Kolumbien: Wahlniederlage der Rechten eröffnet nur neue Kampfetappe

Dave Stockton, Neue Internationale 266, Juli/August 2022

Der Sieg von Gustavo Petro und Francia Márquez bei den Wahlen zum Präsidenten und Vizepräsidentin in Kolumbien wurde auf den Straßen der Hauptstadt und anderer Städte mit Jubel begrüßt. Sie löste auch bei führenden Vertreter:innen des linken Flügels in ganz Lateinamerika Begeisterung aus. Der ehemalige brasilianische Präsident Lula da Silva erklärte, dass „ihr Sieg die Demokratie und die fortschrittlichen Kräfte in Lateinamerika stärkt“.

Der Erfolg des Pacto Historico (Historischer Pakt) ist in der Tat ein weiterer Sieg für das, was Kommentator:innen als neue Rosa Flut bezeichnen, und fügt sich in eine Liste ein, die nun Andrés Manuel López Obrador, „AMLO“, im Jahr 2018, Alberto Fernández in Argentinien im Jahr 2019, Luis Arce in Bolivien im Jahr 2020 und, in jüngerer Zeit, die Siege von Gabriel Boric in Chile und Pedro Castillo in Peru im Jahr 2021 umfasst. Dass nun auch Kolumbien hinzukommt, gilt als gutes Omen für einen Sieg Lulas bei den Wahlen in Brasilien im Oktober.

Doch weder in Kolumbien noch anderswo sind dies die radikalen Durchbrüche, die man sich im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts von Hugo Chávez oder Evo Morales und dem „Sozialismus des einundzwanzigsten Jahrhunderts“ erhoffte.

Ende der langen Vorherrschaft der Rechten

Nichtsdestotrotz markiert er das Ende der langen Vorherrschaft der harten Rechten in Kolumbien, symbolisiert durch den ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe, als Kolumbien die Basis für die Unterwanderung linker Regierungen in anderen Teilen des Kontinents war. Zu dieser Vorherrschaft gehörte auch ein fünfzigjähriger Krieg zwischen aufeinanderfolgenden Regierungen, die von brutalen rechten Paramilitärs unterstützt wurden, gegen die FARC- und ELN-Guerilla. Dieser endete jedoch 2016 mit dem unsicheren Friedensabkommen, das zwischen Präsident Juan Manuel Santos und der FARC in Havanna ausgehandelt wurde.

Der Linksruck ist Ergebnis der Massenaufstände von 2019 und 2021 gegen die verhasste Regierung von Iván Duque. Laut einer Umfrage des Instituts für Entwicklungs- und Friedensstudien wurden während des Paro Nacional (landesweiter Generalstreik) von 2021 mehr als 80 Menschen von Polizei und Militärs ermordet.

Infolge der Inflation ist der Lebensstandard von Millionen von Menschen stark gesunken. Nach offiziellen Angaben wies das Land mit 140.000 Todesfällen eine der höchsten COVID-Sterblichkeitsraten in der Region auf. Im gleichen Zeitraum wurden 3,6 Millionen Kolumbianer:innen in die Armut getrieben, und die Arbeitslosigkeit erreichte 2021 einen neuen Höchststand.

Der Pacto Historico, Petros linkspopulistisches Wahlbündnis, konnte sich an der gesamten Karibik- und Pazifikküste mit großer Mehrheit durchsetzen: Barranquilla (64,16 %), Cartagena (67,46), Cali (63,76) und Bogotá (58,59). Dennoch bleibt die kolumbianische Rechte extrem stark, nicht nur wegen der 48,0 % der Stimmen für ihren Kandidaten Rodolfo Hernández von der Bewegung LIGA (Liga de Gobernantes Anticorrupción; Liga für Regierende gegen Korruption), ehemaliges Mitglied der Partido Liberal (bis 2015), sondern auch wegen ihrer institutionellen Unterstützung in der Armee und der Polizei sowie der rechtsgerichteten Paramilitärs, die immer noch indigene Aktivist:innen ermorden.

Petro ist Gründer und Vorsitzender von Colombia Humana (Menschliches Kolumbien), einer Partei, die aus den Kommunalwahlen 2011 in Bogotá hervorging und sich auf eine große Zahl von Unterschriften stützte, um seine Kandidatur für das Bürgermeister:innenamt zu registrieren, die er auch gewann. Nach Beendigung seiner Amtszeit kandidierte er bei den Wahlen 2018 für das Amt des Präsidenten der Republik, wurde jedoch von der Wahlkommission abgelehnt. Die Partei war das Ziel von paramilitärischen Banden wie den Schwarzen Adlern, die allein im Jahr 2020 fast ein Dutzend ihrer Aktivist:innen ermordeten.

Einen weiteren wichtigen Faktor, der einen echten Wandel in Kolumbien verhindert, bildet der Einfluss, den die USA auf die repressiven Institutionen des Landes ausüben. Kolumbien ist seit den 1960er Jahren Ausgangspunkt für US-Interventionen in vielen südamerikanischen Ländern, darunter auch im benachbarten Venezuela unter Hugo Chávez und Nicolás Maduro. Am 20. Mai bezeichnete Joe Biden Kolumbien als „einen wichtigen Nicht-NATO-Verbündeten“ und versprach, die Streitkräfte des Landes weiterhin mit US-Mitteln zu unterstützen und mit ihnen im Sicherheitsbereich zusammenzuarbeiten. Zwei Tage nach seiner Wahl twitterte der designierte Präsident Petro: „Auf dem Weg zu einer intensiveren und normaleren diplomatischen Beziehung habe ich gerade ein sehr freundliches Gespräch mit US-Präsident Biden geführt“.

Pacto Historico

Petros Politik hat sich trotz seiner Mitgliedschaft in der Guerillagruppe M-19 in den 1980er Jahren längst zu einem respektablen Schwerpunkt auf Wahlen entwickelt. Wie andere „neue“ Führer:innen der Rosa Welle spricht er nicht mehr vom „Sozialismus des einundzwanzigsten Jahrhunderts“, sondern von der Notwendigkeit einer echten kapitalistischen Entwicklung für Kolumbien. Er behauptet, sein Ziel sei nicht der Sozialismus, sondern die Überwindung der „vormodernen“, „feudalen“ und „sklavenhalterischen“ Überbleibsel. Dies ist keine neue Idee, sondern eine Version der alten Etappentheorie des Stalinismus. Der Pacto Historico beinhaltet auch eine weitere stalinistische Strategie, die „Volksfront“, d. h. Reformen, die mit Hilfe der fortschrittlichen Teile der Bourgeoisie durchgeführt werden sollen. In diesem Sinne hat er davon gesprochen, „technokratische“ Führer:innen zu wählen, um eine Wirtschaftspolitik zu gewährleisten, die die Zustimmung der internationalen Institutionen findet, womit eindeutig der Internationale Währungsfonds gemeint ist.

Dies verheißt nichts Gutes für politische Maßnahmen, wie das in seinem Wahlprogramm versprochene allgemeine kostenlose Gesundheitssystem, für das seine Massenbasis gestimmt hat. Ein zusätzlicher Hemmschuh für die Sozialpolitik des neuen Regimes ist die Tatsache, dass Petro und Márquez über keine funktionierende Mehrheit in der Legislative verfügen werden. Auch hier macht er der rechten Mitte Avancen, indem er behauptet, er wolle „alle Kolumbianer:innen“ vertreten, begleitet von seiner typisch kränklich-sentimentalen Rhetorik über „Liebe für alle, Reiche und Arme“.

Während des Wahlkampfs bot Petro politische Allianzen mit verschiedenen etablierten bürgerlichen Persönlichkeiten an und präsentierte sich ihnen als jemand, der tatsächlich aus der Mitte heraus regieren würde. Er überließ es der schwarzen Aktivistin Francia Márquez, der Tochter eines Bergarbeiters aus einer der am stärksten marginalisierten Zonen des Landes, die Unterstützung von Arbeiter:innen, Bauern, Bäuerinnen und indigenen Basis- und sozialen Bewegungen aufzubauen.

Nach dem Höhepunkt der Mobilisierungen im April/Mai 2021 hat die Führung des Nationalen Komitees, das sich aus Arbeiter:innen-, Bauer:innen- und Student:innengewerkschaften zusammensetzte, die beiden landesweiten Streiks vom revolutionären Sturz der Regierung Duque, geschweige denn von einem Angriff auf den korrupten und mörderischen kolumbianischen Kapitalismus weggeführt und auf ein Wahlziel, die Kandidatur von Petro, ausgerichtet. Zahlreiche junge Aktivist:innen dieser Bewegung sitzen immer noch im Gefängnis, und Petro hat noch nicht auf die Forderungen nach ihrer Freilassung reagiert und bezeichnete die Demonstrant:innen sogar als „Krawallmacher:innen“.

Gleichzeitig verkündet er seinen Wunsch nach „Liebe zwischen allen Kolumbianer:innen“, sowohl den Reichen als auch den Armen. Das kann nichts anderes bedeuten als Klassenkollaboration zwischen den Ausbeuter:innen und Unterdrücker:innen und ihren Opfern. Eine nach dem Friedensabkommen mit der FARC eingesetzte Versöhnungskommission soll einen Bericht vorlegen. Doch wie für ihr Vorbild in Südafrika wird dies wahrscheinlich ein Mittel sein, um die von staatlichen und rechten Banden unter Uribe und früheren Präsidenten begangenen Verbrechen straffrei zu stellen.

Enttäuschung vorprogrammiert

Es ist sicher, dass Petro und Márquez in den kommenden Jahren oder sogar Monaten ihre Anhänger:innen enttäuschen und entfremden werden, wie die übrigen Vertreter:innen der Rosa Welle auf dem ganzen Kontinent. Zum zweiten Mal wird der Linkspopulismus zeigen, dass seine Politik der Klassenkollaboration, die auf der „Vermenschlichung“ des Kapitalismus beruht, einfach nicht funktionieren wird. Im Moment reden die Unternehmer:innen davon, Petro willkommen zu heißen und mit ihm zusammenzuarbeiten, aber in einer Zeit der wachsenden Wirtschaftskrise werden diese Kapitalist:innen, in- und ausländische, alles Positive, das die Regierung versucht, sabotieren. Ebenso wird der IWF die Regierung mit harten Bedingungen für etwaige Rettungspakete in die Schranken weisen. Daraufhin wird Petro ein Zugeständnis nach dem anderen machen und damit seine eigenen Anhänger:innen demoralisieren. Die einzige Antwort für die Arbeiter:innenklasse, Bauern, Bäuerinnen und indigene Bevölkerung in den Städten und auf dem Land ist die Wiederaufnahme der Mobilisierungen, der landesweiten Streiks, mit denen ein Programm radikaler Lösungen für die wirtschaftliche, soziale und ökologische Krise auf Kosten der Banker:innen, Geschäftsleute und Landbesitzer:innen gefordert wird.

Die Ausschüsse und Volksversammlungen, die die landesweiten Streiks mobilisiert haben, müssen wiederbelebt werden und zu unabhängigen Organisator:innen der Kämpfe geraten, um Petro und Márquez zu zwingen, ihre radikaleren Versprechen zu erfüllen. Sie müssen auch unabhängig sein von Colombia Humana, der Regierung und der Gewerkschaftsbürokratie, die mit ihnen zusammenarbeitet. Diese Unabhängigkeit muss in Form einer revolutionären Arbeiter:innenpartei politisch werden. Die o. a. Basisorganisationen müssen auch in der Lage sein, sich zu verteidigen und gegen die Sabotage der Bosse und die fortgesetzte Unterdrückung durch die Mörder:innenbanden zu wehren. Das bedeutet den Aufbau von Verteidigungsgruppen.

Die Massen haben gezeigt, dass sie in der Lage sind, es mit den eingeschworenen Organen der Rechten aufzunehmen. Jetzt müssen die Arbeiter:innenklasse und alle anderen Kräfte des Volkes, die bäuerlichen und indigenen Gemeinschaften, Frauen und Jugend, für einen wirklich revolutionären sozialen Wandel in Kolumbien mobilisieren. Dies wird zwar ein harter und gefährlicher Kampf sein, aber es ist der einzige Weg, der den Bedürfnissen der arbeitenden Menschen gerecht wird.




Vor 40 Jahren: der Malvinas-Krieg

Bernie McAdam, Infomail 1184, 12. April 2022

Vor vierzig Jahren führte die britische Tory-Regierung Margaret Thatchers einen unerklärten Krieg gegen Argentinien um die Kontrolle über die Malwinen oder, wie Großbritannien sie nennt, die Falklandinseln. Am 2. April 1982 befahl der argentinische Militärdiktator General Galtieri die Invasion sowohl der Malwinen als auch von Südgeorgien/Sandwichinseln. Beide Inselgruppen waren von Großbritannien abhängige Territorien im Südatlantik. Ein zehnwöchiger Krieg endete schließlich mit der Kapitulation der argentinischen Streitkräfte und der Rückgabe der Gebiete, nachdem 649 argentinische und 255 britische Militärangehörige getötet worden waren.

Die Tatsache, dass Großbritannien Inseln besaß, die über 8.000 Meilen entfernt lagen, war ein typisches Erbe seines riesigen Imperiums, das natürlich auf imperialer Plünderung und Diebstahl beruhte. Spanien hatte die Inseln zuvor besetzt, war aber nach dem argentinischen Unabhängigkeitskrieg, der 1818 endete und 1820 mit der Anerkennung der argentinischen Souveränität endete, gezwungen, sich zurückzuziehen. Die Inseln waren jedoch 1833 Argentinien genommen worden und wurden 1841 zur britischen Kolonie. Sie wurden von britischen Kolonist:innen besiedelt, deren Nachkommen und spätere Siedler:innen die 1.800 Einwohner:innen zur Zeit des Krieges ausmachten.

General Galtieri beanspruchte also, was Argentinien gestohlen worden war und es seit 1833 immer wieder für sich reklamiert hatte. Seine Invasion der Inseln war nicht durch antiimperialistische Prinzipien motiviert, auch wenn die meisten Argentinier:innen diese für gerechtfertigt hielten. Vielmehr wollte er damit von seiner Unbeliebtheit im eigenen Land ablenken, die vor allem auf die wirtschaftliche Not und die von seiner Junta verübten Verbrechen zurückzuführen war. Ein ebenso wichtiger Grund war sein Bestreben, die Souveränität über ein Gebiet auszuüben, das als reich an Bodenschätzen und Erdöl galt.

Die Reaktion Großbritanniens beruhte nicht zuletzt auf dem Wissen um die unerschlossenen Ressourcen der Region und auf der Geschichte der Malwinen als wichtiger Außenposten des Empire. Natürlich war der imperiale Stolz stark angekratzt, und Großbritannien wollte nicht als schwaches Glied unter den großen imperialistischen Mächten erscheinen, was die unterdrückten Völker in der ganzen Welt nur noch mehr ermutigen könnte. Die militärische Expedition und der Sieg hatten auch zur Folge, dass sich Thatchers damalige extreme Unbeliebtheit als „Eiserne Lady“ völlig umkehrte. Nachdem sie den „äußeren Feind“ besiegt hatte, konnte sie sich dem „inneren“ zuwenden: den Bergleuten, Hafenarbeiter:innen, Drucker:innen und linken Labour-Gemeinderäten.

Argentinien: eine Halbkolonie

Thatcher konnte die Kriegshysterie vor allem dank der Reaktion des „linken“ Labour-Führers Michael Foot anheizen. Obwohl er sich selbst als „Friedensstifter“ bezeichnete, entpuppte er sich im Krieg mit Argentinien als ausgesprochener Sozialimperialist, sobald die Interessen Großbritanniens bedroht waren. Im Unterhaus verhöhnte er Thatcher in infamer Weise dafür, dass sie einen Besitz der Königin an einen argentinischen Diktator verloren hatte, sowie für die jüngsten Kürzungen im Marinehaushalt. Außerdem verklärte er den Krieg als legitime Unterstützung für das Selbstbestimmungsrecht der Falkland-Insulaner:innen. Infolgedessen hielt sich der Widerstand gegen den Krieg sehr in Grenzen. Selbst unter denjenigen, die in der britischen Linken gegen den Krieg waren, setzten viele Großbritannien und Argentinien einfach als zwei kapitalistische Staaten gleich, die um Ressourcen konkurrierten.

Großbritannien ist jedoch ein imperialistisches Land, während Argentinien eine Halbkolonie ist und war. Es existierte damals wie heute in einer Weltwirtschaft, die von einer kleinen Zahl sehr mächtiger Staaten beherrscht wird. Marxist:innen stellen sich auf die Seite der Opfer der imperialistischen Ausbeutung, wenn es zu einer bewaffneten Konfrontation zwischen den Imperialist:innen und den unterdrückten Völkern kommt. Workers Power, die britische Sektion der Liga für die Fünfte Internationale, war fast die einzige linke Gruppe in diesem Land, wenn auch nicht international, die sich aus Solidarität mit Argentiniens historischem Recht auf die Inseln und zu seiner Verteidigung gegen Großbritannien gegen den Krieg stellte. Für uns, wie für viele in der argentinischen Linken, bedeutete dies keinerlei politische Unterstützung für Galtieri. Wir haben das Wesen und die Geschichte Argentiniens als Halbkolonie, die dem Imperialismus unterworfen ist, klar dargelegt.

Argentinien war von der kolonialen Knechtschaft unter Spanien zu einer nominellen Unabhängigkeit übergegangen, die jedoch zunehmend den wirtschaftlich mächtigeren Nationen untergeordnet wurde. Ausländisches Kapital dominierte die Wirtschaft, und in den 1870er Jahren wurde das britische Kapital zum wichtigsten Akteur, insbesondere in der lukrativen Fleischverpackungsindustrie. Lenin beschrieb 1916 in seinem Pamphlet zum Imperialismus den halbkolonialen Status Argentiniens, der das Land „fast zu einer britischen Handelskolonie“ machte. Die Rolle, die das Land bis nach dem Zweiten Weltkrieg bei der Versorgung der Märkte Großbritanniens und seiner Kolonien mit Nahrungsmitteln spielte, ermöglichte jedoch einen gewissen Wohlstand, relativ hohe Löhne und einen europäischen Lebensstandard für Teile der Arbeiter:innenklasse. Die Eisenbahnen, Häfen, Industrien und Banken des Landes und die Kredite, die sie an die Viehzüchter:innenbourgeoisie vergaben, führten jedoch dazu, dass Argentinien wirtschaftlich und damit letztlich auch politisch vom britischen und später US-amerikanischen Imperialismus beherrscht wurde.

Die einzige wirkliche Veränderung in dieser Beziehung zwischen dem Imperialismus und Argentinien vor dem Zweiten Weltkrieg war die zunehmende Verdrängung des britischen Kapitals durch US-Investitionen, die sich seither noch weiter ausgedehnt haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte Argentinien einen bedeutenden staatskapitalistischen Sektor. Aber auch dieser war von Krediten des ausländischen Finanzkapitals abhängig, was zu einer Verschuldung und wachsenden Rolle des Internationalen Währungsfonds in der Wirtschaft führte. So bleibt es eine Halbkolonie, keine gleichberechtigte kapitalistische oder rivalisierende imperialistische Macht.

Anfang der 1980er Jahre war es also hauptsächlich eine Halbkolonie der USA, aber die Hoffnung, dass diese es in einem Konflikt mit Großbritannien unterstützen würden, war vergebens. Nach krampfhaften Versuchen, eine diplomatische Lösung zu vermitteln, unterstützte Präsident Ronald Reagan das Vereinigte Königreich nach Kräften, indem er Raketen für die Harrier-Düsenjäger, Harpoon-Schiffsabwehrraketen, Mörser usw. bereitstellte und die US-Telekommunikationssysteme nutzte und vieles mehr.

Weitere Unterstützung für Großbritannien kam, als die Resolution 502 des UN-Sicherheitsrates am 3. April von den USA unterstützt wurde. Sie forderte Argentinien zum Rückzug auf und wurde mit 10 gegen 1 Stimme angenommen. Nur Panama war dagegen, und Spanien, die Sowjetunion, China und Polen enthielten sich der Stimme. Trotz der Aufforderung zu Verhandlungen war die UN-Resolution ein Sieg für Thatcher, da sie sich nur auf das argentinische Militär konzentrierte und die Frage offenließ, ob Großbritannien im Rahmen der UN-Charta zur Selbstverteidigung gehandelt hatte.

Der Krieg

Die Thatcher-Regierung versammelte rasch ihre Einsatztruppe und requirierte verschiedene zivile Schiffe, um ihre schrumpfende Marine zu verstärken, und die britische Luftwaffe richtete einen Stützpunkt auf der mittelatlantischen Insel Ascension ein. Zunächst wurde Südgeorgien zurückerobert. Eines der ersten Gefechte führte zum Untergang der General Belgrano, eines der größten, wenn auch ältesten Kriegsschiffe Argentiniens, bei dem 368 Menschen in den eisigen Gewässern des Südatlantiks umkamen. Da sich das Schiff außerhalb der vom Vereinigten Königreich verhängten Sperrzone befand, sich nicht in der Nähe der Einsatztruppen aufhielt und sogar in Richtung Argentinien zurückfuhr, stieß diese Aktion auf breite Kritik, insbesondere aus lateinamerikanischen Ländern und von der Antikriegsbewegung im Vereinigten Königreich.

Die britische Flotte erlitt erhebliche Verluste durch die argentinische Luftwaffe. Die HMS Sheffield wurde als erste versenkt, gefolgt von der HMS Coventry, der Ardent, der Antelope. Eine Exocet-Rakete traf das Transportschiff Atlantic und zerstörte eine große Menge an Material. Der Verlauf des Krieges hätte ganz anders aussehen können, wenn die argentinischen Bomben bei direkten Treffern auf mehreren anderen Schiffen explodiert wären. Aber die argentinische Seite erlitt erhebliche Verluste aus der Luft. Schließlich landete die britische Armee auf den Inseln, und es kam zu kurzen, aber heftigen Gefechten. Die argentinischen Streitkräfte kapitulierten am 14. Juni.

Reaktion der Linken

Der Labour-Vorsitzende Michael Foot machte sich einen Namen als „eingefleischter Friedensaktivist“ und marschierte viele Male mit der CND (Kampagne für nukleare Abrüstung). Doch als ein tatsächlicher Krieg ausbrach, war sein Pazifismus dahin und er unterstützte den Krieg Thatchers. Das Argument lautete, Galtieri sei nicht besser als ein Faschist und die Falkland-Insulaner:innen hätten ein Recht auf Selbstbestimmung. Workers Power argumentierte, dass Selbstbestimmung das Recht ist, einen eigenen unabhängigen Staat zu bilden. Diese Forderung erhoben die Falkland-Insulaner:innen nicht. Sie wollten Teil des britischen Empires bleiben, was Sozialist:innen nicht unterstützen sollten. Argentinien hatte sich von ihm die Inseln stehlen lassen.

Tony Benn von der Linken der Partei war gegen die Flotte und die Kriegsvorbereitungen, aber er setzte seine Opposition nicht in einer Abstimmung im Unterhaus durch. Als sich die Flotte nach Süden bewegte, wurden die Forderungen der Linken zunächst dahingehend geändert, dass die Einsatztruppe gestoppt werden sollte, anstatt sich zurückzuziehen. Dann, als die Aktion losbrach, in „für einen sofortigen Waffenstillstand“, wobei die Flotte vermutlich in Position bleiben sollte! Benn schlug auch Wirtschaftssanktionen gegen Argentinien vor, die im Grunde die gleichen Kriegsziele verfolgten wie Thatcher. Wie andere in der Labour-Führung forderte er die von den Imperialist:innen geführten Vereinten Nationen auf einzugreifen.

Alle großen linken Gruppen haben es versäumt, eine Position der Solidarität mit einer Halbkolonie, die von einer imperialistischen Macht angegriffen wird, zu vertreten, einschließlich Socialist Worker und Militant. Militant war besonders verwerflich, da es die Forderung nach einem Rückzug der Flotte oder gar dem Aufbau einer Antikriegsbewegung ablehnte. Soldat:innen wären schließlich Arbeiter:innen in Uniform! Die International Marxist Group war besser: Sie sprach sich zumindest für die Rückgabe der Malwinen an Argentinien aus, aber nicht für ausdrückliche Solidarität zu dessen Verteidigung. Wie die meisten Linken passten sie sich den Versuchen der CND an, eine Massenantikriegsbewegung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner aufzubauen, den diese in der Umsetzung der UN-Resolution 502 sah, die die Grundlage für Thatchers Kriegseintritt bildete!

