kampf beim Versuch der Entwicklung eines Programms, taktischer Prinzipien und einer zentralisierten Organisationsstruktur. Nur eine Organisation, die auf festen programmatischen und taktischen Prinzipien ruht und schließlich Wurzeln unter den AvantgardekämpferInnen der Arbeiterklasse schlägt, verdient die Bezeichnung Partei.

Lenin erlebte durch bittere Erfahrung, dass dieser Kampf ein unaufhörlicher war – in allen Stadien des Parteiaufbaus. Er erkannte, dass diese Stadien nicht eine ununterbrochen aufsteigende Kurve bildeten. Sie sind von Krisen, Zusammenbrüchen, Spaltungen genauso wie von Fusionen, Wiederkehr zu früheren Stadien und rapiden Fortschritten unterbrochen.

Lenin bemerkte, dass die kapitalistische (und vorkapitalistische) Gesellschaft nicht ein passiver Zuschauer in der Geschichte und Entwicklung der Arbeiterbewegung und ihrer Organisationen ist. Durch ihre verschiedenen Schichten, ihre akademische Wissenschaft, ihre Presse wie durch ihre Polizeikräfte, Parteien und Richterschaft übt sie enormen Druck auf die Arbeiterklasse und ihre Organisationen aus. Eine revolutionäre Partei aufzubauen ist nicht nur ein Kampf gegen die Unternehmer und ihre staatlichen Kräfte. Es ist ein Kampf gegen bürgerliche (und kleinbürgerliche) Einflüsse und jene, die diese Einflüsse in die Reihen der Arbeiter tragen – die objektiv oder subjektiv Agenten dieser fremden Klassen sind.

Was Lenin zu jeder Zeit suchte, war die schärfste ideologische Klarheit über die programmatischen Ziele, die taktischen Prinzipien und die Methoden der Organisation, die diese zu Leben erwecken sollten. Aus diesem Grund kritisierte er am schärfsten die Kompromissler, Konfusionisten und Versöhnler, die es den Arbeitern erschwerten zu sehen, wer ihnen Freund und wer ihnen Feind war. Das bedeutete keine Vorliebe für Spaltungen und Polemiken, sondern die Erkenntnis, dass mit passivem Optimismus darauf zu warten, dass die Arbeiter die Erfahrungen schon machen würden, die alles enthüllen, die Gelegenheit für offensichtliche Verräter und hoffnungslose Wendehälse ist, den Arbeiterkampf im wichtigsten Moment in Verwirrung und Niederlage zu stürzen.

Wenn interner Kampf und politische Festlegung eine konstante Komponente des politischen Lebens sind, wenn Spaltungen und Vereinigungen notwendig zur Schaffung einer politischen Führung für die Arbeiterklasse sind, die im entscheidenden Moment die Initiative ergreifen sollte, sollten die Prinzipien des internen Parteileben darauf Rücksicht nehmen.Diese Prinzipien, die 1905 als demokratischer Zentralismus bekannt wurden, ermöglichten die Ausarbeitung einer Strategie, die die Kämpfer vereinen und sie die Umsetzung lehren konnte.

Die LRKI steht auf diesen Grundsätzen. Wir wenden sie in jedem Stadium des Parteiaufbaus an. Wir wissen, dass wir den ersten Stadien des Leninschen Kampfes näher stehen als den letzteren. Daher muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine lebendige interne Demokratie mit einem hohen Grad an theoretischer und programmatischer Homogenität kombiniert werden. Wir weisen das gerade so moderne Bild des Parteiaufbaus als „Diskussionsforum“ entschieden zurück. Wir lehnen die Vorstellung, dass die Theorie und die Theoretiker völlige Freiheit im Ausdruck haben müssen, wohingegen die praktischen Anwender, insbesondere die Arbeiter, in Einheit in der Aktion arbeiten sollen, ab.

Für uns ist der Lenin von Iskra und Proletary ein legitimes Modell des Kampfes in der Verwirrung der Sekten und Fraktionen, die heute existieren. Doch wir machen aus der Not keine Tugend, wir bilden uns nicht ein, dass eine Avantgarde einer Massenarbeiterpartei ihr internes Leben wie eine Propagandagruppe, eine kämpfende Propagandagruppe, gestalten kann. Das zu tun, hieße, nicht den demokratischen, sondern den bürokratischen Zentralismus zu befürworten. Und das bedeutete das Ende jeden Versuchs eines Aufbaus einer revolutionären Arbeiterpartei.

Fußnoten

(1) L.Trotzki, „Über den demokratischen Zentralismus: Einige Worte über die Parteiordnung“ in „Writings of Leon Trotsky 1937/38“ (aus dem Engl. übersetzt), S.90

(2) Karl Marx, „Londoner Konferenz der Internationalen Arbeiterassoziation“, MEW 17, S.422

(3) V.I.Lenin, Werke, Band 5, S.5f

(4) ebd., S.5

(5) V.I.Lenin, Werke, Band 5, S.482f.

(6) R.Luxemburg, Werke, Band 1/2, S.429

(7) V.I.Lenin, Werke, Band 7, S.505f

(8) V.I.Lenin, Werke, Band 8, S.144

(9) V.I.Lenin, Werke, Band 10, S.249f

(10) ebd., in: „Über die Reorganisation der Partei“, S.15

(11) Paul LeBlanc, „Lenin und die revolutionäre Partei“, New Jersey 1990, S.128

(12) ebd., S.128/29

(13) Marcel Liebmann, „Leninismus unter Lenin“, London 1975, S.45-61

(14) siehe „Lenin und die Avantgardepartei“, New York 1978, S.49-53

(15) P.LeBlanc, ebd., S.129

(16) V.I.Lenin, Werke, Band 10, S.315f

(17) P.LeBlanc, ebda., S. 131

(18) V.I.Lenin, Band 11, S.361

(19) Abraham Ascher Harvard, „Pavel Axelrod und die Entwicklung des Menschewismus“, Harvard 1972, S.237

(20) V.I.Lenin, Band 16, S.77

(21) V.I.Lenin, Band 18, S. 409

(22) ebd., S.408f

(23) V.I.Lenin, Band 20, S.518f




Die Bedeutung der russischen Revolution – Lehren für das 21. Jahrhundert

Roman Birke, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

In jedem Oktober, insbesondere am 90. Jahrestag, gehört es zum guten Jargon jeder in weitestem Sinne revolutionär-marxistischen Organisation die Ereignisse der russischen Oktoberrevolution zu diskutieren und die Lehren daraus zu ziehen. Doch für uns geht es keineswegs alleine darum, eine Tradition der theoretischen Aufarbeitung aufrecht zu erhalten.

Denn auch wenn das theoretische Verständnis der russischen Ereignisse von entscheidender Bedeutung ist, ist dies nutzlos, würde man nicht die Schlussfolgerungen für heute, für die Revolution des 21. Jahrhunderts, ziehen. Veränderung wird nicht alleine durch die Erarbeitung theoretischer Erkenntnisse, sondern nur durch das Übersetzen der theoretischen Formeln in die revolutionäre Praxis geschaffen. Dieses Verständnis ist die Grundlage für jede ernsthafte revolutionäre Organisation, die nicht nur Sonntagsreden über den Sozialismus schwingt, sondern für ihr Programm in den neu entstandenen Massenbewegungen aus dem Blickwinkel der praktischen Aktivität kämpft.

Gesellschaftlicher Hintergrund

Diesen Artikel schreiben wir unter besonderen gesellschaftlichen Bedingungen. In vielen Ländern, darunter auch Deutschland und Österreich, entwickeln sich Diskussionen um die Frage, welche Art von politischer Partei wir brauchen. Das Suchen nach einer Alternative zur verrotteten Sozialdemokratie wird deutlicher, aber auch in Teilen der neu entstandenen Massenbewegungen erleben wir eine bestimmte Linksentwicklung, durch die solche Fragen aufgeworfen werden. Dies ist der Grund warum es auch vermehrt Debatten über die Grundfragen der Revolution gibt.

Denn auch wenn die Notwendigkeit der Veränderung der Gesellschaft hochaktuell ist, so drückt sich dies doch nicht immer im Bewusstsein der Arbeiterklasse aus. Auch wenn es offensichtlich ist, dass der Kapitalismus die brennenden Probleme unserer Zeit nicht lösen kann und für immer größerer Menschenmassen außer Verelendung, Hunger, Krieg, Überausbeutung und Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen nichts zu bieten hat, so hinkt das Bewusstsein breiter Teile der ArbeiterInnenklasse doch oftmals hinter dieser Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse hinterher.

Die objektive Reife der Lage spiegelt sich nicht eins zu eins im Bewusstsein der Arbeiterklasse wider. Einerseits findet die Entwicklung des Bewusstseins meist verspätet zur Entwicklung der ökonomischen Faktoren statt, andererseits gibt es eine Reihe von ideologischen Einflussfaktoren der Bourgeoisie, welche diese Entwicklung zurückhalten oder ihr offen entgegenwirken.

Doch gerade in den letzten Jahren erleben wir eine Situation, in der die Frage nach Veränderung, die Frage nach einer Alternative zum Wahnsinn der kapitalistischen Ausbeutung wieder aktueller wird und breitere Teile der Arbeiterklasse erfasst. Diese Entwicklung des Bewusstseins bei den fortschrittlichsten Teilen der ArbeiterInnenklasse ist nicht nur ein Resultat immer offener Krisenhaftigkeit und drohender Katastrophen, sondern auch ein Resultat vermehrter Klassenkämpfe.

Möchte man die Klassenkämpfe dieser Zeit (1999 bis heute) periodisieren, einen Überblick über die Entwicklung der Kämpfe geben und deren Auf- und Abschwünge kennzeichnen, so können wir diese Entwicklung in mehrere Zyklen einteilen.

Das Jahr 1999 eröffnet durch die Entstehung der antikapitalistischen Bewegung in Seattle einen Zyklus des Aufschwungs des Klassenkampfes. In diesen Zyklus fällt auch der Beginn der zweiten Intifada im September 2000, die Massenproteste gegen die Machtergreifung der rechts-konservativen Regierung in Österreich, die revolutionäre Situation in Argentinien, die Kämpfe gegen die Pensionsreform in verschiedenen EU-Ländern, den riesigen Demonstrationen gegen die G8 in Genua und der Mobilisierung 100.000er gegen die Regierung Berlusconi.

Der 11. September 2001 und der darauffolgende „Krieg gegen den Terror“ mit dem imperialistischen Überfall auf Afghanistan markieren eine Zäsur. Die US-amerikanischen Imperialisten nutzten die Gunst der Stunde zu einer massiven Offensive, die am Beginn mit einer Desorientierung der Arbeiterbewegung und der Unterdrückten, mit einer Paralyse der Gegenkräfte aufgrund der fehlenden ideologischen und politischen Vorbereitung angesicht des „Terrorismus“ ihren Anfang nahm.

Doch die Bewegung war nicht tod. Gegen den drohenden Irak-Krieg formierte sich die Kräfte des antikapitalistischen Widerstandes erneut. Diese Mobiliserierung gipfelte in der Antikriegsbewegung gegen den Angriff auf den Irak, die ihren Höhepunkt im Februar und März 2003 fand, wo bei Demonstrationen weltweit über 20 Millionen Menschen auf der Straße waren.

Doch die Niederlage der Antikriegsbewegung, die Tatsache, dass sie trotz Millionenprotesten den Krieg nicht verhindern konnte, führte zu einem Abflauen der Klassenkampfbewegung der Unterdrückten – nicht so sehr in dem Sinne, dass es weniger Kämpfe gab, sondern v.a. in dem Sinne, dass sie unter ungünstigerem Kräfteverhältnis stattfanden.

In diese Entwicklung markiert das Jahr 2005 eine Trendwende. Mit der Niederlage des Referendums in der EU, der Entwicklung der venzualanischen Revolution und dem Entstehen einer kontinentalen, anti-imperialistischen Mobilisierung in Lateinamerika, v.a. aber mit der sich deutlich abzeichnenden Niederlage der US-Besatzung im Irak ist die Offensive des Imperialismus an ihre Schranken gestoßen – eine Schranke, die sowohl die imperialistischen Bourgeoisie wie die Arbeiterklasse und die Unterdrückten zu einer Neuformierung ihre Kräfte zwingt.

Doch die Niederlagen oder Rückschläge der herrschenden Klasse führten entgegen der Vorstellungen reformistischer oder kleinbürgerlicher Versöhnler nicht zu einer Milderung der Gegensätze, sondern zu einer Verschärfung der Angriffe des Kapitals. Genau diese Entwicklung ist es, die dazu führt, dass die Arbeiterbewegung die Frage ihre Strategie und Taktik neu diskutieren, überdenken und Organisationen schaffen muss, die dem Angriff der Herrschenden standhalten und ihrerseits zur revolutionären Offensive übergehen können.

Die Aktualität der Revolution im 21. Jahrhundert setzt daher auch eine Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Revolution auf die Tagesordnung.

Drei Konzeptionen der Russischen Revolution

Die Russische Revolution 1917 ist nicht zufällig Referenzpunkt der Geschichte der Arbeiterbewegung des letzten Jahrhunderts. Sie hat die verschiedenen politischen Strömungen, von den revolutionären KommunistInnen bis zu den Reformisten, Sozialdemokraten und Stalinisten, Anarchisten wie Syndikalisten geprägt.

Die Oktoberrevolution war der erste und bislang mächtigste Kulminationspunkt der Revolution in der imperialistischen Epoche, dessen Ergebnis eine siegreiche proletarische Revolution war.

Doch schon in vergangenen Klassenkämpfen wie der Revolution 1905 waren in der russischen und internationalen sozialistischen Bewegung verschiedene, grundlegende Konzeptionen der Revolution zutage getreten.

Die von den Menschewisten mehrheitlich vertretene Konzeption ging davon aus, dass im rückständigen Russland nicht nur die kapitalistische Entwicklung erst am Beginn stehe und daher nur ein bürgerliche Revolution möglich wäre. Eine solche Revolution, so der Menschewik weiter, müsse folgerichtig von der bürgerlichen Klasse geführt und die Herrschaft der konstitutionellen Bourgeoisie zur Folge haben. Aufgabe des Proletariats war es als Unterstützer und Antreiber und Verteidiger der bürgerlichen Klasse zu agieren. Die Klassenherrschaft der Bourgeoisie wurde als eherne Notwendigkeit, als unvermeiliches Resultat der Revolution betrachtet.

Dieser Linie blieb der Menschewismus in der Revolution und im Bürgerkrieg, blieben seine Ableger in den anderen Ländern, blieb die Sozialdemokratie bis heute treu. Selbst wenn das Proletariat und andere unterdrückte Klassen die „günstigen Bedingungen“ vorfinden würden, müsste eine Machtergreifung als „verfrüht“ abgelehnt werden, da sich die Klasse entweder nicht halten oder die Revolution im „Terror“ entarten müsse.

Wo diese Konzeption im 20. Jahrhundert angewandt wurde, waren ihre Resultate verheerend und führten zu blutigen Katastrophen – sei es beim Austromarxismus oder der Volksfront in Chile.

Die Stalinisten übernehmen diese menschewistische Konzeption und, wenn überhaupt, so unterschieden sich die blutigen Resultate dieser anti-revolutionen Theorie des Menschewismus nur durch größere Brutalität gegen linke Abweichler und zynischere Lügengebäude, die um Katastrophen wie die Niederlage der Chinesischen oder Spanischen Revolution konstruiert wurden.

Die zweite Linie neben dem Menschewismus war jene des Bolschewismus unter Lenin. Wie die Menschewiki und der „Gründungsvater“ der russischen Sozialdemokratie, Plechanow, ging auch er davon aus, dass die russische Revolution nur eine bürgerlich-demokratische sein könne. Aber er erkannte, dass die russische Bourgeoisie schon zu reaktionär war, und daher eine Revolution gegen den Zarismus eine Dynamik entfalten könnte, die auch gleich sie selbst hinwegfegt, dass sie als die führende Kraft der bürgerlichen Revolution nicht mehr in Frage komme.

Lenin „löste“ dieses Problem durch die Formel der „demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern.“ Die Revolution müsse eine Regierung aus Arbeiterklasse – vertreten durch die Sozialdemokratie – und einer Partei der kleinbürgerlichen, bäuerlichen Demokratie hervorbringen, die die zentralen Aufgaben der bürgerlichen Revolution (Sturz des Zarismus, Errichtung de demokratischen Republik, Landfrage/Agrarrevolution) erfülle, also bürgerliche Verhältnisse durchsetzt.

Lenins Formel hat sich als untauglich erwiesen angesichts der Revolution 1917. Ein Teil der Bolschewiki interpretierte sie menschewistisch – so wie der Stalinismus später diese Formel als ideologische Krücke zum Wiederaufwärmen des Menschewismus verwenden sollte.

Lenin hingegen bricht in den Aprilthesen mit der Formel und schließt sich der dritten Konzeption der russischen Revolution an, wie sie von Trotzki schon 1905 vertreten wurde: Der Konzeption der permanenten Revolution.

Theorie der permanenten Revolution

Die Theorie der permanenten Revolution legte dar, dass ausgehend von der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung des russischen Kapitalismus die Bourgeoisie vollkommen unfähig ist als revolutionäre Führung zu agieren. Diese Situation ermögliche es, ja erfordere es, dass die russische Arbeiterklasse die Macht ergreift, um die Aufgaben der demokratischen/bürgerlichen Revolution zu lösen und eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft in Angriff zu nehmen.

Insbesondere das Verhalten der provisorischen Regierung, die eine Regierung der Gutsbesitzer und Kapitalisten war, verdeutlichte diese These. Diese provisorische Regierung hatte unter Beweis gestellt, dass eine bürgerliche Regierung vollkommen unfähig ist, nur die elementarsten demokratischen Fortschritte zu erreichen.

Der verhasste Krieg wurde fortgeführt, dem verhassten Gutsbesitzer gehörten in feudaler Manier weiterhin die Felder und Hunger war immer noch eines der prägendsten Elemente der damaligen russischen Gesellschaft.

Dem Proletariat und den armen Bauernmassen ging es jedoch um die Beendigung des Krieges, die Versorgung mit Nahrung und der gerechten Verteilung des Bodens. Der Sturz des Zarismus als unmittelbarste Aufgabe hat diese antagonistischen Kräfte, die mit vollkommen unterschiedlichen Vorstellungen in diese Revolution gegangen sind, kurzzeitig zusammengebracht. Doch bald nach der Installation der provisorischen Regierung am 2. März 1917 wurden diese unterschiedlichen Motivationen offensichtlich.

Anstatt die Versorgung von Nahrungsmitteln auf demokratischer geplanter Grundlage zu organisieren beharrte die kapitalistische Regierung auf die „Selbstregulation“ der freien Marktwirtschaft. Statt den Krieg zu beenden, ließen die Kapitalisten die Soldaten weiterhin an der Front. Anstatt das Land unter den armen Bauern aufzuteilen, war es nach wie vor Eigentum des reichen Gutsbesitzers.

Diese gegensätzlichen Klasseninteressen fanden auch ihren Ausdruck in der Situation der Doppelmacht. Neben der provisorischen Regierung und dem zaristischen Staatsapparat existiert mit dem Petrograder Sowjet von Anfang an ein Doppelmachtorgan.

Dieses Ungleichgewicht der Kräfteverhältnisse müsste früher oder später entweder für die Bourgeoisie oder für das Proletariat entschieden werden. Darin liegt auch die tiefere Ursache für den Übergangscharakter der Zeit zwischen Februar und Oktober und der Notwendigkeit der sozialistischen Revolution.

Die Erfüllung selbst der demokratischen Aufgaben fällt also unbedingt dem Proletariat zu. Lenin schrieb dazu in seinen Briefen aus der Ferne:

„Das Proletariat kann und darf eine Regierung des Krieges, eine Regierung der Restauration nicht unterstützen. Was der Kampf gegen die Reaktion, was die Abwehr aller möglichen und wahrscheinlichen Versuche der Romanows (Adelsgeschlecht der russischen Zarenfamilie, dA) und ihrer Freunde zur Wiederherstellung der Monarchie und zur Aufstellung einer konterrevolutionären Armee erfordert, das ist keineswegs die Unterstützung der Gutschkow (war Großindustrieller und Kriegsminister der provisorischen Regierung, dA) und Co., sondern die Organisierung einer proletarischen Miliz, ihr Ausbau, ihre Festigung und die Bewaffnung des Volkes unter der Führung der Arbeiter. Ohne diese wichtige, grundlegende, radikale Maßnahme kann weder von einem ernsthaften Widerstand gegen die Wiedererrichtung der Monarchie und gegen die Versuche, die versprochenen Freiheiten aufzuheben oder einzuschränken, die Rede sein noch davon, entschlossen den Weg zu beschreiten, der zu Brot, Frieden und Freiheit führt (1).“

Hier zeigt sich wie in vielen anderen Schriften Lenins sein Übergang zu Trotzkis Konzeption der permenanten Revolution, die im Laufe der 20er Jahre in der Auseinandersetzung um den Charakter der chinesischen Revolution verallgemeinert wird. Anders als die mechanistische Auffassung der Menschewiki geht diese Konzeption von einer Analyse des russischen Kapitalismus als Teil einer kapitalistischen Weltmarktes, eines kapitalistischen Weltsystems aus. Daher steht die Machtergreifung der Arbeiterklasse in Russland auch im engen, inneren Zusammenhang mit der sozialistischen Revolution in Europa, mit der Weltrevolution.

In der Imperialismustheorie, in der Analyse des imperialistischen Weltkriegs und in der strategischen Orientierung, den imperialistischen Kieg in einen Bürgerkrieg gegen die herrschenden Klassen umzuwandeln, bereitet sich der Bruch Lenins mit der Formel der demokratischen Diktatur vor.

Für die russischen RevolutionärInnen Ende des Ersten Weltkriegs ist es eine politische Selbstverständlichkeit, dass die Herrschaft der Arbeiterklasse zwar die sozialistische Umgestaltung im Land beginnen, sie sich jedoch nur als Teil der globalen Revolution halten und durch den Übergang zum Sozialismus im Weltmaßstab vollenden kann. An die spätere Legitimationstheorie vom „Sozialismus in einem Land“ – nicht zufällig selbst aus dem politischen Schutt des rechten Flügels der Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts entlehnt – hatte damals noch niemand gedacht.

Der Bruch Lenins mit den Halbheiten und Schwächen der „demokratischen Diktatur“ steht – ebenso wie andererseits Trotzkis Bruch mit seiner zentristischen, anti-revolutionären und links-menschewistischen Parteikonzeption vor dem Ersten Weltkrieg – als ein Beispiel für einen grundlegenden Epochenbruch in der Geschichte der Arbeiterbewegung, die durch die russische Revolution, ihre strategische, programmatische und theoretische Konzeption vorangebrieben wird. Es erfolgt ein notwendiger und grundlegender Bruch mit der Zweiten Internationale – nicht nur mit ihrem historischen Verrat, sondern auch und vor allem mit den halbherzigen, oft mechanistischen durch „orthodoxe“ Phrasen verborgene Konzeptionen, in der sich immer mehr der reformistische Inhalt durchgesetzt hatte.

Die Notwendigkeit des revolutionäre Übergangs, der Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates und ihre Ersetzung durch einen Rätestaat bildet also eine der grundlegenden Lehren der Oktoberrevolution.

Die Sowjets

Wie allen großen Revolutionen der letzten 150 Jahre entwickelten die ArbeiterInnen und die unterdrückten Klassen Organe der revolutionären Gegenmacht des Kampfes, Organe der Doppellmacht – Räte.

Trotzki schrieb in seiner Autobiographie „Mein Leben“ über die Entstehung der Sowjets 1905:

„Der Sowjet hatte riesige Massen auf die Beine gebracht. Die gesamte Arbeiterschaft stand hinter ihm. Auf dem Lande herrschten Unruhen, ebenso bei den Truppen (2).“

Werden die Massen ins politische Leben gerissen, so steigen auch der Drang zu Selbstbestimmung und Selbstorganisation und die Notwendigkeit diese Aufgaben nicht nur in einem Betrieb oder in einem Stadtteil, sondern in größeren Gebieten zu verwirklichen. Sowjets oder ähnliche Organe bieten die Möglichkeit die Massen auf einer demokratischen und kontrollierbaren Grundlage zu organisieren und ihnen einen schlagkräftigen Ausdruck zu verleihen.

Im Gegensatz zum Parlamentarismus werden im Sowjetsystem angefangen von kleinsten Einheiten (Betrieben, Stadtteilen, Dörfern, Armeeinheiten) VertreterInnen gewählt, die die Entscheidungen der Basis auf eine nächst höhere Ebene tragen. Diese VertreterInnen sind ihrer Basis gegenüber verantwortlich, d.h. rechenschaftspflichtig und jederzeit abwählbar. Die Entstehung von Sowjets in revolutionären Situationen, also in Situationen der größten Angespanntheit, des größten Drucks und steigender Notwendigkeit zum Handeln, zeigt auch die Überlegenheit eines demokratisch organisierten, hierarchischen Systems gegenüber der kleinbürgerlichen Vorstellung einer Basisdemokratie auf der Grundlage des Konsensprinzips (d.h. kaum Beschlüsse, Zustimmung von a llen bevor etwas umgesetzt wird, etc.).

Sowjets oder Sowjet-ähnliche Organe sind nicht nur wichtig, um die politisch erwachten Massen in den Kampf und in die Entscheidungen miteinzubeziehen, sondern spielen auch eine wichtige Rolle im Erlernen der Selbstorganisation. Die Räte sind nicht nur Kampforgane, sondern auch die zukünftigen Machtorgane der Diktatur des Proletariats, der Herrschaft der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie.

Und schließlich sind Staatsorgane, die anders als der bürgerliche Staat in sich die Möglichkeit bieten, zu Organen der Selbstverwaltung der Gesellschaft zu werden. Sprich: nur der Sowjetstaat kann, hat er seine Aufgabe erfüllt, die herrschende Klasse niederzuhalten und die Grundlagen für eine sozialistische Gesellschaft zu legen (und das schließt natürlich auch den Sieg der Revolution im Weltmaßstab ein), auch als Staat „absterben“, zu einem Organ der bewussten Selbstverwaltung der Produktion und des Verkehrs in der Gesellschaft werden.

Dies ist ein programmatischer und methodischer Bruchpunkt mit der Sozialdemokratie. Während sie den bestehenden bürgerlichen Staat erhalten und reformieren will, möchte die revolutionäre Partei diesen Staat mit Hilfe von Machtorganen wie Sowjets zerschlagen.

Trotz dieses grundsätzlich revolutionären Charakters des Sowjetsystems ist es falsch, die Räte der revolutionären Partei entgegenzustellen oder anzunehmen, dass sie ohne revolutionäre Führung die Revolution machen könnten.

Mit den Räten hat die Klasse ein Instrument geschaffen, die bürgerliche Herrschaft zu stürzen und zu ersetzen – aber die Klasse entwickelt deswegen noch lange keinen strategischen Plan, diese Aufgaben zu erfüllen. Auch in der revolutionären Situation (und auch nach der Revolution) wird die Klasse nicht „spontan,“ „aus der Praxis“ selbst revolutionär.

Der Rat ersetzt den Kampf der Parteien – und d.h. proletarischer und bürgerlicher Strömungen in der Klasse nicht – sondern konzentriert ihn vielmehr im Kampf um die Macht.

In Wirklichkeit ist es daher meist der Fall, dass Sowjets zu Beginn durch eine reformistische Führung geprägt sind, deren Aufgabe gerade darin besteht die revolutionäre Aktion der Räte, den revolutionären spontanen Impuls der Klasse zu kanalisieren – was auch mit einschließt, die Räte selbst an der Machtergreifung zu hindern, deren Zerschlagung oder Integration vorzubereiten.

So hatten die Menschewiki und Sozialrevolutionäre und nicht die Bolschewiki nach der Februarrevolution die Mehrheit im Sowjet. Dies ist auch kein Wunder, entspringt ein sozialistisches Bewusstsein nicht aus dem Kampf der Massen selbst, sondern muss vielmehr von außen in die kämpfenden Massen hineingetragen werden. So konnten die Bolschewiki erst kurz vor der Revolution die Mehrheit im allrussischen Sowjet erobern. Auch können Sowjets oder ähnliche Organe nicht die Aufgabe einer Partei erfüllen. Die Diskrepanz zwischen der objektiven Reife der Lage und dem Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse zu überwinden, den Aufstand zu planen und anzuführen – diese Aufgaben fallen der revolutionären Partei, d.h. den fortschrittlichsten und entschlossensten Teilen der Arbeiterklasse zu.

Die Notwendigkeit der revolutionären Partei

Die russische Revolution von 1917 brachte die Bedeutung einer revolutionären Partei eindeutig zum Ausdruck. Ohne die Existenz der Bolschewiki hätte die Oktoberrevolution, d.h. die Weiterführung der bürgerlichen Februarrevolution zu einer sozialistischen Revolution nicht siegreich sein können. Doch die Notwendigkeit eines Dirigenten beweist man in erster Linie nicht durch die Betonung seiner Wichtigkeit, sondern durch das falsche Spiel des Orchesters während seiner Abwesenheit. Aus diesem Grund wollen wir den Boden der russischen Ereignisse kurz verlassen und uns der deutschen Revolution im November 1918 zuwenden.

In dieser revolutionären Situation fehlte der Dirigent – die revolutionäre Partei. Trotz den objektiv günstigen Voraussetzungen gelang es dem Proletariat nicht die Staatsmacht zu erobern. Angefangen von meuternden Matrosen, Arbeiterdemonstrationen, einer Ausweitung der Proteste gegen die Monarchie auf ganz Deutschland bis zur Solidarisierung der Soldaten mit den rebellierenden Massen waren alle Voraussetzungen für eine sozialistische Revolution gegeben. Doch eine Kraft, die diese spontanen Proteste der Massen wirklich vorwärts treiben konnte, existierte nicht.

Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) wurde erst am letzten Tag des Parteitags dem 1. Jänner 1919 gegründet, was fatale Folgen für die deutsche Revolution und auch für das russische Proletariat hatte.

Es ist auch kein Zufall, dass Leo Trotzki die Lehren des Oktobers im Jahr 1924 geschrieben hat – ein Jahr nach der desaströsen Niederlage des deutschen Proletariats in ihrem Oktober, die durch die Inkonsequenz der Führung der KPD verschuldet war.

Daraus können wir schließen, dass auch die Existenz einer revolutionären Partei alleine nicht ausreicht. In Wirklichkeit kommt es vielmehr darauf an, wie konsequent eine revolutionäre Partei ihr erarbeitetes theoretisches Arsenal auch in einer revolutionären Situation zur Anwendung bringen kann und ihr übergeordnetes Ziel – die Diktatur des Proletariats – nicht aus den Augen verliert.

Denn selbst die Bolschewiki, die vor 1917 durch die Erfahrungen der Emigration, der Revolution 1905, neuerlicher Emigration, Illegalität und dem imperialistischen Weltkrieg gestählt wurden, haben nach der Februarrevolution bis zur Aprilkonferenz eine falsche Position zur Frage der Weiterführung der Revolution gehabt.

In Wirklichkeit vertraten die Bolschewiki in einer kurzen Phase zwischen Februar und April eine Position, die sehr nahe an der kleinbürgerlichen Position der Vaterlandsverteidigung war. So schrieb die Prawda unter der damaligen redaktionellen Leitung von Kamenew und Stalin am 15. März 1917:

„Wenn eine Armee der anderen gegenübersteht, wäre die unvernünftigste Politik die, der einen Armee vorzuschlagen, die Waffen niederzulegen und nach Haus zu gehen. Eine solche Politik wäre nicht eine Politik des Friedens, sondern eine Politik der Knechtschaft, die ein freies Volk mit Entrüstung ablehnen würde. Ein freies Volk würde auf dem Posten ausharren, würde auf jede Kugel mit einer Kugel, auf jedes Geschoß mit einem Geschoß antworten. Das ist außer Frage. Wir dürfen keinerlei Desorganisation der militärischen Kräfte der Revolution zulassen (3).“

Nach jahrelanger zaristischer Knechtschaft schien die Revolution im Februar und damit der Sturz der Zarenherrschaft ein ungeheuerlicher demokratischer Fortschritt zu sein. Doch trotz ihrer demokratischen Errungenschaften war dies lediglich eine Revolution, die das Zarenregime abgelöst und die, schon in den Jahren zuvor erstarkte russische Bourgeoisie an die Herrschaft gebracht hat.

Die Vaterlandsverteidigung war deshalb nicht die Verteidigung der Demokratie an sich oder der Revolution an sich, sondern die Verteidigung der neu gewonnen politischen Herrschaft der kapitalistischen Gutsbesitzer und der Bourgeoisie. Lenin, der sich zu dieser Zeit noch im Exil in der Schweiz befand, wetterte in seinen Briefen aus der Ferne gegen diese Position und stellte ihr eine konsequent proletarische Position der Klasseninteressen gegenüber. So war es der Partei durch den Einfluss Lenins möglich, ihre falsche Position auf der April-Konferenz noch zu korrigieren. Die Konferenz verabschiedete eine Resolution über die Stellung zur provisorischen Regierung, in der sie die provisorische Regierung wie folgt charakterisiert:

„1. daß die provisorische Regierung ihrem Klassencharakter nach ein Organ der Herrschaft der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie ist; 2. daß diese Regierung und die durch sie vertretenen Klassen ökonomisch und politisch untrennbar mit dem russischen und dem englisch-französischen Imperialismus verbunden sind; 3. daß diese Regierung selbst das von ihr verkündete Programm nur unvollständig und nur unter dem Druck des revolutionären Proletariats und teilweise des Kleinbürgertums verwirklicht (4)“.

Nur durch die Korrektur dieses Fehlers konnten die Bolschewiki die wahrlich historische Rolle spielen, von dessen Resultat die internationale Arbeiterbewegung auch 90 Jahre danach profitiert.

Die Dynamik der Revolution – Angriff oder Rückzug?

Die Bedeutung der revolutionären Partei zeigt sich nicht nur im Vorwärtsdrang der Revolution, sondern auch darin, in bestimmten Situationen den Rückzug zu organisieren.

Versteht man unter einer Revolution den Prozess, der ausgehend von einer Gesellschaft, in der einige wenige Kapitalisten die politische, ökonomische, militärische, etc. Macht in Händen halten, in einer Gesellschaft gipfelt, in der die Mehrheit der Gesellschaft – die Arbeiterklasse – die Macht in Händen hält, so ist es klar, dass dies ein Prozess der vollständigen Zerstörung und umfassenden Erneuerung ist. Zu glauben, dass dieses Umdrehen der Gesellschaft von ihrem Kopf auf die Füße einen geordneten, linearen Verlauf hätte, ist genauso illusorisch als würde man annehmen, dass bei jedem Schneegestöber die Flocken an der selben Stelle landen würden. In Wirklichkeit kann eine Revolution keinen linearen Verlauf haben, da die Klassengegensätze in einer revolutionären Situation am deutlichsten zum Ausdruck kommen und sich die Klassenherrschaft soweit verschiebt, dass am Ende die herrschende Klasse politisch entmachtet  ist und die Arbeiterklasse die politische Macht in der Gesellschaft inne hat.

Diese außergewöhnliche Situation ist es, die breite Schichten der Arbeiterklasse in den Bann der Revolution zieht, Teile der Kleinbourgeoisie auf die Seite der Revolution ziehen kann und andere wiederum auf die Seite der Reaktion stößt. Diese permanente Verschiebung der Kräfteverhältnisse der Klassen macht eine lineare Entwicklung einer revolutionären Situation geradezu unmöglich. Auch dies konnten wir in der Periode zwischen der Februarrevolution und der Oktoberrevolution 1917 in Russland beobachten. Die Flexibilität einer Partei, d.h. eine richtige Einschätzung, in welcher Situation man angreifen oder sich zurückziehen soll, ist eine unbedingte Voraussetzung möchte man das Proletariat in dieser Schlacht der Klassen mit den geringsten Verlusten trotzdem zum langfristigen Sieg führen.

Lenin und die Bolschewiki haben diese Flexibilität besessen. Sowohl in langfristig historischer Betrachtung der Entwicklung der Bolschewiki als auch zwischen Februar und Oktober 1917 hat die Partei keine schematischen Fehler gemacht, die von großer Bedeutung wären (auch wenn einige Bolschewiki durchaus eine Neigung hatten, alte Formeln zu wiederholen ohne sie in ihren historischen Kontext zu stellen, wie Lenin auch öfters aufgezeigt hat).

Die Bolschewiki konnten als Partei des russischen Proletariats die Massen hinter sich führen, weil ihre ganze Entwicklung sie sowohl auf der Ebene der ideologischen Auseinandersetzung als auch auf der Ebene der praktischen Erfahrung gestärkt hat und sie gelernt haben sowohl anzugreifen als auch sich zurückzuziehen. So charakterisiert Lenin in seinem Buch „Der ‚linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ die einzelnen Perioden in der Entwicklung der Partei. Über die Periode 1907-1910 schreibt er:

„Revolutionäre Parteien müssen stets zulernen. Sie haben gelernt, anzugreifen. Jetzt gilt es zu begreifen, daß diese Wissenschaft ergänzt werden muß durch die Wissenschaft, wie man sich richtig zurückzieht. Es gilt zu begreifen – und die revolutionäre Klasse lernt aus eigener bitterer Erfahrung begreifen -, daß man nicht siegen kann, wenn man nicht gelernt hat, richtig anzugreifen und sich richtig zurückzuziehen. Von allen geschlagenen oppositionellen und revolutionären Parteien haben sich die Bolschewiki in größter Ordnung zurückgezogen, mit geringsten Verlusten für ihre „Armee“, bei größter Erhaltung ihres Kerns, unter geringsten Spaltungen (ihrer Tiefe und Unheilbarkeit nach), geringster Demoralisation und größter Fähigkeit, die Arbeit möglichst umfassend, richtig und energisch wiederaufzunehmen (5).“

Der Kampf für eine neue Partei und Internationale

Lenin und den Bolschewiki war klar, dass eine nationale Beschränkung der Revolution ihr letztendlich den Todesstoß versetzen würde. Schon in seinen Aprilthesen argumentierte Lenin für den Aufbau einer neuen – der dritten – Internationale. Das Ausbleiben der Ausweitung der Revolution auf andere Länder war schlussendlich der Grund, warum die russische Revolution degenerierte und zu einem degenerierten Arbeiterstaat, d.h. einem Staat der zwar noch eine geplante Wirtschaft besitzt, jedoch von einer kleinen Kaste an Bürokraten kontrolliert wird, verkam.

Wir müssen für heute die Schlussfolgerung ziehen, dass alle Kämpfe unbedingt unter dem Banner des Internationalismus geführt werden müssen. Gerade im Zeitalter der Globalisierung und neoliberaler Angriffe auf einer internationalen Ebene ist es notwendig Kämpfe in verschiedenen Ländern zu koordinieren und ihnen somit eine größere Schlagkraft zu verleihen. Doch die Organisation, welche diese Aufgabe erfüllen könnte, existiert heute nicht. Um die Kämpfe der ArbeiterInnenklasse zu vereinen, gilt es deshalb eine solche Organisation aufzubauen. Deshalb kämpfen wir nicht nur in einzelnen Ländern für die Schaffung von revolutionären Parteien, sondern koordinieren diese Kämpfe auf einer internationalen Ebene mit einem Ziel: Der Schaffung einer neuen Weltpartei der sozialistischen Revoultion, der Fünften Internationale, die national und international für die Niederwerfung des Kapitalismus kämpft.

