Bremen: Regierung steht – aber rechte Opposition gestärkt

Anne Moll/Bruno Tesch, Infomail 1227, 7. Juli 2023

Die ersten überlokalen Wahlen 2023 liegen mit denen im Land Bremen seit Mitte Mai hinter uns. Die Wahlbeteiligung lag mit 57 % rund 6 Punkte unter der von vier Jahren.

Ergebnisse

Entgegen dem Bundestrend, bei dem die Regierungsparteien Federn lassen mussten, hat sich die SPD bei den Landtagswahlen zur Bremischen Bürger:innenschaft wieder an die Spitze gesetzt und ihren parlamentarischen Erbhof, den sie, rechnet man die Weimarer Zeit hinzu, 90 Jahre lang verbissen verteidigt. Dennoch fuhr die Sozialdemokratie mit rund 30 % nach dem Debakel von 2019 ihr zweitschlechtestes Resultat ein. Die vorige Wahlperiode konnte sie nur durch den Senatsvorsitz in einer Dreierkoalition überstehen, obwohl sie stimmenmäßig der CDU unterlegen war.

Trotz dieser alles andere als berauschenden Tatsachen verstieg sich Amtsinhaber Andreas Bovenschulte nach der ersten Hochrechnung zur Einstufung als „historischer Tag“. Neben dem typischen Eigenlob über überzeugende Sacharbeit spielte der SPD auch die Schwäche der anderen Parteien in die Karten. Viele Wähler:innen sahen diesmal die Notwendigkeit, Stimmen gegen die große Konkurrentin CDU anzuhäufen, was zu Lasten der Mitregent:innen ging.

Abgestraft wurden vor allem die Grünen, abgesackt auf 11,9 %, deren inkonsequente Verkehrspolitik, aber auch die bundespolitisch umstrittenen Entscheidungen auf dem Energiesektor ihnen einen krassen Einbruch einbrockten. Die Spitzenkandidatin Maike Schaefer zog bereits die Konsequenzen und legte ihren Parteivorsitz einen Tag nach der Wahl nieder.

Die Partei DIE LINKE blieb von Einbußen weitgehend verschont und erzielte 10,9 % Wähler:innenanteil. Die Parteispitze führt dies in erster Linie jedoch nicht auf einen Kurs der Mobilisierung z. B. in der Tarifauseinandersetzung zurück, sondern auf ihr pragmatisches Verhältnis zu anderen Parteien. Es nimmt nicht Wunder, dass ihnen auch von über 40 % der CDU-Wähler:innenschaft eine Kompetenz in Sachen Wirtschaft – sprich kapitalistischer Mängelverwaltung – attestiert wird.

Eigentliche zahlenmäßige Gewinnerin war die rechtspopulistische Partei Bürger in Wut, die ihren Stimmenanteil auf fast das Vierfache (9,4 %) steigerte, in Bremerhaven gar auf über 20 % kam, jedoch auch Voten von der AfD abfischte, die wegen Verstoßes gegen das Wahlgesetz – sie hatte 2 Kandidat:inntenlisten eingereicht – nicht zu den diesjährigen Wahlen antreten durfte. Die Bundes-AfD will dagegen erneut Klage einreichen und erhofft sich davon eine Wahlwiederholung. Als kleinste Oppositionspartei zog auch die FDP haarscharf mit 5,1 % noch in die Bürgerschaft, das Bremer Landesparlament, ein. Das bringt die dort vertretene Parteienpalette auf ein halbes Dutzend.

Regierungskonstellation wird fortgesetzt

Die beiden braven Juniorpartner:innen, Grüne und LINKE, durften auf eine Fortsetzung des Dreibundes hoffen, zumal SPD-Chef Bovenschulte bereits im Wahlkampf seine Neigung hierzu nicht verhohlen hatte. Nach vier Wochen konnten die Verhandlungen abgeschlossen werden und nach Billigung des Vertrags durch die Landesparteitage der drei beteiligten Koalitionär:innen geriet die für Mittwoch, den 5.7., vorgesehene Wahl des neuen Senats nur noch zur Formsache.

Die Neuzusammensetzung sieht vor, dass die SPD , die wieder den Bürgermeister stellt, 4 Ressorts (Inneres, Bildung, Arbeit, Soziales, Justiz, Bau- und Verkehr) besetzt, die Grünen 2 (Finanzen, Klima und Wissenschaften) und DIE LINKE ebenfalls 2 (Wirtschaft und Häfen sowie Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz) bekleiden. Es hat auch personell einiges Stühlerücken gegeben.

Interessanter jedoch sind die durchgesickerten Konfliktpunkte, bei denen die SPD ihr Gewicht bei den Verhandlungen in die Waagschale werfen konnte. So sagte Bovenschulte: „Wir werden auch in dieser Konstellation massiven Einfluss auf die Hafenpolitik nehmen,“ und deutete an, die Linke beim Energy Port in die Kabinettsdisziplin zwingen zu können. Die neue Hafenanlage im südlichen Fischereihafen Bremerhavens als Nachfolgeprojekt für den gescheiterten Offshorehafen soll die Windenergie auf See unterstützen und als Umschlagplatz für erneuerbare Energien dienen.

Den größten Widerspruch erntete die Linie zur Politik im Gesundheitswesen, wonach Leistungen zentralisiert werden sollen, weil der Klinikverbund defizitär arbeitet und deswegen Bereiche geschlossen werden müssten. Von der fixen Idee, die Krankenhäuser als Wirtschaftsunternehmen wahrnimmt, wird also keinen Millimeter abgerückt.

DIE LINKE sieht den größten Dissens in der Innenpolitik, wo die Einsatzgruppe der Bereitschaftspolizei, die dem Streifendienst u. a. bei größeren Einsätzen unterstützt, mit Tasern (Elektroschockpistolen) ausgerüstet werden soll. Die Zahl der Polizeivollstellen soll „perspektivisch“ auf 3.860 anwachsen. All das hinderte ihren außerordentlichen Landesparteitag am Sonntag, dem 2. Juli, nicht, trotzdem mit großer Mehrheit für den Koalitionsvertrag zu stimmen. Berlin lässt grüßen!

Kein Vertrauen in Rot-Grün-Rot!

Gerade in Anbetracht der weit über den lokalpolitischen Tellerrand hinausragenden Probleme wie Inflation, immer schmalbrüstigere Budgets für Sozial- , Bildungs- und Gesundheitsbereich sind keine konstruktiven Impulse für die anstehenden Aufgaben zu erwarten.

Hochfliegende Pläne musste der Zwei-Städte-Staat schon mehrfach einmotten, wie z. B. das Space Center. Ob der geplante Energiehafen Bremerhaven sich aus dem ökonomischen und sozialen Tal heraushieven und nicht das Schicksal seines Vorgängers Offshore erleiden wird, darf mindestens angezweifelt werden.

Der Vorsatz, nicht mehr das Schlusslicht in der deutschen Bildungslandschaft zu bilden, nimmt sich dagegen fast bescheiden und realistischer aus. Die Arbeiter:innenklasse und die städtische Armut werden sich auf jeden Fall weiter warm anziehen und gegen Einschnitte in ihrem Lebensalltag ankämpfen müssen, z. B. durch Bildung von Preiskontroll- und Mieter:innenkomitees auf Stadtteilebene, die zentralisiert werden sollten.




Wiederholte Qual der Wahl

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 271, Februar 2023

Berlin wählt noch einmal. Am 12. Februar steht die Wiederholung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus und der Bezirksverordnetenversammlungen an. Das Bundesverfassungsgericht ordnete die Wiederholung des Urnengangs vom 26. September 2021 zur „Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung“ (Tagesschau 16.11.22) an.

Schließlich war die vergangene Wahl auch ein Desaster. Es wurden unvollständige Briefwahlzettel ausgeschickt. In 72 dokumentierten Fällen fehlten die Stimmzettel für den damaligen Volksentscheid von Deutsche Wohnen & Co. enteignen. In mindestens 424 Wahllokalen musste noch nach 18 Uhr abgestimmt werden, da nicht rechtzeitig ausreichend Stimmzettel vorlagen und 73 Wahllokale wurden aufgrund dessen zeitweise geschlossen. Teilweise wurden Stimmzettel vertauscht. Schlussendlich kam es in neun Prozent der Lokale zu Unregelmäßigkeiten.

Wiederholung und nicht Neuwahl

Politisch führte die Abgeordnetenhauswahl 2021 zu einer Fortsetzung der rot-grün-roten Koalition. Sechs Parteien zogen ins Abgeordnetenhaus ein (SPD: 21,4 %, Grüne: 18,9 %, CDU: 18,9 %, LINKE: 14,1 %, AfD: 8,0 % und FDP: 7,1 %). Die Wahlprognosen ähneln diesem Ergebnis mit leichten Verschiebungen. Es ist unklar, ob SPD, Grüne oder CDU die meisten Stimmen erhalten werden. Die FDP und die LINKE drohen, 2 bzw. 3 Prozent zu verlieren.

Dabei ist zu beachten: Das Prozedere am 12. Februar ist eine Wahlwiederholung, keine Neuwahl. Dementsprechend dürfen die Parteien keine Veränderungen bezüglich der aufgestellten Direktkandidat:innen sowie Landeslisten vornehmen – nur der Tod entschuldigt. Doch was bedeutet das für uns? Mehr als ein Jahr RGR2 liegt bereits hinter uns mit Auseinandersetzungen um die Krise der LINKEN, einer Konfrontation um die Frage „Regierungsbeteiligung oder Umsetzung des Mietenvolksentscheids?“, einem Krieg, einer Teuerungswelle und vielem mehr. Wir wollen dementsprechend in diesem Text auf die Politik der Koalition von SPD, Grünen und LINKEN, aber auch auf die Krise der LINKEN eingehen und unsere wahltaktischen Schlussfolgerungen darlegen.

Links blinken, rechts abbiegen?

Zahlreich sind die Versprechen für Verbesserungen, die Rot-Rot-Grün gegeben hat. Noch zahlreicher sind jedoch die, die über Bord geworfen oder so umgedreht wurden, dass man sie kaum als Verbesserungen verstehen kann. Ein Beispiel dafür ist die sogenannte Schulbauoffensive, ein Private-Public-Partnership-Modell, mit dem Versprechen, notwendige Sanierungsarbeiten zu tätigen,  das mehr schlecht als recht läuft. Hinzu kommen massive Kürzungen bei den Verfügungsfonds der Berliner Schulen. Während früher pro Schule 28.000 Euro zur Verfügung standen, sind es nun 3.000 Euro.

Auch die von den Grünen geführte Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz (Senatorin: Jarasch) kann nicht besonders glänzen: Denn RGR2 setzt den Versuch der Teilprivatisierung der Berliner S-Bahn fort und schrieb am 17. Juni 2020 die sogenannte Stadtbahn (Ost-West-Verbindung) und den Nord-Süd-Tunnel aus. Die Netzausschreibung findet in Teilen statt und die Ausschreibung der Fahrzeuginstandhaltung ist ebenfalls davon getrennt.

Besonders präsent ist jedoch der Umgang mit dem Volksentscheid Deutsche Wohnen & Co enteignen, der bereits während des letzten Wahlkampfes für einigen Aufruhr in der Parteienlandschaft sorgte. So machten die Regierende Bürgermeisterin, Franziska Giffey (SPD), und mit Abstrichen die Spitzenkandidatin der Grünen, Bettina Jarasch, schon vor der Wahl klar, dass es eine Enteignung großer Immobilienkonzerne mit ihnen nicht geben wird. Somit wurde bereits vor dem ersten möglichen Sondierungsgespräch deutlich, dass es keine Koalition geben konnte, die bereit war, den Volksentscheid umzusetzen.

Das hielt die LINKE nicht davon ab, sich bis heute als bedingungslose Unterstützerin des Volksentscheids zu inszenieren. Statt ihn aber konsequent umzusetzen, stimmte sie der Einrichtung  einer Expert:innenkommission zu, die die Enteignung objektiv verschleppt, die nicht nur das „Wie“ sondern auch und vor allem das „Ob“ diskutieren soll. Währenddessen plante DIE LINKE mit der Koalition hinterrücks die personelle Zusammensetzung der Kommission, gaukelte der Initiative DWe aber vor, selbiges mit ihr abzusprechen.

Das gibt natürlich ordentlich Raum für emotionale Empörung und ist einer der Gründe, warum sich viele Linksparteimitglieder enttäuscht von der eigenen Partei abwandten. Überraschend ist es jedoch auf der anderen Seite nicht. Schließlich besteht einer der Funktionen reformistischer Organisationen darin, soziale Proteste zu inkorporieren. Gleichzeitig hat genau dies dazu geführt, dass sich die Spaltungslinien innerhalb der Linkspartei verstärkt haben, da man auch seiner sozialen Basis gerecht werden muss.

Auch wenn die Linkspartei wahrscheinlich weiter Stimmen verlieren wird, so ist sie noch immer eine Partei mit rund 8.000 Mitgliedern und rund 250.000 Wähler:innen. Trotz Unterordnung unter die Vorgaben der Koalition und Enttäuschung vieler Anhänger:innen setzen bis heute viele Aktivist:innen sozialer Bewegungen (sogar von DWe!) und die politisch bewussteren Schichten der Arbeiter:innenklasse (z. B. Krankenhausbewegung) auf DIE LINKE – und sei es als kleineres Übel angesichts von Parteien, die ansonsten entweder für offen neoliberale, konservative und rassistische Politik stehen oder die imperialistische Aufrüstungspolitik und den Wirtschaftskrieg gegen Russland an der Bundesregierung mitverantworten.

Zerreißprobe für die Linkspartei: für eine linke Opposition!

Die Auseinandersetzung rund um das letzte Wahlergebnis zeigte auf, dass es in den unterschiedlichen Flügeln der LINKEN Differenzen gibt um die Frage, welche Politik die Partei angesichts ihrer generellen Krise anstoßen muss. Das regierungssozialistische Mehrheitslager in Berlin wie bundesweit warb für Rot-Grün-Rot und gab dafür weite Teile seiner Versprechen auf, während ein Minderheitsflügel die Beteiligung an einer Regierung mit SPD und Grünen nicht prinzipiell ablehnte, jedoch die Selbstaufgabe dafür.

Diese Orientierung der Mehrheit ist nachvollziehbar, da die LINKE seit ihrer Gründung länger an der Regierung in Berlin war als in der Opposition. Berlin ist quasi zu einem Vorzeigeprojekt der Regierungssozialist:innen geworden. Die Beteiligung an etwaigen Koalitionen wird von diesem Lager mit der Existenzberechtigung der Gesamtpartei in eins gesetzt – eine Orientierung, die ein Hindernis und keinen Zugewinn gegenüber den Angriffen auf Errungenschaften der Klasse darstellt.

Während der Minderheitsflügel in der Partei in Teilen zwar ausspricht, dass sich beide Ziele entgegenstehen, bleiben die praktischen Konsequenzen aus. In Teilen der Partei wird anerkannt, dass es sich um zwei mögliche Pfade handelt, die sie einschlagen kann: entweder Orientierung auf die Regierung oder Kampf für die Umsetzung ihrer Versprechen. Das Ausbleiben einer systematischen Opposition durch DWe selbst hängt direkt damit zusammen, dass die Initiative programmatisch auf selbige Sackgasse zusteuert: eine Umsetzung durch parlamentarische Mehrheiten.

Zwischen der Wahl und der Koalitionsbildung bildete sich innerhalb der LINKEN Widerstand. Mit der Initiative für eine linke Opposition und Anträgen gegen die Regierungsbeteiligung wurde dies greifbar, doch erstickte dies schlussendlich im Keim. Anstatt über die Urabstimmung hinaus gegen die Regierungsbeteiligung zu kämpfen, endete der organisatorische Prozess zu Beginn des Jahres 2022. Zwar gibt es weiterhin eine Reihe von Direktkandidat:innen der LINKEN, die sich gegen eine erneute Beteiligung an RGR aussprechen, doch ändert diese nichts an ihrer Zersplitterung. Unter den Parlamentarier:innen findet sich keine Person, die offen ausspricht, gegen Giffey gestimmt zu haben.

Keine offenen Treffen der Gegner:innen der Regierungsbeteiligung wurden organisiert. Der Konflikt hat sich verlagert – hin zur Frage der Umsetzung des Volksentscheids. Diese Verlagerung ist ein Ausdruck dessen, in welche Sackgasse sich die LINKE manövriert hat, jedoch zugleich ein falscher Konsens. Denn es zögert den Konflikt hinaus, da zugleich passiv auf das Ergebnis einer Expert:innenkommission gewartet werden kann, deren Urteil nicht bindend ist, und das als eine Perspektive gegen die Verhinderungstaktik von SPD und Grünen dargestellt wird.

Die Verlagerung steht also aktiv dem politischen Konflikt im Wege. In diesem Sinne muss auch die bedingungslose Unterstützung des Volksentscheides, die die LINKE kürzlich erst erneut bekräftigte, als Lippenbekenntnis gewertet werden. Für Parteilinke bedeutet das, ihre Aufgaben in der LINKEN zu erkennen, wenn sie nicht Flankendeckung zur Verteidigung der Regierungsbeteiligung bleiben möchten.

Wie verhalten wir uns dazu?

Die Aufgabe für Revolutionär:innen lautet nun aufzuzeigen, wie der linke Flügel den Kampf um seine Inhalte führen muss. Dazu muss an dieser Stelle Druck aufgebaut werden, da eine bisher systematische Organisierung des Widerstands gegen die Regierungssozialist:innen ausgeblieben ist. Zugleich sind dessen Kandidat:innen durchaus Repräsentant:innen einer bedeutenden Minderheit in der Partei und kontrollieren faktisch Bezirke wie das mitgliederstarke Neukölln.

Deswegen rufen wir zur kritischen Unterstützung der Kandidat:innen des linken Flügels der LINKEN bei den Erststimmen auf. Wir wollen damit jene Kräfte in ihr stärken, die sich gegen eine prinzipienlose Regierungsbeteiligung ausgesprochen und, wenn auch inkonsequenten, Protest gegen den Koalitionsvertrag unterstützt und organisiert haben. Das Ziel ist es, sie in die Verantwortung zu bringen und unter Druck zu setzen, den kämpferischen Worten auch ebensolche Taten folgen zu lassen.