In Wirklichkeit existierte keine demokratische Rechtfertigung für den Krieg. Die Inseln gehörten Argentinien, und Sozialist:innen unterstützen unterdrückte Nationen gegen imperialistische, unabhängig von ihren Regierungen. Neben einer Mobilisierung zur Bezwingung des Imperialismus auf den Malwinen mussten die argentinischen Arbeiter:innen den Kampf gegen ihre Unterdrücker:innen vertiefen, indem sie die imperialistischen Fabriken und Besitzungen enteigneten, sich weigerten, die internationalen Schulden zu bezahlen und den Sturz Galtieris als Teil dieses Kampfes zur Niederlage des Imperialismus durchsetzten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Thatchers Sieg eine große Niederlage für die Arbeiter:innen hierzulande bedeutete, da er den Chauvinismus innerhalb der Arbeiter:innenklasse verstärkte, die Labour-Partei in der Folge bei den Wahlen besiegte und Thatchers Ruf als Eiserne Lady stärkte. Auf der internationalen Bühne führte der Sieg auch zur Stärkung der imperialistischen Reaktion und verkörperte einen Schlag gegen antiimperialistische Kämpfe. Eine Niederlage Großbritanniens wäre ein Schlag für die Unterdrückten gegen den Imperialismus gewesen, deshalb haben wir sie gefordert. Die britische Linke hatte den Test des Internationalismus nicht bestanden.




Peru: Ein neues Muster für einen Putschversuch von rechts?

Markus Lehner, Neue Internationale 2021, Juli/August 2021

Offiziell waren die Präsidentschaftswahlen in Peru am 6. Juni gelaufen. Beim ersten Wahlgang Anfang April waren überraschenderweise der „linke“ Außenseiter Pedro Castillo (18,9 %) und die durch Korruptionsvorwürfe stark angeschlagene Establishment-Kandidatin Keiko Fujimori (13,4 %) vor allen anderen noch schwächer abgeschnitten habenden KandidatInnen gelegen. In der Stichwahl zwischen den beiden lag schließlich Castillo knappe 40.000 Stimmen (bei über 18 Millionen WählerInnen) vor Fujimori. Dieser enge Abstand führte zu einer Überprüfung durch die Wahlbehörden (in Peru das Jurado Nacional de Elecciones,, JNE; Nationales Wahlgericht). Das mag noch nachvollziehbar sein. Allerdings deutet die Dauer der „Überprüfung“ von über einem Monat samt der Mobilisierungen der Rechten darauf hin, dass hier etwas Tiefgehenderes vor sich geht.

Die Lage vor der Präsidentschaftswahl

Die Präsidentschaftswahl fand in einer äußerst zugespitzten Krisensituation statt. Erstens führten geringer werdendes Wirtschaftswachstum, das Sinken der Exporte und wachsende Schulden schon an sich in eine Wirtschaftskrise, die durch die Corona-Pandemie zum Desaster wurde. Zweitens mündete dies in einer enormen sozialen Krise. Der informelle Sektor stieg von ohnedies schon für Lateinamerika hohen 75 % der Bevölkerung auf an die 90 %. Ein Drittel der Bevölkerung lebt unter extremen Armutsbedingungen. Insbesondere in den ländlichen, von indigenen Menschen bewohnten Gebieten, aber auch in den Armutsvierteln der Hauptstadt Lima herrscht eine prekäre Versorgungslage für so gut wie alles. Drittens ist in der Pandemie das Gesundheitssystem praktisch zusammengebrochen. Peru hat mit fast 200.000 Toten bei 32 Millionen EinwohnerInnen die größte Corona-Opferzahl pro Kopf auf der Welt. Viele flüchteten aus den Städten, womit sich die Situation auf dem Land noch weiter verschlechterte.

Viertens befindet sich Peru seit mehreren Jahren in einer schweren politischen Krise. Die letzten 5 Jahre sahen 4 verschiedene Präsidenten und zwei Kongresswahlen. Die politischen Institutionen blockieren sich gegenseitig. Massenproteste gegen korrupte und unfähige Regierungen lösten sich mit Amtsenthebungsverfahren und Parlamentsauflösungen teilweise im Wochenrhythmus ab. Praktisch alle traditionellen Parteien sind diskreditiert oder befinden sich in Neuformierungsprozessen.

Die Linke

Schon 2011 war ein sogenannter Linker gegen Keiko Fujimori zum Präsidenten gewählt worden: der Ex-Offizier Ollanta Humala. Dieser hatte bei seinem Wahlantritt 2006 noch die „bolivarischen Revolutionen“ als Vorbild genannt, 2011 dann nur noch Brasiliens sozialdemokratischen Staatspräsidenten Lula da Silva. Den Versprechungen zur Verstaatlichung des Bergbaus und zum Ausbau des Sozialsystems folgte dann jedoch nichts – außer dass Humala seit Ende seiner in einen schwerwiegenden Korruptionsprozess rund um den brasilianischen Odebrecht-Konzern verstrickt ist. Die linksnationalistische UPP (Unión por el Perú; Union für Peru) genauso wie die traditionelle peruanische Partei des Linksnationalismus, die APRA (Alianza Popular Revolucionario Americana; Amerikanische Revolutionäre Volksallianz), sind seither diskreditiert und an den Rand des politischen Geschehens gedrängt.

Seit 2013 wurde damit die „Frente Amplio“ (Breite Front) zur stärksten parlamentarischen Kraft der Linken. Sie war ein Bündnis der kommunistischen Partei, mehrerer sozialdemokratischer und grüner Parteien sowie linksbürgerlicher Gruppierungen. Bei den Parlamentswahlen 2016 erhielt sie 20 von 130 Sitzen im Kongress. Ihre bekanntesten Führungsfiguren sind einerseits die Sozialistin Verónika Mendoza und der Priester und Umweltaktivist Marco Arana. Aufgrund des Versuchs von Arana, die Front mehr oder weniger in eine von ihm geführte grüne Partei umwandeln zu wollen, spaltete sich der Wahlblock. Die sozialistisch orientierten Parteien formten neue Wahlallianzen, die 2021 als „Gemeinsam für Peru“ (Juntos por el Perú, JPP) antraten, mit 7,8 % für Mendoza als deren Spitzenkandidatin (bei der Wahl 2016 hatte sie noch über 18 % erhalten).

Überraschenderweise etablierte sich 2021 jedoch die bis dahin eher unbekannte Partei Perú Libre (Freies Peru) als stärkste „linke“ Kraft. Diese Partei war ursprünglich das Produkt eines Provinzgouverneurs, Vladimir Cerrón, der damit über seine randständige Provinz Junin (im zentralen Hochland von Peru) ein nationales Standbein aufbauen wollte. Auch wenn er seiner Partei nach außen ein „marxistisches“ und „leninistisches“ Profil gab, war er zu eigentümlichen Wahlbündnissen z. B. mit der libertären Partei bereit (seine Präsidentschaftskandidatur 2016 blieb aber jenseits der Wahrnehmungsschwelle). Aufgrund schwerwiegender Korruptionsvorwürfe in Zusammenhang mit seiner Gouverneurstätigkeit war aber klar, dass er selbst nicht für die Partei zur Wahl 2021 antreten konnte.

Zunächst wurde mit der JPP über eine gemeinsame Kandidatur verhandelt, die aber in dieser wegen des „kriminellen“ Rufes von Cerrón auf große Vorbehalte stieß. Daher entschloss man sich schließlich, getrennt anzutreten und für die Perú Libre Pedro Castillo aufzustellen – der kein Berufspolitiker ist, sondern Grundschullehrer. Landesweite Bekanntheit erlangte er 2017 als kompromissloser und der Basis verpflichteter Anführer des Lehrerstreiks. Damals schon verband er die gewerkschaftlichen Forderungen der LehrerInnen mit einer Anprangerung des Elends der SchülerInnen selbst, mit dem die Schulen vollkommen überfordert sind. Seine Glaubwürdigkeit als unbestechlicher Anwalt der sozial Schwachen katapultierte Castillo in der Situation der aktuellen Krise sofort an die Spitze der Umfragen zur Präsidentschaftswahl.

Auch wenn die Rechte bis zur Stichwahl eine Unmenge an antikommunistischer Polemik gegen Castillo lostrat, konnte dies offensichtlich seine Popularität insbesondere in den sozial benachteiligten Regionen von Peru, aber auch in den Armenvierteln von Lima nicht entscheidend schwächen. Dabei sind weder seine Partei Perú Libre noch Castillo selbst eine gefestigte linke Kraft. Seine Wahlversprechen drehten sich um eine „neue Verfassung“, die die neoliberalen Reformen der Fujimori-Zeit zurückdrehen sollte, und um die Verstaatlichung des Bergbausektors – nichts anderes als das, was zuvor auch die LinksnationalistInnen wie Humala versprochen hatten. Dazu kommt, dass Castillo abseits der sozialen Forderungen ein äußerst konservatives Programm vertritt: gegen eine Liberalisierung des strengen Abtreibungsrechtes, gegen die Homo-Ehe, gegen eine Beschränkung der Vorrechte der katholischen Kirche etc. Skandalös war auch ein Interview, in dem er die fürchterlichen Ausmaße der Femizide in Peru herunterspielte und diese als Auswuchs von Langeweile wegen der hohen Arbeitslosigkeit verharmloste.

Hinzu kommt, dass Perú Libre zwar jetzt auch stärkste Partei im Kongress ist (mit 37 von 130 Abgeordneten), aber stark auf Koalitionspartnerinnen, auch jenseits der JPP, angewiesen ist. Letztere stellt zudem gegenüber der Newcomerpartei PL auch sehr viel mehr „ExpertInnen“ für die Regierungsarbeit. Daher stammen auch bereits die wichtigsten WirtschaftsberaterInnen von Castillo aus diesem Teil des politischen Establishments. Und natürlich haben sie Castillo bereits Erklärungen zu Themen Verstaatlichung der Bergbauindustrie diktiert, die die globalen Märkte beruhigt haben. Man muss nur ins Nachbarland Chile blicken, um zu sehen, wie auch der Prozess der Bildung einer verfassunggebenden Versammlung in vom Kapital kontrollierte Bahnen gelenkt werden kann.

Die Rechte

Die entscheidende politische und ökonomische Wende in Peru, die mit den verschiedenen Experimenten des Linksnationalismus gebrochen hat, vollzog sich in den 1990er Jahren unter Keiko Fujimoris Vater Alberto. Wie in ganz Lateinamerika kam es mit dem „verlorenen Jahrzehnt“ in den 1980er Jahren zu einem völligen Buch mit dem Modell der sog. importsubstituierenden Industrialisierung. In Peru speziell bedeutete dies die völlige Abkehr von staatlicher Industrialisierung und den Ausverkauf der natürlichen Ressourcen des Landes an internationale Konzerne. Marktliberalisierung und Neoextraktivismus gingen einher mit Abbau von Gewerkschaftsrechten, von sozialen Sicherungssystemen und einer extrem brutalen militärischen Bekämpfung jeglichen Widerstands, nicht nur der atavistischen maoistischen Guerilla des „Leuchtenden Pfades“. Bei Letzterem entwickelte das Fujimori-Regime auch einen extremen Rassismus gegen indigene Menschen, der bis zu Zwangssterilisierungsprogrammen führte. Fujimori ist überhaupt ein Beweis dafür, wie eng Rassismus und Liberalismus in Wirklichkeit immer noch verbunden sind.

Auch wenn er später bei Teilen des Establishments in Ungnade fiel (er wurde 2009 aufgrund seiner offensichtlichen humanitären Verbrechen zu 25 Jahren Haft verurteilt), so wurde von keiner der folgenden Regierungen grundlegend etwas am neoliberalen Zuschnitt seiner Reformen verändert. Auch Castillos Versprechen, eine Verfassung zu begründen, die das „System Fujimori“ beendet, wird nicht umzusetzen sein, wenn es nicht eine grundlegende Umwälzung der Eigentumsverhältnisse samt Zerschlagung des bestehenden (bewaffneten) Staatsapparates geben sollte.

Allerdings ist offensichtlich, dass selbst die sehr vagen Ankündigungen von Castillo für die Herrschenden in Peru einen Grund zur Nervosität liefern. Dies war schon sichtbar an der krassen antikommunistischen Rhetorik während des Wahlkampfes, mit der die Gefahr eines neuen Venezuela beschworen wurde. Nach dem knappen Wahlerfolg von Castillo am 6. Juni setzte dann eine beispiellose Kampagne gegen die drohende Amtsübernahme durch den „Kommunisten“ ein.

Die „Betrugs“-Kampagne

Schon Donald Trump hat gezeigt, wie heutzutage die extreme Rechte mit Wahlen umgeht. Ein nicht passendes Wahlergebnis wird einfach als Betrug deklariert und alle entgegenstehenden Beweise werden als Fälschungen abgewiesen. Der Wahrheitsgehalt ist dabei nicht entscheidend, sondern die Massivität der Mobilisierung für den Wahlfälschungsvorwurf, der eine genügend umstürzlerische Wirkung entfalten muss. Dabei spielen Rassismus und Klassenhass eine wesentliche Rolle. Das Zentrum des Wahlbetrugsvorwurfs ist eigentlich, dass bestimmte „minderwertige“ Menschen gar nicht wählen können dürften bzw. sich das Wahlrecht irgendwie „unrechtmäßig“ erschwindelt hätten. Dazu kommen natürlich große „globalistische“ Verschwörungen, die die Wahlmaschinen oder die Wahlbeobachtung manipuliert hätten (der antisemitische Unterton mag dabei einmal offener, einmal wenig zum Vorschein kommen).

Auch in Peru sind die Beweise für Wahlbetrug praktisch nicht vorhanden. Alle WahlbeobachterInnen haben dem Verfahren ein mustergültiges Zeugnis ausgestellt. Selbst die sonst bei linken Erfolgen eher „kritischen“ BeobachterInnen der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) oder der USA haben nichts von Betrug wahrgenommen. Trotz alledem hat Fujimori eine wahre Armada der besten AnwältInnen des Landes aufstellen können, die das Wahlgericht mit Klagen im Umfang von 200.000 Stimmen überrollt hat. Auch wenn dieses bisher nichts gefunden hat, das größere Unregelmäßigkeiten erkennen lässt, wurde damit genug Sand ins Getriebe geworfen, um parallel mit rechten Massenprotesten starten zu können. Ein immer größer werdender rechter Mob droht mit immer aggressiveren Ausschreitungen – bei den Kundgebungen werden die Konquistadorenkreuze zusammen mit dem Hitlergruß gezeigt, um zu betonen, dass Peru „europäisch“ ist und nicht in die Hände „kommunistischer Indios“ kommen dürfe. Dazu kommen Aufrufe tausender Ex-Militärs, die ihre aktiven KameradInnen dazu auffordern, „Peru vor dem Kommunismus“ zu retten. Auch Nobelpreisträger wie der Dichter Vargas Llosa erklären sich inzwischen für den Eingriff des Militärs zur „Rettung des Vaterlands“. Tatsächlich ist bei einer weiteren Verzögerung der Verkündung des endgültigen Wahlresultats und gleichzeitiger Paralyse des Kongresses ein Eingreifen des Militärs womöglich nicht mehr in weiter Ferne.

Die Antwort der ArbeiterInnenklasse

Die rechte, antidemokratische Mobilisierung muss mit aller Macht in die Schranken gewiesen werden. Bei aller Kritik an Castillo und den linksreformistischen und populistischen Parteien, die er vertritt, müssen die demokratischen Rechte samt der Anerkennung von Wahlergebnissen verteidigt werden. Dies bedeutet auch, dass gegen die gewaltsamen Proteste der Rechten auch entsprechende Massenmobilisierungen und Selbstverteidigungsauschüsse von ArbeiterInnen, Indigenen, der ländlichen Armut sowie aller anderen unterdrückten Sichten der Gesellschaft organisiert werden müssen. Gegen jegliche Versuche, die demokratischen Rechte auf autoritäre Weise – sei es durch einen Militärputsch oder durch eine Aberkennung des Wahlsiegs durch die Wahlkommission – zu unterdrücken, muss der Generalstreik auf Grundlage der Basisorgane des Gegenprotestes und der Gewerkschaften organisiert werden. Diese Mobilisierung der ArbeiterInnen, Indigenen und armen Bauern/Bäuerinnen muss auch genutzt werden, um die von Castillo versprochene verfassunggebende Versammlung in ein Organ zu verwandeln, deren Wahl und Einberufung von ebendiesen Organen kontrolliert und überwacht wird.

In einer solchen verfassunggebenden Versammlung müssten RevolutionärInnen einen offenen Kampf für eine sozialistische Umwandlung, für die Enteignung des peruanischen und ausländischen Großkapitals unter ArbeiterInnenkontrolle, für die Streichung der Auslandschulden und die Enteignung des Großgrundbesitzes führen. Sie müssten für einen Sofortplan zur Bekämpfung von Armut und Pandemie eintreten.

Um dies zu sichern, wird der Kampf selbst den Rahmen einer solchen Versammlung sprengen müssen. Für eine sozialistische Umwälzung muss der bestehende bürgerliche Staats- und Repressionsapparat zerschlagen werden und die einfachen SoldatInnen müssen auf die Seite der Massen gezogen werden, indem sie sich weigern, den putschistischen Gelüsten der Rechten zu folgen und SoldatInnenkomitees und -räte bilden, die unabhängig vom militärischen Kommando agieren. Vor allem aber müssen die Strukturen des Kampfes gegen einen möglichen Putsch und für entschiedene Reformen in Räte und bewaffnete Organe zur Verteidigung dieser Umwälzung weiterentwickelt werden. Angesichts des Zustandes der Linken in Peru wird diese Zielsetzung letztlich nur erreicht werden können, wenn sich im Kampf um proletarische Unabhängigkeit in dieser Linken eine tatsächliche revolutionäre ArbeiterInnenpartei herausbildet, um diesen zum Sieg zu führen!




Brasilien – ein Pulverfass

Liga Socialista (Brasilien), Neue Internationale 255, Mai 2021

Was wir heute in Brasilien erleben, ist die Fortsetzung des Putsches von 2016, der die Präsidentin Dilma (ArbeiterInnenpartei; PT) stürzte. Es war nicht nur ein Putsch gegen die PT-Regierung, sondern ein gegen die gesamte ArbeiterInnenklasse gerichteter. Gleich nach seinem Amtsantritt versuchte Temer (Brasilianische Demokratische Bewegung; MDB), eine Rentenreform zu verabschieden, aber die Mobilisierung des Volkes stoppte ihn. Temer schaffte es jedoch mit List, die Arbeitsreform durchzusetzen.

Nachwehen des kalten Putsches von 2016

Bei den Wahlen 2018 wurde Lula ohne Beweise verurteilt und rechtswidrig verhaftet. Der STF (Oberster Bundesgerichtshof) gewährte damals keinen Habeas Corpus (Freilassung aus widerrechtlicher Haft) und verbot Lula die Teilnahme am Wahlkampf. Die wichtigsten Parteien der Bourgeoisie wurden bei den Wahlen besiegt und ihr Hauptkandidat, Alckmin (Sozialdemokratische Partei Brasiliens; PSDB), scheiterte vor der zweiten Runde, die zwischen dem Neofaschisten Bolsonaro und dem Kandidaten der ArbeiterInnenpartei, Haddad, ausgefochten wurde. In diesem Moment schloss sich die Bourgeoisie mit ihrem Hass auf die PT der Kampagne von Bolsonaro an, der am Ende gewann.

Aus all diesen Gründen haben wir heute in Brasilien eine Regierung, die die Wissenschaft leugnet, die BeamtInnen zu großen FeindInnen der Nation erklärt, die öffentliche Versammlungen und die Nichtverwendung von Masken fördert. Für Bolsonaro ist Covid nur eine „kleine Grippe“.

Damit hat Brasilien jetzt über 320.000 Covid-Tote erreicht und heute den Rekord von 3.869 Toten pro Tag gebrochen. Das medizinische System bricht in vielen Teilen des Landes zusammen, vor allem in Bezug auf die Intensivstationen, aber auch die pharmazeutische Grundversorgung.

Lula rehabilitiert

Der STF entschied nun in einem außergewöhnlichen Urteil zum „lava jato“-Prozess („Autowäsche“; milliardenschwerer Korruptionsskandal), dass die Gerichtsbarkeit von Curitiba (Bundesstrafgericht, dessen Staatsanwaltschaft Verstöße gegen Rechtshilfeabkommen und illegale Zusammenarbeit mit dem FBI vorgeworfen werden) nicht über die Kompetenz verfügt, in den Fällen gegen Lula zu urteilen. Kurz darauf erließ eine weitere außergewöhnliche und umstrittene Entscheidung des STF, dass Richter Sergio Moro im Verfahren gegen Lula befangen war, und hob damit das Verfahren gegen Lula im „lava jato“ auf.

Mit dieser Entscheidung rehabilitiert der STF die politischen Rechte Lulas. Die Linke erhielt unerwartet Auftrieb, Lula hielt mehrere öffentliche Reden, und die PT-AnhängerInnen schöpften wieder Hoffnung und sehen nun die Möglichkeit einer Kandidatur Lulas im Jahr 2022. Auf der anderen Seite wandte sich ein Teil der Bourgeoisie gegen Bolsonaro und veröffentlichte ein Dokument gegen ihn, das von BänkerInnen, Geschäftsleuten und renommierten ÖkonomInnen unterzeichnet wurde. Diese Gruppe wendet sich an den Kongress und bewirkt, dass der Centrão (der große Sumpf der Mitteparteien im Kongress, die für jede Mehrheit im aktuellen Parlament gewonnen werden müssen), der bis dahin die Regierung unterstützt hatte, beginnt, sich zurückzuziehen.

Bolsonaros politischer Amoklauf

Bolsonaro, in totaler Verwirrung angesichts der Bedrohung durch eine Lula-Kandidatur und unter dem Druck seiner Basis, beginnt, nach allen Seiten zu schießen. Er droht damit, den Belagerungszustand über das Land zu verhängen und ruft die Streitkräfte zur Unterstützung an, droht sogar mit der Schließung von STF und Kongress. Aber er war überrascht, als die Streitkräfte klarstellten, dass sie die Bundesverfassung verteidigen und sich niemals an einer Handlung beteiligten, die diese negieren oder zu einer totalitären Regierung führen würde.

Angesichts dessen kam es zu einem Meutereiversuch der Bolsonaro nahe stehenden Militärpolizei im Bundesstaat Bahia, der von der PT regiert wird. Der Aufstandsversuch, der sich auf andere Bundesstaaten ausweiten sollte, wurde frühzeitig entlarvt und die Polizistkräfte zogen sich zurück. Dies war eine Aktion, die von Abgeordneten aus Bolsonaros Basis gefördert wurde, um GouverneurInnen anzugreifen, die eine Corona-Sperre verhängt haben.

In den Querelen innerhalb der Regierung entband Bolsonaro den Verteidigungsminister Fernando Azevedo von seinem Amt, der mit den Worten abtrat, er wolle „nicht wiederholen, was er im Mai letzten Jahres erlebt hat“, als Bolsonaristas (Bolsonaros AnhängerInnen) auf die Straße gingen, ein militärisches Eingreifen forderten und den STF angriffen.

Der Armeekommandant Edson Pujol wurde ebenfalls entlassen bzw. reichte seinen Rücktritt ein. Die Streitkräfte hatten ein Treffen und zogen alle ihre Kader aus der Regierung zurück. Es ist eine sehr komplizierte Situation mit verschiedenen Interpretationen. Für einige AnalystInnen stellt sie ein Manöver des Centrão dar, um mehr Posten in der Regierung zu erhalten. Es besteht auch die Möglichkeit, dass die Streitkräfte den Sturz von Bolsonaro planen, damit sein Vizepräsident, Ex-General Mourão, die Präsidentschaft übernimmt. Aber in dieser Situation könnte es eine Reaktion von Bolsonaristas geben, hauptsächlich von der Militärpolizei, die zwar Bundesstaatenpolizei ist, sich aber in ganz Brasilien als Anhängerin Bolsonaros zeigt.