Die Notwendigkeit des Marxismus als revolutionäre Methode

Die Lehren der russischen Revolution können offensichlich nicht nutzbar gemacht werden ohne ein theoretisches Studium ihrer Triebkräfte, der revolutionären Strategie und Taktik. Das ist letztlich jedoch unmöglich ohne die marxistische Methode.

Der Marxismus ist hierbei nicht eine Theorie von vielen, sondern die einzig wirklich revolutionäre Theorie, welche die objektiven Interessen des Proletariats ausdrückt. Alle bürgerlichen Ideologen, die versuchen den Marxismus seines revolutionären Gehalts zu berauben, bekommen am Ende dieses Prozesses einen zutiefst verstümmelten Marxismus, der in Wirklichkeit kein Marxismus mehr ist.

Denn die Begründer des Marxismus – Karl Marx und Friedrich Engels – blieben als Revolutionäre nicht dabei die Welt zu erklären, sondern wollten sie aktiv verändern. Dies ist in allen Bereichen des Marxismus offensichtlich.

In der materialistischen Geschichtsauffassung blieben sie nicht dabei zu erklären, dass die Entwicklung der Produktivkräfte den Gang der Geschichte bestimmt, sondern zogen auch die Schlussfolgerung, dass diese Entwicklung unbedingt die Fesseln des Kapitalismus sprengen müsse. In der Philosophie blieben sie nicht dabei die Welt zu erklären, sondern begriffen die aktive Selbstveränderung der Welt durch das Proletariat als immanenten Bestandteil der Philosophie. Deshalb ist und bleibt der Marxismus die einzig revolutionäre Methode.

Denn schon Lenin erkannte:

„die Frage [kann] nur so stehen: bürgerliche oder sozialistische Ideologie. Ein Mittelding gibt es hier nicht (denn eine ‚dritte‘ Ideologie hat die Menschheit nicht geschaffen, wie es überhaupt in einer Gesellschaft, die von Klassengegensätzen zerfleischt wird, niemals eine außerhalb der Klassen oder über den Klassen stehende Ideologie geben kann). Darum bedeutet jede Herabminderung der sozialistischen Ideologie, jedes Abschwenken von ihr zugleich eine Stärkung der bürgerlichen Ideologie (6).“

Anders als die bürgerliche Sozialwissenschaft lehnt der Marxismus die starre, schematische Trennung von Methode und Gegenstand ab. Die Dialektik, der historische Materialismus müssen sich am konkreten Gegenstand bewehren. So unerlässlich daher Kenntnis und Studium der Methode, so wenig ersetzt es die konkrete Analyse der konkreten Situation, die Kenntnis und Analyse des Gegenstandes selbst. Der Leninismus zeigte im Gegensatz zu seinen stalinistischen „Nachfolgern“ gerade darin seine Stärke, dass er in der Lage war, sowohl an den Grundsätzen des Marxismus festzuhalten als auch mit „tradierten Formeln“ zu brechen.

„Lenin gibt eine erbarmungslose Lektion denjenigen ‚alten Bolschewisten‘, welche mehr als einmal, sagt er, ‚in der Geschichte unserer Partei die traurige Rolle gespielt haben, mechanisch sinnlose und erlernte Phrasen zu wiederholen, statt die Eigenartigkeit der neuen, lebendigen Wirklichkeit zu studieren.‘ ‚Nicht den alten Formeln, sondern der neuen Wirklichkeit muß man sich anpassen.'(7)“

Gegen diese Gefahr helfen weder Praktizismus noch Pragmatismus, sondern nur das Studium des Marxismus, der Geschichte und Kämpfe der revolutionären Arbeiterbewegung – eine zentrale Aufgabe jedes Revolutionärs, jeder Revolutionärin.

Fussnoten

(1) W.I. Lenin: Briefe aus der Ferne (Brief 2), in: LW, Bd. 23, S. 330, a.a.O

(2) Leo Trotzki: Mein Leben, S. 164 Dietz Verlag, Berlin, 1990

(3) Zitiert aus: Leo Trotzki: Die Lehren des Oktobers

(4) Resolution über die Stellung zur provisorischen Regierung, in: LW, Bd. 24, S. 140, a.a.O.

(5) W.I. Lenin: Der „linke Radikalismus,“ die Kinderkrankheit des Kommunismus, LW, Bd. 31, S. 12, a.a.O.

(6) W.I. Lenin: Was tun?, in: Lenin: Gesammelte Werke (nachstehend LW), Bd. 5, S. 395f., Dietz Verlag Berlin, 1973

(7) Leo Trotzki: Die Lehren des Oktober




100 Jahre Roter Oktober – Die Aktualität der Revolution

Tobi Hansen, Neue Internationale 223, Oktober 2017

Epochemachende Ereignisse prägen die Geschichte und das Denken ganzer Generationen. Die Oktoberrevolution war ein solches Jahrhundertereignis. Wie die Pariser Kommune als Beispiel für den Kampfeswillen des Proletariats galt, so die Oktoberrevolution für die Möglichkeit, den Kampf gegen Staat und Kapital zu gewinnen. Viele tausende Organisationen und Parteien wie auch Hunderttausende und Millionen Menschen werden sich an die Taten des russischen Proletariats, der Soldaten und BäuerInnen erinnern, die im Oktober 1917 die Grundlage für die Bildung der Sowjetunion legten.

In diesem Artikel wollen wir auch an die Geschichte erinnern. Wir verweisen an dieser Stelle für eine weit umfassendere Darstellung auf die letzte Ausgabe des „Revolutionären Marxismus“, in dem wir ausführlich Programm, Methode und Lehren der bolschewistischen Politik behandeln. Erst in Bezug auf ihre Aktualität erhält das genaue Studium der Geschichte der Klassenkämpfe, der Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung ihren politischen Sinn. Ansonsten droht sie zum historischen Andenken, zur bloßen Traditionspflege zu verkommen.

Das trifft nicht nur auf „wohlwollende“ bürgerliche Geschichtsbetrachtung zu, die den revolutionären Kern des Oktober als „Ausrutscher“ der Vergangenheit entsorgen will. Es trifft auch auf „VerteidigerInnen“ wie „KritikerInnen“ des Bolschewismus zu, die wie die StalinistInnen Lenin zum Vorläufer Stalins umdichten wollen oder, wie ultralinke Strömungen, die spätere Bürokratisierung der Revolution als unvermeidliche, wenn auch nicht unbedingt gewollte Folge der Politik von Trotzki und Lenin interpretieren.

1917-2017

Wenn wir uns die sonst übliche antikommunistische, antirevolutionäre Hetze vergegenwärtigen, ist bislang zumindest in Deutschland diesbezüglich nicht viel geschehen. Etwas Beileid mit den Romanows im Frühjahr auf den Kanälen, ansonsten relativ wenig bürgerliche Hetze gegen die Oktoberrevolution.

Das mag vor allem daran liegen, dass das System der bürgerlichen Klasse derzeit kein „Erfolgsmodell“ darstellt. Man könnte sagen, dass die objektiven Umstände, welche die Russische Revolution begünstigten, im großen Stil wieder Realität werden.

Erst neulich trat die Nr.1 der „freien“ Welt, der US-Präsident, vor die diplomatische Plauderrunde der UN, um in dort eher ungewohnter Wortwahl (vor diesem Gremium, nicht beim Präsidenten) dem „Schurkenstaat“ Nordkorea mit „vollständiger Zerstörung“ zu drohen, was auch den Einsatz von Massenvernichtungswaffen mit einschließe.

Dies ist nur ein Beispiel für die aktuelle Phase des Imperialismus, in der sich die Fratze der Reaktion, des Rassismus, Nationalismus und des Faschismus wieder auf der Bühne der „Weltpolitik“ zeigen darf. Nach 1990 versprachen die westlichen Mächte Wohlstand, Frieden, Demokratie für alle, die sich unterwerfen bzw. denen sie im Zuge der kapitalistischen Restauration gerade die Segnungen der Marktwirtschaft verkündeten. Dazu waren auch die gewendeten BürokratInnen der UdSSR und Chinas bereit, nur folgte keine soziale Sicherheit, sondern „nur“ das globale Diktat des Imperialismus.

Unter dem Schlagwort „Globalisierung“ setzte er sein System weltweit durch, eine neue Ära der Konkurrenz, der Monopolisierung und der Marktdurchdringung wurde zur Realität. Mit der Krise 2007/2008 zeigte das kapitalistische System, was von seinen Versprechen nach 1990 übrig blieb – nämlich nichts. Die Verluste der Börsen, Banken und SpekulantInnen wurden als neue Staatsschulden „sozialisiert“, Billionen von Euro und US-Dollar in die Finanzmärkte gepumpt, und die Sparmaßnahmen kürzten die Löhne, Renten und Sozialleistungen weltweit. Nicht Frieden, Demokratie und Wohlstand, wie vorm Irakkrieg versprochen, waren angesagt, sondern Krieg, Elend und Verzweiflung. Der Arabische Frühling war eine Rebellion der Volksmassen gegen die Marionetten des Imperialismus. Die Niederlage dieser Bewegungen läutete eine globale Phase der Reaktion ein. Der Aufstieg des „Islamischen Staats“, die Konterrevolution in Ägypten, die Bürgerkriege in Syrien, Libyen und dem Jemen beendeten diesen „Frühling“ in den nordafrikanischen und arabischen Halbkolonien.

Die politische Reaktion zeigt sich im globalen Rechtsruck, auch in der EU. Nach Jahren der Schuldenkrise, der Spardiktate sind es jetzt die RassistInnen und NationalistInnen, welche sich als SystemgegnerInnen profilieren wollen, vor allem gegen die Geflüchteten, die MuslimInnen und sozialen Minderheiten.

Das imperialistische System ist in der Krise, in einer zugespitzten Konkurrenz miteinander. Die USA als Weltmacht Nr. 1 werden von China und der EU auf den globalen Märkten herausgefordert. Hier geht es um Profite, um Marktanteile, um Übernahmen – ein neuer Kampf um die Neuaufteilung der Welt ist entbrannt!

Diese globale Lage steuert auf die Verhältnisse ähnlich jenen vor 1917 objektiv zu. Nicht nur die ökonomischen Angriffe und die Konkurrenz werden schärfer, auch die Kriegsgefahr steigt. Natürlich wiederholt sich die Geschichte nicht (sonst wäre sie auch keine). Aber die der kapitalistischen Gesellschaft innewohnenden Widersprüche drängen heute, ebenso wie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, mit Macht an die Oberfläche, drohen, sich in eruptiven Krisen und Kriegen zu entladen. Damit aber entwickeln sich, wenn auch auf dem Boden neuer Technik, veränderter Klassenzusammensetzung, neuer Erscheinungsformen des Systems jene Widersprüche, die auch zur Oktoberrevolution und zur internationalen Krisenperiode nach 1917 geführt haben. In diesem Sinne hat die Machtergreifung der ArbeiterInnen und BäuerInnen, haben der Sturz von Zarismus und Kapitalismus sowie die Errichtung der Räteherrschaft bis heute ihre Aktualität behalten.

Umrüstung von Partei und Programm

Eine der wichtigen Lehren aus der Russischen Revolution betrifft die zentrale Rolle und den Charakter der kommunistischen Partei. Bekannt sind die Parteien stalinistischen Musters, ohne innere Demokratie, mit einem abstrakten Personenkult, welcher dann meist je nach Bürokrat auch wechseln kann. Im Vergleich zu dem, was die Bolschewiki in der Russischen Revolution taten und verkörperten, handelt es sich hier um komplett verschiedene Organisationen, abschreckende Beispiele.

Die Bolschewiki wuchsen im Jahr 1917 zu einer Massenpartei an. Von wenigen Tausend, die in der Illegalität des Krieges die Partei und Organisationsarbeit aufrechterhielten, wurden sie innerhalb weniger Monate zu einer Partei von Hunderttausenden. Gleichzeitig veränderte die Partei ihr Programm in grundlegenden Fragen, ihre Methode und Taktik im Angesicht der Februarrevolution und der Aufgaben, die auf sie zukamen.

In dem Artikel „Bruch und Wandel des Bolschewismus“ haben wir die Entwicklung der Bolschewiki von einer Partei, die zu Anfang 1917 in vielen Punkten immer noch die Methoden und Taktiken der Zweiten Internationale verinnerlicht hatte, zur Partei des Oktober nachgezeichnet.

Bekanntlich ging die große Mehrzahl der Bolschewiki vor 1917 davon aus, dass die russische Revolution ihrem Wesen nach eine bürgerliche Revolution sein müsse, dass sie nicht zur Diktatur des Proletariats, sondern zur „demokratischen Diktatur“ der ArbeiterInnen und BäuerInnen führen müsse. Dies im besten Fall widersprüchliche Formel erwies sich angesichts der realen Entwicklung der Revolution, der objektiv gestellten Aufgaben als unhaltbar. Sie musste entweder nach rechts, d. h. hin zu eine Anpassung an die bürgerliche Klasse, „gelöst“ werden, also zu einem strategischen Block mit Menschewiki oder Sozialrevolutionären – oder nach links, zur Übernahme der Konzeption der „permanenten Revolution“.

Die „Aprilthesen“ Lenins vollzogen diesen Schritt nach links. Als er sie nach seiner Rückkehr nach Russland präsentierte, waren sie auch unter der Mehrheit der Partei kein umjubeltes Dokument, sondern wurden scharf vom rechten Flügel, von führenden Genossen wie Kamenew, Sinowjew und Stalin kritisiert. Lenin musste Vorwürfe des „Blanquismus“ über sich ergehen lassen.

Lenins Politik war schließlich ein direkter Bruch mit der bisherigen Konzeption der Bolschewiki. Die „Aprilthesen“ stellten die Lösung der Doppelmacht zwischen Provisorischer Regierung und den Sowjets in den Mittelpunkt – und somit auch die Machtfrage zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Weil das Bürgertum seine historisch fortschrittliche, revolutionäre Rolle bereits ausgespielt habe, sei die kommunistische Partei verpflichtet, ein Programm für die proletarische Revolution, gestützt auf die Bauernschaft, zu entwerfen.

Diese Strategie war maßgeblich von der Beschäftigung mit der Analyse der imperialistischen Epoche geprägt, wie sie Lenin unter anderem in seiner Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ darlegt, und von der Vorstellung, dass der Erste Weltkrieg die internationale proletarische Revolution auf die Tagesordnung stellt. Hier konvergierte Lenins Theorie mit der Trotzkis von der permanenten Revolution. Beide vollziehen einen grundlegenden Bruch mit den alten Vorstellungen der Zweiten Internationale, deren geschichtliche Erben Sozialdemokratie und Stalinismus werden sollten.

Dieser Wechsel mit allen seinen Implikationen wie alle großen politischen Wendungen des Bolschewismus im Jahr 1917 wurden sehr aktiv in der Partei diskutiert. Bei den ArbeiterInnen in den Bezirksorganisationen, den VertreterInnen der Bolschewiki in den Räten, bei den Soldaten standen die Debatten um Programm und Taktik im Mittelpunkt.

Charakter der Partei

Vielfach wird das Bild der einigen, der einheitlichen Partei gezeichnet, welche, erleuchtet von Lenin, geschlossen marschierte. Auch wenn die Bolschewiki sicher viel einheitlicher waren als andere Parteien, so musste diese Geschlossenheit immer wieder im inneren Streit, in der offenen Auseinandersetzung um die politische Linie errungen werden.

„Die Vorstellung, dass Lenin ein ‚chemisch’ reiner Bolschewismus vorschwebte, der keine inneren Differenzen geduldet hätte, ist für jede Phase der Entwicklung der Partei vor der Machtergreifung schlichtweg falsch – und selbst danach bedurfte es einiger Jahre, bis die bürokratische Konterrevolution die Partei zu jener Karikatur des ‚Leninismus’ machen konnte, wie sie in den stalinistischen Geschichtsmythen gefeiert wird.

Der Streit, die Auseinandersetzung um die richtige Linie, um revolutionäre Klarheit ist das unerlässliche Terrain, auf dem sich überhaupt nur eine revolutionäre Politik entwickeln kann. Nur in diesem Rahmen kann sie verallgemeinert und zur Konzeption, zur Programmatik einer Organisation und ihrer Mitglieder werden, nur in diesem Rahmen können Entwicklungen aufgenommen werden.

Erst recht kann nur auf einer solchen Basis eine Kampfpartei jene Elastizität entwickeln, die es ermöglicht, ihr Handeln rasch an wechselnde politische Situationen (z. B. Phasen der Reaktion auf jene der revolutionären Offensive, Illegalität auf jene der Legalität usw. usf.) anzupassen.“ (Bruch und Wandel des Bolschewismus, RM 49, Seite 32)

Eine solche Partei war in der Lage, von einer kleinen Minderheit zur Führerin der Klasse zu werden, diese für ihr Programm zu gewinnen und ihr Handeln zu bündeln.

„Das Programm der Partei muss aber zugleich auch eine Vermittlung darstellen zu den aktuellen Grundfragen des Klassenkampfes, eine Verbindung herstellen zwischen den unmittelbaren nächsten Konflikten, dem Bewusstsein der Klasse im Hier und Heute, den strategischen Aufgaben der aktuellen Periode, der Frage der politischen Macht und des Übergangs zum Sozialismus. Ein solches Programm muss die aktuellen Tageskämpfe mit dem strategischen Ziel verknüpfen. Daher nimmt es die Form eines Aktionsprogramms, einer Anleitung zum Handeln an.“ (Ebenda, S. 75)

Diese Tradition der Bolschewiki, als aktive Kampfpartei, nach außen wie nach innen, zu handeln, muss für uns heute die Hauptlehre aus der Russischen Revolution sein. Das ist das Vermächtnis, das zukünftigen kommunistischen Massenparteien Vorbild sein soll.

Programmatisches Erbe

Wir stehen heute am Beginn einer weltgeschichtlichen Periode, die in vielem der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts gleicht. Auch wenn sich Geschichte nicht wiederholt, hinterlässt die Politik des Bolschewismus ein theoretisch-programmatisches Erbe, das auch heute noch, ja wieder aktuell ist und an das es anzuknüpfen gilt.

  1. Der internationale Charakter der Revolution

Der Kapitalismus ist schon immer ein internationales gesellschaftliches System gewesen. Seine inneren Krisen treiben notwendigerweise zu revolutionären Zuspitzungen – und zwar im globalen Maßstab. Kommunistische Politik darf daher den internationalen Klassenkampf nicht als Summe nationaler Kämpfe begreifen, sondern muss umgekehrt von den Gesamtinteressen der Klasse weltweit ausgehen. Der Sozialismus in einem Land hat sich im Stalinismus als das erwiesen, was er seinem Begriff nach schon immer war – eine reaktionäre Utopie.

  1. Anti-Imperialismus

Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt droht der Menschheit mit neuen Handelskriegen, Zuspitzungen bis hin zum großen Krieg. Die ArbeiterInnenklasse darf in diesem reaktionären Ringen keine Gruppe imperialistischer Staaten und Mächte unterstützen, sondern muss sich im Konflikt der Methode des „revolutionären Defaitismus“ bedienen und des Klassenkampfes gegen die „eigene“ Bourgeoisie . Liebknechts Losung „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ hat nichts an Aktualität verloren.

Antiimperialismus bedeutet nicht nur Klassenkampf gegen die eigene Bourgeoisie, er bedeutet auch die Unterstützung nationaler Befreiungskämpfe unterdrückter Nationen, von Aufständen und Klassenkämpfen gegen die ImperialistInnen und die „nationale“ Bourgeoisie in den halb-kolonialen Ländern.

  1. Permanente Revolution

Der niedergeschlagene „Arabische Frühling“ war ein weiterer Beweis dafür, dass demokratische Forderungen im Zeitalter des Imperialismus nicht allein durch eine „demokratische Revolution“ errungen werden können. Die Abhängigkeit des Bürgertums in den Halbkolonien von den imperialistischen Bourgeoisien ist heute genauso gegeben wie die Abhängigkeit der russischen Bourgeoisie vom Großgrundbesitz und dem französischen und britischen Finanzkapital. Daher braucht das Proletariat eine unabhängige Klassenpolitik. Nur diese kann die Basis für ein Bündnis mit den ausgebeuteten Schichten von Stadt und Land, speziell den unteren Schichten der Bauernschaft in den Halbkolonien sein. Dies bedeutet auch, dass Proletariat, Bauernschaft und die städtische Armut nicht auf die Illusionen in eine „westliche“ Demokratie setzen dürfen, sondern stets deren Abhängigkeit vom Imperialismus berücksichtigen und für die proletarische Demokratie, die Rätedemokratie kämpfen.

  1. Verteidigung demokratischer Rechte

Gerade angesichts der reaktionären Züge unserer Zeit gewinnen die Verteidigung demokratischer Rechte und das Einstehen für demokratische Forderungen eine wichtige Bedeutung. Wir stehen an der Seite derjenigen, welche die Meinungs- und Pressefreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Koalitionsfreiheit auf gewerkschaftlicher und Parteiebene gegen staatliche Eingriffe und Repressionen verteidigen. Dabei ist uns aber auch klar, dass dieser Kampf nicht abstrakt für die parlamentarische Demokratie geführt werden kann, sondern auf eine proletarische Demokratie, eine Rätedemokratie abzielen muss.

  1. Soziale Unterdrückung

Die kapitalistische Ausbeutung stützt sich zusätzlich auf mannigfaltige Unterdrückung verschiedener Teile der Bevölkerung und insbesondere unter den ProletarierInnen. Rassismus, Sexismus, Homophobie werden benutzt, um die Spaltung der Klasse zu vertiefen und chauvinistische Vorurteile und rückständiges Bewusstsein zu stärken. Deswegen treten wir für besondere Rechte der unterdrückten Teile der ArbeiterInnenklasse ein, wollen die Selbstorganisierung von Frauen, von MigrantInnen, der Jugend und von sexuell Unterdrückten stärken. So können diese ihren Kampf als Teil des Proletariats führen, wie wir auch in der Klasse gegen Vorurteile und rückständiges Bewusstsein kämpfen. Der Kampf wie der gegen Rassismus, für offene Grenzen und gleiche Rechte aller MigrantInnen und Flüchtlinge ist integraler Bestandteil des Klassenkampfes.

  1. Taktik der Einheitsfront

RevolutionärInnen suchen die größtmögliche Einheit der ArbeiterInnenklasse im Kampf gegen das Kapital, die Regierung, den bürgerlichen Staat. Diese Forderung richten sie – wie die Bolschewiki 1917 – an die ArbeiterInnenparteien und Massenorganisationen, deren Basis wie deren Führungen. Der gemeinsame Kampf für klar definierte Ziele darf dabei nie auf Kosten der Freiheit der Propaganda und Kritik an den zeitweiligen reformistischen, gewerkschaftlichen oder kleinbürgerlichen BündnispartnerInnen gehen. Eine revolutionäre Anwendung der Einheitsfronttaktik verfolgt nämlich immer zwei Ziele gleichzeitig – größtmögliche Einheit in der Aktion und die Ablösung der ArbeiterInnen und Unterdrückten von reformistischen, zentristischen oder kleinbürgerlichen Führungen.

  1. Zerschlagung des bürgerlichen Staats – Kampf um die Rätemacht

Ein entscheidendes Merkmal der erfolgreichen Russischen Revolution waren die Sowjets, die Räte, welche den gesammelten Willen des Proletariats, der Bauernschaft und der Soldaten 1917 repräsentierten und daher die wichtigste Stütze der Revolution verkörperten. Diese können nur in revolutionären und vorrevolutionären Situationen entstehen. So wichtig die Räte dabei als elementare Form der Selbstorganisation der Klasse sind, so können sie ihr Potential als Kampforgane und Kern einer zukünftigen proletarischen Staatsmacht nur verwirklichen, wenn sie von einer revolutionären Partei geführt werden. Alle Theorien, die die Räte der Partei entgegenstellen, müssen daher strikt zurückgewiesen werden. Nur durch eine revolutionäre Führung kann die Klasse, gestützt auf Räte, auf Milizen – den bewaffneten Teil der ArbeiterInnenklasse – und in Räten organisierte Soldaten die Macht erobern, eine Doppelmachtsituation aufheben, die bürgerliche Staatsmaschinerie zerschlagen und durch einen proletarischen Halbstaat ersetzen.

  1. Proletarier aller Länder vereinigt Euch!

Diese bekannte Losung aus dem Kommunistischen Manifest hat an Strahlkraft nichts von ihrer Bedeutung verloren, im Gegenteil. Ein revolutionärer Kampf, eine Befreiung der Menschheit vom Kapitalismus, die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft kann nur auf internationaler Basis stattfinden – oder eben nicht. Dies war die Erkenntnis von Marx und Engels, von Lenin und Trotzki bis zu ihrem Tod. Die Entfremdung dessen, ja sogar völlige Verzerrung durch die Ideologie des „Sozialismus in einem Land“ hat nicht nur die Degeneration und schließlich das Ende des ArbeiterInnenstaates eingeläutet, es hatte auch verheerende Folgen für den internationalen Klassenkampf und die politischen Organisationen. Letztlich führte dies zur Abschaffung der Komintern, welche zuvor den nationalen Bedürfnissen der Sowjetbürokratie untergeordnet wurde.

Deswegen ist der Aufbau einer Weltpartei der sozialistischen Revolution, einer 5. Internationale heute die zentrale Aufgabe unserer Zeit. Nur ein internationales Programm gegen den Imperialismus, welches die aktuellen Kämpfe weltweit via der Übergangsmethode mit dem Kampf gegen die herrschende Ordnung verbindet, kann diesen auch herausfordern und stürzen.

  1. Für die revolutionäre Partei!

Wir treten ein für das methodische und taktische Rüstzeug der linken Opposition in der Sowjetunion, für die Theorie und Praxis der Bolschewiki-LeninistInnen. Mit ihrer Methode und ihren Analysen haben sie die Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Sozialismus betrieben und real die „Lehren des Oktober“ gezogen. An diesen Fundus knüpfen wir mit unserer Programmatik, unserer Strategie und Taktik an und wollen diese in den Aufbau einer neuen kommunistischen Partei und Internationale einbringen, da nur auf dieser Grundlage eine lebendige kämpferische Organisation aufgebaut werden kann. Zu den Werkzeugen des Marxismus, des Leninismus wollen wir eine Herangehensweise entwickeln, die im folgenden Zitat gut wiedergegeben ist:

Und wenn irgendetwas tödlich für das geistige Leben der Partei und die theoretische Erziehung der Jugend sein kann, dann dies, nämlich den Leninismus aus einer Methode, zu deren Anwendung Initiative, kritisches Denken und ideologischer Mut notwendig sind, in einen Kanon zu verwandeln, der nur Interpreten braucht, die ein für alle Mal ernannt wurden.“

(Trotzki, Der Neue Kurs, in: Wolter, Ulf [Hrsg.]: Die Linke Opposition in der Sowjetunion 1923-1928“, Band I, 1923-1924, Berlin/West [Olle & Wolter], 1976, S. 390)




Bruch und Wandel des Bolschewismus. Das Programm der Russischen Revolution

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 49, März 2017

“Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen, und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, …“ (1)

Die bürgerlichen Revolutionen bedurften dieser Selbsttäuschung, dieser „Betäubung“ über den Inhalt der Revolution, ihren eigentlichen Zweck, gerade weil sich die Revolution des Bürgertums als Befreiungsakt aller Menschen, aller BürgerInnen proklamierte. Nur so konnte sie die Volksmassen gegen die alte Ordnung mobilisieren, nur so konnten die entschiedenen Teile des Bürgertums die Hindernisse für eine neue Gesellschaft zerstören. Sie verfolgten damit ihren eigenen bornierten Zweck: die Etablierung einer neuen herrschenden Minderheit über die Gesellschaft.

Daher wendet sich jede bürgerliche Revolution nicht nur an einem bestimmten Punkt gegen ihre radikalsten VerfechterInnen. Ein Mangel an Bewusstheit, die ideologische Verschleierung des grundlegenden Charakters der bürgerlichen Revolution, also ihres Klassencharakters, ist für sie ein Wesensmerkmal, dessen Nutzen für die Bourgeoisie und ihre ParteigängerInnen ebenso leicht verständlich ist wie die Problematik, die sich daraus für die Massen ergibt, die die Revolution vorangetrieben haben, die selbst die großen Parolen der bürgerlichen Umwälzung – egalité, liberté, fraternité (Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit) – ernster genommen haben als das zur Herrschaft kommende Bürgertum.

Hinzu kommt, dass  die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse schon im untergehenden Feudalismus – insbesondere im Absolutismus – mehr und mehr die feudale Produktionsweise zersetzten, an den Rand drängten, noch unter der alten Ordnung ein ökonomisches Übergewicht erlangten. Die bürgerliche Revolution setzt nur die Hindernisse für die Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise frei, die politische und soziale Machtergreifung durch die Bourgeoisie vollzieht gewissermaßen den ökonomischen Prozess nach, etabliert die dieser Entwicklung angemessenen politischen Formen. Daher kann auch die monarchische Konterrevolution diese Prozesse nicht mehr umkehren, der Bonapartismus eines Louis Napoleon, sein Kaiserreich, ist eine bürgerliche, keine feudale Herrschaftsform.

Anders die proletarische Revolution. Die ArbeiterInnenklasse kann keine eigene Produktionsweise im Rahmen des Kapitalismus herausbilden. Sie treibt nur den Widerspruch zwischen der zunehmenden Vergesellschaftung der Produktion und deren privater Aneignung mehr und mehr auf die Spitze. Um eine neue Produktionsweise zu errichten, muss die ArbeiterInnenklasse zuerst die Staatsmacht erobern, um so die Gesellschaft auf neuer Grundlage überhaupt reorganisieren zu können.

Daher spielt die Bewusstheit in der proletarischen Revolution nicht nur eine größere, sondern vor allem eine qualitativ andere Rolle als in der bürgerlichen Revolution.

„Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus.“ (2)

Um diese Aufgabe zu bewältigen, um den „Inhalt über die Phrase“ zu stellen, braucht die ArbeiterInnenklasse auch eine Organisation, eine politische Partei, die diesen Inhalt theoretisch und praktisch verkörpert, weiterentwickelt, an  die neue Situation anpasst.

Ohne eine solche Partei, ohne eine Organisation, die in der Lage war, aus den vergangenen Klassenkämpfen, aus dem Arsenal eines wissenschaftlichen Verständnisses des Kapitalismus sowie der aktuellen weltgeschichtlichen Epoche zu lernen und die politischen Konsequenzen zu ziehen, wäre auch die Russische Revolution 1917 auf halbem Wege stecken geblieben. Sie hätte nicht zur Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse geführt und wäre auch nicht zum Fanal für eine ganze Periode bis 1923 geworden, die die proletarische Weltrevolution als geschichtliche Aufgabe gestellt hat. Sie wäre nicht zum Fanal für eine ganze Epoche geworden, die uns vor die Alternative „Sozialismus oder „Barbarei“ gestellt hat, von einer Epoche, die sich auch heute  krisenhaft im Kampf um die Neuaufteilung der Welt wieder geltend macht.

Wenn wir von der Aktualität der Russischen Revolution sprechen, so nicht im trivialen Sinne einer einfachen Wiederholung, die ohnedies niemandem vorschwebt, sondern vielmehr im Sinne des politischen und programmatischen Erbes des Bolschewismus.

Wenn Marx davon spricht, dass „die Tradition aller toten Geschlechter (…) wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden“ laste, so trifft das nicht nur die bürgerlichen Revolutionen, sondern auch die bürgerliche Epoche selbst. Auch auf dem Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse lastet dieser Alp und selbst auf jenen, die sich der Überwindung dieser Gesellschaft verschrieben haben.

Die Bolschewiki (und ihr opportunistisches und letztlich konterrevolutionäres Gegenstück, die Menschewiki) entwickelten sich selbst aus einer zur „Tradition“ gewordenen Interpretation des Marxismus, aus einer „Orthodoxie“ der Zweiten Internationale, die am Beginn des 19. Jahrhunderts und selbst am Beginn der Russischen Revolution 1917 ihr politisches Verständnis und Handeln prägte.

In diesem Artikel werden wir uns daher mit der Entwicklung des Bolschewismus selbst, seinem Verständnis der Triebkräfte der Russischen Revolution sowie dem Bruch mit der Zweiten Internationale beschäftigen, die auch die Notwendigkeit einer „Erneuerung des Marxismus“ selbst am Beginn des 20. Jahrhunderts verdeutlichen.

Wir wollen sodann die Entwicklung des Bolschewismus in der Oktoberrevolution, seine programmatische Umbewaffnung und Erneuerung, seine inneren Konflikte um die strategische und taktische Ausrichtung betrachten. Dabei geht es uns nicht um eine weitere „Geschichte der Russischen Revolution“, sondern darum, die Entwicklung des Programms nachzuvollziehen, dessen bleibende Errungenschaften zu beachten.

Drei Konzeptionen der Russischen Revolution

Die Revolution von 1905 markiert einen zentralen Referenzpunkt in der Geschichte nicht nur der russischen sozialistischen Bewegung. Die Frage der Machtergreifung des Proletariats trat erstmals seit Jahrzehnten als praktische Aufgabe zutage. Schon vor der Revolution hatten sich Bolschewismus und Menschewismus als organisierte Strömungen getrennt, aber die politischen Differenzen standen noch am Beginn ihrer Entwicklung.

Lenin charakterisierte in dieser Periode gelegentlich den Menschewismus als „Opportunismus in organisatorischen Fragen“. Diese Formulierung verdeutlicht, dass sich alle Fraktionen noch immer als Bestandteil einer sozialdemokratischen Bewegung betrachteten. Eine Wiedervereinigung wurde keineswegs kategorisch ausgeschlossen, sondern vielmehr immer wieder angestrebt. Beiden Strömungen waren damals die politisch-taktischen und programmatischen Implikationen ihrer organisatorischen Differenzen noch nicht in all ihren Konsequenzen bewusst, ja, diese hatten sich selbst noch nicht voll entfaltet. Der Kampf der Iskra-Gruppe und das offene Hervortreten des Bolschewismus 1903 nahmen zwar, wenn auch nicht bewusst, den Bruch mit der Parteiform der Zweiten Internationale vorweg. Das betrifft nicht nur die politischen Implikationen des Charakters der Partei, die Lenin vorschwebten, sondern auch ein grundlegend anderes Verständnis des Verhältnisses von Theorie und Praxis, von Programm, Strategie, Taktik, organisatorischen Konsequenzen.

Heute erscheint Lenins These, dass „Klassenbewusstsein von außen“ in die Klasse getragen werden müsse, nicht nur den ReformistInnen, sondern auch den ZentristInnen aller Couleur als Affront, als Form des Substitutionalismus. Interessanterweise machen sich die Kritiken an Lenin 1903 kaum an dieser Formulierung fest, gerade weil es sich dabei um eine These handelte, die Teil der marxistischen Orthodoxie war.

Auch wenn die Formulierung von Kautsky stammte, so gab ihr Lenin einen anderen Sinn, weil er sie in den Kontext einer anderen, zuerst „nur“ für Russland angelegten Parteikonzeption stellte – nämlich in den Kontext einer disziplinierten Kampfpartei, einer Partei von Kadern, für die die revolutionäre Aktivität den Mittelpunkt ihres Lebens bildete.

Die Kautsky’sche Vorstellung vom „Hineintragen“ hingegen war in eine schon etablierte Arbeitsteilung innerhalb der deutschen und internationalen Sozialdemokratie eingepasst. Die Partei hatte schon lange eine Struktur entwickelt, in der die Theoretiker theoretisierten, die Gewerkschafter ihre routinemäßigen Kämpfe um die Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft führten, die PolitikerInnen, PropagandistInnen wie AgitatorInnen vor allem Wahlkämpfe organisierten. Der Fortschritt der Partei drückte sich durch Wachstum der Organisation und Stimmenanteile bei Wahlen plus Schulung aus.

Diese Partei wurde vom Kaiserreich stigmatisiert und beharrte auf ihrer marxistischen „Orthodoxie“, andererseits verrichtete sie aber jahrein, jahraus innerhalb eines halb-bonapartistischen Systems ihre gradualistische Oppositions- und Sammlungsarbeit. Jahrzehnte der evolutionären Entwicklung nach Aufhebung der Sozialistengesetze hatten die deutsche Sozialdemokratie geprägt. Ihre innere Struktur entsprach einer Partei, für die ihr Endziel, die sozialistische Revolution, und auch die Unabhängigkeit von allen Parteien des Bürgertums einerseits identitätsstiftend waren, andererseits aber zunehmend eine formale Hülle der Tagespraxis, für die die soziale Revolution keine unmittelbare Bedeutung hatte.

Programmatisch war diese Kombination von Organisationsarbeit, gewerkschaftlichen und politischen „Positionskämpfen“ kodifiziert in der Trennung von Minimal- und Maximalprogramm.

Im Erfurter Programm, dem „Modell“ marxistischer Programme in der Zweiten Internationale, war diese exemplarisch ausgeführt. Mit dieser Vorstellung entwickelte sich auch die von einer langen Periode hin zur sozialistischen Revolution.

Diese gradualistische Methode reflektierte selbst die Entwicklung des Kapitalismus in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern dieser Zeit, das Wachstum der Industrie und die Entstehung der ArbeiterInnenaristokratie sowie den Übergang zu einer imperialistischen Weltordnung, die aber erst mit dem Ersten Weltkrieg alle politischen Implikationen dieser Entwicklung offenlegen sollte. Um die Jahrhundertwende kündigten sich im Ministerialismus der französischen Partei und im Revisionismusstreit die Unhaltbarkeit dieser Kombination von „marxistischer Orthodoxie“ und aufklärerischer, parlamentarischer und gewerkschaftlicher, im Kern reformistischer, „Tagespolitik“ an.

Dass diese Form der legalen Parteiarbeit und Arbeitsteilung  für Russland nicht möglich war, begünstigte sicher die Entwicklung des Bolschewismus, ließ ihn aber andererseits auch als Sonderentwicklung vor dem Hintergrund der politischen Rückständigkeit Russlands erscheinen, so dass der politische Kampf in der russischen Sozialdemokratie in seiner internationalen, beispielhaften Bedeutung unterschätzt wurde.

Haltung zum liberalen Bürgertum

Für die Entwicklung der politischen Parteien fast noch wichtiger war die zur „Orthodoxie“ verkehrte Vorstellung, dass die sozialistische Revolution einen Reifegrad der Produktivkräfte im nationalen Rahmen voraussetze, die sie deshalb nur in den westlichen Ländern auf die „Tagesordnung“ setze: Länder wie Russland wären überhaupt noch nicht „reif“ für eine sozialistische Umwälzung. Zuerst stünde eine bürgerliche Revolution an, die Beseitigung des Zarismus und Feudalismus. Diese Umwälzung müsse nicht nur die Hindernisse für die Entwicklung des Kapitalismus beseitigen, sondern folgerichtig zur politischen Herrschaft der Bourgeoisie führen. Die Aufgabe des Proletariats habe darin zu bestehen, sich einerseits aktiv an der Revolution gegen die Selbstherrschaft zu beteiligen, andererseits die Interessen des Proletariats zu wahren, indem sich die Partei von der Regierung fernhält und die Position der „entschiedenen Opposition“ einnimmt.

Der Menschewismus reklamierte, anders als die Ökonomisten und erst recht als die Revisionisten in der deutschen Sozialdemokratie, für sich, auf dem Boden des „orthodoxen Marxismus“ der Zweiten Internationale zu argumentieren, und warf seinerseits anderen Strömungen vor, in den Blanquismus und Voluntarismus zu verfallen und die „Gesetzmäßigkeiten der Geschichte“ zu missachten.