Wir rufen daher bei den Erststimmen nur zur Wahl jener Kandidat:innen auf, um unsere Stimme gegen die Regierungsbeteiligung sichtbar zu machen. Diese Sichtbarkeit machen wir fest an drei Punkten; Erstens unterstützen wir jene Kandidat:innen direkt, die auf dem Landesparteitag der LINKEN den Antrag gegen die Regierungsbeteiligung aufgestellt haben. Zweitens rufen wir zur Stimmabgabe für jene Kandidat:innen auf, die öffentlich die Initiative „Für eine linke Opposition“ unterstützten, sowie drittens jene, die öffentlich für einen Bruch mit der Regierungspolitik der LINKEN eintreten wie beispielsweise Jorinde Schulz und Ferat Koçak, beides Direktkandidat:innen in Neukölln.

Die Unterstützung verbinden wir mit der Forderung, dem Nein-Lager einen organisatorischen Ausdruck zu geben. Zugleich rufen wir zur Zweitstimmenabgabe für DIE LINKE auf. Schlussendlich soll die eingeschlagene Taktik dem linken Flügel im Kampf zur Klarheit verhelfen und nicht durch reine Stimmabwesenheit zum Bedeutungsverlust ohne politische Alternative führen. Wäre dies der Fall, so würde unsere Wahltaktik gegenüber den Wähler:innen nichts aussagen, außer zuhause zu bleiben.  Mit dieser Taktik hingegen rufen wir dazu auf, auch über die Wahl hinaus Druck aufs Abgeordnetenhaus und die bremsende Mehrheit der LINKEN aufzubauen. Der essentielle Punkt ist nämlich nicht einfach nur, dazu aufzurufen, ein Kreuz zu machen, sondern die Stimmabgabe mit der Aufforderung zur gemeinsamen Aktion zu verbinden.

Warum schlagen wir diesen Weg ein?

Als revolutionäre Marxist:innen betrachten wir die Überwindung des Kapitalismus und damit einhergehend des bürgerlichen Staates als die zentrale Aufgabe unseres politischen Wirkens. In Konsequenz dessen spielt für uns die Organisierung und Mobilisierung der Arbeiter:innenbewegung eine zentralere Rolle als die Arbeit im Parlament, die strategisch überhaupt unfähig ist, den Kapitalismus zu überwinden. Für uns ist das Abgeordnetenhaus in diesem Sinne eine Tribüne im Klassenkampf. Der Reformismus hingegen steht dieser Aufgabenbeschreibung diametral entgegen. Während er zugleich am gewerkschaftlichen Bewusstsein kämpfender Teile der Klasse ansetzend die politische Vertretung als Partei der organisierten Arbeiter:innenschaft zu repräsentieren vorgibt, hängt er zugleich der Utopie der schrittweisen Überwindung gesellschaftlichen Elends an. Das Ziel muss also sein, das vorherrschende reformistische Bewusstsein innerhalb der Arbeiter:innenklasse – noch bürgerlich, aber von der Notwendigkeit einer Klassenpartei überzeugt – zu brechen. Das passiert nicht allein durch Denunziation oder moralische Empörung über den Verrat der bürgerlichen Arbeiter:innenparteien. Ansonsten wäre es schwer erklärbar, warum nach mehr als 100 Jahren der stetigen Enttäuschung Olaf Scholz Kanzler ist oder Giffey in Berlin regieren kann.

Das heißt: Wir rufen zur kritischen Wahlunterstützung für DIE LINKE nicht auf, weil wir denken, dass ihr Wahlprogramm, ihre Politik die dringlichsten Ziele von Arbeiter:innen, Migrant:innen, Jugendlichen, Renter:innen, Arbeitslosen oder anderen Ausgebeuteten und Unterdrückten einlösen, sondern weil sie gewählt wird von Hunderttausenden, die sie für eine soziale Kraft angesichts massiver Preissteigerungen und inmitten eines gesellschaftlichen Rechtsrucks halten. Entscheidend ist daher nicht das Programm, sondern das Verhältnis der Kandidat:innen und/oder ihrer Partei zur Klasse und den Unterdrückten. Die Taktik der kritischen Wahlunterstützung setzt an diesem Punkt an, weil wir als revolutionäre Marxist:innen nicht imstande sind, aus eigenen Kräften anzutreten. Folglich geben wir eine kritische Wahlempfehlung für nicht-revolutionäre Kandidat:innen der organisierten Klasse mit dem Ziel, auf sie Druck auszuüben und somit Teile vom Reformismus aktiv leichter wegbrechen zu können, anstatt zu warten, bis diese von selbst desillusioniert werden. Denn ob man es will oder nicht: Mit rund 8.000 Mitgliedern und rund 250.000 Stimmen bei der letzten Wahl ist DIE LINKE keine Kraft, die einfach ignoriert werden kann.

Die Illusionen i sie zerfallen nicht durch die reine Kritik an ihrer Ausrichtung, sondern dadurch, dass die Partei in die Lage versetzt wird, ihre Politik umsetzen zu müssen. Gerade angesichts der Wahlwiederholung muss deutlich gesagt werden, dass DIE LINKE bereits anschaulich bewiesen hat, dass die Regierungsbeteiligung für sie mehr bedeutet als ihrer Wähler:innenbasis. Doch der linke Flügel der Partei läuft Gefahr, dies durch seine Passivität zu legitimieren, anstatt in der Partei und Wähler:innenschaft Widerstand zu organisieren.

Daher sagen wir: Schluss damit! Wir fordern die sofortige Umsetzung des Volksentscheides, ansonsten kommt keine Koalition zu Stande. Wählt die Kandidat:innen, die diese Position vertreten haben und lasst uns gemeinsam für die Umsetzung dieser kämpfen!




Niedersachsenwahl 2022: Ampel mit zwei Lichtern

Bruno Tesch, Infomail 1201, 11. Oktober 2022

Aufregend war der Wahlkampf in Niedersachsen nicht gerade, eher waren es die überregionalen Umstände, unter denen er stattfand. Stephan Weil, der mit Sicherheit im Amt verweilende Ministerpräsident der Wahl„siegerin“ SPD, meinte: Die Wahl sei „bestimmt gewesen von den Sorgen der Bürgerinnen und Bürger“ und schwenkte um auf die Erwartung, in der Energiekrise ein gebündeltes Vorgehen von Bund und Ländern zu erleben. „Ein Maximum an Konzentration“ müsse darauf gelegt werden, „die deutsche Industrie zu schützen“. Er hatte auch schnell die Ursache allen Übels zur Hand: „Der Grund für unsere Probleme ist nicht die Bundesregierung. Der Grund ist der Angriffskrieg von Wladimir Putin auf die Ukraine.“

Richtig daran ist, dass die Landtagswahlen isoliert genommen nur geringen Aussagewert haben. Zum einen sind sie der erste bundespolitische Stimmungstest für die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP, zudem der einzige für längere Zeit, denn die nächsten Wahlen auf Regionalebene finden erst im Mai 2023 in Bremen statt. Überlagert wurde die Niedersachsenwahl durch den Handlungsdruck zu Entscheidungen, die die Krisenerscheinungen abmildern sollen. Am Wahltag trat eine sogenannte Expertenkommission zusammen, um der Bundesregierung Empfehlungen an die Hand zu geben, wie für „Wirtschaft und Verbraucher“ die Energiepreise gedeckelt werden können. Das stieß sicher auch bei der Bevölkerung in der niedersächsischen Provinz auf ein höheres Interesse als der Wahlausgang. Die Wahlbeteiligung ging gegenüber dem letzten Urnengang 2017 um rund 2 Punkte auf 61 Prozent zurück.

Wahlergebnis

Die SPD behauptete sich trotz Verlusten von 3,5 % mit 33,4 %. Ihr folgte die bisherige Koalitionspartnerin CDU, die am Ende um 5,4 % gerupft mit 28,1 % dastand, ihrem schlechtesten Abschneiden seit 1947. An dritter Stelle kamen Die Grünen auf 14,5, % und verzeichneten mit 5,8 % den stärksten Zuwachs, wenn sie auch weit unter den vorher prognostizierten Gewinnen blieben. Die AfD verbesserte sich gegenüber den letzten Landtagswahlen um 3,8 % und erreichte mit 11 % erstmals ein zweistelliges Resultat. Die FDP schmierte von ihren 2017 erzielten 7,5 % noch unter die 5 %-Marke ab (4,7 %) und ist somit nicht mehr im Landtag vertreten. Andere Parteien blieben chancenlos. DIE LINKE erfüllte mit ihren desaströsen 2,7 % nicht einmal die Erwartungen der Umfrageinstitute, die sie bei 4 % gesehen hatten.

SPD und Grüne werden bereits am 13.10. Koalitionsverhandlungen aufnehmen. Beide hatte sich schon vorab für eine Regierungspartnerschaft bereit erklärt. Mit diesem Ergebnis geht die grottige Groko-Zeit mit dem gemeinsamen Regieren von SPD und CDU nun auch auf Länderebene zu Ende. Ein Freifahrtticket für die im Bund regierende Ampelkoalition bedeutet dies hingegen nicht, denn die FDP, deren Licht im niedersächsischen Landtag verloschen ist, hat bereits wissen lassen, dass sie ihr „Profil schärfen“ wolle, um verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Das bedeutet, härtere Auseinandersetzungen um den Regierungskurs sind vorprogrammiert.

CDU und SPD verteidigten im Wesentlichen ihre traditionellen Hochburgen, die CDU v. a. im Osnabrücker Land, während Industriestandorte wie Wolfsburg oder Salzgitter für die SPD wogen. Im Raum Salzgitter befindet sich jedoch eine Industrie in der Krise, und das Resultat für die AfD lag mit 18 % über dem Durchschnitt. Bei der SPD trat alles Inhaltliche hinter den Zuschnitt auf die Vaterfigur des Amtsinhabers Weil zurück. Die CDU tat sich als bisherige  „Juniorpartnerin“ umso schwerer, da die Schützenhilfe der auf harte Konfrontation gebürsteten Bundespartei ihren Wahlkampf nicht glaubwürdiger machte. Sie versuchte, teilweise mit dubios rassistischen Plakaten wie „Null Toleranz gegen Clans“, im rechten Milieu zu fischen.

Das Abschneiden der AfD wurde von den Wahlkommentator:innen mit „Besorgnis“ verfolgt und als Ausdruck von Abstiegsängsten bedrohter Existenzen gedeutet. Ein Alleinstellungsmerkmal war neben der Rhetorik gegen die „Linksrepublik“ auch der Verweis auf die „Flüchtlingsproblematik“ durch Zuzug aus der Ukraine, ein Thema, was andere Parteien gemieden haben, aber reaktionäre Ressentiments mit tatsächlicher Problematik  bei Verknappung von Wohnraum vermischt hat. Daneben konnte auch die erstmals angetretene rechtspopulistische Partei Die Basis im Wahlkreis 47 (Elbe) mit ihrer Kandidatin einen Achtungserfolg über 6 % erlangen. Die AfD erhielt Zulauf von fast allen anderen Parteien, ebenso wie die Grünen.

Die Grünen profitierten von ihrer bereits zuvor gestärkten Stellung  in Niedersachsen, unterstrichen durch 17 eroberte Bürgermeisterchef:innensessel, darunter nicht zuletzt in der Landeshauptstadt Hannover. Sie konnten in der Oppositionsrolle unbeschadet ihre vermeintliche Sachkompetenz in Umweltfragen ins Spiel bringen und punkteten vornehmlich bei jüngeren und perspektivisch einkommensstärkeren Wähler:innengruppen, während sie in industriell geprägten Bezirken schwach abschnitten.

Nur in traditionell linken Wahlbezirken wie Amt Neuhaus (ehemals DDR-Gebiet) konnte DIE LINKE jenseits der 5 % landen. Sie  bestritt ihren Wahlkampf mit Plakaten, auf denen teils in derben populistischen Ausdrücken von Krisenerscheinungen zu lesen war, die aber mittlerweile jede/r potenzielle Wähler:in zur Genüge kennt: Inflation, Mieten, Schulen, Gesundheitswesen – allein, Antworten auf die oft in Frageform formulierten Probleme waren den Schildern nicht zu entnehmen. Bei den wenigen Protestkundgebungen trat DIE LINKE nicht als treibende Kraft und mit klaren Positionierungen in Erscheinung, sondern versteckte sich in „breiten Bündnissen“. Kein Wunder also, dass sie nicht ernst genommen wurden als Vertreterin von Interessen der Arbeiter:innen und anderen Benachteiligten.

Das aber ist die Aufgabe von Kräften, die sich auch auf Landesebene formieren und den Anschluss suchen müssen an eine bundesweite Bewegung, die sich gegen die Pläne der Regierungskoalition in Bund und Land wendet. Nicht von ungefähr hat Weil nur die Standortlogik der deutschen Industrie verteidigt – die Interessen der Arbeiter:innenklasse hingegen mit keiner Silbe gewürdigt. Eine solche Protestbewegung muss aber genau diese Interessen in einem Aktionsprogramm zum Tragen bringen und damit auch den Bestrebungen der rechten „Opposition“ die Spitze brechen.




Die Wahlen im Saarland und die Agonie der LINKEN

Stefan Katzer, Infomail 1184, 4. April 2022

Als das Ergebnis der Wahl im Saarland feststand, herrschte unter den ansonsten zerstrittenen Flügeln der Partei plötzlich große Einigkeit: Als „desaströs“ und „katastrophal“ wurde das Abschneiden der Linken strömungsübergreifend bewertet. Und in der Tat: ein Verlust von 10,3 % und damit ein Absacken der Stimmenanteile von 12,9 % auf 2,6 % kann kaum anders bezeichnet werden. Vor dem Hintergrund, dass es der LINKEN im Saarland einst gelungen ist, über 20 % der Stimmen auf sich zu vereinen (2009: 21,3 %), ist dieses Ergebnis für die Linkspartei, die nun nicht einmal mehr im Landtag vertreten sein wird, umso bitterer. Doch auch wenn dieser Absturz deutlich heftiger ausfiel als von vielen Linken erhofft – wirklich überraschend kam er nicht.

Tendenz: sinkend

Bereits bei der letzten Bundestagswahl hat DIE LINKE herbe Verluste (- 4,3 %) eingefahren und ist mit einem Stimmenanteil von 4,9 % nur deshalb in den Bundestag eingezogen, weil sie zugleich drei Direktmandate gewinnen konnte. Zu diesem bundesweiten Abwärtstrend kamen die besonderen Bedingungen im Saarland hinzu. Dort hatte ein von persönlichen Animositäten geprägter Streit innerhalb der Partei zu einer Spaltung der Fraktion und schließlich zum medienwirksamen Parteiaustritt von Oskar Lafontaine geführt. Lafontaine, der an den Erfolgen der LINKEN im Saarland sicherlich großen Anteil hatte, hatte zudem dazu aufgerufen, DIE LINKE nicht mehr zu wählen und dies mit Verweis auf die Abkehr der Partei von einer linken Sozial- und Friedenspolitik politisch zu begründen versucht.

Tatsächlich scheinen einige Tausend (ehemalige) LINKE-Wähler:innen Lafontaines Ratschlag gefolgt zu sein: immerhin 13.000 Stimmen verlor DIE LINKE an das „Lager“ der Nichtwähler:innen. Noch mehr DIE LINKE-Wähler:innen  (18.000) wechselten jedoch zur SPD, die mit einem Stimmenanteil von 43,5 % die mit Abstand stärkste Kraft wurde und – aufgrund der undemokratischen 5 %-Hürde – damit sogar eine absolute Mehrheit der Sitze im saarländischen Landtag erringen konnte. Der restliche Anteil  derjenigen, die 2017 noch DIE LINKE gewählt haben und nun zu einer anderen Partei gewechselt sind, verteilt sich recht gleichmäßig auf die Grünen (4.000), die AfD (4.000) und die CDU (3.000). Ein nicht unerheblicher Teil (6.000) ehemaliger LINKEN-WählerInnen ist seit der letzten Wahl zudem verstorben.

Der Linkspartei ist es andererseits kaum gelungen, Wähler:innen anderer Parteien von sich zu überzeugen oder Nicht- bzw. Neuwähler:innen zu mobilisieren, sodass sie lediglich je 1.000  Wähler:innen von SPD und CDU an sich binden bzw. je 1.000 Erst- und Nichtwähler:innen mobilisieren konnte.

Schaut man sich die Ergebnisse in Bezug auf die soziale Stellung bzw. Klassenzugehörigkeit der Wähler:innen an, wird deutlich, dass es vor allem der SPD gelungen ist, überproportional viele Arbeiter:innen (49 %) (https://www.rnd.de/politik/saarland-wahl-2022-spd-siegt-in-fast-allen-bevoelkerungsgruppen-nur-eine-ausnahme-3CPPBYNKWZA5ZIIYPR2HDFJOUQ.html) bzw. Gewerkschafter:innen (49,1 %) für sich zu gewinnen. Auch DIE LINKE ebenso wie die AfD konnten bei Gewerkschafter:innen überproportional punkten: 2,8 % wählten die LINKE (gegenüber 2,6 % Gesamtstimmenanteil), 6,8 % die AfD, die insgesamt auf 5,8 % der Stimmen kam (https://www.dgb.de/themen/++co++960c1212-ae88-11ec-b676-001a4a160123).

Wie weiter?

Eine wichtige Frage, die sich die LINKE nun stellen muss und mit Verweis auf den Austritt Oskar Lafontaines alleine nicht beantwortet werden kann, ist die, warum es der Partei nicht gelungen ist, die (SPD-)Wähler:innen, die mit Oskar Lafontaine gekommen sind, auch nach dessen Austritt bei sich zu halten. Sicherlich spielen Persönlichkeiten in der Politik eine Rolle, doch die Frage bleibt, weshalb es nicht gelungen ist, diese Wähler:innen vom Programm der LINKEN zu überzeugen und diese dadurch an die Partei zu binden. Eine damit im Zusammenhang stehende Frage ist die nach den Gründen dafür, dass der große Teil der ArbeiterInnen die SPD (und sogar die AfD) der Linken vorzieht. Ist dies allein darauf zurückzuführen, dass während des Wahlkampfes die Frage im Zentrum stand, wer der/die nächste Ministerpräsident:in wird und davon insbesondere die SPD profitieren konnte?