Krise mit ungewissem Ausgang

Alles kann passieren, von einer neuen Vereinbarung zwischen den Kräften, die die Regierung Bolsonaro bilden, bis hin zu einer Meuterei der Polizei und einer Konfrontation zwischen Polizei und Streitkräften. Verschlimmert wird die Lage dadurch, dass sich die Armut im Land ausbreitet und die Grundversorgung mit Lebensmitteln in immer mehr Regionen nicht mehr funktioniert. Die Reaktion derjenigen, die von der Krise betroffen sind, kann jeden Moment erfolgen.

Einige wissenschaftliche Untersuchungen berichten, dass es etwa 15 Millionen BrasilianerInnen gibt, die am schwerwiegenden Problem der Fehl- und Unterernährung leiden. In mehreren Großstädten bilden sich riesige Schlangen vor den Stellen, an denen kostenlose Mahlzeiten ausgegeben werden, denn die meisten Armen können mit den kleinen Rationen der Nothilfe nicht überleben.

Da die Linke jedoch keine Richtung vorgibt, schließen sich womöglich viele der Armen  Rechtspopulismus und sogar Faschismus an, die sie davon überzeugen, dass die Wirtschaftskrise im Land von den „KommunistInnen“ (einschließlich rechter GouverneurInnen!) und „Petistas“ (Mitglieder und AnhängerInnen der PT) verursacht wird, die die Menschen an der Arbeit hindern – wegen der „hysterischen Maßnahmen“ (Lockdown) zur Abwehr der Pandemie.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Brasilien ein Pulverfass ist, und es kann sein, dass Bolsonaro selbst die Lunte anzündet. In Streitkräfte und Centrão darf es keine Illusionen geben. Wenn sich die Krise noch weiter zuspitzt, könnte die Bourgeoisie zu irgendeiner Form des Ausnahmezustands oder einer anderen autoritären Form der Krisenpolitik greifen einschließlich eines Putsches der faschistischen Kräfte um Bolsonaro (z. B. in der Militärpolizei und den Milizen). Darauf muss die Linke vorbereitet sein und demokratische Grundrechte verteidigen.

Perspektive

Es muss eine Einheitsfront aufgebaut werden, um einem solchen autoritären Versuch entgegenzutreten und ihn mit einem Generalstreik unter Kontrolle der einfachen Mitglieder der Gewerkschaften und der Organisationen der arbeitenden Armen in den Städten und auf dem Land zu beantworten. Gleichzeitig muss der Kampf gegen die Pandemie und die schwere Wirtschaftskrise kombiniert werden, indem den Bolsonaristas und den korrupten Kräften in Gestalt der bürgerlichen GouverneurInnen die Kontrolle über die Antikrisen- und Antipandemie-Maßnahmen entzogen wird.

Ein solidarischer Lockdown von nicht lebensnotwendigen Teilen der Wirtschaft muss mit der Übernahme der Kontrolle über die Lebensmittelversorgung der Armen und Arbeitslosen und einem Notfallplan für das kollabierende Gesundheitssystem kombiniert werden. Nicht „Lula 2022“, sondern der Kampf für eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung, die die Kontrolle über ein solches Programm übernimmt, ist der Ausweg aus der Pulverfass-Situation!




Die Wahlen in Bolivien: Niederlage des Putsches von 2019

Liga Socialista, Brasilien, Neue Internationale 251, November 2020

Ein Jahr, nachdem sie den bolivianischen Präsidenten Evo Morales gestürzt hatten, haben die rechten und rechtsextremen Parteien, die den Putsch mit Unterstützung und Ermutigung des Weißen Hauses und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) organisiert und angeführt hatten, eine verheerende Wahlniederlage erlitten. Ihre usurpierende Präsidentin, Jeanine Áñez, die Mitte September als Kandidatin zurücktrat, musste nachgeben. Sie muss sich nun wegen der Tötung von 30 Menschen während des Putsches im vergangenen Jahr, insbesondere der Massaker in Senkata, Sacaba und Yapacaní, verantworten.

Wahlergebnis

Nach Wahlschluss am Donnerstag, dem 22. Oktober, wurden Luis Arce und David Choquehuanca Céspedes von der Movimiento al Socialismo (MAS; Bewegung zum Sozialismus) im ersten Wahlgang mit 55,1 Prozent der Stimmen für gewählt erklärt. Carlos Mesa von der konservativen Comunidad Ciudadana (Bürgergemeinschaft) lag mit 28,83 Prozent auf dem zweiten und Luis Fernando Camacho, Kandidat der ultrarechten Creemos (Wir glauben) mit 14 Prozent auf dem dritten Platz. (TSE – https://computo.oep.org.bo/)

Die MAS hat nun den Vorsitz und eine klare Mehrheit sowohl im Senat als auch im Repräsentantenhaus. Dieser Sieg der Linken wird von den Volkskräften in ganz Lateinamerika begrüßt werden, wo die Rechte in den letzten Jahren in der Offensive war.

Die Spaltungen zwischen der rechtskonservativen Comunidad Ciudadana und der rechtsextremen Creemos trugen zum Ausmaß der Niederlage bei. Letzteres ist ein klerikales, rechtsextremes Bündnis mit Sitz im südlichen Departamento Santa Cruz, das von der Unión Juvenil Cruceñista (UJC; Jugendunion von Santa Cruz) unterstützt wird, einer faschistischen Bewegung, die in Terroranschläge auf VolksaktivistInnen verwickelt ist.

Weitere wichtige Faktoren waren der chaotische Umgang von Áñez und ihrer Regierung mit der Coronavirus-Pandemie und der Wirtschaftskrise, ihre Sparpolitik, die Privatisierung von Gesundheit, Bildung und natürlichen Ressourcen sowie ihre Angriffe auf die Rechte der indigenen Mehrheitsbevölkerung Boliviens. Nicht zuletzt war es der seit einem Jahr anhaltende Volkswiderstand, der erneut zum Sieg der linkspopulistischen MAS führte.

Für alle?

Bei folgender Erklärung des designierten MAS-Präsidenten Luis Arce sollten die Alarmglocken läuten: „Wir werden für alle BolivianerInnen regieren und eine Regierung der nationalen Einheit errichten.“ Dies ist die typische reformistische Sehnsucht nach Klassenzusammenarbeit, aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Rechte positiv darauf reagiert. Auf internationaler Ebene fühlten sich jedoch alle Kräfte, die den Staatsstreich unterstützten, einschließlich der OAS, des Weißen Hauses und der Europäischen Union, verpflichtet, Arce zu gratulieren. Sogar Trump antwortete mit den Worten: „Wir hoffen, in unserem gemeinsamen Interesse arbeiten zu können.“

Laut G1-Globo versuchte der Generalsekretär der OAS, Luis Almagro, sich mit dem Argument zu rechtfertigen, dass es keine Ähnlichkeiten zwischen diesen und den 2019 annullierten Wahlen gebe. „Es gibt keine Parallele, es ist nicht sehr klug, diese Parallele zu ziehen.“ (https://g1.globo.com/mundo/noticia/2020/10/23/bolsonaro-e-o-unico-lider-de-um-pais-vizinho-da-bolivia-que-nao-cumprimentou-luis-arce-pela-vitoria.ghtml)

Noch weniger schlau ist es, das Offensichtliche zu leugnen, nämlich dass der Putsch auf einem zynischen Betrug beruhte und zu Dutzenden von Toten sowie zur Festnahme und Inhaftierung von AktivistInnen der Volksbewegungen führte.

Niemand sollte jedoch vergessen, dass die Figuren, die den Putsch im Oktober 2019 durchgeführt haben, nach wie vor die Armee, die Polizei, die Justiz und die Geheimdienste kontrollieren und ihre Verbindungen zum US-Militär und zum Weißen Haus intakt und wirksam sind.

Darüber hinaus ist die MAS als Verteidigung gegen die Kräfte des internationalen Kapitals und des Imperialismus nicht zuverlässiger als vor 2019. Letztere scheinen gar zu hoffen, dass die Regierung angesichts der Pandemie und der Wirtschaftskrise die sie unterstützenden Massen rasch enttäuscht und den Weg für eine weitere Machtübernahme durch die Rechte öffnet.

Die sozialen Kräfte, die ArbeiterInnen, armen Bauern und Bäuerinnen und indigenen Gemeinschaften, die den „Wasserkrieg“ von 2000 und den „Gaskrieg“ von 2003 geführt und mobilisiert haben, um den Staatsstreich vom vergangenen Oktober zu stoppen, werden erneut mobilisieren müssen, wenn die Kräfte der Reaktion entwaffnet und die Kompromisskräfte, die MAS-FührerInnen, daran gehindert werden sollen, die reichhaltigen natürlichen Ressourcen des Landes, wie die riesigen Lithiumvorkommen, an die multinationalen Konzerne zu verkaufen, die das Land geplündert haben.

Der Putsch von 2019

Am 20. Oktober 2019 wurde bekannt gegeben, dass Evo Morales (MAS) für eine vierte Amtszeit als Präsident von Bolivien wiedergewählt wurde. Mit 47 Prozent der Stimmen und einem Vorsprung von mehr als 10 Prozent gegenüber dem zweitplatzierten Kandidaten Carlos Mesa, der 36,51 Prozent der Stimmen auf sich vereinte, wurde Morales als direkt gewählt erklärt, da es nach dem bolivianischen Wahlgesetz keinen zweiten Wahlgang geben muss, wenn ein/e KandidatIn mehr als 40 Prozent der Stimmen erhält und einen Vorsprung von 10 Prozentpunkten oder mehr gegenüber dem/r nächsthöheren KandidatIn einnimmt.

Verwirrung entstand auf Grund der Methode der Stimmenauszählung in Bolivien, die eine schnelle vorläufige Auszählung (TREP) auf der Grundlage von Auszählungslisten der einzelnen Departamentos vorsieht, auf die dann die offizielle Auszählung jeder Stimme (cómputo) folgt. Nur letztere gilt als entscheidend. Obwohl auf Diskrepanzen hingewiesen und die vorläufige Auszählung gestoppt worden war, wurde Morales schließlich mit einem Vorsprung von 10 Prozent zum Sieger erklärt, wodurch die Notwendigkeit einer zweiten Runde vermieden werden konnte.

Sobald die rechte Opposition erkannte, dass ihre Niederlage unvermeidlich war, begann sie, den Vorwurf des Wahlbetrugs zu erheben. Aus Protest mobilisierte sie tumultartige Demonstrationen und riefen ihre AnhängerInnen auf, auf der Straße zu bleiben, bis ein zweiter Wahlgang zugestanden würde. Bald füllten riesige Gegendemonstrationen von MAS-AnhängerInnen die Straßen von La Paz und ein unbefristeter Generalstreik wurde ausgerufen. Angesichts der umstrittenen Auszählung und der kollidierenden Mobilisierungen gab die MAS-Regierung dem Druck nach und forderte eine externe Überprüfung der Wahl.

Die OAS erklärte am 23. Oktober, dass die beste Option die Durchführung der zweiten Runde sei. Auch die Europäische Union rief zu einer zweiten Runde auf. Am selben Tag erklärte Carlos Mesa, dass er die vom Obersten Wahlgericht (TSE) bekannt gegebenen Ergebnisse nicht anerkenne und kündigte die Bildung einer „Koordination zur Verteidigung der Demokratie“ an, um auf die Durchführung des zweiten Wahlgangs zu drängen.

Zuspitzung

Auf Grundlage der von der TSE veröffentlichten Ergebnisse versuchte Morales, die immer radikaler werdenden Bewegungen der Straße zu überstehen. Doch die Polizei, aber auch Teile der Streitkräfte sowie rassistische und rechte, fundamentalistische Kräfte schlossen sich den PutschistInnen an. Ihre Straßenaktionen wurden immer gewalttätiger, wobei auch PolitikerInnen und ihre Angehörigen, die mit Evo in Verbindung standen, entführt wurden. Dutzende von Menschen wurden in diesen Tagen getötet und verwundet.

Wir kommen nicht umhin, auch auf die skandalöse Tatsache hinzuweisen, dass der Central Obrera Boliviana (COB; Dachverband der bolivianischen Gewerkschaften) den Putsch zunächst unterstützte. Am 10. November „trat“ Morales angesichts der Konfrontationen auf den Straßen und einer Meuterei von Polizei und Streitkräften von der Präsidentschaft zurück und floh mit seinem Vizepräsidenten Álvaro García Linera außer Landes. Morales prangerte den Putsch aus seinem politischen Asyl in Mexiko, Kuba und schließlich Argentinien an.

Am 12. November erklärte sich Jeanine Añes auf einer Sitzung des Kongresses, der verfassungsgemäß nicht beschlussfähig war, zur Interimspräsidentin und versprach, den Frieden im Land wiederherzustellen und so bald wie möglich Neuwahlen auszurufen. Der Staatsstreich war vollendet.

Linera, ein ehemaliger Führer der Guerillabewegung Túpaq Katari in den 1990er Jahren, war auch Theoretiker der Regierung Morales und Autor von „Soziologie sozialer Bewegungen in Bolivien“ (2005). In verschiedenen Artikeln hat er Gramscis „Stellungskrieg“, d. h. institutionelle Reformen, im Gegensatz zu einem „Manöverkrieg“, d. h. einer Revolution, benutzt, um zu argumentieren, dass der Aufbau eines „Andenkapitalismus“ eine notwendige Vorstufe sei, die Jahrzehnte dauern könne, bevor der Sozialismus eingeführt werden könne.

Wichtig waren die Kultur-, Bildungs- und Wohlfahrtsreformen der MAS, die Erklärung Boliviens als plurinationale Republik, die Gleichstellung der Wiphala mit der bolivianischen Trikolore, die Anerkennung der Aymara, Quechua und anderer indigener Sprachen und Kulturen des Landes. Das Versäumnis, das Land der Gemeinden vor Öl- und Gasunternehmen und Agrobusiness zu schützen, zerbrach jedoch das Bündnis, durch das die MAS an die Macht gekommen war. Gleichzeitig führte die Integration der indigenen Organisationen in die Regierungsinstitutionen zu ihrer Bürokratisierung und zur Entwicklung einer Elite, die Evo im entscheidenden Moment verließ.

Widerstand der Basis

Schließlich beschränkten sich die bolivianische Elite und ihre US-BeraterInnen nicht auf einen „Stellungskrieg“, sondern „manövrierten“ Morales und Linera erfolgreich ins Exil. Diese wiederum überließen ihre AnhängerInnen der zärtlichen Gnade der Generäle, PolizeichefInnen und FaschistInnen.

Während die einfachen Mitglieder der MAS und die Volksversammlungen in vielen Städten, insbesondere in El Alto, heldenhaft Widerstand leisteten und schwere Verluste erlitten, ließen die Flucht der MAS-Führer und der Rückzug der MAS-ParlamentarierInnen die Bewegung ohne zentrale Führung zurück. Dies war wirklich eine Schande. Von ihren heutigen NachfolgerInnen in einer künftigen Krise etwas Besseres zu erwarten, wäre der Gipfel der Torheit. Während der Wahl distanzierte sich Luis Arce wiederholt von Morales nach rechts und verfolgte als Wirtschaftsminister in dessen Regierung eine offen prokapitalistische Politik. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass er seine Haltung geändert hat.

Der Widerstand hörte jedoch nicht auf, trotz der Repression durch rechtsextreme Banden, der Coronavirus-Pandemie und der wirtschaftlichen Verwerfungen des Landes. Im August, als der Oberste Gerichtshof die am 8. September fälligen Wahlen verzögerte, zeigte eine Welle von Streiks, Straßenblockaden und Demonstrationen der herrschenden Klasse, dass die ArbeiterInnen und die indigenen Massen die wiederholten Verschiebungen nicht tolerieren würden. Dieser Druck sowie die internen Konflikte der Regierung machten Wahlen im Oktober unvermeidlich. Es war also der Klassenkampf, der die Wiederherstellung der formalen Demokratie sicherte. Um sie Wirklichkeit werden zu lassen, bedarf es mehr demokratisch organisierter Massenmobilisierungen, für die Bolivien zu Recht berühmt ist.

Wohin treibt Bolivien?

Dieser Sieg stellt weit mehr als einen Wahlsieg für die PolitikerInnen der MAS dar. Vielmehr ist er das Ergebnis des Widerstands der ArbeiterInnenklasse und der indigenen Bevölkerung, der die fortschrittlichen Kräfte in ganz Lateinamerika ermutigen und stärken kann. Aber wir müssen uns immer daran erinnern, dass dies erst der Anfang dieser Bewegung ist und wir Sorge tragen müssen, damit sie nicht in einer Klassenversöhnung endet.

Nachdem der US-Imperialismus seine Vorherrschaft in Lateinamerika nach etwa einem Jahrzehnt des „Bolivarismus“ und „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ durch die Staatsstreiche in Paraguay, Ecuador, Brasilien und Bolivien wieder behauptet hat, wird der Sieg der MAS einen Widerstandskampf in diesen anderen Ländern fördern. Die bolivianischen Werktätigen zeigten, wie man gewinnen kann: durch Generalstreiks und andere Massenaktionen. Der Weg nach vorn führt über die Organisation und Mobilisierung der ArbeiterInnenklasse, um revolutionäre Stürme auf dem gesamten amerikanischen Kontinent zu entfesseln.

Es ist jedoch klar, dass die Realität des Kapitalismus in der unterdrückten und ausgebeuteten halbkolonialen Welt nicht durch bürgerliche Wahlen geändert werden kann. Wir müssen eine andere Strategie für die ArbeiterInnenklasse finden, die über Reformismus und Wahlkampf populistischer Parteien wie der MAS hinausgeht. Während sie sich auf die ArbeiterInnen und die verarmten indigenen Gemeinschaften der Landlosen und Bauern/Bäuerinnen (Campesinos) verlassen, um Wahlen zu gewinnen, fallen sie, sobald sie an der Macht sind, in den Orbit des Imperialismus und versuchen, als lokale AgentInnen für den nordamerikanischen, europäischen oder, in jüngster Zeit, chinesischen Imperialismus zu agieren.

Es stimmt, Morales und Linera haben den streitenden externen Mächten Zugeständnisse abgerungen und waren in der Lage, bedeutende, wenn auch vorübergehende Reformen durchzuführen. Wie jedoch der Putsch von 2019 gezeigt hat, wird dieses Taktieren um einen größeren Anteil an den Gewinnen aus Lithium, Kohlenwasserstoffen usw. Putsche und Wirtschaftsblockaden, wie sie Venezuela und Kuba auferlegt wurden, nicht verhindern. Die Verbindung zwischen den arroganten MilliardärInnen, die versuchen, sich Boliviens wertvollsten Bodenschatz Lithium anzueignen, wurde deutlich, als Elon Musk, Milliardär und Eigentümer des Elektroautoherstellers Tesla, per Twitter auf Spekulationen über die Beteiligung der USA an dem Staatsstreich reagierte: „Wir werden putschen, wo wir wollen! Findet euch damit ab!“

Solidarität und Programm

Die ArbeiterInnenbewegung weltweit muss solche Eingriffe von außen anprangern und mit der Forderung kontern, dass die Souveränität Boliviens respektiert werden muss. In Bolivien müssen die politischen FührerInnen des Staatsstreichs von 2019 sowie die KommandeurInnen von Polizei und Streitkräften, die Menschen verhaftet, gefoltert und getötet haben, bestraft werden. Dies ist keine Rache, es ist Gerechtigkeit!

Auch hier wird die Intervention der Massen erforderlich sein, nicht bloße Dekrete von MinisterInnen oder Gesetze, die von Abgeordneten verabschiedet werden. Es wird Disziplinbrüche mit den „Gorillas“, die die einfachen SoldatInnen kommandieren, erfordern, mit demokratischen Rechten für letztere und bewaffneten Milizen für die Volksmassen. Kurz gesagt, das Land für Demokratie und für sozialistische Maßnahmen zur Befriedigung der Bedürfnisse der Massen bereit zu machen, bedeutet, den Repressionsapparat, den Staat der GrundbesitzerInnen und der kapitalistischen Elite zu zerschlagen.

Bolivien muss auch das Recht haben, alle internationalen, für seine Bevölkerung schädlichen Vereinbarungen zu überprüfen, die während der Putschregierung getroffen wurden, welche keine Legitimität hatte, sie abzuschließen. Der Ausverkauf seines Reichtums, insbesondere von Gas und Lithium, muss rückgängig gemacht werden. Die indigenen Völker müssen auch für die Verluste, die ihnen während des Staatsstreichs von Präsidentin Jeanine Áñez entstanden sind, entschädigt werden.

Schließlich muss die bolivianische Bevölkerung weiterhin mobilisiert und organisiert bleiben, um möglichen Reaktionen der rechten PutschistInnen, unterstützt vom Imperialismus, und sogar möglichen Rückzügen der MAS-Regierung entgegenzutreten, die zu der bekannten Klassenversöhnung führen könnten.

Boliviens ArbeiterInnen und arme Bauern/Bäuerinnen müssen eine internationalistische revolutionäre Partei mit einem Programm zum Sturz des Kapitalismus aufbauen. Eine Partei, die die ArbeiterInnenklasse organisiert und den revolutionären Prozess befördert, der sie von der kapitalistischen Sklaverei befreit und sie zur Macht eines neuen Staates, eines sozialistischen Staates, führt.

Die ArbeiterInnenklasse in ganz Lateinamerika spürt die stärkenden Winde, die aus Bolivien und Chile wehen. Dies zeigt auch die dringende Notwendigkeit einer internationalen Organisation, die sie mit den ArbeiterInnen Nordamerikas, Europas und auch Chinas verbindet. Gemeinsam können wir uns von den imperialistischen Mächten und ihren AgentInnen, den korrupten und diktatorischen lokalen Eliten befreien. Deshalb müssen wir den Aufbau einer Fünften Internationale und revolutionärer Parteien in jedem Land auf die Tagesordnung setzen. Ein wesentlicher Bestandteil ihrer Programme muss die Schaffung der Vereinigten Sozialistischen Republiken Lateinamerikas sein.




Bolivien: Kampf für Demokratie ist Kampf für Revolution!

Dave Stockton, Infomail 1113, 14. August 2020

Eine Welle von Streiks und Blockaden, zu der der Gewerkschaftsbund COB und ein Bündnis von Bauern-/Bäuerinnen- und indigenen Organisationen aufgerufen hatten, hat Bolivien lahmgelegt, nachdem das Oberste Wahlgericht TSE die Absetzung der für den 6. September geplanten Wahlen angekündigt hatte.

Unterstützt wird die Bewegung von der Bewegung zum Sozialismus, MAS, der Partei des ehemaligen Präsidenten Evo Morales, der letztes Jahr in einem blutigen Putsch gestürzt wurde. Alarmiert durch Meinungsumfragen, die zeigen, dass die MAS weit vor allen anderen Parteien liegt, hat die regierende rechte Koalition unter der Usurpator-Präsidentin Jeanine Áñez eine Klage eingereicht, um den Präsidentschaftskandidaten der MAS, Luis Arce, zu disqualifizieren.

Áñez kam im vergangenen November in einem von den USA unterstützten Putsch an die Macht, nachdem sie fälschlicherweise behauptet hatte, Morales würde „die Wahl stehlen“. Polizei- und Armeeeinheiten revoltierten gegen die Regierung, griffen MAS-AnhängerInnen an und töteten sie und zwangen Morales ins argentinische Exil. Trotz des Versprechens, innerhalb von 90 Tagen Neuwahlen abzuhalten, hat Áñez die COVID-19-Pandemie ausgenutzt, um die Wahlen dreimal zu verschieben.

Das wiederholte Versäumnis der Regierung, Neuwahlen zu organisieren, beweist, dass die Sorge um die Demokratie ein zynisches Feigenblatt ist, um einen Aufstand der LandbesitzerInnenoligarchie des Landes gegen die progressiven Reformen der MAS-Regierung zu rechtfertigen.

Ökonomische Bedeutung

Bolivien verfügt über die weltweit größten bekannten Reserven an Lithium, einem kritischen Bestandteil der Batterien, die in Elektrofahrzeugen, Computern und einer ganzen Reihe von elektronischen Produkten verwendet werden, die Teil einer gewaltigen Transformation der Industrie des 21. Jahrhunderts sind.

Konfrontiert mit dem Vorwurf, die US-Regierung habe sich zur Unterstützung des Putsches gegen Morales verschworen, fasste Elon Musk, Milliardär und Eigentümer des Elektroautoherstellers Tesla, die Haltung der OligarchInnen auf Twitter zusammen: „Wir werden Putsch machen, für wen immer wir wollen! Finden Sie sich damit ab“.