Mit dem russisch-japanischen Krieg 1904 und der ersten russischen Revolution 1905 traten jedoch die Differenzen zwischen Menschewismus und Bolschewismus deutlicher hervor, auch wenn beide vom bürgerlichen Charakter der Revolution ausgingen.

Beide Fraktionen der russischen Sozialdemokratie waren 1904 gegen den Krieg gegen Japan, wie auch ein großer Teil des Bürgertums dieses Abenteuer ablehnte. In der Haltung zum Krieg traten allerdings schon erste wichtige Differenzen zum Vorschein. Der Menschewismus wollte eine pazifistische Opposition zum Krieg, der Bolschewismus trat für die Niederlage des Zarismus ein, weil das die Unzufriedenheit im Land fördern und die Revolution vorantreiben würde. Sinowjew stellt das in seiner Geschichte der KPDSU (B) folgendermaßen dar:

„Die Menschewiki betonten hauptsächlich seinen dynastischen Charakter und erklärten ihn ausschließlich aus dem Bestreben des Hauses Romanow, den Thron dadurch zu festigen, daß sie die Aufmerksamkeit des Volkes von den inneren Ereignissen auf die äußeren abzulenken versuchten. Bis zu einem gewissen Grad war das natürlich richtig. (…) Aber durch das dynastische Moment wurde die Sache nicht erschöpft. Neben dem dynastischen Moment haben in diesem Krieg zweifellos auch rein imperialistische, annexionistische Bestrebungen, der Wunsch, neue Märkte zu erobern usw., eine bedeutende Rolle gespielt. Viele Parteikomitees, die in Rußland tätig waren, betonten gerade diesen Charakter des russisch-japanischen Krieges, aber die Menschewiki bekämpften diesen Gesichtspunkt (…) Und wenn man sich jetzt in die Evolution des Menschewismus hineinversetzt, so muß man sagen, daß schon in dieser Analyse der Ursachen des russisch-japanischen Krieges ein Anzeichen für ihr künftiges politisches Denken enthalten war.“ (3)

Die Unterschiede zwischen Bolschewismus und Menschewismus wurden 1904 vor allem hinsichtlich der Haltung zur liberalen Bourgeoisie deutlich.

Ende 1904 wuchs nicht nur die politische Empörung und Gärung im Land, die Liberalen forderten eine Einschränkung der Herrschaft des Zaren. Auf Banketten und lokalen „Semstwo“-Versammlungen (Volksversammlungen) wurden relativ radikale Reden geschwungen, Petitionen verabschiedet und Forderungen erhoben bis hin zu der nach einer Verfassunggebenden Versammlung. Auf den Vorschlag menschewistischer FührerInnen hin rief die Partei dazu auf, auch außerhalb der liberalen Bankette für breite demokratische Freiheiten und eine Verfassunggebende Versammlung zu demonstrieren. Dagegen hatten die Bolschewiki keine Einwände, wohl aber gegen die Position der Menschewiki, den Liberalen politische Zugeständnisse zu machen, um sie dabei „nicht zu verschrecken“. So heißt es in einem Brief menschewistischer Führer an die Parteiorganisationen vom November 1904:

„Im Rahmen des Kampfes gegen die Selbstherrschaft aber sollte besonders in der jetzigen Phase unsere Haltung gegenüber der liberalen Bourgeoisie darin bestehen, sie generell zu ermutigen und sie zur Unterstützung des von der sozialdemokratischen Bewegung geführten Proletariats zu bewegen.“ (4)

Um zu verhindern, dass große ArbeiterInnendemonstrationen die liberalen und halb-liberalen BürgerInnen einschüchtern, müssten Vorsichtsmaßnahmen durch die Parteiführung getroffen werden: „Um ein solches Fiasko zu vermeiden, muß die Vollzugskommission die liberalen Abgeordneten rechtzeitig über die bevorstehende Kundgebung und ihre wahren Ziele verständigen. Außerdem muss sie versuchen, eine Art Abkommen mit den Vertretern des linken Flügels der bürgerlichen Opposition zu treffen und sich, wenn nicht ihre aktive Unterstützung, so doch wenigstens ihre Sympathie für die politische Aktion zu sichern.“ (5)

Diese servile Haltung gegenüber dem liberalen Bürgertum unterzieht Lenin einer scharfen Kritik. Er kritisiert an den Menschewiki, dass sie der politischen Feigheit der bürgerlichen Kräfte in die Hände spielten, die letztlich nur auf einen Kompromiss mit dem Zaren und der Bürokratie hinarbeiten, um so eine revolutionäre Zuspitzung zu verhindern. Die Bolschewiki lehnten eine Zusammenarbeit und Bündnisse mit liberalen, bürgerlich-demokratischen Kräften gegen den Zarismus keineswegs ab. Aber sie lehnten es ab, das demokratische Programm selbst für ein solches Bündnis abzuschwächen, den Bedürfnissen einer bürgerlichen „Opposition“ anzupassen, die keinen konsequenten Kampf gegen den Zarismus führen wollte. Kurz gesagt, die Menschewiki ließen die ArbeiterInnen über den Charakter des russischen Bürgertums im Unklaren, das historisch schon nicht mehr fähig und willens für einen konsequenten Kampf für die bürgerliche Revolution war. Dies, so Lenin, sei umso fataler, als sich die politische Lage zu einer Konfrontation mit dem Zarismus, zu einer allgemeinen politischen Krise zuspitzte. Der Fokus durfte daher keinesfalls auf ein Bündnis mit Liberalen gelegt werden, die nicht verschreckt werden sollten, sondern auf die Entfachung einer Massenbewegung gegen den Zarismus.

„Die mit gütiger Erlaubnis der Polizei eröffnete Semstwokampagne, die sanften Reden Swjatopolk-Mirskis und der offiziösen Regierungsblätter, die starken Töne der liberalen Presse, die Belebung der sogenannten gebildeten Gesellschaft – all dies stellt die Arbeiterpartei vor die ernstesten Aufgaben. Diese Aufgaben werden jedoch in dem Brief der ‚Iskra‘-Redaktion völlig verkehrt formuliert. Gerade im gegenwärtigen Augenblick muß im zentralen Brennpunkt der politischen Tätigkeit des Proletariats die Organisation einer nachdrücklichen Einwirkung auf die Regierung und nicht auf die liberale Opposition stehen. Gerade jetzt sind Abkommen zwischen den Arbeitern und den Semstwoleuten über eine friedliche Kundgebung – Abkommen, die sich unvermeidlich in bloße possenhafte Effekthascherei verwandeln würden – weniger denn je angebracht, ist der Zusammenschluß der fortgeschrittenen Elemente des revolutionären Proletariats zur Vorbereitung des Entscheidungskampfes um die Freiheit mehr denn je vonnöten. Gerade jetzt, wo unsere konstitutionelle Bewegung die unausrottbaren Sünden jedes bürgerlichen und insbesondere des russischen Liberalismus – das Überwuchern der Phrase, den Mißbrauch des Wortes, das mit der Tat nicht übereinstimmt, das rein philiströse Vertrauen zur Regierung und zu jedem Helden der Fuchspolitik – kraß zu offenbaren beginnt, gerade jetzt sind die Redensarten über die Unerwünschtheit einer Einschüchterung der Herren Semstwoleute, über den Hebel für die Reaktion usw. usf. besonders taktlos. Gerade jetzt ist es am allerwichtigsten, im revolutionären Proletariat die unerschütterliche Überzeugung zu festigen, dass auch die gegenwärtige ‚Befreiungsbewegung in der Gesellschaft‘ sich ebenso wie die früheren unvermeidlich und unweigerlich als Seifenblase erweisen wird, wenn nicht die Macht der Arbeitermassen eingreift, die fähig und bereit sind zum Aufstand.“ (6)

1905

Die Differenzen zwischen Bolschewismus und Menschewismus sollten sich in der Revolution 1905 phasenweise noch deutlicher darstellen. Die erste Russische Revolution zeichnete sich schon 1904 ab, aber wie viele Erhebungen der Massen entzündete sie sich an einem „zufälligen“, alltäglichen Ereignis, dem berühmten Funken, der alles in Brand setzte.

Dieser Funke ging nicht von den SozialdemokratInnen aus, sondern von einer dubiosen Organisation, die auf Initiative des Polizeichefs Subatow zurückging, der die Etablierung prozaristischer Gewerkschaften vorantrieb und der Versammlung der russischen Fabrik- und MühlenarbeiterInnen St. Petersburgs, geführt von dem orthodoxen Priester Vater Georgi Gapon. In der ersten Woche des Jahres 1905 erschütterte ein Streik St. Petersburg. Im Dezember war vier ArbeiterInnen (alle Mitglieder der Organisation Gapons) des Putilow-Waffen- und Schiffsbaubetriebes, einer der wichtigsten Fabriken St. Petersburgs, gekündigt worden. In Gapons Abwesenheit erhoben sich 600 ArbeiterInnen eines Treffens und stimmten für Streik. Er breitete sich schnell aus. Am 4. Januar kam Unterstützung durch andere ArbeiterInnen. Am nächsten Tag folgten die Stieglitz-Fabrik und die Newski-Werft. Am 7. Januar hatten 382 Fabriken und Büros ihre Arbeit niedergelegt – 100.000 ArbeiterInnen, zwei Drittel des St. Petersburger Proletariats, standen im Streik.

Die Revolution brach schließlich mit dem „blutigen Sonntag“ am 9. Januar aus. Eine riesige Demonstration zog durch die Straßen von St. Petersburg. Als die Spitze des Marsches den Palasteingang erreichte, feuerten die Soldaten in die Menge, Hunderte (nach manchen Schätzungen gar 1000) Menschen starben. Als nahezu zeitgleich zwei von Gapons Leibwächtern starben, prägte der Priester den berühmten Ausspruch: „Es gibt keinen Gott mehr! Es gibt keinen Zaren!“.

In der Folge entwickelte sich eine gewaltige Welle des Klassenkampfes, die Revolution weitete sich aus, ergriff die Massen in Stadt und Land. Das Jahr 1905 verzeichnete erfolgreiche Generalstreiks, Bauernaufstände und Landbesetzungen, Studentenrebellionen, nationale Befreiungskämpfe, Meutereien in Armee und Marine, die Entstehung hunderter neuer Arbeiterorganisationen und Gewerkschaften, die Etablierung von demokratischen Arbeiterkomitees und das Zusammentreten von Arbeiterräten („Sowjets“). Die SDAPR wurde von einer Propagandagruppe zu einer wirklichen Partei des Proletariats.

Der Zar war gezwungen, Zugeständnisse zu machen, und versprach die Einführung von Grundrechten und die Einberufung einer Duma (eines Parlaments). In Wirklichkeit waren das nur Mittel, um Zeit zu gewinnen und die Niederschlagung der Revolution vorzubereiten, die im Dezember mit dem Moskauer Aufstand ihren Höhepunkt erreichte, in dem die Bolschewiki die Führung innehatten. Dieser wurde von der Armee blutig zerschlagen, was zur Konsolidierung der Konterrevolution im Jahr 1906 führte. Zu den Ursachen der Niederlage gehörte sicherlich, dass die internationale Lage weniger zugespitzt war, aber auch, dass die Unzufriedenheit der Bauern geringer und die Zersetzung der Armee weniger fortgeschritten waren als 1917. So konnte die Regierung das Heer wieder einsatzfähig machen und gegen die Revolution nutzen und das Dorf leichter niederhalten, um so schließlich die ArbeiterInnen in den Städten zu besiegen.

Die dramatischen Ereignisse von 1905 waren vor allem aber das historische Vorspiel zur siegreichen sozialistischen Revolution von 1917.

Konzeption der Menschewiki

1905 wurden auch die strategischen, grundlegenden Konzeptionen einer russischen Revolution deutlich. Die Menschewiki gingen dabei vom vorherrschenden Verständnis der Zweiten Internationale aus.

„In den kapitalistisch entwickelten Ländern des Westens hat die Sozialdemokratie mit einer vollausgebildeten, mit einer reifen bürgerlichen Gesellschaft zu tun, in der das Proletariat und die Bourgeoisie einander unmittelbar Auge in Auge einander gegenüberstehen als unversöhnliche feindliche Kräfte; hier ist die Bourgeoisie konservativ und kämpft für die Erhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung; das Proletariat ist revolutionär und bestrebt, die Ordnung zu stürzen. In diesen Ländern werden die revolutionären und proletarischen Elemente von den gesellschaftlichen Verhältnissen einer sozialistischen Revolution vorwärts gedrängt. (…)

Die geschichtliche Situation der Partei Rußlands dagegen wird gekennzeichnet durch gerade entgegengesetzte Tendenzen; diese Situation stellte unserer Partei als hauptsächliche unmittelbare Aufgabe, das Proletariat zu organisieren, nicht um die Herrschaft der Bourgeoisie zu stürzen, sondern umgekehrt: um mit der Wurzel jene politisch-soziale Ordnung zu zerstören, die der vollen Herrschaft der Bourgeoisie im Wege steht. Die gesellschaftlichen Verhältnisse Russlands sind noch nicht weitergelangt als bis zur Reife für eine bürgerliche Revolution, …“ (7)

Daher wäre ein unmittelbarer Kampf um die politische Macht für das Proletariat, den Menschewiki zufolge, aufgrund der Unreife des Klassengegensatzes  zwischen Kapital und Arbeit ausgeschlossen:

„Bei uns ist ein derartiger Kampf vorläufig ausgeschlossen durch den gesamten Konplex der historischen Bedingungen, die den Inhalt und die unmittelbaren Aufgaben unserer revolutionären Bewegung bestimmten, die nach einem Ausdruck von Marx die Bourgeoisie und das Proletariat durch das ‚gemeinsame Interessen‘ aneinanderschmieden, durch das gemeinsame Bedürfnis, sich vom gemeinsamen Feind zu befreien.“ (8)

Für die Revolution 1905 ergab sich daher zwingend die Schlussfolgerung, dass die politische Macht in der Revolution an die Bourgeoisie übergehen müsse und die ArbeiterInnenklasse nur als „extreme revolutionäre Opposition“ agieren dürfe.

„Unter solchen Bedingungen muß die Sozialdemokratie danach streben, während des ganzen Verlaufs der Revolution für die Aufrechterhaltung einer Situation zu sorgen, die einem Fortschreiten der Revolution am zweckdienlichsten ist. Es muß eine Situation geschaffen werden, in der ihr die Hände im Kampf gegen die inkonsequente und eigennützige Politik der bürgerlichen Parteien nicht gebunden sind und in der sie gleichzeitig vor einem Überlaufen in das Lager der bürgerlichen Demokratie bewahrt bleibt.

Deshalb sollte es nicht das Ziel der Sozialdemokratie sein, die Macht in einer Provisorischen Regierung zu erobern oder sie mit anderen zu teilen, sondern sie muß eine Partei der extremen revolutionären Opposition bleiben.“ (9)

Zwei Taktiken

Lenin polemisierte scharf gegen diese abwartende Haltung. In „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“ greift er die mechanische Übertragung der Kritik am Bernsteinianismus und am Eintritt in eine parlamentarische Regierung auf die Regierungsfrage in einer Revolution an.

„Wir haben hier einen der bekannten Grundsätze der internationalen revolutionären Sozialdemokratie vor uns. Einen durchaus richtigen Grundsatz. Er wurde zum Gemeinplatz aller Gegner des Revisionismus oder Opportunismus in den parlamentarischen Ländern. Er erhielt das Bürgerrecht als rechtmäßige und notwendige Zurückweisung des ‚parlamentarischen Kretinismus‘, des Millerandismus, des Bernsteinianertums und des italienischen Reformismus im Geiste Turatis. Unsere braven Neuiskristen haben diesen guten Grundsatz auswendig gelernt und wenden ihn eifrig dort an, wo er … völlig unangebracht ist. Kategorien des parlamentarischen Kampfes werden in Resolutionen aufgenommen, die für Verhältnisse geschrieben sind, unter denen es gar kein Parlament gibt. Der Begriff der ‚Opposition‘, der Widerspiegelung und Ausdruck einer politischen Situation ist, in der vom Aufstand niemand ernstlich spricht, wird ganz sinnlos auf eine Situation übertragen, da der Aufstand begonnen hat und alle Anhänger der Revolution über die Leitung des Aufstandes nachdenken und sprechen.“ (10)

Wie die menschewistischen Autoren gehen auch Lenin und die Bolschewiki 1905 davon aus, dass in Russland eine demokratische, bürgerliche Revolution auf der Tagesordnung stehe. Aber Lenin grenzt sich scharf von der im Grunde a-historischen Charakterisierung der russischen Bourgeoisie bei Martow, Axelrod und anderen ab. Diese folgen im Grunde dem einfachen Schema, dass eine bürgerliche Revolution von der Bourgeoisie geführt werden und diese zur politischen Macht bringen müsse.

Ob die Bourgeoisie dazu noch in der Lage ist, ob sie ihre revolutionäre Rolle nicht schon ausgespielt hat, ob es nicht „tiefere“ Ursachen für deren Feigheit gibt, als dass sie von größeren ArbeiterInnendemonstrationen „verschreckt“ werden könnte – diese Fragen stellt sich der Menschewismus erst gar nicht.

Dabei hatten schon Marx und Engels nach der Niederlage der Revolution von 1848 herausgearbeitet, dass das Bürgertum mehr Angst vor den plebejischen Klassen und einer sich herausbildenden ArbeiterInnenklasse hatte als vor der Niederlage gegen die monarchische Konterrevolution. Sie hatte ihre weltgeschichtlich fortschrittliche Rolle ausgespielt, zumal und gerade weil die kapitalistische Produktionsweise schon so fest etabliert war, dass auch Änderungen der Regierungsform dieser nichts anhaben konnten. Der Staatsstreich und das Regime eines Louis Bonaparte perfektionierten den bürgerlichen Staatsapparat, auch wenn  sich Bonaparte zum Kaiser krönen ließ. In Deutschland vollzogen sich die Reichseinigung und die Expansion der Großindustrie unter der Kanzlerschaft Bismarcks – eine Form des Bonapartismus, der eine enge Zusammenarbeit von Großkapital und Großagrariern zugrunde lag.

All dies zeigt, dass – erst recht mit der imperialistischen Epoche – das Bürgertum aufgehört hatte, eine revolutionäre Klasse zu sein.

An diese historischen Erfahrungen knüpft Lenin an. Er tut dies nicht bloß in Form einer generellen Verallgemeinerung der internationalen Entwicklung des Bürgertums und seines Verhältnisses zur Aristokratie, er untersucht insbesondere, wie und warum die russische Entwicklung diese Tendenz besonders deutlich zum Ausdruck bringt.

Die Agrarfrage ist eine, wenn nicht die  Schlüsselfrage der demokratischen Revolution. Wer den Zaren stürzen will, muss die feudalen und halb-feudalen Verhältnisse am Land beseitigen und die Macht der Großgrundbesitzer brechen. Von diesem Ziel hat sich das Bürgertum längst verabschiedet. Jene Teile des russischen Kapitals, die Eigentum ausländischen Finanzkapitals sind und die maßgeblich zum fieberhaften Ausbau großindustrieller Zentren beigetragen hatten, waren ohnedies immer eng mit der zaristischen Herrschaft und der Staatbürokratie verbunden, die ihnen die Rahmenbedingungen für ihren Erfolg lieferten.

Was die russische Bourgeoisie betraf, so fürchtete diese eine revolutionäre, demokratische Umgestaltung am Land. Sie wollte auf keinen Fall eine politische Konfrontation mit dem adeligen Großgrundbesitz, sondern den Kampf vermeiden und seine Konsequenzen abschwächen, selbst wenn  sich die Bourgeoisie wie in der aufsteigenden Phase der Revolution von 1905 verbal-revolutionär gab.

Gerade deshalb, so Lenin, dürfe die ArbeiterInnenklasse, dürfe die Sozialdemokratie der „Angst“, den Feigheiten der Bourgeoisie keine Zugeständnisse machen, denn deren „Abschwenken“, ihr „Verschrecktwerden“ von der bürgerlichen Revolution sei vielmehr unvermeidlich.

„Die Bourgeoisie wird in ihrer Masse unweigerlich zur Konterrevolution, zur Selbstherrschaft übergehen und sich gegen die Revolution, gegen das Volk kehren, sobald ihre engen eigennützigen Interessen befriedigt sein werden. (…) Es bleibt das ‚Volk‘, das heißt das Proletariat und die Bauernschaft: Allein das Proletariat ist fähig, konsequent bis zu Ende zu gehen, denn es geht weit über die demokratische Umwälzung hinaus. Deshalb eben kämpft das Proletariat in den vordersten Reihen für die Republik und weist mit Verachtung die törichten und seiner unwürdigen Ratschläge zurück, darauf Rücksicht zu nehmen, daß die Bourgeoisie möglicherweise abschwenkt. Die Bauernschaft umfaßt eine Masse halbproletarischer Elemente neben kleinbürgerlichen Elementen. Dieser Umstand macht auch die Bauernschaft unbeständig, so daß das Proletariat genötigt ist, sich zu einer streng klassenmäßigen Partei zusammenzuschließen. Aber die Unbeständigkeit der Bauernschaft ist von der Unbeständigkeit der Bourgeoisie grundverschieden, denn die Bauernschaft ist gegenwärtig nicht so sehr an dem unbedingten Schutz des Privateigentums als vielmehr an der Enteignung des Gutsbesitzerlandes, einer der Hauptformen des Privateigentums, interessiert. Ohne dadurch sozialistisch zu werden, ohne aufzuhören, kleinbürgerlich zu sein, ist die Bauernschaft fähig, zum völligen und radikalsten Anhänger der demokratischen Revolution zu werden, (…) Die Bauernschaft wird unter der erwähnten Bedingung unweigerlich zur Stütze der Revolution und der Republik werden, denn einzig die zum vollen Sieg gelangte Revolution wird der Bauernschaft auf dem Gebiet der Agrarreformen alles zu bieten vermögen: alles das, was die Bauernschaft will, was sie erträumt, was tatsächlich für sie notwendig ist, (nicht um den Kapitalismus zu vernichten, wie sich das die ‚Sozialrevolutionäre‘ einbilden, sondern) um aus dem Schlamm der halben Leibeigenschaft, aus dem Dunkel der Geducktheit und der Knechtschaft emporzusteigen und um ihre Lebensbedingungen so weit zu verbessern, wie das im Rahmen der Warenwirtschaft überhaupt zu erreichen ist.“ (11)

Da die Bourgeoisie die demokratische Revolution nicht zum Sieg führen kann und die ArbeiterInnenklasse und Bauernschaft ein gemeinsames Interesse haben, die Revolution konsequent zu Ende zu führen, folgt daraus, dass sie ein Bündnis eingehen müssen. Dieses soll durch den Aufstand zu einer Provisorischen, revolutionären Regierung, zur „demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern“ führen.

Die Haltung der Menschewiki, sich in der demokratischen Revolution auf die Rolle der „extremen Opposition“ zu beschränken, führt unweigerlich dazu, die Lösung der Machtfrage der Bourgeoisie zu überlassen. Nachdem diese jedoch die Revolution nicht zu Ende führen will oder kann, früher oder später „abschwenkt“, bedeutet dies auch, die Revolution selbst zu verraten, sie der zaristischen, gutsbesitzerlichen Konterrevolution oder, was letztlich ebenfalls darauf hinausläuft, einem Kompromiss zwischen Zarismus und Bourgeoisie auszuliefern.

Die Polemik Lenins gegen die mechanische Vorstellung einer russischen Revolution durch die Menschewiki offenbart viele grundlegende Stärken des Bolschewismus. Er weist überzeugend nach, dass die Politik der „extremen Opposition“ darauf hinausläuft, dass die ArbeiterInnenklasse eigentlich eine Nachtrabpolitik betreiben muss. Wer in der Revolution keine Machtperspektive hat, kann den Sieg nur anderen überlassen. Statt zu überlegen, wie die ArbeiterInnenklasse, geführt von der Sozialdemokratie, zur hegemonialen Kraft werden kann, schlägt sich der Menschewismus mit der Frage herum, ob die ArbeiterInnenklasse überhaupt ohne Bourgeoisie siegen dürfe.

Im Versuch Lenins, eine eigenständige, aktive Politik in der „demokratischen Revolution“ zu verfolgen, knüpft er an die Kritik am Ökonomismus an, weist nach, dass die Menschewiki gewissermaßen dessen Stellung eingenommen hätten. Anders als später der Stalinismus ist Lenins Konzeption von der Zielsetzung geprägt, eine eigenständige, revolutionäre ArbeiterInnenpolitik zu formulieren.

Aber seine strategische Konzeption bleibt an einem wesentlichen Punkt im Schematismus der Zweiten Internationale befangen. Da die Revolution eine demokratische sei und Russland ein Bauernland, könne die Revolution nicht unmittelbar zu einer sozialistischen übergehen.

„Nur das Proletariat ist fähig, die Bauernschaft in diesem Kampfe bis zu Ende zu unterstützen. Schließlich steht außer Zweifel, daß auch bei uns in Russland der Erfolg des Bauernkampfes, d. h. der Übergang des gesamten Grund und Bodens an die Bauernschaft, eine vollständige demokratische Umwälzung bedeuten und die soziale Stütze der vollendeten Revolution sein wird, keineswegs aber eine sozialistische Umwälzung und nicht die ‚Sozialisierung‘, von der die Ideologen des Kleinbürgertums, die Sozialrevolutionäre, reden. Der Erfolg des Bauernaufstandes, der Sieg der demokratischen Revolution wird erst den Weg ebnen zum wirklichen und entscheidenden Kampf für den Sozialismus auf dem Boden der demokratischen Republik.“ (12)

Es ist unschwer zu erkennen, dass diese Konzeption selbst von einem tiefen inneren Widerspruch geprägt ist. Die Revolution von 1905 wurde jedoch geschlagen, bevor die Unzulänglichkeiten dieser Formel wie auch der Konzeption des Menschewismus mit allen Konsequenzen praktisch sichtbar wurden.

Es ist aber kein Wunder, dass 1917, nach der Februarrevolution, viele bolschewistische Kader weiter von dieser Konzeption geprägt waren und diese umzusetzen versuchten.

Permanente Revolution

1905 wurde aber auch eine dritte Konzeption der russischen Revolution entwickelt, die Theorie der Permanenten Revolution. Diese wurde von Leo Trotzki, damals in enger Zusammenarbeit mit Parvus, entwickelt. (13)

Trotzkis „Permanente Revolution“ knüpfte an frühe Überlegungen von Marx, wie sie auch im Kommunistischen Manifest zu finden sind. Dies enthält  schon erste Vorstellungen eines Übergangsprogramms, das die schematische Vorstellung in Frage stellt, dass zwischen der bürgerlichen und sozialistischen Umwälzung eine lange, eigenständige Entwicklungsperiode liegen müsse, wie sie aus Lenins Schriften 1905 durchaus zum Vorschein kommt und wie sie später in der „Etappentheorie“ des Stalinismus, im Grunde eine Neuauflage der menschewistischen Vorstellungen der bürgerlichen Revolution, formuliert wurde.

Marx entwickelt zudem schon in den Briefen an Sassulitsch (14) Grundlagen der Theorie der ungleichzeitigen und kombinierten Entwickelung. Diese Schriften waren jedoch 1905 nicht öffentlich zugänglich und Trotzki nicht bekannt.

Trotzki stieß zur Entwicklung der Theorie der Permanenten Revolution, indem er die „Eigenheiten“ der Entwicklung in Russland im Zusammenhang mit einer russischen Revolution zu Ende zu denken versuchte und diese von vornherein in den internationalen Kontext stellte.

Wie auch Lenin ging er davon aus, dass die Bourgeoisie zur Führung der demokratischen Revolution schon nicht mehr bereit gewesen sei, dass sie ihr revolutionäres Potential erschöpft habe, bevor der Zarismus abgetreten war. Trotzki sieht die verspätete, ungleiche Entwicklung des Kapitalismus in Russland als eine der zentralen Ursachen für eine besonders unrevolutionäre Bourgeoisie:

„Der russische Absolutismus entwickelte sich unter dem unmittelbaren Druck der westlichen Staaten. Er eignete sich deren Verwaltungs- und Herrschaftsmethoden sehr viel früher an, als es der kapitalistischen Bourgeoisie gelang, sich auf dem Boden einer nationalen Wirtschaft zu entwickeln. Der Absolutismus verfügte bereits über ein riesiges stehendes Heer und einen zentralisierten bürokratischen und fiskalischen Apparat und machte untilgbare Schulden bei europäischen Bankiers zu einer Zeit, als die russischen Städte noch eine ökonomisch völlig untergeordnete Rolle spielten.

Das Kapital drang mit der direkten Unterstützung des Absolutismus von Westen her ein und verwandelte in kurzer Zeit eine Reihe alter archaischer Städte in Zentren von Industrie und Handel, ja es schuf solche Handels- und Industriestädte an Stellen, die vorher gänzlich unbewohnt waren. Dies Kapital trat oft ganz plötzlich in der Gestalt großer unpersönlicher Aktiengesellschaften auf. In dem Jahrzehnt des industriellen Aufschwungs zwischen 1893 und 1902 nahm das Grundkapital der Aktiengesellschaften um 2 Mrd. Rubel zu, wohingegen es sich von 1854 bis 1892 um nur 900 Millionen Rubel erhöht hatte. Das Proletariat sah sich plötzlich in riesigen Massen konzentriert, und zwischen ihm und dem Absolutismus stand eine zahlenmäßig schwache kapitalistische Bourgeoisie, die, vom ,Volk‘ isoliert, halb ausländischen Ursprungs, ohne historische Traditionen und einzig von der Gewinnsucht beseelt war.“ (15)

Lenin und der Bolschewismus bleiben jedoch, anders als Trotzki, einer schematischen Vorstellung der demokratischen Revolution verhaftet, indem sie jede Möglichkeit kategorisch bestritten, dass die ArbeiterInnenklasse die Eigentumsverhältnisse umwandeln könne. Das würde nur zu einem voluntaristischen „Überdehnen“ der Revolution führen. Es ist daher kein Wunder, dass  das Programm der „demokratischen Diktatur“ zwar auch wichtige Forderungen der Lohnabhängigen enthielt wie den Acht-Stunden-Tag, jedoch nicht über ein radikales bürgerlich-demokratisches Programm hinausging.

1906 stellte Trotzki seine Konzeption in „Ergebnisse und Perspektiven“ systematisch dar. Er wendet sich dabei offen gegen den vorherrschenden Schematismus bezüglich des Charakters der russischen Revolution:

„Das Proletariat wächst und erstarkt mit dem Wachstum des Kapitalismus. In diesem Sinne ist die Entwicklung des Kapitalismus gleichbedeutend mit der Entwicklung des Proletariats zur Diktatur hin. Aber Tag und Stunde, an denen die Macht in die Hände der Arbeiterklasse übergeht, hängen nicht unmittelbar vom Stand der Produktivkräfte ab, sondern von den Verhältnissen des Klassenkampfes, von der internationalen Lage und schließlich von einer Reihe subjektiver Momente: Tradition, Initiative, Kampfbereitschaft … Es ist möglich, daß das Proletariat in einem ökonomisch rückständigen Lande eher an die Macht kommt als in einem kapitalistisch fortgeschrittenen Land. 1871 nahm es bewußt die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten im kleinbürgerlichen Paris in seine Hände, allerdings nur für die Zeit von zwei Monaten –  aber nicht für eine einzige Stunde ergriff es die Macht in den großen kapitalistischen Zentren Englands oder der Vereinigten Staaten. Die Vorstellung, daß die proletarische Diktatur irgendwie automatisch von den technischen Kräften und Mitteln eines Landes abhinge, ist das Vorurteil eines bis ins Extrem vereinfachten ‚ökonomischen‘ Materialismus. Mit Marxismus hat eine solche Auffassung nichts gemein. Unserer Ansicht nach wird die Russische Revolution die Bedingungen schaffen, unter denen die Macht in die Hände des Proletariats übergehen kann (und im Falle des Sieges der Revolution muß sie dies tun), bevor die Politiker des bürgerlichen Liberalismus Gelegenheit erhalten, ihr staatsmännisches Genie voll zu entfalten.“ (16)

Diese Möglichkeit, so Trotzki, wird durch die Entwicklung des Kapitalismus in Russland selbst begünstigt. Einerseits kommt die Bourgeoisie spät und bleibt, auch wegen ihre Abhängigkeit von Investitionen aus anderen Ländern, politisch und gesellschaftlich schwach. Das Proletariat ist hingegen hochkonzentriert und, trotz seiner im Vergleich zur Landbevölkerung geringen Größe, eine sehr kompakte soziale Klasse. Die politischen Implikationen sind folgende:

„Deshalb kommt diesem hier eine riesige politische Bedeutung zu; deshalb auch ist in Rußland der Kampf um seine Befreiung von dem erdrückenden Polypen des Absolutismus zu einem Zweikampf zwischen diesem und der Industriearbeiterklasse geworden, zu einem Zweikampf, in dem die Bauernschaft eine bedeutende Unterstützung gewähren, in dem sie aber keine führende Rolle spielen kann.“ (17)

Und weiter:

„In der Revolution des beginnenden 20. Jahrhunderts, die ihren unmittelbaren objektiven Aufgaben nach ebenfalls eine bürgerliche ist, zeichnet sich als nächste Perspektive die Unvermeidbarkeit oder doch wenigstens die Wahrscheinlichkeit der politischen Herrschaft des Proletariats ab. Daß diese Herrschaft nicht auch lediglich eine vorübergehende ‚Episode‘ sein wird, wie es manche realistische Philister hoffen, dafür wird das Proletariat sicher selber sorgen. Aber selbst jetzt schon kann man sich die Frage stellen: Muß die Diktatur des Proletariats zwangsläufig an den Schranken der bürgerlichen Revolution zerbrechen, oder aber kann sie unter den gegebenen weltgeschichtlichen Bedingungen die Perspektive eines Sieges entdecken, nachdem sie diesen beschränkten Rahmen gesprengt hat? Und hier ergeben sich für uns taktische Fragen: Sollen wir bewußt auf eine Arbeiterregierung in dem Maße zusteuern, in dem uns die revolutionäre Entwicklung dieser Etappe näher bringt, oder aber müssen wir in diesem Moment die politische Macht als ein Unglück betrachten, das die Revolution den Arbeitern aufbürden will und dem man besser aus dem Wege geht?“ (18)

Für Trotzki hat die Revolution 1905 auf diese Frage eine Antwort geliefert:

Die ArbeiterInnenklasse kann, ja muss unter deren spezifischen Bedingungen, zur führenden Kraft der Revolution werden. Um diese demokratische Revolution konsequent zu Ende zu führen, darf sie sich jedoch nicht auf deren demokratische Aufgaben beschränken, sondern muss auch die eigenen Klasseninteressen des Proletariats verfolgen, selbst zur führenden Kraft im Bündnis mit der Bauernschaft werden. Anstelle der „demokratischen Diktatur“ Lenins tritt jedoch die Bildung einer Arbeiter- und Bauernregierung, die ihrem sozialen Gehalt nach eine Form der Diktatur des Proletariats ist.

Auch wenn das Proletariat numerisch die kleinere Klasse als die Bauernschaft darstellt, so ändert das nichts daran, dass letztere als kleinbürgerliche Klasse gezeigt hat, dass sie zwar zur revolutionären Aktion, nicht jedoch zu einer selbstständigen Politik in der Lage ist, die ein Land neu organisieren kann.

Daher unterscheidet sich Trotzkis „Theorie der Permanenten Revolution“ auch programmatisch vom Menschewismus und Bolschewismus des Jahres 1905.

„Die politische Herrschaft des Proletariats ist unvereinbar mit seiner ökonomischen Versklavung. Gleichgültig, unter welcher politischen Fahne das Proletariat zur Macht gekommen ist – es wird gezwungen sein, eine sozialistische Politik zu verfolgen. Als größte Utopie muß man den Gedanken ansehen, das Proletariat könne – nachdem es sich durch die innere Mechanik der bürgerlichen Revolution zur Höhe der staatlichen Herrschaft aufgeschwungen hat -, selbst wenn es dies wollte, seine Mission auf die Schaffung republikanisch-demokratischer Bedingungen für die soziale Herrschaft der Bourgeoisie beschränken. Selbst eine nur vorübergehende politische Herrschaft des Proletariats wird den Widerstand des Kapitals, das immer der Unterstützung durch die Staatsgewalt bedarf, schwächen und dem ökonomischen Kampf des Proletariats grandiose Dimensionen verleihen. Die Arbeiter können gar nicht anders, als von der revolutionären Macht die Unterstützung der Streikenden zu verlangen, und die Regierung, die sich auf die Arbeiter stützt, kann diese Hilfe nicht versagen. Das aber heißt, den Einfluß der Reservearmee der Arbeit lähmen, und ist gleichbedeutend mit der Herrschaft der Arbeiter nicht nur im politischen, sondern auch im ökonomischen Bereich und bedeutet die Verwandlung des Privateigentums an Produktionsmitteln in eine Fiktion. Diese unvermeidlichen sozial-ökonomischen Folgen der Diktatur des Proletariats werden sehr schnell eintreten, noch lange bevor die Demokratisierung der politischen Ordnung beendet ist. Die Schranke zwischen dem ‚minimalen‘ und dem ‚maximalen‘ Programm verschwindet, sobald das Proletariat die Macht erlangt.“ (19)

Das Überleben und die Entwicklung eines solchen Regimes ist zugleich mit einer entschlossenen Lösung der Agrarfrage verbunden und dieser Aspekt ist in den Rahmen der internationalen Revolution einzubetten:

„Sollte sich das russische Proletariat an der Macht befinden, wenn auch nur infolge eines zeitweiligen Aufschwungs unserer bürgerlichen Revolution, so wird es der organisierten Feindschaft seitens der Weltreaktion und der Bereitschaft zu organisierter Unterstützung seitens des Weltproletariats gegenüberstehen. Ihren eigenen Kräften überlassen, wird die Arbeiterklasse Rußlands unvermeidlich in dem Augenblick von der Konterrevolution zerschlagen werden, in dem sich die Bauernschaft von ihr abwendet. Ihr wird nichts anderes übrigbleiben, als das Schicksal ihrer politischen Herrschaft und folglich das Schicksal der gesamten russischen Revolution mit dem Schicksal der sozialistischen Revolution in Europa zu verknüpfen.“ (20)

Zweifellos hat die Theorie der Permanenten Revolution mehr als jede andere Konzeption die Ursachen, Grundlagen und die strategische Ausrichtung der Oktoberrevolution von 1917 vorausgesehen und bestimmt. Trotzki selbst weist im Vorwort zu dieser Schrift 1919 darauf hin, dass sich seine Position in denen des Bolschewismus von 1917 nach der Annahme der Aprilthesen wiederfinde, dass die Geschichte die Theorie der Permanenten Revolution bestätigt habe.

Er verweist auch zu Recht darauf , dass Bolschewismus und Menschewismus 1905 von einem engen schematischen Verständnis der „bürgerlichen Revolution“ ausgingen, was natürlich auch programmatische Auswirkungen gehabt habe: Beide gingen über ein demokratisches Programm nicht hinaus.

Rolle der Räte

Diese Konzeption einer russischen Revolution erklärt aber auch, warum für Menschewismus und Bolschewismus die Rolle der Arbeiterräte 1905 politisch unterentwickelt blieb. Teile der Bolschewiki standen am Beginn der Revolution – im Gegensatz zu Lenin und Bogdanow – den Sowjets überhaupt  skeptisch, sogar ablehnend gegenüber.