Die Bundesvorsitzenden der LINKEN, Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow, haben noch andere Erklärungen für das desaströse Abschneiden der LINKEN im Saarland parat. Im Vordergrund ihrer Analyse (https://www.youtube.com/watch?v=Mqt2EYeCrWc) stand die Feststellung, dass zerstrittene Parteien nun mal nicht gewählt würden. Deshalb sei es jetzt notwendig, solidarisch miteinander umzugehen, Konflikte produktiv auszutragen und nach außen geschlossen aufzutreten. Es gelte das, wofür die Partei stehe, in den Vordergrund zu rücken und gemeinsam für soziale Gerechtigkeit, faire Bildungschancen, gegen Aufrüstung etc. einzustehen. Etwas zugespitzt könnte man sagen: Die Linkspartei muss sich als bessere reformistische Kraft, letztlich als bessere SPD profilieren, um in Zukunft bei Wahlen erfolgreich zu sein.

Getrennt marschieren – vereint verlieren?

Geschlossenheit lässt sich jedoch nicht herbeireden. DIE LINKE besteht derzeit de facto aus drei Flügeln, die unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wohin sie sich entwickeln sollte und wie sie dort hinkommen kann. Während ein Teil offen für Regierungsbeteiligungen und alle dazu notwendigen Kompromisse (Fortbestehen der NATO, Auslandseinsätze der Bundeswehr etc.) eintritt, gibt es andere, die dies strikt ablehnen. Vertritt der linkspopulistische Flügel um Wagenknecht sozialchauvinistische Positionen und fordert eine Abkehr von angeblich kleinbürgerlicher „Minderheitenpolitik“, stehen andere (zumindest auf dem Papier) für offene Grenzen und internationale Solidarität. Während ein Teil auf die „Arbeit“ im Parlament und die Gewinnung von Mandaten fokussiert, strebt die sog. „Bewegungslinke“ eine stärkere Orientierung auf soziale Bewegungen an.

Auch wenn es nötig ist, diese innere Differenziertheit zu bedenken, um die nur notdürftig überdeckten und immer wieder offen aufbrechenden Konflikte innerhalb der Partei einordnen zu können, so vertritt DIE LINKE insgesamt ein reformistisches Programm. Dieses beinhaltet zwar offiziell auch die Überwindung des Kapitalismus als Zielvorstellung, real fokussiert sich die Partei aber auf einen „Ausgleich“ der sozialen Interessen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Real ist sie (auf kommunaler und Landesebene) bereits seit langem eingebunden in die Mitverwaltung des Kapitalismus. Vor der Bundestagswahl hat die Führung der Partei zudem deutlich gemacht, dass sie dazu bereit ist, auf wesentliche Teile ihres Programms zu verzichten, um endlich ein „progressives Bündnis“ mit Grünen und SPD auch auf Bundesebene realisieren zu können.

Der Sozialismus, den man angeblich irgendwann einmal erkämpfen möchte, bleibt solchermaßen als Fernziel mit der realen Politik der Partei unvermittelt. Ein solches Programm stößt aber notwendigerweise an die sich krisenhaft zuspitzende Realität der kapitalistischen Klassengesellschaft, welche immer weniger Spielraum für einen „sozialen Ausgleich“ lässt und die Menschheit immer deutlicher vor die Alternative stellt: Sozialismus oder Barbarei.

Während die Klima- und Biodiversitätskrise sich immer weiter zuspitzt, Inflationsraten von über 5 % die Löhne auffressen, der sich zuspitzende Kampf um die Neuaufteilung der Welt die Menschheit mit einem Dritten Weltkrieg bedroht, tut der größte Teil der Linken so, als gäbe es ein Zurück zum Sozialstaat der 1980er Jahre und zur „Friedenspolitik“ Willy Brandts. Der LINKEN dies vorzuwerfen, läuft aber letztlich darauf hinaus, sie zu bezichtigen, dass sie eben DIE LINKE ist: eine reformistische Partei ohne revolutionären Anspruch!

Hinzu kommt, dass die bürgerliche Realpolitik der Linkspartei in den Landesregierungen und ihre Anpassung an SPD und Grüne selbst die Frage aufwerfen, wozu sie überhaupt gebraucht wird. Tritt sie nur als etwas linkere Variante der Sozialdemokratie in Erscheinung tritt, liegt es nahe, dass reformistische Wähler:innen gleich das sozialdemokratische Original wählen, statt ihre Stimme für eine etwas linkere, parlamentarisch jedoch aussichtslose Kopie zu verschwenden. So geschehen im Saarland, aber längst nicht nur dort.

Die Aufgabe und der Anspruch von Revolutionär:innen bestehen nun nicht darin, einer reformistischen Partei Tipps zu geben, wie sie bei bürgerlichen Parlamentswahlen erfolgreich sein kann (was aufgrund der geschilderten Widersprüchlichkeit des Reformismus ohnehin schwer zu bewältigen ist). Vielmehr geht es darum, zu verdeutlichen, dass eine Politik auf der Grundlage eines Programms notwendig ist, das der tatsächlichen Lage angemessen ist und die Überwindung des Kapitalismus nicht als abstraktes Fernziel begreift, sondern im Rahmen eines Systems von Übergangsforderungen Kämpfe um konkrete Verbesserungen mit diesem Ziel verbindet.

Diejenigen Kräfte innerhalb der Linkspartei (aber auch der SPD), denen es darum geht, die Kämpfe der Lohnabhängigen und Unterdrückten voranzubringen und diese für ein revolutionäres Programm zu gewinnen, rufen wir dazu auf, gemeinsam mit allen anderen Organisationen der Arbeiter:innenklasse ihre Reorganisation voranzutreiben, damit sich diese zur zentralen, eigenständigen Kraft im Kampf gegen Krise, Kapital und Klimakatastrophe formieren kann. Dies ist die zentrale Aufgabe einer linken, revolutionären Kraft – nicht die Gewinnung von Sitzen in bürgerlichen Parlamenten für eine reformistische Partei, die sich vor allem auf passive Wähler:innen stützt und davon träumt, durch treue Mitwirkung an der Elendsverwaltung des Kapitalismus einige Brosamen für „die kleinen Leute“ abstauben zu können.

Der Niedergang der Linkspartei verdeutlicht daher erneut die Dringlichkeit einer Debatte um Ziele und Mittel unseres Kampfes. Letztlich geht es um die Frage, wie wir die unterschiedlichen Auseinandersetzungen und sozialen Bewegungen miteinander verbinden und ein gemeinsames Ziel, eine gemeinsame Perspektive entwickeln können. Hierfür braucht es einen konkreten Startpunkt, diese Diskussion und einen gemeinsamen Kampfplan zur Gegenwehr zu organisieren. Wir schlagen deshalb vor, eine Aktionskonferenz zu organisieren, auf welcher diese Fragen übergreifend von möglichst allen Organisationen der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten diskutiert werden können. Eine solche Konferenz sollte sich darauf konzentrieren, konkrete Forderungen und Kampfmittel festzulegen, um den Angriffen von Rot-Grün-Gelb und des Kapitals gemeinsam entgegenzutreten und dies mit dem Kampf gegen den deutschen Imperialismus und die Kriegsgefahr zu verbinden.




Mitgliederentscheid Berliner Linkspartei: Nein zu Rot-Grün-Rot!

Martin Suchanek, Neue Internationale 261, Dezember 2021/Januar 2022

Bis zum 17. Dezember sollen die Mitglieder der Berliner Linkspartei in einer Urabstimmung entscheiden, ob ihre Koalition mit SPD und Grünen fortgesetzt werden soll oder nicht.

Für alle, die den Koalitionsvertrag einigermaßen nüchtern lesen, ist die Sache klar. Das Papier trägt die Handschrift des rechten Flügels der SPD, garniert mit allerlei bürgerlich-grünen Elementen. Giffey und Jarasch, SPD und Grüne, stehen politisch eng zusammen. Die Linkspartei sorgt für etwas Sozialschaum, Bewegungsberuhigung und eine Flankendeckung nach links, mit denen die FDP natürlich nicht dienen kann. Außerdem stellt die DIE LINKE allein schon durch das Mitmachen die linken Flügel von SPD und Grünen ruhig. Dafür werden diesmal giftige Kröten geschluckt, die selbst für sie, über Jahre im parlamentarischen Opportunismus erprobt, schwer verdaulich werden dürften.

Die Vergesellschaftung der großen Immobilienkonzerne soll trotz klarer Mehrheit in eine sog. „Expertenkommission“ politisch entsorgt, der Wille von einer Million WählerInnen ignoriert werden. Das Bauressort geht, durchaus folgerichtig, an die SPD. Die Räumung besetzter Häuser wird ebenso fortgesetzt wie die von MieterInnen, die ihre Mieten nicht mehr zahlen können.

Auch wenn viel von einem Rückkauf der S-Bahn durch die Stadt erzählt wird, bleibt es weiter bei Ausschreibungen an private AnbieterInnen. Dass die rassistische Abschiebepraxis und „racial profiling“ nicht nur in sog. Problemgebieten weiter fortgesetzt werden, dafür steht nicht nur SPD-Innensenator Geisel. Die Befugnisse der Polizei werden ausgeweitet, ihre Kräfte aufgestockt und aufgerüstet.

Die Beschäftigten in den Krankenhäuser, in den Bezirken und bei den Ländern können weiter auf die Erfüllung sozialer Versprechungen warten. Im Bildungsbereich soll das reaktionäre Berufsbeamtentum wieder gestärkt werden.

Man muss schon zu den SchönrednerInnen aus der Spitze der Berliner Linkspartei gehören, um bei so viel Schatten auch noch Licht ausmachen zu können und unverdrossen an der Koalition festzuhalten.

Opposition

Doch erstmals seit die PDS und später die Linkspartei in Regierungen mit SPD bzw. SPD und Grünen eintraten, hat sich eine größere innerparteiliche Opposition gebildet, die sich gegen die weitere Regierungsbeteiligung wendet. So erzwang eine Gruppe von 47 Delegierten die Einberufung eines Landesparteitages zur Diskussion des Koalitionsvertrags für den 4. Dezember, ein erstes öffentliches Kräftemessen zwischen BefürworterInnen und GegnerInnen der Fortsetzung des alten Senats als Rot-Grün-Rot (unter geänderten Kräfteverhältnissen).

Die GegnerInnen der Parteispitze reichen von grundsätzlichen KritikerInnen einer solchen Regierung bis hin zu deren ehemaligen UnterstützerInnen, für die jedoch eine Fortsetzung der Senatsbeteiligung auf Basis des Koalitionsvertrags einem politischen Selbstmord gleichkommt (und die damit einen gewissen Realismus an den Tag legen).

Erstere Parteilinkeströmung ist vor allem in der Plattform Zusammen für eine linke Opposition vertreten, die sich vor allem auf die linken Bezirksverbände Neukölln und Mitte stützt. Etliche ihrer bekannteren AnhängerInnen sind bei marx21 sowie AKL, SoL und SAV organisiert. Darüber hinaus unterstützen Linksjugend [’solid] und SDS Berlin die Plattform.

Ehemalige SenatsbefürworterInnen sind um linke Abgeordnete wie Katalin Gennburg gruppiert. Gennburg und andere Delegierte repräsentieren eine breitere Schicht von Mitgliedern und FunktionärInnen der Linkspartei, die zwar die Beteiligung an bürgerlichen Regierungen nicht grundsätzlich ablehnen, den bestehenden Koalitionsvertrag aber schlichtweg für eine politische Zumutung und einen Ausverkauf aller linksreformistischen Versprechungen der Partei halten.

Insgesamt umfassen die beiden Strömungen rund ein Drittel der Delegierten zum Berliner Parteitag. Dass sich diese offene, bis hinein in Teile des Funktionärskörpers reichende Opposition bildet, hat wohl mehrere, miteinander verbundene Gründe:

a) Die desaströse Wahlniederlage der Linkspartei bei den Bundestags- und die Verluste bei den Berliner Wahlen. Diese haben den bestehenden Apparat geschwächt und damit auch den Kredit des Berliner Parteivorstandes und seiner KoalitionsmacherInnen.

b) Der Druck, den Bewegungen wie Deutsche Wohnen & Co. enteignen, die Krankenhausbewegung und antirassistische Mobilisierungen auf die Partei ausüben.

Gerade weil die Berliner Linkspartei mit diesen zumindest teilweise verbunden ist, zeichnet sich deutlich ab, dass sie mit ihnen in Konflikt geraten wird, sollte sie die Beschlüsse des Senats umzusetzen müssen.

c) Die Wahlniederlage hat auch das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Strömungen durcheinandergebracht, die sich seit dem 26. September faktisch paralysieren.

Das Wagenknecht-Lager bewegt sich weiter nach rechts und arbeitet an seiner Selbstentsorgung, die RegierungssozialistInnen verfügen außer über die Zusammenarbeit mit SPD und Grünen über kein Konzept. Eine starke Opposition gegen eine neuerliche Senatsbeteiligung und erst recht die Verhinderung der Koalition würden ebenso wie die Wahl von Jules El-Khatib zum neuen Landessprecher in Nordrhein-Westfalen die Bewegungslinke stärken.

Berliner Landesparteitag und die Taktik der Spitze

Der Landesparteitag vom 4. Dezember stellte ein erstes Kräftemessen zwischen der Berliner Parteiführung und der Opposition dar. Vorweg: Wer die rund sechsstündige Übertrag miterlebte, konnte unschwer feststellen, dass zwischen den beiden Flügeln keine wirkliche Waffengleichheit besteht. Wie in reformistischen Parteien üblich, führte die Parteispitze auch gleich Parteitagsregie.

Das erste Drittel der Versammlung wurde von SprecherInnen der Führung, SenatorInnen, VerhandlerInnen und VertreterInnen der Bundespartei bestimmt, die sich fast ausschließlich für eine Fortsetzung der Koalition aussprachen.

Katina Schubert und Klaus Lederer präsentierten mit ihren Reden gewissermaßen das Skript für alle anderen UnterstützerInnen einer Koalitionsregierung.

Es gebe viel Schatten, vor allem den bitteren Verlust des Stadtentwicklungs- und Wohnungsressorts, aber eben auch viel Licht, das nicht übersehen werden dürfe. Außerdem existiere auch viel Gestaltungsspielraum in den Ressorts der Linkspartei.

Vor allem aber: Opposition führe zu Isolation und nicht zur Verankerung in außerparlamentarischer Opposition, die dann ja keine Ansprechpartnerin in der Regierung mehr hätte und für die es dann noch schlimmer käme. Die Partei dürfe nicht an Befindlichkeiten hängen und in die „Wohlfühlzone“ Opposition zurückziehen, sondern müsse für die Menschen da sein. Elke Breitenbach, die scheidende Sozialsenatorin, bemühte gar Bertolt Brecht. Wer im Senat kämpfe, könne verlieren, wer nicht kämpfe, also in die Opposition gehe, habe schon verloren. Wo DIE LINKE eigentlich in Jahren ihrer Regierungsbeteiligung wirklich gesiegt hat, verschwieg Breitenbach geflissentlich.

Schließlich wurde von der Parteispitze auch noch die FDP als mögliche alternative Regierungspartnerin von SPD und Grünen ins Spiel gebracht. Wer die Koalition ablehne, würde objektiv nur Giffey helfen, doch noch die Ampel durchzusetzen. Da macht die Linkspartei die Ampelpolitik, natürlich mit einigen nebensächlichen Verbesserungen, gleich selbst und verhindert so die FDP.

Auch während der weiteren Stunden sprach sich eine Mehrheit der Delegierten für die Fortsetzung der Koalition aus. Zusätzlich gestützt wurde dies durch etliche, wenn nicht alle VertreterInnen von Gewerkschaften, Bündnissen wie DWe und der sog. Stadtgesellschaft. Die meisten waren für eine rot-grün-rote Koalition trotz ihrer Schattenseiten. Einige warnten jedoch auch recht deutlich davor. So enthielt sich Rouzbeh Taheri von DWe zwar einer direkten Empfehlung zum Nein, stellte aber die Frage in den Raum, wie die Linksparteispitze eigentlich auf die Idee komme, dass sie politisch geschwächt all das im Senat durchsetzen könne, was ihr vier Jahre nicht gelang.

Interessant war auch, dass sich Tom Erdmann von der GEW trotz Vorbehalten für einen rot-grün-roten Senat aussprach, weil sonst die FDP drohe. Die ver.di-Vertreterin Jana Seppelt erklärte hingegen, dass die Aktiven der Krankenhausbewegung enttäuscht und sauer auf die Koalitionsregierung seien und ihr Fachbereich keine eindeutige Position zu deren Fortsetzung einnähme.

GegnerInnen

Die GegnerInnen der Koalition waren unter den SprecherInnen eindeutig in der Minderheit, was aber auch der Parteitagsregie selbst geschuldet war. Dies machte Lucia Schnell in ihren Beiträgen und einem Geschäftsordnungsantrag deutlich, als sie aufzeigte, dass sich unter den RednerInnen relativ wenige Personen befanden, die „nur“ Delegierte zum Landespartei waren und keine BerichterstatterInnen von Verhandlungsgruppen, SenatorInnen oder Gäste.

GegnerInnen der Weiterführung der Koalition wie Katalin Gennburg verwiesen darauf, dass das Gerade von Licht und Schatten banal sei und von der eigentlichen Frage nur ablenke, nämlich war am Schalter einer rot-grün-roten-Regierung säße – und das wären alle anderen, nur nicht die Linkspartei.

Ferat Koçak, einer der bekanntesten GegnerInnen der Fortsetzung der Koalition, kritisierte, dass die Linkspartei nicht nur ein paar Kröten, sondern einen Elefanten schlucken müsse, wenn sie in die neoliberale Regierung mit „racial profiling“, Abschiebungen und Wohnungsräumungen eintrete. Er machte auch deutlich, dass er in jedem Fall bei der Wahl des neuen Senats im Abgeordnetenhaus mit Nein stimmen werde.

Keine Abstimmung

All das wird die Spitze der Linkspartei, deren Opportunismus nur durch schier endlosen Selbstbetrug übertroffen wird, nicht weiter jucken. Sie wird vielmehr alle Mittel, die dem Apparat zur Verfügung stehen, dafür einsetzen, dass bei der Urabstimmung ein Ja rauskommt. Dies hätte für die Parteiführung den zusätzlichen Wert, die politische Verantwortung für die Senatsbeteiligung im Krisenfall der Basis zuzuschieben, die ihr ja in dieser Form von plebiszitärer Demokratie den „Auftrag“ erteilt hätte.

