Europäische Linke: Lässt sich der Kapitalismus transformieren?

Alex Zora, Infomail 1174, 28. Dezember 2021

„Die Arbeiter haben kein Vaterland.“ Dieses bekannte Marxzitat ist wohl den meisten Linken ein Begriff. Schon früh galt der Anspruch der ArbeiterInnenbewegung, sich auch international zu organisieren. Heute ist der größte Zusammenschluss der Linken links von Sozialdemokratie und Grünen in Europa die Europäische Linke (EL). Wir wollen uns im Folgenden ansehen, wie sie ihrem Anspruch „Transformierung von Gesellschaften und die Überwindung des heutigen Kapitalismus“ gerecht wird.

Wer ist die Europäische Linke?

Die Europäische Linke wurde 2004 in Rom gegründet. Sie ist der organisierte Zusammenschluss von 28 europäischen linken Parteien – großteils aus EU-Staaten, aber nicht ausschließlich. Die wichtigsten und größten Parteien bilden die deutsche Linkspartei, die französische Bewegung von Mélenchon (La France Insoumise) – die jedoch nur Beobachterstatus hat –, die spanische Izquierda Unida sowie Griechenlands Syriza. In Österreich ist die KPÖ Mitglied in der Europäischen Linken und Der Wandel – Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt ist Partnerorganisation.

Im Europäischen Parlament steht ihr die Fraktion der Linken GUE/NGL nahe, in der Abgeordnete von 19 linken Parteien sitzen. Hiervon kommt der Großteil, aber wiederum nicht alle, der Abgeordneten aus Mitgliedsparteien der Europäischen Linken. Insgesamt zählen die Parteien der Europäische Linken ungefähr eine halbe Million Mitglieder.

Die Grundsätze

Auf dem Gründungskongress 2004 in Rom wurde auch ein Manifest angenommen. Der Name sollte dabei nicht täuschen, handelt es sich doch eher um sehr kurz gefasste Grundsätze, die grob die politische Richtung vorgeben. Es sieht sich in der Tradition und den Werten von Sozialismus, Kommunismus, ArbeiterInnenbewegung, Feminismus, internationaler Solidarität, aber auch von Humanismus und liberalem Denken. Es stellt die Zentralität der Europäischen Union als Raum der politischen Auseinandersetzung fest, bei gleichzeitig grundlegender Kritik an der Richtung der Entwicklung sowie den Ausformungen des modernen Kapitalismus in Europa. Man möchte „der EU einen anderen Inhalt geben: selbstständig von der US Hegemonie, offen gegenüber dem globalen Süden, alternativ zum Kapitalismus in seinem sozialen und politischen Modell [ … ]“. Dafür wird die „Notwendigkeit einer tiefgreifenden sozialen und demokratischen Transformation“ gesehen.

Grundsätzlich stammt die Europäische Linke in erster Linie aus der Tradition des Eurokommunismus und vertritt eine offene Kritik am „Kommunismus“ sowjetischer Prägung. Diese Kritik kommt aber nicht aus einer linken, revolutionären, sondern eigentlich aus einer rechten parlamentarisch-reformistischen Richtung. Die Tatsache, aber dass eine Kritik am „real existierenden Sozialismus“ geübt wird, führte in der Vergangenheit immer wieder zu Konflikten, in erster Linie mit den traditionalistisch ausgerichteten, stalinistischen Parteien (wie der KKE aus Griechenland, der PCP aus Portugal oder der ArbeiterInnenpartei Ungarns), die entweder nie Teil der Europäischen Linken wurden oder wieder austraten.

Transformationstheorie vs. Populismus

Die vorherrschende Ausrichtung der Europäischen Linken wird zumeist aus der Transformationstheorie abgeleitet bzw. mit ihr begründet. Kurz zusammengefasst geht es bei der Transformationstheorie (wahlweise auch als „radikaler Reformismus“, „radikale Realpolitik“ oder „revolutionäre Realpolitik“ bezeichnet) darum, den Widerspruch zwischen revolutionärer Politik (die fälschlicherweise zumeist mit den stalinistischen Parteien identifiziert wird) und Reformismus (also Sozialdemokratie) zu überwinden. An beiden wird Kritik geübt und – gestützt auf TheoretikerInnen wie Antonio Gramsci, Karl Polanyi oder Nicos Poulantzas – wird versucht, diesen Widerspruch zu überwinden. Hierbei wird mit zentralen Erkenntnissen der marxistischen Theorie gebrochen wie der Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution, der Zerschlagung des bürgerlichen Staates und seiner Ersetzung durch die direkten Machtorgane der Arbeitenden und Unterdrückten. Kurz zusammengefasst lässt sich das beispielhaft an der Analyse von Nicos Poulantzas zeigen: „[D]as innere Kräfteverhältnis des Staates zu ändern, meint nicht aufeinanderfolgende Reformen als kontinuierlicher Fortschritt, die schrittweise Einnahme der staatlichen Maschinerie oder die Eroberung der höchsten Regierungsposten. Diese Veränderung besteht in der Ausweitung effektiver Brüche, deren kulminierender Punkt – und es wird zwangsläufig so ein Punkt existieren – im Umschlagen der Kräfteverhältnisse auf dem Terrain des Staates zugunsten der Volksmassen liegt.” (Poulantzas, Staatstheorie) Was diese Theorie in der Praxis bedeutet, werden wir weiter unten noch genauer beschreiben. Für jene, die an einer ausführlicheren Kritik der Transformationstheorie interessiert sind, verweisen wir auf „Aktualität und Diskussion der bolschewistischen Revolutionskonzeption“, zu finden in unserem Theoriejournal Revolutionärer Marxismus Nr. 47 oder auf unserer Homepage.

In den letzten Jahren hat sich aber innerhalb des europäischen Linksreformismus noch eine weitere Strömung dazugesellt. Mit Podemos in Spanien, La France Insoumise von Mélenchon in Frankreich oder dem Flügel von Sahra Wagenknecht in der deutschen Linkspartei kam noch eine dezidiert populistische Ausprägung hinzu. Teilweise gestützt auf TheoretikerInnen wie Chantal Mouffe und Ernesto Laclau, teilweise auch einfach beeinflusst durch die chauvinistischen Tendenzen innerhalb der ArbeiterInnenbewegung, kam es zu einer bewussten Ablehnung einer marxistischen Klassenanalyse und zu einer stärkeren Orientierung auf den Konflikt zwischen „dem Volk“ und „der Elite“. Zumeist geht das einher mit stärkeren Bezügen auf das Volk und die Nation und einer misstrauischen Haltung gegenüber Kämpfen gegen soziale Unterdrückungsformen wie Sexismus oder Rassismus (was hierbei gerne pauschal als Identitätspolitik bezeichnet wird).

Die Praxis der Europäischen Linken

Entscheidend für eine politische Partei ist natürlich nicht nur das politische Programm. Oft zeigt sich erst in der Praxis, aus welchem Holz vorgeblich fortschrittliche Kräfte wirklich geschnitzt sind. Das sieht man nur allzu oft, wenn sozialdemokratische oder grüne Kräfte an der Regierung beteiligt sind. Die nationalen Parteien der Europäischen Linken stehen natürlich im Vergleich zu diesen Kräften deutlich seltener in der Situation der Regierungsverantwortung, was die praktischen Beispiele stark einschränkt. Es gibt sie aber trotzdem.

Aktuell sind Kräfte der Europäischen Linken zum Beispiel in Spanien an der Regierung beteiligt. Gemeinsam mit der sozialdemokratischen PSOE, die den Regierungschef stellt, ist Unidas/Unidos Podemos – die Wahlallianz aus Podemos und dem EL-Mitglied Izquierda Unida – an der Regierung beteiligt. An den kapitalistischen Verhältnissen in Spanien hat sich dadurch aber überhaupt nichts geändert. Der Teil der Bevölkerung, der armutsgefährdet ist, hat sich seit ihrem Antritt nicht relevant verändert (21,5 % 2018; 21 % 2020), die Durchschnittslöhne setzten ihr kontinuierliches Sinken seit 2015 auch unter der Regierung mit Beteiligung der Europäischen Linken fort. Dass Spanien unter der „linken“ Regierung auch weiterhin eine Monarchie unterhält, Katalonien und dem Baskenland das Recht auf Selbstbestimmung verwehrt und das europäische Grenzregime mitträgt, muss dazu kaum noch extra erwähnt werden. Das Schlimmste aus Sicht der Europäischen Linkspartei ist aber, dass sie als Juniorpartnerin überhaupt nicht von einem möglicherweise seriöseren Image als Regierungspartei profitiert. Kam Unidos/Unidas Podemos bei den Wahlen 2016 noch auf über 20 %, hält sie sich aktuell in Umfragen bei ungefähr 10 %. Profitiert haben hiervon auf der einen Seite die regierenden SozialdemokratInnen, auf der anderen die radikale Rechte von Vox.

Doch aus Sicht der Europäischen Linken könnte man natürlich argumentieren, dass man als Juniorpartnerin in einer Regierung oft nicht wirklich das eigene Programm durchsetzen kann (Warum geht man dann aber überhaupt in solche Regierungen?). Aber als Beispiel, wo Parteien der Europäischen Linken dominant an der Regierung beteiligt sind, kann man sich beispielsweise regionale Regierungen wie in Thüringen ansehen. Dort wird im Wesentlichen der kapitalistische Status quo mitverwaltet: Abschiebungen und Zwangsräumungen sind weiterhin normal, die Situation für die ArbeiterInnenklasse ist nicht substantiell besser als in den umliegenden Bundesländern etc. Wie wenig sich die Parteien der Europäischen Linken an der Regierung von der Sozialdemokratie unterscheiden, zeigt sich auch darin, wie wenig sie in offene Konflikte mit den Zentralregierungen kommen. Sogar das sozialdemokratische Rote Wien war hier deutlich fortschrittlicher positioniert.

Doch das wichtigste Beispiel ist gleichzeitig das tragischste: Griechenland. Hier wurde Syriza Anfang 2015 getragen durch eine Welle der Proteste der ArbeiterInnenklasse zur stärksten Kraft. Die griechische ArbeiterInnenklasse setzte große Hoffnungen in sie und ihr teilweise radikales Programm. Doch Syriza verriet ihre Basis und eigenen Grundsätze auf ganzer Linie. Nach dem von Alexis Tsipras einberufenen Referendum über die Schuldenrückzahlung, bei dem sich mehr als 60 % der GriechInnen gegen die Schuldenrückzahlungspläne von EU, EZB und IWF aussprachen, verriet Syriza einfach diese überwältigende Mehrheit und führte ein hartes Sparprogramm durch, das teilweise sogar schlimmer ausfiel als das der davor regierenden Konservativen. Gleichzeitig wurden in den Wochen nach dem Referendum die linken Kräfte in Syriza aus den wichtigen Positionen der Partei gedrängt. Dabei war Griechenland 2015 das zentrale Land des europäischen Klassenkampfes, wo die Zukunft der Sparpolitik entschieden wurde. Anstatt die griechische ArbeiterInnenklasse, die klassenkämpferischer und geschulter in Streiks und Besetzungen als jede andere in Europa war, zum Kampf und auf europäischer Ebene die Linke für eine Kampagne der internationalen Solidarität zu mobilisieren, wurde lieber dem Kapital klein beigegeben. Das ist die praktische Konsequenz der Transformationstheorie, die sich in der Praxis in nichts vom klassischen Reformismus sozialdemokratischer Prägung unterscheidet!

Mit dem Kapitalismus brechen, statt ihn zu verwalten!

Was Beispiele wie Griechenland oder Spanien zeigen, ist, dass die grundlegende strategische Ausrichtung nicht einmal im Eigeninteresse der Parteien der Europäischen Linken funktioniert. Vielmehr profitieren andere politische Kräfte (in Spanien die Sozialdemokratie und radikale Rechte, in Griechenland die Konservativen) von den hohlen Versprechungen der Parteien der EL. Doch international gibt es auch Beispiele wie die „trotzkistisch“ geprägte Front der Linken und ArbeiterInnen (FIT) in Argentinien, die bei den Wahlen im November diesen Jahres mit fast 1,4 Millionen Stimmen und 5,9 % zur drittgrößten Kraft aufgestiegen ist und eine Beteiligung am kapitalistischen Status quo ablehnt.