Aber auch in Lenins Auffassung von der Rolle der Arbeiterräte spiegelten sich noch Ende 1905 die Schwächen der „demokratischen Diktatur“ wider. Einerseits bestimmt er in „Unsere Aufgaben und der Sowjet der Arbeiterdeputierten“ die Aufgabe des Exekutivkomitees der Sowjets, sich zu einer „Provisorischen revolutionären Regierung“ zu proklamieren. Aber er hält ihn zugleich auch für eine zu enge Organisation, die um VertreterInnen der Soldaten, Bauern, der revolutionären Intelligenz und aller revolutionären Demokraten ergänzt werden müsse.

„Wir fürchten eine solche Breite und Buntscheckigkeit der Zusammensetzung nicht, sondern wünschen sie, denn ohne Vereinigung des Proletariats und der Bauernschaft, ohne Kampfgemeinschaft der Sozialdemokraten und der revolutionären Demokraten ist ein voller Erfolg der großen russischen Revolution unmöglich. Das wird ein zeitweiliges Bündnis zur Lösung der klar umrissenen nächsten praktischen Aufgaben sein; die noch wichtigeren, grundlegenden Interessen des sozialistischen Proletariats, seine Endziele, aber werden von der selbstständigen und prinzipienfesten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands unbeirrt wahrgenommen werden.“ (21)

Lenin hebt zwar die große Bedeutung der Räte hervor. Er betrachtet sie aber nicht als  Formen für eine zukünftige gesellschaftliche Ordnung oder Kernformen der proletarischen Selbstorganisation. Diesen Gedanken lehnt er vielmehr in „Sozialismus und Anarchismus“ (22) explizit ab. Den Aufstand, der zur Diktatur der Arbeiter und Bauern führen sollte, stellte er sich vor allem als Aufstand vor, der von der Partei initiiert und geführt wird. Die Räte spielten für ihn nur eine Rolle als zusätzliche Aktionsorgane für die demokratische Umwälzung, nicht als Formen der Organisation einer zukünftigen gesellschaftlichen Ordnung.

Das ist kein Wunder. Auf dem Boden einer demokratischen Revolution, die den Kapitalismus nicht abschaffen soll/kann, gibt es auch keine längerfristige Existenzberechtigung für ArbeiterInnenräte, allenfalls einen gesellschaftlich untergeordneten Platz.

Wie Marx in der Analyse der Pariser Commune zu Recht schreibt, ist die Commune eine Form der ArbeiterInnenregierung, eines proletarischen Halbstaates, auf dessen Basis die Befreiung der ArbeiterInnenklasse nur vor sich gehen kann. Trotzki greift 1905/6 dies auf, indem er darauf hinweist, dass die Räte die zukünftige Form sind, auf die sich eine revolutionäre ArbeiterInnenregierung stützen muss. Daher verbindet er die Aufstandsfrage auch viel enger als die Bolschewiki mit der Frage des Generalstreiks – und umgekehrt diese Frage viel enger mit der Machtfrage als beispielsweise Rosa Luxemburg.

Wie Trotzki selbst anerkennt, erwies sich seine geniale Konzeption an einem entscheidenden Punkt als falsch. Er unterschätzte damals die Differenzen zwischen Bolschewismus und Menschewismus, wie überhaupt die Differenzen innerhalb der sozialistischen Bewegung. Er ging vielmehr davon aus, dass der Druck der revolutionären Ereignisse die Sozialdemokratie dazu zwingen würde, den Weg für den Kampf um eine ArbeiterInnenregierung zu beschreiten.

Die Theorie der Permanenten Revolution – so richtig und bahnbrechend sie war – war noch nicht frei von einem Objektivismus. Folglich verkannte er den grundlegenden Unterschied zwischen Bolschewismus und Menschewismus.

Es darf dabei jedoch nicht vergessen werden, dass diesem Verkennen auch  eine gewisse Konvergenz der Politik von Menschewiki und Bolschewiki im Laufe des Jahres 1905 zugrunde lag. Trotzki wurde Redakteur der menschewistischen Zeitung „Nachalo“ und prägte mehr und mehr deren Blattlinie, sehr zum Leidwesen von Martow und anderen prominenten Menschewiken (23). Das spiegelte eine Radikalisierung der ArbeiterInnenavantgarde wider, die  in der gesamten Sozialdemokratie stattfand. So ging z. B. die Gründung des Petersburger Sowjets im Oktober 1905 sogar auf menschewistische Initiative zurück.

Und schließlich darf auch nicht übersehen werden, dass gegen Ende des Jahres der Druck auf eine Vereinigung der Sozialdemokratie immer größer wurde und die Bolschewiki offensiv für diese eintraten (24).

1917 korrigiert Trotzki selbst diesen schweren zentristischen Fehler und bewertete auch die Politik von Menschewiki und Bolschewiki in der ersten russischen Revolution neu:

„Die Menschewiki waren so fanatisch darauf aus, eine führende bürgerliche Demokratie zu finden, damit der ‚gesetzmäßige‘ bürgerliche Charakter der russischen Revolution sichergestellt sei, daß sie es während der Revolution, als keine führende bürgerliche Demokratie in Erscheinung trat, selbst mehr oder minder erfolgreich übernahmen, deren Pflichten zu erfüllen. (…)

Umgekehrt war der Bolschewismus nicht im geringsten angesteckt vom Glauben an die Macht und die Kraft einer revolutionären bürgerlichen Demokratie in Rußland. Er erkannte von Anfang an die entscheidende Bedeutung der Arbeiterklasse in der kommenden Revolution, aber sein Programm beschränkte er in der ersten Zeit auf die Interessen der Millionen bäuerlicher Massen, ohne – und gegen die – die Revolution vom Proletariat nicht zu Ende geführt werden konnte. Daher die (einstweilige) Anerkennung des bürgerlich-demokratischen Charakters der Revolution.“ (25)

Wie die Auseinandersetzungen 1917 zeigten, war es für die Bolschewistische Partei, wenn auch erst nach inneren Kämpfen, möglich, sich von diesem Schema zu befreien. Dieser Übergang zum Kurs auf die sozialistische Revolution wäre unmöglich gewesen, wenn die inneren Widersprüche der Konzeption nicht über sie hinaus gedrängt hätten und die Partei nicht in der Lage gewesen wäre, ihre Politik anhand von Analyse und Erfahrung zu korrigieren.

Schließlich versuchten die Bolschewiki schon 1905 die Revolution auf der Basis einer unzulänglichen Theorie  voranzutreiben, die ArbeiterInnenklasse zur führenden Kraft der Massen zu machen und dabei eine eigenständige Klassenpolitik zu vertreten. Darin lag ihr grundlegend revolutionärer Impuls.

Das darf aber nicht über die tiefe Verwurzelung der Konzeption der „demokratischen Revolution“ in der Theorie der Zweiten Internationale und die inneren Widersprüche der Konzeption der „demokratischen Diktatur“ hinwegtäuschen, die sich nicht einfach „organisch“ überwinden ließen, sondern einen inneren Bruch in der Entwicklung der Bolschewismus erforderten. Dieser war jedoch nicht nur ein Resultat der russischen Entwicklung. Der Ausbruch der Ersten Weltkrieges und der Verrat der Sozialdemokratie stellten vielmehr grundsätzlich die Frage nach der Neubestimmung revolutionärer ArbeiterInnenpolitik, der sich der Bolschewismus konsequenter und folgerichtiger als jede andere Kraft stellte.

Wandel des Bolschewismus im Krieg

Seit 1903, seit der ersten Spaltung der russischen Sozialdemokratie, stand der Bolschewismus am linken Flügel der Sozialistischen Internationale. Das wurde auch im Auftreten auf Kongressen deutlich, insbesondere am Stuttgarter Kongress 1907, der im Gefolge der russischen Revolution auch einen Höhepunkt des Agierens des linken Flügels in der Zweiten Internationale darstellte.

Lenin und die Bolschewiki betrachteten außerdem die opportunistischen Tendenzen in den europäischen sozialistischen Parteien oder gar den Labour-Parteien in Britannien und Australien keineswegs unkritisch. Wie die Mehrheit der russischen Sozialdemokratie – also auch die Mehrheit der Menschewiki und erst recht Rosa Luxemburgs Sozialdemokratie Polens und Litauens – standen sie am linken Flügel der Sozialistischen Internationale.

Lenin und die Bolschewiki sahen sich dabei jedoch eher als die Vertreter des „orthodoxen“, von Kautsky maßgeblich ideologisch geprägten Teils der Zweiten Internationale in Russland denn als eigene Strömung. Für Lenin (und auch für Trotzki) war Kautsky eine bedeutende politische Autorität, eine Art „Lehrmeister“ in theoretischen und ideologischen Fragen. Er galt als theoretischer und programmatischer Inspirator einer ganzen Generation von MarxistInnen. Das Erfurter Programm, dessen Grundsatzabschnitt er verfasst hatte, galt als Modell sozialistischer Programme. Kautsky genoss innerhalb der Internationale eine enorme Autorität, die nach 1905 kurzfristig noch zunahm,  er selbst rückte nach links.

Seine Broschüre „Der Weg zur Macht“ stellte einen Referenzpunkt für alle Linken in der Zweiten Internationale dar, nicht zuletzt, weil sie den Beginn einer revolutionären Periode begründete, die die Machtfrage aufwerfen würde. Die Rechten in der Sozialdemokratie betrachteten die Broschüre als Kampfansage, weil sie mit gutem Grund als eine Absage an die Vorstellung einer weiteren friedlichen, graduellen Entwicklung des Kapitalismus betrachtet wurde, die den Boden für eine Fortführung der im Kern längst reformistischen Gewerkschafts- und Wahlpolitik abgab.

All das erklärt, warum die Schwächen des Kautskyianismus auch den Linken in der Sozialdemokratie, einschließlich Lenins und Trotzkis, vor dem Ersten Weltkrieg wenig bewusst wurden. Rosa Luxemburg erkannte zweifellos schon Jahre vor Lenin viele der Übel in der deutschen Sozialdemokratie und durchschaute auch Kautskys Tendenzen zum Versöhnlertum, zur Rechtfertigung der alles andere als revolutionären Alltagspraxis der Partei und der Gewerkschaften mithilfe marxistischer Phrasen.

Vor dem Ersten Weltkrieg trat der Gegensatz der revolutionären Linken und des „marxistischen Zentrums“ um Kautsky in der deutschen Sozialdemokratie offen zu Tage. Einen Höhepunkt bildete die Generalstreikdebatte zwischen Luxemburg und Kautsky 1910 in der Kontroverse um die Generalstreikstaktik, um Niederwerfungs- und Ermattungsstrategie (26). In dieser Kontroverse ergriff Lenin jedoch nicht die Seite Luxemburgs, sondern Kautskys (27).

Lenins grundlegend falsche Einschätzung wurde zweifellos dadurch mitverursacht, dass er die Debatte vor allem durch die Brille des Fraktionskampfes in Russland betrachtet und orthodox klingende Formulierungen Kautskys für bare Münze nahm.

Zum anderen darf aber nicht übersehen werden, dass die Kautsky`sche Lesart des Marxismus und überhaupt das Sein der Zweiten Internationale  Lenins Verständnis des Marxismus selbst geprägt hatten. Das Insistieren darauf, dass eine Russische Revolution demokratischen Charakter haben müsse, verdeutlicht, dass auch die Theorie des Bolschewismus von dieser „Orthodoxie“ durchdrungen war. Andererseits verweist das Bestehen darauf, dass die Sozialdemokratie eine Antwort auf die Machtfrage einer russischen Revolution, unabhängig von der Bourgeoisie, geben müsse, auf die Tendenz, über die Formel der „demokratischen Diktatur“ hinauszugehen.

Ähnliche Widersprüchlichkeiten einer unvollständigen Ablösung von dem mechanischen Materialismus und der „Orthodoxie“ der Zweiten Internationale finden sich bei Trotzki und Luxemburg. Luxemburg bekämpft zwar viel früher als Lenin nicht nur die Rechten, sondern auch das „marxistische Zentrum“ – aber sie versäumt es umgekehrt im Gegensatz zu den Bolschewiki, dem Kampf eine politisch-programmatische und organisatorische Form zu geben und eine eigene Fraktion aufzubauen.

Trotzki entwarf mit der „Theorie der Permanenten Revolution“ eine geniale Einschätzung und Vorwegnahme der Dynamik der Revolutionen der 20. Jahrhunderts – andererseits spielte er vor dem Ersten Weltkrieg eine beschämende Rolle bei der Bildung prinzipienloser Blöcke gegen den Bolschewismus.

Der Bolschewismus nimmt gegenüber allen anderen Flügeln der Linken in der Zweiten Internationale insofern eine Sonderstellung ein, als er sich seit 1903 de facto als eigene fraktionelle Strömung auf Basis politisch-programmatischer Grundsätze formierte (28).

Dieser Formierung liegen – bei all ihren organisatorischen Wendungen, taktischen Änderungen – zwei Elemente zugrunde, die ihrerseits eine unerlässliche Voraussetzung dafür boten, dass die Bolschewiki eine proletarische Revolution zum Sieg führen konnten:

  • erstens das Bestehen auf einer programmatisch bestimmten Klarheit der politischen Konzeption;
  • zweitens das Konzept einer darauf aufbauenden Kampfpartei, einer Partei von politisch bewussten, aktiven Mitgliedern.

Imperialismus

Schon vor 1914 bereitete sich der Bruch des Bolschewismus mit der verknöcherten Konzeption der Zweiten Internationale vor. Der Verrat der Zweiten Internationale und deren Überlaufen in das Lager der imperialistischen Bourgeoisien erforderten jedoch eine bewusste politische „Umrüstung“ des politischen Arsenals aller revolutionären MarxistInnen. Standen vor 1914 oft die Fragen des Charakters einer künftigen russischen Revolution, der revolutionären Taktik im Kampf gegen die Selbstherrschaft im Zentrum der bolschewistischen Diskussion und der Schriften Lenins, wurde nun erforderlich, alle Fragen vom Standpunkt der internationalen Revolution zu betrachten. Der Bolschewismus musste sich deshalb als internationale Strömung konstituieren.

Schon vor 1914 hatten verschiedene sozialistische TheoretikerInnen einen Wandel des Kapitalismus konstatiert. Der erste marxistische Theoretiker, der versuchte, diese neuen, Epoche machenden Veränderungen auf den Begriff zu bringen, war Rudolf Hilferding im „Finanzkapital“ (29). Auch Rosa Luxemburg versuchte schon vor dem Ersten Weltkrieg in „Die Akkumulation des Kapitals“ (30) die veränderte Lage auf den Punkt zu bringen und entwickelte eine eigene Krisen- und Imperialismustheorie.

Der Erste Weltkrieg und das Versagen der ArbeiterInnenbewegung zwangen in jedem Fall auch den Bolschewismus, der Frage nachzugehen, welche Faktoren zum Ausbruch des Krieges geführt hatten, welchen Charakter dieser hatte und welche Implikationen dies für die Zukunft des Kommunismus und eine Neubestimmung des revolutionären Marxismus hat. Schon in den ersten Arbeiten zum Krieg, wird der Erste Weltkrieg als imperialistischer Krieg bestimmt, als Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten.

„Der Europa und die ganze Welt erfassende Krieg trägt den klar ausgeprägten Charakter eines bürgerlichen, imperialistischen, dynastischen Krieges. Der Kampf um die Märkte und Raub fremder Länder, das Bestreben, die revolutionäre Bewegung des Proletariats und der Demokratie im Inneren der Länder zu unterbinden, das Bestreben, die Proletarier aller Länder zu übertölpeln, zu entzweien und abzuschlachten, indem man im Interesse der Bourgeoisie die Lohnsklaven der einen Nation gegen die Lohnsklaven der anderen Nation hetzt – das ist der einzige reale Inhalt, die einzige reale Bedeutung des Krieges.“ (31)

In den weiteren Schriften und insbesondere in „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ versucht Lenin knapp, seine Sicht des Imperialismus als eine neue Epoche, eine Entwicklungsphase des Kapitalismus als Weltsystem herzuleiten. Aus der Tendenz zur Konzentration und Zentralisation des Kapitals entsteht an einer bestimmten Entwicklungsstufe eine neue Form des Kapitalismus, das Finanzkapital. Dieses wird bei Lenin nicht im landläufigen Sinne als „Finanz“ bestimmt, sondern als Verschmelzung von Industrie- und Banken- oder zinstragendem Kapital unter der Dominanz des letzteren. Imperialismus bedeutet aber auch eine bestimmte globale „Ordnung“, eine Entwicklungsstufe des Kapitalismus nicht nur auf ökonomischer Ebene, sondern als Gesellschaftsform.

Die Welt ist unter Großmächte, die ihrerseits vom jeweiligen nationalen Finanzkapital ökonomisch dominiert werden, aufgeteilt. Eine Veränderung der Kräfteverhältnisse, eine Neuaufteilung kann daher nur erfolgen durch die ökonomische Konkurrenz und politische, letztlich auch durch militärische Konfrontation.

Im September 1914 traten die Bolschewiki mit einer umfassenden Stellungnahme an die Öffentlichkeit. Aufgrund dieser Einschätzung und im Zusammenhang mit den Kongressen der Zweiten Internationale vor dem Krieg entwickeln Lenin und die Bolschewiki die Position, dass der imperialistische Krieg zu einem Bürgerkrieg gegen die kapitalistische Herrschaft zu entwickeln sei und dass der Kampf gegen den Krieg die sozialistische Revolution auf die Tagesordnung setze:

„Die Bourgeoisie aller Nationen betrügt die Massen, indem sie den imperialistischen Raubzug mit der alten Ideologie des ,nationalen Krieges‘ verbrämt. Das Proletariat entlarvt diesen Betrug und verkündet die Losung der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg.“ (32)

Lenin verbindet diese politische Stoßrichtung mit einer Analyse des Kapitalismus in der imperialistischen Epoche: „Der Krieg ist kein Zufall, keine,Sünde‘, wie die christlichen Pfaffen glauben (die nicht schlechter als die Opportunisten Patriotismus, Humanität und Frieden predigen), er ist vielmehr eine unvermeidliche Etappe des Kapitalismus, eine ebenso gesetzmäßige Form des kapitalistischen Lebens wie der Frieden. Der Krieg unserer Tage ist ein Volkskrieg. Aus dieser Wahrheit folgt indes nicht, dass man mit dem ,Volks’strom des Chauvinismus schwimmen soll, sondern daß die Klassengegensätze, von denen die Völker zerfleischt werden, auch zur Kriegszeit, auch im Krieg und dem Krieg angepaßt, fortbestehen und in Erscheinung treten werden. Kriegsdienstverweigerung, Streik gegen den Krieg usw. ist einfach eine Dummheit, ein jämmerlicher und feiger Traum von unbewaffnetem Kampf gegen die bewaffnete Bourgeoisie, ein Seufzen nach Beseitigung des Kapitalismus ohne erbitterten Bürgerkrieg oder eine Reihe solcher Kriege. Die Propaganda des Klassenkampfes bleibt auch im Heer Pflicht der Sozialisten; die Arbeit, die auf die Umwandlung des Völkerkrieges in den Bürgerkrieg abzielt, ist in der Epoche des imperialistischen bewaffneten Zusammenpralls der Bourgeoisie aller Nationen die einzige sozialistische Arbeit.“ (33)

Hier formuliert Lenin knapp die politische Ausrichtung der Bolschewiki als Aufgabe aller RevolutionärInnen. Sie besteht in der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg gegen die eigenen herrschende Klasse, in dessen Umwandlung zu einer internationalen sozialistischen Revolution.

Das ist der Sinn und Gehalt des „revolutionären Defaitismus“. Es geht nicht „nur“ darum, den Krieg zu beenden, sondern Lenin sieht die einzige realistische Chance, die Interessen der ArbeiterInnenklasse zu wahren, darin die globale Machtfrage, die der Krieg selbst als Kampf um die Neuaufteilung der Welt aufwirft, zu beantworten.

Pazifistische Programme, Programme, die den Kampf gegen Imperialismus und Krieg nicht mit dem für den Sozialismus verbinden, sind letztlich Programme, die zur Nachtrabpolitik hinter einen Flügel der imperialistischen Bourgeoisie und damit auch zum Versöhnlertum mit den Sozialchauvinisten führen.

Der revolutionäre Defaitismus als internationale Politik des Proletariats im Weltkrieg bedeutet auch, dass die „Vaterlandsverteidigung“ eine reaktionäre Parole geworden ist, selbst in Ländern, die für sich betrachtet Opfer der Politik der Großmächte wurden (Serbien, Belgien). Ihre „nationalen Rechte“ sind in dem Gesamtkontext des Krieges von untergeordnetem Rang, und sie zu vertreten, würde ein Absinken in den Sozialchauvinismus bedeuten, weil die „Verteidigung“ Belgiens selbst nur  eine Rechtfertigung der imperialistischen Ziele der Entente war.

Minimal- und Maximalprogramm

Lenins Verbindung der Kriegsfrage mit dem Kampf um die sozialistische Revolution darf aber nicht als ein Fallenlassen der Forderungen des Minimalprogramms missverstanden werden. Vielmehr zeichnet sich bei ihm und der bolschewistischen Politik im Krieg eine Überwindung der Trennung von Minimal- und Maximalprogramm ab:

„Für die Bourgeoisie ist die Proklamation der gleichen Rechte aller Nationen zu einem Betrug geworden. Für uns wird sie eine Wahrheit sein, durch die wir den Anschluss und die Beschleunigung der Gewinnung aller Nationen für die Revolution bewerkstelligen werden. Ohne effektiv demokratisch organisierte Verhältnisse zwischen den Nationen, ohne die Freiheit zur Abtrennung ist der Bürgerkrieg der ArbeiterInnen und der arbeitenden Klassen aller Nationen gegen die Bourgeoisie unmöglich.“ (34)

Lenin verteidigt gegen Luxemburg und ultra-linke Teile der Bolschewiki, dass z. B. der Kampf um das nationale Selbstbestimmungsrecht weiter Bestandteil des revolutionären Programms bleibt, ja in gewisser Weise sogar wichtiger wird als zuvor.

„Das Proletariat der unterdrückenden Nationen kann sich mit den allgemeinen, schablonenhaften, von jedem Pazifisten wiederholten Phrasen gegen Annexionen und für die Gleichberechtigung der Nationen überhaupt nicht begnügen. Das Proletariat kann nicht an der für die imperialistische Bourgeoisie besonders ‚unangenehmen‘ Frage der Grenzen des Staates, die auf nationaler Unterjochung beruhen, stillschweigend vorbeigehen. Es kann sich des Kampfes gegen die gewaltsame Zurückhaltung der unterjochten Nationen in den Grenzen des vorhandenen Staates nicht enthalten, und eben dies heißt für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen kämpfen. Das Proletariat muss die Freiheit der politischen Abtrennung der von ‚seiner‘ Nation unterdrückten Kolonien und Nationen fordern“ (35)

Der irische Aufstand 1916, Rebellionen und Unabhängigkeitsbestrebungen der Kolonialvölker sind für Lenin Bestandteil des Klassenkampfes. Die ArbeiterInnenklasse hat ein Interesse, sie zu fördern, zu unterstützen, um so die imperialistischen Bourgeoisien zu schwächen. Die Unterstützung von Kämpfen unterdrückter Nationen ist ein integraler Bestandteil des „revolutionären Defaitismus“, ein Moment der Umwandlung des Krieges in einen Bürgerkrieg gegen die eigene Bourgeoisie.

Das trifft, wie Lenin immer wieder betont, auch auf andere demokratische Fragen zu, nicht nur jene der kolonialen Unterdrückung. In der gesamten imperialistischen Epoche gibt es eine grundlegende Tendenz zur Einschränkung demokratischer Rechte und zunehmender Überwachung und Kontrolle.

Eine besonders wichtige Stellung nimmt dabei die Landfrage ein. Lenins große Stärke bestand zweifellos schon 1905 darin, die Bedeutung der Bauernrevolution gegen die Gutsbesitzer für die Russische Revolution erkannt zu haben. Sie wird auch eine entscheidende Rolle für die Revolution 1917 und später für die Wendung der Kommunistischen Internationale in der Kolonialfrage spielen – allerdings eingebettet in ein Programm der sozialen Umwälzung.

Lenins programmatische Wende geht aber auch einher mit einer veränderten Charakterisierung des Opportunismus. Der Sozialchauvinismus ist nicht nur eine falsche, konterrevolutionäre Politik, er hat eine soziale Grundlage in der Veränderung des Gesamtsystems des Kapitalismus. In der imperialistischen Epoche schafft dieses Weltsystem, die Etablierung einer internationalen Arbeitsteilung, auch die Möglichkeit, dass Teile der ArbeiterInnenklasse der Kernländer des Kapitalismus relativ privilegiert, d.h. „bestochen“ werden können. Diese Schichten der Klasse bildeten sich zuerst in Britannien im 19. Jahrhundert heraus, werden jedoch im 20. Jahrhundert zu einem Phänomen in allen imperialistischen Staaten.

Damit bietet Lenin eine Erklärung für die Verankerung und Verwurzelung reformistischer Parteien in der ArbeiterInnenklasse, von Parteien, die selbst eng mit dem Herrschaftsapparat der Bourgeoisie verbunden sind, deren Apparat und Führungen als politische Agenten der Bourgeoisie in der ArbeiterInnenklasse wirken.

Diese Parteien, also jene der Zweiten Internationale, sind mit der Burgfriedenspolitik, der Politik der Vaterlandsverteidigung, der sich nicht nur die deutsche Sozialdemokratie verpflichtet hat, sondern in Russland auch die große Mehrheit der Menschewiki und die Sozialrevolutionäre,  kleinbürgerliche „sozialistische“ Parteien geworden.

Zugleich bestimmt Lenin den Imperialismus als eine Epoche des weltgeschichtlichen Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. So fasst er im 10. Kapitel seiner Arbeit „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ dessen historische Stellung folgendermaßen zusammen:

„Wir haben gesehen, daß der Imperialismus seinem ökonomischen Wesen nach Monopolkapitalismus ist. Schon dadurch ist der historische Platz des Imperialismus bestimmt, denn das Monopol, das auf dem Boden der freien Konkurrenz und eben aus der freien Konkurrenz erwächst, bedeutet den Übergang von der kapitalistischen zu einer höheren Gesellschaftsformation.“ (36)

Aktualität der Revolution

Der Kapitalismus selbst ist reaktionär geworden – und damit ist auch die Basis für eine ganze Epoche des Übergangs gelegt worden. „Der Imperialismus stellt die erst im 20. Jahrhundert erreichte höchste Entwicklungsstufe des Kapitalismus dar. Dem Kapitalismus ist es zu eng geworden in den alten Nationalstaaten, ohne deren Bildung er den Feudalismus nicht stürzen konnte. Der Kapitalismus hat die Konzentration bis zu einem solchen Grade entwickelt, daß ganze Industriezweige von Syndikaten, Trusts, Verbänden kapitalistischer Milliardäre in Besitz genommen sind und daß nahezu der ganze Erdball unter diese ,Kapitalgewaltigen‘ aufgeteilt ist, sei es in der Form von Kolonien, sei es durch die Umstrickung fremder Länder mit den tausendfachen Fäden finanzieller Ausbeutung. Der Freihandel und die freie Konkurrenz sind ersetzt durch das Streben nach Monopolen, nach Eroberung von Gebieten für Kapitalanlagen, als Rohstoffquellen usw. Aus einem Befreier der Nationen, der er in der Zeit des Ringens mit dem Feudalismus war, ist der Kapitalismus in der imperialistischen Epoche zum größten Unterdrücker der Nationen geworden. Früher fortschrittlich, ist der Kapitalismus jetzt reaktionär geworden, er hat die Produktivkräfte so weit entwickelt, daß der Menschheit entweder der Übergang zum Sozialismus oder aber ein jahre-, ja sogar jahrzehntelanger bewaffneter Kampf der ,Groß’mächte um die künstliche Aufrechterhaltung des Kapitalismus mittels der Kolonien, Monopole, Privilegien und jeder Art von nationaler Unterdrückung bevorsteht.“ (37)

Damit und in diesem Sinn  – (eine über die ganze Geschichtsperiode hinweg vorherrschende Tendenz zur Zuspitzung der inneren Widersprüche des Kapitalismus) – ist die imperialistische Epoche eine von Kriegen und Revolutionen. Für Lenin und sein Denken tritt die „Aktualität der Revolution“ ins Zentrum:

„Die Aktualität der Revolution: dies ist der Grundgedanke Lenins und zugleich der Punkt, der ihn entscheidend mit Marx verbindet. Denn der historische Materialismus, als begrifflicher Ausdruck des proletarischen Befreiungskampfes, konnte auch theoretisch nur in einem geschichtlichen Augenblick erfaßt und formuliert werden, als seine praktische Aktualität bereits auf die Tagesordnung der Geschichte gestellt war. In einem Augenblick, wo im Elend des Proletariats nach Marx‘ Worten nicht mehr bloß das Elend selbst, sondern jene revolutionäre Seite, ‚welche die alte Gesellschaft über den Haufen werfen wird‘, sichtbar geworden ist. Freilich war auch damals der unerschrockene Blick des Genies notwendig, um die Aktualität der proletarischen Revolution erblicken zu können. Denn für die Durchschnittsmenschen wird die proletarische Revolution erst sichtbar, wenn die Arbeitermassen bereits kämpfend auf den Barrikaden stehen.“ (38)

Aus allem ergibt sich folgerichtig die Notwendigkeit, mit der vom Opportunismus und Nationalismus zerstörten Zweiten Internationale zu brechen und eine neue, die Dritte Internationale, aufzubauen. „Der III. Internationale steht die Aufgabe bevor, die Kräfte des Proletariats zum revolutionären Ansturm gegen die kapitalistischen Regierungen zu organisieren, zum Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisien alle Länder für die politische Macht, für den Sieg des Sozialismus!“ (39)

Die Politik der Bolschewiki geht nach 1914 daher nicht nur vom internationalen Charakter der Revolution aus. Sie verbindet diesen bewusst mit der Notwendigkeit des Aufbaus einer neuen Internationale, die ihrerseits in mehrfacher Hinsicht von der Zweiten Internationale vor dem Weltkrieg unterschieden sein soll. Sie muss nämlich nicht nur einen Bruch mit den offenen Sozialchauvinisten vollziehen, sondern auch mit den zentristischen VersöhnlerInnen à la Kautsky, die eine Einheit mit der Sozialdemokratie weiter verfolgten und damit die Illusion einer möglichen „Gesundung“ der Zweiten Internationale schürten.

Lenin stellt sich dabei eine neue, kommunistische Internationale nicht als einfache Verlängerung des Bolschewismus, sondern als politische Vereinigung aller InternationalistInnen vor, die mit dem Sozialchauvinismus und dem Versöhnlertum brechen wollen. In der ersten Phase des Krieges, in der die revolutionären KriegsgegnerInnen auf eine verschwindende Minderheit der Klasse ins Stadium von Propagandagesellschaften zurückgeworfen sind, betont Lenin die Notwendigkeit, die zukünftige Revolution vorzubereiten – und das heißt vor allem auch Klärung der Positionen der bewussten kommunistischen Kräfte und der Avantgarde.

Das zeigt sich nicht nur in den verschiedenen Resolutionen der Bolschewistischen Partei, ihrem Wirken bei Anti-Kriegskonferenzen und Tagungen, sondern vor allem darin, dass Lenin es für notwendig hielt, illegale Propaganda zu verbreiten, die die ArbeiterInnenklasse nicht nur allgemein über den Charakter des Kriegs aufklärt, sondern auch konkret bestimmt, welche Aktionen, welche Taktiken, welche Haltung zu einzelnen Fragen notwendig sind.

In Zimmerwald vertrat die bolschewistische Delegation die Losung der Umwandlung des Krieges in einen Bürgerkrieg und wollte dies auch zur Basis der Sammlung der Kräfte für eine neue Internationale machen. Für die Zentristen wie den USPD-Delegierten Ledebour und die meisten TeilnehmerInnen war das unannehmbar. Über einen Aufstand würde man erst reden, wenn er stattfindet. Dem widerspricht Lenin entschieden:

„Die notwendigen Kampfmittel müssen den Massen bekannt gemacht werden, damit sie erklärt und diskutiert werden können.. Wenn wir an der Schwelle zu einer revolutionären Epoche sind, in der die Massen in revolutionäre Kämpfe übergehen, dann müssen wir auch klar sein in Bezug auf die notwendigen Kampfmittel. Vom Standpunkt der Revisionisten ist dies natürlich überflüssig, weil sie nicht glauben, dass wir in einer revolutionären Epoche leben. Wir, die wir das glauben, müssen anders handeln. Man kann keine Revolution machen, ohne die revolutionäre Taktik zu erklären. Es war genau eine der schlechtesten Eigenschaften der II. Internationale, dass sie beständig solche Erklärungen vermieden hat… In Deutschland müsst ihr jetzt mehr machen als legale Arbeit, wenn ihr wirkliche Aktion wollt. Ihr müsst legale und illegale Arbeit kombinieren. Die alten Methoden sind nicht mehr adäquat für die neue Situation“ (40)

Hier zeigt sich konkret, worin Lenin den Unterschied zur „alten Internationale“ sieht. Die revolutionäre Partei muss ein Zentrum strategischer Diskussion und ihrer taktischen und organisatorischen Konkretisierung sein. Sie muss diese Debatten mit der Klasse führen, deren Aufmerksamkeit (und das heißt zuerst der klassenbewussten ArbeiterInnen) auf diese Fragen lenken, selbst wenn sie ihnen noch fern erscheinen mögen.

Die „Aktualität der Revolution“, deren Vorbereitung kann sich nicht mit allgemeinen oder abstrakten Revolutionsprognosen begnügen oder der „Erkenntnis“, dass der Imperialismus reaktionär sei. Diese Bestimmungen müssen vielmehr mit der konkreten Entwicklung vermittelt werden. Daher lehnt er auch jeden doktrinären Schematismus ab, der sich beispielsweise bei Luxemburg und den „imperialistischen Ökonomisten“ in der nationalen Frage zeigt.

Das revolutionäre Programm muss von einem allgemeinen zu einem Aktionsprogramm konkretisiert werden, das – wie später die Aprilthesen in der Russischen Revolution – die Hauptaufgaben der Revolution zusammenfasst und diese in die Machtfrage münden lässt.

Der zweite wichtige Aspekt in Lenins Kampf um eine neue Internationale findet sich schon im Krieg und erst recht bei Gründung der Dritten Internationale darin, dass er sich nämlich durchaus eine revolutionäre Internationale (und Parteien) vorstellte, die verschiedene Strömungen des Kommunismus, des revolutionären Internationalismus inkludieren sollte. Das zeigt sich recht deutlich darin, dass er trotz der sehr heftigen Polemiken gegen Pjatakow und die „imperialistischen Ökonomisten“ keine Spaltung von dieser Minderheit des Bolschewismus wollte. Luxemburg und den Spartakusbund wollte er – trotz ihrer Kritik – für die Dritte Internationale gewinnen, ebenso wie er die Gewinnung Trotzkis und der Zwischengruppe befürwortete, trotz der massiven Differenzen in der Vorkriegsperiode.

Die Vorstellung, dass Lenin ein „chemisch“ reiner Bolschewismus vorschwebte, der keine inneren Differenzen geduldet hätte, ist für jede Phase der Entwicklung der Partei vor der Machtergreifung schlichtweg falsch – und selbst danach bedurfte es einiger Jahre, bis die bürokratische Konterrevolution die Partei zu jener Karikatur des „Leninismus“ machen konnte, wie sie in den stalinistischen Geschichtsmythen gefeiert wird.

Dem widerspricht überhaupt nicht, dass Lenin hart um politische Klarheit gekämpft hat und vor Spaltungen nicht zurückschreckte. Darin liegt jedoch nichts spezifisch „Leninistisches“, sondern ein allgemeines Merkmal jedes ernsthaften Revolutionärs. In Grundfragen der Revolution – seien es Fragen ihres Charakters, des Programms, der Taktik – können revolutionäre MarxistInnen nicht auf „Pluralismus“ und Unklarheit setzen. Jede solche Halbheit – mag sie auch eine imaginäre Parteieinheit retten – muss sich in einer Krisensituation bitter rächen.

Der Streit, die Auseinandersetzung um die richtige Linie, um revolutionäre Klarheit ist das  unerlässliche Terrain, auf dem sich überhaupt nur eine revolutionäre Politik entwickeln kann. Nur in diesem Rahmen kann sie verallgemeinert und zur Konzeption, zur Programmatik einer Organisation und ihrer Mitglieder werden, nur in diesem Rahmen können Entwicklungen aufgenommen werden. Erst recht kann nur auf einer solchen Basis eine Kampfpartei jene Elastizität entwickeln, die es ermöglicht, ihr Handeln rasch an wechselnde politische Situationen (z. B. Phasen der Reaktion auf jene der revolutionären Offensive, Illegalität auf jene der Legalität usw. usf.) anzupassen.

Der Bolschewismus hat sich seit 1903 eine solche Flexibilität und gleichzeitig eine Prinzipienfestigkeit und vergleichsweise große Disziplin und Einheitlichkeit erarbeitet, auf deren Basis er nicht nur die Parteikader im engeren Sinne, sondern über mehr als ein Jahrzehnt mal offener, mal in der Illegalität eine Verbindung zur Avantgarde der Klasse herzustellen vermochte.

Sicherlich finden sich auch bei anderen Strömungen der internationalistischen Linken Aspekte dieser Entwicklung. So hatten Luxemburg und Liebknecht eine politische Bedeutung für die Avantgarde der ArbeiterInnenklasse in Deutschland, die sicher weit über die Größe des Spartakusbundes und auch der KPD hinausging – aber sie kamen, verglichen mit den Bolschewiki, zu spät bei der Formierung eines Kaders, einer Faktion, einer Vorstufe zu einer eigenständigen Partei. Das „Sektierertum“ der Bolschewiki, dessen sie von ihren GegnerInnen in der russischen und internationalen Sozialdemokratie vor dem Krieg beschuldigt worden waren, sollte sich in der Russischen Revolution als unersätzliches politisches Kapital erweisen.

Diese wäre jedoch selbst nicht zur Geltung gekommen, wäre nicht schon während des Kriegs eine theoretische, programmatische und taktische Neuausrichtung des Bolschewismus erfolgt.

Die Imperialismustheorie, der  „Revolutionäre Defaitismus“ und die Ausrichtung, den Krieg in einen Bürgerkrieg gegen die herrschenden Klassen zu verwandeln, verweisen auf diese grundlegende Umrüstung des Kommunismus. Sie stellte nicht nur die Orthodoxie der Zweiten Internationale, sondern implizit auch die ursprüngliche bolschewistische Konzeption einer russischen Revolution in Frage. Hinzu kommt, dass die Erneuerung des Bolschewismus, die Lenin im Exil vornahm, keineswegs in ihrer Gänze in die Reihen der Partei drang und in ihren Implikationen verstanden wurde.

Die Revolution selbst offenbarte diese inneren Widersprüche – und sie erzwang zugleich eine Vertiefung der Neubestimmung der bolschewistischen Politik und Programmatik, deren „Umrüstung“, um die Partei auf die Machtergreifung im Oktober vorzubereiten und zu dieser zu befähigen.

Die Februarrevolution

Der Ausbruch der Februarrevolution überraschte alle Strömungen der ArbeiterInnenbewegung. Russland wurde als „schwächstes Glied“ in der Kette der kriegführenden, imperialistischen Nationen erschüttert. Wie keine andere europäische Großmacht war es vom Krieg gebeutelt worden. Das Zarenreich erwies sich gerade gegenüber dem deutschen Imperialismus als militärisch schwach. Was seine Armeen zeitweilig gegen die österreichisch-ungarischen errungen, verloren sie, sobald die deutschen Truppen in die Kampfhandlungen eintraten.