Auf welche Kniffe die Parteiführung dabei zurückgreift, zeigt schon der Parteitag. Nach sechs Stunden Debatte stand ein Antrag von Katalin Gennburg und anderen Delegierten zur Abstimmung, der folgende Empfehlung enthielt: „Der Landesparteitag von DIE LINKE Berlin empfiehlt den Mitgliedern des Landesverbands, beim Mitgliederentscheid den Koalitionsvertrag abzulehnen und entsprechend mit ‚Nein’ zu stimmen.“

Zur Abstimmung gelangte dieser jedoch nicht. Die Parteivorsitzende brachte einen Antrag auf Nichtbefassung ein, der mit 82 Für- bei 57 Gegenstimmen und drei Enthaltungen angenommen wurde.

Schubert begründete ihren Antrag auf Nichtbefassung damit, dass die Mitglieder das Recht haben müssten, eigenständig zu entscheiden. Eine Empfehlung würde den Mitgliederentscheid konterkarieren. Klingt demokratisch, ist es aber nicht. Schließlich gibt es eine faktische Empfehlung, für eine Fortsetzung der Koalition zu stimmen – durch das Verhandlungsteam und die Parteiführung. Dass der Parteitag über eine Empfehlung erst gar nicht abstimmen durfte, heißt nur, dass er kein Votum darüber abzugeben ermächtigt wurde, ob er die Position der Spitze und der Verhandlungsführung annimmt.

Nein zu Rot-Grün-Rot!

Die Bedeutung der Urabstimmung der Berliner Linkspartei sollte in den kommenden Wochen nicht unterschätzt werden. Schließlich bildet ihr Ausgang, selbst wenn sich die Parteiführung durchsetzen sollte, einen Gradmesser für das Kräfteverhältnis. Nicht minder wichtig ist jedoch, wie die Opposition oder, genauer, die verschiedenen Oppositionskräfte handeln werden, um sich als organisierte politische Kraft in der Linkspartei zu formieren. Gelingt ihnen das nicht, stellt die ganze Ablehnung der Giffey-Regierung wenig mehr als Schall und Rauch –  einen Theaterdonner, ein reformistisches Trauerspiel dar. Entscheidend ist daher, mit welcher Perspektive, mit welchen Initiativen sich eine solche Opposition nicht nur innerparteilich, sondern auch in den Mobilisierungen gegen den nächsten Senat formiert. Dazu braucht die Opposition in der Linkspartei freilich mehr als warme Worte für Initiativen wie DWe, die Krankenhausbewegung oder antirassistische Mobilisierungen. Sie muss gemeinsam mit anderen eine Aktionskonferenz organisieren zum Kampf für die Vergesellschaftung der großen Immobilienkonzerne, gegen den Pflegenotstand, Abschiebungen und „racial profiling“, die Pseudoumweltpolitik des Senats, für die Rekommunalisierung der S-Bahn und im Widerstand gegen die anderen rot-grün-roten Schweinereien.




Die Landtagswahlen und der Absturz der CDU

Robert Teller, Neue Internationale 254, April 2021

Die Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg galten im Vorfeld der bürgerlichen Öffentlichkeit als Indikatoren für die kommende Bundestagswahl. Noch vor wenigen Wochen schien es sicher, dass CDU/CSU den nächsten Kanzler stellen würden. Offen schien nur die Frage nach dem Spitzenkandidaten und der Koalition, auf die er sich stützen würde.

Das Ergebnis zeigt in beiden Ländern eine schwere Niederlage für die CDU, eine Kräfteverschiebung im bürgerlichen Lager, die reale Möglichkeit eine Ampel-Koalition und trotz des SPD-Wahlsiegs in Rheinland-Pfalz schlechte Aussichten für diese.

Wahlergebnisse in Baden-Württemberg

In Baden-Württemberg sind die Grünen (wie bereits 2016) stärkste Kraft geworden, haben ihren Vorsprung vor der CDU aber auf 8,5 % ausbauen können. Vor allem Stimmen von CDU und SPD sind zu den Grünen gewandert.

Die CDU steht nicht nur im Vergleich zu den Grünen schlechter da. In absoluten Zahlen hat sie gegenüber 2016 knapp 20 % verloren, allerdings bei einer (um 6,6 %) ebenfalls gefallenen Wahlbeteiligung, sodass ihr Stimmenanteil von 27,0 % auf 24,1 % fällt. Vor einigen Monaten war nach den Umfragen noch ein Kopf-an-Kopf-Rennen möglich. Das Wahlergebnis stellt eine schwere Niederlage für die CDU dar, die im Bundesland vor 2011 nie unter 35 % lag und sich lange Zeit gar am Erreichen absoluter Mehrheiten messen ließ. Die CDU-Spitzenkandidatin Susanne Eisenmann konnte sich im Wahlkampf nicht gegenüber Kretschmann durchsetzen. Als Kultusministerin hat sie sich gegen Fernunterricht gestemmt und die erneute Schulöffnung bereits im Februar durchgesetzt, wofür sie viel Kritik einstecken musste. Die Grünen gewannen nicht nur in Eisenmanns Wahlkreis haushoch, sondern die CDU-Spitzenkandidatin verfehlte auch ein Zweitstimmenmandat und gehört dem Landtag nicht mehr an.

Die SPD, die bis 2011 stabil auf dem zweiten Platz nach der CDU gelegen hatte, hat ihren Negativrekord von 2016 (12,7 %) nun nochmals unterboten und liegt bei 11 % (gefolgt von FDP mit 10,5 % und AfD mit 9,7 %). SPD-Spitzenkandidat Andreas Stoch sieht aber selbst bei diesem katastrophalen Ergebnis noch Luft nach unten und freut sich: das Ergebnis sei „immerhin deutlich besser, als man es uns prophezeit hatte“. Olaf Scholz verkündet, dass eine Regierung ohne CDU in Deutschland wieder möglich geworden ist – nur, ein Verdienst der SPD ist das nicht!

Die FDP ist bei einem für sie guten Ergebnis gelandet (+2,2 % gegenüber 2016) und sieht sich deutlich gestärkt. Gewonnen hat sie Stimmen v. a. von früheren CDU- und AfD-WählerInnen. Sie hat einerseits mit „vernünftigen“ (d. h. nicht offen wissenschaftsleugnenden) lockdown-kritischen Positionen KleinbürgerInnen eingefangen, die sich von der Krise bedroht fühlen, was der AfD nicht gelungen ist. Andererseits liegt ihre Bedeutungszunahme nicht nur in ihrem Stimmenzuwachs begründet, sondern mehr noch in der Schwäche der CDU. Nach der Bundestagswahl bräuchten Grüne und SPD die Liberalen zur Bildung einer Ampelkoalition. Ihr Spitzenkandidat bringt sich daher schon in Stellung für Koalitionsverhandlungen – und treibt den Preis für eine liberale Regierungsbeteiligung nach oben.

Die AfD verliert 5,4 %, außerdem die beiden Direktmandate, die sie 2016 in Pforzheim und Mannheim geholt hatte. In diesem Ergebnis drückt sich ihre innere Zerrissenheit aus, einerseits die neue „CDU der 1950er Jahre“ zu sein und gleichzeitig rechtspopulistische „Bewegungspartei“ mit faschistischer Flanke. Die Flügel in der AfD haben sich im vergangenen Jahr verfestigt, ohne dass eine Lösung absehbar ist. In der Lockdown-Politik hat sie eine Position eingenommen, dass sie in der ersten Phase die Regierungslinie, natürlich mit dem üblichen extrem rassistischen Genörgel, vertreten hat, dann, als die QuerdenkerInnen in Erscheinung traten, schwenkte sie fix um und leugnet nun die Gefahr der Pandemie weitgehend, was von breiten klassisch bürgerlichen WählerInnenschichten abgelehnt wird. In den Querdenken-Protesten hat die AfD aber trotz ihrer inhaltlichen Bezugnahme keine tonangebende Rolle erobern können. Ein Teil ihrer Verluste mag zu den rechtspopulistischen Neugründungen „Die Basis“ und „W2020“ abgewandert sein, die beide auf die „Querdenken“-Bewegung zurückgehen und bei ihren jeweiligen AnhängerInnen nun als die „echte“ Alternative gelten, wohingegen die AfD in deren Augen bei den „Systemparteien“ angekommen ist. Es muss aber festgehalten werden, dass die AfD trotz ihrer Verluste über eine verlässliche WählerInnenbasis im rechten Spektrum neben CDU und FDP verfügt und bis zu den Bundestagswahlen eine größere Sogwirkung als rassistische, rechte Massenpartei entfalten kann.

Wahlergebnisse in Rheinland-Pfalz

Die Ergebnisse in Rheinland Pfalz weisen in dieselbe Richtung wie in Baden-Württemberg, wenn auch mit länderspezifischen Unterschieden. In diesem Bundesland konnte die SPD mit 35,7 % ihr letztes Ergebnis mit geringen Verlusten halten. Die CDU verliert ähnlich wie in BW und kommt auf 27,7 % (-4,1 %), wovon die Grünen profitieren, die auf 9,3 % (+4,0 %) kommen. Die AfD verliert in ähnlicher Größenordnung wie in Baden-Württemberg und erreicht 8,3 % (-4,3 %). Die FDP verliert leicht, dafür gewinnen die „Freien Wähler“ und ziehen in den Landtag ein.

Im Wesentlichen findet also auch in Rheinland-Pfalz eine Verschiebung innerhalb des offen bürgerlichen Lagers statt. SPD und Linkspartei verzeichnen zwar Wählerwanderungen, ihr Ergebnis verändert sich aber wenig. Von der Krise der CDU profitieren in beiden Ländern vor allem die Grünen. Das Gewicht der FDP erhöht sich, obwohl sie in Rheinland-Pfalz eigentlich zu den Verliererinnen der Wahl gehört. Für die AfD gilt im Grunde dasselbe wie in Baden-Württemberg.

Linkspartei

DIE LINKE hat in beiden Bundesländern ein gegenüber 2016 fast unverändertes Ergebnis erreicht: In Baden-Württemberg steigt sie von 2,9 % auf 3,6 %, in Rheinland-Pfalz verlor sie gar 0,3 % und liegt nun bei 2,5 %. In beiden Bundesländern scheitert sie an der 5 %-Hürde, die zweifellos ein großes Hindernis für den Wahlkampf kleinerer Parteien darstellt. Zum anderen zeigt dies für beide Länder, dass die Linkspartei trotz der katastrophalen Regierungspolitik, trotz der kapitalistischen Krise und trotz der Erosion der Sozialdemokratie keine bedeutende Anziehungskraft auf die ArbeiterInnenklasse ausübt. Sicherlich hatte die Linkspartei in beiden Bundesländern ähnlich wie in Bayern immer schon schwierigere Ausgangsbedingungen. Das erklärt aber nicht die Stagnation über Jahre.

Diese liegt vielmehr darin begründet, dass sie sich in keiner Phase der Krise und der Pandemie als glaubwürdige und radikale Alternative zur Regierung und als Opposition zum Kapital präsentieren konnte.

Bis zum Herbst 2020 wurde der Kurs der Regierung Merkel im Wesentlichen mitgetragen. Dann wurden zwar Forderungen nach Besteuerung der Reichen erhoben, aber das blieb ein v. a. parlamentarischer Vorschlag der Partei.

Hinzu kommt, dass sich ihre Politik in den Landesregierungen (Berlin, Thüringen, Bremen) faktisch nicht von anderen unterschied. Auch sie ordneten den Gesundheitsschutz den Kapitalinteressen v. a. im industriellen und Finanzsektor unter. Ein Teil der Partei sympathisiert zwar mit #ZeroCovid und einer entschiedenen Bekämpfung der Pandemie im Interesse der ArbeiterInnenklasse. Ein dritter Teil wiederum hält eine linke, entschlossene Bekämpfung der Pandemie für unmöglich und hofft, dass wir uns nach überstandener Gesundheitsgefahr wieder den „eigentlichen“ sozialen Fragen widmen könnten.

Um die Einheit der Partei zu wahren, werden einerseits Formelkompromisse in die Welt gesetzt, andererseits machen die RegierungssozialistInnen in den Kabinetten weiter wie bisher. Dass die Linkspartei mit einer solchen Konzeption keine Zugkraft entwickelt, sollte niemanden wundern.

Reaktionen und Bedeutung bundesweit

Der Wahlsieg der Grünen in Baden-Württemberg mit 8,5 % Vorsprung vor der CDU ist für letztere eine Demütigung. Dabei ist es einerlei, ob Kretschmann nun die grün-schwarze Koalition mit einer eindeutig klaren Führungsrolle fortsetzen oder gar eine Ampelkoalition ohne CDU bilden wird. In beiden Fällen wird die Erkenntnis der Wahl sein, dass auf Bundesebene für die CDU an den Grünen kaum ein Weg vorbeiführt – und das auch in dem Sinne, dass sich Kretschmanns Grüne gewissermaßen als die bessere CDU von heute zu präsentieren vermögen: eine „wirtschaftsfreundliche“ Staatspartei für das Kapital, aber ohne unproduktive, schädliche Debattenschauplätze wie auf dem rechten Flügel der CDU. Für die Grünen stellt sich nun die Frage, ob sie durch Fortsetzung von Grün-Schwarz auch den Weg für Schwarz-Grün auf Bundesebene freimachen oder mit der Ampelkoalition die FDP aufwerten wollen.

Die Wahlergebnisse mögen auch mit der Popularität von Kretschmann und Dreyer erklärt werden bzw. mit der Schwäche ihrer HerausforderInnen. Das mag die Niederlage für die CDU etwas relativieren, nicht aber deren Bedeutung für die Bundestagswahl, wo der CDU/CSU noch ein Flügelkampf um die Kanzlerkandidatur bevorsteht. Der „Amtsbonus“ mag vor allem Kretschmann zugutekommen, der nicht nur an die CDU-Tradition eines von politischen Sprüchen befreiten Personenwahlkampfs anknüpft, sondern sich auch quasi als Merkels verlässlichster Verbündeter beim Krisenmanagement erwiesen hat.

Der CDU hingegen hat bei beiden Wahlen nicht geholfen, dass sie auf Bundesebene an den Schalthebeln sitzt, und auch die bundesweiten Umfrageergebnisse zeigen für sie einen steten Abwärtstrend. Merkel scheint mit ihrem Abtritt ein Machtvakuum zu hinterlassen, das kein bekannter Bewerber um die Nachfolge füllen kann. Die Annahme fetter „Provisionen“ durch CDU-Abgeordnete für die Vermittlung von Masken wurde bereits vor der Wahl bekannt, aber in ihrem aktuellen Ergebnis ist die Maskenaffäre noch nicht einmal vollständig eingepreist, da mehr als zwei Drittel der WählerInnen in Baden-Württemberg und auch ein großer Teil in Rheinland-Pfalz ihre Stimme bereits vorab per Briefwahl abgegeben hatten.

Die Landtagswahlen sollten für die CDU der Meilenstein vor den Bundestagswahlen sein, nach dem über die Kanzlerkandidatur entschieden wird. Die wesentliche Erkenntnis der Landtagswahlen ist nun, dass ein CDU-Kanzler nicht gesichert und eine Ampelkoalition als Möglichkeit auf Bundesebene eine reale Option geworden ist. Dies könnte den Grünen weiterhin Auftrieb verleihen. Zugleich könnte die Wahlniederlage der CDU in der Diskussion über die Kanzlerkandidatur Söder ermutigen, sich stärker gegen Laschet in Stellung zu bringen.

Obwohl die FDP gestärkt ist, reagiert sie auf Bundesebene zurückhaltend zur Frage der Regierungsbeteiligung in Baden-Württemberg. Aber wenn Lindner nicht über Ampeln, sondern über Inhalte sprechen will, ist das alles andere als ein Dementi. Die FDP wird sich im Zweifelsfall einer Ampelkoalition kaum verweigern können, nachdem ihr Platzenlassen der Jamaika-Koalition 2017 zu schweren internen Auseinandersetzungen geführt hatte. Auf Bundesebene ist eine Ampelkoalition aus heutiger Sicht die realistische Regierungsoption für die FDP. Das ist wiederum ein Problem für die CDU und könnte ihre Flügelkämpfe verschärfen – zwischen dem rechten Flügel, der einen Lagerwahlkampf gegen einen befürchteten „Linksruck“ in der BRD führen, und dem um Merkel/Laschet, der sich alle Optionen offenhalten möchte. Dennoch möchte die FDP sich nicht auf die Perspektive der Ampelkoalition festlegen, um nicht vermeidbar als Erfüllungsgehilfin einer rot/grünen Regierungsbeteiligung zu gelten.

Wie auch immer die taktischen Wendungen der WahlstrategInnen aller Parteien und ihre Raffinessen aussehen: Die starken Verluste der beiden Volksparteien vor allem den aktuellen Umständen, wie dem Masken-„Provisionen“-Skandal in der CDU/CSU, dem schlechten Corona-Krisen-Management der GroKo oder dem inkompetenten Personal der Führungsriegen der Parteien anzulasten, greift zu kurz.

Schon seit den 1990er Jahren ist zu beobachten, dass die soziale Bindungskraft der sog. Volksparteien nachlässt, um nicht zu sagen zerbröselt, weil Kompromisse, die für alle was übrig lassen, immer schwerer zu finden sind. Nach dem Krieg nahmen SPD und Union für sich in Anspruch, die Interessen aller Schichten und Klassen der Gesellschaft zu vertreten: vom Wirtschafts- über den Mittelstands- bis zum Arbeit„nehmer“Innenflügel. Natürlich war das immer eine Ideologie. Beide Volksparteien stützen sich geschichtlich, sozial und organisch auf unterschiedliche Klassen der Gesellschaft. Die SPD monopolisierte als bürgerliche ArbeiterInnenpartei über Jahrzehnte faktisch die gewerkschaftlich organisierte ArbeiterInnenklasse. CDU/CSU bildeten die Vertretung des deutschen Kapitals, auch wenn sie als christliche Massenparteien das KleinbürgerInnentum und auch v. a. katholische ArbeiterInnenschichten an sich banden. Die SPD wiederum präsentierte sich als reformistische, d. h. ihrem Wesen nach bürgerliche Partei immer auch als bessere Sachwalterin der Gesamtinteressen des Kapitals.