Lithium ist der jüngste „Segen“, mit dem die Natur das Land versehen hat. Zunächst plünderten die spanischen ErobererInnen das Silber des Landes. Dann plünderten die im Ausland ansässigen KapitalistInnen, die „Rosca“ (Kette), seine Schätze und hinterließen das Land vergiftet, rückständig und das bolivianische Volk als verarmtestes auf dem Kontinent.

Jetzt schließen sich die AusbeuterInnen von Öl, Gas und Lithium mit den europäischstämmigen Eliten des Landes zusammen, um jeden Widerstand gegen ihre Versuche, diese lebenswichtigen Ressourcen zu monopolisieren, zu brechen. Für die USA kommt es nicht in Frage, dass chinesische oder europäische KonkurrentInnen, mit denen Morales und Linera verhandelt haben, Zugang zu einem so großen Teil der Reserven Lateinamerikas erhalten.

Zu dieser beschämenden Bilanz der kolonialen und imperialistischen Ausbeutung kommt nun noch eine Katastrophe im Bereich der öffentlichen Gesundheit hinzu, die die sozialen Fortschritte der letzten zwei Jahrzehnte zunichtezumachen droht.

Pandemie

Das Gesundheitswesen und die öffentlichen Dienste des Landes sind so überfordert, dass die Bestattungsdienste völlig zusammengebrochen sind. Krankenhäuser weisen PatientInnen ab, Tote und Sterbende werden auf den Straßen ausgesetzt, und mobile Einäscherungswagen touren durch die Straßen von La Paz.

Die offizielle Zahl der Todesopfer liegt bei 3.000, und die Zahl der Infizierten hat in einem Land mit 11,5 Millionen EinwohnerInnen 85.000 überschritten. Diese Zahlen sind sicherlich eine grobe Unterschätzung, da Bolivien eine der niedrigsten Testraten aufweist.

Die Regierung von Áñez hat sich sowohl als unfähig wie auch als unwillig erwiesen, die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Sie kann auch das damit einhergehende wirtschaftliche Chaos nicht mildern. Die Arbeitslosigkeit hat sich auf 8 Prozent verdoppelt, und bis Ende des Jahres wird eine halbe Million BolivianerInnen in die Armut getrieben worden sein.

Es ist unbestreitbar, dass Bolivien eines der am schlimmsten vom Virus betroffenen Länder ist. Die Verantwortung für die Katastrophe liegt bei der Regierung der LandbesitzerInnen und OligarchInnen und ihrer Verachtung für die arme, ländliche und indigene Bevölkerung Boliviens. Die Volksbewegungen haben Recht, wenn sie nicht zulassen, dass die Regierung den Gesundheitsnotstand dazu benutzt, sie zu erpressen, die Fortsetzung des Putschregimes zu akzeptieren.

Trotz der Einschüchterungs- und Terrorkampagne, die von der Regierung und ihren faschistischen AnhängerInnen gegen die MAS und Bauern-/Bäuerinnenorganisationen geführt wurde, haben sich Boliviens ArbeiterInnen und indigene Gemeinschaften geweigert, ihren Kampf gegen die OligarchInnen und ihre US-SponsorInnen einzustellen. Zehntausende haben in mehr als 100 Märschen und Blockaden mobilisiert und die Infrastruktur des Landes lahmgelegt.

Der Regierung könnte eine blutige Konfrontation erspart bleiben, wenn es Evo Morales gelingt, Verhandlungen zwischen der COB und der TSE zu vermitteln und einen alternativen Wahltermin auszuhandeln. Obwohl er seine AnhängerInnen während der Kämpfe im vergangenen Jahr im Stich gelassen hat, behält Morales die MAS fest im Griff und lenkt ihre Politik weiterhin von Buenos Aires aus.

Dieser Versuch, einen Kompromiss mit eben jenen zu schließen, die die MAS vor weniger als einem Jahr gestürzt haben, zeigt, dass die entscheidenden Lehren aus dem völligen Bankrott der Strategie der MAS nicht gezogen worden sind. Diese bestand darin, mit der Unterstützung von Teilen der bolivianischen Bourgeoisie und den reicheren Teilen der Bauern-/Bäuerinnenschaft zu regieren und zu versuchen, zwischen den rivalisierenden ImperialistInnen zu manövrieren.

Das Sündenregister der MAS

Die MAS ist eine kleinbürgerlich-populistische Bewegung, die unter Morales und seinem Vizepräsidenten Álvaro García Linera ein durch und durch kapitalistisches Wirtschaftssanierungsprogramm durchführte, das darauf beruhte, die nationalen Ressourcen des Landes zu verkaufen, um Programme zur Umverteilung des Reichtums zu finanzieren. Diese hatten zwar massive Auswirkungen auf die Verringerung der Armut und die Erhöhung der Alphabetisierung, ließen aber die Macht der LandbesitzerInnen und OligarchInnen weitgehend unangetastet.

Linera, ein ehemaliger Anführer der Guerillaarmee Túpac Katari in den 1990er Jahren, entwarf Anfang der 2000er Jahre eine auf Mao und Gramsci basierende Etappentheorie, um Jahrzehnte kapitalistischer Entwicklung zu rechtfertigen, die irgendwann in ferner Zukunft die Grundlage für den Sozialismus legen sollte.

Unter dieser Führung lenkte die MAS die massenhaften revolutionären Erhebungen des Wasserkrieges von Cochabamba 1999-2000 und des Gaskrieges 2003 in die Wahl von Morales und einer MAS-Regierung im Jahr 2006 um. Sie blieb zwar bis zum Putsch im vergangenen Jahr im Amt, aber dies ging auf Kosten der Wiederherstellung der Macht des erschütterten Staatsapparates. Tatsächlich rüstete die MAS die bolivianischen Repressionskräfte mit riesigen Mengen von den USA gekaufter Waffen wieder auf.

Morales und Linera unternahmen jedoch eine „Kulturrevolution“, die dadurch symbolisiert wurde, dass sie den Staat als „plurinationale Republik“ definierten und die siebenfarbige karierte Wiphala-Flagge mit der bolivianischen Trikolore kombinierten, was die rassistischen, evangelikalen GrundbesitzerInneneliten erzürnte. Während des Putsches wurde das Wiphala-Zeichen abgerissen und mit Füßen getreten.

Indem sie die Macht der OligarchInnen und LandbesitzerInnen im Wesentlichen intakt ließ und der Bewegung für eine radikale verfassunggebende Versammlung die Spitze brach, bewahrte die MAS-Regierung auch die Strukturen und Institutionen des kapitalistischen Staates und ebnete damit schließlich den Weg für ihren eigenen Sturz.

Die Koalition der sozialen Kräfte, die Morales an die Macht gebracht hatte, die ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnengewerkschaften, die ländlichen Gemeinden der mehrheitlich Aymara  und Quechua sprechenden indigenen Gemeinschaften des Landes, löste sich auf, nachdem er erfolglos versucht hatte, die Verfassung zu ändern, um ihm die vierte Amtszeit in Folge als Präsident zu ermöglichen.

Die kapitalistische Politik im Interesse das ausländischen Kapitals, die auf der Gewinnung von Kohlenwasserstoffen und Lithium basierte, entfremdete die Gemeinschaften, die durch eine solche „Entwicklung“ zerstört worden wären. Infolgedessen unterließen es die COB und die Organisation der indigenen Gemeinden, FEJUVE, während des Novemberputsches, Morales zu verteidigen. Dies stellte sich als schwerwiegender Fehler heraus.

Die anhaltende Unterstützung des Volkes für die MAS, die in Meinungsumfragen zum Ausdruck kommt, ist eher eine Verurteilung der Regierungskoalition und des Fehlens einer tragfähigen Wahlalternative als eine positive Bestätigung ihrer AnführerInnen, die den Kampf gegen den Staatsstreich aufgegeben haben. Aber die Lehren aus 14 Jahren Morales und der MAS müssen gezogen werden, und es muss endlich eine politische Partei geschaffen werden, die von den ArbeiterInnen geführt und von armen Bauern und Bäuerinnen unterstützt wird, für die auf COB-Konferenzen oft gestimmt, die aber nie verwirklicht wurde.

Trotz der Machenschaften von Morales, dessen fortgesetzte Führung zu einer Katastrophe führen wird, wenn sie nicht überwunden wird, hat sich die COB zusammen mit den wichtigen Verbänden von KokapflanzerInnen, Bauern und Bäuerinnen und indigenen Völkern bisher geweigert, die Blockaden aufzuheben, bis der ursprüngliche Wahltermin wiederhergestellt ist.

Der Weg nach vorn besteht darin, das Land mit dem Generalstreik und den Blockaden völlig zu lähmen, Milizen zur Verteidigung der Bewegung zu gründen und unter den SoldatInnen und der Polizei zu agitieren, damit sie nicht auf das Volk schießen. Um die landesweite Bewegung zu koordinieren, sollten in jedem städtischen Bezirk und in jeder ländlichen Gemeinde Räte aus ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnendelegierten gewählt werden.

Ein entscheidender Schritt für die Bewegung ist die Übernahme der Kontrolle über die Bereitstellung und Verteilung der Gesundheitsfürsorge zur Bekämpfung der Pandemie, beginnend mit den von der Weltgesundheitsorganisation gespendeten 1,8 Millionen US-Dollar an Hilfsgütern. Darüber hinaus sollte sie die Kontrolle über den Transport, die Nahrungsmittel und die medizinische Versorgung übernehmen, um den Aufstand aufrechtzuerhalten und die Gefahr zu beseitigen, dass die KapitalistInnen Aussperrungen und das Horten von Vorräten benutzen, um die Bewegung in Unterwerfung auszuhungern.

Permanente Revolution

Gegenwärtig ist die Bewegung in Bolivien ein Kampf für die Wiederherstellung der Demokratie. Aber die Revolte der Bourgeoisie, die von Elementen innerhalb des Staatsapparates unterstützt wird, zeigt, dass die Bewegung, um eine wirkliche Demokratie zu gewinnen, für eine ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung kämpfen muss, die den Repressionsapparat des Staates zerschlägt und die LatifundienbesitzerInnen und ausländischen MonopolkapitalistInnen enteignet.

Die Grundlage für diese Regierung kann sich aus der gegenwärtigen Bewegung ergeben, indem die Forderung nach einer souveränen verfassunggebenden Versammlung, die sich aus Delegierten der ArbeiterInnen- und BäuerInnenräte zusammensetzt, aufgegriffen wird und Wahlen zu dieser Versammlung organisiert werden.

Ein solches revolutionäres Ergebnis ist der Geschichte Boliviens nicht fremd. Von den 1940er bis in die 1980er Jahre hatte die Gewerkschaft der BergarbeiterInnen in den Zinn-Minen, FSTMB, das Rückgrat der bolivianischen ArbeiterInnenklasse, eine heroische Bilanz des offen revolutionären Kampfes im Bündnis mit den indigenen Bauern-/Bäuerinnenschaften vorzuweisen.

Im Jahr 1946 verabschiedete sie ein Manifest, die Pulacayo-Thesen, das die trotzkistische Strategie der permanenten Revolution aufgriff. Sie verfolgten Agrarrevolution, demokratische und antiimperialistische Ziele bis hin zur Enteignung der imperialistischen AktionärInnen und der bolivianischen LandbesitzerInnenelite.

Leider wandten sich ihre Führungen in kritischen Momenten, während der „nationalen Revolution“ von 1953, während des enormen BergarbeiterInnenstreiks und Marsches auf La Paz 1986 und während der Gas- und Wasserkriege Anfang der 2000er Jahre von der Gründung einer revolutionären ArbeiterInnenpartei ab, die mit den armen Bauern-/BäuerInnen- und indigenen Gemeinden verbündet wäre und sich dem Kampf für ArbeiterInnenmacht und Sozialismus verschriebe.

Stattdessen unterwarfen sie sich bürgerlichen und kleinbürgerlich-nationalistischen Parteien wie der Revolutionär-Nationalistischen Bewegung in den 1940er und 1950er Jahren und dann der MAS in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts.

Die Gründung einer echten revolutionären ArbeiterInnenpartei, die den in den Pulacayo-Thesen vorgezeichneten Weg zur permanenten Revolution erneuert, dass „die bürgerlich-demokratische Revolution, wenn sie nicht erstickt werden soll, sich in eine bloße Phase der proletarischen Revolution verwandeln muss“, ist die Voraussetzung für den Sieg der Demokratie in Bolivien, auf der Grundlage einer demokratisch geplanten, sozialistischen Wirtschaft mit Autonomie für die indigenen Gemeinden.

Nur auf diesem Fundament kann eine revolutionäre Regierung beginnen, den enormen Reichtum Boliviens zu nutzen, um für seine Bevölkerung Vollbeschäftigung, eine universelle Gesundheits- und Bildungsversorgung und den Schutz der natürlichen Umwelt Boliviens als Grundlage für eine soziale und ökologische Revolution auf dem Planeten zu gewährleisten.




Die Amerikas: Neues Zentrum der Pandemie

Markus Lehner, Neue Internationale 247, Juni 2020

Während in Europa (außerhalb Russlands) die Corona-Ausbreitung zumindest zur Zeit eingebremst scheint, ist die Situation auf dem amerikanischen Kontinent und in der Karibik sehr kritisch. In einer Stellungnahme der kontinentalen Gesundheitsorganisation PAHO (Pan American Health Organisation) wurde die Region als neues Epizentrum der Krise bezeichnet. Zu dem Zeitpunkt, am 18. Mai, gab es auf dem Kontinent über 2 Millionen getestete Infizierte, mit einer wöchentlichen Steigerungsrate von 14 %. Nur Kanada und Kuba hatten bis dahin eine „Abflachung der Kurve“ erreicht. In den kontinentalen Zentren der Epidemie – den USA, Brasilien, Peru, Ecuador und Chile – ist man weiterhin im Wachstumsbereich, teilweise mit Verdoppelungsraten innerhalb einer Woche.

Während in den USA die finanziellen und systemischen Mittel für eine Eindämmung der Krise eigentlich vorhanden wären, sind die südlich davon gelegenen Länder offensichtlich weit mehr von den medizinischen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemiewelle bedroht. Auch wenn derzeit drei Viertel der (offiziell getesteten) Infizierten in den USA leben, ist die unmittelbare Herausforderung für die Gesundheitssysteme und Anti-Pandemiemaßnahmen in diesen Ländern um ein Vielfaches größer. Brasilien liegt mit heute 350.000 Infizierten derzeit hinter den USA an zweiter Stelle weltweit – relativ zur Bevölkerungszahl ist die Infektionsrate in Peru, Chile und Ecuador jedoch sogar viel größer. Schon jetzt arbeitet aber das brasilianische Gesundheitssystem am Limit: Mitte Mai waren die Intensivstationen in Sao Paulo bereits zu 91 % ausgelastet, in Fortaleza und Manaus sogar schon überlastet. Ähnliches gilt für die Hotspots in Peru und Mexiko. Sogar das sehr viel reichere Chile meldet inzwischen eine Gefahr der Überlast in den Ballungszentren.

Ungleiche Verteilung

Dazu kommt, dass die Betroffenheit vom Infektionsgeschehen sozial und ethnisch sehr unterschiedlich verteilt ist. In Lateinamerika arbeitet jede/r zweite Lohnabhängige in informellen Arbeitsverhältnissen – ein Lockdown bedeutet daher sofortige Arbeitslosigkeit ohne soziale Absicherung. Nachdem auch in den Amerikas viele Wirtschaftszweige seit Anfang April im Sparmodus laufen, ist der Zwang, jede nur mögliche Arbeit trotz Infektionsgefahr anzunehmen, inzwischen sehr groß. Selbst die in vielen Ländern beschlossenen Notunterstützungen führen zu Massenansammlungen an den Ausgabestellen. Dazu kommen Wohnsituationen, speziell im informellen Bereich, die jeden Appell zu „social distancing“ zur Farce werden lassen, ganz abgesehen von Fragen der sanitären und hygienischen Verhältnisse. In einem Massentest auf einem der großen Straßenmärkte von Lima wurden 80 % der HändlerInnen positiv getestet. Der unterschiedliche Zugang zu medizinischer Versorgung und solche Stichproben lassen vermuten, dass die tatsächliche Zahl der Infizierten (und wahrscheinlich auch der Opfer) um ein Vielfaches höher ist als die offiziellen Zahlen. Vielen Betroffenen bleibt angesichts der ökonomischen Situation auch nichts anderes übrig, als trotz aller Symptome weiterzuarbeiten und so für die ungebremste Weiterverbreitung von Corona zu sorgen.

Zusätzlich gibt es weitere besondere „Risikogruppen“. So etwa die 2.400 indigenen Bevölkerungsgruppen im Amazonasgebiet. Bereits heute gibt es hier offiziell über 20.000 getestete Covid-19-Fälle mit weitaus höherer Sterberate als in anderen Gebieten. Den Menschen fehlt die medizinische Basisversorgung. Außerdem ist die Immunität gegenüber bestimmten Krankheiten bei der indigenen Bevölkerung aufgrund der relativen Isolation von der „Zivilisation“ oft geringer ausgeprägt. Die PAHO befürchtet hier bei ausbleibenden Hilfsmaßnahmen ein Aussterben ganzer Ethnien. Die Passivität bestimmter Regierungen zu diesem Problem erinnert schon bedenklich an den Genozid, den die europäischen EinwanderInnen bei der präkolumbischen Bevölkerung Amerikas bewirkten.

Zur akuten Pandemiekrise kommt die berechtigte Sorge, dass die notwendigen medizinischen Mittel an der Region vorbeifließen. Dies betrifft nicht nur die Lieferung der dringend benötigten Beatmungsgeräte und Intensivbetten, die Mittel für medizinisches Fachpersonal und die benötigte Schutzkleidung. Es betrifft auch die Lieferungen der Pharmaindustrie. Während hierzulande einige sogar gegen noch nicht vorhandene Impfstoffe demonstrieren, herrscht im globalen Süden eher die Sorge vor, dass die Medikamente und Impfstoffe in erster Linie dorthin geliefert werden, wo auch das große Geld winkt. Mehrere lateinamerikanische Staaten und die PAHO haben daher die Schaffung eines Fonds verlangt, der den notwendigen medizinischen Bedarf für die Pandemiebekämpfung in der Region decken soll. Die 4 Milliarden US-Dollar, die der IWF bisher für Lateinamerika und die Karibik als Notfallhilfe bereitgestellt hat, sind offenbar nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.

Ökonomische Verwerfungen

Klar ist, dass sich so gut wie alle lateinamerikanischen Staaten bereits seit mehreren Jahren in einer wirtschaftlichen Krisensituation befinden – Argentinien steht sogar unmittelbar vor dem nächsten Staatsbankrott. Der Lockdown, der Einbruch des Welthandels und die jetzt folgende Rezession verschärfen die Probleme von Stagnation, Inflation und Staatsverschuldung nochmals. Seit der Abkühlung der globalen Wirtschaft, etwa seit 2016, fließt Kapital in großem Umfang aus der Region ab. Es fehlt schon jetzt an allen Ecken an Kapital für Investitionen und notwendige Infrastrukturmaßnahmen.

Mit Verschärfung der Verschuldungsprobleme etwa in Argentinien ist sogar mit einer Beschleunigung des Kapitalabflusses zu rechnen. Während es von EZB und den EU-Institutionen in Europa heißt, dass man „genug Mittel“ habe, um Billionen in „Wiederaufbauprogramme“ zu stecken (ohne zu sagen, wer das letztlich wirklich zu bezahlen hat), lebt man in Lateinamerika nicht in einer „Whatever it takes“-Region (frei nach Mario Draghi). Selbst wenn Rettungsmittel von IWF und Weltbank kommen würden, so sicher nicht ohne Auflagen und weitere Austeritätsprogramme. Ein weiteres Absinken der Ökonomien in Stagnation und Inflation, in eine schwere wirtschaftliche Depression gilt daher als sehr wahrscheinlich.

Düstere Aussichten

Angesichts dieser Aussichten für Pandemieentwicklung und Wirtschaftskrise ist die politische Situation in Lateinamerika nicht minder düster. Die Eskapaden des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro sind auch hierzulande hinlänglich bekannt. Nicht nur, dass er die Seuchenbekämpfungsmaßnahmen systematisch torpediert hat (inzwischen hat er bereits mehrere Gesundheitsminister verbraucht, die ihm nicht folgen wollten) und öffentlich die Corona-Risiken lächerlich macht. Er benutzt die Krise immer offener, um rassistische und rechts-reaktionäre Mobilisierungen voranzutreiben, in immer bedrohlicher Art gegen politische GegnerInnen vorzugehen und offenbar eine Politik der Inkaufnahme der Pandemie bei der ärmeren Bevölkerung durchzusetzen, insbesondere bei Schwarzen und Indigenen – Hauptsache, die weiße Elite behält ihre Privilegien und braucht sich keine Sorgen um „Freiheitsbeschränkungen“ zu machen.

Doch auch „linke“ PopulistInnen wie der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) spielen das Ausmaß der Pandemie-Krise herunter. AMLO erklärte kürzlich, dass das Virus „besiegt“ sei und die Wirtschaft (vor allem in den Produktionsketten für die USA) wieder voll anlaufen könnte. Dies, obwohl selbst die offensichtlich gefälscht niedrigen Zahlen der Regierungsbehörden klar einen weiteren Anstieg im Trend der Region zeigen. Venezuelas Gesundheitssystem war schon zuvor so gut wie zusammengebrochen und ist derzeit nicht in der Lage, der wachsenden Zahl an Infektionen Herr zu werden. Trotzdem wird munter weiter erklärt, man habe alles im Griff.

Dies kann tatsächlich nur von Kuba gesagt werden, wo das Gesundheitssystem trotz aller Sparmaßnahmen immer noch für lateinamerikanische Verhältnisse ausreichend funktioniert hat und die Seuchenschutzmaßnahmen konsequent durchgeführt wurden. Allerdings führt der wirtschaftliche Einbruch (auch durch den Stopp des Tourismus) zu einer bedrohlichen Versorgungslage. Der „Export“ von ÄrztInnen und die Ankurbelung der eigenen Pharmaindustrie sind daher keineswegs rein humanitäre Akte, sondern vor allem lebensnotwendige DevisenbringerInnen für die Finanzierung notwendiger Lebensmittelimporte.

Die zugespitzte politische Krise in Ecuador, Chile und Bolivien vor Corona ist zwar für den Moment etwas in den Hintergrund getreten. Allerdings wird die Verschärfung von Gesundheits- und Wirtschaftskrise die reaktionären Kräfte, die derzeit dort an der Macht sind, zu weitaus autoritäreren Maßnahmen schreiten lassen. Zugleich zeigt aber die Entwicklung z. Zt. in Chile, dass es auf dem Kontinent auch zu Hungerrevolten und zu Mobilisierungen der Massen kommen kann und wird, die eine klassenkämpferische, ja revolutionäre Antwort auf die Tagesordnung setzen können.

Alternative

Angesichts dieser politischen, ökonomischen und epidemiologischen Bedrohung, die hier auf die arbeitenden Massen in Lateinamerika zurollt, ist es mehr als notwendig, sich auch auf kontinentaler Ebene zu organisieren und den Widerstand gegen die nahende Katastrophe mit dem Kampf um eine sozialistische Alternative zu verbinden. Alle drei Bedrohungen sind offensichtlich nicht national begrenzt und lassen sich auch nicht im nationalen Maßstab bekämpfen. Bolivars Traum einer lateinamerikanischen Republik war schon zu seiner Zeit angesichts der Kräfteverhältnisse eine kühne Idee – heute lässt sie sich nur verwirklichen, wenn den arbeitenden Massen klar wird, dass nur die ArbeiterInnen im Bündnis mit allen unterdrückten Schichten der Bevölkerung in der Lage sind, eine wirkliche Alternative durchzusetzen – Vereinigte Sozialistische Staaten von Lateinamerika! Sozialismus oder Barbarei lautet die Alternative.