Die Niederlagen gingen mit einem enormen Blutzoll einher. Fünf Millionen EinwohnerInnen verloren während des Krieges ihr Leben, weitere Millionen wurden verwundet, zermürbt. An der Front und in der Armee breiteten sich Desillusionierung, Kriegsmüdigkeit, Hunger aus. Allein 1916 desertierten rund 1,5 Millionen Soldaten.

Die desolaten Verhältnisse an der Front gingen mit einem Niedergang im Inneren einher. Die kleinbäuerlichen Betriebe konnten nicht mehr oder kaum noch bewirtschaftet werden. Während die Söhne an der Front starben oder verwundet wurden, hungerten die Familien und verloren ihre Existenzgrundlage.

Das wiederum führte, kombiniert mit Ausrichtung auf die, wenn auch schlechte, Versorgung der Armee und Spekulanten, zu einer drastischen Steigerung der Lebensmittelpreise und zur Inflation. 1916 betrug sie 400 Prozent. Das Land konnte nicht produzieren und die ArbeiterInnen in den Städten nicht kaufen. Die Zahl an Streiks und Demonstrationen stieg wie die Unzufriedenheit, während sich die Lage der Bevölkerung weiter verschlechterte, weil selbst die Erfolge  von einzelnen Kämpfen durch die Inflation, Versorgungsengpässe, Niedergang der Infrastruktur und allgemeine Zerrüttung rasch zunichte gemacht wurden.

Der imperialistische Krieg trieb zugleich die politischen Widersprüche auf die Spitze. Der Zarismus hatte den Krieg geführt und wurde nun zum Fokus des Volkszorns, zum Symbol der Unfähigkeit, Dekadenz und Volksfeindlichkeit.

Zugleich offenbarte sich mehr und mehr, dass der russische Imperialismus den Krieg nur mit Krediten der Führungsmächte der Entente, mithilfe französischen und britischen Geldes weiterführen konnte.

Obwohl ein Agrarland, war die Industrie Russlands hochkonzentriert. In den städtischen Zentren, v. a. in St. Petersburg, gab es Großbetriebe mit tausenden, wenn nicht zehntausenden ArbeiterInnen vor. Diese bildeten eine mächtige soziale Kraft, die in der Februarrevolution wie schon 1905 ihre eigene Stärke zur Geltung brachte.

Schon gegen Ende 1916 kam es besonders in der Maschinenbau- und metallurgischen Industrie zu Versammlungen, politisch motivierten Streiks und schließlich zur Organisation in ersten räteähnlichen Strukturen. Am 18. Februar legten die ArbeiterInnen des wichtigsten Rüstungswerks in Petrograd die Arbeit nieder. Die Direktion verhängte eine Aussperrung über 30.000 Belegschaftsmitglieder. Die Antwort waren Solidaritätsstreiks in weiteren Betrieben und Demonstrationen. Die sozialistischen Organisationen zauderten unter den Bedingungen des Kriegsrechts jedoch, zu einem Massenstreik aufzurufen, weil sie ein Eingreifen von in der Nähe stationierten Soldateneinheiten befürchteten.

Dennoch traten am 23. Februar auch andere Bereiche wie die Textilfabriken im Wyborg-Bezirk spontan in den Ausstand. Während des Krieges war der Anteil weiblicher Arbeitskräfte v. a. im Textilsektor stetig gestiegen und betrug allein in Petrograd 129.000. Mit der Zeit wuchs auch ihr Selbstbewusstsein. Die hervorstechendste Eigenschaft war die Unerschrockenheit, mit der die Arbeiterinnen die Quartiere der Soldaten aufsuchten und sie zur Schießbefehlsverweigerung aufforderten und so die Verbindung von ArbeiterInnen und Soldaten überhaupt erst möglich machten (41). Die Frauen führten auch eine Demonstration mit der Losung „Gebt uns Brot!“ an, der sich viele BewohnerInnen der Arbeiterviertel anschlossen.

In den folgenden Tagen schwoll die Streikbewegung an. Zwar war die Regierung bestrebt, Ordnung zu schaffen, doch die Repressionskräfte schritten zunehmend weniger ein und verbrüderten sich sogar mit den Protestierenden. Schon am 27. Februar hatten sich die meisten Soldaten auf die Seite der Aufständischen geschlagen. Dies griff tags darauf auf andere Zentren wie Moskau über. Die ArbeiterInnen entwaffneten mit Hilfe von übergelaufenen Soldateneinheiten die zarentreue Polizei, stürmten die Waffenarsenale und formierten sich ihrerseits in ArbeiterInnenmilizen, die auch zaristische Würdenträger verhafteten. Die RevolutionärInnen besetzten zentrale Schaltstellen wie Bahnhöfe und Telegrafenämter. In den Betrieben fanden Wahlen zu ArbeiterInnenräten statt, was der Auftakt zu einer Bewegung von ArbeiterInnen- und Soldatenräten, die den Petrograder Sowjet als Vertretung anerkannten, war.

Die Revolution siegte im Februar rasch, der Zar wurde zur Abdankung gezwungen. Der Sieg wurde im Wesentlichen in St. Petersburg errungen, das Land zog mit. Insgesamt wurden 1443 Tote ermittelt, was von der Bourgeoisie als „unblutig“ bezeichnet wurde. Das ist sicher übertrieben, aber es trifft zu, dass – verglichen mit dem Völkergemetzel des Krieges – die Februarrevolution relativ friedlich verlief.

Die politischen Parteien waren von der Umwälzung überrascht worden. Das trifft nicht nur auf die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, sondern auch auf die Bolschewiki zu.

„Wie aber war es mit den Bolschewiki? Das ist uns zum Teil schon bekannt. Hauptleiter der unterirdischen bolschewistischen Organisation in Petrograd waren damals drei Männer: die ehemaligen Arbeiter Schljapnikow und Saluzki und der ehemalige Student Molotow. Schljapnikow, der längere Zeit im Ausland gelebt und mit Lenin in naher Verbindung gestanden hatte, war der politisch reifere und aktivere der drei, die das Büro des Zentralkomitees bildeten. Doch bestätigen die Erinnerungen Schljapnikows selbst am besten, daß das Trio den Ereignissen nicht gewachsen war. Bis zur allerletzten Stunde glaubten die Führer, es handle sich nur um eine revolutionäre Kundgebung, um eine von vielen, nicht aber um einen bewaffneten Aufstand. Der uns bereits bekannte Kajurow, einer der Leiter des Wyborger Bezirkes, behauptet kategorisch: ‚Direktiven aus den Parteizeitungen waren absolut nicht zu verspüren … Das Petrograder Komitee war verhaftet, und der Vertreter des Zentralkomitees, Genosse Schljapnikow, war ohnmächtig, Weisungen für den nächsten Tag zu geben.‘

Die Schwäche der unterirdischen Organisationen war die unmittelbare Folge des politischen Vernichtungsfeldzuges, der der Regierung dank der zu Beginn des Krieges herrschenden patriotischen Stimmung ganz besondere Erfolge gebracht hatte. Jede Organisation, darunter auch die revolutionäre, besitzt die Tendenz, hinter ihrer sozialen Basis zurückzubleiben. Die unterirdischen Organisationen der Bolschewiki hatten sich zu Beginn des Jahres 1917 von Niedergeschlagenheit und Zersplitterung noch immer nicht erholt, während in den Massen die Pestluft des Patriotismus jäh der revolutionären Empörung Platz machte.“ (42)

Elementarereignis?

In der „Geschichte der russischen Revolution“ verweist Trotzki aber nicht nur auf die Schwäche der RevolutionärInnen und erst recht der anderen „linken“ Parteien. Er entkräftet auch die These, dass die Februarrevolution „rein“ spontan gewesen sei und überhaupt keine Führung hervorgebracht habe. Vielmehr stelle sich die Frage, wer die Menschen gewesen seien, die bei einem immerhin fünf Tage dauernden Kampf die Initiative ergriffen?

„Die Mystik des Elementaren erklärt nichts. Um die Situation richtig einzuschätzen und den Moment des Ausholens gegen den Feind zu bestimmen, war es notwendig, daß die Masse, ihre führende Schicht, ihre eigenen Ansprüche an die historischen Ereignisse stellte und eigene Kriterien besaß, sie einzuschätzen. Mit anderen Worten, es war nicht Masse an sich, sondern es war die Masse der Petrograder und der russischen Arbeiter im allgemeinen notwendig, die die Revolution von 1905 erlebt hatte und den Moskauer Dezemberaufstand von 1905, der an dem Semjonowski-Garderegiment zerschellte; es war notwendig, daß es in dieser Masse Arbeiter gegeben hat, die über die Erfahrung von 1905 nachgedacht, die konstitutionellen Illusionen der Liberalen und Menschewiki kritisiert, die Perspektive der Revolution sich angeeignet, Dutzende Male das Problem der Armee überlegt, aufmerksam verfolgt hatten, was in ihrer Umgebung vorging, die fähig waren, aus ihren Beobachtungen revolutionäre Schlüsse zu ziehen und sie den anderen zu vermitteln. Schließlich war notwendig, daß sich bei den Truppenteilen der Garnison fortgeschrittene Soldaten fanden, die in ihrer Vergangenheit von revolutionärer Propaganda erfaßt oder mindestens berührt worden waren.“ (43)

Hier zeigt sich das vorwärtstreibende Streben der Avantgarde der ArbeiterInnenklasse, die ihrerseits durch die vorbereitende Arbeit von RevolutionärInnen politisch geprägt war, auch wenn sie über eine ganze Periode isoliert, demoralisiert oder zeitweilig gar dem Taumel des Patriotismus erlegen war.

Zugleich zeigte sich aber auch die Unreife der Revolution. Die ArbeiterInnen bildeten mit dem Petrograder Sowjet ein eigenes Machtorgan, den Sowjet, und einen Monat später wurde auch ein landesweites Exekutivkomitee einer gesamtrussischen Sowjetkonferenz gewählt (44). Aber in den Räten hatten die Sozialpatrioten die Mehrheit. Diese war schon in Petersburg sehr groß, landesweit waren die Kräfteverhältnisse noch günstiger für die Menschewiki und vor allem die Sozialrevolutionäre.

Auch wenn die Menschewiki und Sozialrevolutionäre die Revolution nicht voraussahen und angeführt hatten, so entsprach ihre Politik der vorherrschenden Stimmung der ArbeiterInnenklasse und der Bauernschaft. Die Sozialrevolutionäre waren die mit Abstand  stärkste politische Organisation unter der Bevölkerung, weil sie das Land dominierten. Aber sie waren unfähig, eine eigenständige Politik zu entwickeln. Ihre Vertreter hängten sich entweder direkt der Bourgeoisie  an oder vermittelt über die Menschewiki.

„Die erdrückende Mehrheit des Volkes, und durch die Soldaten auch die physische Gewalt, hatten die Sozialrevolutionäre. Rechts von ihnen stand die bürgerliche und links die sozialistische Minderheit. Dennoch übernahmen die Volkstümler die Macht nicht. Sondern sie waren genauso wie die russischen Sozialdemokraten von der Überzeugung erfüllt, daß die Russische Revolution, die den Zaren stürzte, eine bürgerliche sein müsse. Sie waren deshalb bereit, dem liberalen Bürgertum die Macht zu überlassen. Sie selbst wollten in der Rolle einer loyalen Opposition die Regierung kontrollieren und im Sinne der Demokratie vorwärtsdrängen.“ (45)

Die Russische Revolution hatte zwar eine Situation der Doppelmacht geschaffen – letztlich eine zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Aber diese konnte nur verzerrt zum Ausdruck kommen aufgrund der Unreife der revolutionären Klasse und der damit verbundenen Dominanz von Menschewiki und Sozialrevolutionären in der Bewegung.

Diese sorgten dafür, dass sich der Petersburger Sowjet „freiwillig“ einer Provisorischen Regierung unter dem Fürsten Lwow unterordnete. Ein diesbezügliches Abkommen schloss das Exekutivkomitee des Petersburger Sowjets am 1. März, das auch in einen Aufruf zur Unterstützung der Provisorischen Regierung mündete. Die „Sowjetparteien“ selbst entsandten keine Parteivertreter in die Regierung, nur der Sozialrevolutionär Kerenski nahm als „Privatperson“ daran teil.

Die Menschewiki verteidigten die Unterstützung der Provisorischen Regierung, da diese nicht nur „provisorisch“, sondern „revolutionär“ sei. Am 7. März veröffentlichte das menschewistische Zentralorgan „Rabotschaja Gaseta“ eine Stellungnahme zur Haltung gegenüber der „Provisorischen Regierung“, die in einem Appell an ebendiese gipfelte:

„Mitglieder der Provisorischen Regierung! Das Proletariat und die Armee erwarten von Euch unverzüglich Befehle zur Festigung der Revolution und zur Demokratisierung Rußlands. Von Euch hängt unsere Unterstützung ab. Je rascher und entschlossener Ihr handeln werdet, umso rascher und gründlicher wird eine Konstituierende Versammlung vorbereitet werden können, deren Beschlüsse das weitere Schicksal Rußlands bestimmen werden. Auf zur Tat, auf zur Zerstörung des alten und zur Unterstützung des neuen Russlands! Wir fordern von Euch die unverzügliche Verwirklichung Eures Programms.“ (46)

Das Programm der Provisorischen Regierung war in Wirklichkeit das Programm der imperialistischen Bourgeoisie, die sich aufgrund der Doppelmacht und ihrer fehlenden Kontrolle über die Soldaten gezwungen sah, phrasenhafte Zugeständnisse wie das Versprechen bürgerlicher Freiheiten und einer Konstituierenden Versammlung zu machen, um im Gegenzug den Krieg fortzusetzen zu können und auf die Zersetzung der Revolution zu hoffen.

Die Politik der „extremen Opposition“ von 1905 war über den Weg der Vaterlandsverteidigung bei der Politik der Unterstützung einer bürgerlichen, imperialistischen Regierung angelangt.

Bolschewiki im Februar

Wie aber reagierte die Bolschewistische Partei? Vor der Rückkehr aus dem Exil versuchte Lenin die Partei aus der Schweiz zu dirigieren, wie sich in den „Briefen aus der Ferne“ (47) zeigt.

Aber er scheiterte mit diesem Vorhaben, wie das von seiner Linie  abweichende, ja der Konzeption Lenins gar entgegengesetzte Agieren verschiedener Strömungen in der Partei zeigt. Zugleich werden in den Texten aus dieser Zeit, wie den „Briefen aus der Ferne“, schon die grundlegenden Züge der Strategie Lenins deutlich. Die Aufgabe die ArbeiterInnenklasse und Volksmassen bestünde darin, von der ersten Etappe der Revolution, der bürgerlich-demokratischen, zur sozialistischen überzugehen. Es heißt dort:

„Über die taktischen Aufgaben unseres Verhaltens gegenüber dieser Regierung in der nächsten Zeit werden wir in einem anderen Artikel sprechen. Dort werden wir zeigen, worin die Eigenart des gegenwärtigen Zeitpunkts, des Übergangs von der ersten zur zweiten Etappe der Revolution, besteht, warum die Losung, die ,Aufgabe des Tages‘, in diesem Zeitpunkt sein muß: Arbeiter! Ihr habt im Bürgerkrieg gegen den Zarismus Wunder an proletarischem Heldentum, an Volksheldentum vollbracht. Ihr müßt Wunder an Organisation des Proletariats und des gesamten Volkes vollbringen, um euren Sieg in der zweiten Etappe der Revolution vorzubereiten.“ (48)

In seinem zweiten Brief lehnt er die Unterstützung der Provisorischen Regierung kategorisch ab und erhebt zugleich die Forderungen nach der Bewaffnung der ArbeiterInnenklasse und der Bildung einer proletarischen Miliz. Er bezieht sich positiv auf die geplante Einrichtung eines „Ausschusses zur Überwachung der Provisorischen Regierung durch die Proletarier und Soldaten“ als Weg zur Hebung des Bewusstseins und der Organisierung der Klasse.

In den Briefen 3-5 werden diese programmatischen Aufgaben präzisiert. Nicht Unterstützung, sondern Vorbereitung des Sturzes der Provisorischen Regierung sei die Aufgabe. Dazu muss das Proletariat gemeinsam mit der Bauernschaft die Macht übernehmen, die Zerschlagung des Staatsapparates zu Ende bringen und seine Macht auf einen proletarischen Halbstaat, auf den Rätestaat stützen. Die Staatsmacht muss dazu in die Hände der Sowjets übergehen. In den „Briefen aus der Ferne“, vor allem im 5. Brief, werden zentrale Aspekte der Aprilthesen von Lenin vorweggenommen.

Lenin konzipiert die Russische Revolution als Teil der sozialistischen Weltrevolution. Auch wenn sie noch keinen Sozialismus schaffen wird, so soll sie doch den Übergang zur sozialistischen Gesellschaft in Angriff nehmen. Er nähert sich damit Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution an. Abgesehen von terminologischen Unterschieden konvergieren die Vorstellungen der beiden – was auch die Grundlage für den Eintritt Trotzkis in die Bolschewistische Partei legt. Schon vor dem formalen Vollzug dieser Vereinigung im August 1917 arbeitet Trotzki eng mit Lenin zusammen.

Die Bolschewiki in Russland hingegen waren in verschiedene Strömungen hinsichtlich ihrer Haltung zur Provisorischen Regierung gespalten, die allesamt die Doppelherrschaft mit der Konzeption der „demokratischen Diktatur“ in Einklang zu bringen versuchten.

Das Distriktskomitee von Wyborg vertrat ein Programm von Forderungen, das ein tiefes Misstrauen gegenüber der Provisorischen Regierung ausdrückte,  und zugleich glaubte es, dass die Revolution strikt demokratisch wäre. Am 1. März rief es die Sowjets auf, eine Revolutionäre Provisorische Regierung gemäß der Linie der bolschewistischen Losungen von 1905 zu bilden. Das Ziel dieser Regierung sollte sein, den Weg für das Zusammentreten einer demokratischen Konstituante vorzubereiten.

Es ist kein Zufall, dass das Wyborger Komitee eine linke Position einnahm. Es war eng mit der Avantgarde der ArbeiterInnenklasse, den FührerInnen und AktivistInnen der Februartage verbunden, die durch ihre Aktionen schon über die Grenzen der bürgerlich-demokratischen Revolution hinausdrängten. Wie real dieser Druck und das Misstrauen gegenüber der Provisorischen Regierung, aber auch gegenüber dem menschewistisch-sozialrevolutionären Exekutivkomitee des Sowjet waren, zeigen Stellungnahmen von ArbeiterInnenversammlungen in Fabriken vom März 1917. So erklärt eine „Resolution der Arbeiter der Fabrik ‚Dinamo’“ nach dem 5. März, dass sie sich dem Rat der Arbeiter- und Soldaten-Deputierten nicht unterwerfe, weil er die Revolution nicht vorantreibe und keine konsequente Politik zur Beendigung des Krieges und Verbrüderung mit den deutschen Soldaten betreibe (49). Versammlungen proletarischer Frauen erhoben grundlegende Forderungen wie volle Gleichstellung, den 8-Stunden-Tag, Frauen- und Mutterschutz und riefen zur Organisierung der Frauen auf (50). Andere berichten davon, dass betriebliche Räte und ArbeiterInnenkontrolle errichtet worden seien, die bis zur „Entfernung“ der Fabrikleitung und zur Übernahme durch die Fabrikkomitees ging. Solche Forderungen und Aktionen gingen über eine rein demokratische Umwälzung hinaus, und das Wyborger Komitee versuchte, die Machtfrage mit der Doktrin von 1905 zu lösen.

Das Petrograder Komitee wurde hauptsächlich von früheren politisch Verbannten, die durch die Februarrevolution befreit worden waren, gebildet. Sie nahmen einen konservativeren Standpunkt ein. Am 3. März entschlossen sie sich, „der Macht der Provisorischen Regierung nicht entgegenzutreten, sofern deren Aktivitäten den Interessen des Proletariats und der breiten demokratischen Volksmassen entsprächen.“ (51)

Diese Position implizierte keine unmittelbare Herausforderung gegenüber der vorherrschenden menschewistischen Linie im Exekutivrat des Sowjets. Sie ließ vielmehr offen, ob die Provisorische Regierung nicht doch den tatsächlichen Interessen der Massen diene, und ähnelte der Position einer „kritischen Unterstützung“ der bürgerlichen Regierung durch die Menschewiki.

Das russische Büro des exilierten Zentralkomitees (Schljapnikow, Molotow und Zalutsky) schwankte. Zuerst forderten sie, dass eine revolutionäre Provisorische Regierung von oben herab von den im Exekutivrat des Sowjets vertretenen Parteien gebildet werden sollte, also eine Koalition aus Sozialrevolutionären, Menschewiki und Bolschewiki. Ihre programmatische Agenda beschränkte sich darauf, die drei Schwerpunkte des sozialdemokratischen Minimalprogramms, den Achtstundentag, die demokratische Republik, die Konfiskation der Landgüter und ihre Übergabe an die Bauernschaft, sowie die Vorbereitung einer konstituierenden Versammlung durchzusetzen.

Auch hier finden wir die Perspektive einer rein demokratischen Etappe, über die die Revolution nicht hinausgehen könne. Diese Perspektive führte sie anfänglich dazu, Flugblätter des „linkeren“ Wyborg-Distrikts, die zur Bildung einer auf den Sowjets basierenden Regierung von unten her aufriefen, in Acht und Bann zu legen.

Die Perspektive eines Paktes mit den anderen Sowjet-Parteien stieß jedoch auf das Problem, dass die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre die Regierung nicht mit den Bolschewiki teilen wollten. Diese Erkenntnis trieb das russische Büro bald nach links. Vom 22. März an bezeichnete es die Sowjets als Embryos einer neuen Staatsmacht. Andererseits betonte es weiter, dass die Revolution nicht auf den Fall der Kapitalherrschaft abziele, sondern auf den der Selbstherrschaft des Zaren und des Feudalismus. Hinter diesen Schwankungen vollzog diese Strömung generell eine Linksentwicklung und entwickelte sich schon vor Lenins Rückkehr in seine Richtung, auch wenn sie nicht in der Lage war, die Fesseln der traditionellen Konzeption zu lösen. (52)

Den rechtesten Standpunkt innerhalb des Bolschewismus nahm die Redaktion der Prawda ein. Herausgegeben wurde sie damals von Stalin, Muranow und Kamenew. Die „Prawda“ erklärte so am 7. März: „Was uns betrifft, so ist, was jetzt zählt, nicht der Sturz des Kapitalismus, sondern der Sturz der Autokratie und des Feudalismus.“ (53)

Diese Position verfolgte Stalin konsequent weiter, indem er argumentierte, dass, „die Provisorische Regierung in der Tat die Rolle des Verteidigers der Errungenschaften des revolutionären Volkes angenommen hat. Gegenwärtig ist es nicht in unserem Interesse, Ereignisse herbei zu zwingen, die den Ausschluss von bürgerlichen Schichten, die unvermeidlich eines Tages sich von uns trennen werden, beschleunigen.“ (54)

Am 15. März benutzte Kamenew die „Prawda“, um eine bedingte Unterstützung für Russlands Kriegsanstrengungen zu rechtfertigen, da nun die Autokratie gestürzt worden war. So verwundert es wenig, dass Mitte März die Arbeiterbasis im Wyborger Distrikt für Anträge stimmte, die „Prawda“-Führung aus der Partei auszuschließen.

Die Prawda-Redaktion repräsentierte zwar nicht die Mehrheit der Bolschewiki, aber nutzte bzw. missbrauchte ihre redaktionellen Rechte, um ihre Linie zur vorherrschenden zu machen. Dabei kam ihr zugute, dass sie, im Gegensatz zu den drei anderen Strömungen, eine in sich folgerichtige, schlüssige Linie verfocht. Das Wyborger Komitee, das Petersburger Komitee und das exilierte Zentralkomitee waren in den inneren Widersprüchen der Politik von 1905 gefangen. Einerseits drängten sie in Richtung einer unabhängigen ArbeiterInnenpolitik, andererseits waren sie an die Vorstellung gebunden, dass die Revolution nur eine demokratische sein könne.

Vor Lenins Ankunft drängte daher die Prawda-Richtung die Partei nach rechts. Ende März äußerte sich Stalin auf einer Parteikonferenz wie folgt zur Frage der Provisorischen Regierung und ihres Verhältnisses zu den Räten:

„Die Macht ist auf zwei Organe aufgeteilt, von denen aber keines die volle Macht innehat. Reibungen und Kampf zwischen ihnen bestehen und müssen bestehen. Die Rollen sind verteilt. Der Sowjet hat faktisch die Initiative revolutionärer Umgestaltungen ergriffen. Der Sowjet ist der revolutionäre Führer des aufständischen Volkes, ein die Provisorische Regierung kontrollierendes Organ. Die Provisorische Regierung dagegen hat faktisch die Rolle des Befestigers der Errungenschaften des revolutionären Volkes übernommen. Der Sowjet mobilisiert und kontrolliert die Kräfte. Die Provisorische Regierung dagegen erfüllt widerstrebend und irrend die Rolle des Befestigers jener Errungenschaften des Volkes, die dieses sich bereits faktisch genommen hat. Dieser Zustand hat positive, aber auch negative Seiten: es ist für uns jetzt nicht von Vorteil, die Ereignisse zu forcieren, indem wir den Prozeß der Abstoßung bürgerlicher Schichten beschleunigen, die sich in der Folge unvermeidlich von uns trennen müssen.“ (55)

Bourgeoisie und ArbeiterInnenklasse, Provisorische Regierung und Räte teilten sich die Arbeit, der Klassenkampf wurde zu einer Frage des „Drucks“ auf eine Regierung, deren Ablösung nicht weiter forciert werden sollte.

Aufgrund kritischer Stimmen schwächten Stalin und Kamenew zwar ihre Formulierungen etwas ab, um sie am nächsten Tag jedoch in der Substanz  beizubehalten:

„So weit die Provisorische Regierung die Schritte der Revolution festigt, so weit müssen wir sie unterstützen; aber so weit sie konterrevolutionär ist, ist die Unterstützung der Provisorischen Regierung unzulässig. Viele GenossInnen, die aus den Provinzen ankamen, haben die Frage aufgeworfen, ob wir unmittelbar die Frage der Machtergreifung stellen sollten. Aber die Zeit ist nicht reif, die Frage jetzt zu stellen.“ (56)

Auf derselben Konferenz wurde die Frage einer Vereinigung mit den Menschewiki aufgeworfen und die Tagung wurde mehrmals für gemeinsame Sitzungen mit den Sozialpatrioten unterbrochen. Auch wenn es widersprechende Stimmen gab, so zeigte sich, dass in vielen Städten schon Verhandlungen über die Vereinigung geführt wurden. Delegierte, die auf der Notwendigkeit einer programmatischen Klärung und Übereinstimmung als Voraussetzung für eine Fusion beharrten, wurden von jenen überstimmt, die die alten Differenzen als nicht mehr so wichtig betrachteten, zumal Menschewiki und Bolschewiki, formell betrachtet, noch immer dasselbe Parteiprogramm hatten. Die Konferenz optierte mehrheitlich für Vereinigungsdiskussionen. (57)

Jene Delegierten, die auf der programmatischen Abgrenzung beharrten, folgten zweifellos einem richtigen Impuls. Aber sie selbst hatten mit dem Dilemma zu ringen, dass sie einerseits programmatische Klarheit forderten, andererseits aber keine klare Alternative zum „traditionellen“ Bolschewismus zu formulieren imstande waren.

Dieses Dilemma konnte im Rahmen der Konzeption von 1905 nicht gelöst werden – deren innere Widersprüche konnten nur durch einen politischen Bruch mit ihren Beschränkungen überwunden werden.

Eine solche programmatische Umrüstung und Neuausrichtung erfolgte im April 1917 mit Lenins Rückkehr. In These 9 der berühmt gewordenen Aprilthesen weist er selbst auf die Notwendigkeit einer Neubestimmung des Programms hin.

„Änderung des Parteiprogramms, in der Hauptsache in folgenden Punkten:

1. Imperialismus und imperialistischer Krieg;

2. Stellung zum Staat und unsere Forderung eines ‚Kommunestaates‘;

3. Berichtigung des veralteten Minimalprogramms;“ (58)

Die Aprilthesen

Die Aprilthesen verfasste Lenin am 4./5. April bei seiner Rückkehr nach Russland, nachdem er auf ersten Versammlungen seine grundlegende Linie dargelegt hatte. Nicht nur Menschewiki und Sozialrevolutionäre, sondern auch die Mehrzahl der Bolschewiki waren schockiert. Das Petersburger Komitee lehnte nach einer ersten Diskussion die Aprilthesen mit 2 gegen 13 Stimmen ab, auch Komitees aus Moskau und Kiew wiesen sie zurück. Die Prawda veröffentlichte die Thesen am 7. April nur mit einer redaktionellen Distanzierung,, in der Kamenew schreibt:

„Was das allgemeine Schema des Gen. Lenin anbelangt, …so halten wir es für unannehmbar, insofern es davon ausgeht, daß die bürgerlich-demokratische Revolution abgeschlossen sei, insofern es auf die sofortige Umwandlung der Revolution in eine sozialistische berechnet ist…“ (59)

Kamenew, der konsequenteste und theoretisch versierteste Wortführer des rechten Flügels der Partei, drängte im Namen der Prawda-Redaktion selbst auf eine Überwindung der Widersprüchlichkeiten der „demokratischen Diktatur“. Er ging somit nach rechts, was ihn letztlich ins Lager des Menschewismus geführt hätte.

Lenin bekämpfte diese Richtung im April 1917 scharf  und konnte auch die Mehrheitsverhältnisse in der Partei zu seinen Gunsten ändern. Sie wurde politisch „umgerüstet“. Worin bestand nun diese Neuausrichtung?

Die Aprilthesen („Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“) (60) gehen von der internationalen Lage aus. Der Krieg ist auch auf Seiten des von der Provisorischen Regierung geführten Russlands noch immer ein imperialistischer Krieg. Der revolutionäre Defätismus, den der rechte Flügel der Partei ad acta legen wollte, behält auch unter der neuen Regierung seine Gültigkeit, weil es eine Regierung der Kapitalisten ist, die einen imperialistischen Raubkrieg führt.

„Einem revolutionären Krieg, der die revolutionäre Vaterlandsverteidigung wirklich rechtfertigen würde, kann das klassenbewußte Proletariat seine Zustimmung nur unter folgenden Bedingungen geben: a) Übergang der Macht in die Hände des Proletariats und der sich ihm anschließenden ärmsten Teile der Bauernschaft; b) Verzicht auf alle Annexionen in der Tat und nicht nur in Worten; c) tatsächlicher und völliger Bruch mit allen Interessen des Kapitals.“ (61)

Damit erfolgte nicht nur eine klare politische Ablehnung der Regierung. Zugleich wurde auch deutlich, dass jede Vereinigung mit den Sozialpatrioten nur Verrat am internationalen Proletariat sein könne, weil dies den Wechsel ins Lager der Vaterlandsverteidiger bedeuten würde.

Statt die Provisorische Regierung „kritisch zu unterstützen“, gehe es darum, ihren Sturz vorzubereiten, von der ersten zur zweiten Etappe der Revolution überzugehen. Dass sie sich noch halten könne, liege vor allem an der „mangelnden Organisiertheit des Proletariats“ und „Vertrauensseligkeit der Massen“. Es gehe daher nicht um die unmittelbare Machtergreifung, sondern auf deren Vorbereitung durch Aufklärung der Massen, Unterstützung von deren Initiativen, Enthüllung des wahren Charakters des Krieges, der Regierung und des Versöhnlertums. Solange die Bolschewiki nicht die Führung der ArbeiterInnen und ländlichen Massen errungen hätten, müssten sie ihre Politik darauf ausrichten,  diese von der Notwendigkeit der Machtergreifung zu überzeugen.

Lenin macht deutlich, dass eine solche Regierung nicht unmittelbar den Sozialismus einführen würde oder könnte, sondern dass sie durch die „Verschmelzung aller Banken des Landes zu einer Nationalbank, die der Kontrolle des Arbeiterdeputiertenrates“ unterliege und durch „sofortige Übernahme der Kontrolle der gesellschaftlichen Produktion und Verteilung der Erzeugnisse durch den Arbeiterdeputiertenrat“ den Übergang zu einer solchen Gesellschaftsordnung einleiten würde.

Diese Forderungen, die die Voraussetzung für den Sozialismus in Verbindung mit der internationalen Revolution schaffen können, müssten mit dem Kampf für die wirkliche Beendigung des Kriegs durch die Revolution, die ohne Sturz des Kapitalismus unmöglich sei, der Verbrüderung mit den deutschen Soldaten und der Agrarrevolution als Kernfrage der „demokratischen Revolution“ verbunden werden.

Übergangsmethode

Lenin entwirft hier ein Programm von Übergangsforderungen. Die wichtigsten, grundlegenden Fragen der ArbeiterInnenklasse wie aller Unterdrückten dürfen dem Kampf für die soziale Revolution, dem Kampf gegen das Kapital nicht entgegengestellt werden, sondern müssen vielmehr zu einem Aktionsprogramm gebündelt werden, das die brennendsten Fragen der Massen – „Land, Brot, Frieden“ – mit der Lösung der Machtfrage verbinde.

Dieser Bruch mit der Programmmethode der Zweiten Internationale entspricht Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution und verweist auf die Entwicklung der Übergangsmethode auf den ersten vier Kongressen der Komintern und durch die frühe Vierte Internationale. Lenins eigenes Denken hatte sich schon vor 1917 in diese Richtung entwickelt, wie z. B. eine Polemik gegen Radek (Parabellum) aus dem Jahr 1915 verdeutlicht:

„Bei Gen. P. kommt es so heraus, daß er im Namen der sozialistischen Revolution das konsequent revolutionäre Programm auf dem Gebiet der Demokratie mit Geringschätzung beiseite schiebt. Das ist nicht richtig. Das Proletariat kann nicht anders siegen als durch die Demokratie, d. h. indem es die Demokratie vollständig verwirklicht, indem es mit jedem Schritt seiner Bewegung die demokratischen Forderungen in ihrer entschiedensten Formulierung verbindet. Es ist Unsinn, die sozialistische Revolution und den revolutionären Kampf gegen den Kapitalismus, einer der Fragen der Demokratie, in unserem Falle der nationalen Frage, entgegenzustellen. Wir müssen umgekehrt den revolutionären Kampf gegen den Kapitalismus mit dem revolutionären Programm und mit der revolutionären Taktik in bezug auf alle demokratischen Forderungen verbinden: die Forderungen der Republik, der Miliz, der Wahl der Beamten durch das Volk, der gleichen Rechte für Frauen, der Selbstbestimmung der Nationen usw. Solange der Kapitalismus fortbesteht, sind alle diese Forderungen nur ausnahmsweise und zudem nicht vollständig, nur verstümmelt zu verwirklichen. Indem wir uns auf die schon verwirklichte Demokratie stützen, indem wir die Unvollständigkeit derselben unter dem Kapitalismus entlarven, fordern wir die Niederwerfung des Kapitalismus, die Expropriation der Bourgeoisie, als eine notwendige Basis für die Abschaffung des Massenelends sowie für die volle und allseitige Durchführung aller demokratischen Umgestaltungen. Einige dieser Maßnahmen werden vor der Niederwerfung der Bourgeoisie begonnen werden, andere im Gange dieser Niederwerfung, wieder andere nach derselben. Die sozialistische Revolution ist keineswegs eine einzige Schlacht, sondern im Gegenteil eine Epoche, bestehend aus einer ganzen Reihe von Schlachten um alle Fragen der ökonomischen und politischen Umgestaltungen, die nur durch die Expropriation der Bourgeoisie vollendet werden können. Eben im Namen dieses Endzieles müssen wir einer jeden unserer demokratischen Forderungen eine konsequent revolutionäre Formulierung geben. Es ist denkbar, daß die Arbeiter eines gegebenen Landes die Bourgeoisie niederwerfen werden, bevor sie auch nur eine einzige demokratische Umgestaltung vollständig verwirklichen. Aber es ist ganz undenkbar, daß das Proletariat, als eine geschichtliche Klasse, die Bourgeoisie besiegen könnte, wenn es dazu nicht vorbereitet wird durch die Erziehung im Geiste des konsequentesten und revolutionär entschiedensten Demokratismus.“ (62)

Diese Methode findet sich in den Aprilthesen eindeutig wieder. Sie stand in einem grundlegenden Gegensatz zur Position der rechten Bolschewiki wie Kamenew, gegen die Lenin heftig polemisierte. In „Briefe über die Taktik“ geht er auf dessen Position ein und weist ihm ein Festhalten an überlebten Formeln nach.

Überlebte Formeln

Kamenews Insistieren darauf, dass die „demokratische Revolution“ noch nicht abgeschlossen sei, verdeutliche, dass er die Frage nach dem Charakter der Revolution schon „falsch gestellt“ hätte, weil er unterstellt, dass es überhaupt eine klar abgetrennte und abgeschlossene „demokratische Etappe“ geben könne. Eine lupenreine Trennung der beiden Etappen wird vorausgesetzt, statt die Wirklichkeit danach zu untersuchen, ob diese Vorstellung nicht selbst eine leblose Abstraktion darstellt.

„Die Wirklichkeit zeigt uns sowohl den Übergang zur Macht an die Bourgeoisie (‚abgeschlossene‘ bürgerlich-demokratische Resolution von gewöhnlichem Typus) als auch die Existenz – neben der eigentlichen Regierung – einer Nebenregierung, die die ‚revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft‘ verkörpert. Diese letztere ‚Auch-Regierung‘ hat selber die Macht an die Bourgeoisie abgetreten, hat sich selber an die bürgerliche Regierung gekettet.

Erfaßt die altbolschewistische Formel des Gen. Kamenew ‚die bürgerliche Revolution ist nicht abgeschlossen‘ diese Wirklichkeit?

Nein, die Formel ist veraltet. Sie taugt nichts. Sie ist tot. Vergeblich werden die Bemühungen sein, sie mit neuem Leben zu erwecken.“ (63)

Noch deutlicher wird Lenin mit einem weiteren Argument. Er stellt in Frage, ob es „eine besondere, von der bürgerlichen Regierung losgelöste ‚revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft‘ geben kann.“

Wenn überhaupt, dann sei sie nur auf Basis der „sofortige[n], entschiedene[n], unwiderrufliche[n] Loslösung der proletarischen, kommunistischen Elemente der Bewegung von den kleinbürgerlichen Elementen“ (64) möglich.

Diese Trennung wird zur unbedingten Notwendigkeit, weil das Kleinbürgertum nicht „zufällig“ für den Sozialchauvinismus anfällig ist, sondern aufgrund seiner Klassenlage. Daher muss die ArbeiterInnenklasse eine führende Rolle einnehmen – was  auch eine Trennung von und eben nicht Verschmelzung mit den kleinbürgerlichen Parteien erfordert.

Gerade in der Frage der „Vaterlandsverteidigung“ hätten sich die Interessen von Proletariat und Kleinbürgertum getrennt, daher sei der „alte Sinn“ der „demokratische(n) Diktatur“, die eine zeitweilige Interessengleichheit unterstellt, obsolet geworden. Jetzt gehe es um die Zukunft, den Kampf gegen das Privateigentum, den Kampf der LohnarbeiterInnen gegen das Kapital.