Entscheidend ist, dass dieses System für einige Jahrzehnte funktionierte, seit den 1970er Jahren jedoch zunehmend erodiert. Seit dem Ende von Rot/Grün und mit der Agenda-Politik unter Schröder hat sich dieser Prozess bescheunigt und vertieft, was zuerst vor allem die SPD traf. Die zunehmende Unfähigkeit der Volksparteien, ihre Aufgabe zur allgemeinen Zufriedenheit zu erfüllen, hat seine Ursachen in der zunehmenden Krisenhaftigkeit des globalen Kapitalismus, die schon seit Mitte der 1970er Jahre des letzten Jahrhunderts zu beobachten ist.

Sinkende Kapitalrenditen führten zu einem verschärften Konkurrenzkampf. Die Folge ist eine zunehmende Konzentration des Kapitals: Die großen Kapitale fressen die kleinen. Die kleinen sind der ach so umsorgte Mittelstand, die Bauern/Bäuerinnen und im verstärken Maße die bessergestellten Schichten abhängig Beschäftigter. Der verstärkte Zwang, Kosten zu sparen, um konkurrenzfähig zu bleiben, befeuert Rationalisierungen wie die sog. Digitalisierung, Deregulierung und Intensivierung der Arbeit in allen Bereichen der Gesellschaft und damit gleichzeitig die Verarmung immer größerer Schichten der Lohnabhängigen.

Dem nach 1945 etablierten politischen System und dessen Hauptparteien wird somit die Geschäftsgrundlage entzogen. „Weimarer Verhältnisse“, denen die Volksparteien laut ihrer Ideologie vorbeugen sollten, werden zwangsweise wieder zu erwarten sein. Die bürgerliche Gesellschaft und ihr politischer Herrschaftsmechanismus werden zur Zeit nicht durch ihre FeindInnen unterminiert, sondern durch die heiligen Marktgesetze des Kapitalismus. Daran kann keine Regierung der Welt und kein Parlament etwas ändern.

Welche Perspektive?

Wohl aber erhebt sich die Frage, welche Klasse, welche gesellschaftliche Kraft eine Antwort auf diese Krise zu geben vermag. Auch wenn die AfD bei den Landtagswahlen Niederlagen einfahren musste, so bilden die Bewegung der Corona-LeugnerInnen, die Krise und damit die Entwurzelung des KleinbürgerInnentums einen Nährboden für wachsenden Irrationalismus und Rechtspopulismus. Diese Bewegung steht bereit, wenn die „normale“ bürgerliche Politik keine Lösung für die Krise des Kapitalismus zu bieten vermag.

Zweifellos bildet die aktuelle, katastrophale und inkompetente Regierungspolitik eine unmittelbare Ursache der Wahlniederlagen der CDU. Aber das Problem der Unionsparteien besteht auch darin, dass unter der Oberfläche der Regierung Merkel verschiedene Kräfte um die politische Ausrichtung kämpfen. Wie auch der knappe Sieg von Laschet gegen Merz im Kampf um den Parteivorsitz zeigte, ist der Richtungsstreit in der Union keineswegs gelöst. Er droht vielmehr, an kritischen Punkten immer wieder aufzubrechen. Die Grünen vertreten im Gegensatz dazu eine bestimmte Kapitalstrategie, den Green New Deal. Die Regierung Kretschmann hat in Baden-Württemberg, einem der wichtigsten Standorte des deutschen Exportkapitals, über mehrere Legislaturperioden bewiesen, dass sich die herrschende Klasse davor nicht zu fürchten braucht, sondern dass die Grünen ihre Interessen recht konsequent, aber ohne wertkonservativen Plunder vertreten.

Die Ergebnisse von Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz haben jedenfalls dazu geführt, dass mit den Bundestagswahlen zwei Regierungskoalitionen möglich erscheinen: Schwarz-Grün oder die Ampel. Nachdem die SPD jahrelang ihre eigene Partei in der Großen Koalition verschlissen hat, bewirbt sich Olaf Scholz nun als Vizekanzler unter Grün-Rot-Gelb. Die ArbeiterInnenklasse hat von einer solchen „Linkswende“ allerdings nichts zu erwarten.

Während vor den Landtagswahlen noch in der Linkspartei und linken SPD-Kreisen von einer möglichen grün-rot-roten Koalition die Rede war, so ist es um diese neoreformistische Phantasie still geworden. Die Grünen und die Mehrheit der Sozialdemokratie wollten von dieser Träumerei ohnedies nie etwas wissen. Die „linke“ SPD-Führung setzt natürlich auch auf eine grün-rot-gelbe Regierung ohne Unionsparteien. Hatte die SPD im Verbund mit den Gewerkschaftsspitzen die ArbeiterInnenklasse über Jahre durch die Große Koalition ans deutsche Kapital gebunden, so soll die  Klassenzusammenarbeit neu gefärbt werden. Bleibt nur noch die Linkspartei und die Frage, ob sie sich von den Illusionen in eine Regierungsbeteiligung verabschiedet oder weiter darauf hofft.

Um das gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu ändern und um die ArbeiterInnenklasse aus der doppelten Umklammerung an SozialpartnerInnenschaft und Großer Koalition zu lösen, führt kein Weg an einer unabhängigen Klassenpolitik vorbei – am Kampf für eine Aktionskonferenz und ein Aktionsbündnis gegen die kapitalistische Krise und Pandemie einerseits und am Aufbau einer revolutionären Alternative zum Reformismus andererseits.




Tragödie und Farce in Thüringen

Martin Suchanek, Infomail 1088, 10. Februar 2020

„Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen
weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er
hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als
Farce.“

Mit diesen Worten beginnt Marx die Abhandlung
„Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“. Auch wenn wir die geschichtliche
Bedeutung der Farce im Thüringer Landtag, der Wahl Kemmerichs zum
Ministerpräsidenten von AfD-Gnaden nicht überhöhen wollen, so drängt sich der
historische Bezug auf – und die Frage, wie wir verhindern können, dass auf die
Farce eine neue Tragödie folgt.

Anfang 1930 trat die NSDAP erstmals in der
Weimarer Republik in eine Landregierung ein. Die Baum-Frick-Regierung aus
Deutscher Volkspartei, Deutschnationaler Volkspartei, dem Thüringer Landbund
und der Reichspartei des deutschen Mittelstandes und der Nazis markierte einen
wichtigen Schritt zur Anerkennung des Faschismus als möglichen
Koalitionspartner „gemäßigter“ bürgerlicher Parteien und als politische Kraft
im Interesse des deutschen Imperialismus.

Wie alle historischen Analogien gibt es
natürlich wichtige Unterschiede zwischen 1930 und 2020. Die AfD stellt keine
faschistische Partei dar, auch wenn sich mehr und mehr Rechtsextreme in ihr und
um sie tummeln – gerade im von Höcke geführten Landsverband.

Nicht minder bemerkenswert sind freilich die
Parallelen. Auch die bürgerlichen Parteien der Weimarer Republik meinten, die
NSDAP „auszunutzen“, betrachten Hitler und seine Gefolgsleute oft als
nützliche, kulturlose IdiotInnen.

Die Farce

So gratulierten am 5. Februar der FDP-Vorsitzende Lindner und sein Vize Kubicki ebenso wie der Ostbeauftragte der Bundesregierung und Thüringer CDU-Vize Hirte Kemmerich zur Wahl zum Ministerpräsidenten.

Erst als sich öffentliche Empörung – bis hin zur
offenen Verurteilung des Thüringer Manövers durch die CDU/CSU-Spitze und
etliche Vorstandsmitglieder der FDP – regte, traten die Landesverbände einen
Teilrückzug an.

Hatten sie die Wahlhilfe der AfD zuvor noch für
den „Erfolg der Mitte“ billigend in Kauf genommen und als günstigen Zufall
heruntergespielt, so wollten sie nun von den Rechten getäuscht worden sein.
FDP-Chef Lindner stilisiert mittlerweile die FDP gar zum Opfer einer besonders
perfiden Taktik der AfD.

Dabei hatte sie noch kurz zuvor, ebenso wie AfD und CDU, die Abwahl von Rot-Rot-Grün gefeiert. Das Zusammenwirken von CDU, FDP und AfD stellt darüber hinaus in Thüringen auch keine Neuheit dar – sie kulminierte allerdings am 5. Februar darin, sich mit ihrer Hilfe eine Mehrheit für Kemmerich zu verschaffen.

Die Abwahl des „roten Bodo“ war das Ziel, das
die 3 Fraktionen einte. Schon 2014 demonstrierten sie gemeinsam gegen einen
„sozialistischen“ Ministerpräsidenten. Manche beschworen gar die Rückkehr der
SED. Damals skandierten CDU, FDP, AfD in trauter Eintracht mit
neofaschistischen Kreisen „Ramelow hau ab“, begleitet von einem Fackelumzug vor
der Erfurter Staatskanzlei.

Dass die AfD zur Wahl eines CDU- oder
FDP-Kandidaten bereit wäre, verkündete Höcke schon unmittelbar nach der
Landtagswahl 2019; ebenso wurde mittlerweile offenkundig, dass es informelle
Gespräche zwischen VertreterInnen der drei Parteien seit November gegeben
hatte. Der „Überraschungscoup“ war so überraschend also nicht – zumal die Thüringer
CDU noch vor der Abstimmung im Parlament auf die mögliche AfD-Taktik aufmerksam
gemacht worden war, sich aber offenkundig dazu entschied, die Warnung zu
ignorieren.

Die Züge einer Farce nahm das rechte Manöver
nicht nur wegen der albernen Ausreden und Lügengeschichten an, sondern auch
weil FDP und CDU kalte Füße kriegten. Aufgrund des öffentlichen Drucks und
dramatischer Verluste in den Umfragen wurde der Rückzug angetreten – wenn auch
mit etlichen Winkelzügen. Sie konnten zwar am Amt des Ministerpräsidenten nicht
mehr festhalten – andererseits wollten und wollen sie keine Neuwahlen und erst
recht keine Inthronisierung Ramelows zum Ministerpräsidenten.

Kemmerich verkündete erstmals 25 Stunden nach
der Wahl, sein Amt niederzulegen, ließ aber Datum und Modalitäten offen. Nach
einem Rücktritt vom Rücktritt, am 8. Februar, legte er sein Mandat nieder. Er
bleibt aber gemäß Landesverfassung weiter geschäftsführender Ministerpräsident
bis zur Wahl eines Nachfolgers durch den Landtag. Er könnte also, wenn auch
ohne gewählte Regierung, noch bis zu einer Neuwahl des Parlaments und zur
Bildung einer Regierungsmehrheit weiter sein Unwesen treiben.

Die historische Analogie

Ein besonderes Kapitel der öffentlichen
Diskussion nehmen historische Vergleiche ein. Bodo Ramelow war einer der
ersten, der diese ins Spiel brachte, als er auf die Parallele zur Beteiligung
der NSDAP an der Thüringer Landesregierung 1930 verwies.

Die Parteien der WiederholungstäterInnen von
Erfurt empörten sich – ebenso wie Kommentarspalten der bürgerlichen Presse.
FAZ-Kommentare wiesen z. B. auf die Unterschiede hin, darauf, dass die AfD
keine faschistische Partei wäre, … Der Unterschied im Charakter der beiden
Parteien besteht zweifellos, und sicherlich sollten sich auch Linke davor
hüten, eine aggressive, rassistische und völkische rechts-populistische Partei
mit einer faschistischen gleichzusetzen. Richtig sind sicherlich auch die
Verweise darauf, dass sich die bürgerliche Mitte nicht zum ersten Mal von einer
rechten Partei an die Spitze eines Bundeslandes wählen ließ. So koalierte die
Hamburger CDU unter Ole von Beust Bürgermeister von 2001–2003 mit der „Partei
Rechtsstaatlicher Offensive“ (PRO; Schill-Partei).

Doch diese Unterschiede dürfen über den Kern der
historischen Analogie nicht hinwegtäuschen. Wenn Hegel und in seinem Gefolge
Marx davon sprechen, dass sich die Geschichte wiederhole, so darf das nicht als
Duplizieren aller politischen Faktoren und Konstellationen missverstanden, darf
nicht vergessen werden, dass jede solche Wiederholung immer auch Unterschiede
kennt.

Entscheidend für Hegel ist, dass sich darin die
geschichtliche Bedeutung bestimmter Ereignisse zeigt. So heißt es in den
Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte: „Durch die Wiederholung wird das,
was im Anfang nur als zufällig und möglich erschien, zu einem Wirklichen und
Bestätigten.“ Den Kern dessen bildet nicht, dass alle AkteurInnen denselben
„Charakter“ hätten – so betrachtet könnten sie, um im Bild von Marx zu bleiben,
nie einmal als Tragödie, einmal als Farce auftreten -, sondern dass in beiden
Ereignissen zugrunde liegende, tiefere gesellschaftliche Gegensätze zum
Ausdruck kommen.

Die Parallelität der politischen Lage von 1930
und 2020 liegt darin, dass die zunehmenden krisenhaften Tendenzen des
Kapitalismus und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt auf Seiten der
herrschenden Klasse eine Krise des tradierten politischen Systems
hervorbringen, die wachsende Teile des Kapitals wie immer größere bürgerliche
und kleinbürgerliche Schichten zur Überzeugung treiben, dass Bündnisse mit
rechten Kräften, denen bislang der Zutritt zur Regierung verweigert wurde,
notwendig werden. Hier liegt, bei allen Unterschieden von AfD und NSDAP, die
historische Parallele und auch die neue, bedrohliche reaktionäre Qualität der
Thüringer Ereignisse.

Dass dieser Prozess in anderen Ländern wie
Österreich oder Italien noch viel deutlich weiter vorangeschritten ist,
verdeutlicht nur, dass es sich um keine Episode, sondern um eine allgemeine
reaktionäre Tendenz unserer Zeit handelt.

Krise der Union – Rücktritt von
Kramp-Karrenbauer

Die Bedeutung der politischen Zäsur von Erfurt
liegt letztlich weniger darin, wie in Thüringen die Regierungskrise bewältigt
wird. Das halb abgebrochenen Manöver hat die Krise von FDP und CDU verlängert,
ja vertieft. Die Ankündigung des Rücktritts von Kramp-Karrenbauer als
CDU-Vorsitzende im Sommer 2020 und ihr Verzicht auf die nächste
KanzlerInnenkandidatur stellt den bisherigen Höhepunkt der Entwicklung dar. Der
Flügelkampf unter den Konservativen wurde nicht befriedet, er bricht offen aus.
Die Thüringer CDU hatte sich nicht nur gegenüber den Warnungen der Bundespartei
vor der AfD taub gezeigt, sie war auch nicht bereit, der Forderung der
Parteivorsitzenden nach Neuwahlen zu folgen. Deren bewusst in Kauf genommene
Demontage verdeutlicht die tiefen Risse innerhalb des bürgerlichen Lagers.
Nachdem die Bildung einer von der AfD geduldeten CDU-FDP-Minderheitsregierung
nicht zuletzt aufgrund des Drucks der Bundespartei vorerst abgeblasen werden
musste, werden sich somit viele aus dem Landesverband über den Rücktritt der
ungeliebten und politisch ohnmächtigen Vorsitzenden freuen.

Teile der ostdeutschen CDU-Landesverbände und
die national-konservative Werteunion unterstützten und unterstützen offen die
Taktik von CDU-Landeschef Mohring. Dieser Flügel der Union strebt eine nächste
Kanzlerschaft mit der FDP an und will dafür auch einen Pakt mit der AfD nicht
ausschließen. In jedem Fall zieht er diese einer Koalition mit Grünen, SPD oder
beiden vor. Bundestagsabgeordnete der „jungen Gruppe“ – zumeist Merz-AnhängerInnen
– wie auch zahlreiche Abgeordnete, FunktionärInnen und Mitglieder aller
ostdeutschen Landesverbände gehen in eine ähnliche Richtung. Dort bedroht die
AfD die Position der CDU als führende bürgerliche Kraft. Nicht allein das
KleinbürgerInnentum trägt die AfD, auch politisch rückständigere Teile der
ArbeiterInnenklasse wählen sie. Aber auch für Teile der KapitalistInnenklasse
wird sie angesichts der tiefen Krise der EU, drohender wirtschaftlicher
Einbrüche und der verschärften internationalen Konkurrenz zu einer Option, da
all diese Entwicklungen eine substantiell härtere, nationalistische Gangart
erfordern.

Die Demontage Kramp-Karrenbauers durch die
Erfurter Landtagsfraktion stellt dabei nur einen Schritt dar. Was der rechte
Flügel der Union will, verdeutlicht unter anderem der ehemalige Verfassungsschutzpräsident
Maaßen. Für ihn stellt sich die Verhinderung von Rot-Rot-Grün als die einer
„sozialistischen Regierung“ dar. Mit Schlagzeilen wie „Hauptsache die Sozialisten
sind weg“ punktet er nicht nur beim rechten Publikum weiter, die AfD hat ihn
auch schon als möglichen Ministerpräsidenten ins Gespräch gebracht.

In einem Interview im Tagesspiegel stellt Maaßen auch klar, gegen welche innerparteilichen GegnerInnen das Manöver gerichtet war. Dies war „ein Schlag ins Gesicht derjenigen Parteifreunde in der CDU, die lieber eine sozialistische Regierung Ramelow dulden wollten, als einen eigenen CDU-Kandidaten bei der Ministerpräsidentenwahl aufzustellen“. Und weiter zur Perspektive der Union in Thüringen:

„Er hoffe, sagte
Maaßen, dass die CDU in Thüringen begreift, dass sie mehr auf ihre Wähler hören
muss. Zehn Prozent sind bei der vergangenen Landtagswahl weggelaufen. Viele zur
AfD, andere sind zuhause geblieben. Jetzt heißt es, die Wähler
zurückzugewinnen. Zum Beispiel mit einer anderen Migrationspolitik, in der
endlich ausreisepflichtige Zuwanderer abgeschoben werden.“

Gemäß diesem Duktus war wahrscheinlich der einmalige Verzicht der „sozialistischen“ Ramelow-Regierung auf Abschiebungen im Winter 2016/17 ein Beitrag zur „Umvolkung“ in Thüringen – ein Verbrechen an Volks- und Rassegemeinschaft. Dass die Union mit krachenden Abschiebungen die Stimmen zurückgewinnen soll, verdeutlicht einmal mehr, welch elender Rassist der ehemalige Verfassungsschutzpräsident eigentlich ist.