Wer ernsthaft den Kapitalismus überwinden möchte, kann sich nicht zu seinem/r HandlangerIn machen. Wo sich eine Partei zur Regierungsverantwortung im bürgerlichen Staat aufschwingt – egal ob führend oder als Juniorpartnerin, national oder regional – gerät sie letztlich immer zur Verwalterin des kapitalistischen Elends und der entsprechenden Verhältnisse.




Neues und Altbekanntes: Was bleibt vom revolutionären 1. Mai(-Bündnis) in Frankfurt/Main?

Richard Vries, Infomail 1152, 29. Mai 2021

Vieles verändert sich in den Jahren der Corona-Krise. Und doch bleibt es bei ganz Grundsätzlichem. Etwa, wenn der DGB in der Mainmetropole am 1. Mai ‘21 zur Demo mit abschließender Kundgebung aufruft und dabei seine FunktionärInnen in Einklang mit SPD-Oberbürgermeister Feldmann die Solidarität und Einheit der Gesellschaft fordern, obwohl die Bosse und KapitalistInnen von so was schon lang nichts mehr wissen wollen. Sie lassen uns die Krise zahlen. Immerhin ging der Frankfurter DGB überhaupt auf die Straße. 4.000 AktivistInnen und GewerkschafterInnen folgten dem Aufruf. Das zumindest ist ein Fortschritt zu ausgebliebenen 1. Mai-Gewerkschaftsaktionen des letzten Jahres.

Doch betrachten wir den diesjährigen Aufzug von der Hauptwache zum Opernplatz genauer. Den kleineren Teil an der Spitze der Demo stellten Mitgliedergewerkschaften des DGB wie z. B. die IG Metall, den absoluten Großteil der Demo aber Gruppen und AktivistInnen der radikalen Linken sowie migrantischer ArbeiterInnenorganisationen. Ohne ihr Erscheinen bliebe von der Demo nicht viel mehr als eine Versammlung von FunktionärInnen und Apparatschiks übrig. Die offiziellen Reden dieser hörten sich dann auch an, als seien es Regierungserklärungen. Im Namen deutscher Standortpolitik wird nimmer endend die nationale Einheit beschworen, wenn nicht direkt, so doch um so deutlicher zwischen den Zeilen. Und so passt der Frankfurter 1. Mai dann auch gut ins Gesamtbild des DGB in der Krise. Kein Aufruf zum Kampf gegen Arbeitsplatzstreichung, für bessere Bedingungen in Krankenhäusern, für deutlich höhere Löhne und schon gar keine Streiks oder gar Betriebsbesetzungen gegen das Abwälzen der Krisenkosten auf Lohnabhängige oder für einen Lockdown in der Produktion mit drei Wochen bezahltem Urlaub. Kapitulation total, dem Kapital stets loyal, mit verräterischen Grüßen, ihre DGB-Führung.

Der revolutionäre 1. Mai (und die Polizei)

Neu war am diesjährigen Ersten Mai am Main, dass ein Bündnis linker Gruppen für einen „Revolutionären 1. Mai Frankfurt“, zum „Tag der Arbeiter:innen. Tag unserer Klasse. Tag der Wut.“ aufrief – als bewusster Alternative zur beschriebenen DGB-Demo. Und so versammelten sich dann am Abend erneut an die 4.000 auf dem Opernplatz, begleitet von einem Polizeigroßaufgebot.

Die Stimmung war entsprechend eine ganz andere als am Vormittag, wie auch die Gesichter zu einem guten Teil andere waren. Kräfte der radikalen Linken, viel mehr Jugendliche und Menschen, die sich vom DGB nicht in der Krise unterstützt sehen, anstelle von Apparat und Bürokratie.

Drei Blöcke – der des Ersten-Mai-Bündnisses an der Spitze, gefolgt von den Blöcken von „Wer hat, der gibt“ (Enteignungsblock) und des F*streikbündnisses (FLINTA-Block) setzten sich in Bewegung, liefen am Hauptbahnhof vorbei ins Gallus, die Mainzer Landstraße stadtauswärts, die Frankenallee wieder stadteinwärts, begleitet von mehreren Drangsalierungen und Angriffen der Cops. Kurz vor dem Bahnhof Galluswarte war dann Schluss. Die Polizei griff die Demo massiv an und löste sie auf. Ergebnis: viele Festnahmen und schwerste Verletzungen wie Platzwunden und gebrochene Knochen, darunter Schädelbasisbrüche. Begleitet und legitimiert wurde die Polizeigewalt dann von Medien wie der FAZ oder der Bild, die die diffamierende Darstellung der Polizei übernahmen. Staat und bürgerliche Medien lieferten am neuen revolutionären Frankfurter Ersten Mai in diesem Sinne also Altbekanntes. Zu keinem Zeitpunkt ging ein Angriff auf die Polizei von der Demo aus. Erst als diese mit Schlagstöcken brutal reinging, versuchten TeilnehmerInnen der Demo, dies abzuwehren und zurückzuschlagen. Dass der Angriff just dann erfolgte, als Pyrotechnik eingesetzt wurde, ist freilich nur ein bequemer Vorwand für die Staatsmacht. Letztlich ging es darum, die Bilder zu liefern, die eine revolutionäre Alternative zur bestehenden Regierungs- (und DGB-Politik) delegitimieren und in der Öffentlichkeit von antikapitalistischen Inhalten ablenken.

Bilanz und Bündnis

Angesichts der Krise und des Stillhaltens des DGB war das Abhalten einer revolutionären Abenddemo in Frankfurt politisch richtig. Es ist der Grund, warum wir uns an der Bündnisarbeit beteiligten – trotz aller Schwächen des Bündnisses. Darauf und die aktuellen Entwicklungen werden wir weiter unten eingehen.

Aber zuvorderst ist zu bilanzieren, dass in Frankfurt, in einer Stadt mit vielen Verwerfungen in der radikalen Linken, eine Demo mit revolutionärem Anspruch 4.000 ArbeiterInnen, Jugendliche und gesellschaftlich besonders Unterdrückte wie FLINTA-Menschen oder von Rassismus Betroffene aus dem gesamten Rhein-Main-Gebiet mobilisieren konnte. Dies stellt einen großen Erfolg dar und ist Ausdruck eines wachsenden Bedürfnisses nach fortschrittlichen Antworten auf die Krise, die jenseits der Regierungspolitik oder dem Irrationalismus der CoronaleugnerInnen liegt. Völlig richtig war z. B. die skandierte Parole „Lockdown für die Produktion – Betriebe dicht bei vollem Lohn“. Ebenso war es richtig, dass sich die Demo nicht an der Gewaltfrage, schon gar nicht im Zusammenhang von Pyro, spalten ließ. Natürlich lief bei dieser nicht alles perfekt, auch hätte sie lauter und gleichzeitig ihre Spitze offener wirken können. Das Bündnis hat über vielerlei die Demo Betreffendes reflektiert und versuchte, Selbstkritik zu üben. Positiv ist auch, dass in der Nachbereitung von Verletzungen und Repression Betroffene nicht im Stich gelassen werden.

Wir wollen nun auf zwei Aspekte bezüglich des Bündnisses eingehen. Der erste Kritikpunkt betrifft den Aufruf. Dieser glich einem bunten Sammelsurium von Dingen, die derzeit mies laufen, wie z. B. dass die Autoindustrie Milliardengewinne gemacht hat und für Pflege das Geld fehlt. Das ist an sich natürlich richtig. Problematisch ist unserer Ansicht nach zweierlei, nämlich, dass diesen eine Oben-vs.-Unten-Rhetorik auszeichnete, die auch einen leicht populistischen Beigeschmack hatte, was durch eine fehlende konkrete Perspektive ergänzt wurde. Besser wäre es gewesen, sich auf einige wenige konkretere Forderungen zu einigen, wie z. B. die entschädigungslose Enteignung von Immobilienkonzernen, Verkehrsindustrien und Krankenhäusern oder auch die internationale Freigabe von Impfpatenten usw. Und ja, wir wissen, dass wir mit in dem Bündnis waren und somit auch unter dem Aufruf standen. Letzteres gefällt uns weniger, aber wir erachteten es als sinnvoll, die Debatte im Bündnis weiter zu begleiten und somit darin zu verbleiben – und natürlich auch Kritik zu üben, was die Selbstkritik inkludiert. Überhaupt liegt die Leistung des Bündnisses weniger in seinem Aufruf, sondern vielmehr darin, dass es eine geeinte Aktion organisierte und trotzdem die Diskussion und Debatte suchte (in der hiesigen Linken ist dies keine Selbstverständlichkeit) und austrug – jedenfalls im Vorfeld des Ersten Mai, aber auch auf dem Auswertungstreffen danach.

Von angeblichen Fahnenverboten, …

Eine jener, bisweilen hart geführten Debatten drehte sich um das Verbot von Partei- und Nationalfahnen auf der Demo. Die Überschrift dieses Artikels kündigte ja bereits von Altbekanntem – in diesem Fall Debatten in der deutschen Linken.

Die Position für das erlaubte Tragen von Parteifahnen, ein Element der Propagandafreiheit, konnten wir leider nicht durchsetzen. Problematisch bei jenem Verbot ist, dass es nicht nur als Partei organisierte Kräfte der radikaleren Linken ausschließt, sondern auch Mitglieder großer reformistischer Massenparteien wie Linke oder SPD. Natürlich betreiben Letztere kapitalistische Politik in Landes- oder Bundesregierungen, setzten soziale Angriffe durch. Aber wir werden ihre einfache Mitgliedschaft nicht von diesen Parteien gewinnen, wenn wir ihnen von vornherein verbieten, sich unserer Demo anzuschließen und ihre Fahne zu zeigen. Und klar, eine AfD-Fahne hätte keinen Platz in unseren Reihen, aber damit, dass offen bürgerliche Parteien bei der revolutionären Maidemo auftauchen, ging im Bündnis ja ohnedies keine/r aus.

Anders verhielt es sich in der Debatte zum Nationalfahnenverbot – genauer gesagt jener Kurdistans und Palästinas. Während die kurdische Flagge unstrittig erlaubt war, gab es eine verschärfte Diskussion zur palästinensischen Fahne, auch wenn dies von vorneherein keinen logischen Sinn ergibt. Beides sind vom Imperialismus und lokalen Staaten unterdrückte Nationalitäten. Somit sollte das Zeigen beider Fahnen als solidarisches Zeichen mit ihrem Kampf kein Thema sein. Doch weit gefehlt, denn keine deutsche Linke ohne jene antideutsche Infragestellung internationaler Solidarität mit Palästina. Hauptverantwortlich dafür war die Linke Liste. Es ist die Ironie der Geschichte, dass sich die Unterdrückung durch den israelischen Staat keine zwei Wochen nach dem Frankfurter Ersten Mai wieder allzu deutlich zeigte.

Letztlich setzten die internationalistischen Kräfte des Bündnisses den politisch leicht angefaulten – immerhin – Kompromiss durch, dass Nationalfahnen zwar nicht erwünscht, aber auch nicht verboten seien und der Frontblock nur aus roten Fahnen bestehen solle. Aber: Es gab definitiv kein Verbot von Palästina-Fahnen.

 … sektiererischen Angriffen …

Nun kommt eine Kraft ins Spiel, die nicht im Bündnis war, aber auf der Demo: FreePalestineFFM, seines Zeichens verbunden mit der Kommunistischen Organisation und Aitak Barani. Diese stellten uns in sozialen Medien die Frage, ob wir dahin gewirkt hätten, die Linke Liste aufgrund ihrer antideutschen Gesinnung aus dem Bündnis zu drängen als Auswirkung dessen, dass sie in der einige Jahre zurückliegenden Vergangenheit einen Palästina-Solistand an der Uni angegriffen hat. Damit konfrontiert brachte die Linke Liste im Bündnis vor, dass jene, die dies taten, nicht mehr in der Liste seien und sie selbst, die im Bündnis für die Linke Liste anwesend waren, dies nicht tun würden. Eine eindeutige Distanzierung sieht anders aus. Aber da es bei der Demo im Kern um den Ersten Mai und nicht um eine Palästinasolidarität ging, war dies für uns auch kein Grund, das Bündnis zu verlassen oder auf einen Rausschmiss der Linken Liste hin zu eskalieren.