Thesen zu Lateinamerika: Ein Kontinent in der Krise

Liga für die Fünfte Internationale, Februar 2020, Infomail 1101, 19. April

Vorwort

Diese Resolution wurde im Januar 2020 vom Internationalen Exekutivkomitee der Liga für die Fünfte Internationale diskutiert und Ende Februar fertiggestellt, also vor Beginn der globalen Ausbreitung des Coronavirus und vor dem Einbruch der Weltwirtschaft. So erscheinen beispielsweise die schon damals negativen Prognosen für die Ökonomien des Kontinents heute geradezu als „optimistisch“. Auch in Lateinamerika spitzen sich die ökonomischen und sozialen Krisenprozesse dramatisch zu und stellen die ArbeiterInnenbewegung und die Unterdrückten vor neue Herausforderungen.

Auch wenn neuere Entwicklungen in den Text daher nicht mehr einfließen konnten, so scheint uns seine Veröffentlichung umso mehr geboten, als die darin beschriebenen und analysierten Entwicklungsprozesse, Dynamiken und politischen Probleme in den nächsten Monaten mit besonderer Vehemenz zum Ausdruck kommen werden.

Die Redaktion, Berlin, 19. April 2020

Eine Kontinent in der Krise

Lateinamerika hat sich in den letzten Jahren zu den wichtigsten Krisengebieten der Weltpolitik hinzugesellt. Politische Instabilität sucht den gesamten Kontinent heim. Ein Land nach dem anderen ist in eine akute politische, soziale und wirtschaftliche Krise geraten: Puerto Rico, Haïti, Ecuador, Chile, Bolivien und Brasilien.

Einige davon betrafen den Sturz von Regierungen und Regimen, die als Teil der „Pink Tide“ („Rosa Flut“; Hinwendung zu linken Regierungen in lateinamerikanischen Demokratien, die vom neoliberalen Wirtschaftsmodell abweichen) betrachtet werden, d. h. linkspopulistischer oder neo-sozialistischer Regierungen in Brasilien, Ecuador und Bolivien. In anderen sind es rechte Regierungen, die unter Druck stehen, insbesondere in Argentinien, Chile und Ecuador, wo sie populistische oder sozialdemokratische Regierungen ersetzt hatten.

In Venezuela, der Geburtsstätte des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, hat eine tiefe Wirtschaftskrise, einschließlich einer Hyperinflation, die Ergebnisse der Reformen von Hugo Chávez zunichtegemacht. Nichtsdestotrotz hat sich das Regime, das er seinem Nachfolger Nicolás Maduro hinterlassen hat, bisher den vereinten Versuchen der alten Oligarchie und Trumps widersetzt, ihn zu entmachten und eine Konterrevolution im großen Stil zu entfesseln.

Konterrevolutionäre und vorrevolutionäre Situationen

Es entstehen sowohl konterrevolutionäre als auch vorrevolutionäre Situationen, die die Alternativen einer Ausbreitung rechter Regime wie in Brasilien oder Bolivien einerseits oder Massenrevolten mit dem Potenzial nicht nur für eine Wiederbelebung demokratischer und reformistischer Regierungen, sondern auch für eine soziale Revolution andererseits aufzeigen. Beispiele für Erstere sind deutlich genug: die „Verfassungscoups“ gegen Dilma Rousseff von der Partido dos Trabalhadores (Partei der Arbeiter, PT) und die anschließende Wahl von Jair Bolsonaro in Brasilien. Gleichermaßen sehen wir Anfang 2019 den Versuch, Präsident Nicolás Maduro in Venezuela zu stürzen, und einen Putsch der Rechten in Bolivien gegen Evo Morales am 10. November.

Die alternative Entwicklung zeigt sich in den Massenmobilisierungen in Ecuador und Chile sowie bei der Wahlniederlage des neoliberalen Reformers Mauricio Macri in Argentinien nach nur einer Amtszeit und der Rückkehr der PeronistInnen unter Alberto Ángel Fernández mit der ehemaligen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner als Vizepräsidentin. Bereits zuvor, im Dezember 2018, wurde Andrés Manuel López Obrador (AMLO) von MORENA (Movimiento Regeneración Nacional; Bewegung der Nationalen Erneuerung, ehemals PRD), ein Linkspopulist/Sozialdemokrat, zum Präsidenten von Mexiko gewählt.

Diese beiden Siege zeugen von einer Gegenbewegung zur Ebbe der „Pink Tide“. Dies beweist, dass die fortschrittlichen Kräfte, insbesondere die Arbeitslosen, die Jugendlichen in unsicheren Arbeitsverhältnissen sowie die StudentInnen, die ArbeiterInnenklasse und die indigenen Bewegungen noch lange nicht am Ende sind und zu den Massenkämpfen der frühen 2000er Jahre zurückkehren können, die zu den radikalen und reformistischen bolivarischen Regimes geführt haben.

Lateinamerika blickt auf eine lange und beeindruckende Geschichte von Massenbewegungen der ArbeiterInnen und Unterdrückten, Frauen, Jugendlichen und indigenen Völker zurück. Dazu gehören extrem militante Formen von Kämpfen: mächtige Generalstreiks, Besetzungen von Straßen und Stadtzentren, Volksaufstände. Zu dieser Tradition gehört auch das Aufkommen von Koordinationsformen, die, wenn sie gestärkt und allgemein angewandt werden, zum Embryo der ArbeiterInnen- und Volksrätemacht werden könnten.

Leider wurden diese Bewegungen jedoch durch eine große Führungskrise gehemmt, die es auch konterrevolutionären Kräften ermöglicht hat voranzuschreiten. Dies ist zum Teil auf das Versagen von Regierungen zurückzuführen, die mit der „Pink Tide“ verbunden waren: Morales, Maduro, Kirchner, Dilma usw., die Massenillusionen in einen reformistischen Populismus erzeugt hatten, der zerbröckelte, als die hohen Rohstoff- und Kohlenwasserstoffpreise als Nachwirkung der Großen Rezession einbrachen.

Die neuen sozialen Bewegungen sind zwar massenbasiert, wurden aber im Allgemeinen von kleinbürgerlichen Kräften angeführt. Als sich also die Machtfrage, die Frage nach Ablösung der AmtsinhaberInnen und ihrer neoliberalen Sparpolitik stellte, kehrten diese Bewegungen zu einer Politik der Klassenzusammenarbeit mit den angeblich „demokratischen“ oder „antineoliberalen“ Teilen der herrschenden Klasse oder sogar „alternativen“ imperialistischen Mächten zurück.

Wirtschaftliche Wurzeln der aktuellen Krise

Wenn Lateinamerika trotz offensichtlicher nationaler Unterschiede ein Pulverfass ist, gibt es drei gemeinsame Ursachen, die politische Krisen auslösen.

Die erste davon ist die wachsende Krise des globalen Kapitalismus, die diesmal in den schwächeren Ökonomien der halbkolonialen Staaten begonnen hat, noch bevor sie die imperialistischen Zentren voll erfasst. In den Jahren 2007/2008 brach die Krise zuerst in den Kernländern des „westlichen“ Imperialismus, vor allem in den USA, aus. Diesmal hat sie zuerst die halbkoloniale Welt und insbesondere Lateinamerika getroffen. Die expansive Phase der ersten fünf Jahre des neuen Jahrtausends, insbesondere in China, führte zu einem Boom auf den Rohstoffmärkten, der in Lateinamerika nach den verlorenen Jahrzehnten des „Washingtoner Konsenses“ zu einer substanziellen Erholungsphase führte.

Auf der Grundlage dieser günstigen konjunkturellen Entwicklung waren die bedeutenden Sozialreformen von Hugo Chávez, Luiz Inácio Lula da Silva (Lula), Evo Morales und Rafael Correa möglich, ohne das Eigentum von ausländischem oder inländischem Großkapital ernsthaft anzutasten. Doch mit der Großen Rezession und der anschließenden Stagnationsperiode, die sich bis weit in die 2010er Jahre hinein erstreckte, ging dieser Boom auf den Warenmärkten schließlich zu Ende und alle Bedingungen des vorangegangenen Jahrzehnts, die für die ReformistInnen so günstig gewesen waren, verwandelten sich ins Gegenteil.

Nach Angaben des IWF lagen die durchschnittlichen Wachstumszahlen auf dem Kontinent etwa zwei Jahrzehnte lang unter dem Durchschnitt der „Schwellen- und Entwicklungsländer“. Dies spiegelte seine abnehmende wirtschaftliche Bedeutung und Dynamik im Vergleich zu den ostasiatischen Ländern wider. Außerdem war dies ein Produkt der fortdauernden halbkolonialen Struktur der Volkswirtschaften, einschließlich der Abhängigkeit vom Export von Rohstoffen und Agrarprodukten.

In den Jahren 2014–2016 nahmen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten auf dem Kontinent zu, wenn auch mit großen Unterschieden zwischen den Ländern. Einige der wichtigsten Volkswirtschaften, wie Brasilien, Argentinien und Mexiko, befanden sich in den letzten 5 Jahren in Stagnation oder Rezession. Die Wachstumsprognosen sind dürftig. Laut der Schweizer „Neuen Züricher Zeitung“ erwarteten die meisten Rating-Agenturen, dass die argentinische Wirtschaft weiter schrumpfen würde: um 2,4 Prozent im Jahr 2019 und laut JP Morgan um 1,6 Prozent im Jahr 2020. Die argentinischen Exporte gingen 2018 um 40 Prozent zurück. Die Schätzungen des BIP-Wachstums für Brasilien liegen für 2019 und 2020 bei etwa 1 Prozent, und dies sind die „optimistischsten“ Beispiele. Die Zahlen für Mexiko liegen zwischen 0,5 Prozent für 2019 und 1,3 Prozent für 2020.

Für das Jahr 2020 haben der IWF und andere Wirtschaftsinstitutionen die Wirtschaftsprognose wiederholt gesenkt, jetzt auf 0,6 Prozent für den gesamten Kontinent (im Vergleich zu 3,0 Prozent für die Weltwirtschaft). Es kann gut sein, dass selbst diese Prognose in den kommenden Monaten angesichts der wirtschaftlichen Instabilität und der aufgelaufenen Probleme aller Länder gesenkt werden muss. Darüber hinaus haben die internationalen Finanzinstitutionen begonnen, Haushaltskürzungen und Sparmaßnahmen zu fordern.

Die „besten“ Prognosen gelten für eine Reihe von Ländern der Karibik und, was noch wichtiger ist, für Peru, Kolumbien und Chile (rund 3 Prozent) als Ergebnis einer anhaltenden, wenn auch rückläufigen Nachfrage nach Rohstoffen, insbesondere nach Lithiumionen-Batterien in Elektrofahrzeugen. Stark betroffen von der rückläufigen Nachfrage und den sinkenden Preisen für Rohstoffe und Agrarprodukte, hat ein Land nach dem anderen wachsende Staatsverschuldung sowie Forderungen nach Einsparungen seitens des IWF und anderer imperialistischer KreditgeberInnen zu verzeichnen. Argentinien, erneut besonders hart getroffen, steht kurz vor dem Staatsbankrott.

Soziale und politische Krise

Ein drittes wichtiges Element ist, dass die soziale und politische Krise zu einem massiven Aufflammen des Klassenkampfes geführt hat, gewöhnlich in Form einer Abwehr weiterer Angriffe auf die Lebensbedingungen der Massen durch bürgerliche Regierungen. Eine Reihe dieser Abwehrkämpfe hat sich bereits in allgemeine politische Konfrontationen verwandelt wie in Haïti und Chile, die die Notwendigkeit revolutionärer Umwälzungen deutlich machen. Während eine Reihe dieser Bewegungen als plötzliche Eruptionen erscheinen mag, hat der wirtschaftliche Niedergang des Kontinents zwei wichtige, miteinander verbundene und längerfristige Faktoren geschaffen.

Erstens haben sich die Lebensbedingungen der Massen auf dem ganzen Kontinent verschlechtert. Von 2014–2019 schrumpfte das Pro-Kopf-Einkommen um 4 Prozent. Im gleichen Zeitraum stieg die offizielle Arbeitslosenzahl an und erreichte 2018 8 Prozent und 2019 8,2 Prozent. Insgesamt sind 25,2 Millionen Menschen „offiziell“ als arbeitslos registriert, die Millionen von Kurzzeit- und GelegenheitsarbeiterInnen nicht eingerechnet. Nach Angaben des Staatlichen Instituts für Statistik wird die argentinische Wirtschaft 2019 um 3,1 Prozent geschrumpft sein, die Inflation liegt bei rund 55 Prozent, die Armut bei rund 40 Prozent, die Arbeitslosigkeit bei 10,4 Prozent und die Währungsabwertung bei fast 40 Prozent.

In Chile wurde, nach Angaben der Regierung, für das Jahr 2019 ein Wirtschaftswachstum zwischen 2 und 2,2 Prozent erwartet, was unter der ursprünglichen Prognose von 2,6 Prozent liegt. Nach Angaben der Weltbank lag der Gini-Koeffizient Chiles im Jahr 2017 bei 0,466. Dieser Indikator, der die Ungleichheit misst, liegt zwischen 0 und 1, je höher die Zahl, desto höher die festgestellte Ungleichheit. Zum Vergleich: In Deutschland lag der Gini-Index im Jahr 2015 bei 0,317.

Zweitens hat die wirtschaftliche Entwicklung die bürgerlichen konstitutionellen Herrschaftsformen untergraben. Dies zeigt sich einerseits in zunehmender Korruption und Vetternwirtschaft, andererseits in Angriffen auf demokratische Rechte und schärfere Formen der Repression. In den extremsten Fällen hat dies zu Staatsstreichen oder Putschversuchen geführt. Es spiegelt sich auch in der steigenden politischen Bedeutung der Streitkräfte und wachsenden Tendenz zu Autoritarismus und Bonapartismus wider, einschließlich des Aufstiegs und des Erstarkens rechtspopulistischer Bewegungen mit einer kleinbürgerlichen Massenbasis, einige sogar mit halbfaschistischem oder faschistischem Charakter.

Die Enttäuschung über die „fortschrittlichen“ Regierungen des vergangenen Jahrzehnts und der Verrat der Welle des Klassenkampfes durch die „linken“ Führungen ist die Grundlage für eine Radikalisierung der extremen Rechten in den verzweifelteren Teilen der Mittelschichten, die sich in Form von Rassismus gegen Schwarze und Indigene, Homophobie, Antifeminismus, Antikommunismus, Antiintellektualismus äußert und sich zu einem regelrechten Faschismus entwickeln könnte. Diese Gefahr wird immer größer werden, wenn die Linke sich als unfähig erweist, den gegenwärtigen Massenbewegungen eine alternative, sozialistische Perspektive für die Lösung der Krise in ganz Lateinamerika zu geben.

Dass die Wirtschaftskrise durch den Nachfragerückgang der imperialistischen Länder, insbesondere Chinas, und die Verschuldung der Staaten gegenüber den Finanziers Nordamerikas und Europas verursacht wurde, unterstreicht den halbkolonialen, abhängigen Charakter des Kontinents. Sie offenbart nur allzu deutlich den illusorischen Charakter der Hoffnungen, dass der Aufstieg Chinas es ihm ermöglichen würde, seiner Knechtschaft durch den wirtschaftlichen und militärischen Goliath des Nordens zu entkommen.

Der Kampf zwischen den imperialistischen Mächten – alten und neuen

Ein wichtiger Faktor in der gegenwärtigen Krise ist, dass der Kontinent zu einer Arena für den Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den imperialistischen Mächten geworden ist; mit den USA und China als HauptgegnerInnen, aber auch mit den europäischen Mächten, die ebenfalls eine Rolle spielen.

Amerika versucht, seine nach dem Sieg im Kalten Krieg errungene Hegemonie zurückzugewinnen, die in den 1990er Jahren unangreifbar schien, dann aber in den 2000er Jahren verloren ging. Trump wirft seinem republikanischen Vorgänger George W. Bush wie auch Barack Obama vor, Lateinamerika „verloren“ zu haben. So hat er die Amtsenthebung linkspopulistischer Regierungen in Bolivien und Ecuador unterstützt und die Wirtschaftsblockade verschärft, mit der er das bolivarische Regime in Venezuela zu stürzen hofft. Zugleich hat er die Entspannung mit Kuba aufgegeben. Wir konnten diese Politik auch bei der Absetzung der PT-geführten Regierung in Brasilien beobachten.

Unabhängig davon, ob diese Staatsstreiche „konstitutionell“ waren, d. h. von den Parteien der Elite und der Justiz angeführt wurden, oder ob sie vom Militär, von einheimischen AbsolventInnen der berüchtigten „School of the Americas“ (SOA) der US-Armee (heute als „Institut für Sicherheitskooperation der westlichen Hemisphäre“, WHINSEC, bezeichnet) durchgeführt wurden, wurden sie mit populistischer Demagogie kombiniert, die die weit verbreitete Unzufriedenheit, die auf wirtschaftlichem Niedergang, Korruption oder Vetternwirtschaft beruht, ausnutzt und mobilisiert.

Es liegt auf der Hand, dass die USA bestrebt sind, sich wieder als die dominierende imperialistische Macht in Lateinamerika zu behaupten, aber sie müssen dies gegen neue mächtige RivalInnen tun. Venezuela und Kuba sind weitgehend von der chinesischen und russischen Unterstützung abhängig geworden. Selbst wenn China andere Staaten in seine Arme schließen sollte, würde es sie nur zu Halbkolonien Pekings machen und eine/n MachthaberIn gegen eine/n andere/n austauschen.

Auch die Europäische Union will mit dem EU-Mercosur-Pakt ein Stück vom Kuchen abhaben. Dies bedeutet in der Tat einen wichtigen Erfolg für die europäischen imperialistischen Mächte, indem eine große Freihandelszone zwischen den beiden Kontinenten geschaffen wird. Auch wenn einige der lateinamerikanischen Regime den wachsenden Konflikt zwischen den imperialistischen Mächten als potenziell vorteilhaft für sich empfunden haben mögen, erwies er sich eindeutig als destabilisierender Faktor, nachdem Amerika sich aufraffte, um die ausschließliche Kontrolle über seinen „Hinterhof“ zurückzufordern. In der Tat wird die gegenwärtige Rivalität die politische Instabilität verstärken, insbesondere wenn andere „linke“ Regierungen an die Macht kommen.

Der IWF fordert bereits harte Haushaltsmaßnahmen von der neuen peronistischen Regierung in Argentinien, in der Hoffnung, sie zu demütigenden Zugeständnissen zu zwingen, wie es die Troika gegenüber Syriza in Griechenland getan hat. Die neue Regierung hat bereits ihre Bereitschaft gezeigt, diesen Weg einzuschlagen, und ihre „linke“ Rhetorik dient lediglich als Deckmantel, um die Massen zu befrieden. Der Kampf um die Kontrolle über die massiven Lithiumreserven in Bolivien trug zweifellos zur Verdrängung von Morales bei, damit das US-Kapital sie ausbeuten konnte und nicht China oder die EU, wie Morales es plante. Nichtsdestotrotz scheint der US-Imperialismus zwar wieder einmal der Hauptverantwortliche für die halbkoloniale Unterwerfung Lateinamerikas zu sein, aber es besteht kein Zweifel daran, dass er heute ein Hegemon im Niedergang ist, der wirtschaftlich und politisch viel weniger stark ist als bei seinen früheren Interventionen. Gleichzeitig können seine imperialistischen RivalInnen, die EU, China und Russland, nicht als Formen eines „fortschrittlicheren“ Imperialismus angesehen werden. Wie man in Venezuela sehen kann, agiert China als einer der Hauptverantwortlichen für neoliberale „Reformen“ und autoritäre Politik, um seine Investitionen zu garantieren.

Die indigene Bevölkerung

Die Daten der Volkszählung von 2010 ergaben 45 Millionen Indigene in Lateinamerika, die fast 8 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, jedoch mit großen Unterschieden: in Bolivien 41 Prozent, Guatemala 60 Prozent, Peru 26 Prozent und Mexiko 15 Prozent. Während viele von ihnen immer noch in kulturell eigenständigen ländlichen Gemeinden leben, wohnt heute fast die Hälfte in städtischen Gebieten, wenn auch in den ärmsten Wohnvierteln, mit schlechter Sanitär-, Wasser- und Stromversorgung und ist anfälliger für Natur-/Klimakatastrophen. Seit der Kolonialzeit wurden die indigenen Völker in den lateinamerikanischen Ländern systemisch unterdrückt und leiden unter anhaltender Diskriminierung aufgrund der Beanspruchung der rassischen Überlegenheit der weißen Kolonialherren und ihrer Nachkommen sowie unter Ausschluss aus der politischen Sphäre, oft durch spanische Sprach- und Schreibtests.

Seit den 1980er und 1990er Jahren ist jedoch eine Zunahme von Organisationen zu verzeichnen, die ihre Sprachen, Quechua, Aymara und Guaraní und viele andere, ihre sozialen Strukturen, Kunst und Musik wieder geltend machen und eine erzwungene Assimilierung an die „westliche“ Kultur ablehnen. Seit dem Aufkommen der ZapatistInnen in Chiapas, den Gas- und Wasserkriegen, die von weitgehend indigenen Bevölkerungsteilen in Bolivien, den indigenen Völkern des Amazonas oder den Mapuche in Chile geführt wurden, sind sie zu wichtigen AkteurInnen gegen den Neoliberalismus, die kapitalistische Globalisierung und die Zerstörung der natürlichen Umwelt geworden.

Doch die Parteien, die sie vertreten haben, sind den Fragen nach Klassen und politischer Führung nicht ausgewichen und hätten dies auch nicht tun können. In Ecuador demobilisierte die Konföderation der indigenen Nationalitäten Ecuadors (CONAIE), die an der Seite der Gewerkschaften die Führung im Kampf gegen die Sparmaßnahmen von Lenín Moreno übernommen hatte, die Bewegung und nahm Verhandlungen mit der Regierung auf, anstatt sie von der Macht zu verdrängen und eine ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung auf der Grundlage der Massenorganisationen des Kampfes einzusetzen.

In Bolivien hat die Bewegung für Sozialismus (MAS) die indigenen Organisationen, deren Massenkämpfe zwischen 2000 und 2003 zwei Präsidenten der neoliberalen Oligarchie aus dem Amt vertrieben haben, übernommen, bürokratisiert und gespalten. Dies zeigt, dass ein Bündnis zwischen der landlosen und kommunalen Mehrheit der indigenen Bevölkerung und den ArbeiterInnen von entscheidender Bedeutung ist, um einen solchen Führungsverrat und die mögliche rassistische Konterrevolution, die jetzt in Bolivien im Gange ist und die politischen und kulturellen Errungenschaften der letzten zwei Jahrzehnte zunichtemacht, zu vermeiden.

Überblick über die Entwicklungen

Im Laufe des letzten Jahres haben wir massenhafte Mobilisierungen von ArbeiterInnen, StudentInnen, Jugendlichen, Frauen, Bauern/Bäuerinnen und indigenen Bewegungen erlebt. Erstens gab es anhaltenden Widerstand sowohl gegen die Wahl rechter Regierungen wie in Kolumbien und Ecuador als auch gegen die Staatsstreiche in Brasilien und Bolivien, obwohl diese Kämpfe durch die auf Wahlen fixierte und versöhnliche Politik der CONAIE und der ecuadorianischen ArbeiterInneneinheitsfront (FUT) sowie durch die Führungen von MAS und PT begrenzt und behindert wurden. Hinzu kamen spontane Massenmobilisierungen gegen langjährige neoliberale Regime, die sogar vorrevolutionäre Dimensionen angenommen haben wie in Chile. In anderen Ländern, zum Beispiel in Argentinien, trugen die beeindruckenden Mobilisierungen der Frauenbewegung zur Unbeliebtheit Macris und zur Wahl einer neuen peronistischen Regierung bei.

Der stärkste Druck des US-Imperialismus und seiner AgentInnen innerhalb der kapitalistischen Oligarchien und der Militärhierarchien richtete sich gegen die radikalen bolivarischen Regime in Venezuela und Bolivien, die einen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ proklamierten.

Venezuela

In Venezuela führte der von den USA geförderte Putschversuch gegen das bolivarische Regime von Präsident Nicolás Maduro, der ihn durch Juan Guaidó ersetzen sollte, der an der Spitze einer Oppositionskoalition rechtsgerichteter politischer Kräfte steht, zu massiven Zusammenstößen mit vielen Toten, Verhaftungen und sich verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen. Nachdem der Putsch zumindest vorläufig gescheitert war, wurde eine Vereinbarung zwischen der Regierung und Teilen der rechten Opposition getroffen. Dies wird jedoch nur eine vorübergehende Pause sein, da sowohl die USA als auch die Rechten entschlossen sind, das bolivarische Regime zu stürzen. Die Sanktionen und die Wirtschaftsblockade, die von den USA unter Barack Obama 2015 verhängt und unter Donald Trump verschärft wurden, haben die wirtschaftlichen Nöte der VenezolanerInnen noch verschärft, darunter die Hyperinflation und den weit verbreiteten Hunger, der über drei Millionen Menschen zur Abwanderung in die Nachbarländer veranlasst hat.