Den eher liberalen Flügel der Union, der unter
anderem vom Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, Günther, repräsentiert
wird, führen das Wahlmanöver für Kemmerich wie auch die Aussagen von Maaßen und
Werteunion dazu, das Verbot bzw. den Rausschmiss der Werteunion zu fordern.

Strategieproblem des deutschen Imperialismus

Ob der innere Konflikt unter den Konservativen
durch Spaltung oder Ausschluss „gelöst“ wird, wird die Zukunft zeigen – in
jedem Fall werden sich die Gegensätze weiter zuspitzen.

Die traditionelle transatlantische bürgerliche
Führungspartei steckt tief im Konflikt, weil die bisherigen Strategien für die
EU aufgebraucht sind und es an einer strategischen Neuausrichtung fehlt. Der
aggressive neue Kurs des US-Imperialismus unter Trump stellt für die EU und
insbesondere für seine Führungsmacht Deutschland eine große Herausforderung
dar, die durch den Brexit und den Aufstieg Chinas weiter verschärft wird. Im
Mittelmeerraum, im Nahen und Mittleren Osten, in Afrika kann die EU nur
ökonomisch punkten, geo-strategisch fallen sie und damit der deutsche
Imperialismus weiter zurück.

Der Richtungsstreit in der Union geht darum, auf welchem Weg der deutsche Imperialismus sich dieser Aufgabe stellen soll. Soll ein „schwarz-grün“ angestrichener Imperialismus mit mehr EU-Vertiefung und „ökologischen“ Sparmaßnahmen die eigenen Ansprüche durchsetzen oder erfordert es eine schwarz-gelb-blaue/-braune Variante, die „Deutschland zuerst“ auf ihre Fahnen schreibt?

Der ideologisch-strategische Konflikt der
deutschen Bourgeoise wird in der kommenden Periode durch eine ökonomische Krise
verschärft werden, also auch eine klassenpolitisch härtere Gangart im Inneren
erfordern. Für die Ausgebeuteten und Unterdrückten hierzulande heißt das auch,
sich auf neue Angriffe auf die Sozialsysteme, auf Arbeitsplätze, Einkommen einzustellen.
Die verschiedenen Flügel der Bourgeoise werden allesamt massive Angriffe
durchführen und vorschlagen, wenn auch ideologisch unterschiedlich
verschleiert. So werden die aggressiven nationalistischen Teile Angriffe auf
die ArbeiterInnenklasse mit völkischer und rassistischer Demagogie verbinden,
der „liberale“, weltoffene Teil wird Angriffe mit einigen Reformversprechen zur
„sozialen Abfederung“ kombinieren.

GroKo will Neuwahlen

In dieser Situation empören sich SPD, Grüne,
Linkspartei und auch der „liberale“ Flügel der Union über den Tabubruch. Sie
fordern Neuwahlen, um die Glaubwürdigkeit der „Politik“ wiederherzustellen.
Schon hierin liegt im Grunde ein Betrug. Schließlich hat nicht „die“ Politik,
sondern haben CDU und FDP mit der AfD paktiert. Die Taktik von Kramp-Karrenbauer,
Merkel und des CDU-Vorstandes zielt auf zweierlei. Einerseits präsentieren sie
sich als DemokratInnen und geben sich als „harte“ GegnerInnen des Thüringer
Landesverbandes, mit dem sie freilich auch nicht brechen wollen. Zum anderen
appellieren sie an die „Einheit der DemokratInnen“, also daran, dass SPD,
Grüne, Linkspartei weiter mit Union (und FDP) kooperieren.

Diese, so CDU/CSU und FDP, sollten dabei den
UnterstützerInnen von Kemmerich entgegenkommen – am besten, indem sie selbst
Ramelow als Kandidaten fallenlassen und Grüne, SPD und Linkspartei mit der
Union eine von allen DemokratInnen anerkannte „Person des öffentlichen Lebens“
unterstützen, also auf ihre eigene Regierung verzichten. Die FDP, die
erbärmlichste aller bürgerlicher Parteien, gibt sich hier besonders frech.

Immerhin haben SPD, Grüne, Linkspartei und deren Jugendorganisationen wie auch die Gewerkschaften in den letzten Tagen tausende Menschen gegen die Wahl Kemmerichs auf die Straße gebracht. Für den 15. Februar plant „Aufstehen gegen Rassismus“ eine Großdemonstration gegen AfD, CDU und FDP vor dem Erfurter Landtag.

Mit den UnterstützerInnen der AfD, also der
Großen Koalition, brechen will aber die SPD nicht. Sie sonnt sich darin, dass
sie der Union ein Bekenntnis abgerungen habe, demzufolge sie keine politischen
Mehrheiten und Regierungsbildungen mit der AfD anstrebe. Obwohl sie genau das
gerade getan hat, feiert diese SPD die Lippenbekenntnisse der Unions-Führung
als Sieg. Die gerne links blinkenden Walter-Borjans, Esken und Kühnert betrachteten
diese Frage noch zum Jahreswechsel als Lackmustest für Verbleib in der oder
Verlassen der Großen Koalition. Jetzt erklären Kühnert und Co., warum die
Regierung zur Zeit nicht verlassen werden dürfe. Dies würde nämlich nur den
Rechten zuarbeiten, weil ein Bruch mit der CDU/CSU die Wiederherstellung der
„Einheit der DemokratInnen“ erschweren würde. Solcherart verkaufte der SPD-Vorstand
das Ergebnis des Koalitionsausschusses als Erfolg. Das hätte Nahles auch
geschafft, wenn auch nicht mehr so überzeugend. Für diejenigen in der SPD und
den Jusos, die mit der erneuerten Führung auch eine konsequente Politik gegen
die GroKo verbanden, sollte dies ein deutliches Zeichen sein, mit dieser
Politik und Führung zu brechen und einen Bruch der Koalition hier und jetzt
einzufordern.

Auch für die DGB-Gewerkschaften gilt die
Absetzung von Hirte schon als großer Erfolg. Natürlich, so ihre
Verlautbarungen, werden sie die Demonstrationen unterstützen und am 15. Februar
in Erfurt präsent sein, nur scheint eher unklar, ob die ArbeiterInnenbewegung
sich dieses Rechtsrucks und dieser aktuell verschärfenden Lage bewusst ist.

Auch die Linkspartei reiht sich in dieser
Situation in den Chor der Forderungen nach einer „Einheit der DemokratInnen“
ein. CDU und FDP müssten ihren Fehler korrigieren, indem sie in den nächsten
ein bis zwei Wochen im Thüringer Landtag Ramelow den Weg freimachen und diesen,
am besten gleich im ersten Wahlgang wiederwählen.

Welche Lehren aus einer historischen Analogie?

Auch wenn VertreterInnen der Linkspartei die
Analogie 1930–2020 ins Spiel gebracht haben, so verdeutlicht ihre Politik, dass
die Partei deren eigentlichen Sinn, deren eigentliche Bedeutung nicht
verstanden hat. In beiden Fällen war es nicht der „Verrat an der Demokratie“,
der zur Kooperation der offen bürgerlichen Parteien mit Faschismus oder
Rechtspopulismus führte. Vielmehr liegt ihr die, wenn auch unterschiedlich
ausgeprägte Krise des Kapitalismus zugrunde, die die „normalen“ demokratischen
Herrschaftsformen des bürgerlichen Parlamentarismus wie auch das mit ihnen
verbundene Parteiensystem mehr und mehr unterminierte. Schließlich liegt jeder
länger währenden Reproduktion bürgerlich-demokratischer Verhältnisse ein
bestimmtes, geschichtlich etabliertes Verhältnis zwischen den Klassen zugrunde,
das sich im parlamentarischen Rahmen in der Regel als „konsensual“ akzeptierter
Wechsel von Regierung und Opposition darstellt. Diese Bindekraft büßt die
Demokratie mehr und mehr ein, was eine viel tiefer liegende und längst nicht
abgeschlossene Veränderung des Verhältnisses zwischen den Klassen
widerspiegelt. CDU und SPD wurden nach dem Zweiten Weltkrieg zu den
staatstragenden Großparteien, die im Rahmen des politischen Systems
verschiedene Klassenkräfte repräsentieren und über Sozialpartnerschaft, begrenzte
Reformen, SPD und Gewerkschaften die ArbeiterInnenklasse integrierten. Dieses
System durchläuft schon seit Ende der 1960er Jahre eine Reihe heftiger
Erschütterungen, die letztlich dazu führten, dass sich das politische System
dieser Nachkriegsordnung, wenngleich in etlichen Formen weiter im Bestand,
eigentlich überlebt hat. Die historische Krise der SPD und der Unionsparteien
ist auch Ausdruck dieser Entwicklung.

Linkspartei

Die Politik der Linkspartei verhält sich
gegenüber diesen Veränderungen letztlich rückwärtsgewandt. Sie will nämlich die
Infragestellung der überlebten Verhältnisse von rechts durch den Appell an die
auf eine bestimmte Form der Klassenkollaboration eingerichteten Teile der
Bourgeoisie, der Mittelschichen und des KleinbürgerInnentums bekämpfen, sie
will, mehr oder weniger bewusst, politische Verhältnisse, den sog. Sozialstaat
wiederbeleben, deren materielle Basis erschöpft ist.

Dabei wiederholt sie den historischen Fehler der
Sozialdemokratie in der Weimarer Republik. Gegen die immer stärker werdende
Reaktion suchte diese das Bündnis mit dem „demokratischen“ BürgerInnentum, dem
Gegenstück zur heutigen „Einheit der DemokratInnen“. Daher werden nicht nur die
„demokratischen“ Prinzipien der CDU beschworen, sondern wird vor allem eine
Koalition von Grünen, SPD und Linkspartei als neues „Bollwerk“ der Demokratie
ins Spiel gebracht.

Aber auch eine Koalition mit den Grünen wäre
nichts anderes als eine solche bürgerlicher, reformistischer
ArbeiterInnenparteien mit einer grün-liberalen Partei des Kapitals, nur eine
andere Koalition der Klassenzusammenarbeit, die notwendigerweise die
Eigentumsverhältnisse unangetastet ließe und, wenn auch humanistischer,
verkaufte, imperialistische Politik darstellen würde. Wie die Erfahrungen
rot-roter oder rot-rot-grüner Koalitionen auf Landesebene immer wieder gezeigt
haben, stellen diese, selbst wenn sich einiger ihrer konstituierenden Parteien
sozial auf die ArbeiterInnenklasse stützen, auch nur eine Form bürgerlicher
Regierungen dar, die allenfalls als etwas gemäßigtere SachwalterInnen des
Kapitals fungieren.

Wenn wirklich die Lehren aus der historischen
Analogie gezogen werden sollen, so dürfen sich diese nicht auf die für sich
genommen berechtigte, in der aktuellen Situation aber zweitrangige Kritik an der
verheerenden Politik der KPD Anfang der 1930er Jahre, die sog.
„Sozialfaschismustheorie“, beschränken – zweitrangig, weil sie heute nur noch
von im Grunde und vollkommen zu Recht bedeutungslosen stalinistischen Sekten
vertreten wird.

Rot-Rot-Grün?

Die nicht minder verheerende Politik der SPD
erfreut sich jedoch weiter großer Beliebtheit, ja könnte in Form von
Rot-Rot-Grün neue Illusionen an sich ziehen, weil sie auf den ersten Blick als
Antwort auf den Rechtsruck erscheint. Hinzu kommt, dass zur Zeit große Teile
der fortschrittlichen gesellschaftlichen Bewegungen von einer
klassenübergreifenden, linken kleinbürgerlichen Ideologie geprägt sind, so
z. B. die Umweltbewegung oder der Feminismus.

Das zentrale Problem der Strategie der
Linkspartei (und noch mehr der SPD und Gewerkschaften) besteht jedoch darin,
dass in einer tiefen gesellschaftlichen Krise Bündnisse zwischen VertreterInnen
antagonistischer sozialer Klassen, also von Parteien des (liberalen oder
demokratischen) BürgerInnentums mit Parteien/Organisationen, die sich auf die
ArbeiterInnenklasse stützen, nur durch die Unterordnung der ausgebeuteten
Klasse und der gesellschaftlich Unterdrückten zu haben sind.
Klassenübergreifende Bündnisse scheinen auf den ersten Blick zwar mehr Kräfte
zusammenzuführen. Doch da diese einander entgegengesetzte Ziele verfolgen,
addieren sie sich nicht, sondern heben sich praktisch auf. Sie stoßen
notwendigerweise gerade jene Schichten der ArbeiterInnenklasse, die am meisten
von krisenhaften Entwicklungen betroffen sind, ab – und bereiten damit auch den
Boden für die Rechten vor.

Die Alternative kann daher nicht „Einheit der
DemokratInnen“ lauten, sondern Einheit der ArbeiterInnenklasse und
Unterdrückten. Diese Forderung muss auch an die bürgerliche, reformistische
Führung von Linkspartei, SPD und Gewerkschaften gerichtet werden – nicht, weil
RevolutionärInnen an deren ernsten Willen zum Bruch mit der Bourgeoisie oder
deren Parteien glauben, sondern weil die AnhängerInnen dieser Parteien von
ihren Führungen, weil die Mitglieder der Gewerkschaften vom bürokratischen
Apparat gebrochen werden müssen.

Daher fordern wir von der SPD das sofortige Verlassen der GroKo! Daher sollte die Linkspartei auf der Straße und in den Betrieben dafür mobilisieren, dass Ramelow Ministerpräsident wird und ein Programm im Interesse der Lohnabhängigen durchsetzt. Die Linkspartei müsste die Initiative ergreifen, die Wiederwahl nicht durch Hinterzimmergespräche mit Unions- und FDP-Abgeordneten, sondern durch den Druck der Straße und durch Aktionen bis zum Streik in den Betrieben durchzusetzen.

Die anstehenden tariflichen Auseinandersetzungen
im öffentlichen Dienst, im Nahverkehr, der Elektro- und Metall-Branche könnten
genutzt werden, die Klasse wieder in Bewegung zu bringen, vor allem als
entscheidende politische und soziale Akteurin, nicht in zweiter oder dritter
Reihe. Dasselbe trifft auf die Kämpfe der Umweltbewegung, antirassistische und
anti-militaristische Mobilisierungen zu. Demonstrationen wie am 15. Februar in
Erfurt dürfen daher nicht das Ende des Protestes, sondern der Anfang für neue,
zugespitzte Klassenkampfaktionen sein.

Die Wahl von Kemmerich war ein deutliches
Zeichen des deutschen Kapitals und des aktuellen Rechtsrucks. Sie verdeutlicht,
welche Möglichkeiten sie derzeit in Betracht ziehen. Auch wir müssen weitergehende
Maßnahmen als Demos, Petitionen und Volksbegehren diskutieren und angehen.
Aktionskonferenzen gegen den Rechtsruck, gegen die GroKo, gegen die nächsten
Krisenprogramme werden vonnöten sein, wenn wir in die Offensive kommen wollen
und damit auch real einen polarisierenden Schlag der ArbeiterInnenklasse
organisieren können.




Kemmerich – ein Ministerpräsident von AfD Gnaden

Martin Suchanek, Infomail 1088, 5. Februar 2020

Bis vor kurzem kannten ihn nur wenige. Nachdem Thomas L.
Kemmerich am 5. Februar zum Thüringer Ministerpräsidenten gewählt wurde, warfen
wohl viele die Suchmaschinen im Internet an, um mehr über einen Mann zu
erfahren, der bisher im bürgerlichen Parlamentarismus und auch in der FDP
allenfalls eine drittrangige Rolle spielen durfte.

Der Thüringer FDP-Fraktionsvorsitzende Kemmerich gehörte von
2017–2019 zu den HinterbänklerInnen, den grauen Mäusen im Bundestag. Bei den
Landtagswahlen 2019 schaffte seine Partei gerade 5 %. Der Unternehmer und
Vorsitzende der FDP-nahen Vereinigung „Liberaler Mittelstand“ war bisher nur
durch notdürftig als „Mittelstandpolitik“ verbrämten Neo-Liberalismus und als
Betreiber einer Friseurkette aufgefallen, die Jobs mit „flexiblen
Arbeitszeiten“ verspricht.

Wahrscheinlich wäre Kemmerich auch eine unbekannte
Randfigur, eine der zahlreichen StatistInnen des bürgerlichen Politbetriebs
geblieben, hätte ihn nicht die politische Lage in ungeahnte „Höhen“ gehievt.
Schließlich kommt es auch in deutschen Landtagen nur höchst selten vor, dass
ein Mitglied der schwächsten Partei zum Ministerpräsidenten gewählt wird.

Erklärbar ist seine Wahl nur als Folge des politischen
Patts, das die Wahlen 2019 in Thüringen mit sich brachten – und der
offenkundigen Bereitschaft von CDU und FDP, auch mit der AfD „bürgerliche
Mehrheiten“ zu organisieren.

Die Linkspartei konnte zwar zulegen und wurde mit 31 %
stärkste Partei. Allein verfügt sie über 29 der 90 Sitze. Aber ihre
Koalitionspartnerinnen schwächelten: Die SPD sackte auf 8,2 % ab und die
Grünen schafften mit 5,2 % gerade den Einzug ins Abgeordnetenhaus. Daher
verfügte die rot-rot-grüne Koalition gerade über 42 Stimmen, während die AfD
(22 Mandate), CDU (21) und FDP (5) eine gemeinsame Mehrheit bilden konnten.

Bürgerblock

Union und FDP standen also vor der Wahl, entweder mit der
AfD zu kooperieren oder Rot-Rot-Grün und damit den bisherigen
Ministerpräsidenten Ramelow zu „tolerieren“.

Nachdem Ramelow in den ersten beiden Wahlgängen jedoch keine
absolute Mehrheit erringen konnte, zog die AfD im dritten ihren Kandidaten
zurück – und erklärte wie schon in den letzten Wochen, den FDP-Mann Kemmerich
zu wählen. Dieser errang die Mehrheit. Mit 45 gegenüber 44 Stimmen für Ramelow
wurde er bei einer Enthaltung als neuer Ministerpräsident gewählt.

Zufall stellt die Wahl von Kemmerich natürlich keinen dar.
Schon im Vorfeld hatte er erklärt, dass er sich auch von der AfD zum
Ministerpräsidenten wählen lassen würde. Während Bundes-CDU und -FDP
„offiziell“ noch von der „Abgrenzung“ und „Nichtzusammenarbeit“ mit der rechten
AfD schwadronierten, kümmerte die Thüringer Abgeordneten dieses leere Geschwätz
offenkundig schon lange nicht mehr.