Auf der Demo selbst war FreePalestineFFM dann auch anwesend, mit Palästinafahnen – finden wir gut. Die Ironie dabei ist, dass sie, anstatt es den internationalistischen Kräften im Bündnis zu danken, dass sie überhaupt so auftreten konnten, da andere und wir dafür sorgten, dass Palästinafahnen eben erlaubt waren, sie weiter Vorwürfe und Angriffe gegen eben jene Kräfte erhoben, schlicht weil wir im Bündnis die Debatte führten, die eine internationalistische Position vorantreibt. Eine Debatte, der FreePalestineFFM wie KO sektiererisch ausweichen, womit sie antideutschen Kräften von vorneherein das Feld in der Linken überlassen und somit dem palästinensischen Befreiungskampf in hiesigen Gefilden mehr schaden denn nutzen, ganz davon abgesehen, dass sie es sich mit internationalistischen Kräften verderben und selbige spalten.

 … und angeblichen Vetorechten

Ein Vorwurf, der weiterhin erhoben wurde, ist, dass Menschen mit Palästinafahnen auf der Demo angegriffen wurden. Als dies auf dem Auswertungstreffen auf den Tisch kam und neben uns andere InternationalistInnen wie Young Struggle einforderten, dies – so es denn geschah – in einem Statement als Verstoß gegen den Demokonsens zu brandmarken, blockierte die Linke Liste mit einem Veto und Verzögerungen wie z. B. der Forderung, zunächst eine letztlich umfassende Klärung des Imperialismusbegriff vorauszusetzen.

Das Veto selbst hat unserer Ansicht nach keine Gültigkeit, da sich das Bündnis unserer Ansicht nach nie für die Gestattung undemokratischer Vetorechte entschieden hatte, das Gegenteil wurde uns nicht belegt. Zudem schickte sich mit der Linken Liste eine Gruppe eher gesellschaftlich Privilegierter an, mit Vetos zu hantieren, was die Sache gewiss nicht richtiger macht. Es bleibt ein blockierendes und sabotierendes Unding, dieses Verhalten der Linken Liste, die sich nach dem Ersten Mai den Beschluss zu Palästinafahnen malt, wie es ihr gefällt, und beraubt das revolutionäre Erste-Mai-Bündnis so jeglicher Glaubwürdigkeit und Verbindlichkeit. Wir haben daher das Bündnis aufgefordert, die Linke Liste von weiterer Zusammenarbeit auszuschließen.

Fazit

Der erste Revolutionäre Erste Mai in Frankfurt am Main war ein Mobilisierungs- und als Alternative zum DGB-Stillhalten auch ein großer politischer Erfolg. Doch am Rande dessen begegnete uns allerlei Altbekanntes der deutschen Linken – von antideutschen Manövern hin zu sektiererischen Angriffen. Was wir mitnehmen ist, dass uns der Boden für eine weitere Diskussion mit den Kräften, die nicht unter diese Muster fallen, fruchtbar erscheint. Wir würden uns freuen, die begonnene Debatte mit Euch fortzuführen!




Zum wohnungspolitischen Programm der Interventionistischen Linken (IL): Das Rote Berlin als blinder Fleck

Michael Eff, Wem gehört die Stadt? ArbeiterInnenmacht-Broschüre, Mai 2021

Angesichts der sich zuspitzenden Wohnungsmisere in Berlin hat die IL ein wohnungspolitisches Programm vorgelegt. Der Titel der Broschüre lautet: „Das Rote Berlin (Strategien für eine sozialistische Stadt)“. Ein solches Programm vorgelegt zu haben, das erkennen wir an, ist an sich bereits verdienstvoll. Die Broschüre ist durchaus gut aufgebaut. Es werden, in sprachlich ansprechender Form, weite Themenfelder der Wohnungsfrage abgedeckt, und dabei werden zutreffende Beschreibungen der Berliner Wohnungssituation vorgenommen. Es gibt informative Zusatzinformationen, z. B. über die Geschichte des Berliner Baufilzes, und die wohnungspolitischen Forderungen können wir zu einem großen Teil durchaus unterschreiben.

Auch orientiert man sich an basisdemokratischen Entscheidungsstrukturen (hier der MieterInnen), allerdings, und hier kommt unser erster Einwand, durchgehend nur in einem vorgegebenen gesetzlich-institutionellen Rahmen. Rätestrukturen sehen anders aus und kommen auch anders zustande. Und auch bei der, zunächst durchaus positiv zu sehenden, Ausrichtung auf außerparlamentarische Kämpfe der Betroffenen kommt die Parlamentsfixierung, wie wir später sehen werden, durch die Hintertür wieder herein.

Trotzdem bleibt positiv festzuhalten, dass die IL sich nicht damit begnügt, begründete Forderungen zur Lösung der Wohnungsmisere zu formulieren, sondern das Ganze eingebettet ist in eine strategische Orientierung, nämlich in „Strategien für eine sozialistische Stadt“. Aber spätestens hier, bei der strategischen Orientierung, beginnen auch die Probleme.

Staatstreue

Während die IL in einem Selbstverständnispapier betont, dass ihre Politik „grundsätzlich antagonistisch zum Staat“ stehe, ist die Strategie in der Wohnungsbroschüre der IL durchweg anders ausgerichtet. Der Weg zum Sozialismus führt hier über die Reformierung und Demokratisierung der vorhandenen staatlichen Einrichtungen. (S. 8) Und das alles natürlich durch Gesetze. So fordert man z. B. den Umbau der BImA (Bundesanstalt für Immobilienaufgaben) zu einer „Vergesellschaftungsagentur“. Oder auch, dass börsennotierte Unternehmen in öffentliches Eigentum „überführt“ werden sollen, und ihre Neubildung soll „durch gesetzliche Regelungen unterbunden werden.“ (S. 20)

Das Ganze atmet den Geist gesetzlich-bürokratischer (die IL würde sagen „demokratischer“) Neuregelungen innerhalb des bestehenden Staates.

Selbst wenn die IL von „Mieter*innen-Räte“ spricht, meint sie damit nicht Organe demokratischer Selbstermächtigung in notwendiger Konfrontation mit dem bürgerlichen Staat und kapitalistischem Eigentum, sondern Formen von Selbstverwaltung innerhalb vorgegebener Institutionen.

So ist es denn auch kein Wunder, dass die IL zufrieden feststellt: „Die meisten dieser Ziele (des rot-rot-grünen Berliner Koalitionsvertrages, d. V.) stimmen ohnehin eins zu eins mit langjährigen Forderungen der stadtpolitischen Bewegung überein.“ (S. 39) Allerdings fehlt ihr im Koalitionsvertrag „die Vision für ein anderes Berlin“ (??) (S. 10). Alles klar?

Die IL fasst ihre Kampfausrichtung für den Sozialismus folgendermaßen zusammen: „…der Charakter des Ganzen (Kampfes, d. V.) muss außerparlamentarisch sein. Dennoch muss mit Parteien diskutiert werden. Parteien sind Teil des Staates, und wenn wir Teilziele umsetzen wollen, müssen sich Parteien und Abgeordnete dafür einsetzen.“ (S. 39)

Hier also, gewissermaßen durch die Hintertür, kommt die Parlamentsfixierung wieder herein, denn der Gesetzgeber ist bei uns das Parlament. Nicht dass es per se illegitim wäre, das Parlament von außen unter Druck zu setzen, um Forderungen durchzusetzen, aber als strategische Orientierung so den Sozialismus erkämpfen zu wollen („Strategien für eine sozialistische Stadt“!!), ist doch reichlich illusorisch.

Auch kommt es einem in diesem Zusammenhang schon merkwürdig vor, dass in einer Broschüre von 43 Seiten die Wohnungsprivatisierungspolitik des rot-roten Senats 2002 bis 2011 in ganzen dreieinhalb Zeilen abgehandelt wird.

Die IL entpuppt sich somit immer mehr, zumindest in wohnungspolitischer Hinsicht, als außerparlamentarischer Arm der Linkspartei.

„Das Rote Wien“ als Leit(d)bild

Vieles an der Wohnungspolitik der österreichischen Sozialdemokratie in den zwanziger Jahren in Wien war, gemessen am übrigen kapitalistischen Europa, sicherlich beeindruckend, aber Wien war keineswegs eine „sozialistische Stadt“, sondern der reformistische Versuch, eingegrenzt auf das Feld der öffentlichen Versorgung (insbes. Wohnen), den Kapitalismus lediglich einzudämmen. Wien war eben keine „sozialistische Insel“ in einem kapitalistischen Land, sondern (bei aller Sympathie für die Wohnungspolitik) eine kapitalistische Hauptstadt eines kapitalistischen Landes!

Und eines zeigt sich an diesem Beispiel ganz klar: Ein wie auch immer geartetes „antikapitalistisches Wohnungsprogramm“ kann nur funktionieren, wenn es eingebettet ist in ein Gesamtprogramm der sozialistischen Revolution bzw. eine Strategie der Machtergreifung und Zerschlagung der bürgerlichen Staatsmacht. Solange die Staatsmacht nicht zerschlagen ist, ist keine einzige Errungenschaft gesichert.

Bei der IL dagegen heißt es: Vergesellschaftung „ gelingt nur durch eine Ausweitung von Ansätzen kollektiver Selbstverwaltung und durch die radikale Demokratisierung der bestehenden (!!!, d. V.) staatlichen Institutionen.“ (S. 8).

Es war aber genau diese reformistische Sichtweise der Sozialdemokratie auf die Gesellschaft, die die Zerschlagung des „Roten Wiens“ ermöglicht hat und die Machtergreifung des „Austrofaschismus“ 1934 nach sich zog.

Diese Schlussfolgerung zieht die IL aber nicht, ihre Kritik bleibt halbherzig und verkürzt.

Bei der IL sieht die Bilanz dieser „reformistisch-antikapitalistischen Kommunalpolitik“ Wiens wie folgt aus: „Das ,Rote Wien‘ war damals und ist heute ein beeindruckendes Symbol, dass auch unter politisch und wirtschaftlich schwierigen Bedingungen die Lösung der Wohnungsfrage möglich ist. Die SDAPÖ kam allerdings über ein konsequentes Umverteilungs- und Wohlfahrtsprogramm nicht hinaus. Die Auswirkungen des zugrunde liegenden Interessensgegensatz der Klassen (!, welche?, d. V.) und der kapitalistischen Produktionsweise insgesamt wurden abgemildert und durch nicht-kapitalistische soziale Infrastruktur ergänzt. Die abwartende Haltung der Sozialdemokratie wurde ihr dabei zum Verhängnis. Dennoch ist bis heute ihr Vermächtnis eine Inspirationsquelle mit internationaler Ausstrahlung.“ (S. 12)

Dass die „abwartende Haltung“ (inwiefern?, womit?) integraler Bestandteil jeder „reformistisch-antikapitalistischen“ Strategie ist, kommt der IL nicht in den Sinn.

Nebenbei, auch die Wohnungspolitik der Sozialdemokratie im Berlin der zwanziger Jahre wird als „Vorgriff auf eine sozialistische Gesellschaft“ (S. 28) gesehen. Aber leider, leider, beklagt die IL: „Vieles ging nicht weit genug, die Aufbrüche wurden 1933/34 (in Berlin und Wien, d. V.) abgebrochen (!!, d. V.).“ (S. 10)

Das Ende der „reformistisch-antikapitalistischen Kommunalpolitik“ in den Katastrophen von 1933 und 1934 theoretisch derartig zu verharmlosen und zu verkürzen, ist kaum zu fassen, ist aber angesichts der eigenen strategischen Ausrichtung nur folgerichtig.