Die Vereinigten Staaten haben zudem mit Hilfe von Institutionen wie der Bank von England Milliarden Dollar von Venezuelas Auslandsvermögen beschlagnahmt, darunter einen Großteil der 6,6 Milliarden US-Dollar an ausländischen Goldreserven. Das reale BIP fiel 2019 um etwa 37,4 Prozent. Auch wenn die Drohungen mit einer direkten US-Militärintervention oder einem rechten Staatsstreich vorerst zurückgegangen sind, muss der internationale Widerstand der ArbeiterInnenklasse gegen diese imperialistischen Sanktionen, so schwach sie auch sein mögen, intensiviert werden, ganz gleich, welche Kritik an Maduro geübt werden muss.

Am 24. Oktober 2019 kam es in den Städten Caracas und Maracaibo zu Zusammenstößen zwischen regierungsnahen und -kritischen Märschen. Die Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV), die Partei Maduros, demonstrierte gegen den Internationalen Währungsfonds, gegen Imperialismus, gegen ausländische Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Völker und für Souveränität und Unabhängigkeit. Niemand sollte jedoch die Augen davor verschließen, dass die Wirtschaftspolitik des bolivarischen Regimes eine wichtige Mitschuld an den harten Bedingungen der Massen trägt und immer mehr Opfer und Härten für die Armen fordert. Die meisten ÖkonomInnen schätzen, dass die Hyperinflation im Jahr 2018 130.000 Prozent erreichte, nachdem sie 2017 durchschnittlich 863 Prozent betragen hatte.

Aus einem Bericht der Vereinten Nationen vom März 2019 geht hervor, dass 60 Prozent der venezolanischen Bevölkerung in extremer Armut leben. 3,7 Millionen Menschen leiden an Unter- und 22 Prozent der Kinder an chronischer Mangelernährung. Das Gesundheitssystem, das unter Chávez echte Verbesserungen verzeichnete, ist durch die Rückkehr vermeidbarer Krankheiten wie Tuberkulose, Diphtherie, Masern und Malaria aufgrund des mangelnden Zugangs zu Medikamenten enorm geschwächt. Zweiundzwanzigtausend ÄrztInnen, ein Drittel ihrer Gesamtzahl  im Land, haben es verlassen. Die „Financial Times“ berichtet, dass die Abwanderung von MigrantInnen aus Venezuela bis Ende 2020 6,5 Millionen erreichen wird. Gleichzeitig schont die Regierungspolitik das Schicksal der venezolanischen Bourgeoisie und zielt darauf ab, wirtschaftliche Unterstützung vom chinesischen und russischen Imperialismus anzuziehen.

Sie deckt auch die Korruption innerhalb des Regimes selbst. Nicht zuletzt hat Maduro Repressalien gegen jene ArbeiterInnen und ihre FührerInnen eingesetzt, die sich gegen die harten Bedingungen wehren. Nur die Tatsache, dass ein erheblicher Teil der Massen befürchtet, die Lage würde sich für sie verschlechtern, wenn die Rechten die Macht gewinnen würden, und die Einbindung des Militärs und der Polizei in ein System von Privilegien und Korruption haben es Maduro ermöglicht zu überleben. Doch Venezuela ist nicht mehr der Leuchtturm der Hoffnung für die Volksbewegungen auf dem ganzen Kontinent und darüber hinaus, sondern wurde zu einer schrecklichen Warnung der Rechten und der US-Medien vor dem, was mit denen geschieht, die versuchen, eine Revolution zu starten oder den Sozialismus einzuführen.

Bolivien

In Bolivien wurde Evo Morales für eine vierte Amtszeit zum Präsidenten gewählt. Die bolivianische Rechte versammelte ihre faschistische Jugendbewegung unter dem Führer des Komitees von Santa Cruz, Luis Fernando Camacho, sowie einige unzufriedene Kräfte aus den sozialen Bewegungen und beschuldigte Morales des Wahlbetrugs und behauptete, sein Sieg sei unrechtmäßig gewesen, was in Wirklichkeit darauf abzielte, ihn zu stürzen. Die Polizei schloss sich den Übergriffen rechter DemonstrantInnen gegen gewählte MAS-FührerInnen an, anstatt sie zu unterbinden. Morales versuchte wiederholt, die Rechte zu besänftigen, indem er ihr anbot, die Wahlergebnisse von der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) untersuchen zu lassen und sie sogar noch einmal zu wiederholen. Doch kein Zugeständnis konnte die Rechte beschwichtigen. Unterdessen ließ er seine MassenunterstützerInnen in El Alto und Cochabamba führerlos zurück. Der entscheidende Moment kam, als der von ihm ernannte Armeechef, General Williams Kaliman, ihn zum Rücktritt aufforderte. Unter der Bedrohung durch rechte Mobs traten er und Vizepräsident Álvaro García Linera zurück und flohen aus dem Land. Die MinisterInnen der MAS demissionierten ebenfalls, wodurch der Weg frei wurde für die weiße Rassistin und katholische Frömmlerin Jeanine Áñez Chávez, die sich zur amtierenden Präsidentin erklärte.

Für Mai sind Wahlen angesetzt, aber alle echten PutschgegnerInnen werden auf große Hindernisse stoßen. Polizei und Militär haben die Jagdsaison für eröffnet auf diejenigen erklärt, die sich zur Wehr setzen. 30 von ihnen sind seit dem Putsch getötet worden. Symbolisch hat die Regierung die von Morales gegründete, antiimperialistische Juan-José-Torres-Kommandoschule geschlossen, ein vergeblicher Versuch, die Kultur des Militärs zu verändern. Stattdessen hat sie die Militärschule „Helden von Ñancahauzú“ eröffnet, die nach den MörderInnen von Che Guevara benannt wurde. Williams Kaliman wurde nur wenige Tage, nachdem er Morales verraten hatte, abgesetzt.

Es liegt auf der Hand, dass diese Ereignisse eine gewaltsamere Version jener sind, die zum Sturz der PT-Präsidentin Dilma Rousseff in Brasilien geführt haben. Während die konservative und rechte Opposition, angeführt von Carlos Mesa, Präsident von 2003 bis 2005, mehr Privatisierungen, mehr Öffnung für den Neoliberalismus und die Abschaffung der von der regierenden MAS eingeleiteten Sozialreformen fordert, konnten die Rechten auch deshalb ehemalige AnhängerInnen von Morales, darunter den wichtigsten Gewerkschaftsbund COB, für eine Einwilligung zum Putsch gewinnen, weil dieser in den vergangenen Jahren begonnen hatte, die Wirtschaft und ihre Bodenschätze für ausländische InvestorInnen zu öffnen und sich selbst gegen Teile der Massen wandte. Genau wie die bolivarische Regierung in Venezuela griff Morales wichtige Teile seiner sozialen Basis an und wandte sich einer autoritäreren und bonapartistischen Herrschaftsform zu. Anders als in Venezuela gelang es der Rechten, sich nicht nur als falscher Ausdruck von „Demokratie“ zu präsentieren, sondern auch das Oberkommando und die Polizei für einen wirksamen Staatsstreich zu gewinnen.

Chile

Chile erlebt eine große Revolte, die damit begann, dass StudentInnen gegen die Erhöhung der Fahrpreise für öffentliche Verkehrsmittel kämpften. Als die Regierung beschloss, einen Rückzieher zu machen und den Erlass zur Neuanpassung der Tarife aufzuheben, war es zu spät. Die Bewegung hatte sich bereits ausgebreitet und verknüpfte verschiedene Sektoren der Unterdrückten, die soziale und wirtschaftliche Forderungen nach einem Bruch mit dem Erbe des Neoliberalismus erhoben. Die Regierung reagierte darauf mit der Verhängung einer Ausgangssperre auf der Grundlage der Gesetze, die während der Herrschaft des Diktators Pinochet erlassen wurden. Die Massen haben jedoch auf den Straßen ihren Mut und ihre Entschlossenheit bewiesen, indem sie der Bedrohung durch gepanzerte Fahrzeuge, Schlagstöcke, Tränengasbomben und dem allgemein harten Durchgreifen der Polizei trotzten und den Abgang von Präsident Sebastián Piñera forderten.

Bei Auseinandersetzungen mit den Ordnungskräften wurden seit Oktober 31 DemonstrantInnen getötet, Tausende verletzt und mehr als 6.000 verhaftet. Doch dies konnte den Geist der Bewegung nicht brechen, die zu Generalstreiks aufrief, embryonale Formen von ArbeiterInnen- und Volksräten und Selbstverteidigungsgruppen schuf. Die Führung der Bewegung, die Kommunistische Partei Chiles, die Frente Amplio (Breite Front) und die Gewerkschaftsbürokratie versuchten jedoch, den Kampf auf politische und soziale Reformen zu beschränken, anstatt für einen unbegrenzten Generalstreik zum Sturz der Regierung und zur Errichtung einer ArbeiterInnenregierung auf Grundlage von Räten und Massenbewaffnung zu plädieren.

Die Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung findet jedoch große Unterstützung, denn die aufständische Jugend will alle Reste der von Pinochet hinterlassenen autoritären Verfassung beseitigen. Die kritischen Fragen sind, ob diese wirklich souverän sein wird, ob die Wahlen transparent sein werden und ob es auf ihrer Tagesordnung steht, die MörderInnen des Volkes, alte und neue, vor Gericht zu bringen. Wird sie alle neoliberalen Institutionen hinwegfegen? Wird sie den Bedürfnissen der indigenen Bevölkerung gerecht werden und die eklatante Ungleichheit angehen, die das Land auf einem Kontinent der Ungleichheit prägt? Um dies zu erreichen, müssen die Jugend, die ArbeiterInnen, die Mapuche-Bewegung eine Mehrheit in der Versammlung erringen und sie verteidigen, wann immer sie radikale oder gar revolutionäre Maßnahmen ergreift.

Brasilien

Trotz ihrer offensichtlichen Apathie wird die Situation der ArbeiterInnen in Brasilien immer ernster: hohe Arbeitslosigkeit, Verlust der politischen Rechte, Umweltverbrechen, die die Bevölkerung beeinträchtigen, eine rückläufige Wirtschaft und nun der Abbau der öffentlichen und sozialen Sicherheit. Linke Organisationen wie der Hauptgewerkschaftsbund CUT und die ArbeiterInnenpartei PT kommen ihrer Pflicht zur Mobilisierung und Organisierung der ArbeiterInnenklasse nicht nach. Stattdessen knüpfen sie ihre Hoffnungen an die Spaltungen unter den PolitikerInnen der herrschenden Klasse, die durch einige Maßnahmen der Bolsonaro-Regierung entstanden sind. Wir können hoffen, dass die Welle der Rebellionen, die über Lateinamerika hinwegfegt, der brasilianischen ArbeiterInnenklasse und ihren Organisationen als Ansporn dient, diese Lähmung zu überwinden und entweder die Führung zur Erfüllung ihrer Pflichten zu zwingen, indem sie die Straßen des Landes zurückerobert, oder indem die AktivistInnen der Basis selbst Aktionen koordinieren.

Argentinien

In Argentinien wurde Mauricio Macri bei den Präsidentschaftswahlen von Alberto Fernández und seiner Vizekandidatin, der ehemaligen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner, geschlagen. Die PeronistInnen feiern nun ihren Sieg und haben das Ende von Macris Austeritätspolitik versprochen. Nach mehreren Generalstreiks, die die Straßen des Landes eroberten und die argentinische Hauptstadt erzittern ließen, spiegelt das Ausmaß der Zustimmung zu Fernández und Kirchner eine Verschiebung nach links wider. Doch die neue peronistische Regierung sieht sich einem Land in schwerer Wirtschaftskrise, mit einer nachgebenden Währung und einem zunehmenden Kapitalabfluss gegenüber.

Inzwischen hat die Krise bereits zu einer Verarmung von Millionen Menschen geführt und es ist klar, dass die neue Regierung kein Programm hat, das diese Probleme lösen könnte. Sie versucht, zwischen dem Imperialismus und seinen Institutionen wie dem IWF, der argentinischen Bourgeoisie und dem Druck der Massen zu manövrieren. In dieser Situation sind soziale Erschütterungen absehbar. Die Zustimmung von 2,18 Prozent für Nicolás Del Caño von der Front der Linken und der Arbeiterinnen (FIT Unidad) zeigt, dass es ein echtes Potenzial für die Entwicklung einer alternativen ArbeiterInnenführung gibt, vorausgesetzt, sie kann die Massen und Gewerkschaften vom Peronismus wegbrechen.

Uruguay

In Uruguay fand die erste Runde der Präsidentschaftswahlen am 27. Oktober und die zweite am 24. November statt. Im ersten Wahlgang erhielt Daniel Martínez von der mitte-linksgerichteten Breiten Front (Frente Amplio) die meisten Stimmen, aber im zweiten Wahlgang gewann der rechtsgerichtete Kandidat Luis Alberto Lacalle Pou die Mehrheit. Nun kontrollieren die Rechten sowohl das Parlament als auch das Präsidialamt. Dies ebnet den Weg für größere Angriffe wie die Verfassungsreform des Kongresses, die darauf abzielt, die Gefängnisstrafen für schwere Straftaten zu erhöhen, einschließlich der Einführung „lebenslanger Haft“, der Einrichtung einer Polizei mit Militärpersonal, der Genehmigung von nächtlichen Arrests mit richterlicher Genehmigung und der wirksamen Vollstreckung von Urteilen. Viele UruguayerInnen verstehen sehr gut, dass dies den Weg in eine Diktatur bedeutet. Es ist der Versuch der Rechten, im Dienste des US-Imperialismus ganz Lateinamerika zu beherrschen. Genau aus diesem Grund wurden die Straßen von Montevideo, der Hauptstadt Uruguays, Anfang dieses Jahres von riesigen Massen von DemonstrantInnen besetzt. Jetzt, mit dem neuen Präsidenten, stehen entscheidende Kämpfe bevor.

Haïti, Honduras, Kolumbien

Haïti befindet sich in einer großen Krise, die durch Treibstoffmangel und institutionalisierte Korruption verursacht wird. Bei spontanen Protesten kam es zu Straßenblockaden mit Steinen und brennenden Reifen. Neben der Metropolregion wurden auch aus der Stadt Arcahaie in der Artiboniteregion, aus Mirebalais in der Zentralregion, vom nördlichen Kap Haïtis und von verschiedenen Punkten im Süden des Landes totale Blockaden gemeldet. Das Land ist wie Chile mit einer sozialen Krise und einem eskalierenden Klassenkampf konfrontiert, der die Frage einer sozialistischen Revolution aufwirft.

In Honduras gingen Tausende auf die Straßen der Hauptstadt und forderten den Rücktritt von Präsident Juan Orlando Hernández wegen Anschuldigungen, die ihn mit Drogenhandel in Verbindung bringen. Die Protesttage waren geprägt von Straßensperren, Barrikaden auf den Hauptstraßen und Studentenprotesten. Hernández kam 2014 an die Macht und genießt seither die Unterstützung der Streitkräfte, der nationalen Polizei und des Obersten Gerichtshofs.

In Kolumbien gingen Tausende von StudentInnen auf die Straße und besetzten am 10. Oktober die Straßen von Bogotá. Die Bevölkerung ist angewidert von der Sparpolitik, die das Volk erstickt, und von der imperialistischen Plünderung, die von ihren Regierungen begünstigt und ermöglicht wird, wie es in Brasilien geschieht. Diese Art von Politik führt zur Zerstörung des Bildungssystems, der öffentlichen Verwaltung und der demokratischen Freiheiten. Wir können sagen, dass Kolumbien ein weiterer Druckkochtopf ist, der dabei ist zu explodieren.

Krise der „demokratischen Herrschaft“

Die Wirtschaftskrise und der Kampf zwischen den imperialistischen Mächten, insbesondere der Versuch der USA, den Kontinent wieder zu ihrem Hinterhof zu machen, hat zu einer Untergrabung „konstitutioneller“ oder relativ stabiler Formen parlamentarisch-demokratischer Herrschaft geführt. Dies steht in klarem Gegensatz zur Etablierung des Neoliberalismus in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren, als die wirtschaftliche Agenda der Globalisierung zusammen mit der Errichtung relativ stabiler Formen demokratischer Herrschaft durchgesetzt wurde.

Dies hat jedoch in den letzten Jahrzehnten ein Ende gefunden. Linkspopulistische Regime wie das venezolanische oder bolivianische oder das von ReformistInnen wie der PT geführte in Brasilien kamen auf der Grundlage von Massenmobilisierungen und demokratischen Wahlen an die Macht, haben aber trotz bedeutender, wenn auch begrenzter Reformen wachsende Teile ihrer AnhängerInnen enttäuscht. Sie wurden zudem in bürgerliche Regierungsformen im Namen des Kapitalismus integriert, auch wenn große Teile der Bourgeoisien und des US-Imperialismus sowie seiner Verbündeten sie stets beseitigen wollten. Ihre Kompromisse mit dem Kapital, die schließlich ihre „Reform“-Projekte untergruben, haben tatsächlich den Weg für das Erstarken der Rechten und erfolgreiche Umstürze geebnet, so wie die PeronistInnen unter den Kirchners Macri weichen mussten. Die Angriffe der bolivarischen Regierungen auf ihre eigene soziale Basis boten den Rechten außerdem die Möglichkeit, sich als VerteidigerInnen der Demokratie zu präsentieren.

Die Putsche gegen Dilma/Lula und Morales, die Staatsstreichversuche in Venezuela, die Unnachgiebigkeit der kolumbianischen Rechten, all dies zeigt, dass eine wachsende Zahl lateinamerikanischer KapitalistInnenklassen bereit und willens ist, antidemokratische und verfassungsfeindliche Mittel bis hin zu Armeeaufständen und dem Einschalten rechter oder sogar faschistischer Banden und Mord einzusetzen.

Die Bourgeoisie und auch der US-Imperialismus haben erkannt, dass sie sich angesichts der gegenwärtigen Krise nicht auf „respektable“ offen bürgerliche Parteien und den Parlamentarismus verlassen können, um ihre Programme über einen längeren Zeitraum durchzusetzen. In Brasilien muss der Putsch, der Dilma Rousseff stürzte, noch vollendet werden, und die Regierung Bolsonaro könnte sich durchaus als nur vorübergehender Schritt erweisen, der zu einem Militärputsch führen könnte, unterstützt durch organisierte rassistische und sogar faschistische Mobilisierungen. Dies ist auch eine Folge davon, dass viele der „traditionellen“ bürgerlichen Parteien selbst nur über einen geringen Rückhalt unter den Massen verfügen.

Für die herrschenden Klassen in Lateinamerika gibt es in der gegenwärtigen Situation zwei Hauptformen der Regierung/Herrschaft, die einen Ausweg aus der gegenwärtigen Krise bieten könnten. Entweder greifen sie auf Formen des Bonapartismus oder auf die Volksfront zurück, d. h. eine Regierung, die sowohl Parteien/Organisationen der ArbeiterInnenklasse als auch solche der Bourgeoisie/Kleinbourgeoisie vereint. Die wachsende Tendenz zu bonapartistischen Herrschaftsformen findet eindeutig Rückhalt im Militär und im Staatsapparat sowie beim Großkapital und imperialistischen Mächten und InvestorInnen, wie man an der Unterstützung für Bolsonaro durch verschiedene westliche Wirtschaftsverbände und Unternehmen sehen kann.

In einer Reihe von Ländern präsentieren sich die Rechten als eine „populäre“ Kraft, genauer gesagt als eine populistische Kraft. Auf diese Weise versuchen sie, die Unterstützung des KleinbürgerInnentums und der „Mittelschichten“ und sogar einiger Teile der ArbeiterInnenklasse zu gewinnen. Sie verbinden den Ruf nach Recht und Ordnung mit einem „starken Staat“, der die Gesellschaft von den korrupten „Linken“, „Liberalen“, FeministInnen, … „ParasitInnen“ säubern wird, die den Erfolg „des Landes“ verhindern, wobei mit „Land“ die Bourgeoisie und das KleinbürgerInnentum gemeint sind. Sie zielen darauf ab, eine aggressive neoliberale Agenda mit engen Beziehungen zur Wirtschaft und zum Militär auf der einen Seite und eine ultrareaktionäre Politik gegen nationale und rassische Minderheiten, indigene Völker, Frauen und LGBTQ+-Menschen, Bauern/Bäuerinnen und Obdachlose, ArbeiterInnen sowie StudentInnen zu verbinden. Die evangelikalen Kirchen fungieren oft als Vermittlerinnen dieser reaktionären Ideologie und dienen der Organisation einer Massenbasis.

Zwar gibt es Gründe, einige dieser politischen Kräfte als „faschistisch“ zu bezeichnen, doch sollte man mit der Verwendung dieses Begriffs im Hinblick auf gegenwärtige rechte Regierungen wie der von Bolsonaro vorsichtig sein. Die faschistische Herrschaft basiert auf einer Größenordnung reaktionärer Massenmobilisierungen, die jede Art von Opposition, insbesondere aber die Organisationen der ArbeiterInnenklasse, atomisiert und reaktionäre, pogromartige Mobilisierungen zum Dauerzustand machen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass sich die Rechten auf eine solche Art von Herrschaft vorbereiten, beobachtet man zum Beispiel die Zahl der tödlichen Gräueltaten durch Polizei und Milizen in Brasilien und die Bildung einer protofaschistischen Partei, die von einem allmächtigen Führer gelenkt wird. Auf der anderen Seite nutzt die reformistische Linke im Allgemeinen die Bedrohung durch den Faschismus, um für Kompromisse mit dem „kleineren Übel“ der „demokratischen“ Teile der Bourgeoisie zu plädieren.

Diese Illusionen in bürgerliche Demokratie und Klassenversöhnung führten dazu, dass die PT und die CUT, als sie der Reform des Sozialversicherungssystems entgegensahen, eine weniger als kämpferische Haltung einnahmen, indem sie nicht zu einem unbefristeten Generalstreik aufriefen und stattdessen behaupteten: „Wenn wir Brasilien zu Wahlen bringen, werden wir sie stoppen.“ Es liegt auf der Hand, dass die Strategie der PT-Führung darin besteht, darauf zu warten, dass die Regierung ihre Unterstützung durch Korruptionsskandale und unpopuläre Sparmaßnahmen zunichtemacht, damit sie bei der nächsten Wahl in einer neuen Koalition mit bürgerlichen Parteien als gemäßigte Alternative zu Bolsonaro auftreten kann.

Den rechten Regimen wie jenem von Áñez oder Bolsonaro, die mit einer offen rassistischen und sexistischen Agenda an die Macht gekommen sind, ist es noch nicht gelungen, ihre reaktionären Programme vollständig umzusetzen. Um die Errungenschaften der ArbeiterInnenklasse, der Bauern/Bäuerinnen, der rassisch Unterdrückten, der Frauen, der Armen und sexuell Unterdrückten zu zerstören, müssen sie deren Bewegungen zunächst zermürben und demoralisieren, ja atomisieren. Dies bedeutet, dass die gegenwärtige Form ihrer Herrschaft, die zwar bonapartistisch ist, aber einige parlamentarische und rechtsstaatliche Elemente beibehält, nur einen Übergangscharakter haben mag, um durch offenere diktatorische Formen mit größerem Verlass auf Militär und Imperialismus und offenere faschistische Bewegungen zur Einschüchterung des Widerstands ersetzt zu werden.

Solange diese Kräfte nicht stark genug sind, um die ArbeiterInnenklasse entscheidend zu besiegen, oder wenn offene bürgerliche Regierungen wie in Chile mit Massenbewegungen, Generalstreiks oder Volksaufständen konfrontiert sind, kann die herrschende Klasse gezwungen sein, auf andere Mittel zur Eindämmung der Massenbewegung zurückzugreifen: eine Regierung der „Volksfront“ oder der „Frente Amplio“, wie sie in Lateinamerika oft genannt wird. Historisch gesehen waren die Volksfronten in Spanien, Frankreich oder Chile die Mittel, um den Kapitalismus in revolutionären oder vorrevolutionären Krisen zu schützen.