Der Feind der Union und FDP wird dort offenbar bei den
„Roten“ – und sei es ein noch so blasser Roter wie Thüringens Ramelow –
verortet. Den Hauptfeind für Union und FDP bildet schließlich die
ArbeiterInnenbewegung und nicht der Rechtspopulismus, in dessen Reihen sich
neben (halb)faschistischen Flügel-Leuten auch viele ehemalige CDUlerInnen und
FDPlerInnen tummeln. Hier wächst anscheinend zusammen, was, jedenfalls für
bedeutende Teile der Union und FDP, zusammengehört.

Zu solch einer Wahl gehört auch die Legendenbildung.
FDP-Bundesvize Kubicki erklärt gar, dass die Wahl einen großen Erfolg seiner
Partei darstelle, da diese schließlich die „demokratische Mitte“ darstelle –
einen Erfolg, für den FDP und CDU den politischen Sieg der AfD billigend in
Kauf nehmen. Kemmerichs FDP und erst recht die Thüringer CDU stellen den
Ausgang so dar, also hätten sie nur „zufällig“ den Liberalen mit den Stimmen
der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt, da sie Höcke und Co. nicht an ihrer
Stimmabgabe „hindern“ hätten können. Dabei hätten sie das natürlich können. Sie
hätten sich nur der Stimme enthalten müssen.

Die TaschenspielerInnen des Parlamentarismus ziehen es
offenkundig vor, sich blöd zu stellen. Das glaubt zwar niemand, aber solche
„Erklärungen“ sollen wenigstens den Bundesparteien erlauben, weiter so zu tun
können, als ob sie mit der AfD nicht kooperieren würden, als ob es sich nur um
einen „Sonderfall“ oder „Betriebsunfall“ handeln würde. FDP-Chef Linder phantasiert
sogar davon, dass es gar keine Kooperation mit der AfD gegeben habe – man habe
sich schließlich nur von ihr wählen lassen.

In Wirklichkeit stellt die Thüringer Wahl des Ministerpräsidenten ein Politprojekt einer CDU/FDP-Koalition von AfDs Gnaden dar. Auch wenn es durchaus möglich ist, dass die Bildung einer Landesregierung Kemmerich durch CDU und FPD mit Duldung der AfD scheitert, so sollte doch niemand deren Bildung ausschließen. Schließlich zeigte der 5. Februar, zu welchen Manövern Teile von FDP und CDU mittlerweile bereit sind.

Schließlich entspricht die Bereitschaft der CDU und FDP in
Thüringen auch der Überzeug weiter Teile ihrer Parteien und von Fraktionen der
herrschenden Klasse, dass Koalitionen mit der AfD eine Option werden könnten,
wenn sich die Krise der EU weiter verschärften sollte. Hinzu kommt, dass damit
in jedem Fall auch der Druck auf die Grünen oder andere „PartnerInnen“ nach den
nächsten Bundestagswahlen erhöht werden kann. Sollten sie sich der CDU/CSU
nicht fügen, hätte diese dann eben auch eine Alternative.

Klassenpolitik

Thüringen zeigt auch, dass – unabhängig von allen
„zufälligen“ Momenten der Wahl – Klasseninteressen allemal bedeutender sind als
Beteuerungen, undemokratische, rechtspopulistische, rassistische Parteien
„auszugrenzen“. Wenn es um die Sicherung bürgerlicher Macht und vor allem auch
um die Option eines aggressiveren, nationalistischen Kurses zur Wahrung der
Interessen des eigenen Kapitals in der internationalen Konkurrenz geht, will
und wird sich die herrschende Klasse nicht den „Luxus“ einer „Ausgrenzung der
AfD“ leisten. Solche Schritte müssen freilich vorbereitet werden – und dazu
kann eine regionalpolitische Entscheidung, bei der für alle unappetitlichen
Tabubrüche im Zweifelsfall die LandespolitikerInnen verantwortlich gemacht
werden können, den Boden bereiten.

Diese Schlussfolgerung sollten sich auch alle jene zu eigen
machen, die hofften und hoffen, die AfD im Gleichschritt mit den bürgerlichen
Parteien zu „stoppen“. Dies trifft bei aller Empörung über die Manöver von FDP
und CDU auch auf die SPD, Grünen und Linkspartei in Thüringen zu. Die Grünen
werfen der FDP vor, sich von FaschistInnen wählen zu lassen – ein Akt, der
jedoch im Gegensatz zu den Vorstellungen dieser bürgerlichen DemokratInnen
leider nicht einzigartig in der deutschen Geschichte ist.

Die SPD verspricht, dass sie mit Kemmerich nicht kooperieren
wolle. Diese „Härte“ fällt ihr freilich leicht. Ausnahmsweise muss sie ihre
„Prinzipien“ nicht über Bord werfen, denn sie wird im Thüringer
Kabinettsschacher ohnedies nicht gebraucht. Nach dem Rechtsruck im Landtag
müsste sie eigentlich die Große Koalition auf Bundesebene aufkündigen – doch so
treu will die Sozialdemokratie zu ihren angeblichen Prinzipien wieder auch
nicht stehen. Stattdessen wird sich die SPD wohl auf Allerweltsfloskeln
beschränken wie etwa Kevin Kühnert, der in einer ersten Stellungnahme erklärte,
dass „Wachsamkeit … das Gebot der Stunde“ sei.

Schließlich muss sich aber auch die Linkspartei fragen,
wohin sie ihr Hofieren der Thüringer CDU, die Spekulationen und
Hinterzimmergespräche mit Gauck über eine „Projektregierung“, also eine Duldung
von Rot-Rot-Grün durch die CDU, gebracht haben. Selbst das zahme rot-rot-grüne
„Projekt“ wollten CDU und FDP nicht länger erdulden – es zweigt sich einmal
mehr, dass diese parlamentarischen Kombinationen kein Schutz vor dem Rechtsruck
und dem weiteren Aufstieg der AfD darstellen. Der 5. Februar legte nicht nur
die Leere der „Abgrenzung“ von CDU und FDP gegenüber der AfD offen, sondern
auch die Leere der – auch von der Linkspartei geteilten – „Einheit der
DemokratInnen“, von offen bürgerlichen Kräften, und der, wenn auch
verbürgerlichten, ArbeiterInnenbewegung.

Dass die Thüringer Vorsitzende der Linkspartei,
Hennig-Wellsow, Kemmerich einen Blumenstrauß vor die Füße wirft, drückt
schließlich nicht nur berechtigen Zorn, Wut, ja Abscheu aus – es verdeutlicht
auch ungewollt das illusorische Vertrauen, das die Linkspartei in CDU und FDP,
also in die Parteien des Kapitals, hegt(e).

Auch Parteichef Riexinger beklagt diesen „bitteren Tag für
die Demokratie“ – als ob diese erst gar keine Herrschaftsform des Kapitals
wäre. In Wirklichkeit zeigt der Urnengang eben auch, dass „die Demokratie“
keine über den Klassen schwebende politische Institution darstellt, dass die
„demokratischen Parteien“ der Bourgeoisie eben auch zur Kooperation mit den
wenig demokratischen, rechtspopulistischen politischen Parteien bereit sind.

Die AfD, Rechtspopulismus, Rechtsruck und erst recht der
Faschismus werden durch die gemeinsame „Ausgrenzung“ dieser Parteien weder in
den Parlamenten noch in der Gesellschaft gestoppt werden können. Im Gegenteil.
Die „Ausgrenzung“ durch CDU und FDP hat sich als Chimäre, als Illusion
erwiesen. Der Kampf gegen rechts – diese Lehre verdeutlicht das Thüringer
Ergebnis einmal mehr – kann letztlich nur als Teil des Klassenkampfes, gegen
Rassismus, Faschismus, Ausbeutung und Unterdrückung geführt werden. Einheit
also nicht „der DemokratInnen“, sondern der sozialen und ArbeiterInnenbewegung
mit eigenen Zielen und Forderungen gegen den Rechtspopulismus als eine, wenn
auch aggressivere Spielart bürgerlicher Politik.




Hamburger Bürgerschaftswahlen: Ein neuer „Green Deal“?

Bruno Tesch, Neue Internationale 244, Februar 2020

Glaubt man den
Darstellungen der Hamburger politischen Elite – ob vom rot-grünen Senat oder
der bürgerlichen Opposition -, so scheint die Zukunft der Stadt gesichert.

Hamburgs
Wirtschaft wurde frühzeitig von Industrie- auf Logistikstandort umgestellt. Von
der CSU in München abgekupfert war die Schaffung eines Wirtschaftsgürtels im
Umland. Mit dem europäischen Großkonzern EADS konnte die
Luftfahrt-Rüstungssparte in Finkenwerder angesiedelt werden. In Form der
Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) wurde das Hafenareal einer
infrastrukturellen Umwälzung unterzogen. Hamburg scheint vor Innovationsfreude
zu sprühen, wenn man von Projekten hört wie der Erschließung eines
Wohn-/Gewerbegebiets auf dem Grasbrook, dem Streckenausbau der S-Bahn, vom
Abriss der Köhlbrandbrücke und Ersetzung durch einen neuen Elbtunnel, vom
Elbtower sowie einem Verladebahnhof, der die Anbindung an Europas größten
Güterumschlagsplatz Maschen im Schienenstrang herstellen soll.

Doch damit kann
die Ladung der anstehenden Probleme nicht gelöscht werden. Hamburg droht, im
Kampf mit der belgischen und niederländischen Hafenkonkurrenz zurückzufallen,
da es keinen unmittelbaren Seezugang besitzt. Die gerade durchgeführte
Elbvertiefung reicht nicht mehr aus, um die großen Pötte anlanden zu lassen.

Die verfehlte
Wohnraumpolitik hat zu überteuerten Mieten mit den höchsten Steigerungsraten im
letzten Jahrzehnt geführt. In der Umweltpolitik segelt Hamburg nicht voran, die
Feinstaubbelastung ist trotz günstiger Lage für Luftdurchmischung hoch. Hamburg
machte weltweit Negativschlagzeilen durch die Pleite bei der Olympiabewerbung
und bei der Ausrichtung des G 20-Gipfels. Das Weltstadt-Lametta zerfieselt
sich.

Vorzeichen für die Bürgerschaftswahlen

Bis auf zwei
„Ausrutscher“ (1982, 1986) und die klare Schlappe in der Periode 2004 bis 2011,
als sie das Steuerruder an die CDU abtreten musste, hielt die SPD in der
Nachkriegszeit das Kapitänspatent für die hanseatische Senatsyacht in Erbpacht;
doch der Bundestrend wirbelt auch hier die bisherigen Verhältnisse
durcheinander.

Konnte die SPD
2015 noch mit 45,6 % haushoch siegen und damit mehr als alle  4 nächstplatzierten Parteien zusammen
erringen, ist selbst die einfache Mehrheit 5 Jahre später in Gefahr.

Als
Hauptkonkurrentin erscheint aber nicht die CDU. Nachdem deren einstige
„Lichtgestalt“ von Beust von Bord gegangen war, versackte sie und dürfte in der
Stimmenauszählung über Platz drei nicht hinauskommen.

Vielmehr erhebt
die derzeitige Juniorpartnerin, Die Grünen, ihr Haupt auf Augenhöhe und ist
nicht mehr bereit, sich mit der untergeordneten Rolle abzufinden. Die Grüne
Partei hat gute Chancen, ihr Stimmenergebnis von 2015 (12,3 %) zu verdoppeln,
damit den SozialdemokratInnen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zu liefern und im
Siegfall die Option des/der 1. BürgermeisterIn ziehen zu dürfen. Die SPD muss
sogar fürchten, das schlechteste Wahlresultat ihrer Geschichte in Hamburg
einzufahren und unter die 30 %-Marke zu rutschen.

Die
Sozialdemokratie hat für den Fall einer Wahlniederlage, also das Abrutschen auf
Platz 2, angekündigt, dass sie nicht bereit für einen Rollentausch sei, sondern
dann in die Opposition gehen würde. Wie glaubwürdig das ist, sei dahingestellt,
wenn dies ausgerechnet aus dem Mund des Olaf Scholz-Intimus Peter Tschentscher
kommt, der die Fortsetzung der GroKo befürwortet, sich also dafür ausspricht,
dass die SPD auf Bundesebene als Vorschotfrau auftritt, die die Kapitänskajüte
einer anderen Partei überlässt.

Das ließ die CDU
aufhorchen, und Ole von Beust gab seiner Partei den Tipp, sich auf eine
Zusammenarbeit mit den Grünen einzustellen, wobei die CDU auf die Unterstützung
der FDP hoffen muss, die 2015 mit 7,4 % in den Senat eingezogen ist.

SPD

Der hamburgische
Bezirk ist traditionell nicht bekannt für linke Politik. Die Senatsspitze gilt
als GroKo-Befürworterin. Der wirtschaftsnahe Flügel um Johannes Kahrs hat hier
hohes Gewicht. Rückendeckung bezieht die Partei v. a. aus den Gewerkschaften,
die in Hamburg mehr Kampfbremse als -lokomotive darstellen.

Die SPD hofft,
sich die Großprojekte im Bereich Verkehr, Wohnungsneubau bei der
WählerInnenschaft gutschreiben zu können. Diese Pläne könnten aber allesamt
schnell auf dem Trockendock landen. Eher muss sie sich die Versäumnisse und
strategischen Ausrichtungen gegen die Interessen der Lohnabhängigen anlasten
lassen. Die nach außen wirtschaftsliberale zarte Hand wäscht die innenpolitisch
repressive, harte.

Bündnis 90/Grüne

Ihr gestärktes
Selbstbewusstsein zeigt sich zum einen bei jüngsten Neueintritten. Aufwind
bekommen sie auch durch die FFF-Stärke, die am 20. September als zweitgrößte
und am 29. November sogar als mächtigste Kraft bei den deutschen
Klimastreikaufmärschen demonstrierte.

Offenbar hat sie
auch den hässlichen Fleck auf ihrem vorgeblich migrationsfreundlichen
Showsmiling unbeschadet wegretuschieren können, als im Bezirk Mitte die mit
Mehrheit gewählte Meryem Celikkol von der Spitze nicht in die Fraktion
aufgenommen wurde und daraufhin austrat. Hintergrund des Konflikts war ein
unbewiesener Vorwurf des Islamismus gegen Mitglieder einer
parteioppositionellen Gruppe.

Ihr erstes
Senatsamt bekleideten die Grünen 2008 für den Bereich Umwelt. Durch die
Zustimmung zum Bau des Kohlekraftwerks Moorburg hatten sie den ersten, und
nicht letzten, heiligen Umweltschutz-Eid gebrochen.

AfD

Sie dürfte ihre
Position gegenüber 2015 (6,1 %) zwar verbessern können, wird aller Voraussicht
nach jedoch Mühe haben, auf einen zweistelligen Stimmenanteil zu kommen. Die
AfD hat kein populistisches Thema, mit dem sie derzeit wirklich punkten oder
zugkräftig mobilisieren kann. Die Umgruppierung im bürgerlichen Lager kommt in
Hamburg ganz eindeutig den Grünen zugute.

Linkspartei

Die Anzeichen
von Verknöcherung mehren sich. Seit Jahren rumort immer derselbe Personenkreis
im Ämterapparat. Das bürokratische Parteiregiment offenbarte sich eklatant, als
ein im Bezirk Mitte von der Basis gewählter Vertreter nicht vom Landesverband
akzeptiert worden war. Diese missliebige Person war nicht zufällig ein
SAV-Mitglied. Da beließ man es lieber bei einem blinden Fleck in der
Bezirksvertretung, als einen möglichen Störfaktor auf höherer Ebene zuzulassen.
Mit Jan van Aken, bis 2017 Bundestagsabgeordneter und damals maßgeblich, auch
gegen Widerstände aus der eigenen Partei, an der Organisierung der G
20-Proteste beteiligt, strich einer der wenigen, in der Hamburger Linken und
den sozialen Bewegungen langjährig verankerter Aktivposten weitgehend die
Segel.

Bei allen
Großveranstaltungen der letzten anderthalb Jahre (Antirassismus-Aufmarsch,
Mieten-Move, Klimastreikaktionen) war die Linkspartei, inklusive ihrer
Jugendabteilungen SDS und [’solid], nur halbherzig dabei und keine treibende
Mobilisierungskraft. In etlichen Zusammenschlüssen, wie z. B. dem Bündnis für
mehr Personal im Krankenhaus oder der „Volksinitiativen“ zur Nutzung
städtischer Grundstücke, ist sie z. T. führend vertreten, optiert jedoch in die
parlamentarisch-juristische Richtung (Volksbegehren, Aktionen abgestimmt
auf  Parteienwahlkampf).

Warum dennoch Linkspartei wählen?

Trotz ihrer
halbgaren „Oppositionspolitik“ konnte sich die Partei somit als Bezugspunkt für
die fortgeschrittensten und aktivsten Elemente aus ArbeiterInnen-, sozialen und
Jugendbewegungen halten. Diese sind aufgerufen, den Klassenkampf an die Partei
heran- und in sie hineinzutragen, indem sie ihre Stimmabgabe mit den
drängendsten Forderungen an die Linkspartei verbinden und sie auffordern,
Massenkampagnen zu entfalten, und jederzeit Rechenschaft über ihr Tun
einfordern. Probleme, Bezugspunkte und konkrete Forderungen, um die ein
gemeinsamer Kampf geführt werden müsste, gibt es genug:

  • Entschädigungslose Enteignung von MietspekulantInnen und städtisches Wohnbausofortprogramm mit Mieten von nicht mehr als 20 % des Einkommens
  • Bau- und Planungsstopp für alle Luxusprojekte wie Elbtower, Hafen City-Ausdehnung und  Umwidmung der Haushaltstitel für Wohnungs-, Schulbau und Renovierung gesellschaftlich zentraler Versorgungseinrichtungen
  • Enteignung der privaten Versorgungskonzerne nach einem gesellschaftlichen Gesamtplan
  • Öffentlicher Nahverkehr inklusive Umland zum Nulltarif
  • Keine Dreckschleudern wie Moorburg. Einsatz von sparender und umweltverträglicher Energieerzeugung
  • Gegen jede Aufrüstung des polizeilichen Gewaltapparats und Einschränkung von demokratischen Rechten
  • Durch ArbeiterInnen- und MigrantInnenorganisationen aufgebauter Schutz von MigrantInnen gegen staatlichen und rechtsradikalen Rassismus und Faschismus
  • Aufbringung der Mittel für diese Maßnahmen durch ein Programm progressiver Besteuerung von KapitalistInnen, SpekulantInnen und GroßgrundbesitzerInnen.