Auf reformistischem Schleichweg zum Sozialismus

Es handelt sich beim IL-Wohnungsprogramm um eine Reformstrategie mit der „Perspektive der Vergesellschaftung. Wohnraum darf keine Ware am Markt sein, sondern Gemeingut in demokratischer Verwaltung.“ (S. 6) Die IL macht aus ihrer gradualistisch-kleinschrittigen (Reform-) Strategie auch gar kein Hehl. Zur Verdeutlichung seien ein paar Aussagen zitiert,

da heißt es z. B.:

„Abschaffung des privaten Wohnungsmarktes… durch eine Reihe von Reformen…Schritt für Schritt“ (S. 7);

„ Ausweitung von Ansätzen kollektiver Selbstverwaltung“ (S. 8);

„…weiter treibende Reformen, die schrittweise den Handlungsspielraum des Immobilienkapitals einschränken, die Spielräume für öffentliches und kollektives Eigentum erweitern“ (S. 12);

 „Daher muss erst mal kräftig Sand ins Getriebe der privaten Immobilienspekulation, bevor (!,d. V.) wir über Rekommunalisierung reden können.“ (S. 19);

„…schrittweise Zurückdrängung von privatem Wohnungseigentum“ (S. 33).

Es wird natürlich auch positiv Bezug auf das Grundgesetz genommen, das ja Enteignung zulässt, die vorgeschriebene Entschädigung wird dabei prinzipiell akzeptiert (S. 34).

Dazwischen, völlig unvermittelt und nicht weiter erklärt, heißt es an einer Stelle: „Die sozialistische Stadt wird nicht konfliktfrei und als reine Reform durchgeführt werden können.“ (S. 34) Aber dann geht’s gleich munter weiter mit den Reformen:

„Demokratisierung“ als „langer Prozess“ und „Nach und nach muss der Aufbau von lokal verankerten Strukturen, die Punkte des Widerstands schaffen…“ (S. 36) Usw. usf., die Liste ist beileibe nicht vollständig.

Zusammengefasst kann man sagen: Die IL hat die Vorstellung/Strategie von einer allmählichen Ausweitung nichtkapitalistischer Freiräume, die sich zunehmend vernetzen, die bestehenden staatlichen Strukturen demokratisieren, alles natürlich „kämpferisch“ und „von unten“, was dann irgendwie (hier gibt es nicht zufällig eine absolute Leerstelle) die „sozialistische Stadt“ (was immer das auch sei) ergeben soll.

Aber: So verläuft Klassenkampf nicht, und so ist er auch noch nie verlaufen. Teilerfolge sind zwar durchaus möglich, sind aber keine sicheren „Stützpunkte“, von denen ausgehend dann „Schritt für Schritt“ eine weitere Ausdehnung erfolgen könnte.

Solange die kapitalistische Staatsmacht besteht, sind Teilerfolge immer gefährdet. Das Hin und Her im Klassenkampf verläuft nie geradlinig – und schon gar nicht immer in eine Richtung. Hier gibt es tiefe Brüche, Erfolge und Rückschläge. Dass man der herrschenden Klasse die Macht stückweise bzw. allmählich entreißen könnte, ist naiv und eine klassische Vorstellung jeder reformistischen Strategie.

Klassenkampf?

Wer kämpft eigentlich? Die Betroffenen natürlich, – die MieterInnen! Richtig, aber niemand ist nur MieterIn, schon gar nicht in der kapitalistischen Gesellschaft. Bei der IL ist etwas dubios die Rede von „Schmieden von breiten Bündnissen“, „breiter Bewegung mit verschiedenen Formen des Widerstands“, „Hineinwirken in die Gesellschaft“, von „Kultur des zivilen Ungehorsams“ etc.

Klassenkampf und ArbeiterInnenklasse gibt es nicht. Gewerkschaften auch nicht. Nun verlangen wir von der IL nicht, dass sie unseren Klassenbegriff teilt, aber etwas genauere Ausführungen darüber, wer aufgrund welcher Stellung in der kapitalistischen Gesellschaft BündnispartnerIn sein kann und wer nicht, und – wenn ja – wie und wohin „Kampfzonen“ über den Wohnungsbereich hinaus ausgeweitet werden können oder auch nicht, das kann man von einer Broschüre, die eine strategische Orientierung bieten will, erwarten.

Hier passt auch ins Bild, dass offensichtlich niemand verschreckt werden soll. Während es an anderer Stelle in einem Selbstverständnispapier bei der IL erfreulich klar heißt, dass die IL „das staatliche Gewaltmonopol bestreitet“, wird in der Broschüre kirchentagskompatibel versichert: „Jede Gewalt gegen Personen verbietet sich daher,…“ (S. 43) Wie man dieses Prinzip, z. B. bei dem Versuch, eine Zwangsräumung zu verhindern, durchhalten will, ist uns schleierhaft.

Auch ist es vermutlich in diesem Zusammenhang kein Zufall, was in der Broschüre fehlt. Z. B. die Forderung nach Beschlagnahme von untergenutztem Wohnraum. Als die Flüchtlingszahlen hoch gingen und die Flüchtlinge in unwürdige Massenquartiere gepfercht wurden, hätte es sich doch angeboten, durch Berlins Villenviertel zu ziehen mit der Forderung „Hier ist Wohnraum genug – Beschlagnahme!“ Man hätte auf diese Weise dem rassistischen Diskurs „Innen gegen Außen“ den revolutionären Diskurs „Oben gegen Unten“ entgegengesetzt. Aber damit lässt sich gegenwärtig natürlich kein „breites Bündnis“ aufbauen.

Nun ist die Wohnungsfrage besonders dafür geeignet, die Klassenfrage auszuklammern, denn ArbeiterInnenklasse und Kleinbürgertum sind beide von der Wohnungsmisere betroffen. Es ist daher kein Zufall und typisch für kleinbürgerliche Bewegungen, in einem Bereich außerhalb der unmittelbaren kapitalistischen Produktionssphäre (Schaffung von Mehrwert) die „soziale Frage“ („Strategien für eine sozialistische Stadt“!!); lösen zu wollen. Darauf hat schon Engels in seiner Schrift „Zur Wohnungsfrage“ hingewiesen.

Die IL bleibt aber auch hier nebulös. Unter „nicht-kapitalistischer Organisation von Wohnen“ kann man sich ja vielleicht noch einiges vorstellen, aber was „nicht-kapitalistische“ Organisation „von Stadt“ sein soll, (S. 8) müsste man schon erklären. Die Arbeitswelt gehört aber offensichtlich nicht dazu.

Überhaupt wird die Wohnungswirtschaft gewissermaßen rein sektoral betrachtet, als ein von der übrigen Gesellschaft streng abgrenzbarer Bereich und auch als eigenständiges Kampffeld. Das hat in gewissen Grenzen auch seine Berechtigung, aber es muss zumindest angedeutet werden, wo diese Grenzen überschritten werden (müssen).

Und es fehlen hier kurze Erklärungen zur polit-ökonomischen Herleitung und Verortung des Wohnungskapitals, z. B. die Punkte: Was ist Miete überhaupt?, Grundrente, Verschmelzung der Wohnungswirtschaft mit Finanz- und Industriekapital, Verhältnis zur Mehrwertproduktion, Aufteilung des Profits, Bedeutung der Miete für die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft, und damit gesamtkapitalistische Interessen an der Wohnungsfrage und dabei die Rolle des Staates etc.

Fazit: Das alles muss man nicht immer, wenn man sich zur Wohnungsfrage äußert, oberlehrerhaft ausbreiten und man kann sich hier auch kurz halten. Aber in einer Broschüre, die den Anspruch stellt, eine strategische Orientierung zu geben, gehören Ausführungen darüber schon dazu.

Ja! Ein revolutionäres Programm!

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Auch RevolutionärInnen haben nichts gegen reformistische Forderungen, aber sie müssen eingebettet sein in ein wohnungspolitisches Programm, das folgende drei Prinzipien berücksichtigt:

1. Ökonomisch-gesellschaftlich muss der Wohnungssektor in den Forderungen ansatzweise überschritten werden (z. B. entschädigungslose Enteignung von Banken, Finanzierungsgesellschaften, der Bauindustrie usw.). Es gibt nämlich kein isoliertes Wohnungskapital, das Kapital insgesamt ist der Feind.

2. Klassenorientierung (z. B. durch Einbeziehung der Gewerkschaften, denn schließlich beeinflussen die Mieten die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft und damit Lohnkämpfe).

3. Organisierung der MieterInnen in räteähnlichen Strukturen und nicht in bürokratisch-gesetzlich vorgegebenen Gremien (was einzelne Verbesserungen in gesetzlichen gegebenen Gremien nicht prinzipiell ausschließt, aber das sollte man nicht als Schritt zum Sozialismus verkaufen). Der bürgerliche Staat ist nicht die freundliche Spielwiese, sondern der Feind.

Fazit

Wenn die IL vertritt, dass der herrschenden Klasse die Macht stückweise, „Schritt für Schritt“ zu nehmen sei, so trägt sie dazu bei, reformistische Illusionen zu wecken und zu verbreiten.

Aber immerhin, dass die IL in ihrer Einleitung zu ihrem Selbstverständnis schreibt: „Wir sagen, was wir tun – und wir tun, was wir sagen.“ (S. 6) ist berechtigt. Ihr Reformismus in der Wohnungsfrage wird offen und ehrlich dargelegt.




Die DWE-Broschüre „Vergesellschaftung und Gemeinwirtschaft“ – Würdigung und Kritik

Tomasz Jaroslaw, Wem gehört die Stadt? ArbeiterInnenmacht-Broschüre, Mai 2021

Im Dezember 2019 hat die Initiative „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen“ (DWE) eine Broschüre mit dem Titel „Vergesellschaftung und Gemeinwirtschaft – Lösungen für die Berliner Wohnungskrise“ veröffentlicht. In dieser Publikation werden in den ersten beiden Kapiteln die Begriffe Vergesellschaftung und Gemeinwirtschaft beschrieben, in Kapitel 3 und 4 die Vorteile der Vergesellschaftung von Wohnraum und wird im letzten Kapitel abschließend die angedachte Verwaltungs- und Mitbestimmungsstruktur dargestellt.

1. Aktionseinheit und Freiheit der Kritik

Vorab muss festgestellt werden, dass das Motiv, Grundbegriffe einem breiteren Publikum vorzustellen, verständlich ist. Gleichzeitig ist es schwierig für eine Kampagne, deren gemeinsames Ziel einzig und allein in der erfolgreichen Durchführung eines Volksentscheids zur Vergesellschaftung großer Wohnkonzerne liegt, politische Aussagen zu treffen, die die gesamte Breite der UnterstützerInnen teilt. Daher ist es für politisch breite Aktionseinheiten, wie die Kampagne sie darstellt, empfehlenswert, sich nur auf konkrete praktische Ziele zu verständigen, aber möglichst wenig politisch-programmatische Aussagen zu tätigen, die alle TeilnehmerInnen zu unterstützen verpflichtet sind. Programmatischer und ideologischer Kampf sollte vor allem politischen Gruppen vorbehalten sein.

Bei den internen politischen Diskussionen im Vorfeld zur Broschüre wurden der freien Diskussion und demokratischen Entscheidungen im Plenum Steine in den Weg gelegt. Anfänglich wurde beschlossen, den Broschürenentwurf offen zu diskutieren. Später versuchten Teile der Kampagne (vor allem die Interventionistische Linke; IL), den Entwurfstext der Arbeitsgruppe ohne weitere politische Diskussionen im Plenum zu bestätigen. Dabei wurde jede alternative Meinung scharf angegriffen – darunter Anträge von Mitgliedern der Gruppe ArbeiterInnenmacht, aber auch Kommentare der Akelius-MieterInnenvernetzung. Wer eine breite städtische Partizipation und demokratische Beteiligung bei der Verwaltung vergesellschafteter Wohnungen verspricht, sollte dies zuerst in der Kampagne selbst realisieren, um glaubwürdig zu sein.

Wir unterlagen bei der abschließenden Plenarbesprechung im Januar 2020 mit unseren Änderungsanträgen in den zentralen Punkten. Trotzdem unterstützen wir die Sammelaktion und das Enteignungsziel mit all unseren Kräften, denn wie bei jeder Einheitsfront muss das Motto lauten: Einheit der Aktion, Freiheit der Kritik – Letztere auch an den PartnerInnen der Initiative.

Bei aller Solidarität mit Aktionen und Ziel der DWE halten wir es für notwendig, mit unserer Kritik auf die strategische Schwachstellen der Broschüre aufmerksam zu machen.