In vielen Ländern Lateinamerikas nehmen die „linken“ Parteien selbst die Form einer Volksfront an, wie die linkspopulistischen Parteien bolivarischen Ursprungs (PSUV, MAS) oder, historisch gesehen, der Peronismus, und bestätigen damit die Analyse, die Trotzki in den 1930er Jahren über die APRA (Revolutionäre Amerikanische Volksallianz; Peru) und PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution; Mexiko) ausarbeitete. Die Frente Amplio in Chile weist heute ähnliche Merkmale auf, auch wenn sie eher ein Bündnis als eine Partei ist. In den meisten Ländern schlagen die Parteien der ArbeiterInnenklasse eine auf Wahlen ausgerichtete Strategie ein, die darauf abzielt, parlamentarische und sogar Regierungsbündnisse mit offen bürgerlichen Parteien zu bilden. Die meisten Gewerkschaften befürworten eine ähnliche Strategie, die letztlich zur Unterordnung unter eine reformistische oder populistische Agenda und damit die herrschende Klasse führt.

Die Programme des Reformismus und Linkspopulismus bieten keinerlei politische Lösung für die gegenwärtige Krise. Im Gegenteil, sie werden zu Niederlagen und Zugeständnissen an die RechtspopulistInnen führen wie die Zusammenarbeit der Frente Amplio mit Sebastián Piñera in Chile. In Bolivien zog sich die MAS aus der Mobilisierung gegen den Sturz von Morales zurück und überließ die radikaleren Teile der Bewegung in El Alto der Verfolgung durch die PutschistInnen. Das Ziel dieser Kräfte ist letztlich und ausdrücklich die Schaffung einer „bürgerlichen Reformregierung“, die den Neoliberalismus zum Stillstand bringt. Die Frente Amplio weist ganz ausdrücklich auf Salvador Allendes Unidad Popular (Volkseinheit) als „Modell“ für die Zukunft hin, obwohl dieses Beispiel in Wirklichkeit zeigt, dass eine Regierung, die einen Kompromiss mit den „demokratischen“ Teilen der herrschenden Klasse schließen will und deshalb den Kampf auf verfassungsmäßige Mittel und friedliche Reformen beschränkt, sich nicht nur als unfähig erweisen wird, ihre Versprechen einzulösen, sondern auch nicht in der Lage sein wird, zu verhindern, dass die Kräfte der Konterrevolution ihr Programm durchsetzen.

Taktiken und Strategie

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass RevolutionärInnen an der Seite der reformistischen Massenorganisationen, der Gewerkschaften und der Basis der populistischen Parteien kämpfen. Es ist notwendig, die Einheitsfronttaktik systematisch anzuwenden, um die Massen gegen die Bourgeoisie zu mobilisieren und die Massenbasis vom Linkspopulismus und Reformismus wegzubrechen. Wir müssen ihre FührerInnen auffordern, die ArbeiterInnenklasse unabhängig von allen bürgerlichen Parteien zu mobilisieren und, falls sie gewählt werden, Regierungen der ArbeiterInnenklasse zu bilden, die mit der Bourgeoisie brechen und die Massenorganisationen der ArbeiterInnen, Bauern/Bäuerinnen und Armen mobilisieren, um die Macht in die Hände ihrer Räte und Milizen zu legen.

Wie bereits gesagt, liegt in Argentinien der Schlüssel darin, dafür zu kämpfen, dass die Gewerkschaften mit dem Peronismus brechen und eine Massenpartei der ArbeiterInnenklasse gründen. Argentinien ist eines der wenigen Länder, in denen trotzkistische Organisationen bei nationalen Wahlen einen bedeutenden Einfluss errungen haben. Die Front-Unity der Linken und Arbeiter*innen – Einheit (FIT-U) ist ein Bündnis, das sich auf die beiden größten trotzkistischen Gruppen konzentriert, die Sozialistische ArbeiterInnenpartei (PTS) und die ArbeiterInnenpartei (PO). Obwohl FIT-U auf einer Plattform der Klassenunabhängigkeit stand, kann dies nicht einfach dadurch erreicht werden, indem man bei Wahlen kandidiert oder militante Gruppen von ArbeiterInnen unterstützt, so wichtig diese beiden Taktiken auch sind.

Seit dem Zweiten Weltkrieg hat der Peronismus, ein konservativer bürgerlicher Populismus, die wichtigsten Gewerkschaften fest im Griff, insbesondere den Allgemeinen Gewerkschaftsdachverband (CGT). Um diesen Einfluss zu durchbrechen, ist es notwendig, in allen Verbänden darauf hinzuwirken, dass die Gewerkschaften sich vom Populismus und auch vom Liberalismus lösen und eine unabhängige ArbeiterInnenpartei gründen. Kräfte wie die FIT-U könnten einen bedeutenden Einfluss haben, wenn sie dies tun würden, aber trotz ihrer Bekenntnisse zum Trotzkismus und Leninismus ignorieren sie die Beispiele von Lenin und Trotzki über die Taktik des Kampfes für ArbeiterInnenparteien in Ländern, in denen MassenarbeiterInnenparteien nie entstanden sind. In einer solchen Partei müssten RevolutionärInnen von Anfang an für ein revolutionäres antikapitalistisches Programm kämpfen.

In den meisten Ländern Lateinamerikas ist die Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung immer wieder in den Vordergrund gerückt. Darin spiegeln sich einerseits die zunehmenden Angriffe auf die demokratischen Rechte, aber auch die populistischen und reformistischen Grenzen der Führungen der Bewegungen wider.

Eine verfassunggebende Versammlung, die von den FührerInnen der oppositionellen Bewegungen zusammen mit VertreterInnen des Staatsapparats oder des bestehenden Regimes einberufen wird, kann nur eine Täuschung sein, die darauf abzielt, die Massen während einer Periode des „Übergangs“ zu spalten und zu demobilisieren. Dies geht aus den Erfahrungen mit der bolivianischen CA (Verfassunggebende Versammlung Boliviens) in den Jahren 2006-2007 hervor. Die Massenbewegungen von ArbeiterInnen, armen Bauern/Bäuerinnen und indigenen Gruppen hatten diese seit 2000 gefordert. Ihr Ziel war die Errichtung einer Volksdemokratie auf der Grundlage der kommunalen Organisationen und Gewerkschaften. Damit sollten die Öl-, Gas- und Mineralreserven des Landes verstaatlicht und den GroßgrundbesitzerInnen die Landgüter abgenommen werden. Die Massen wurden jedoch von der MAS unter Evo Morales betrogen. Obwohl sie das Land als „plurinationale Republik“ bezeichnete, hielt die MAS Armee, Polizei, Parlament und Justiz intakt, wenn auch die Wiphala (Regenbogenfahne, Flagge der indigenen Völker Boliviens) auf ihren Uniformen prangte und von öffentlichen Gebäuden wehte. Der Putsch von 2019 hat gezeigt, dass, wenn die Massen diese bürgerliche Staatsmaschine nicht zerschlagen, jede neue Verfassung nur eine Fassade sein wird, hinter der sich die Konterrevolution versteckt, bis die Zeit reif ist zuzuschlagen.

In einer Reihe von Ländern könnte die Forderung nach Einberufung einer freien und souveränen verfassunggebenden Versammlung ein wichtiges Mittel sein, um den bürgerlich-demokratischen Bedürfnissen von Millionen von Menschen gerecht zu werden und ihnen die Illusionen zu nehmen. Aber es ist auch klar, dass selbst die demokratischste verfassunggebende Versammlung immer noch eine bürgerliche Institution, eher ein Terrain für den Kampf als ihre Auflösung wäre. Deshalb dürfen wir diese Forderung nicht fetischisieren, sondern müssen sie richtig nutzen. Obwohl sie in einer Reihe von Ländern wichtig ist, darf sie in keinem Land als Allheilmittel angesehen werden. Wo sie aufgeworfen wird und notwendig ist, müssen wir dies auf revolutionäre Weise tun, indem wir für Wahlen zu einer solchen Versammlung kämpfen, die von Organisationen der ArbeiterInnenklasse und der armen Bauern/Bäuerinnen sowie von Aktionsräten kontrolliert und von einer ArbeiterInnen- und Volksmiliz verteidigt wird.

Der einzige wirkliche Ausweg für die ArbeiterInnenklasse, die indigenen Völker und die Masse der Bevölkerung ist der Sturz proimperialistischer Regierungen und ihre Ablösung durch ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierungen. Die Streitkräfte, die Polizei und die Sicherheitsdienste in den Händen ihrer KommandeurInnen und ihrer US-UnterstützerInnen zu lassen, bedeutet, ein Damoklesschwert über eine solche Regierung zu hängen, wie die Ereignisse in Chile 1973 und in Bolivien 2019 nur zu deutlich gezeigt haben.

Das letztendliche Ziel müssen Regierungen sein, die auf der Grundlage der ArbeiterInnen- und Volksräte alle Kräfte der bürgerlichen Repression und der imperialistischen Einflussnahme zerschlagen und durch bewaffnete Milizen ersetzen, die aus den Selbstverteidigungsorganen der ArbeiterInnen und des Volkes hervorgehen und diejenigen SoldatInnen heranziehen, die sich auf die Seite der Bewegung der Massen stellen. Dies wäre ein großer Schritt zur Umkehrung der reaktionären Flut, die in den letzten Jahren scheinbar alles mit sich zog, und könnte zur Schaffung der Vereinigten Sozialistischen Republiken Lateinamerikas führen.

Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir jedoch die akute Führungskrise der ArbeiterInnenklasse auf dem Kontinent überwinden. Die vorherrschenden Kräfte in den entstehenden und sich entwickelnden sozialen Kämpfen sind nach wie vor linkspopulistisch oder reformsozialistisch geprägt. Um zu verhindern, dass diese Führungen die Bewegungen erneut in die Irre führen, muss die ArbeiterInnenklasse ihre eigenen revolutionären Parteien aufbauen, damit sie den Volksmassen, den Bauern und Bäuerinnen, den Landlosen, der städtischen Kleinbourgeoisie, den indigenen Gemeinden und den verschiedenen sozialen Bewegungen tatsächlich eine Führung geben und sie hinter einem Aktionsprogramm mit Übergangsforderungen vereinigen kann, das zur sozialistischen Revolution und zur Umgestaltung des gesamten Kontinents führt.




Evangelikales Christentum – Die Stoßtruppen der Rechten

Kayla Molodoy, Workers Power USA, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Jahrzehntelang hat die christliche Rechte in den USA den
Widerstand gegen die Abtreibung in den Mittelpunkt ihrer politischen Mission
gestellt, indem sie sexuelle und reproduktive Fragen zur Mobilisierung einer
breiten Anhängerschaft zur Waffe gemacht hat. Seit ihrer kollektiven Hinwendung
zu politischem Aktivismus während Reagans triumphalem Präsidentschaftswahlkampf
1980 ist der Evangelikalismus das Rückgrat der Republikanischen Partei in den
USA und wird in Lateinamerika, insbesondere im Brasilien von Bolsonaro,
zunehmend politisiert.

Während die unheilige Allianz zwischen religiösen
ExtremistInnen und imperialistischen ProfitmacherInnen ihre Kontrolle über den
Staat festigt, laufen die Frauenrechte Gefahr, zum Opferlamm auf dem Altar des
anhaltenden Wahlerfolgs der Rechten zu werden.

Das Wachstum des politischen Evangelikalismus in den USA

Der Evangelikalismus nahm in Amerika erstmals im 18.
Jahrhundert erkennbare Gestalt an und entwickelte sich bis Mitte des 19.
Jahrhunderts zum „Evangelikalen Reich“, einer einflussreichen Bewegung, die
sich zunächst mit liberalen Themen wie der Abschaffung der Sklaverei und der
Strafrechtsreform beschäftigte, bevor sie sich über Darwins Evolutionstheorie
und eine fundamentalistische Bibelauslegung zersplitterte.

Der moderne Evangelikalismus geht auf das Ende des Zweiten
Weltkriegs zurück, als die aufeinander folgenden amerikanischen Regierungen
daran arbeiteten, das Christentum mit „amerikanischen Werten“ gleichzusetzen
und die christliche Gemeinschaft als Verteidigungslinie im Kalten Krieg zu
mobilisieren. Der Widerstand gegen die Aufhebung der Rassentrennung, die
Gegenkulturbewegungen der späten 1960er Jahre und die Entscheidung des Obersten
Gerichtshofs, Abtreibung zu einem verfassungsmäßig geschützten Recht zu machen,
im Urteil Roe gegen Wade von 1973, waren Katalysatoren für den Aufstieg der
Christlichen Rechten, der in den späten 1960er Jahren begann und bis heute
anhält.

Die republikanische Kandidatur Ronald Reagans im Jahr 1980
markierte einen Wendepunkt in der Politisierung der evangelikalen Gemeinschaft.
Im Vorfeld der Wahl begann die zuvor tolerantere und überparteiliche Haltung
der amerikanischen evangelikalen ChristInnen ihren Wandel hin zu starrer
Intoleranz, die stark durch das allgegenwärtige christliche Medienimperium
beeinflusst wurde, das vor allem von Jerry Falwell Sr. geschaffen wurde.

Falwell stand an der Spitze der christlich rechten
politischen Organisation, der Moralischen Mehrheit, und spielte eine wichtige
Rolle bei der gegenseitigen Umwerbung zwischen der Republikanischen Partei und
den Evangelikalen. Unter diesem Einfluss billigte der Republikanische
Nationalkonvent die sozial konservativste Plattform der RepublikanerInnen,
(GOP, Grand Old Party; Große Alte Partei) die es je gab, und kehrte damit seine
historische Unterstützung für die Gleichberechtigungsänderung um, wobei er als
Antwort auf den Fall Roe gegen Wade den Schutz der Rechte der Zygoten, d. h.
der befruchteten Eier, über die Rechte der Frauen stellte:

„Wir bekräftigen unsere Unterstützung für eine
Verfassungsänderung zur Wiederherstellung des Schutzes des Rechts auf Leben für
ungeborene Kinder. Wir unterstützen auch die Bemühungen des Kongresses, die
Verwendung von Steuergeldern für die Abtreibung einzuschränken.“

Erfolgreicher Aktivismus an der Basis und ein
außergewöhnliches Maß an Einsatz zur Förderung bevorzugter Themen führten zu
einer hohen Wahlbeteiligung, die Reagan mit zwei Dritteln der evangelikalen
Stimmen belohnte und bei seiner Wiederwahl auf 78 % stieg. Dieser Pakt
schuf eine für beide Seiten vorteilhafte Symbiose zwischen der politischen
Rechten und den Evangelikalen und hing fast ausschließlich von der Zustimmung
der Partei zur Übernahme der evangelikalen Linie in sozialen Fragen,
einschließlich der Abtreibung, ab.

Das Bündnis zwischen den Evangelikalen und der
Republikanischen Partei besteht bis heute, wobei es für die KandidatInnen
erforderlich ist, mit der christlichen Rechten in ihrem Sozialprogramm  übereinzustimmen, um ihre Stimmen zu
ernten und eine glühende Bekehrung zur Unterstützung des amerikanischen
Imperialismus zu garantieren.

Lateinamerika

Für Evangelikale in den USA wird nun erwartet, sich hinter
PolitikerInnen wie Trump zu versammeln – dessen persönliche Eigenschaften ihn
zu einem völlig unglaubwürdigen Vehikel für evangelikale Bestrebungen machen –,
und dies ist fast eine Selbstverständlichkeit. Aber das Wachstum der
evangelikalen Bewegung in Lateinamerika und die Verbindungen zwischen dem
brasilianischen und amerikanischen Evangelikalismus verleihen der Christlichen
Rechten eine neue internationale Dynamik.

Die ersten protestantischen Evangelikalen landeten im 19.
Jahrhundert in Brasilien, eine zweite Welle kam in den 1940er Jahren mit dem
Aufkommen der Foursquare Church (International Church of the Foursquare Gospel)
aus Kalifornien, komplett mit zirkusähnlichen Zelt„erweckungen“ à la Billy
Graham, die eine große Anziehungskraft hatten. Eine dritte Welle in den 1970er
Jahren brachte eine „neupfingstliche“ Bewegung, die von der brasilianischen
Universalkirche des Königreichs Gottes (UCKG) angeführt wurde. Gegründet von
Edir Macedo, einem gegen Schwarze heftig hetzenden  und möglicherweise reichsten religiösen Führer der Welt, ist
ihr Einfluss auf die brasilianische Politik extrem geworden, wobei er über eine
enorme institutionelle Vertretung verfügt.

Die Wahl von Jair Bolsonaro wurde mit Hilfe des
evangelikalen Establishments Brasiliens , dominiert von der UCKG, erreicht.
Bolsonaro ist, wie Trump, ein frauenfeindlicher, rassistischer homophober
Politiker, der eine aktive rechtsextreme Unterstützungsbasis antreibt. Er
sympathisiert auch mit der Militärdiktatur, die von 1964 bis 1985 in Brasilien
an der Macht war, wobei seine einzige Kritik darin besteht, dass „die Situation
des Landes heute besser wäre, wenn die Diktatur mehr Menschen getötet hätte“.

Das wichtigste politische Handicap, mit dem sich die rechten
Parteien in Lateinamerika konfrontiert sehen, ist die anhaltende Wahlschwäche
aufgrund ihrer fehlenden Verbindungen zu Nicht-Eliten. Bolsonaro und
seinesgleichen bieten bereitwillig Verbindungen zur obersten Spitze an und
bringen eine Vielzahl evangelikaler WählerInnen ein, vor allem aber die untere
Mittelschicht.

Dies ist wichtig, weil sich der Anteil der evangelikalen
ChristInnen in Brasilien von 9 Prozent im Jahr 1990 auf 22 Prozent mehr als
verdoppelt hat und derzeit auf 31 Prozent geschätzt wird. Es wird erwartet,
dass sie bis 2032 die Zahl der KatholikInnen übertreffen werden – und die
Rechte will ihr Wahlbündnis mit ihnen festigen.

Wir sehen eine ähnliche Dynamik bei den jüngsten Ereignissen
in Bolivien mit der Amtsenthebung von Evo Morales durch Luis Fernando Camacho,
einen fundamentalistischen und evangelikalen christlichen Multimillionär, der
geschworen hat, den linkspopulistischen Einfluss der von Morales vertretenen
und beschützten indigenen Mehrheitsbevölkerung zu beseitigen.

Die bolivianische Übergangspräsidentin Jeanine Áñez erklärte
am Tag des Staatsstreichs: „Die Bibel ist in den Palast zurückgekehrt“. Obwohl
die bolivianischen Evangelikalen einen weitaus geringeren Anteil der
Bevölkerung als in Brasilien ausmachen, ist ihre Basis in der weißen Führungs-
und Mittelschicht wegen deren angeblichen Heidentums, das durch die Anerkennung
der Erdgottheit Pachamama symbolisiert wird, in einen Rausch gegen die indigene
Mehrheit geraten.

Ein Demonstrant gegen den Putsch hat diese „Befreiung“
ironisch bedauerlich auf den Punkt gebracht : „Es ist dasselbe wie vor 500
Jahren, als die Spanier kamen und das erste, was sie den Einheimischen zeigten,
die Bibel war.“

Der wirtschaftliche Druck auf das KleinbürgerInnentum der
USA und Brasiliens und erst gar ihre Deklassierung hat sie empfänglicher für
die reaktionären Ideologien und die populistische Rhetorik von Politikern wie
Trump und Bolsonaro gemacht.

In Bolivien und Brasilien ist es ihnen gelungen, die
Unterstützung wichtiger Teile der herrschenden Klasse zu gewinnen. Diese
fürchten sich vor den milden Reformen sozialdemokratischer oder
linkspopulistischer Regierungen und ihren Versuchen, Lateinamerika aus der
Abhängigkeit vom US-Imperialismus (durch die es sich, historisch gesehen, sehr
gut geschlagen hat) herauszuholen. Der Evangelikalismus ist aufgrund seiner
historischen Wurzeln in den US-Kirchen und ihres wirtschaftlichen und
politischen Gewichts in der Bewegung ideal für diesen Zweck. Kurz gesagt, er
ist ein Werkzeug des US-Imperialismus.

Die Kulturkriege

Die evangelikale Bewegung manipuliert gekonnt angebliche
Bedrohungen der Religion, um angesichts dessen, was sie als das Schwinden des
Rangs Amerikas als „christliche Nation“ wahrnimmt, Einheit und Enthusiasmus
anzuregen.

In den USA behaupten große Nachrichtenorganisationen wie Fox
News und christliche Radio- und Fernsehstationen mit Massenpublikum regelmäßig,
dass die Fähigkeit der ChristInnen, ihre Religion auszuüben, bedroht ist. Die
Verwendung schlagwortartiger Propaganda-Phrasen wie „Krieg gegen Weihnachten“
und „Angriff auf die Werte der Familie“ verstärkt diesen Verfolgungskomplex
unter den hingebungsvollen AnhängerInnen des fundamentalen Christentums.

Doch während sie den bevorstehenden Untergang des
Christentums und die Unterdrückung der wahren Gläubigen beklagen, behalten die
Evangelikalen in Wirklichkeit einen übergroßen Einfluss auf Politik und
Regieren. Dieser „Verfolgungskomplex“als Reaktion, der das Ende des
christlichen Glaubens und einer „gottlosen Gesellschaft“ katastrophenartig
vorhersagt, ist das Kraftwerk für die Verbreitung des Evangelikalismus und das
seit Jahrzehnten.

In dieser Hinsicht ist der Aufstieg des christlichen
Zionismus innerhalb der evangelikalen Bewegung interessant. Er verbindet
unmittelbar die „Opferrolle“ des protestantischen Christentums mit dem realen
Holocaust des jüdischen Volkes und verleiht der Unterstützung Amerikas für den
Staat Israel einen religiösen Eifer.

Bei der Eröffnung der US-Botschaft in Jerusalem sagten zwei
evangelikale Pastoren aus Texas, die zum offiziellen Staatsbesuch der USA
mitgebracht wurden, dass die Gründung Israels „die Prophezeiungen der Propheten
von vor Tausenden von Jahren erfüllt hat“ und dass „der Messias [nach
Jerusalem] kommen und ein Königreich errichten wird, das niemals enden wird“.

Diese „Wir-gegen-die-Mentalität“ passt perfekt zu dem für
die evangelikale Botschaft so wichtigen Thema der Opferschaft und des Leidens.
Entfremdung und Not, die durch den Kapitalismus erneuert und als
(vermeintliche) religiöse Verfolgung getarnt wurden, wurden zu einem mächtigen
Instrument, mit dem eine große Zahl von Menschen angezogen wurde, und wurden zu
einem integralen Bestandteil der evangelikalen Identität. Wahrgenommene
Bedrohungen wie Feminismus, legalisierte Abtreibung, gleichgeschlechtliche
Heirat und die Rechte von Schwulen und Transgendern haben zu einer Botschaft
des ressentimentgeladenen Untergangs-Populismus geführt und jede Art von
Klassenbewusstsein verhindert.

Die konservativen FührerInnen aller Richtungen haben ihre
Lektion gut gelernt: Wiederhole die und identifiziere Dich mit der Gefahr des
Opferns von ChristInnen, 
versprich, ihren Glauben zu schützen, und Du wirst gewinnen! Mit den
Worten von Donald Trump, der die Stimmen von über 80 Prozent der Evangelikalen
erhielt, die etwa ein Drittel der WählerInnenschaft ausmachen: „Wir werden das
Christentum in den Vereinigten Staaten schützen.“

In Brasilien mobilisierten evangelikale FührerInnen zur
Unterstützung von Bolsenaro und seinen „traditionellen Familien“-Werten gegen
eine PT (ArbeiterInnenpartei)-Regierung, die während ihrer 13-jährigen
Regierungszeit einige Rechte für Minderheiten eingeführt, eine Debatte über die
Entkriminalisierung der Abtreibung in das Unterhaus gebracht hatte und Pläne
erwog, die Geschlechtervielfalt in den Unterrichtsplan aufzunehmen.

Innerhalb von 40 Jahren hat sich die brasilianische
Bevölkerung von neunzig Prozent KatholikInnen auf ein Drittel Evangelikale
verschoben. Die evangelikalen Kirchen betreiben heute über 600 Fernseh- und
Radiokanäle, darunter auch die zweitgrößte Fernsehgesellschaft des Landes, Rede
Record, die dem UCKG-Gründer Edir Macedo gehört.