Auch in den Aprilthesen findet sich die „demokratische Diktatur“ nicht mehr, weil sie bestenfalls eine zwiespältige Formel geworden ist. Stattdessen heißt es: „5. Keine parlamentarische Republik -von den Sowjets der Arbeiterdeputierten zu dieser zurückzukehren wäre ein Schritt rückwärts -, sondern eine Republik der Sowjets der Arbeiter-, Landarbeiter- und Bauerndeputierten im ganzen Lande, von unten bis oben.

Abschaffung der Polizei, der Armee, der Beamtenschaft.“ (65)

Die Februarrevolution hatte zwar begonnen, den zaristischen Staatsapparat zu zerbrechen, doch dieses Werk musste durch eine zweite Revolution zu Ende gebracht werden. Ähnlich wie Trotzki in „Ergebnisse und Perspektiven“ knüpft er dabei an Marx‘ Schriften zur Revolution von 1848 und die Schriften zur Commune an.

Die „Briefe aus der Ferne“, die Kommentare und Erklärungen zu den Aprilthesen betonen immer wieder die Notwendigkeit, den bürgerlichen Staatsapparat zu zerschlagen und durch einen Rätestaat zu ersetzen. Noch vor seiner Rückkehr aus dem Exil verfasste Lenin einen großen Teil der Schrift, die später unter dem Titel „Staat und Revolution“ (66) veröffentlicht werden wird.

Hier zeigt sich eine weitere Seite der Abwendung Lenins von den schematischen Vorstellungen der Zweiten Internationale. In seinem Denken spielen die Räte in der Revolution 1917 eine qualitativ andere Rolle als 1905. Das ist kein Zufall, denn in einer Revolution, die eine ArbeiterInnen- und Bauernregierung an die Macht bringt, die ihrem sozialen Gehalt nach eine Form der Diktatur des Proletariats darstellt, müssen die Räte eine zentrale Rolle spielen – nicht nur für den Sturz des bestehenden Systems, sondern auch für die Etablierung eines proletarischen Halbstaates.

Die enorme Bedeutung von „Staat und Revolution“ besteht für Lenin sowohl in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht. 1917 steht die Entwicklung vor der Verwirklichung der sozialistischen Revolution. Daher sei die Aufklärung der Massen darüber eine unmittelbare Aufgabe. Theoretisch geht es um den Bruch mit den Entstellungen der marxistischen Auffassung vom Staat durch die Theoretiker der Zweiten Internationale. „Bei dieser Sachlage, bei der unerhörten Verbreitung, die die Entstellungen des Marxismus gefunden haben, besteht unsere Aufgabe in erster Linie in der Wiederherstellung der wahren Marxschen Lehre vom Staat.“ (67)

Diese Wiederherstellung des Marxismus ist mit den Aprilthesen und der gesamten Strategie der Bolschewiki eng verbunden. Methodisch stehen sie hinsichtlich der Analyse der Russischen Revolution, ihrer Triebkräfte, ihrer Zielsetzung auf demselben Boden wie Trotzkis „Theorie der Permanenten Revolution“.

Es ist kein Zufall, dass sich Trotzki und seine kleine Organisation, die Meschrajonzy, den Bolschewiki anschlossen und Trotzki gemeinsam mit Lenin einer der Strategen und zentralen Führer der Russischen Revolution wurde. Erst im Zuge des Fraktionskampfes mit der Troika und später mit dem Stalinismus wurde diese Übereinstimmung der Ideen, Konzepte und Politik in Frage gestellt werden. Die Behauptung, dass es grundlegende Differenzen zwischen Trotzki und den Aprilthesen gegeben habe, dass Lenin eine andere Strategie verfolgt habe, ist, historisch betrachtet, eine Fälschung und Entstellung. Sie entstammt nicht wissenschaftlichen Forschungen, sondern den Bedürfnissen der Troika im Kampf um die Nachfolge Lenins und dem Bemühen um Ausschaltung Trotzkis, der Suche der Bürokratie nach einer Legitimation ihrer Herrschaft und der Rechtfertigung der eigentlich menschewistischen Etappentheorie des Stalinismus. Es ist kein Wunder, dass diese (Mach-)Werke über Scholastik nicht hinauskommen und gerade den Bruch Lenins mit den Schwächen der „altbolschewistischen Tradition“ relativieren.

Eine Lektüre der wichtigsten Schriften Lenins und Trotzkis im Jahr 1917 offenbart die Gemeinsamkeit der strategischen Ausrichtung, der Einschätzung des Charakters der Revolution, der Hauptaufgaben der ArbeiterInnenklasse und der revolutionären Partei. Mehr noch als jedes Textstudium beweist das der Verlauf der Revolution selbst.

Alle Macht den Räten und Taktik gegenüber der Koalitionsregierung

Mit den Aprilthesen hatte Lenin programmatisch den „gordischen Knoten“ des „alten“ Bolschewismus zerschlagen. Im April 1917 gelang es ihm, einen größeren Teil der Führung von seiner Position zu überzeugen. Die Fusionsabsichten mit den Menschewiki waren vom Tisch. Die Petrograder Stadtkonferenz stimmte den von ihm verfassten Thesen zu. Der gesamtrussische Parteitag der Bolschewiki Ende April nahm in etlichen Punkten Lenins Position an. Aber der Widerstand der Parteirechten war beträchtlich und die Strömung um Kamenew stellte während der gesamten Russischen Revolution eine bedeutende Gruppierung dar, die immer wieder mit Positionen rechts von der Mehrheit aufwartete. Auch die Beschlüsse der Konferenz spiegelten teilweise ihre Stellung wider. So standen 5 von 9 gewählten Mitgliedern des Zentralkomitees dem rechten Flügel nahe.

Dennoch ist es bemerkenswert, wie rasch Lenin aus der Position der Minderheit die „Umbewaffnung“ der Partei durchsetzen konnte. Der entscheidende Grund war sicherlich, dass seine politische Konzeption in der realen Entwicklung und in den Stimmungen der Avantgarde der Klasse einen Nährboden fand, dass sie ihrem Streben nach einer Lösung der von der Revolution gestellten Fragen einen in sich schlüssigen, folgerichtigen Ausdruck verlieh. Die praktischen Erfahrungen und die Logik ihres eigenen Handelns, nicht zuletzt die Errichtung der Räte, die Einführung von Formen der ArbeiterInnenkontrolle, die Doppelmacht und ihre inneren Widersprüche warfen Fragen auf, die die Aprilthesen verknüpfen und als Gesamtheit beantworten konnten. Sie waren eine Anleitung zum Handeln. Zum anderen zeigten sie auch jenen Bolschewiki, die sich schon politisch-konzeptionell nach links entwickelt hatten, jedoch noch nicht die Konzeption der „demokratischen Etappe“ zu überwinden vermochten, einen Ausweg, indem sie ihnen vor Augen führten, dass das alte Schema des Bolschewismus selbst gesprengt werden musste.

Der Gedanke konnte nur zur materiellen Wirklichkeit werden, Fuß fassen, weil auch die Wirklichkeit in diese Richtung drängte.

Dazu tat schließlich auch die reale Entwicklung das Ihre. Die Provisorische Regierung erwies sich als unfähig und unwillig, auch nur eines der Probleme des Landes zu lösen. Der imperialistische Krieg wurde fortgesetzt und neue Offensiven wurden vorbereitet. Die wirtschaftliche Desorganisation des Landes nahm weiter zu. Die soziale Frage in der Stadt und die Agrarfrage blieben ungelöst und wurden wie die demokratische Umwälzung auf die lange Bank geschoben. Die Kapitalistenklasse und die bürgerliche Regierung waren politisch bei den Massen diskreditiert.

Es gab im Grund schon Ende April/Anfang Mai 1917 nur drei Möglichkeiten, die Lage zu klären: Erstens: Die Bourgeoisie beendet mit diktatorischen Mitteln die Doppelmacht. Dazu war sie jedoch (noch) zu schwach und unentschlossen. Zweitens: Die Räte übernehmen allein die Macht. Dazu waren jedoch die Menschewiki und Sozialrevolutionäre nicht gewillt, obwohl sie von Seiten der Bourgeoisie daran nicht gehindert werden konnten. Die dritte Möglichkeit bestand in einer Fortsetzung der Kollaboration von Bourgeoisie, Generalität und kleinbürgerlichen „Sozialisten“ in einer anderen Form. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die als Parteien offiziell außerhalb der Regierung standen, entschlossen sich zum Eintritt – natürlich, „um die Revolution zu retten“.

„Trotz aller politischen Gefahren, die mit dem Eintritt der Sozialisten in die bürgerliche Regierung verbunden sind, hätte unter den gegenwärtigen Verhältnissen eine Weigerung der revolutionären Sozialdemokratie, auf Grundlage eine festen demokratischen Plattform in bezug auf die Außen- und Innenpolitik aktiv an der Provisorischen Regierung teilzunehmen, die Revolution zu Scheitern verurteilt und wäre den Interessen der Arbeiterklasse und der gesamten revolutionären Demokratie zuwidergelaufen. Der Eintritt der Sozialisten in die Regierung auf Grundlage einer Plattform, die sich auf eine aktive Politik mit dem Ziel eines frühestmöglichen allgemeinen Friedensschlusses auf demokratischer Basis richtet, soll ein wichtiger Schritt zur Beendigung des Krieges gemäß der internationalen Demokratie sein.“ (68)

Die Koalitionsregierung zwischen bürgerlichen Parteien und den Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie war geboren. Der Krieg wurde fortgesetzt, die Bauern und ArbeiterInnen weiter vertröstet. Die beginnenden und zunehmenden Landnahmen, also Enteignungen des Großgrundbesitzes, sollten unterbunden und nicht legalisiert werden, die Tendenzen zur ArbeiterInnenkontrolle sollten gestoppt und die Armee wieder kampffähig werden. So sollte die Konterrevolution zum „Wohl der Revolution“ wirken.

Die Bolschewiki kritisieren die Koalition von Beginn an scharf und ohne Rücksichtnahme auf ihre „sozialistischen Minister“. Sie tun dies allerdings aus der Position einer wachsenden Minderheit der ArbeiterInnenklasse und in den Räten. Lenin selbst hatte in den Aprilthesen darauf hingewiesen, dass die Aufgabe der Partei nicht darin bestehen könne, unmittelbar selbst die Macht zu ergreifen. Vielmehr müssten als nächster Schritt die ArbeiterInnenklasse und die Bauernschaft über die Notwendigkeit der Machtergreifung aufgeklärt, darauf vorbereitet werden.

Die von der Regierung geplante erneute Offensive an der Front bildete dabei im Mai und Juni 1917 ein, wenn nicht das Zentrum der politischen Auseinandersetzung. Mit dem Regierungseintritt hatten Menschewiki und Sozialrevolutionäre auf den ersten Blick ihre Macht gefestigt, andererseits aber auch ihre Stellung gegenüber den Massen weiter gefährdet, weil sie den Machtinstitutionen beider Seiten, der Doppelmacht, angehörten. Das lähmte einerseits die Sowjets und führte zur Verschlechterung der allgemeinen Lage – es führte den Massen aber auch vor Augen, dass die Sozialrevolutionäre und Menschewiki die Revolution nicht weiterbrachten.

Genau hier setzten die Bolschewiki an. Sie entlarvten alle bürgerlichen, arbeiterfeindlichen, bauernfeindlichen und imperialistischen Maßnahmen der Regierungssozialisten.

Sie beließen es aber nicht dabei, sondern versuchten, die inneren Widersprüche der Politik von Menschewiki und Sozialrevolutionären auf die Spitze zu treiben. Die Losung „Alle Macht den Sowjets“ diente dazu, die sozialen und demokratischen Forderungen der Massen mit der Frage der Macht zu verknüpfen. Sie war aber auch direkt an die Mehrheit in den Räten, an Menschewiki und Sozialrevolutionäre, gerichtet, die Doppelmacht zugunsten der Sowjets zu beenden. Eine solche Mehrheit der „kleinbürgerlichen Demokratie“ hätte die Räte keineswegs schon zu einer sozialistischen Politik gebracht, aber sie hätte bedeutet, dass sich diese Parteien auf  radikalisierte (und sich weiter radikalisierende) Massen aus ArbeiterInnen, Soldaten, Bauern und Bäuerinnen hätten stützen müssen.

Die Bolschewiki hatten dabei keineswegs nur eine theoretische Kritik vor Augen. Sie wollten den Rätekongress im Juni 1917 selbst massiv unter Druck setzen.

„Während des ersten Allrussischen Kongresses der Sowjets schlug der erste erschreckende Donner ein, der die künftigen Geschehnisse ahnen ließ. Für den 10. Juni hatte die Partei eine bewaffnete Demonstration in Petrograd beschlossen. Diese sollte unmittelbar auf den Allrussischen Kongress einwirken: ‚Ergreift die Macht‘, wollten die Petrograder Arbeiter den aus dem ganzen Land versammelten Sozialisten-Revolutionären und Menschewiki zurufen: ‚Brecht mit der Bourgeoisie, verwerft die Koalition und ergreift die Macht´. Uns war klar, dass ein Bruch der Sozialisten-Revolutionäre und Menschewiki mit der liberalen Bourgeoisie sie gezwungen hätte, eine Stütze in den entschlossensten vorderen Reihen des Proletariats zu suchen; sie hätten sich somit auf Kosten der letzteren eine führende Stellung gesichert. Aber gerade davor schraken die klein-bürgerlichen Führer zurück.“ (69)

Die Losungen „Alle Macht den Räten!“, „Brecht mit der Bourgeoisie!“, „Raus mit den 10 Kapitalisten-Ministern“ wurden nicht nur von den Bolschewiki popularisiert, sondern erwuchsen auch aus den Reihen der ArbeiterInnenklasse, vor allem der ArbeiterInnenvorhut in Petersburg und anderen städtischen Zentren. Hinzu kam, dass sich auch größere Teile der Matrosen und der Garnison deutlich nach links entwickelten.

Wie Trotzki im Übergangsprogramm darlegt, war die Losung letztlich eine frühe Form der Anwendung der Losung der ArbeiterInnenregierung:

„Von April bis September 1917 forderten die Bolschewiki, die Sozial-Revolutionäre und die Menschewiki sollten mit der liberalen Bourgeoisie brechen und die Macht in ihre eigenen Hände nehmen. Unter dieser Bedingung versprachen die Bolschewiki den Menschewiki und den Sozial-Revolutionären, als den kleinbürgerlichen Vertretern der Arbeiter und Bauern ihre revolutionäre Unterstützung gegen die Bourgeoisie; sie lehnten es jedoch kategorisch ab, sowohl in die Regierung der Menschewiki und Sozial-Revolutionäre einzutreten, als auch die politische Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen. Wenn die Menschewiki und die Sozial-Revolutionäre wirklich mit den (liberalen) Kadetten und dem ausländischen Imperialismus gebrochen hätten, dann hätte die von ihnen geschaffene ‚Arbeiter- und Bauernregierung‘ nur die Errichtung der Diktatur des Proletariats beschleunigen und erleichtern können. Aber gerade aus diesem Grund stemmten sich ja die Spitzen der kleinbürgerlichen Demokratie mit aller Gewalt gegen die Errichtung ihrer eigenen Regierung. Die Erfahrung Rußlands hat gezeigt, und die Erfahrung Spaniens und Frankreichs bestätigt es von neuem, daß selbst unter günstigsten Bedingungen die Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie (Sozialrevolutionäre, Sozialdemokraten, Stalinisten und Anarchisten) unfähig sind, eine Arbeiter- und Bauernregierung, d. h. eine von der Bourgeoisie unabhängige Regierung, zu schaffen.

Trotzdem hatte die an die Menschewiki und Sozialrevolutionäre gerichtete Forderung der Bolschewiki: ‚Brecht mit der Bourgeoisie, nehmt die Macht in eure eigenen Hände! ‚ einen unschätzbaren erzieherischen Wert für die Massen. Die hartnäckige Weigerung der Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die Macht zu ergreifen, die in den Julitagen auf so tragische Weise offenbar wurde, verurteilte sie endgültig in der Meinung des Volkes und bereitete den Sieg der Bolschewiki vor.“ (70)

Die Forderung an die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die Macht zu ergreifen, war eine Form der Einheitsfronttaktik, die die Bolschewiki systematisch immer wieder in der Russischen Revolution – nicht nur im Kampf gegen Kornilow – anwandten. Die Losung „Weg mit den 10 Kapitalisten-Ministern“ bezog diese formal auf die Provisorische Regierung. Die Parole „Alle Macht den Räten“ war, solange diese eine menschewistisch-sozialrevolutionäre Dominanz hatten, auch eine Parole der Einheitsfront.

Die Bolschewiki vermieden dabei im Großen und Ganzen zwei grundlegende Fehler: Opportunismus und Linksradikalismus, auch wenn sie davon keineswegs frei waren, aber sie vermochten, diese im Zaum zu halten. Zweifellos hatte der rechte Flügel mit Kamenew und anderen beredte Vertreter einer opportunistischen Entstellung der Einheitsfrontpolitik. Dieser Flügel strebte eine Regierung aller Sowjetparteien, also eine Koalition der Bolschewiki mit den Sozialchauvinisten an (und trat dafür kurzzeitig auch noch nach dem Oktoberaufstand ein). Die linksradikale Neigung, aufgrund der Dynamik der Avantgarde vorschnell auf die Machtergreifung zuzustreben, sollte sich in den kommenden Wochen jedoch auch bemerkbar machen.

Die Julitage

Die Koalition aus Bürgerlichen, Sozialrevolutionären und Menschewiki war bald von denselben Problemen gebeutelt wie ihre Vorgängerin. Auch sie konnte keine grundlegende Frage lösen, setzte aber den Krieg fort, um endlich das Schicksal an der Front wenden. Die Bolschewiki planten für den Sowjetkongress eine bewaffnete Demonstration, welche eine Einstellung der Planung für eine Offensive gegen Österreich-Ungarn und die Bildung einer Räte-Regierung aus Sozialrevolutionären und Menschewiki (nicht der Bolschewiki) forderte. Diese wurde verboten und die Partei sah sich gezwungen, die Demonstration abzublasen. Um dem Unmut der ArbeiterInnen und Soldaten in Petersburg entgegenzukommen, setzte die Sowjetführung selbst für den 18. Juni eine „Einheitsdemonstration“ an. Diese wurde entgegen der Absicht ihrer Initiatoren zu einem Zeichen der Kräfteverschiebung in der Hauptstadt.

„Am vorgesehenen Tag mussten die gemäßigt-sozialistischen Sowjetführer mit ansehen, wie die Arbeiter und Soldaten aus nahezu sämtlichen Petrograder Fabriken und Militärregimentern, mehr als 400.000 an der Zahl, in langen Reihen an ihnen vorbeimarschierten und dabei purpurrote Transparente in die Luft hielten: ‚Nieder mit den zehn Minister -Kapitalisten!“, „Nieder mit der Politik der Offensive!“ und „Alle Macht den Sowjets!“ Im Meer der bolschewistischen Banner und Plakate, darin stimmen alle Zeitzeugen überein, waren die offiziellen Parolen des Kongresses nur vereinzelt zu sehen.“ (71)

Dies entsprach auch einem rasanten Wachstum der Bolschewistischen Partei. So hatte sie in Petersburg, dem Zentrum der Revolution, im Februar gerade 2000 Mitglieder, Ende April 16.000 und Ende Juni 32.000. Ihre Mehrzahl war proletarisch, darüber hinaus gewann sie größeren Einfluss unter den Matrosen und begann, sich bei den Soldaten zu verankern.

Diese unerfahrenen, radikalisierten Schichten der ArbeiterInnenklasse, einschließlich vieler neu gewonnener Parteimitglieder, drängten aufgrund ihrer Erfolge darauf, die Massenmobilisierung zur Machteroberung, zum Aufstand zuzuspitzen. Die Sache wurde durch eine weitere Regierungskrise verschärft.

Am 3. und 4. Juli demonstrierten bewaffnete Matrosen, ArbeiterInnen und Soldaten. Hinter ihnen stand ein großer Teil der Avantgarde der Revolution in Petrograd und auch der Baltischen Flotte. Die vorwärts drängenden Massen wollten die Räte zur Macht zwingen, endlich ihre brennenden Fragen lösen. Zweifellos mag es auch Provokateure, Abenteurer usw. gegeben haben, die eine frühzeitige Machtprobe – und deren Niederlage – wollten. Allein, das könnte diese Entwicklung nicht erklären.

Die Triebkräfte, die zur Revolution geführt hatten, führten auch dazu, dass ihre entschiedensten Trägerin, eine radikalisierte, aber politisch wenig erfahrene Avantgarde, nicht länger warten wollte. Vertröstet war sie in den letzten Monaten von der Regierung und den Sowjetführungen schon genug geworden.

Die Führung der Bolschewistischen Partei um Lenin wollte eine solche Machtprobe nicht, sondern hatte ihre Parteikader im Juni vor einer vorzeitigen Zuspitzung gewarnt, weil die Kräfteverhältnisse im Land weitaus ungünstiger waren als in Petrograd. Die Bauernschaft war noch von den Sozialrevolutionären dominiert, die Armee auch. Hinzu kam, dass eine bolschewistisch geführte Machtergreifung im Land als Putsch gegen die Räte wahrgenommen worden wäre.

Der Vorwurf an die Bolschewiki, dass sie einen Umsturz geplant hätten, ist, wie die Hetze gegen die Partei und ihre Führung, eine Konstruktion, die faktisch nicht standhält.

Der Druck der Avantgarde machte sich jedoch auch unter den Bolschewiki, z. B. unter den Führern der Wyborger Parteisektion und der Militärsektion bemerkbar, die zum entschiedenen Handeln drängten bzw. durch ihre eigene Basis gedrängt wurden. Das führte auch dazu, dass diese durchaus eigenmächtig agierten und die Partei mit zum verfrühten Aufstand „schieben“ wollten.

Schließlich entschieden die Bolschewiki nach der Manifestation vom 3. Juli, dass sie die Demonstrationen am 4. Juli in geordnete Bahnen lenken und so einen organisierten Rückzug durchführen wollten. Dies war jedoch nur bedingt möglich, weil die Aktionen schon über eine reine Demonstration hinausgegangen waren und es zu bewaffneten Auseinandersetzungen kam. Gegen Ende des 4. Juli gewannen die loyal zur Regierung und Sowjetführung stehenden Armeeeinheiten die Oberhand.

Die Linie der Bolschewiki, einer Machtprobe, so gut es noch ging, auszuweichen, war zweifellos korrekt. Die Partei hätte, selbst wenn der Sieg in Petersburg errungen worden wäre, die Stadt nicht halten können. Die „Vorbereitungsarbeit“, die Gewinnung der Armee und des Dorfes, war noch nicht abgeschlossen.

Bei aller Militanz gab es aber auch eine innere Widersprüchlichkeit in der Massenbewegung selbst, auf die die radikale Avantgarde keine Antwort hatte, die ihr z. T. in den Julitagen erst vor Augen geführt wurde. Die Demonstrationen und die bewaffneten Kontingente waren eine Fortsetzung der Aktionen der Zeit vor Juni und liefen unter denselben Zielsetzungen (raus mit den Kapitalisten-Ministern, brecht mit der Bourgeoisie, alle Macht den Sowjets). Sie richteten sich an jene Sowjetführer und „Sozialisten“- Minister, die selbst nicht die Macht ergreifen wollten. Auf dieses Problem – selbst ein Resultat der Doppelmacht unter kleinbürgerlich-demokratischer Sowjetführung – hatten die DemonstrantInnen und auch die Avantgarde keine Antwort. Dass sich diese FührerInnen nicht zur Machtergreifung führen ließen, paralysierte und zersplitterte eine Bewegung, die zwar massenhaft und bewaffnet war, aber auch mit einem undurchführbaren Ziel in die Konfrontation ging. Neben der Lage im Land war es auch diese innere Unklarheit, die zeigt, dass ein Kampf um die Macht verfrüht gewesen wäre.

„Zusammenstöße, Opfer, Erfolglosigkeit des Kampfes und die Ungreifbarkeit seines praktischen Zieles, all das erschöpfte die Bewegung. Das Zentralkomitee der Bolschewiki beschloss, die Arbeiter und Soldaten zum Abbruch der Demonstration aufzurufen. Jetzt fand dieser, sofort dem Exekutivkomitee zur Kenntnis gebrachte Aufruf, fast keinen Widerstand bei den unteren Schichten. Die Massen fluteten in die Vorortviertel zurück und dachten nicht mehr daran, den Kampf am nächsten Tage wieder aufzunehmen. Sie fühlten nun, daß es sich mit der Frage der Sowjetmacht viel komplizierter verhielt, als sie gedacht.“ (72)

In diesem Sinn hatten die Julitage auch einen „erzieherischen“ Wert. Aber sie hätten zu einem weit schwereren Rückschlag werden können, wenn sich die Lage der Regierung nach dem Zusammenbruch der Offensive nicht selbst bald wieder verschlechtert hätte. Für den Juli und großen Teil des August musste die Bolschewistische Partei ihre Strukturen, ihre Presse wieder neu aufbauen, ihr Innenleben war sehr geschwächt.

Unmittelbar nach der Niederlage der Juli-Aktionen entfachten Reaktion und Regierung Verleumdungs- und Hetzkampagnen gegen die Bolschewiki. Ihnen wurde die Verantwortung für die Julitage und die Planung eines Aufstandes in die Schuhe geschoben. Vor allem aber wurde ab dem 5. Juli eine konzentrierte Hetze gegen Lenin und weitere Parteiführer eröffnet. Die rechte Presse veröffentliche fabrizierte Dokumente und andere angebliche „Beweise“, dass jene gekaufte Agenten des deutschen Kaiserreichs wären. Lenin, Sinowjew und andere Parteiführer mussten in den Untergrund, hunderte Kader wurden festgesetzt, die Gefängnisse füllten sich mit RevolutionärInnen.

Die konterrevolutionäre Agitation, die Niederlage schüchterten die ArbeiterInnen und Soldaten ein. Die Bolschewiki verloren an Anhang und Rückhalt, wie umgekehrt die Zuversicht der Reaktion stieg.

Der Schlag gegen die Bolschewiki ermutigte die offene Konterrevolution. Der Schlag gegen die konsequenten RevolutionärInnen sollte und musste, vom Standpunkt der herrschenden Klasse betrachtet, auch gegen die Räte geführt werden. Verhaftungen von radikalen ArbeiterInnen und Entwaffnungen der Milizen, Einschränkung der Soldatenrechte und Abschaffung des Kommissarswesens, Wiedereinführung der Todesstrafe, Niederschlagung der Bauernrevolten und, als Krönung all dessen, die nächste militärische Offensive bildeten das Programm der Koalitionsregierung, das von der Sowjetmehrheit freudig oder protestierend akzeptiert wurde.

Für die Konterrevolution ging es darum, das Kräfteverhältnis nicht nur zu verschieben, sondern die Doppelmacht selbst zu beseitigen. Für die Kapitalistenklasse, die Kadettenpartei, den Generalstab war klar geworden, dass eine „demokratische“ Entwicklung untragbar geworden war. Ordnung musste geschaffen werden, und dies erforderte eine harte Hand, die Konzentration der Macht.

Die innere Logik der Koalitionsregierung – einer Form dessen, was später als „Volksfront“ bezeichnet wurde – drängte nicht nur zur Verschiebung der Macht nach rechts, sie drängte zur Einführung eines bonapartistischen, diktatorischen Regimes. Im Juli und August nahm das politisch die Form zunehmender Repression an. Die Ernennung Kornilows zum Oberkommandierenden der Armee, permanente Regierungskrisen und ein Wettlauf darum, wer der Bonaparte Russlands werden sollte, kamen hinzu.

Die Armee und die Bourgeoisie hatten dazu Kornilow ausersehen – Kerenski und seine engeren Berater waren in diese Machenschaften verstrickt, umgekehrt wollte der Regierungschef aber selbst die Position des „Retters des Vaterlandes“ einnehmen.

Die Alternative „Diktatur des Proletariats oder Diktatur des Kapitals“ spitzte sich im Sommer 1917 zu, wobei der erste Schlag von der Konterrevolution kam. Der Putsch Kornilows zeigt deutlich, dass unter den konkreten Bedingungen Russlands eine demokratische Stabilisierung von oben vollkommen ausgeschlossen war. Hätte die Niederlage Kornilows nicht zum Oktober geführt, hätten die Bolschewiki nicht den Weg des Aufstandes beschritten und durchgeführt, so hätte die Entwicklung nur zur offenen staatsterroristischen Diktatur führen können.

Der Sommer 1917 war ein günstiger Moment für die Konterrevolution, insofern die Bolschewiki geschwächt, die ArbeiterInnenklasse und die Soldaten im Zentrum der Revolution desorientiert, die herrschenden Kreise moralisch gestärkt waren.

Die Misserfolge der Regierung, vor allem die desaströse „Offensive“, unterminierten jedoch wieder rasch deren eigene Position. Die ArbeiterInnen und Soldaten leisteten, wenn auch anfänglich hinhaltenden, Widerstand gegen reaktionäre Maßnahmen wie die Entwaffnung. Das Handeln der Regierung und die Katastrophe an der Front erschütterten die letzten Reste der „Vertrauensseligkeit“ der Massen. Die Lügen über den Bolschewismus griffen immer weniger, nicht nur, weil die Bolschewiki versuchten, so gut sie konnten, gegenzuhalten, sondern weil die Lügen von jenen kamen, die täglich und immer offensichtlicher die Massen belogen und betrogen.

Hinzu kam als weiteres wesentliches Moment die Agrarrevolution, die Welle „wilder“ Enteignungen. Die Regierungskoalition, vor allem die Spitze der Sozialrevolutionäre, widersetzte sich diesen, obwohl sie die „Bauernpartei“ war. Sie unterminierte selbst ihre Basis und spaltete sich. Nur die Bolschewiki unterstützten ohne Wenn und Aber die Revolution um Land, was ihre eigene Verankerung ausweitete, vor allem aber die linken Sozialrevolutionäre auf die Seite der proletarischen Revolution zog.

Diese Prozesse verdeutlichen, dass sich die Machtfrage nach dem Juli zuspitzte und innerhalb weniger Monate zugunsten von Kapital oder ArbeiterInnenklasse gelöst werden musste.

Zugleich zeigen die Monate vom Juli bis Oktober auch, dass die Entscheidungsfragen der Revolution der „Politik der Mitte“, der Politik der Zusammenarbeit von reformistischen und kleinbürgerlichen Kräften mit dem Kapital selbst, den Boden entzogen. Die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki hatten über Monate die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich, kontrollierten die Räte und über die Soldatenräte auch die bewaffneten Kräfte. Ihre scheinbare Machtfülle entpuppte sich jedoch als Ohnmacht, weil sie die Macht nicht ergreifen, sondern einer anderen Klasse überlassen wollten.

All das sind die Gründe, warum sich die Bolschewistische Partei von den Schlägen der Julitage relativ rasch wieder erholen konnte.

Ende Juli hielt die Partei einen „Vereinigungsparteitag“ ab, an dem  Trotzki und die Meschrajonzy den Bolschewiki beitraten. Formal war es eine Vereinigung der beiden Organisationen, die  nur mit Trotzkis Gruppierung vollzogen werden konnte, jedoch  eigentlich auch an andere internationalistische Kräfte, als deklarierte GegnerInnen der Vaterlandsverteidigung, gerichtet war, insbesondere auch an Martows „Menschewiki-Internationalisten“.

Im August begann ein Wiederaufstieg der Bolschewiki auch zahlenmäßig.  Bis zum Oktober sollte die Partei auf rund 400.000 Mitglieder anwachsen. Ihr Einfluss in den Räten stieg, bei den Wahlen zu den Stadtparlamenten (z. B. in Petersburg) wuchsen ihre Stimmenzahl und Anteile erheblich. Menschewiki und Sozialrevolutionäre beklagten Übertritte. Die Bolschewiki gewannen schon vor der Niederlage des Kornilow-Putsches und trotz der Illegalität und Gefangennahme zentraler Führer der Partei an Einfluss und politischer Stärke.

Räte und Doppelmacht

In der Bolschewistischen Partei erhob sich die Frage, welche Bedeutung die Niederlage für den weiteren Verlauf der Revolution habe. Lenin kommt hier zu entschiedenen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Doppelmacht und damit auch der Räte, indem er die Situation vor den Julitagen mit der von ihnen geschaffenen neuen Lage vergleicht.

„Damals, in dieser vergangenen Periode der Revolution, bestand im Staate die sogenannte ‚Doppelherrschaft‘, die materiell wie formal den unbestimmten Übergangszustand der Staatsmacht zum Ausdruck brachte. (…)

Damals befand sich die Staatsmacht in einem labilen Zustand. Auf Grund eines freiwilligen gegenseitigen Übereinkommens teilten sich die Provisorische Regierung und die Sowjets die Staatsmacht.“ (73)

Nun sei die Doppelmacht beendet. „Die Konterrevolution hat sich organisiert, gefestigt und faktisch die Macht im Staat in ihre Hände genommen.“ (74)

Die Räte seien praktisch zu ihren Erfüllungsgehilfen geworden. Eine „friedliche Entwicklung“ der Revolution sei nicht mehr möglich. Die Losung „Alle Macht den Sowjets“ würde zum Hohn werden, stattdessen müsse der nächste Anlauf der Revolution neue Organe schaffen: „Sowjets können und müssen in dieser neuen Revolution in Erscheinung treten, aber nicht die jetzigen Sowjets, nicht Organe des Paktierens mit der Bourgeoisie, sondern Organe des revolutionären Kampfes gegen die Bourgeoisie.“ (75)

Bevor wir zur Frage der Sowjets übergehen, müssen wir noch kurz die Frage streifen, in welchem Sinne Lenin davon spricht, dass vor dem Juli (und dann wieder für eine kurze Phase nach dem Kornilow-Putsch) eine „friedliche Entwicklung der Revolution möglich wäre.“ Die erste Voraussetzung war, dass die Februarrevolution schon einen weiten Weg gegangen war, den bürgerlichen Staatsapparat zu zerbrechen (wenn auch nicht vollständig), die Armee zu paralysieren, Soldatenräte zu schaffen, zu beginnen, die ArbeiterInnen zu bewaffnen und Organe zu bilden, die ihrer Form nach solche der Diktatur des Proletariats waren:

„Die Sowjets waren, ihrer Klassenzusammensetzung nach, Organe der Bewegung der Arbeiter und Bauern, waren die fertige Form ihrer Diktatur. Hätten sie die ganze Fülle der Macht innegehabt, so wäre der Hauptmangel der kleinbürgerlichen Schichten, ihr Hauptfehler, die Vertrauensseligkeit gegenüber den Kapitalisten, in der Praxis überwunden worden, wäre der Kritik der  aus ihren eigenen Maßnahmen gewonnenen Erfahrungen unterzogen worden. Der Wechsel der an der Macht stehenden Klassen und Parteien hätte innerhalb der Sowjets, auf dem Boden ihrer Alleinherrschaft und Allgewalt, friedlich vor sich gehen können; die Verbindung aller Parteien der Sowjets mit den Massen hätte fest und unerschütterlich bleiben können. Man darf keinen Augenblick außer acht lassen, daß nur diese enge, frei in die Breite und Tiefe wachsende Verbindung der Parteien der Sowjets mit den Massen dazu hätte verhelfen können, die Illusionen des kleinbürgerlichen Paktierens mit der Bourgeoisie friedlich zu überwinden. Der Übergang der Macht an die Sowjets hätte an und für sich das Verhältnis der Klassen nicht verändert und hätte es auch nicht ändern können, er hätte an dem kleinbürgerlichen Charakter der Bauernschaft nichts geändert. Doch mit dem Übergang wäre rechtzeitig ein bedeutender Schritt getan worden zur Loslösung der Bauern von der Bourgeoisie, zu ihrer Annäherung an die Arbeiter und dann auch zum Zusammenschluß mit ihnen.“ (76)

Lenin hat also keinesfalls eine versöhnlerische Perspektive im Auge, wenn er von einer „friedlichen Entwicklung“ spricht. Die Losung „Alle Macht den Räten“, „Brecht mit der Bourgeoisie!“ hat den Charakter einer Übergangsforderung. Lenin forderte von den Menschewiki und Sozialrevolutionären, selbst die Macht zu übernehmen und eine ArbeiterInnen- und Bauernregierung zu bilden. Diese wäre noch immer eine bürgerliche Regierung, weil sie auf dem Boden kapitalistischer Eigentumsverhältnisse stehen würde. Insofern wäre ihr Bruch mit der Bourgeoisie notwendig immer halbherzig, an einem entscheidenden Punkt nicht vollzogen. Durch systematische Aufklärung und Anwendung der Einheitsfrontpolitik könnten jedoch die Massen lernen, dass sie ihre eigene Vertrauensseligkeit überwinden und auch mit den Halbheiten der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre brechen müssten – und sie hätten in den Räten und mit der Bewaffnung der ArbeiterInnen und Bauern schon einen Tatbestand geschaffen, der die eigentliche Machtergreifung auch ermöglichen könne.

Allein durch den Bruch mit den Kapitalisten-Ministern, die Erklärung der Räte als alleinige Macht wäre letztlich auch die Doppelmacht noch nicht überwunden, solange die Räte eine menschewistisch – sozialrevolutionäre Mehrheit hätten und eine dementsprechende Politik verfolgten. Sie würde jedoch nicht mehr die Form zweier entgegengesetzter Institutionen annehmen, sondern als Kampf der Programme verschiedener Klassen und Parteien im Rahmen der Sowjetdemokratie, der Räteform ausgefochten werden. Ein solcher Kampf könnte natürlich auch kein Dauerzustand sein, sondern müsste gerade in einer revolutionären Krise rasch zugunsten der einen oder anderen Klasse gelöst werden – sprich entweder, indem die Doppelmacht wirklich zugunsten des Proletariats und der Bauernschaft überwunden wird, oder indem es zu deren Degeneration und Inkorporation in das bürgerliche System kommt, die Macht also wieder der Bourgeoisie „voll“ überantwortet wird.

Auch wenn sich Lenin in der Einschätzung im Juli geirrt hatte, so zeigen seine Analysen, dass ihm, ähnlich wie Marx, ein Fetisch der Sowjetform fernlag. Dass auch Räte von der Konterrevolution befriedet und inkorporiert werden können, zeigt nicht zuletzt das Schicksal der Betriebsräte in Deutschland.

Vereinigungskonferenz

Die Thesen Lenins bildeten einen zentralen Diskussionsgegenstand der „Vereinigungskonferenz“ Ende Juli. Er selbst konnte ebenso wenig wie Trotzki und etliche andere ParteiführerInnen teilnehmen. Das Bild, das sich auf der Parteikonferenz präsentiert, zeigt in jedem Fall einen Reifungsprozess der Bolschewiki. (77)

Bubnow, Sokolnikow, Stalin, Swerdlow und andere vertreten Lenins Position, wenn auch mit Akzentuierungen. Die Stärke ihrer Position besteht sicher darin, dass sie den Kurs auf die Machtergreifung  betonen. Ihnen wird entgegengehalten, dass sie das Kind mit dem Bad ausschütten würden. Etliche RednerInnen verweisen darauf, dass die Räte selbst noch nicht vollständig ins Lager der Konterrevolution übergegangen seien, dass sich eine Kräfteverschiebung abzuzeichnen beginne. Die Absetzung von den Räten als zentralem Arbeitsfeld würde die Gefahr mit sich bringen, sich von den Soldaten und Bauern zu isolieren (weniger von ArbeiterInnen, weil es dort z. B. in Form der Fabrikkomitees potentiell andere Formen für eine alternative Macht geben könnte). Einige Redner wie Jurenew, ein Mitarbeiter Trotzkis, stellen auch die Frage in den Raum, warum die Losung „Alle Macht den Räten“ an das friedliche Stadium der Revolution gebunden sein müsse.