2. „Stadtgesellschaft“ oder Klasse?

Die Broschüre trägt insgesamt die politische Handschrift der IL, mit deren wohnungspolitischem Programm, das mehrere Aspekte als das Heftchen der DWE umfasst, wir uns an anderer Stelle unserer Broschüre auseinandersetzen. Durch die gesamte Broschüre wird ohne jede Erläuterung der ominöse Begriff Stadtgesellschaft verwendet.

Mit Stadtgesellschaft soll möglicherweise die Gesamtheit der Berliner Bevölkerung gemeint sein. Hier einen Interessenkonflikt zwischen Wohnenden, Regierenden und den VertreterInnen des Kapitals zu suggerieren, ist erst einmal in der Tendenz begrüßenswert und sachlich gerechtfertigt. In der Tat ist der Hauptgrund für Mietpreissteigerung das internationale, mit dem Finanz- und Bankensektor verbundene Kapital, das durch langfristige Renditeerwartungen Mieten hochtreibt. Der bürgerliche Staat in Form des rot-roten Senats hatte durch die Privatisierung der 2000er Jahre diesen Prozess ermöglicht oder zumindest beschleunigt. Offen bürgerliche Regierungskoalitionen haben noch größeren Schaden in der Mietenpolitik angerichtet. Die Einbeziehung von SenatsvertreterInnen in den Verwaltungsrat ist daher kontraproduktiv. Ebenfalls problematisch und irreführend ist der fehlende Hinweis, dass die sog. Stadtgesellschaft analog zum Volksbegriff aus verschiedenen Klassen mit teilweise abweichenden und auch gegensätzlichen ökonomischen und politischen Interessen besteht. Als ob die besitzende Klasse ihre Interessen und ihre Feindschaft zur Vergesellschaftung einfach mal vergisst, nur weil sie wie alle zur Zivilgesellschaft gehört und DWE das Klasseninteresse der ArbeiterInnen nicht anspricht und die Besitzenden begriffstechnisch wie strukturell einbindet. Diese klassenübergreifende Einheit ist natürlich strategisch auf Sand gebaut.

Eine Einheit im politischen Kampf muss sich in erster Linie aus den Gruppen und Schichten zusammensetzen, die ein gemeinsames objektives Interesse haben. Die Zahl der ArbeiterInnen und lohnabhängigen Mittelschichten reicht zum Sieg des Volksbegehrens. Der Klassenbegriff würde hier für Klarheit sorgen. Das Verhältnis MieterIn–VermieterIn ist zwar kein auf der Ausbeutung von Lohnarbeit in der Produktion beruhendes, sondern die Immobilienkonzerne eigenen sich Monopolrenten an. Doch die überwältigende Mehrheit der Mieterinnen sind ProletarierInnen, die weder Eigentum an Produktionsmitteln, Wohnungen noch Grund und Boden besitzen, was sie deutlich von den Klassen mit großem und kleinem Besitz unterscheidet.

Da MieterInnen meist Lohnabhängige sind und deren Lebenserhaltungskosten tarifliche Erfolge und leichte Lohnsteigerungen auffressen, ist der Kampf für Vergesellschaftung, Gemeinwirtschaft und Demokratisierung über das Wohnungswesen hinauszutreiben, also in alle Bereiche der Wirtschaft. Für dieses Gesamtinteresse der Lohnabhängigen wäre die Integration von VertreterInnen der Gewerkschaften notwendig anstelle der Stadtgesellschaft oder des Senats. Dieser Vorschlag wurde jedoch leider abgelehnt.

Dies ist umso bedauerlicher, weil sich die ArbeiterInnenbewegung mächtige Organisationen geschaffen hat wie die Gewerkschaften, die mittels einheitlicher Aktionen – wirtschaftliche wie politische Streiks, Besetzungen, Mietpreiskontroll- und Mietsteigerungsboykottkomitees – wesentlich mehr Druck aufs Großkapital ausüben können als eine auf Volksabstimmungen fixierte BürgerInneninititative.

So sehr BürgerInnenbewegungen außerparlamentarischen Druck auf Kapital und Staat erzeugen können, so wenig sind sie alleine als Transformationsvehikel zur Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise geeignet. Ohne Einbindung in eine bewusste, revolutionäre Klassenpolitik enden selbst Initiativen oder Bewegungen mit Massenanhang als außerparlamentarische Anhängsel des parlamentarischen Reformismus oder werden – wie im Falle der Grünen – selbst zu einer bürgerlichen Partei.

3. Historische Bezüge: Grundgesetz oder ArbeiterInnenbewegung?

a) Zum Begriff der Vergesellschaftung

In Kapitel 1 wird konstatiert, dass Vergesellschaftung die Wohnungskrise lösen kann. Es sei an dieser Stelle nur kurz erwähnt, dass dieser Begriff historisch unterschiedlich definiert wird. Im marxistischen Kontext beschreibt er eine Situation, wo die Konsumentinnen und Produzentinnen in einer befreiten, sozialistischen Gesellschaft über das erwirtschaftete Gesamtprodukt einschließlich eines Überschussfonds, der nicht in den unmittelbaren Verbrauch eingeht, als Kollektiv verfügen können. Nach Artikel 15 Grundgesetz liegt eine Vergesellschaftung vor, wenn Grund, Boden, Naturschätze oder Produktionsmittel durch Gesetz ihren Eigentumstitel zugunsten der Überführung in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft ändern. Die folgende Verwendung dieses Begriffs erfolgt in einem breiteren Sinn, den auch die bürgerliche Gesellschaft anerkennt.

Die Verwaltung des vergesellschafteten Wohnraums durch ein System von sog. „MieterInnenräten“ und einer demokratisch kontrollierten Anstalt des öffentlichen Rechts (AöR) stellt zweifelsohne einen Fortschritt nicht nur gegenüber der gemeinwohlorientierten Regulierung privaten Eigentums, sondern auch der Überführung in eine städtische Wohnungsgesellschaft nach dem Vorbild der existierenden dar. Auch ist das Festhalten an einem einheitlichen (kollektiven, staatlichen) Gemeineigentum sinnvoller als mögliche Szenarien des Aufteilens der Wohnbestände auf Individualbesitz oder kleinere Besitzgemeinschaften zur Realisierung einer kleindimensionierten Selbstverwaltung. Auch eine Wohnungsgenossenschaft wäre möglich, die gemeinwirtschaftlich arbeitet und eine interne demokratische Verfassung präsentiert.

Die AöR soll via Gesetz eingerichtet werden. Es ist positiv, dass DWE hier Druck auf die Senatsparteien ausüben will. Eine Schwäche ist jedoch, dass wenn die AöR durch ein Gesetz des Abgeordnetenhauses eingerichtet wird, dieses auch von ihm je nach Mehrheitsverhältnissen und Senatszusammensetzung wieder, zu Ungunsten der MieterInnen, reorganisiert werden könnte.

Nach dem aktuellen DWE-Modell sollen die Entschädigungen per Schuldscheine über einen Zeitraum eines halben Jahrhunderts abbezahlt werden. Damit entfällt die Abhängigkeit von Bankkrediten, jedoch nicht von der Kursentwicklung langfristiger Anleihen, und wird deren Verzinsung auch auf die Mieten umgelegt, was einen Negativpunkt darstellt. Wer wird diese kaufen können mit entsprechenden Erwartungen an langfristige Verzinsung? Große VermögensbesitzerInnen wie Banken, Investmentfonds, Versicherungen? Was passiert zudem mit den Überschüssen nach der Entschädigung? Fließen die in den Haushalt, wird der Überschuss in Sozialneubau investiert oder werden die Mieten gesenkt? In jedem Fall muss die Entscheidung durch die MieterInnen getroffen werden und nicht vom Senat oder dem Gesetzgeber. Hier sollten die sog. MieterInnenräte eine entscheidende Rolle spielen.

b) Zum Begriff der „Räte“

Positiv ist die Idee einer gewissen Autonomie einzelner Häuser (Hausplenum) und von MieterInnengremien als Kontrollorganen auf verschiedenen lokalen Ebenen (Siedlung-, Gebiets- und Berliner GesamtmieterInnenrat). Dadurch wird es möglich werden, die Basis einzubeziehen, bessere Ansprechbarkeit der Verwaltungs- und Servicestruktur zu garantieren und gewisse Aufgaben lokal zu entscheiden (Subsidiaritätsprinzip). Nur Aufgaben, die die Gesamtheit betreffen, sollen zentral in der AöR entschieden werden, die durch einen Verwaltungsrat und eine Geschäftsführung geleitet wird. Der GesamtmieterInnenrat setzt hier die VertreterInnen der MieterInnen ein. Zusammen mit den VertreterInnen der Beschäftigten bilden diese eine Mehrheit im Verwaltungsrat. Das ist positiv. Mit den VertreterInnen auch der Stadtgesellschaft, davon zweien des Senats, hat der Verwaltungsrat aber auch einen bürgerlichen Charakter – zusätzlich zu den vollständig bürgerlichen Besitzverhältnissen auf dem gesamten Wohnungssektor und erinnert leicht an einen Staatskapitalismus im Unterschied zu einer wirklichen Vergesellschaftung. Die Anstalt des öffentlichen (!) Rechts ist Staatseigentum.

Zwar werden die Kontrollstrukturen „Räte“ genannt (Siedlungs-, Gebiets-, GesamtmieterInnenrat), jedoch werden diese ohne jederzeitige Abwählbarkeit und Rechenschaftspflicht der gewählten VertreterInnen statt zu Institutionen der direkten oder ArbeiterInnendemokratie auf bürgerlich-repräsentative Organe reduziert. Also statt richtiger Räten werden Miniparlamente vorgeschlagen. Der Begriff des Rates wird nicht aus den Doppelmachtorganen der ArbeiterInnenbewegung der Jahre 1918 bis 1921 abgeleitet oder aus dem ursprünglichen Begriff der Betriebsräte als Organ der Betriebsbelegschaftskontrolle über die Industrie, sondern aus dem Betriebs- bzw. Personalrat als Vertretungs- und Mitbestimmungsorgan des sozialpartnerschaftlichen Betriebsverfassungs- bzw. Personalvertretungsgesetzes der BRD. Die Betriebs- und Personalräte sind hier alles andere als vollständige Interessenorgane der Beschäftigten.

Personal- und Betriebsräte bilden eine der wichtigsten Stützen des Reformismus in der ArbeiterInnenklasse und damit von SPD und Linkspartei. Die politische Handschrift des Verständnisses von Vergesellschaftung und Räten im DWE-Pamphlet liegt mit dem Ankerpunkt Art. 15 Grundgesetz und dem Betriebsverfassungsgesetz eindeutig im Sozialdemokratismus und sperrt sich damit gegenüber einer realen Vergesellschaftung im Sinne einer Kollektivierung und der wirkungsvollen Kontrolle wie in einer Rätedemokratie. Dies sieht man nicht nur am parlamentarischen Verständnis von den Organisationsstrukturen der AöR, sondern v. a., indem der Unterschied zwischen Integration ins System und ArbeiterInnenkontrolle verwischt wird.

Natürlich muss jeder Kampf für direkte Demokratie auf Basis einer gesamtgesellschaftlichen Gemeinwirtschaft (Sozialismus) mit konkreten Auseinandersetzungen beginnen. Und die Kampagne macht hier einen guten Anfang, weil sie auch grundlegende Fragen des Eigentums und der Kontrolle in der öffentlichen Auseinandersetzung aufwirft.