Bolsonaro lehnte Fernsehdebatten mit anderen KandidatInnen
ab, gab Rede Record jedoch ein exklusives sowie sein erstes Interview nach dem
Gewinn des Präsidentenamtes. In diesem Interview beschrieb er die „ethische und
moralische Krise“ Brasiliens und drohte, die AnhängerInnen der PT ins Exil zu
schicken.

Politischer Evangelikalismus und seine Auswirkungen auf
Frauen

Im letzten halben Jahrhundert hat die Ehe zwischen rechter
Politik und dieser unterdrückenden christlichen Sekte die Ungerechtigkeit unter
den Armen und Minderheiten der Welt – insbesondere den Frauen – eskaliert,
indem sie die biblische Rechtfertigung der Überlegenheit des Mannes über die
Frauen benutzt hat, um das kapitalistische Patriarchat aufrechtzuerhalten.
Religionsgemeinschaften bringen die Stimme der Hälfte der Bevölkerung zum
Schweigen und lenken den berechtigten Zorn auf Verarmung und Ungleichheit
(finanziell wie sozial) in Gehorsam gegenüber der staatlichen Autorität um.

Diese Überzeugungen werden  zur Waffe für die Unterordnung von Frauen gemacht und setzen
strenge Geschlechterrollen durch, wodurch Frauen als „andere“ entmenschlicht
werden und die Notwendigkeit männlicher Autorität in einer typisch
rechtspopulistischen Strategie geschaffen wird. Die starre biblische
Machthierarchie des Autoritarismus schafft und fordert bedingungslosen
Gehorsam.

Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern sind nach diesen
Prinzipien geordnet: Ehefrauen unterwerfen sich den Ehemännern, Kinder den
Eltern, Gemeinden der Kirchenleitung, BürgerInnen dem Staat und alle Gott –
wobei Gott in der Regel der Kirchenleitung gleichgestellt wird.
Gleichberechtigung – und Klassen – gibt es in dieser Struktur nicht.

Mit Frauen am unteren Ende der Gesellschaft ist ihr geringes
Selbstwertgefühl garantiert. Da sie aufgrund ihrer angeborenen Unwürdigkeit
ständig auf Errettung angewiesen sind, lauert immer Scham und Schande.
Unverheiratet zu sein; kein Kind empfangen zu können; Sex außerhalb der Ehe zu
haben; eine Schwangerschaft abzubrechen; vergewaltigt zu werden; nicht so klug,
so fähig, so fleißig wie ein Mann zu sein, basiert auf dem Gefühl der Scham,
einer Schande, die durch den Willen Gottes erzwungen wird.

Sogar die Mehrheit der nicht-evangelikalen Frauen, die sich
nicht schämen, eine Abtreibung vornehmen zu lassen, wissen, dass Stigma und
Geheimhaltung sie bedecken; sie wissen nie, wem sie es sicher sagen können. Das
ist der Einfluss, den diese Bewegung auf Teile der Gesellschaft ausübt und der
uns alle zu beherrschen versucht und bedroht.

Schlussfolgerungen

Der Aufstieg des christlichen politischen Evangelikalismus
ist im Grunde eine reaktionäre Bewegung in allen Definitionen des Wortes. Er
ist eine Reaktion der KapitalistInnenklasse auf den zunehmenden Kampf gegen die
immer strengeren Sparmaßnahmen, die notwendig sind, um das System am Laufen und
profitabel zu halten.

Für Teile der ArbeiterInnenklasse ist es eine Reaktion auf
die anhaltende Stagnation des senilen Kapitalismus, der die nicht zur herrschenden
Klasse gehörenden Menschen, vor allem die Frauen, wirtschaftlich, politisch und
sozial an Boden verlieren lässt. Das Fehlen einer revolutionären
sozialistischen Alternative zur Verbesserung dieser realen Bedingungen macht
die Religion noch attraktiver.

Sie spielt mit der Angst vor dem Tod und dem Mangel an
Lebenschancen. Wenn man nämlich keine Möglichkeit sieht, seine Stellung in
diesem Leben zu verbessern, kann man genauso gut auf das Leben nach dem Tod
setzen. Gleichzeitig bietet sie eine wirkungsvolle Alternative zur
einschmeichelnden geistigen Nahrung des Katholizismus und des
Mainstream-Protestantismus, die beide weder wirkliche Möglichkeiten zur
Veränderung des heutigen Status noch die emotionale Befriedigung eines
glühenden Glaubens an ein Paradies jenseits des Todes bieten.

Und obwohl alle Teile der ArbeiterInnenklasse für dieses
kapitalistische Gift bezahlen werden, sogar die Evangelikalen, werden die
Frauen am meisten blechen. Rechte werden beschnitten, der politische Einfluss
in der Gesellschaft wird eingeschränkt, das Selbstwertgefühl wird zerstört, und
die Vorbilder für Frauen werden auf Schmarotzerinnen wie JeanineÁñez, die
derzeitige Interimspräsidentin Boliviens, reduziert.

Viele der schlimmsten Gräueltaten der Geschichte wurden unter
dem Einfluss der Religion begangen. Eine bessere Welt ist möglich, aber sie
wird für Frauen und Männer nicht unter dem Deckmantel von Religion jeglicher
Art gefunden werden.

Das bedeutet nicht, dass wir als KommunistInnen die
Unterdrückung der Religion fordern; im Gegenteil, wir fordern die Freiheit der
Religionsausübung für alle – solange eine solche Praxis nicht die Freiheit der
anderen beeinträchtigt, weder innerhalb noch außerhalb der Sekte. Man braucht
nur die verzweifelte Notlage der UigurInnen in China oder der Minderheiten in
islamistischen Regimen zu betrachten, um zu sehen, dass religiöse Verfolgung
tatsächlich existiert – und in beide Richtungen zuschlägt.

Aber während die Religion auch
unterm Kapitalismus notwendiges Opium bleibt und einen Zufluchtsort für
Milliarden in einer feindlichen und grausamen Welt bietet, predigt sie die
Unterwerfung unter die bestehende Ordnung und lenkt die Sehnsucht nach einer
besseren Welt in ihr Gegenteil, die Unterstützung von Ausbeutung und
Unterdrückung, um. Wann und wo immer religiöse Institutionen in die irdische
Welt eingreifen, widersetzen wir uns mit Händen und Füßen.

Wir brauchen eine weltweite Einheit des Kampfes auf der
Grundlage der ArbeiterInnenklasse, um diese wachsende Bedrohung auf der ganzen
Welt zu bekämpfen, mit Frauen an der Frontlinie im Kampf gegen die besondere
Unterdrückung, der sie durch die evangelikale christliche Reaktion ausgesetzt sind
und sein werden.




Lateinamerika: Welle der sozialen Erhebungen

Liga Socialista, Brasilien, Neue Internationale 242, November 2019

Erschöpft von jahrelanger
brutaler Ausbeutung haben breite Schichten der unterdrückten Bevölkerung den
Kampf um ihr Überleben in ganz Lateinamerika in die eigenen Hände genommen. Die
für die kommenden Jahre prognostizierte Krise des kapitalistischen Systems
beginnt bereits zu greifen. In den letzten Jahren haben wir dramatische
Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse erlebt, darunter den Aufstieg
rechtsextremer populistischer und halb-faschistischer Kräfte und Putschversuche
der Rechten.

Aber andererseits haben die
unterdrückten Sektoren in vielen Ländern mutig auf diese Angriffe reagiert.
Kapitalistische Krisen schaffen nicht nur Elend, Armut, Angriffe auf die
ArbeiterInnenklasse und demokratische Rechte, sondern auch Kräfte, die
zurückschlagen können, Kräfte des sozialen Wandels und schließlich der sozialen
Revolution. Offensichtlich befindet sich der Kontinent in einer Zeit des
sozialen Umbruchs und des intensiven Klassenkampfes. Eine kurze Übersicht
veranschaulicht dies.

Ein Überblick

Ecuador erlebte Anfang Oktober
einen großen sozialen Umbruch, angeführt von indigenen Völkern, die sich
schnell mit der ArbeiterInnenklasse verbanden, was Präsident Lenin Moreno
veranlasste, die vorübergehende Verlegung des Regierungssitzes von Quito nach
Guayaquil anzukündigen.

Die Massenbewegung wurde auch
durch ein Präsidialdekret ausgelöst, das die Benzinsubvention beendete und zu
einem dramatischen Preisanstieg führte. Darüber hinaus gab es einen starken
Rückgang der Zahl der BeamtInnen. Monatliche Kürzungen, die den Löhnen eines
Arbeitstages entsprechen, wurden als „Einsparung“ für den Staatshaushalt
angekündigt.

Nachdem die Regierung gezwungen
war, sich zurückzuziehen und das berüchtigte Dekret aufzuheben, hielt die
Bewegung an, während Verhandlungen mit der Regierung aufgenommen wurden. Die
indigene Bevölkerung hat jedoch bereits erkannt, dass die Regierung ihre
Führung austrickste und die Verhandlungen abschloss. Die Rückkehr der
Mobilisierungen scheint wahrscheinlich, wenn nicht sogar unvermeidlich.

In Venezuela führten der von den USA geförderte Putschversuch gegen das bolivarische Regime von Präsident Nicolás Maduro und der Versuch, ihn durch Juan Guaidó zu ersetzen, der an der Spitze einer Oppositionskoalition rechter politischer Kräfte steht, zu massiven Zusammenstößen, zu Todesfällen, Verhaftungen und Verschlechterungen der wirtschaftlichen Bedingungen. Nach dem Scheitern des Putsches wurde vorerst zumindest eine Einigung zwischen der Regierung und Teilen der rechten Opposition erzielt. Dies wird jedoch nur eine vorübergehende Pause darstellen, da sowohl die USA als auch die Rechte entschlossen sind, das bolivarische Regime zu stürzen. Die Sanktionen und die Wirtschaftsblockade, die von den USA unter Barack Obama im Jahr 2015 verhängt und unter Donald Trump verschärft wurden, haben die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der VenezolanerInnen einschließlich der Hyperinflation, des weit verbreiteten Hungers mit über drei Millionen AuswanderInnen in die umliegenden Länder noch verschärft.

Vor kurzem stießen Pro- und
Anti-Regierungs-Märsche in den Städten Caracas und Maracaibo am 24. Oktober
zusammen. Die Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV), Maduros
Partei, demonstrierte gegen den Internationalen Währungsfonds, gegen den
Imperialismus, gegen die ausländische Einmischung in die inneren
Angelegenheiten der Völker und für Souveränität und Unabhängigkeit. Niemand
sollte jedoch seine Augen vor der Tatsache verschließen, dass die
Wirtschaftspolitik des bolivarischen Regimes ein wichtiges Maß an Schuld an den
schlechten Bedingungen der Massen teilt und immer mehr Opfer und Härten für die
Armen fordert. Gleichzeitig schont die Regierungspolitik die Interessen der
venezolanischen Bourgeoisie und zielt darauf ab, wirtschaftliche Unterstützung
vom chinesischen und russischen Imperialismus zu erhalten. Sie deckt auch die
Korruption innerhalb des Regimes selbst ab. Last but not least hat Maduro die
ArbeiterInnen und ihre AnführerInnen unterdrückt, die gegen die
Verschlechterung ihrer Lage ankämpfen.

Chile

Chile erlebt eine großartige Revolte, die damit begann, dass StudentInnen gegen die Tariferhöhung im öffentlichen Nahverkehr kämpften. Als die Regierung beschloss, den Erlass über die Neuanpassung der Zölle zurückzuziehen und aufzuheben, war es zu spät. Die Bewegung hat sich bereits ausgebreitet und verbindet verschiedene Bereiche der Unterdrückten, verknüpft soziale und wirtschaftliche Forderungen mit der nach einem Bruch mit dem Erbe des Neoliberalismus. Die Regierung reagierte mit einer Ausgangssperre, die auf den Gesetzen basiert, die während der Herrschaft des Diktators Pinochet festgelegt wurden. Aber die Massen haben auf den Straßen ihren Mut und ihre Entschlossenheit bewiesen, indem sie gepanzerten Fahrzeugen, Schlagstöcken, Tränengasbomben und anderen Razzien gegenüberstanden und den Rücktritt von Präsident Sebastián Piñera forderten.

Bei Zusammenstößen mit den
Repressionskräften sind bisher mindestens 18 Menschen gestorben, 123 verletzt
und mehr als 5.500 verhaftet worden. Aber das konnte Wachstum und Dynamik der
Bewegung nicht brechen, indem sie zu Generalstreiks aufrief, embryonale Formen
von ArbeiterInnen- und Volksräten und der Selbstverteidigung schuf. Die Führung
der Bewegung, die chilenische Kommunistische Partei und die Frente Amplio
(Breite Front) sowie die Gewerkschaftsbürokratie versuchen jedoch, den Kampf
auf politische und soziale Reformen zu beschränken, anstatt für einen
unbefristeten Generalstreik zu plädieren, um die Regierung zu stürzen und durch
eine ArbeiterInnenregierung zu ersetzen.

Bolivien

In Bolivien war Evo Morales bei den Präsidentschaftswahlen für die vierte Amtszeit gewählt worden. Die bolivianische Rechte versuchte, ihre eigenen AnhängerInnen aus dem Mittelstand und unzufriedene Kräfte aus den sozialen Bewegungen zu sammeln, indem sie Morales des Wahlbetrugs beschuldigte, dass seine Kandidatur illegitim sei. De facto zielt sie auf den Sturz von Morales. Die Proteste gegen ihn erinnern eindeutig an ähnliche Versuche, „linke“ PräsidentInnen oder Regierungen wie die von Dilma Rousseff (PT) in Brasilien zu stürzen. Während die konservative und rechte Opposition unter der Führung von Carlos Mesa, Präsident von 2003 bis 2005, mehr Privatisierungen, mehr Öffnungen für den Neoliberalismus und die Abschaffung der von der regierenden MAS eingeführten Sozialreformen fordert, konnte sich die Rechte auch an einige ehemalige AnhängerInnen von Morales wenden, weil die bolivianische Regierung selbst in den letzten Jahren begonnen hat, die Wirtschaft und ihre Bodenschätze für ausländische InvestorInnen zu öffnen und sich gegen Teile der Massen wandte.

Argentinien

In Argentinien wurde Mauricio Macri bei den Präsidentschaftswahlen von Alberto Ángel Fernández und seiner Kandidatin Cristina Fernández de Kirchner besiegt. Die PeronistInnen feiern nun ihren Sieg und haben das Ende von Macris Sparpolitik versprochen. Nach mehreren Generalstreiks, die die Straßen des Landes einnahmen und die argentinische Hauptstadt erzittern ließen, spiegelt die Größe der Volksabstimmung für Fernández und Kirchner einen Linksruck wider. Aber die neue peronistische Regierung steht vor einem Land in schwerer Wirtschaftskrise. Die Währung verliert rapide an Wert, Kapital fließt ins Ausland.

Inzwischen hat die Krise
bereits zu einer Verarmung von Millionen Menschen geführt – und es ist klar,
dass die neue Regierung kein Programm hat, das diese Probleme lösen könnte. Sie
schwankt und manövriert zwischen dem Imperialismus, seinen Institutionen wie
dem IWF, der argentinischen Bourgeoisie und dem Druck der Massen. In dieser
Situation sind soziale Explosionen wahrscheinlich. Die 2,18 %, die für den
Kandidaten Nicolás del Caño von der ArbeiterInnen- und Linksfront (FIT-Unidad)
stimmten, zeigen, dass es hier ein echtes Potenzial für die Entwicklung einer
alternativen Führung der ArbeiterInnenklasse gibt, sofern sie die Massen und
Gewerkschaften vom Peronismus wegführen und brechen kann.

In Uruguay fand die erste Runde der Präsidentschaftswahlen am 27. Oktober statt, die zweite folgt am 24. November. In der ersten Runde gewann Daniel Martinez von der linken Mitte Frente Amplio (Breite Front) die meisten Stimmen mit 39,9 %. Neben dem Wahlkampf stehen die UruguayerInnen vor einem großen Kampf gegen die Verfassungsreform des Kongresses, die darauf abzielt, die Haftstrafen für schwere Verbrechen zu erhöhen, darunter die Verabschiedung von „lebenslanger Haft”, die Einrichtung einer Polizei mit Militärpersonal, die Einrichtung von Nachtgefängnissen mit richterlicher Genehmigung und die wirksame Vollstreckung von Verurteilungen. Viele UruguayerInnen verstanden sehr gut, was das bedeutet: den Weg in eine Diktatur. Es ist dies das Recht, im Dienste des US-Imperialismus zu versuchen, ganz Lateinamerika zu dominieren. Genau aus diesem Grund wurden die Straßen von Montevideo, der uruguayischen Hauptstadt, von riesigen Massen von DemonstrantInnen besetzt.

Haiti

Haiti befindet sich in einer schweren Krise, die durch Treibstoffmangel und institutionalisierte Korruption verursacht wird. Spontane Ausbrüche von Unzufriedenheit blockieren die Straßen mit Steinen und brennenden Reifen. Neben der Metropolregion wurden von der Stadt Arcahaie, der Artibonitregion, Mirebalais, der Zentralregion, dem nördlichen haitianischen Kap und verschiedenen Punkten im Süden des Landes totale Blockaden gemeldet. Das Land steht, wie Chile, vor einer sozialen Krise und einer Verschärfung des Klassenkampfes, der die Frage nach dem Sozialismus, der Revolution stellt.

In Honduras gingen am Mittwoch, den 23. Oktober, Tausende auf die Straßen der Hauptstadt und forderten den Rücktritt von Präsident Juan Orlando Hernández wegen Vorwürfen, die ihn mit dem Drogenhandel verbinden. Zu den Protesttagen gehörten Straßensperren, Barrikaden auf Boulevards und Studentenproteste. Hernández kam 2014 an die Macht und wird seither von der Armee, der Nationalpolizei und dem Obersten Gerichtshof unterstützt.

In Kolumbien gingen Tausende von StudentInnen auf die Straße und besetzten am 10. Oktober die Straßen von Bogotá. Die Bevölkerung ist empört über die Sparpolitik, die das Volk erstickt, und die imperialistische Plünderung, die von ihrer Regierung freiwillig gefördert und ermuntert wird, wie es in Brasilien geschieht. Diese Art von Politik führt zur Zerstörung des Bildungssystems, der öffentlichen Ordnung und der demokratischen Freiheiten. Wir können sagen, dass Kolumbien ein weiterer Schnellkochtopf ist, der kurz vor der Explosion steht.

In Brasilien wird die Situation der Lohnabhängigen trotz der scheinbaren Passivität immer ernster: hohe Arbeitslosigkeit; Verlust von Rechten; Umweltkriminalität, die die Bevölkerung betrifft; eine schrumpfende Wirtschaft und jetzt der Verlust von öffentlicher und sozialer Sicherheit. Linke Organisationen wie die Hauptgewerkschaftsföderation CUT und PT (ArbeiterInnenpartei) erfüllen nicht ihre Pflicht, die ArbeiterInnenklasse zu mobilisieren und zu organisieren.

Stattdessen setzen sie ihre
Hoffnungen auf die Spaltungen unter den PolitikerInnen der herrschenden Klasse,
die einige der Aktionen der Regierung Bolsonaro ermöglicht haben. Wir können
hoffen, dass die Welle der Rebellionen, die durch Lateinamerika zieht, als
Impuls für die brasilianische ArbeiterInnenklasse und ihre Organisationen
dienen wird, diese Lähmung zu überwinden und entweder die Führung zu zwingen, ihre
Aufgaben zu erfüllen, indem sie die Straßen des Landes wieder einnimmt, oder
indem die militanten KämpferInnen, die selbst Koordinationen für das Handeln
bilden, diese übernehmen.

Perspektive für den Kontinent

Die politische Situation in
Lateinamerika gleicht einem Pulverfass. Es gibt drei miteinander verknüpfte
Gründe, die die Lage trotz offensichtlicher nationaler Unterschiede
herbeiführen:

  • Erstens die bevorstehende globale Krise des Kapitalismus, die diesmal die schwächeren Volkswirtschaften der halbkolonialen Staaten trifft, noch bevor sie die imperialistischen Zentren vollständig erreicht. Auch Regionalmächte wie Brasilien werden auf Ration gesetzt, was den halb-kolonialen und pro-imperialistischen Charakter ihrer herrschenden Eliten immer stärker in den Vordergrund rückt.
  • Zweitens ist Lateinamerika selbst zu einem Schauplatz für den Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den USA und China als HauptantagonistInnen geworden, aber auch mit den europäischen Mächten und Russland als MitstreiterInnen. Die soziale Krise und ihre Kämpfe überschneiden sich in vielen Ländern mit dem Versuch der USA, ihre in den 2000er Jahren verlorene Hegemonie wiederzuerlangen. Das bedeutet, die linkspopulistischen Regierungen in Venezuela, Bolivien zu stürzen, so wie es ihnen gelungen ist, die PT-geführte Regierung in Brasilien zu verdrängen, d. h. durch Putsche, entweder „konstitutionell“ oder militärisch, unter dem Deckmantel der Mobilisierung wirtschaftlicher Unzufriedenheit durch die Bevölkerung.
  • Drittens hat die soziale und politische Krise zu einer massiven Zunahme des Klassenkampfes geführt, meist in Form einer Reaktion auf Angriffe bürgerlicher Regierungen auf die Lebensbedingungen. Einige dieser Abwehrkämpfe sind jedoch bereits zu allgemeinen politischen Auseinandersetzungen geworden (Haiti, Chile), die die Notwendigkeit revolutionärer Veränderungen aufwerfen.

Diese Regierungen, die gegen
die Interessen der Bevölkerung handeln und von den Kräften der Unterdrückung
und des Imperialismus unterstützt werden, müssen von der vereinten
ArbeiterInnenklasse, der Bauern-/Bäuerinnenschaft, den städtischen und
ländlichen Armen sowie verarmten KleinbürgerInnen in einem gemeinsamen
entschiedenen Kampf gestürzt werden. Die Bevölkerung muss auf den Straßen
weiter mobil machen und die Bewegung in einen revolutionären Generalstreik
verwandeln.

Der einzige wirkliche Ausweg
für die ArbeiterInnenklasse, die indigene Bevölkerung und die Massen ist der
Sturz pro-imperialistischer Regierungen und die Ersetzung durch ArbeiterInnen-
und Bauern-/Bäuerinnenregierungen. In einer Reihe von Ländern könnte der Aufruf
zur Einberufung einer freien und souveränen verfassunggebenden Versammlung ein
wichtiges Mittel sein, um den bürgerlich-demokratischen Bedürfnissen (und
Illusionen) von Millionen Menschen gerecht zu werden. Aber es ist auch klar,
dass selbst die demokratischste verfassunggebende Versammlung immer noch eine
bürgerliche Institution, ein Terrain für den Kampf wäre und nicht die Lösung.

Daher muss das oberste Ziel die
Schaffung von ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierungen sein, die
ArbeiterInnen- und Volksräte, die sich auf bewaffnete Milizen, die sich aus
Selbstverteidigungsorganen entwickeln, und Räten dieser SoldatInnen, die sich
auf die Seite der Bewegung der Massen stellen, stützen.

Dies wäre ein großer Schritt
zur Umkehrung der reaktionären Flut der letzten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte,
und bei der Schaffung Vereinigter Sozialistischer Republiken Lateinamerikas.

Um dieses Ziel zu erreichen,
müssen wir jedoch die Krise der Führung der ArbeiterInnenklasse auf dem
Kontinent überwinden. Die vorherrschenden Kräfte in den aufkommenden und sich
entwickelnden sozialen Kämpfen haben immer noch einen linkspopulistischen oder
reformistischen Charakter. Um zu verhindern, dass diese die Bewegungen wieder
einmal irreführen, muss die ArbeiterInnenklasse ihre eigenen revolutionären
Parteien aufbauen, damit sie tatsächlich den Volksmassen – den
Bauern/Bäuerinnen und Landlosen, der städtischen Kleinbourgeoisie, den
indigenen Gemeinschaften und verschiedenen sozialen Bewegungen – Führung geben
und sie hinter einem Aktionsprogramm vereinen kann, einem Programm von
Übergangsforderungen, das zur sozialistischen Revolution und Transformation des
gesamten Kontinents führt.