Der Kongress überarbeitete die von Stalin im Auftrag Lenins eingebrachten Thesen gründlich. Die Losung „Alle Macht den Räten!“ wird bis Ende August, also bis zum Kampf gegen den Kornilow-Putsch praktisch fallengelassen und in der Resolution durch die Parole „Vollständige Abschaffung der Diktatur der konterrevolutionären Bourgeoisie“ ersetzt. Gleichzeitig solle die Partei die führende Rolle im Kampf gegen die Konterrevolution einnehmen und dazu weiter in den Räten als zentralem Arbeitsfeld tätig sein und auch die Einheitsfronttaktik gegenüber anderen Sowjetparteien anwenden.

Es war sicher korrekt, die Agitation für „Alle Macht den Sowjets!“ in der bislang gebräuchlichen Weise zurückzuziehen, sobald die Parteien der Mehrheit darin ihre totale Komplizenschaft mit den Konterrevolutionären bloßgelegt hatten.

Der drohende Kornilow-Putsch zeigte aber auch, dass Lenin mit der Einschätzung falsch lag, dass die Räte nicht erneuert oder wiederbelebt werden könnten. Im Gegenteil, der Kampf erfüllte sie mit neuer Energie – und veränderte sie auch:

„Die Sowjet-Organisationen zeigten überall, an der Front wie im Hinterland, ihre Lebensfähigkeit und ihre Macht gerade im Kampf gegen den Kornilow’schen Aufstand. Bis zu einer Schlacht ist es fast nirgends gekommen. Die revolutionäre Masse fegte den Putsch des Generals auseinander. Wie die Vermittler im Juli in der Petrograder Garnison keine Soldaten auftreiben konnten, so fand auch jetzt Kornilow auf der ganzen Front keine Soldaten gegen die Revolution.“ (78)

Der Kampf gegen den Kornilow-Putsch ist das berühmt gewordene Beispiel für eine erfolgreiche Anwendung der Einheitsfronttaktik. In „An das Zentralkomitee der SDAPR“ (79) skizziert Lenin sehr anschaulich, wie die Bolschewiki gegen Kornilow kämpfen sollten.

Dabei richtet er sich gegen eine rechte Abweichung von der Einheitsfronttaktik, wie sie von Teilen der Bolschewiki wie Wolodarski vertreten wurde. Diese schlugen einen Block mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären zur Unterstützung der Provisorischen Regierung vor. Die von Kamenew stark beeinflusste Sowjetfraktion steuerte in diese opportunistische Richtung. Zweifellos zeigt sich daran das Bestreben des rechten Parteiflügels, eine Einheitsfront gegen die Konterrevolution als Schritt zur Bildung einer Koalition mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären zu betrachten.

Der linke Flügel der Partei andererseits wies durchaus ultralinke Tendenzen auf, selbst bis hin zur Ablehnung jeder Form der praktischen Zusammenarbeit mit den Sowjetorganen, die von deren Mehrheit zu Verteidigungszwecken eingerichtet worden waren. Diese Haltung stieß aber angesichts der realen Entwicklung rasch an ihre Grenzen und war relativ leicht zu überwinden. Die rechte Abweichung stellte die größere politische Gefahr dar.

Lenin kritisiert sie scharf, weil es eine Aufweichung in der Frage der Landesverteidigung, einen Übergang zum Sozialpatriotismus mit sich bringen würde und damit eine Absage an den Internationalismus. Er führt die notwendige Taktik dabei folgendermaßen aus:

„Die Kerenskiregierung dürfen wir selbst jetzt nicht unterstützen. Das wäre Prinzipienlosigkeit. Man wird fragen: Sollen wir etwa nicht gegen Kornilow kämpfen? Natürlich sollen wir das! Aber das ist nicht dasselbe; da gibt es eine Grenze, sie wird von manchen Bolschewiki überschritten, die in ‚Verständigungspolitik‘ verfallen, sich vom Strom der Ereignisse mitreißen lassen.

Wir werden kämpfen, wir kämpfen gegen Kornilow ebenso wie die Truppen Kerenskis, aber wir unterstützen Kerenski nicht, sondern entlarven seine Schwäche.“ (80)

Und weiter:

„Man muß der Situation Rechnung tragen, jetzt werden wir Kerenski nicht stürzen, wir werden jetzt an die Aufgabe, den Kampf gegen ihn zu führen, anders herangehen, und zwar werden wir das Volk (das gegen Kornilow kämpft) über Kerenskis Schwäche und über seine Schwankungen aufklären. Das taten wir auch früher, aber jetzt ist das die Hauptsache geworden; darin besteht die Änderung.“ (81)

Lenin verdeutlicht hier, wie die Einheitsfrontpolitik in eine Strategie zur Machtergreifung eingebettet ist. Der Opportunismus des rechten Flügels der Bolschewiki in der Frage hängt umgekehrt eng mit deren Opportunismus in der Regierungsfrage zusammen.

Lenin führt im selben Brief auch noch aus, wie er sich den aktuellen Kampf gegen Kerenski vorstellt.

„Ferner besteht die Änderung darin, daß jetzt verstärkte Agitation für gewisse ‚Teilforderungen‘ an Kerenski zur Hauptsache geworden ist: verhafte Miljukow, bewaffne die Petrograder Arbeiter, rufe die Kronstädter, Wiborger und Helsingforser Truppen nach Petrograd, jage die Reichsduma auseinander, verhafte Rodsjanko, erhebe die Übergabe der Gutsbesitzerländereien an die Bauern zum Gesetz, führe über die Brotversorgung und in den Fabriken die Arbeiterkontrolle ein, usw. usf.“ (82)

Im Gegensatz zu vielen „radikalen Linken“, denen bis heute die Einheitsfronttaktik ein Buch mit sieben Siegeln geblieben ist, betrachtet Lenin die Forderungen an Kerenski, an die menschewistisch-sozialrevolutionäre Regierung und Sowjetführung als Mittel zum Kampf gegen diese. Setzen sie die Forderungen um, wird das die Dynamik der Bewegung steigern. Widersetzen sie sich, verschleppen sie diese usw., entlarvt das die Schwäche, den Unwillen und den konterrevolutionären Charakter Kerenskis. Lenin hält eine solche Taktik für notwendig, für eine „Hauptsache“, um so den schon vor sich gehenden Ablösungsprozess der Massen von den kleinbürgerlichen Kräften zu beschleunigen. Die Revolution wie jede revolutionäre Politik braucht – gerade weil sie auch ein Wettlauf gegen die Zeit ist – eine aktive, vorwärtstreibende Politik und kein passives Warten, bis sich die falsche Führung ohnedies diskreditiert hat.

Die Forderungen an die Führung müssen schließlich mit solchen an die Basis, an die Massen kombiniert werden.

„Und nicht nur an Kerenski, nicht so sehr an Kerenski müssen wir diese Forderungen richten als vielmehr an die Arbeiter, Soldaten und Bauern, die vom Verlauf des Kampfes gegen Kornilow mitgerissen worden sind. Wir müssen sie weiter mitreißen, sie anspornen, den Generalen und Offizieren, die für Kornilow eintreten, das Fell zu gerben; wir müssen darauf bestehen, daß sie die sofortige Übergabe des Bodens an die Bauern fordern; wir müssen sie auf den Gedanken bringen, daß Rodsjanko und Miljukow verhaftet, die Reichsduma auseinandergejagt, die ‚Retsch‘ und andere bürgerliche Zeitungen verboten werden müssen, daß man eine Untersuchung gegen sie einleiten muß. Ganz besonders müssen die ‚linken‘ Sozialrevolutionäre in diese Richtung gedrängt werden.“ (83)

Auf dem Weg zur Macht

Diese Politik, wie sie in der Taktik der Partei und ihrer Propaganda zum Ausdruck kommt, hat den Weg zur Machtergreifung beschleunigt, ja in gewisser Weise überhaupt erst möglich gemacht.

Die Niederlage Kornilows schafft in Lenins Augen noch einmal eine Situation, in der eine „friedliche Machtübernahme“ möglich werden könnte. In „Über Kompromisse“ (84) bietet er den Menschewiki und Sozialrevolutionären an, auf einen gewaltsamen Sturz zu verzichten, wenn sie die Forderung „Alle Macht den Sowjets!“ verwirklichen, indem sie „eine den Sowjets verantwortliche Regierung aus Sozialrevolutionären und Menschewiki“ (85) bilden. Diese Bedingung präzisiert Lenin noch dahingehend, dass die Regierung nicht nur einzig und allein den Sowjets verantwortlich sein, sondern auch die ganze örtliche Macht auf die Sowjets übergehen müsse.

Im Gegenzug würden die Bolschewiki auf die Eroberung der Macht mit „revolutionären Mitteln“ verzichten, wenn ihnen volle Propaganda und Agitationsfreiheit zugesichert würde. Sie würden für ihre Politik und für die Machtübernahme innerhalb der Sowjetdemokratie kämpfen. Die Möglichkeit für die Verwirklichung eines solchen Kompromisses schätzt Lenin schon beim Verfassen des Schreibens sehr gering ein und hält sie schon wenige Tage später für unmöglich, sie zeigt aber seine taktische Flexibilität, die Form des Kampfes um die Macht sich rasch verändernden Bedingungen anzupassen.

Die Schrift selbst stieß den linksradikalen Flügel der Partei durchaus vor den Kopf. Die radikalen UnterstützerInnen Lenins fürchteten eine Rechtsentwicklung. Umgekehrt versuchte der rechte Flügel „Über Kompromisse“ für seine Zwecke zu missbrauchen. Ihm schwebte nämlich eine strategische, langfristige Allianz aller Sowjetparteien vor. Für Kamenew war letztlich Russland noch nicht reif für eine sozialistische Umwälzung. Dieser menschewistische Standpunkt wiederum bildete eine organische Basis für den Opportunismus. Lenin, Trotzki und andere Parteiführer hingegen sahen selbst in „Über Kompromisse“ eine menschewistisch-sozialrevolutionäre Räteregierung nur als ein Übergangsstadium zur Diktatur des Proletariats, zu einer Sowjetregierung unter bolschewistischer Führung, an.

Die Bedingungen für den „Kompromiss“ wurden durch die Politik der Sozialrevolutionäre und Menschewiki selbst zunichte gemacht. Deren Spitzen dachten nicht daran, eine Kursänderung vorzunehmen. Nach dem Kornilow-Putsch sollte die Regierung umgebildet werden, Kerenski weiter an ihrer Spitze bleiben, das Bürgertum sollte weiter vertreten sein, wenn auch ohne Kadetten, die durch ihre Kollaboration mit dem Putschversuch zu diskreditiert schienen. Die „kleinbürgerliche Demokratie“ versuchte,  die Koalition mit der Bourgeoisie um jeden Preis fortzusetzen – notfalls auch nur mit dem „Schatten der Bourgeoisie“.

Zugleich vollzogen sich entscheidende Veränderungen, die die Machtübernahme unter Führung der Bolschewiki und die Notwendigkeit des Aufstandes auf die Tagesordnung setzten.

Dazu gehörte erstens eine immer größere Linksentwicklung in den Räten. Anfang September ging die Mehrheit in Petersburg an die Bolschewiki über, im Laufe des Monats vollzog sich diese Entwicklung in vielen anderen Städten. Nicht nur die ArbeiterInnenklasse drängte auf Entscheidung und radikalisierte sich. Auch die Stimmung in der Garnison in Petersburg wie an der Front ging mehr und mehr nach links.

Die Partei der Sozialrevolutionäre spaltete sich, der linke Flügel näherte sich den Bolschewiki an. Das spiegelte auch die Stimmung in der Armee, vor allem aber in der Bauernschaft und die sich ausweitende Agrarrevolution wider.

Die Bolschewiki hatten die Russische Revolution immer als Bündnis zweier Klassen, von ArbeiterInnen und Bauern konzipiert. Anders als 1905 jedoch betonten sie – ähnlich wie Trotzki in der Theorie der Permanenten Revolution – die Notwendigkeit, sich der unterschiedlichen Klasseninteressen von ArbeiterInnenschaft und Bauern bewusst zu sein, weil in der proletarischen Revolution diese – selbst im Falle eines Bündnisses – von Beginn an auch zur Geltung kommen müssten. Das geht auch damit einher, dass es eine stärkere Betonung auf die Organisierung des Landproletariats, der halb-proletarischen Schichten, wie der Klassendifferenzierung in der Bauernschaft gab. (86) Für das Landproletariat und die halb-proletarischen Schichten sollen eigene Organisationsformen, Verbände geschaffen werden, um auf dem Land eine hegemoniale Stellung und ein enges Bündnis mit der Masse der Kleinbauern zu erwirken.

Die Unterstützung der Landrevolution im Sommer 1917 war ein entscheidendes Mittel, die Bauernschaft für die Revolution zu gewinnen – zumal sich die Sozialrevolutionäre und Menschewiki gegen die Enteignung des Gutsbesitzes von unten stellten.

Einen weiteren wichtigen Aspekt bildet auch die nationale Frage, die in etlichen Teilen Russlands eng mit der Landfrage verbunden war. Die Bolschewiki waren die einzige Partei, die das Selbstbestimmungsrecht der Nationen – einschließlich ihres Rechtes auf Lostrennung – verteidigte.

Schließlich hat sich die Lage auch dadurch geändert, dass die Zerrüttung durch den Krieg, die instabilen Verhältnisse usw. die Gefahr einer allgemeinen sozialen und gesellschaftlichen Katastrophe (Blutzoll an der Front, Hunger, Stillstand der Betriebe, weiterer Zerfall des gesellschaftlichen Austausches) hervorbrachten.

Ende September 1917 bringt Lenin dieses Problem deutlich auf den Punkt in „Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll“ (87), das ein Aktionsprogramm zur Abwendung des Niedergangs präsentiert. Lenin setzt sich darin mit allen Grundfragen der Revolution auseinander und propagiert eine Reihe von Übergangsforderungen, die allesamt die Machtübernahme, die Beendigung der Doppelmacht erfordern. Nur so könne die Katastrophe abgewendet werden

„Denn einzig und allein, wenn das Proletariat, an seiner Spitze die Partei der Bolschewiki, die Macht erobert, könnte dem skandalösen Treiben der Kerenski und Co. ein Ende gesetzt werden und die Arbeit der demokratischen Organisationen für Ernährung, Versorgung usw., die von Kerenski und seiner Regierungsmehrheit vereitelt wird, wieder in Gang gebracht werden.

Die Bolschewiki – das angeführte Beispiel zeigt es mit aller Deutlichkeit – handeln als Vertreter der Interessen des gesamten Volkes, handeln im Interesse der Sicherung von Ernährung und Versorgung und der Befriedigung der dringendsten Bedürfnisse der Arbeiter und Bauern entgegen der schwankenden, unentschlossenen, wahrhaft verräterischen Politik der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, …“ (88)

Aufstand

In einer Situation des Zerfalls des Landes, der Bauernrevolution, nationaler Unruhen, des weiteren Verlustes des Einflusses von Sozialrevolutionären und Menschewiki, der Diskreditierung der Bourgeoisie vsuchte die Konterrevolution verzweifelt nach einer neuen Basis für ihre Macht. Dies wurde zusätzlich dringlicher, als die Mehrheit in den Räten immer häufiger nach links, zu den Bolschewiki und linken Sozialrevolutionären überging.

Beratungen wie die „Demokratische Staatskonferenz“, die aus VertreterInnen aller Klassen, von Räten, Gewerkschaften, Bauernorganisationen, Wirtschaftsvertretern, Militärs, bürgerlichen Wissenschaftern usw. bestand und Ende September tagte, sollten den Rahmen für eine „Verständigung“ und eine neue Koalition bilden. Die Anhänger einer Koalitionsregierung, Menschewiki und Sozialrevolutionäre, hofften, so eine neue Grundlage für eine Regierung der Klassenzusammenarbeit zu finden, während die Kapitalistenklasse und die Stäbe des russischen Imperialismus auf einen Diktator als letzte Rettung hofften und sogar erwogen, Petrograd dem deutschen Imperialismus zu überlassen, um die Revolution zu vernichten. Diese Mischung aus Reaktion und Verzweiflung äußerte sich in einer instabilen Regierung und drängte zu einem weiteren Versuch, eine bonapartistische Herrschaftsform zu etablieren.

Die Entwicklung stellte auch die Bolschewiki vor die Frage, wie auf die geänderte Lage zu reagieren sei. Von Beginn bis Mitte September hatte Lenin die Möglichkeit einer „friedlichen Entwicklung“ der Revolution, eines Kompromisses mit den Sozialrevolutionären und Menschewiki als Schritt zu einer Machtergreifung ins Auge gefasst, bald jedoch verworfen. Der rechte Parteiflügel orientierte sich hingegen auf eine solche Entwicklung, auf eine Allianz der „Sowjetparteien“.

Dessen Stärke verdeutlicht die Abstimmung über die Frage des Austritts aus der Staatskonferenz und des Boykotts des „Vorparlaments“, das der sog. Staatskonferenz folgen sollte.

Kamenew und seine Anhänger waren für einen Verbleib, um die Koalitionspolitik zu denunzieren und ein Bündnis mit den schwankenden Elementen aus den Reihen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre zu bilden und so den Grundstein für einen „sozialistischen Block“ am Sowjetkongress zu schaffen.

Der linke Flügel um Trotzki trat für einen demonstrativen Auszug aus der Staatskonferenz ein und für den Boykott des Vorparlaments, um damit den Bruch mit den Versöhnlergruppen zu unterstreichen und mit der Agitation für die Machtübernahme der Sowjets durch alle revolutionären Gruppierungen zu verbinden.

Beide Strömungen waren für die Einberufung eines Sowjetkongresses – allerdings mit gänzlich unterschiedlichen Zielen. Das Zentralkomitee stimmte zwar mit 9:8 Stimmen für den Boykott des Vorparlaments, entschied aber auch, die endgültige Beschlussfassung einer gemeinsamen Sitzung der Führung und der Delegierten zur Demokratischen Konferenz zu überlassen. Dort unterlagen die Linken mit 50:77 Stimmen. Der Verlauf des „Vorparlaments“ hatte zwar eine korrigierende Wirkung und führte zu einem öffentlichkeitswirksamen Auszug, dem das gesamte Zentralkomitee außer Kamenew zustimmte (89), aber trotzdem zeigten sich hier tiefe, strategische Differenzen.

Auf der anderen Seite hatte Lenin schon zuvor entschieden auf eine Neuorientierung der Partei, auf den Kurs in Richtung Aufstand gedrängt. Er betonte dabei zu Recht, dass die Frage des Aufstandes praktisch gestellt sei. „Nachdem die Bolschewiki in den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten beider Hauptstädte die Mehrheit erhalten haben, können und müssen sie die Staatsmacht in ihre Hände nehmen.“ (90)

Er betont die Dringlichkeit der Aufgabe, weil eine Preisgabe Petrograds drohe, der Sowjetkongress selbst verschoben oder sabotiert werden könne. Die Bolschewiki, so Lenin, hätten die Pflicht, die Macht durch einen Aufstand in Petrograd und Moskau zu errichten und dürften dabei auch nicht auf den Sowjetkongress oder eine formelle Mehrheit warten.

Lenins entschiedener Kurs auf einen raschen Aufstand verschreckte nicht nur die Partei-Rechte, auch viele Aufstandsbefürworter waren im Gegensatz zu ihm der Meinung, dass er die politische Vorbereitung des Aufstandes unterschätze, und traten dafür ein, diesen unter Ausnutzung der Sowjetorgane durchzuführen.

Lenin umgekehrt befürchtete, angesichts der Stärke und Hinhaltepolitik des rechten Flügels, dass der Aufstand verschleppt würde. Er trat daher sehr entschieden für die Anhänger des Boykotts des Vorparlaments ein. So notiert er am 23. September:

„Trotzki ist für den Boykott eingetreten. Bravo, Genosse Trotzki!

Der Boykottismus hat in der Fraktion der Bolschewiki, die zur Demokratischen Beratung gekommen sind, eine Niederlage erlitten. (…)

Auf keinen Fall können und dürfen wir uns mit der Beteiligung abfinden. Die Fraktion einer Beratung ist nicht das höchste Parteiorgan, und auch die Beschlüsse der höchsten Organe unterliegen einer Revision auf Grund der praktischen Erfahrung.

Man muss um jeden Preis eine Beschlussfassung in der Frage des Boykotts sowohl durch das Plenum des Exekutivkomitees als auch durch einen außerordentlichen Parteitag herbeiführen. Man muß sofort die Frage des Boykotts zur Plattform für die Wahlen zum Parteitag und für sämtliche Wahlen innerhalb der Partei machen.“ (91)

Aus diesen Zeilen wird deutlich, dass er den Fehler in der Boykottfrage im Kontext der grundsätzlichen Ausrichtung betrachtete, als Zeichen für die Ablehnung des Kurses der Machtergreifung durch den rechten Flügel und die „,parlamentarischen‘ Spitzen der Partei“.

Sein Drängen auf den Aufstand trägt ohne Zweifel maßgeblich dazu bei, dass die Partei den Kurs auf den Oktober einschlägt. Lenin wendet sich dabei auch an „untere“ Parteifunktionäre, kämpferische Regionalkomitees, um das „lasche“ Zentralkomitee unter Druck zu setzen. An bestimmten Punkten droht er sogar mit einem Austritt aus der Parteiführung, um nicht an deren innere Loyalität gebunden zu sein, und sich direkt an die Parteibasis wenden zu können.

Bei der historischen Sitzung des Zentralkomitees am 10. Oktober tragen die Aufstandsbefürworter einen politischen Sieg davon. Die Revolution Lenins wird mit 10 zu 2 (Kamenew, Sinowjew) Stimmen angenommen.

„Das Zentralkomitee stellt fest, dass sowohl die internationale Lage der russischen Revolution (der Aufstand in der deutschen Flotte als höchster Ausdruck des Heranreifens der sozialistischen Weltrevolution in ganz Europa, ferner die Gefahr eines Friedens der Imperialisten mit dem Ziel, die Revolution in Rußland zu erdrosseln) als auch die militärische Lage (der nicht zu bezweifelnde Entschluß der russischen Bourgeoisie sowie Kerenskis und Co., Petrograd den Deutschen auszuliefern) und die Eroberung der Mehrheit in den Sowjets durch die proletarischen Partei – daß all dies im Zusammenhang mit dem Bauernaufstand und mit der Tatsache, daß sich das Vertrauen des Volkes unserer Partei zugewandt hat (die Wahlen in Moskau), und endlich die offenkundige Vorbereitung eines zweiten Kornilowputsches (Abtransport von Truppen aus Petrograd, Zusammenziehung von Kosaken bei Petrograd, Umzingelung von Minsk durch Kosaken usw.) – daß all dies den bewaffneten Aufstand auf die Tagesordnung setzt.“ (92)

In ihrer schriftlichen Begründung (93) zeigen Kamenew und Sinowjew, wie tief ihre Differenzen sind, wie weit sie sich von den Aprilthesen und dem Kurs auf die Errichtung der ArbeiterInnenmacht entfernt haben. Nachdem sie darlegen, dass sie einen Aufstand für abenteuerlich halten, weil er zum Ruin der Partei und der Revolution führen würde, erklären sie, dass ihre zentrale Zielsetzung die Einberufung der Konstituierenden Versammlung sei, die von der Bourgeoisie immer weniger blockiert werden könne. Die Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie würden von links unter Druck kommen und gezwungen sein, eine Allianz mit dem Proletariat gegen die Kadetten einzugehen. Das bilde nicht nur die Basis für eine Allianz mit diesen Parteien, sondern auch für die Kombination der Konstituierenden Versammlung mit den Sowjets.

„Die verfassunggebende Versammlung kann natürlich nicht aus sich heraus das wirkliche Kräfteverhältnis zwischen den Klassen verändern. Aber sie wird verhindern, dass dieses Verhältnis weiter verschleiert wird. Es gibt kein Loswerden der Sowjets, die im Leben Wurzeln geschlagen haben. Die Räte üben schon jetzt vielerorts praktisch die Macht aus.

Die Konstituierende Versammlung kann sich in ihrer revolutionären Arbeit auch nur auf Sowjets stützen. Konstituierende Versammlung plus Sowjets – das ist die Kombination von staatlichen Institutionen, auf die wir uns zubewegen. Auf dieser Grundlage erhält unsere Partei eine riesige Chance auf einen wirklichen Sieg.“ (94)

Diese Stellungnahme der Partei-Rechten offenbart, dass sie noch immer der „demokratischen Revolution“ von 1905 verhaftet waren. Die Doppelmacht solle nicht zugunsten des Proletariats und der Masse der unteren Schichten der Bauernschaft gelöst, sondern in neuer Form weitergelebt werden, als „Mischung“ zwischen bürgerlichen und proletarischen Organen. Dieses Echo der historisch überholten Position des „alten“ Bolschewismus ist zugleich ein Vorbote des Rechtszentrismus der USPD, des hoffnungslosen Versuchs, Formen des bürgerlichen und proletarischen Staates zu ergänzen. Lenin denunziert die „Verfassungsillusionen“ Kamenews und Sinowjews entschieden. Ihre Perspektiven hätten nicht der Revolution, sondern der Konterrevolution zugearbeitet.

Der rechte Flügel der Partei hatte nicht vor, sich dem Beschluss für den Aufstand zu fügen und er war sicher auch einflussreicher, als das Stimmverhältnis am 10. Oktober nahelegt. Teile hofften, dass der Entscheidung keine praktischen und organisatorischen Maßnahmen folgen würden. Je konkreter jedoch die Aufstandsvorbereitungen und die praktischen Schritte wurden, desto illoyaler wurde die rechte Minderheit, die auch vor dem „offenen Streikbruch“, also der öffentlichen Distanzierung vom Kurs der Bolschewiki in der parteifeindlichen Presse nicht zurückschreckte. Lenin forderte daher den Ausschluss von Sinowjew und Kamenew – einen Schritt, den die Parteiführung jedoch ablehnte, weil sie eine Spaltung und damit noch größeren Schaden befürchtete.

Differenzen unter den AufstandbefürworterInnen

Unter den AufstandsbefürworterInnen gab es zwar keine Differenzen über das Ziel, wohl jedoch über den Weg zur Machteroberung. Lenin vertrat von Beginn an, dass die Bolschewiki selbst den Aufstand initiieren und dann die Macht auf die Räte übertragen müssten. Er lehnte es strikt ab, auf einen Rätekongress zu warten.

„Der Sowjetkongreß ist auf den 20. Oktober verschoben worden. Das entspricht angesichts des Tempos, in dem Rußland lebt, benahe einem Aufschub auf den Sankt-Nimmerleinstag.“ (95)

In einem Brief an Smilga, einen der linkesten Bolschewiki dieser Tage, betont er die Notwendigkeit des sofortigen Handelns.

„Meines Erachtens muß man zur richtigen Orientierung der Geister sofort folgende Losung in Umlauf setzen: Die Macht muß sofort in die Hände des Petrograder Sowjets übergehen, der sie dem Sowjetkongreß übergeben wird. Denn wozu soll man noch drei Wochen des Krieges und der ‚kornilowschen Vorbereitungen‘ Kerenskis hinnehmen“. (96)

Noch nachdrücklicher:

„Man muß ‚aussprechen was ist‘, die Wahrheit zugeben, daß bei uns im ZK und in den Parteispitzen eine Strömung oder Meinung existiert, die für das Abwarten des Sowjetkongresses, gegen die sofortige Machtergreifung, gegen den sofortigen Aufstand ist. Diese Strömung oder Meinung muß niedergekämpft werden. (…)

Den Sowjetkongreß ‚abwarten‘ ist Idiotie, denn der Kongreß wird nichts ergeben, kann nichts ergeben!“ (97)

„Zögern wäre ein Verbrechen. Den Sowjetkongreß abwarten wäre kindische Formalitätsspielerei, schändliche Formalitätsspielerei, wäre Verrat an der Revolution.“ (98)

im Zentralkomitee noch eine dritte Gruppierung in der Aufstandsfrage. Während die Rechten durch die Logik ihrer Argumentation gezwungen waren, von der Losung „Alle Macht den Räten“ abzurücken und Lenin in Anlehnung an die Julitage die Überrumpelung durch den Feind befürchtete (99), setzte die dritte Strömung um Trotzki, darauf, die bestehenden Sowjetinstitutionen für den Aufstand zu nutzen, diesen als „defensive“ Aktion durchzuführen.

„Eine andere Haltung, die taktisch vorsichtige Bolschewiki einnahmen – vor allem diejenigen, die in den Sowjets oder in anderen typischen Einrichtungen an der Basis aktiv und daher besonders gut mit der vorherrschenden Stimmung der Massen vertraut waren – sah folgendermaßen aus: (1) Die Sowjets (wegen ihres Ansehens bei Arbeitern und Soldaten) und nicht die Organe der Partei sollten beim Sturz der Provisorischen Regierung zum Einsatz kommen. (2) Um die breitest mögliche Unterstützung zu erhalten, sollte jeder Angriff auf die Regierung als Verteidigungsaktion im Auftrag der Sowjets dargestellt werden. (3) Aus diesem Grund sollte eine solche Aktion solange aufgeschoben werden, bis sich ein passender Vorwand für den Aufbruch zum Kampf bot. (4) Um potenziellen Widerstand zu unterlaufen und die Erfolgschancen zu erhöhen, sollte jede Gelegenheit ergriffen werden, die Macht der Provisorischen Regierung auf friedlichem Wege zu untergraben. (5) Der formelle Sturz der Regierung sollte durch die Entscheidungen des Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongresses legitimiert werden.“ (100)

Eine für die Revolution wichtige und auch beispielhafte Form der Ausnutzung der Sowjetorgane war das „militärische Revolutionskomitee“, eine ursprünglich von den Menschewiki vorgeschlagene Institution, die von den Bolschewiki unter Einbeziehung der linken Sozialrevolutionäre zur Aufstandsvorbereitung verwendet wurde:

„Indem es die Kommission zur Ausarbeitung der Verordnung für das ‚Komitee der Verteidigung‘ ins Leben rief, hatte das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets für das Militärische Organ folgende Aufgaben vor Augen: in Verbindung zu treten mit der Nordfront und dem Stab des Petrograder Bezirkes, mit dem Zentrobalt und dem Distriktsowjet von Finnland zur Klärung der militärischen Situation und der notwendigen Maßnahmen; Vornahme einer Überprüfung des Personenbestandes der Garnison von Petrograd und Umgebung, wie auch der Kriegsausrüstung und Verpflegung; Ergreifung von Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Disziplin in den Soldaten- und Arbeitermassen. Die Formulierungen waren allumfassend und gleichzeitig zweideutig: sie bewegten sich fast sämtlich an der Grenze zwischen Verteidigung der Hauptstadt und bewaffnetem Aufstande. Aber diese zwei bisher einander ausschließenden Aufgaben hatten sich jetzt tatsächlich einander genähert: nachdem er in seine Hände die Macht genommen, wird der Sowjet auch die militärische Verteidigung Petrograds auf sich nehmen müssen. Das Element der Verteidigungsmaske war nicht gewaltsam von außen hineingetragen worden, sondern ergab sich bis zu einem gewissen Grade aus den Bedingungen des Vorabends des Aufstandes.“ (101)

Während  die Anschläge der Regierung auf die Petersburger Garnison und deren drohende Verlegung in Lenins  Augen  die Notwendigkeit eines Losschlagens ergaben, sahen die Anhänger Trotzkis gerade darin eine Möglichkeit, die Sowjetorgane zu nutzen.

„Trotzki war in jener Sitzung nicht anwesend: er verfocht in den gleichen Stunden im Sowjet die Verordnung über das Militärische Revolutionskomitee. Aber jenen Standpunkt, der sich in den letzten Tagen im Smolny endgültig herausgebildet hatte, verteidigte Krylenko, der soeben Schulter an Schulter mit Trotzki und Antonow-Owssejenko den Sowjetkongreß des Norddistrikts geleitet hatte. Krylenko zweifelt nicht daran, daß ‚das Wasser genügend siedend ist‘; die Resolution über den Aufstand zurückzunehmen, ‚wäre der größte Fehler‘. Er geht jedoch mit Lenin auseinander ,in der Frage, wer beginnt und wie beginnen‘. Einen bestimmten Tag für den Aufstand festzusetzen sei zur Zeit noch unzweckmäßig. ‚Doch die Frage des Abtransports der Truppen bildet gerade jenes Moment, wo der Kampf einsetzen wird … Die Tatsache, daß wir angegriffen sind, ist damit gegeben, und dies kann ausgenutzt werden … Sich darum sorgen, wer beginnen soll, ist überflüssig, denn der Beginn ist bereits da.‘ Krylenko legte dar und verteidigte die Politik, die das Fundament des Militärischen Revolutionskomitees und der Garnisonberatung bildete. Der Aufstand entwickelte sich in der Folge just auf diesem Wege.“ (102)

Lenins Konzeption hatte zweifellos einen Vorzug – die Schnelligkeit. Aber sie hatte auch einen offenkundigen politischen Nachteil. Eine Aufstandsbewegung, die nicht aus den Sowjetorganen erwächst, verfügt über eine weitaus geringere gesellschaftliche Basis.

Lenins langes und letztlich vergebliches Insistieren auf einen von der Partei ausgelösten oder ausgerufenen Aufstand hatte neben berechtigten Befürchtungen und geringer Nähe zur Basis eine weitere Ursache. Im Gegensatz zu Trotzki erkannte er nicht die Möglichkeiten, die sich aus den Institutionen der Doppelmacht für den Aufstand ergaben, die ihn erleichterten und schwer angreifbar machten. Lenin beschreibt die Räte in seinen Artikeln vor dem Aufstand oft als „machtlos“, „schwächlich“, als Organe der Selbstorganisation, auf die erst durch den Aufstand die Macht übertragen werden könne. Für ihn müssen die Räte vor die Tatsache der erfolgreichen Machtübernahme gestellt werden, der erfolgreiche Aufstand könne zwar Räteorgane zu Hilfe nehmen, der Aufstand sei aber ein militärisch-politischer Ansturm von außen.

Zweifellos ist die von Lenin immer wieder dargelegte Schwäche oder Ohnmacht der Räte, gerade unter nicht-revolutionärer Führung, ein reales Moment. Aber er blendet zugleich aus, dass die Sowjets im Bewusstsein der Massen auch schon legitime Machtorgane sind, solange es eine Doppelmachtsituation gibt. Daran knüpft die erfolgreiche Aufstandstaktik im Oktober an.

„Den Februaraufstand nennt man elementar. An anderer Stelle haben wir in diese Bezeichnung alle notwendigen Einschränkungen hineingebracht. Doch ist jedenfalls richtig, daß im Februar niemand die Wege der Umwälzung vorausgewiesen hat; niemand hat in Fabriken und Kasernen über die Frage der Revolution abgestimmt; niemand von oben zum Aufstande aufgerufen. Die in Jahren angesammelte Empörung explodierte, zum größten Teil unerwartet für die Masse selbst.

Ganz anders verhielt sich die Sache im Oktober. Während der 8 Monate hatten die Massen ein gespanntes politisches Leben geführt. Sie schufen nicht nur die Ereignisse, sondern lernten auch deren Zusammenhänge begreifen; nach jeder Tat erwogen sie kritisch deren Ergebnisse. Der Sowjetparlamentarismus wurde die Alltagsmechanik des politischen Lebens des Volkes. Wenn durch Abstimmungen Fragen über Streiks, Straßenmanifestationen, Versetzung eines Regiments an die Front entschieden wurden, konnten da die Massen auf den selbständigen Beschluß in der Frage des Aufstandes etwa verzichten?“ (103)

Das Militärische Revolutionskomitee zum Organ des Aufstandes zu machen, die Sozialrevolutionäre einzubeziehen war ein genialer Akt, dessen Stärke aus einem richtigen Verständnis der Möglichkeiten der Sowjets erwächst.

Dass der Aufstand dabei relativ unblutig vonstatten ging, dass er relativ „ruhig“ erschien, ist im Übrigen auch ein Resultat der Tatsache, dass die Revolution den Staatsapparat schon weitgehend zerbrochen hatte. Die Soldaten waren über die Sowjets ins Lager des Oktober übergetreten, der Aufstand war – wie jeder Aufstand – erfolgreich, weil er eine breite gesellschaftliche Basis hatte. Ansonsten hätte sich die Sowjetmacht nicht halten und erst recht nicht die Eigentumsverhältnisse im Land umwälzen können.

Die Bedeutung der Räte, Milizen, der Roten Garden für die Revolution ist eng mit dem Oktober verbunden. In der Tat liegt der Schlüssel zum Verständnis ihres Erfolges wie auch für die revolutionären Politik unserer Zeit gerade darin, das Verhältnis von Klasse, Partei und Räten richtig zu verstehen.

„Wäre es da nicht einfacher gewesen, zum Aufstande unmittelbar im Namen der Partei aufzurufen? Ernsthafte Vorzüge eines solchen Vorgehens liegen auf der Hand. Doch vielleicht unverkennbarer sind auch die Nachteile. Unter den Millionen, auf die die Partei sich berechtigterweise stützen zu können glaubte, hat man drei Schichten zu unterscheiden: die eine, die bereits bedingungslos mit den Bolschewiki ging; die andere, zahlreichste, die die Bolschewiki unterstützte, insofern diese durch die Sowjets handelten; die dritte, die mit den Sowjets ging, obwohl die Bolschewiki in ihnen vorherrschten.

Diese Schichten unterschieden sich nicht nur nach ihrem politischen Niveau, sondern im großen Maße auch nach der sozialen Zusammensetzung Mit den Bolschewiki als Partei gingen vor allem die Industriearbeiter, in den ersten Reihen Petrograds Erbproletarier. Mit den Bolschewiki, sofern sie legale Deckung seitens des Sowjets besaßen, ging die Mehrheit der Soldaten. Mit den Sowjets, unabhängig davon oder obwohl darin die Bolschewiki stark vorherrschten, gingen die konservativsten Zwischenschichten der Arbeiter, frühere Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die sich fürchteten, von den übrigen Massen abgedrängt zu werden; die konservativeren Truppenteile der Armee einschließlich der Kosaken; die Bauern, die sich von der Führung der sozialrevolutionären Partei befreit hatten und sich an deren linken Flügel klammerten.

Es wäre ein offener Fehler, die Stärke der Bolschewistischen Partei mit der Macht der von ihr geleiteten Sowjets zu identifizieren: die letztere war um vieles beträchtlicher, jedoch ohne die erste hätte sie sich in Ohnmacht verwandelt. Es ist dahinter nichts Geheimnisvolles. Die Wechselbeziehung zwischen Partei und Sowjets erwuchs aus dem in revolutionärer Epoche unvermeidlichen Mißverhältnis zwischen dem kolossalen politischen Einfluß des Bolschewismus und dessen engem organisatorischen Rahmen. Ein richtig angewandter Hebel verleiht der menschlichen Hand die Fähigkeit, eine ihre lebendige Kraft um ein Vielfaches übersteigende Last zu heben. Doch ohne die lebendige Hand ist der Hebel nur eine tote Stange.“ (104)

Mit dem Sieg des Aufstandes geht die Macht an die von den Bolschewiki geführten Räte über, die Doppelmacht wird beendet. Der Rat der Volkskommissare wird gebildet, erste Dekrete der Sowjetmacht werden erlassen.