Jedoch muss das strategische Ziel – eine grundlegende, ihrem Wesen nach sozialistische Transformation – in den Rahmen einer Übergangsmethode eingebunden werden, wo tagespolitische Aufgaben verbunden werden mit dem Aufbau von Gegenmachtstrukturen, die von der bürgerlichen Klasse und ihren Institutionen unabhängig agieren und letztlich auf den Bruch mit der Staatsmacht und dem Kapitalismus orientieren. Diese Methode liegt in der Broschüre jedoch nicht vor, sondern der reformistische Ansatz, soziale, klassenübergreifende Zonen zu schaffen, als Teil des bürgerlichen Staates, und den Kapitalismus von innen her zu reformieren. Diese Strategie mag sich zwar aufdrängen, hat historisch jedoch immer versagt.

c) Historie und Perspektive der Gemeinwirtschaft

In Kapitel 2 wird der Begriff der Gemeinwirtschaft historisch skizziert. Es war die Perspektive einer neuen politischen Ordnung und in den Jahren 1918–1919, Mietstreiks, Aufstände, bewaffnete Milizen und die ArbeiterInnen- und SoldatInnenräte, die die Regierenden zu Zugeständnissen bewegt haben. Ein erwähnenswerter Bezugspunkt für DWE wäre der Berliner Mietstreik 1919, wo Arbeitslosenräte Versammlungen mit 200.000 Teilnehmenden durchführten und Forderungen nach Enteignung der HausbesitzerInnen und Mietpreiskontrolle aufgestellt haben. Hier zeigt sich zentral der Klassenkampf als Ursache für Reformen jeder Art (Gesetze, Verfassungen) und nicht die umgekehrte, falsche Sichtweise, das Grundgesetz als Motor für Vergesellschaftung und Gemeinwirtschaft zu betrachten.

Es reicht für die AutorInnen dagegen die reine Existenz eines nie zuvor verwendeten Grundgesetzartikels aus, um eine „lange Tradition“ zwischen Gemeinwirtschaft und Grundgesetz zu konstruieren. In Artikel 14 steht, dass Eigentum verpflichtet und der Allgemeinheit diesen soll. Diese beiden Aussagen haben die besitzende Klasse nie davon abgehalten, ihren Reichtum auf Kosten der Massen zu vermehren, öffentliche Güter und Profite mehr und mehr zu privatisieren und dabei Kosten zu sozialisieren. Der Art. 15, der „Sozialstaats“gedanke in Form der sozialen Marktwirtschaft, ist auf Basis einer breiten antikapitalistischen Stimmung und in Konkurrenz zu einer Forderung nach Elementen einer sozialistischen Wirtschaftsordnung, wie der Verstaatlichung der Grundstoffindustrie, entstanden. Es ist natürlich opportun, sich in der Kampagne rechtlich auf den Artikel 15 GG zu berufen. Man muss jedoch auch gleichzeitig feststellen, dass die historische Alternative von vornherein zu vergesellschafteten, gemeinwirtschaftlichen Wohnbeständen geführt hätte und es damit keinen Boden für die Mietpreisspirale gäbe. Diese Aussagen sind also, diplomatisch ausgedrückt, sehr optimistisch und einseitig und greifen Rechtspraxis und Natur des bürgerlichen Staates inklusive Grundgesetz in keinster Weise an. Ferner fehlt jeder Verweis auf Erfolge, die mittels dieser Paragraphen erreicht wurden. Warum wohl? Die Verstaatlichung des Grund und Bodens sowie der Grundstoffindustrie wurde außer auf dem Gebiet der späteren DDR trotz überwältigender Zustimmung im hessischen Volksentscheid nicht durchgesetzt. Um Flächen für Autostraßen, AKWs und Braunkohletagebaue zu enteignen, hat sich das GG dagegen bestens bewährt. Sprach sich ein Volksentscheid dagegen mit überwältigender Mehrheit gegen die Schließung eines Krankenhauses aus wie in Hamburg, schloss der dortige Senat es trotzdem. Wir erinnern an dieser Stelle auch an die zahlreichen Anläufe für Volksabstimmungen für mehr Klinikpersonal, die von etlichen Landesverfassungsgerichten (Bayern, Hamburg) für unzulässig erklärt wurden.

Im zweiten Kapitel werden die historischen Ursprünge der Gemeinwirtschaft in Form von Genossenschaften und Kooperativen auf sozialistische wie liberale WirtschaftsreformerInnen zurückgeführt. Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts existierten vielfältige Zusammenschlüsse wie Darlehenskassenvereine, Handwerks-, ArbeiterInnen- und Gewerksvereine, Produktions- und Konsumgenossenschaften, von denen heute nur die Raiffeisen- bzw. Volksbanken auf der einen Seite und Gewerkschaften und Wohnungsgenossenschaften auf der anderen Seite überlebt haben.

Zunächst muss man zwischen den kleinbürgerlichen und proletarischen Organisationen unterscheiden. Ständische Gewerks- oder Wohnvereine, die sich um Meister, leitende Angestellte, BeamtInnen und Intellektuelle gruppierten, hatten zwar den Anspruch, ihren Mitgliedern das Leben zu vereinfachen, jedoch bestand nie der, Gesellen und ArbeiterInnen aus dem ausbeuterischen Lohnverhältnis und der Preisdiktatur zu befreien.

Anders stellt sich das mit den proletarischen Organisationen in der Tradition der jungen, teilweise noch revolutionären Sozialdemokratie dar, die den Anspruch auf Umwandlung in eine sozialistische Wirtschaft und proletarische Demokratie aufgriffen. Aber auch die sozialistischen Organisationen haben im 20. Jahrhundert praktisch und politisch den Anspruch aufgegeben, ihr Prinzip der Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Gemeinwirtschaft zu verallgemeinern und eine alternative, sozialistische Ökonomie aufzubauen. Dafür wäre der Bruch mit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und den bürgerlichen Institutionen eine Bedingung gewesen. Was passiert, wenn man dies nicht tut, sieht man gerade an den Konsequenzen: zahlreiche Vereinigungen sind zusammengebrochen, der Rest passte sich den ihn umgebenden politischen Institutionen und „wirtschaftlichen Sachzwängen“ an. Von den ArbeiterInnenkooperativen (Neue Heimat, Bank für Gemeinwirtschaft, Konsumgenossenschaften, … ) existiert heute noch genauso viel wie von der sonstigen sozialdemokratischen Gegengesellschaft (Presse, Sport-, Gesangs- und Bildungsvereine) – nämlich nichts! ArbeiterInnengenossenschaften werden entweder Schulen des Sozialismus und integraler Teil einer internationalen demokratischen Planwirtschaft oder sie enden als stinknormale Läden wie andere auch.

Der Apparat der Wohnungsgenossenschaften lässt sich personell und politisch kaum von dem der privaten Konzerne unterscheiden. Die Führung der Wohngenossenschaften wetterte gegen den Mietendeckel und kämpft mit Falschbehauptungen auch gegen DWE und ihre Vergesellschaftungspläne. Damit enthält sie 300.000 BerlinerInnen das vor, was sie ihren Mitgliedern bietet: gewisse Selbstbestimmung, moderate Mieten und kostendeckendes Wirtschaften. Die politische Union zwischen zahlreichen Berliner Wohnungsgenossenschaften und finanzindustriellen Wohnkonzernen wie Deutsche Wohnen, Vonovia und Covivio wird dadurch treffend symbolisiert, dass sie alle in derselben Immobilienlobby Mitglied sind (Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen e. V.; BBU).

Hier liegt das Grundproblem der AöR: Entweder deren Verwaltung konstituiert sich als Organisation der MieterInnen, Beschäftigten und ArbeiterInnenklasse, wird ein Motor des Klassenkampfes und schafft es, als Teil einer Massenbewegung zusammen mit Gewerkschaften, oppositionellen Betriebsgruppen, der MieterInnenbewegung, sowie sozialistischen und revolutionären Gruppen den Kapitalismus zu stürzen, oder sie wird dasselbe Schicksal erleiden wie die Prototypen, auf die sie sich beruft. Und der besteht dann nur noch im wirtschaftlichen (siehe Neue Heimat) oder politischen Verfall (siehe SPD und kommunale Wohnungsgenossenschaften). Die aktuelle Strategie der DWE-Mehrheit schließt den Brückenschlag zu einer wirklichen Vergesellschaftung politisch aus. Entweder es wird in einer offenen, geduldigen und demokratischen Auseinandersetzung um Taktik, Strategie und Programm zu neuen demokratischen Mehrheiten und einer politischen Kehrtwende führen, oder der Weg, den die Wohnungsgenossenschaften bereits beschritten haben, wird leider wieder beschritten.

4) Vorteile der Vergesellschaftung

a) Kleinkapitalismus oder Gemeinwirtschaft?

Im Abschnitt „Perspektiven fürs Kleingewerbe“ (Kapitel 3) wird beschrieben, dass kleine Gewerbetreibende ebenfalls von steigenden Mieten und Verdrängung bedroht sind. Diese würden auch von günstigen Mieten durch Vergesellschaftung profitieren und ihre Mehrkosten nicht auf die KonsumentInnen abwälzen. Es existiert jedoch hier kein Automatismus, dass niedrige Kosten sich immer in günstigen Preisen für den/die DurchschnittsarbeiterIn auswirken. Es ist korrekt, das Kleinbürgertum und kleine Gewerbetreibende, die mehrheitlich auch von steigenden Mieten betroffen sind, von der Richtigkeit und dem Nutzen vergesellschafteten Wohnraums zu überzeugen. Was jedoch übersehen wird, ist dass die Hauptadressatin der Vergesellschaftung die ArbeiterInnenklasse ist, die Notwendigkeit der Preiskontrolle als wichtige politische Forderung aus dem Kreis der proletarischen MieterInnenbewegung integriert werden müsste, damit sich die Kostenersparnis in niedrigen Warenpreise niederschlägt und das Ziel von Gemeinwirtschaft nicht in der Stärkung des Kleinkapitalismus endet.

Es wurde von uns ein alternativer Antrag unter dem Titel „Perspektiven für Klein- und Gemeingewerbe“ eingebracht:

„Wo Gewerberäume leer stehen oder Kleingewerbetreibende ihre Unternehmung einstellen, sollen diese ausschließlich durch gemeinnützige Träger und Vereine, gemeinschaftlich und demokratisch organisierte und rein kostenfinanzierte DienstleisterInnen und ProduzentInnen ersetzt werden. Wir nutzen vergesellschafteten Wohnraum vorsätzlich im Interesse und für die Bedürfnisse der Allgemeinheit und streben den systematischen Ausbau gemeinwirtschaftlicher Einheiten an. (…)“

Auch dieser Kompromissvorschlag wurde abgelehnt. Das steht natürlich im Widerspruch zum Titel der Broschüre, wo es gerade um Gemeinwirtschaft und Demokratisierung gehen sollte.

Auch an diesem Punkt halten Broschüre und Initiative eindeutig nicht das, was sie versprechen. Des Weiteren wird die Bereitschaft ersichtlich, das zentrale und strategische Interesse der Kampagne zugunsten der Hinwendung zur (klein)bürgerlichen Mitte und neuer zeitweiliger SymphatisantInnen und TrittbrettfahrerInnen zu opfern. Die Ablehnung dieses Vorschlages, jeder politischer Ansatz, der der ArbeiterInnenklasse gemeinsame strategische Interessen mit anderen Klassen suggeriert, betreiben Augenwischerei und ordnen die politischen Interessen und Perspektiven der große Masse der Bevölkerung einer kleineren Schicht unter. Während Kleingewerbetreibende und Kleinunternehmen Verbündete auf Zeit sein könnten, sind die besitzlosen Lohnabhängigen der strategische Kern für Vergesellschaftung. Auch wenn sich gemeinwirtschaftliche Unternehmungen langfristig im Kapitalismus nicht halten können, würden diese nicht nur ein viel loyaleres und politisches Umfeld bilden, sondern auch die Frage der Wirtschaftsordnung stellen.

b) Neubau

Positiv ist zu bemerken, dass die Broschüre die Frage des Neubaus aufgreift und beantwortet. Im Absatz „Neubau für die wachsende Stadt“ (Kapitel 3) und „Die Bauhütte“ (Kapitel 4) wird festgestellt, dass der Privatsektor wenig und unerschwinglich baut und durch die Vergesellschaftung von Grund und Boden neue Flächen zur Verfügung stünden. Der Bezug auf die gemeinwirtschaftliche Bauhütte der 1920er Jahre ist positiv. Ergänzend müsste man vorschlagen, dass die Bauhütte, ähnlich der AöR, auch einer demokratischen Kontrolle unterliegt und die Sozialbindung von deren Wohneinheiten entweder unbefristet ist oder die Mietpreise durch demokratische Kontrollorgane festgesetzt werden sollen.

c) Spezielle Gruppen

Einen weiteren Vorteil der Vergesellschaftung verkörpert die Forderung, Räume für marginalisierte gesellschaftliche Gruppen (Kitas, Jugendliche, Schutzräume gegen Gewalt, barrierefreies Wohnen, Geflüchtete, Wohnungslose/Verbot von Zwangsräumungen, Kunst- und Kulturschaffende) anzubieten und eine diskriminierungsfreie Vermietung sicherzustellen.