Aber die
ArbeiterInnen- und Jugendbewegung darf nicht abwarten, dass die Linkspartei in
Aktion tritt, sondern muss den Kampf unabhängig davon in Aktionseinheiten und
-bündnissen führen.




Thüringen nach der Wahl: Was nun Linkspartei?

Tobi Hansen, Neue Internationale 242, November 2019

Thüringen bildete den Abschluss der ostdeutschen
Landtagswahlen. Wenn auch in der Tendenz – Wachstum der AfD, Bestätigung der
Partei des Ministerpräsidenten als stärkster Kraft – ähnlich, entscheidet sich
das Ergebnis doch in einem wesentlichen Punkt. Während in den Landtagen von
Brandenburg und Sachsen die „Parteien der Mitte“ (noch) über eine absolute
Mehrheit verfügen, stellen in Thüringen Union, SPD, Grüne und FDP gemeinsam
weniger als die Hälfte der Abgeordneten.

Die beiden stimmenstärksten Parteien und Siegerinnen der
Wahlen vom 27. Oktober, Linkspartei und AfD, vereinen mehr als die Hälfte der
ParlamentarierInnen auf sich. Die bürgerliche „Mitte“ reagiert „geschockt“ und
verstört. In der „Mitte“, zwischen den beiden „Extremen“ AfD und Linkspartei,
ließe sich keine Regierung bilden.

Der Schock sitzt tief – diesmal vor allem bei der CDU. Dass
SPD und Grüne verloren, überrascht nach den Umfragen der letzten Wochen nicht
wirklich. Allein die Linkspartei vermochte diesmal die „Arbeit der
rot-rot-grünen Landesregierung“ und den Ministerpräsidentenbonus für sich zu
verbuchen, so dass sie an Stimmen und Abgeordneten sogar weiter zulegen konnte,
während ihre Koalitionspartnerinnen verloren. Sie erzielte 31 % (plus
2,8 %) und damit 29 Sitze im Landtag.

Die FDP schaffte mit 5 % knapp den Einzug in den
Landtag, was mit dazu beitrug, dass Rot-Rot-Grün über keine Mehrheit im Landtag
verfügt. Die Liberalen feierten diesen „Sieg“, als hätten sie ein politisches
Wunder vollbracht – ein Zeichen dafür, wie gering mancherorts die politischen
Erwartungen geworden sind.

Dramatisch sind die Ergebnisse der Parteien der Großen
Koalition. Die CDU verlor 11,7 % und sackte hinter Linkspartei und AfD mit
21,8 % auf Platz 3 ab. Die SPD fuhr eine weitere Schlappe ein und erreicht
gerade 8,2 %, ein Minus von 4,2% gegenüber dem letzten Urnengang.

Die Berliner Regierungsparteien kommen so auf 30 %, das
schlechteste Ergebnis der ehemaligen „Volksparteien“. Auch die Grünen schafften
nur 5,2 %.

Die AfD beendete die ostdeutschen Landtagswahlen
erwartungsgemäß. Wie in Brandenburg gelang es ihr, vor der CDU zu landen und
mit 23,4 % sich klar über der 20 %-Marke zu etablieren. Auch wenn für
Spitzenkandidat Höcke selbst die bürgerlichen Medien keinen Nazi-Vergleich
scheuten, gab sich dieser nach den Wahlen biedermännisch-brav und offen für
„bürgerliche“ Koalitionen mit der CDU. Im Wahlkampf vermied er weder Hinweise
auf Machtergreifung noch NS-Rhetorik, nach der Wahl gibt Höcke eher den „Wolf
im Schafspelz“.

Katastrophe für die Union

Bis 2014 regierte die CDU in Thüringen meist alleine,
manchmal in Koalition. Als Rot-Rot-Grün siegte, beschwor die Union den
Wiedereinzug von SED und Staatssicherheit in die Erfurter Staatskanzlei. Der
aktuelle CDU-Spitzenmann, Mohring, unterstützt auch die damalige rechten
„Fackelmärsche“.

Nach der Wahl und vor allem nach einer relativ
störungsfreien Regierung unter Bodo Ramelow in Thüringen, die nicht den
Verfassungsschutz abschaffte, sondern diesem neue Stellen zusicherte, ruderte
Mohring zurück. Für ihn scheint jetzt auch eine Zusammenarbeit mit der
Linkspartei denkbar, wenn auch nicht für seine Bundespartei. Dass gleichzeitig
der CDU-Fraktionsvize Heym eine Koalition mit AfD und FDP ins Spiel bringt, die
ebenfalls über eine Mehrheit im Landtag verfügen würde, verdeutlicht die tiefe
Krise der Union, die vor allem in den ostdeutschen Ländern von der AfD als
führende bürgerliche Kraft massiv herausgefordert wird. Während Mohring ganz
den Landespolitiker gibt, nach dem Motto: „Was hat Berlin uns schon gebracht?“,
z. B. beim Wahlkampf, beharrt der Bundesvorstand auf den geltenden
Beschlüssen, nämlich dass es weder mit der Linkspartei noch mit der AfD
Koalitionen geben dürfe.

Bundesvize Klöckner sieht gleich die CDU in der
Bedeutungslosigkeit versinken, sollten diese „Tabus“ gebrochen werden, wie auch
Carsten Linnemann die „Beliebigkeit“ verhindern will. Auch hier wird der
nahende Untergang befürchtet, zumindest das „Ende als Volkspartei“.

Während die Äußerungen führender VertreterInnen der
Linkspartei befürchten lassen, dass diese derzeit wahrscheinlich sogar
opportunistisch genug wäre, um mit der Union zu koalieren, zeigt die
aufkommende Debatte die unsichere Führungslage in der herrschenden bürgerlichen
Partei offen auf. Parteichefin und Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer
ist umstritten, ihre mögliche KanzlerInnenkandidatur wird ständig angezweifelt,
wie auch die mögliche Urwahl des/r KandidatIn ihre Rolle schwächt. Der
gescheiterte Kandidat Merz holte via Springer-Presse vor allem gegen Kanzlerin
Merkel aus. Diese führe zu wenig, die Große Koalition ruiniere das Land und er
könne sich schwer vorstellen, dass das noch 2 Jahre so weitergehen könne.
Sicher kennt er jemanden, der besser KanzlerIn kann, auch wenn ihm inzwischen
mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Laschet ein wichtiger
Konkurrent erwächst. Dies zeigt, dass der Fortbestand der „Großen Koalition“
eben nicht allein von der Entscheidung der SPD im Dezember abhängt, sondern
dass auch in der Union weitere Krisen und Brüche zu erwarten sind.

Dabei wird die Frage einer Koalition mit der AfD nur solange
ein Tabu bleiben, wie die Europastrategie des deutschen Kapitals und ihrer
wichtigsten Partei, der CDU/CSU, auf die Formierung der EU zu einem
imperialistischen Block zielt, der weltmachtfähig ist. Je mehr dieses Ziel
jedoch in die Ferne rückt, je mehr die EU und damit Deutschland hinter ihren
RivalInnen im Kampf um die Neuaufteilung der Welt zurückfallen, desto mehr
werden Teile des deutschen Kapitals auf eine aggressiv-nationalistische Lösung,
auf eine Alternative zur EU-Strategie drängen. Dann könnte die Stunde einer
Koalition mit der AfD als extrem nationalistischer, rechtspopulistischer Kraft
schlagen.

Die AfD hat in Thüringen nicht nur ihre Wahlerfolge
konsolidiert. Zweifellos verschoben sich die Kräfteverhältnisse in der Partei
auch weiter nach rechts, zugunsten des Flügels um ihren Spitzenkandidaten Höcke
und den „Flügel“, das lose Netzwerk extrem nationalistischer, völkischer bis
faschistischer Kräfte in der Partei. Am Parteitag in Braunschweig Ende
November/Anfang Dezember ist eine weitere Stärkung dieser, von AfD-Fraktions-
und Parteivorsitzendem Gauland politisch gedeckter Kräfte zu erwarten. Die
Frage ist zur Zeit nicht, ob der „Flügel“ stärker wird, sondern nur wie viel
und in welcher Form.

Letzter Ausweg Regierungsauftrag?

Für die Linkspartei dient ihr Spitzenergebnis gleich für
mehrere Unterfangen. Erstmal sonnt sich die aktuelle Spitze im Ergebnis „ihres“
Spitzenkandidaten und Ministerpräsidenten Ramelow. Damit wäre der Beweis für
die Regierungstauglichkeit der Partei auch praktisch erbracht. Sie leitet davon
gemäß den parlamentarischen Gepflogenheiten auch den Anspruch aufs
Weiterregieren ab. Gegen die verlogene Rhetorik der „geschrumpften Mitte“ setzt
die Linkspartei auch ihr Wahlergebnis ein. Sie will anhand ihrer
Regierungspolitik der letzten fünf Jahre – nicht ganz zu Unrecht – auch als
Teil der „Mitte der Gesellschaft“ anerkannt werden. Sie reklamiert für sich,
dass sie stärkste Kraft der „Demokratie“ wäre, die mit allen „DemokratInnen“ –
also allen außer der AfD – über Regierung, Koalition und Duldung sprechen will.

Wir wollen hier keine Kaffeesatzleserei betreiben. Aber die
Tatsache, dass sich die Linkspartei auch „offen“ für ein Bündnis, eine
Kooperation, eine Tolerierung mit und durch die CDU gibt, lässt Schlimmes
befürchten. Zwar hat Fraktionschef Bartsch erklärt, dass es entscheidende
Unterschiede zur Union gebe. Aber „Lösungen“ müssten auf Landesebene gefunden
werden – und dafür müsse die Linkspartei vor Ort „freie“ Hand haben.
Schließlich funktioniere eine Zusammenarbeit mit der CDU ohnedies schon lange
auf kommunaler Ebene.

Während die Diskussion darüber die CDU in eine tiefe Krise
stürzt, freut sich die Linkspartei als stärkste Kraft darüber, dass alle mit
ihr reden müssen, dass eine Koalition gegen die Partei kaum möglich ist. Dass
die CDU mit der Linkspartei sprechen wird, verbucht sie als „Erfolg“.

Hinsichtlich der vergangenen Legislaturperiode von 2014–2019
rühmt sich die Linkspartei, viele sozialpolitische Themen umgesetzt bzw. auf
den Weg gebracht zu haben. Sie habe versucht, eine Abkehr von der neoliberalen
Verwaltungspolitik auf Länderebene durchzusetzen. Dummerweise  war sie aber auch an die Durchführung
der übergeordneten Bundesgesetze gebunden, so dass der große Bruch mit der
restriktiven Budgetpolitik bislang ausblieb. Ein wie auch immer geartetes
Bündnis oder die Zusammenarbeit mit der Union würde auch die letzte Hoffnung
auf dieses Unterfangen begraben, vor allem bei einer Koalition zwischen den
beiden Parteien.

Eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung, Weiterführung der
alten Koalition, die von Union und/oder FDP toleriert würde, wäre praktisch
gelähmt. Selbst noch so geringfügige soziale Vorhaben könnten einfach blockiert
werden.

Der einzige Ausweg, dass sich eine Linkspartei geführte
Minderheitsregierung nicht auf Gedeih und Verderb an CDU, FDP oder auch die
Grünen bindet, bestünde darin, dass sie mit ihrer Parlamentsfixiertheit bricht,
auch wenn ein „Landesvater“ Bodo Ramelow als auf der Straße  kämpfender Ministerpräsident schwer
vorstellbar wäre. In jedem Fall müsste sich eine solche Minderheitsregierung,
die ohne Koalitionen mit offen bürgerlichen Parteien auskommen will, auf die
Mobilisierung der WählerInnen und AnhängerInnen der Partei stützen, vor allem
auf die sozialen Bewegungen wie Fridays for Future, auf antirassistische und
antifaschistische Kräfte und auf die Gewerkschaften. Immerhin haben lt. einer
Umfrage des DGB überdurchschnittlich viele Gewerkschaftsmitglieder
(36,5 %) Linkspartei gewählt, ein Zeichen dafür, dass die organisierte
ArbeiterInnenklasse von dieser Wahl durchaus reale Verbesserungen erwartet.

In jedem Fall würde eine solche Politik einen Bruch mit der
bisherigen Strategie und Programmatik der Linkspartei erfordern. Eine
Minderheitsregierung der Linkspartei wäre zwar selbst noch im Falle einer
Alleinregierung dieser Partei eine bürgerliche Regierung – aber die
Mobilisierung um konkrete Forderungen auf der Straße und in den Betrieben könnte
eine neue, fortschrittliche Dynamik in die Situation bringen.

Zweifellos ist diese Variante angesichts der Ausrichtung der
Linkspartei extrem unwahrscheinlich. Eine solche Politik hätte aber enorme
Vorteile, auch für den Fall, dass Ramelow und seine Partei von einer
parlamentarischen Mehrheit gestürzt würden. Für diese wäre es überaus
schwierig, selbst eine Regierung zu bilden. Genau diese instabile Situation,
die der Linkspartei als größtes aller Übel erscheint, könnte durch eine massive
Mobilisierung auf der Straße und in den Betrieben zu einer Chance werden,
Gegenmachtstrukturen aufzubauen, die anderen Parteien durch die
ArbeiterInnenklasse herauszufordern.

Wie gegen rechts?

Für die Linkspartei und ihre Führung ist es jedoch
bezeichnend, dass sich ihre Vorstellungen einzig auf das Feld parlamentarischer
Kombinationen beschränken.

In den „liberalen“ bürgerlichen Medien wie SPIEGEL,
Süddeutsche Zeitung oder Die Zeit wird die CDU ziemlich direkt aufgefordert,
ihre Hemmnisse gegenüber der Linkspartei abzulegen und irgendwie den
Ministerpräsidenten Ramelow zu halten. Anders die konservativen Medien wie die
Springer-Presse, die die „Radikalen“ als WahlsiegerInnen sehen, quasi Thüringen
verloren zwischen SozialistInnen und Nazis. Auch die berüchtigten „Weimarer
Verhältnisse“ werden bemüht. Eine Koalition mit den Linken wird als „Tabubruch“
betrachtet. Den liberalen Medien geht es praktisch um stabile Verhältnisse,
notfalls auch mit der Linkspartei. Schließlich weisen sie zu Recht darauf hin,
dass die Linkspartei längst nicht so „extrem“ ist, wie von FDP und CDU
beschworen, und fest auf dem Boden der bürgerlich-demokratischen Verhältnisse,
von Parlamentarismus und „sozialer“ Marktwirtschaft steht. Als eigentliche
Gefahr und die einzigen „ExtremistInnen“ gelten ihr – nicht so viel anders als
der Linkspartei und der gesamten demokratischen Öffentlichkeit – die Bösewichte
von der AfD.

Im Kampf gegen rechts stellt die Bindung an bürgerliche Parteien für die ArbeiterInnenklasse ein strategisches Hindernis dar. Ohne eine politische Anerkennung der bürgerlichen Ordnung, des Privateigentums sind solche Bündnisse und erst recht Regierungskoalitionen oder Duldungen nie zu haben. D. h. sie kommen praktisch einer offenen Unterordnung unter die Interessen der herrschenden Klasse gleich. Auch wenn das „Bündnis der Demokratie“ in Regierungsform auf den ersten Blick als eine Stärkung im Kampf gegen die AfD und ihre faschistischen Verbündeten erscheint, weil es noch mehr gesellschaftliche Kräfte und Klassen umfasst, so stellt es in Wirklichkeit eine Schwächung des Kampfes dar. Stärkung träte nur ein, wenn die Kräfte eines solchen Bündnisses in eine Richtung ziehen würden. Im besten Fall ziehen aber ArbeiterInnenklasse und Kapital in entgegengesetzte Richtungen, paralysieren sich also und entfalten daher keine Kraft im Kampf gegen rechts. Im schlimmsten Fall – und so läuft es bei Koalitionsregierungen von offen bürgerlichen und reformistischen Parteien immer – ordnen sich die VertreterInnen der Linken den bürgerlichen unter, stärken also nur deren gesellschaftliche Position und schwächen damit die ArbeiterInnenklasse. Dass 22 % der Gewerkschaftsmitglieder in Thüringen AfD gewählt haben, verdeutlicht das Problem und die Gefahr, dass sich noch mehr Lohnabhängigen dem Rechtspopulismus zuwenden, wenn Linkspartei, SPD und Gewerkschaften auch noch gemeinsame Sache mit CDU und/oder FPD machen.

Das wird in Krisensituation, bei scharfen sozialen
Konflikten, drohenden Massenentlassungen besonders fatal.
Völkisch-nationalistische und populistische Kräfte wie die AfD können sich umso
besser als VertreterInnen „des Volkes“ gegen die „demokratische“ Elite
inszenieren, womöglich garniert mit Rassismus, Antisemitismus und demagogischem
Anti-Kapitalismus.

Daher gilt es, an die Linkspartei in Thüringen die Forderung zu stellen: Keine Koalition mit CDU, FDP und Grünen! Schluss mit der Parlamentsfixiertheit! Mobilisierung für die Forderungen von Fridays for Future, für die sozialen Versprechungen der Partei wie kostenlose Kita-Plätze, für Mindestlohn, gegen rassistische und faschistische Aufmärsche, für den Stopp aller Abschiebungen!

Dieser Forderungen sollten Anti-KapitalistInnen in Thüringen
an die Linkspartei (wie auch an die Gewerkschaften und die Restbestände der
SPD) richten. Zugleich gilt aber auch für dieses Land: Der Reformismus – ob nun
mit Ramelow als Ministerpräsident, ob in der Opposition – selbst vermag keine
überzeugende, tragfähige Antwort auf die aktuelle politische Krise zu geben.
Die verschärfte gesellschaftliche Konfliktlage, die das Wahlergebnis auch zum
Ausdruck bringt, will er umschiffen, sich ihr zu stellen vermag er nicht. Dazu
bedarf es einer politischen Neuformierung, einer neuen revolutionären
ArbeiterInnenpartei.