Die Oktoberrevolution hat nicht nur eine Bresche in die Geschichte des 20. Jahrhunderts geschlagen, ihre Entstehung, ihr Verlauf, ihr späterer Niedergang, vor allem aber die Strategie und Taktik der Bolschewistischen Partei sind bis heute ein Bezugspunkt für alle, die für die Befreiung der ArbeiterInnenklasse, für die sozialistische Weltrevolution kämpfen.

Klasse, Partei, Räte

Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte. In ihnen konzentrieren sich politische, wirtschaftliche und ideologische Klassenkämpfe und Widersprüche einer Gesellschaft, die über ganze Perioden die Verlaufsformen ihrer inneren Auseinandersetzung, Entwicklung und Nicht-Entwicklung prägen.

Diese geschichtlichen Perioden stellen die Verhältnisse in Frage, die der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder, den Angehörigen der herrschenden wie beherrschten Klassen als „Gewissheiten“ erscheinen. Die inneren Widersprüche, die sich in den „Tiefen“ der Gesellschaft über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte entwickelt haben, die jedoch an deren Oberfläche als „reguliert“ erschienen, treten dann offen hervor. Revolutionen sprengen diesen inneren Zusammenhang, treten eruptiv als gesellschaftliche „Explosionen“, als Sprünge in Erscheinung. Obwohl, ja weil sie aus den gesellschaftlichen Gegensätzen erwachsen, die für lange Zeit auch die Basis jener politischen, staatlichen, sozialen Formen bildeten, in deren Rahmen das politische, wirtschaftliche und soziale Leben reproduziert wurde, „überraschen“ Krisen und erst recht deren revolutionäre Zuspitzung alle Klassen und ihre Parteien.

Revolutionen scheinen die Verhältnisse „auf den Kopf“ zu stellen. Sie erscheinen nicht nur den direkten Parteigängern der alten Ordnung als „Wahnsinn“, sondern auch den AnhängerInnen einer „vernünftigen“, schrittweisen, graduellen „Reform“ der Gesellschaft. Dieser Schein wird zusätzlich dadurch genährt, dass sie  die in Bewegung geratenen Massen wie auch die entschlossensten GegnerInnen der bestehenden Ordnung „überraschen“.

Dabei treten die unterdrückten Klassen als Subjekte, als Akteure hervor. Diejenigen, die gestern noch bloßes Ausbeutungsmaterial oder Kanonenfutter waren, die allenfalls über gewerkschaftlichen und parlamentarischen Kampf ihre Interessen vertreten mussten oder konnten, werfen sich in den Kampf um eine Neuordnung der Gesellschaft, werfen die Machtfrage auf. Sie scheinen in eine andere Welt katapultiert zu werden. Sie machen wirklich Geschichte, wenn auch nicht aus freien, selbst gewählten Stücken, sondern unter vorgefundenen Bedingungen. Die zur revolutionären Aktion Gestoßenen agieren zwar ohne klares Bewusstsein der Verhältnisse, die sie treiben, kombinieren daher unvermeidlich Vergangenes mit Zukünftigem, Fortschrittliches mit Reaktionärem. Wie die Gesellschaft selbst ist ihr Bewusstsein im Fluss, weil ihr Handeln über das Bestehende hinausdrängt, ja schon hinausgegangen ist.

Das trifft letztlich auch auf diejenigen Teile der ArbeiterInnenklasse zu, die politisch-ideologisch und theoretisch die Revolution vorweggenommen, gewissermaßen durchdacht haben, die sich schon als Avantgarde formierten oder dabei waren/sind, diesen Schritt zu unternehmen.

Auch sie können von der Revolution „überrascht“ werden. Selbst Lenin fürchtete gelegentlich nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, dass seine Generation eine tiefe, längerfristige konterrevolutionäre Entwicklung durchleben müsse, dass die russische und internationale Revolution in weite Ferne gerückt wäre und ihm „nur“ die Vorbereitung der Zukunft verbliebe.

Dabei hat er mehr als andere die Triebkräfte analysiert und verstanden, die zum Ausbruch der Russischen Revolution geführt haben. Die ganze strategische Ausrichtung der bolschewistischen Politik, die Politik des „revolutionären Defaitismus“ zielte auf die Umwandlung des Kriegs in den Bürgerkrieg gegen die imperialistische Bourgeoisie. Im Gegensatz zu praktisch allen anderen Strömungen der ArbeiterInnenbewegung – einschließlich der meisten linken oder pazifistischen KriegsgegnerInnen – charakterisierte der Bolschewismus die imperialistische Epoche als eine von Krieg und Revolutionen.

Die episodischen Unsicherheiten Lenins bezüglich des Tempos der Entwicklung und erst recht die Tatsache, dass die Bolschewiki wie alle anderen Parteien von der Februarrevolution überrascht wurden, scheinen den Eindruck zu bestätigen, dass Revolutionen letztlich nicht „vorhersehbar“ sind.

In Wirklichkeit sprechen solche Fakten nicht gegen das marxistische Verständnis von Revolution und Konterrevolution. Vielmehr vermag der Marxismus selbst die Notwendigkeit des Auftretens solcher „Zufälle“ zu erklären, zu verstehen.

Blinde Gesetzmäßigkeiten

Die Grundstruktur des Kapitalismus selbst führt nämlich dazu, dass Revolutionen auf der Oberfläche der Gesellschaft als etwas „Zufälliges“, „Irrationales“ erscheinen müssen. In der kapitalistischen Gesellschaft können sich ihre inneren Gesetzmäßigkeiten und ihre Dynamik nur „blind“, hinter dem Rücken unabhängiger Privatpersonen vollziehen. In einer Gesellschaftsformation, die auf allgemeiner Warenproduktion basiert, machen sich diese den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern als Zwangsgesetze der Konkurrenz geltend, die immer nur im Nachhinein zeigen, welches Handeln erfolgreich, welches Produkt nützlich, welche Unternehmung profitabel war. Alle politischen, staatlichen Strukturen, Unterdrückungsverhältnisse, vorhergehende Produktionsweisen usw. sind letztlich von der Entwicklungsdynamik der kapitalistischen Produktionsweise bestimmt, mögen sie auch noch so „autonom“ erschienen.

Auch wenn sich die bürgerliche Gesellschaft im Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung oft als sehr anpassungsfähig und „elastisch“ erwiesen hat, so kann sich staatliches und politisches Handeln nie vom prägenden anarchischen Charakter der kapitalistischen Produktionsweise frei machen. Akute gesellschaftliche Krisen sind daher nicht nur „bloß“ ökonomische Krisen. Das liegt erstens daran, dass auch den ökonomischen Widersprüchen immer ein Klassenwiderspruch zugrunde liegt, dass sich in einer allgemeinen ökonomischen Krise daher notwendigerweise die Frage nach einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen den Klassen erhebt. Zweitens liegt der kapitalistischen Gesellschaftsformation zwar ein Ausbeutungsverhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital im Bereich der gesellschaftlichen Produktion zugrunde, aber dieses stellt eben nur die Basis für die Gesamtheit des politischen, ideologischen Überbaus der Gesellschaft dar, kann durchaus andere Produktionsweisen noch beinhalten. Drittens ist die kapitalistische Gesellschaftsformation immer schon ein internationales System, die Krisenhaftigkeit des Gesamtsystems ist daher immer auch eines zwischen nationalen Kapitalien und Staaten, die bei einer Zuspitzung der Krisentendenzen notwendig um die Neuaufteilung der Welt kämpfen müssen.

Schließlich hat die Tatsache der Trennung von Ökonomie und Politik, wie sie auf der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft notwendig erscheint, zur Folge, dass sich „grundlegende“ Krisen, zentrale Konflikte vermittelt oder an scheinbaren „Nebenfragen“ entzünden. So entzünden sich viele Revolutionen an Fragen der Demokratie, der Gleichberechtigung, der Würde, was dazu verführen mag, ihnen ihren „grundlegenden“ Charakter abzusprechen. In Wirklichkeit zeigt der Verlauf vieler dieser Umstürze, dass dahinter immer auch „handfeste“ ökonomische Fragen stehen. Zweitens stellen letztlich auch die Fragen der Gleichheit, demokratischer Rechte, von Krieg und Frieden, der sozialen Unterdrückung auch Fragen des Klassenkampfes dar, die in bestimmten Situationen sogar zu den Kernfragen der Revolution werden können.

So entflammte die verzweifelte Selbstverbrennung eines deklassierten jungen Menschen die arabischen Revolutionen.

Auch die russischen Revolutionen 1905 oder 1917 brachen gewissermaßen „zufällig“ aus. Oberflächliche Gemüter ziehen daraus gern den Schluss, dass diese geschichtlichen Erdbeben durch klügeres Handeln, frühzeitigere Reformen vermieden hätten werden können. Wäre 1905 nicht in die Demonstrationen geschossen worden, hätte der Zar die Petitionen der ArbeiterInnen zur Kenntnis genommen, wäre der Zar 1917 oder noch früher abgetreten, hätte es demokratische Reformen gegeben, wäre die Zivilgesellschaft entwickelter gewesen – die russischen Revolutionen wären uns erspart geblieben.

Solche hoffnungsvollen Erwägungen beschränken sich natürlich nicht auf ein Land. Ein ganz ähnliches Räsonieren liegt der Vorstellung zugrunde, dass  der Faschismus in Deutschland hätte verhindert werden können, wenn alle auf die Weimarer Verfassung geschworen hätten… All das läuft letztlich darauf hinaus, dass große geschichtliche Umwälzungen – Revolutionen wie Konterrevolutionen – durch „vorausblickendes“, rationales politisches Verhalten von Regierung und Bevölkerungsmehrheit hätten vermieden werden können.

Sicherlich lag etwas „Zufälliges“ darin, dass bestimmte Ereignisse zum offenen Ausbruch von Revolutionen führten. Das bedeutet aber nur, dass politisches Handeln den Ausbruch und die Verlaufsform bestimmter Krisen verändern kann, nicht jedoch die grundlegenden Widersprüche, die zu ihrem offenen politischen Ausbruch drängen. Das würde nämlich erfordern, dass  in einer Gesellschaft, die auf der Ausbeutung der großen Mehrheit beruht, in einer globalen Krisensituation, die den Spielraum für Kompromisse eng begrenzt, alle Klassen im Interesse einer „höheren“, über der Gesellschaft stehenden vernünftigen Ordnung auf die Verfolgung ihrer jeweiligen eigenen Interessen verzichten müssten. Sie müssten den Klassenkampf einstellen, wenn er  seine akuteste Form annimmt.

In revolutionären Krisen bedeutet es, die Revolution selbst auf einen Kompromiss zwischen den Klassen beschränken zu wollen, im Falle Russlands auf die Etablierung der bürgerlichen Demokratie, auf eine langfristige demokratische Etappe. Das Programm der kleinbürgerlichen Demokratie ist ein Programm, das nur in Verzicht auf die Machtergreifung enden und auf  Verrat und Unterordnung der unterdrückten Klassen, von Proletariat und Bauernschaft unter jenes der imperialistischen Bourgeoisie und des Großgrundbesitzes hinauslaufen kann.

Es ist kein Zufall, dass die herrschende Klasse, mag sie auch in aufstrebenden Phasen einer Revolution gezwungen sein, auf die Kräfte der klein-bürgerlichen Demokratie (oder des sozialdemokratischen oder stalinistischen Reformismus) zu setzen, früher oder später entschiedene Maßnahmen gegen die revolutionären Kräfte fordern muss und durchzusetzen versucht. So wie die Revolution kann auch sie nicht auf halbem Wege stehenbleiben, kann sich auch die herrschende Klasse nicht mit halben Lösungen zufrieden geben. Sie will nicht nur, sie braucht eine ganze Konterrevolution.

Weil die Revolution alle Elemente der Gesellschaft, ihre ökonomische Basis wie ihren politischen Überbau in den Grundfesten erschüttert und in ihrer Zuspitzung Formen der Doppelmacht hervorbringt, die nur zugunsten einer der beiden Hauptklassen gelöst werden kann, führt sie unvermeidlich dazu, dass sich auch jene Institutionen, die dem gemeinen, „demokratischen“ Verstand als Mittel des Ausgleichs, der „friedlichen“ Beilegung des Konflikts erscheinen, rasch abnutzen, verbrauchen, als ungeeignet erweisen. Das trifft auf alle Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts zu, auch, und gerade auf jene, die als demokratische Revolutionen beginnen.

Auf den Kopf gestellt

Die bürgerliche – und dazu gehört auch die sozialdemokratische – Geschichtsschreibung stellt diese Zusammenhänge in der Regel auf den Kopf. Selbst wenn sie tiefe ökonomische Ursachen, soziale Verwerfungen für revolutionäre Ausbrüche anerkennt, so erblickt sie im Radikalismus der konsequent revolutionären Kräfte wie der entschlossenen Reaktion keinen gesetzmäßigen Ausdruck des Klassenkampfes, sondern den Hort der „Unvernunft“, eine irrationale Überspitzung, die durch institutionelle Arrangements, Demokratie, Zivilgesellschaft usw. eigentlich zu verhindern wäre. Allen gesellschaftlichen Zuspitzungen, der Revolution wie der Konterrevolution, wird ein grundlegend irrationaler Charakter zugesprochen. Revolutionen erscheinen nicht als Motoren, sondern als Betriebsunfälle der Geschichte, hervorgerufen letztlich durch subjektive „Fehlentwicklungen“.

Die unterdrückten Klassen geraten in ihren Augen in vor-revolutionären oder revolutionären Situationen in eine Phase des politischen „Fieberwahns“, der „Unvernunft“ und „überzogener Erwartungen“. Sie erscheinen nicht als Klassensubjekte, die damit beginnen, die Last des Vergangenen abzustreifen, sondern als von den Radikalen „verführte“, „irregeleitete“, „radikalisierte und manipulierte“ Masse. Wo die Massen der Unterdrückten zu Subjekten werden und beginnen, den Alp des herrschenden Bewusstseins abzustreifen, spricht ihnen die bürgerliche Geschichtsschreibung ihre Bewusstheit ab. Der Unterdrückte gilt ihr nur als systemkonformer „Mitbürger“ als „vernünftig“. Wenn die ArbeiterInnen oder die bäuerlichen Massen, nationale und rassistisch Unterdrückte, Frauen, Jugendliche usw. ihr eigenes Schicksal in die Hand nehmen, selbst den Rahmen bürgerlicher Herrschaft, ob nun in offen diktatorischer oder fürsorglicher, bürgerlich-demokratischer Herrschaft, sprengen, wenn sie in der revolutionären Aktion ihren Hass auf die bestehende Gesellschaft zum Ausdruck bringen, dann schlägt ihnen unvermeidlich der Klassenhass nicht nur der Herrschenden entgegen und zwar  nicht nur durch die äußerste Reaktion zu, sondern auch durch die Sozialdemokratie.

Die Oktoberrevolution erscheint in den primitiveren Varianten der bürgerlichen Kritik als „Putsch“ des Bolschewismus, in den etwas umsichtigeren als Resultat einer geschickten „Machtpolitik“, kluger Taktiererei der RevolutionärInnen. Das Programm und dessen taktische und organisatorische Konkretisierung erscheinen nicht als Antwort auf die brennenden gesellschaftlichen Probleme, die die Revolution erst hervorbrachten und auf die die Partei eine zusammenfassende Antwort gibt, sondern als geschicktes Mittel der Manipulation. Diese Auffassung geht bis weit in die „radikale“ Linke unserer Tage hinein, was neben den Entstellungen bürgerlicher und sozialdemokratischer Geschichtsschreibung auch der stalinistischen Legendenbildung um die Partei Lenins zu verdanken ist.

In beiden werden Lenins Partei und ihr Programm zu einer sich immer gleich bleibenden Einheit. Ihr Verhältnis zur ArbeiterInnenklasse, zu deren Avantgarde, zu den anderen unterdrückten Klassen und Schichten der Gesellschaft erscheint als ein undialektisches, in dem die „Partei“ immer schon recht hatte und einfach nur einheitlich und geschlossen das Richtige macht. Im Stalinismus tritt letztlich die Partei an Stelle der ArbeiterInnenklasse als Subjekt der Revolution.

Bewusstsein, Spontanität und Programm

Ein marxistisches Verständnis der Rolle der Partei muss von einem korrekten Verständnis des Verhältnisses von revolutionärer Partei und Klasse ausgehen. Aus sich heraus kann die ArbeiterInnenklasse nicht „spontan“ revolutionäres Klassenbewusstsein entwickeln. In nicht-revolutionären Perioden wird sie als ausgebeutete Klasse „spontan“ nur gewerkschaftliches und darauf aufbauendes reformistisches Bewusstsein entwickeln. Revolutionäres Klassenbewusstsein muss von außen in die Klasse getragen werden, auf Basis einer wissenschaftlichen Analyse des Kapitalismus und der Verallgemeinerung der bisherigen Erfahrungen im Klassenkampf. Die unmittelbaren Erfahrungen des rein ökonomischen Kampfes oder des Kampfes um politische Reformen führen nicht nur nicht zu revolutionärem Bewusstsein, sie stehen dessen Entwicklung bis zu einem gewissen Grad sogar entgegen, da sie, gerade wenn sie erfolgreich sind, eine graduelle Verbesserung der Klassenlage als möglich erscheinen lassen.

In revolutionären Perioden und Krisen wird dieser rein ökonomische und auch politisch-reformerische Horizont in Frage gestellt. Je nach Vorgeschichte der Klasse und internationaler Konstellation kann in diesen Phasen auch rasch über den Reformismus oder Ökonomismus hinausgehendes Bewusstsein entstehen. Die Klasse insgesamt, und vor allem ihre Avantgarde wird vor Fragen – nicht zuletzt die Machtfrage – gestellt,  die praktisch nach einer sozialistischen Antwort verlangen. Die in Bewegung geratenen Massen setzen Taten, die über den bestehenden Rahmen hinausgehen, selbst wenn sie das nicht „vorhatten“. Das heißt auch, dass sich in bestimmten Phasen auch ideologisch zentristische Stimmungen oder gar ultralinke, ultrarevolutionäre Einstellungen in der Klasse oder deren Avantgarde ausbreiten. In solchen gesellschaftlichen Ausnahmezuständen kann sich durchaus mehr als tradeunionistisches Bewusstsein entwickeln. Damit sich diese Tendenzen zu einer bewussten, politisch klaren revolutionären Kraft entwickeln können, braucht es jedoch die Fusion von wissenschaftlichem Sozialismus und ArbeiterInnenvorhut – die Schaffung einer revolutionären Avantgardepartei.

Die spontanen revolutionären Tendenzen der Klasse, die Tatsache, dass die Tat zum revolutionären Programm drängt, macht das Programm nicht obsolet, wie Spontaneisten denken, sondern begründet erst dessen Unverzichtbarkeit, dessen Notwendigkeit und die Möglichkeit, dass das Programm wirklich zum Wegweiser für die Aktion, für die Lösung der Machtfrage, der entscheidenden Frage aller Revolutionen, wird.

Die revolutionäre Partei ist Ausdruck dieser geschichtlichen und internationalen Erfahrung. Ihre Politik muss auf einer wissenschaftlichen, nicht ideologischen Grundlage basieren.

Das Programm der Partei  muss aber zugleich auch eine Vermittlung darstellen zu den aktuellen Grundfragen des Klassenkampfes,  eine Verbindung herstellen zwischen den unmittelbaren nächsten Konflikten, dem Bewusstsein der Klasse im Hier und Heute, den strategischen Aufgaben der aktuellen Periode, der Frage der politischen Macht und des Übergangs zum Sozialismus. Ein solches Programm muss die aktuellen Tageskämpfe mit dem strategischen Ziel verknüpfen. Daher nimmt es die Form eines Aktionsprogramms, einer Anleitung zum Handel an.

Für den Bolschewismus und insbesondere für Lenin war letztlich das politische Programm der entscheidende Bezugspunkt, nicht die organisatorische, statuarische Form der Partei. So wichtig der „demokratische Zentralismus“ für die Parteikonzeption auch ist, er bleibt gerade aufgrund seines großen Formwandels im Laufe der Entwicklung unverständlich, wenn er nicht im Kontext sich verändernder Situationen, einer sich wandelnden Partei und deren programmatischen Erfordernissen betrachtet wird.

Die revolutionäre Partei – die Verschmelzung von Wissenschaft und Avantgarde der ArbeiterInnenklasse – kann selbst nur zur Führerin der Klasse und unterdrückten nicht-proletarischen Massen werden, wenn sie es vermag, deren Bedürfnisse zu verallgemeinern und mit der Einsicht in den allgemeinen Werdegang der proletarischen Revolution zu verbinden. Nur so kann die Partei ihre Rolle erfüllen und zur Führerin der ArbeiterInnenklasse werden.

Das Verhältnis von Klasse und Partei, von FührerInnen  und Geführten, von Bewussteren und weniger Bewussten darf dabei jedoch nicht als LehrerInnen-SchülerInnen-Verhältnis betrachtet werden, so das Wissen, jedenfalls der Vorstellung des Lehrenden nach, auf einer Seite monopolisiert ist.

Die ArbeiterInnenklasse selbst kann zwar im Kapitalismus nicht spontan revolutionäres Klassenbewusstsein entwickeln, in ihren Lebensverhältnissen und Klassenkämpfen wird sie jedoch immer wieder auch auf die inneren Widersprüche der Gesellschaft gestoßen, hin in eine sozialistische Richtung. Sie drängt zur Revolution, zum Sozialismus. Der Kommunismus ist der bewusste Ausdruck der proletarischen Bewegung, also auch, wenn seine wissenschaftliche Ausformung von außen in die Klasse getragen werden muss: Er ist nichts Äußerliches, da er die Stellung der ArbeiterInnenklasse und ihren Befreiungskampf einfach nur bewusst macht, zum Ausdruck bringt.

Dabei übernimmt die ArbeiterInnenklasse selbst keinen passiven Part. So hat Marx aufgrund der Erfahrungen der Revolutionen von 1848 und vor allem des Bonapartismus in Frankreich herausgearbeitet, dass die ArbeiterInnenklasse den bürgerlichen Staatsapparat zerschlagen muss. Die Form, wie dies geschehen kann, hat nicht Marx im Studierzimmer entworfen, sondern haben die Kommunarden 1871 in Paris aufgezeigt. Das zeigt besonders deutlich, dass die ArbeiterInnenklasse ein tätiges, spontan zu ihrer eigenen Befreiung drängendes revolutionäres Subjekt ist.

Zugleich zeigt aber Marx` Analyse der Kommune auch die Grenzen dieses Drängens. Die Charakterisierung der Kommune als die „geschichtliche Form zur Befreiung der Klasse“ und als ArbeiterInnenregierung erfolgte keineswegs „automatisch“ aus den Kämpfen der Kommunarden – und erst recht nicht, welche Maßnahmen notwendig waren, um die von der Kommune geschaffenen Möglichkeiten auch zu realisieren. Im Gegenteil. Die Einschätzung und die Lehren aus den Klassenkämpfen in Frankreich offenbarten eine tiefe Spaltung der ArbeiterInnenbewegung in einen revolutionären, marxistischen Flügel, den kleinbürgerlichen Anarchismus (Bakunisten) und die Vorläufer des Reformismus (britische Gewerkschafter).

Die theoretische Verallgemeinerung und die programmatischen Schlussfolgerungen aus der Kommune konnten nur auf Grundlage des wissenschaftlichen Sozialismus gezogen werden – nicht bloß aus der unmittelbaren Erfahrung des Kampfes. Sie mussten selbst den BarrikadenkämpferInnen „von außen“ vermittelt werden. Schließlich zeigt dieses Beispiel aber auch, dass eine Neubestimmung des Programms der revolutionären ArbeiterInnenbewegung selbst erfolgte. Im Kommunistischen Manifest hieß es noch, dass die nächste Aufgabe der ArbeiterInnenklasse die „Eroberung der Demokratie“ sei und sie so zur Herrschaft gelangen würde.

Mit der Kommune war diese Formel ungenügend geworden. Das Festhalten  an der alten Formel in großen Teilen der Zweiten Internationale und das „Vergessen“ der Lehren der Kommune hatten natürlich materielle Ursachen in einer relativ stabilen, „friedlichen“ Entwicklung des Kapitalismus nach der Niederlage des Jahres 1871. Zugleich aber begünstigte diese  Verflachung des Marxismus den Übergang der Zweiten Internationale in das Lager der Konterrevolution.

Wie wir auch am Beispiel des Bolschewismus gesehen haben, bedarf ein revolutionäres Programm, bedürfen revolutionäre Erkenntnisse nicht nur ihrer Anwendung und Überprüfung in der Praxis. Die revolutionäre Partei selbst tritt mit einem Fundus an Programmatik und Erkenntnis in neue geschichtliche Kämpfe, die – selbst auf ihrem höchsten Entwicklungsstand – immer nur die Verallgemeinerung vergangener Erfahrung sein können.

Klassenkampf und Entwicklung des Programms

Jede revolutionäre Krise erfordert aber nicht die mechanische Anwendung des Programms, sondern seine Anwendung muss immer auch mit der aktuellen Situation verbunden, in die Sprache der Taktik übersetzt sein. Dieselben Losungen, die auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der Revolution im Mittelpunkt stehen, können auf einer anderen nicht mehr angemessen bzw. falsch sein. Das trifft nicht nur auf die inneren Veränderungen in einer revolutionären Situation und auf Fragen der Taktik zu, sondern bezieht sich auch auf die strategische Grundausrichtung der revolutionären Partei.

Ohne Bolschewistische Partei hätte es sicherlich nie die Oktoberrevolution, die Errichtung der Diktatur des Proletariats gegeben. Umgekehrt aber wäre diese Partei nie dazu in der Lage gewesen, Kurs auf den Oktober zu nehmen, hätte sie nicht selbst im Frühjahr 1917 ihre strategische Ausrichtung geändert, was letztlich in die Aprilthesen Lenins mündete. Diese „Umbewaffnung“ der Partei, wie es Trotzki ausdrückte, war von entscheidender Bedeutung dafür, dass sie überhaupt Kurs auf den Oktober nehmen konnte.

Um diese Umbewaffnung zu verstehen – und damit auch Kontinuität wie Bruch innerhalb des Bolschewismus – ist es unerlässlich, auch dessen „Vorgeschichte“ zu betrachten. Die russische Sozialdemokratie konnte in der Revolution 1905 ihre politischen Konzeptionen erstmals erproben. Auch wenn die Revolution 1905  niedergeschlagen wurde, so war sie für die weitere Entwicklung des Bolschewismus von unschätzbarem Wert. Alle Strömungen der ArbeiterInnenbewegung stellten ihre Programme, ihre Politik vor.

Einen zweiten Wendepunkt für die programmatische Formierung des Bolschewismus markieren der Ausbruch des imperialistischen Krieges und der Verrat der Sozialdemokratie. Hier entwickelten sich die Bolschewiki – auf den Status einer relativ kleinen Propagandaorganisation zurückgeworfen – zu einer internationalen Strömung, die nicht nur politisch-organisatorisch mit den Parteien der Zweiten Internationale, den Vaterlandsverteidigern, bricht, sondern auch eine politisch-programmatische Erneuerung des Marxismus beginnt.

Diese wird im Jahr 1917 mit der Machtergreifung und dann mit Gründung der Kommunistischen Internationale weiter vertieft. Sowohl die entwickelte Programmatik des Bolschewismus und der ersten vier Kongresse der KomIntern als auch die Formierung dieser Dritten Internationale zur Kampfpartei der Weltrevolution stellen einen bis heute unerreichten Höhepunkt der Geschichte der revolutionären ArbeiterInnenbewegung dar, den auch die Vierte Internationale, bis zu ihrer Degeneration Ende der 40er Jahre, aufgrund ihrer Beschränkung auf eine Propagandaorganisation, nicht zu erreichen vermochte.

Jede neue, revolutionäre Internationale muss daher das Erbe des Bolschewismus bis zu seiner Degeneration und Pervertierung zu einem zentralen Anknüpfungspunkt ihrer eigenen Politik machen.

 

Endnoten

(1) Marx, Karl: „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, in: MEW 8, Berlin/Ost [Dietz], 1. Auflage, 1973, S. 115

(2 ) Ebenda, S. 117

(3) Grigori Sinowjew: Geschichte der Kommunistischen Partei Rußlands (Bolschewiki) (1923), Erlangen [Politladen], S. 97

(4) In: Junius Verlag [Hrsg.]: „Revolution in einem unterentwickelten Land? Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937“, Hamburg, 1981, S. 26

(5) Ebenda, S. 28

(6) Lenin, W. I.: „Die Sewstwokampagne und der Plan der „Iskra“, in: LW 7, Berlin/Ost [Dietz], 7. Auflage, 1976, S. 522)

(7) Axelrod, Pawel Borissowitsch: „Rede auf dem Vereinigungsparteitag 1906, April/Mai 1906“, in: „Revolution in einem unterentwickelten Land? Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937“, a. a. O., S. 32

(8) ders.: ebenda, S. 35

(9) Martow, Julius: „Die Geschichte der russischen Sozialdemokratie“, in: „Revolution in einem unterentwickelten Land? Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937“, a. a. O., S. 30

(10) Lenin, W. I.: „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“, in: LW 9, Berlin/Ost [Dietz], 1. Auflage, 1957, S. 65

(11) Ebenda, S. 87 f.

(12) Ebenda, S. 126 f.

(13) Siehe: Trotzki, Leo: „Drei Konzeptionen der russischen Revolution“ [1939], in: ders., „Stalin – Eine Biographie“, Band II, Anhang, Reinbek [Rowohlt], Juni 1971

(14) Marx, Karl: „Entwürfe einer Antwort auf den Brief von V. I. Sassulitsch“, in: MEW 19, Berlin/Ost [Dietz], 1. Auflage, 1974, S. 384- 406

(15) Trotzki, Leo: „Ergebnisse und Perspektiven“, in: ders.: „Ergebnisse und Perspektiven – Die Permanente Revolution“, Frankfurt a. M. [EVA], 1971, Seite 51 f.

(16) Ebenda, S. 64 f.

(17) Ebenda, S. 68

(18) Ebenda, S. 70

(19) Ebenda, S. 106

(20) Ebenda, S. 120

(21) Lenin, W. I.: „Unsere Aufgaben und der Sowjet der Arbeiterdeputierten“, in: LW 10, Berlin/Ost [Dietz], 6. Auflage, 1972, S. 8)

(23) ders.: „Sozialismus und Anarchismus“, in: LW 10, a. a. O., S. 57 ff.

(23) Siehe: Le Blanc, Paul: „Lenin and the Revolutionary Party“, Amherst/New York [Humanity Books], 1993, S. 107

(24) Siehe z. B. Lenin, W. I.: „Über die Reorganisation der Partei“, in: LW 10, a. a. O., S. 13 ff.

(25) Trotzki, Leo: „Ergebnisse und Perspektiven“, Vorwort [1919], in: ders.: „Ergebnisse und Perspektiven…“, a. a. O., S. 122

(26) Siehe: Laszer, Max: „Kautsky versus Luxemburg – Die Massenstreikdebatte in der deutschen Sozialdemokratie 1910“, in: Revolutionärer Marxismus 41, Berlin, 2010, S. 193 ff.

(27) Frölich, Paul: „Rosa Luxemburg – Gedanke und Tat“, Berlin [Dietz], 1990, S. 164 ff.

(28) Vgl.: Workers Power: „Party and Programme“: http://www.workerspower.co.uk/1977/10/party-programme-pt-1/; http://www.workerspower.co.uk/1978/10/party-and-programme-lenin-and-luxemburg-against-opportunism-and-centrism-part-3/; Le Blanc, „Lenin and the Revolutionary Party“, a. a. O.

(29) Hilferding, Rudolf: „Das Finanzkapital“ [1910], Dietz-Verlag, Berlin/Ost 1953

(30) Luxemburg, Rosa: „Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“, in: Gesammelte Werke, Band 5, Berlin/Ost [Dietz], 3. Auflage, 1985, S. 5 ff.

(31) Lenin, W. I.: „Die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie im europäischen Krieg“, in: LW 21, Berlin/Ost [Dietz], 3. Auflage, 1970, S. 1

(32) Lenin, W. I.: „Lage und Aufgaben der sozialistischen Internationale“, in: LW 21, a. a. O., S. 26

(33) Ebenda, S. 27

(34) Riddell, John [Hrsg.]: „Lenin’s Struggle for a Revolutionary International, Documents: 1907-1916“,  New York, 1984, S. 369; eigene Übersetzung aus dem Englischen

(35) Lenin, W. I.: „Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, in: LW 22, Berlin/Ost [Dietz], 3. Auflage, 1972, S. 149.

(36) Lenin, W. I.: „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, in: LW 22, a. a. O., S. 304

(37) Lenin, W. I.: „Sozialismus und Krieg“, in: LW 21, a. a. O., S. 301 f.

(38) Lukács, Georg: „Lenin. Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken“, Neuwied und Berlin, 3. Auflage, 1969, S. 9.

(39) Lenin, W. I.: „Lage und Aufgaben der sozialistischen Internationale“, a. a. O., S. 28

(40) Riddell, John [Hrsg.]: „Lenin’s Struggle for a Revolutionary International, Documents: 1907-1916“,  New York, 1984, S. 304; eigene Übersetzung aus dem Englischen

(41) Workers Power/Britannien: „ Russland auf dem Weg zum Roten Oktober“, Kapitel 1; in:  Revolutionärer Marxismus 38, Berlin, 2007: http://www.arbeitermacht.de/rm/rm38/oktoberfrauen.htm

(42) Trotzki, Leo: „Geschichte der russischen Revolution“, Berlin/West [S. Fischer], 1960, S. 132

(43) Ebenda, S. 137

(44) Siehe ebenda, S. 187

(45) Rosenberg, Arthur: „Geschichte des Bolschewismus“, Frankfurt a. M. [EVA], 1966, S. 123

(46) „Revolution in einem unterentwickelten Land? Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937“, a. a. O., S. 49

(47) Lenin, W. I.: „Briefe aus der Ferne“, in: LW 23, Berlin/Ost [Dietz], 6. Auflage, 1972, S. 309-357

(48) Ebenda, S. 321

(49) Lorenz, Richard [Hrsg.]: „Die russische Revolution 1917 – Der Aufstand der Arbeiter, Bauern und Soldaten“, München [Nymphenburger Verlagsbuchhandlung], 1981, S. 51

(50) Ebenda, S. 52

(51) Zitiert nach Le Blanc, a. a. O., S. 256, eigene Übersetzung

(52) Rabinowitch, Alexander: „Die Sowjetmacht – Die Revolution der Bolschewiki 1917“,Essen [Mehring Verlag], 2012, S. 536

(53) Workers Power/Britannien: „ Russland auf dem Weg zum Roten Oktober“, Kapitel 2; in:  Revolutionärer Marxismus 38, Berlin, 2007, S. 15

(54) Ebenda, S. 15

(55) Zitiert nach: Trotzki, „Geschichte der Russischen Revolution“, a. a. O., S. 243

(56) Protokoll der Konferenz, zitiert nach Le Blanc, a. a. O., S. 258 f.

(57) Ebenda, S. 259 f.

(58) Lenin, W. I.: „Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“, in: LW 24, Berlin/Ost [Dietz], 3. Auflage, 1972, S. 6)

(59) Zitiert nach: Lenin, W. I.: „Briefe über die Taktik“, in: LW 24, a. a. O., S. 32 f.

(60) ders.: „Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“, a. a. O., S. 1-8

(61) Ebenda, S. 3 f.

(62) ders.: „Das revolutionäre Proletariat und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, in: LW 21, a. a. O., S. 415 f.

(63) ders.: „Briefe über die Taktik“, in: LW 24, a. a. O., S. 33

(64) Ebenda

(65) ders.: „Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“, a. a. O., S. 5)

(66) ders: „Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution“, in: LW 25, Berlin/Ost [Dietz], 3. Auflage, 1972, S. 393 – 507

(67) Ebenda, S. 397

(68) Iswestja, 63, 11.5.1917, in: „Revolution in einem unterentwickelten Land? Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937“, a. a. O., S. 51

(69) Trotzki, Leo: „Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedensvertrag“, Frankfurt a. M. [ISP], 1983, S. 22

(70) ders.: „Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale (Das Übergangsprogramm)“, Essen [Verlag Ergebnisse und Perspektiven], o. J., S. 26; (Fehler stillschweigend korrigiert; d. Red.)

(71) Rabinowitch, Alexander: „Die Sowjetmacht – Die Revolution der Bolschewiki 1917“, Einleitung zur englischen Ausgabe, Essen [Mehring Verlag], 2012, S. LVII

(72) Trotzki, „Geschichte der russischen Revolution“,

 https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1930/grr/b2-kap02.htm

(73) Lenin, W. I.: „Zu den Losungen“, in: LW 25, a. a. O., S. 181

(74) ders.: „Die politische Lage“, ebenda, S. 174

(75) ders.: „Zu den Losungen“, a. a. O., S. 188

(76) Ebenda, S. 182 f.

(77) Für eine ausführliche Darstellung der Diskussion siehe Rabinowitch, a. a. O., Kapitel 5, S. 121 ff.

(78) Trotzki, Leo: „Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedensvertrag“, a. a. O., S. 37

(79) Lenin, W. I.: „An das Zentralkomitee der SDAPR“, in: LW 25, a. a. O., S. 292 ff.

(80) Ebenda, S. 294 f.

(81) Ebenda, S. 295

(82) Ebenda

(83) Ebenda

(84) ders.: „Über Kompromisse“, in: LW 25, a. a. O., S. 313 ff.

(85) Ebenda, S. 314

(86) ders.: „Resolution zur Agrarfrage“, April 1917, in: LW 24, a. a. O., S. 283

(87) ders.: „Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll“, in: LW 25, a. a. O., S. 327-377

(88) Ebenda, S. 363

(89) Bone, Ann: „The Bolsheviks and the October Revolution: minutes of the Central Committee of the Russian Social-Democratic Labour Party (Bolsheviks) August 1917-February 1918“, London [Pluto Press], 1974, S. 78

(90) Lenin, „Die Bolschewiki müssen die Macht ergreifen“, in: LW 26, Berlin/Ost [Dietz], 2. Auflage, 1970, S. 1

(91) ders. „Aus dem Tagebuch eines Publizisten“, ebenda, S. 40 f.

(92) ders. „Sitzung des Zentralkomitees der SDAPR(B), 10. (23.) Oktober 1917“, in: LW 26, a. a. O., S. 178

(93) Bone, Ann: „The Bolsheviks and the October Revolution“, S. 89 -95

(94) Ebenda, S. 90

(95) Lenin, W. I.: „Aus dem Tagebuch eines Publizisten“, in: LW 26, a. a. O., S. 41

(96) ders.: „Brief an Vorsitzenden des Gebietskomitees der Armee, der Flotte und der Arbeiter Finnlands I.T. Smilga“, ebenda, S. 54

(97) ders.: „Die Krise ist herangereift“, in: LW 26, a. a. O.,  S. 65 f.

(98) ders.: „Brief an das ZK, das Moskauer Komitee, das Petrograder Komitee und an die bolschewistischen Mitglieder der Sowjets von Petrograd und Moskau“, in: LW 26, a. a. O., S. 125

(99) Siehe dazu Trotzki, Über Lenin, EVA, Frankfurt/Main 1964, S. 71 ff.

(100) Rabinowitch, Alexander: Rabinowitch, Alexander: „Die Sowjetmacht – Die Revolution der Bolschewiki 1917“, a. a. O., S. 329 f.

(101) Trotzki, Leo: „Geschichte der russischen Revolution“, a. a. O., S. 571 f.

(102) Ebenda, S. 618 f.

(103) Ebenda, S. 708

(104) Ebenda, S. 709