5. Entschädigung ist eine politische Frage

Unser Antrag auf entschädigungslose Enteignung – 1 Euro symbolische Entschädigung, um formal im Rahmen des GG zu bleiben – wurde abgelehnt. Inhaltlich wurde nicht begründet, warum den Immobilienkonzernen die Verwandlung ihres fiktiven Kapitals (Titel auf zu realisierende Gewinne) vergoldet werden soll. Formal könnte man denken, dass eine „gerechte Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten“ (Art. 14 GG) notwendig sei. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Mietendeckel zeigt jedoch eindrücklich, dass im bürgerlichen Rechtssystem auch im einseitigen Interesse entschieden werden kann – leider im Interesse der Immobilienkonzerne. Es zeigt aber auch, dass es nicht um gerechte Abwägung geht, sondern um im Klassenkrieg schlicht und einfach zu siegen.

Die grundsätzliche Anerkennung einer Entschädigung bei Enteignung impliziert logisch auch, dass ein Gewinn aus dem Immobiliengeschäft selbst als grundlegend berechtigt anerkannt,  also das Recht auf Profite im Voraus akzeptiert wird. Daraus folgt logischerweise, dass auch ein Volksentscheid vor die Frage gestellt wird, was es denn zu bieten hat für zu entschädigenden EigentümerInnen.

Mit Beginn des Volksbegehrens, der 2. Stufe im Volksentscheid, präsentierte DWE eine Höhe, die es für angemessen hält. Diese bewegt sich zwischen 7,3 Mrd. und 13,7 Mrd. Euro. Das bedeutet pro Kopf jeden/r EinwohnerIn Berlins eine Steigerung der Landesschuld zwischen 2.000 und 4.000 Euro oder – auf Basis der Staatsschuld vom 31.12.2019 von 14.700 Euro – um ca. 14 bis knapp 27 %.

Die von DWE in Aussicht gestellte Hauhaltsneutralität könnte nur dann gewährleistet werden, wenn die Entschädigung weit unter Marktwert liegt oder es zu einer steuerlichen Umverteilung kommt. Das von DWE favorisierte Faire-Mieten-Modell (FFM) versucht dabei, die Interessen der MieterInnen zum Ausgangspunkt für die Berechnung der Entschädigung zu nehmen, indem nicht die Werte der Immobilien als Berechnungsgrundlage herangezogen werden, sondern leistbare Mieten. Doch selbst die Verwirklichung dieser guten Absicht erfordert letztlich einen politischen Kampf und eine soziale Mobilisierung, um für 300.000 Menschen eine spürbare Entlastung sicherzustellen. Darüber hinaus entkommt auch das FFM einem grundsätzlichen Problem nicht.

Die Anerkennung einer „gerechten“ Entschädigung impliziert nämlich auch, dass diese letztlich über bürgerliche Parlamente und Gerichte ausgehandelt wird. So geht z. B. die amtliche Kostenschätzung unter dem rot-rot-grünen Senat von Kosten zwischen 28,8 und 26 Milliarden Euro aus. Die Immobilienlobby wird hier sicher noch weit höhere Forderungen präsentieren.

In jedem Fall eröffnet sich damit den Kapitalinteressen ein weites Feld für zukünftige Auseinandersetzungen, um eine Enteignung durch extreme Rückzahlungsforderungen für die Steuern zahlenden Lohnabhängigen unattraktiv und teuer zu machen. Damit wollen sie nicht nur maximale Profite sichern, sondern können auch einen Spaltkeil zwischen einen Teil der MieterInnen und die Mehrheit der Klasse treiben. Die einzige Möglichkeit, dem grundsätzlich entgegenzuwirken, besteht darin, die Legitimität von Entschädigungen grundsätzlich zu bestreiten und dafür zu kämpfen, alle Kosten den ProfiteurInnen der Wohnungsmisere aufzuzwingen.

Die entschädigungslose Enteignung – und eine symbolische von einem Euro ist im Grunde nur eine Sonderform davon – zeigt deutlicher und besser, wie wir diesen Kampf führen sollten: Nicht durch Verhandlungen um die Entschädigung, sondern indem wir – wie die Gegenseite – unsere einseitigen Interessen als Basis des politischen Handelns betrachten und unsere Instrumente verwenden, um zu gewinnen oder zumindest das Kräfteverhältnis zu unseren Gunsten zu verschieben. Man sollte neben den Unterschriftensammlungen auch Massenmobilisierung, politische Streiks und Mietboykotte einbeziehen, anstatt die bürgerlichen Kreise (nur) mit vernünftigen oder seriösen Kalkulationen zu überzeugen.

6. Ausblick

Die Broschüre „Vergesellschaftung und Gemeinwirtschaft“ stellt zentrale Modelle einer breiten Öffentlichkeit vor. Es werden dadurch Alternativen zu Privateigentum, Profitwirtschaft und der bürokratischen Führung aufgeworfen. Wichtige politische Instrumente (demokratische Kontrolle, Reprivatisierungsverbot), Schnittpunkte (Bauhütte) und auch die Vorteile für marginalisierte soziale Gruppen (Kinder/Jugendliche, FLINT, Gehinderte, Wohnungslose, Geflüchtete) werden positiver Weise dargestellt.

Auch wenn „rechtssichere“ Gesetzesentwürfe vorteilhaft sind, sieht man jedoch an dem Fokus darauf, dass es mehr darum geht, als „ExpertInnen“ intellektuelle Mittelschichten und die politische „Mitte“ zu überzeugen, anstatt eine Strategie zu entwickeln, die die Interessen der Masse der ArbeiterInnenklasse in den Mittelpunkt stellt. Diese stellt einerseits die deutliche gesellschaftliche Mehrheit und hat andererseits als einzige Klasse ein objektives und strategisches Interesse daran, Vergesellschaftung, Gemeinwirtschaft und Demokratisierung konsequent, also über die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse hinaus durchzusetzen, zu verteidigen und auszuweiten. Die politische Orientierung auf bürgerliche Institutionen (Grundgesetz, Abgeordnetenhaus) wie die der Broschüre und der Kampagne zugrundeliegende politische Programmatik schränken die Weiterentwicklung dieser positiven Ansätze ein.

Anstatt Modelle der direkten Demokratie für die MieterInnenkontrolle vorzuschlagen, werden die sog. MieterInnenräte auf einen Miniparlamentarismus reduziert, politische Zugeständnisse an den Staat (SenatsvertreterInnen), das Kleinbürgertum (Kleingewerbetreibende) und der Bourgeoisie (via Stadtgesellschaft) gemacht. Das gefährdet das Projekt, erhöht die Angriffsfläche für Staat und Kapital, die AöR entweder zu verbürokratisieren (Neue Heimat) oder wie in der Privatwirtschaft zu reorganisieren (Wohnungsgenossenschaften). Die historischen Fehler der sozialdemokratischen Wohnungsgenossenschaften werden in der Broschüre  wiederholt. Entsprechend kann festgestellt werden, dass sie viele gute Ansätze beinhaltet, jedoch am Ende nicht hält, was sie verspricht.

Auch wenn die Broschüre auf halben Weg stehen bleibt, ist die Kampagne zu unterstützen, da sie einen positiven Referenzpunkt einer Mietenpolitik im Interesse von Lohnabhängigen darstellt. Trotz ihrer inneren Widersprüche beinhaltet sie auch ein Potenzial, diese positiv aufzulösen und eine neue MieterInnenbewegung auf eine neue klassenkämpferische Grundlage zu stellen.

Des Weiteren strahlt die Kampagne mit ihren Losungen auf andere Teile der sozialen Bewegungen und Organisationen der ArbeiterInnenklasse (wie Mieterverein, SPD, Linkspartei, Gewerkschaften) aus. Der Kampf um Enteignung, Vergesellschaftung und Kontrolle durch die Beschäftigten und NutzerInnen könnte beispielsweise in Auseinandersetzungen gegen Schließungen und Entlassungen, für den Ausbau des Gesundheitswesens oder für ein ökologisch nachhaltiges Energie- und Verkehrssystem dem Trend der letzten Jahrzehnte entgegentreten, der in Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der Schulden bestand. Ja, er könnte ihn sogar umkehren. Wenn wir das Potenzial aufgreifen und weitertreiben wollen, das DWE schon jetzt auch gezeigt hat, müssen wir jedoch auch eine kritische Auseinandersetzung um die Schwächen der Initiative bzw. ihre programmatische und strategische Ausrichtung führen. Zu dieser notwendigen Diskussion wollen wir mit unsere Kritik beitragen.




#NichtAufUnseremRücken zur Pandemie: Keine Antwort ist auch keine Lösung

Martin Suchanek, Neue Internationale 254, April 2021

Mit dem Text „Wie gelingt es, eine Anti-Krisen-Bewegung von links aufzubauen? – Eine notwendige Antwort auf #ZeroCovid“ versucht das Bündnis #NichtAufUnseremRücken, eine Kritik an der Initiative zu formulieren. Herausgekommen ist dabei eine politische Bankrotterklärung. So heißt es:

„Ausgehend von dieser Gesamtsituation sollten wir uns als Linke auf die Fragestellung ‚Was ist denn euer Plan zur Lösung der Pandemie?‘ gar nicht erst einlassen. Natürlich können wir darüber philosophieren, wie die Pandemie-Bewältigung in einer sozialistischen Gesellschaft aussehen würde. Doch da wir nicht kurz vor einer Revolution stehen, muss aktuell jede Krisenlösung innerhalb der Logik des Systems verbleiben, welches uns das Elend erst eingebrockt hat.“

Dumm nur, dass die Pandemie ein zentrales aktuelles Problem der Menschheit darstellt. Eine Gruppierung, die sich auf die Frage, wie sie zu bekämpfen sei, erst gar nicht einlassen will, offenbart nur, dass sie zu einer zentralen Frage nichts zu sagen hat. Frei nach dem Motto: „Stell Dir vor, es ist Pandemie, und wir kümmern uns nicht darum!“ Dann kommt das Virus früher oder später dennoch zu dir.

Die AutorInnen des Texts mögen vielleicht glauben, dass Raushalten aus der Pandemiefrage helfe, die eigene revolutionäre Weste nicht mit Reformforderungen zu beflecken. In Wirklichkeit bedeutet es nur, die Bekämpfung der Pandemie der herrschenden Klasse zu überlassen. Deren Politik und die sämtlicher Staaten wird zwar kritisiert, aber die Kritik bleibt vollkommen folgenlos, ja diskreditiert sich unwillkürlich selbst, wenn die Frage gestellt wird: „Was ist denn euer Plan zur Lösung der Pandemie?“: Wir haben keinen – und wir wollen auch gar keinen entwerfen!

Abstentionismus

Das ist keine Klassenpolitik, das ist weder revolutionär noch reformistisch, sondern bloß politischer Abstentionismus.

Glücklicherweise hält der Text die Linie, die er verspricht, nicht konsequent durch. So erfahren wir im zitierten Absatz, dass „wir nicht kurz vor einer Revolution stehen“. Daher, so heißt es weiter, „muss aktuell jede Krisenlösung innerhalb der Logik des Systems verbleiben“. Fragt sich nur, warum die Forderungen von #ZeroCovid nach einem Shutdown in der Industrie als Illusion gebrandmarkt werden, während die AutorInnen durchaus richtig selbst fordern: „Schließung aller nicht lebensnotwendigen Betriebe während eines Lockdowns – statt noch weiterer Einschränkungen im Alltag! Gefahrenzulage für die, die noch arbeiten müssen!“

Wenn die großen Weisheiten der Kritik an #ZeroCovid richtig sind, warum werden sie dann nicht auf die eigene Politik angewandt? Richtet sich die Forderung nach der Schließung nicht lebensnotwendiger Betriebe etwa nicht an den Staat? Durch wen sonst soll die von #NichtAufUnseremRücken geforderte digitale Ausstattung der Schulen finanziert und geleistet werden? Wer soll die dezentrale Unterbringung von Wohnungslosen und Geflüchteten finanzieren? Der Staat über eine Besteuerung der Reichen oder soll das „von unten“, also aus den Einkommen der Lohnabhängigen bezahlt werden?

Das Beste am Text von #NichtAufUnseremRücken ist ironischerweise seine innere Widersprüchlichkeit. Um diese zu kitten, darf jedoch nicht fehlen, #ZeroCovid eine Politik des „autoritären Shutdowns“ zu unterschieben, die es nicht vertritt.

Der entscheidende Unterschied, der im Grunde die gesamte Linke durchzieht, ist jedoch folgender: Brauchen die Linke und die ArbeiterInnenklasse eine Antwort, ein Programm zur Bekämpfung der Pandemie oder sollen sie ein zentrales Problem der Menschheit ignorieren und hoffen, dass es endlich vorübergeht, damit wir uns auf „Wichtigeres“ konzentrieren können? In Wirklichkeit muss sich eine revolutionäre Linke gerade daran messen lassen, ob sie eine Politik entwickelt, die den Kampf gegen die Pandemie mit dem gegen den Kapitalismus in Form eines Programms von Übergangsforderungen (z. B. Arbeiterinnenkontrolle) verbindet und in diesem Sinne gezielt das gesellschaftliche Kräfteverhältnis zu verändern versucht




Identität als politisches Programm? Marxismus und Identitätspolitik

Martin Suchanek, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9, März 2021

„Wir glauben, dass die tiefgreifendste und potentiell radikalste Politik direkt aus unserer eigenen Identität kommt.“ (Combahee River Collective, 1977)

Dieser Satz stellt eine Art Credo dessen dar, was heute unter „Identitätspolitik“ verstanden wird. Ursprünglich prägten schwarze, antirassistische und antikapitalistische Feministinnen den Begriff. Mittlerweile werden damit Politiken von radikalen Linken, feministischen, reformistischen und bürgerlich-liberalen Kräften oder auch des Rechtspopulismus gefasst.

Mit der Ausweitung der Phänomene, Strömungen und gesellschaftlichen Kräfte, die mit dem Terminus bezeichnet werden, geht eine zunehmende Unbestimmtheit einher, die noch dadurch vermehrt wird, dass Identitätspolitik mittlerweile zu einem Kampfbegriff geworden ist.

Annäherung an eine erste Definition

Bevor wir diese Entwicklung kurz nachzeichnen und die Frage diskutieren, warum mittlerweile gegensätzlichen Klassenkräften dieses Label zugeschrieben wird, wollen wir darstellen, was diese Politik von Beginn an auszeichnet. Aus obigem Zitat wird deutlich, dass der Begriff der eigenen Identität als entscheidende Grundlage einer radikalen Politik zur Befreiung oder zur Beseitigung von Ungerechtigkeit und Benachteiligung reklamiert wird.

Identität stellt dabei das individuelle oder kollektive Bewusstsein vor, das aus der eigenen oder gemeinsam geteilten Erfahrung entsteht. Darauf basiere die radikalste Politik im Interesse der jeweiligen Gruppe von ausgebeuteten, unterdrückten und diskriminierten Menschen. „Die“ Frauen, „die“ Schwarzen, „die“ ArbeiterInnen teilten nicht nur gemeinsame Erfahrungen. Sie würden damit auch über einen Zugang zur Erkenntnis der Ursachen und der Politik zur Überwindung der Lage von Ausgebeuteten oder Unterdrückten verfügen, der Nicht-Angehörigen dieser Gruppe prinzipiell verwehrt ist. Dies ergibt sich logisch daraus, dass die jeweils eigene Identität zur Quelle für die „tiefgreifendste und potentiell radikalste Politik“ erklärt wird.

Die Erklärung des Combahee River Collective bringt das direkt zum Ausdruck. Die Erfahrung mit dem Rassismus weißer Mittelschichtfrauen im Feminismus der 1970er Jahre und mit männlichem Chauvinismus sowie Sexismus in der Black Community einschließlich radikaler linker Organisationen wie der Black Panther Party führen sie zur Schlussfolgerung:

„Wir erkennen, dass die einzigen Menschen, die sich genug um uns kümmern, um konsequent für unsere Befreiung zu arbeiten, wir selbst sind. Unsere Politik entwickelt sich aus einer gesunden Liebe zu uns selbst, unseren Schwestern und unserer Gemeinschaft, die es uns erlaubt, unseren Kampf und unsere Arbeit fortzusetzen.“

Diese jeweils eigene Identität wird zum privilegierten Ort von Radikalität und Erkenntnis. Nicht-Angehörige der jeweils betroffenen Gruppe können Unterdrückung zwar nachzuempfinden und nachzuvollziehen versuchen, aber sie können nie selbst auf die gleiche Weise aus dieser Erfahrung als „Frau“, „Schwarze“ (oder auch als „Arbeiterin“) schöpfen.

Sobald dieses Verständnis von Erfahrung – Identität – Politik akzeptiert wird, befinden wir uns auf dem Boden der Identitätspolitik.

Sobald die Grundlagen der Identitätspolitik akzeptiert werden und diese selbst zu einer bestimmenden Ideologie politischer Strömungen wird, entfalten sich daraus auch deren innere Widersprüche. Sie manifestieren sich gerade mit ihrem Siegeszug z. B. in weiten Teilen der Frauenbewegung, in der „radikalen“ Linken, aber auch durch ihre Akzeptanz im bürgerlichen Politikbetrieb. Im Folgenden wollen wir diese Entwicklung nachzeichnen.

Entstehung

Geprägt wurde der Begriff der Identitätspolitik vom Combahee River Collective, einer 1974 gegründeten Organisation schwarzer Feministinnen. In ihrem Statement von 1977 arbeiten sie nicht nur ihre Erfahrungen als unterdrückte schwarze, heterosexuelle und lesbische Frauen auf, sondern auch die Reproduktion von Rassismus im von weißen Mittelschichtfrauen dominierten Feminismus, die Reproduktion von Sexismus durch die Männer der antirassistischen Bewegung.

Im Gegensatz zu den meisten späteren VertreterInnen von „Identitätspolitik“ verstand sich das Combahee River Collective als revolutionäre Organisation. Ähnlich wie die von Claudia Jones schon Ende der 1940er Jahre formulierte Triple Oppression Theory (TOT) begriff es die kapitalistische Ausbeutung, Patriarchat und Rassismus als die Gesellschaft prägenden und damit auch revolutionär zu überwindenden Strukturen.

Für das Combahee River Collective stellte die Herausbildung einer „radikalen“, revolutionären Identität der Unterdrückten eine spontane Tendenz dar, sofern und sobald diese ihre gemeinsamen Erfahrungen im Rahmen kollektiven Austauschs ihrer Probleme und gemeinsamer Organisierung zu artikulieren beginnen. Diese Verkürzung wird angesichts der geschichtlichen Lage der frühen 1970er Jahre verständlich. Seit der Bürgerrechtsbewegung war die Lage der rassistisch Unterdrückten in den USA von einem politischen Erwachen, dem Anwachsen einer Massenbewegung und deren Radikalisierung bis hin zur Black Panther Party geprägt. International bildeten nationale und antikoloniale Befreiungskämpfe bis hin zum Sieg Vietnams gegen die USA einen historischen Hintergrund, der nicht nur Anlass zu revolutionärem Optimismus gab, sondern auch die Vorstellung nährte, dass die Unterdrückten – und hier zuerst die am meisten Unterdrückten – spontan zu revolutionärem Bewusstsein gelangen würden.

Zugleich steht das Combahee River Collective ironischerweise auch für eine Kritik an der Identitätspolitik, die die Frauenbewegung prägte (insbesondere den radikalen Feminismus). Das Statement von 1977 weist mit scharfer Kritik auf die widersprüchliche Lage in den Bewegungen der Unterdrückten selbst hin, darauf, dass in der von weißen Mittelschichtfrauen dominierten feministischen Bewegung Rassismus reproduziert wird, die antikolonialen und antirassistischen Bewegungen vor allem von Männern (und oft von solchen aus der Intelligenz) dominiert wurden, in der ArbeiterInnenklasse weiße, ältere Männer Politik und Ausrichtung bestimmten.

Das Statement stellte damit auch eine Reaktion auf die Reproduktion sozialer Unterdrückung in der ArbeiterInnenklasse und unter den Unterdrückten wie auf die Blindheit linker Kräfte gegenüber dieser Tatsache dar. Auch wenn in der bürokratisch dominierten ArbeiterInnenbewegung und in nationalen Befreiungsbewegungen ähnliche Mechanismen wie in der radikalen sowie in der bürgerlichen Frauenbewegung seit Ende der 1960er Jahre wirken, so wurde der Begriff der Identitätspolitik lange Zeit vor allem auf Letztere angewandt.

Ein bedeutender Unterschied zu späteren Kritiken z. B. des Queerfeminismus besteht darin, dass diese radikale Strömung des Feminismus oder Antirassismus die Bildung einer kollektiven Identität bzw. einer Massenbewegung zur Beseitigung der strukturellen Ursachen der Unterdrückung zum Ziel hatte.

Ausweitung der „Identitätspolitik“

Die Ausweitung der Identitätspolitik in der Frauenbewegung und im Feminismus ging, wie auch in Bewegungen gegen rassistische Unterdrückung, zugleich oft (und wohl auch entgegen den Intentionen mancher ihrer SchöpferInnen) damit einher, dass die „gemeinsame Identität“ als klassenübergreifende vorgestellt wurde. Der radikal antikapitalistische und antiimperialistische Anspruch geht in den 1970er und 1980er Jahren mit der Verbreitung der Identitätspolitik rasch verloren, sofern er überhaupt je existierte. Verstärkt wird er durch die Niederlagen der ArbeiterInnenklasse im Zuge der neoliberalen Offensive und der Restauration des Kapitalismus, die gerade für die Intelligenz als „Ende des Marxismus“ erscheint. Für die Identitätspolitik existiert faktisch die Einheit „der Frauen“ oder „der Schwarzen“ als klassenübergreifende gegenüber „den Männern“ oder „den Weißen“, unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit.

Dies unterstellt eine gemeinsame Erfahrung „aller“ Frauen (oder „aller“ Unterdrückten). Wir wollen hier keineswegs bestreiten, dass es tatsächlich gemeinsame Unterdrückungserfahrungen gibt, die die Angehörigen aller Klassen betreffen. Zugleich finden wir aber auch erhebliche Unterschiede. Entscheidend ist jedoch, dass auf Basis der Identitätspolitik die grundlegenden Gegensätze zwischen Frauen aus der herrschenden Klasse und der ArbeiterInnenklasse ebenso wie die Sonderinteressen der Frauen aus dem KleinbürgerInnentum und den lohnabhängigen Mittelschichten hintangestellt werden. Es ist auch kein Zufall, dass die VertreterInnen von Identitätspolitik oft aus letzteren Klassen bzw. Schichten stammen. Deren Lage zwischen den Hauptklassen der kapitalistischen Gesellschaft bildet einen sozialen Nährboden für die Ausbreitung von Ideologien, deren Gehalt in der Verwischung der Klassengegensätze besteht.

Dabei treten die inneren Gegensätze im realen Leben und gerade auch in Massenbewegungen mit Macht hervor. So im „Women’s March“ gegen Trump 2017. Tamika Mallory, eine linke Aktivistin und Vertreterin von Black Lives Matter, wurde des „Antisemitismus“ beschuldigt, weil sie sich mit dem palästinensischen Widerstand solidarisierte und an einer Veranstaltung der Nation of Islam teilnahm. Trotz klarer Beweise dafür, dass sie gegen Antisemitismus in der Black Community auftrat, verstummten die Anschuldigungen nicht und es folgte schließlich eine Spaltung der Koordinierung.

In ihrer Verteidigung machte Mallory auf einen Punkt aufmerksam, der die Doppelstandards ihre KritikerInnen verdeutlichte. Während sie sich ständig für einen Auftritt bei der Nation of Islam rechtfertigen müsse, wurde z. B. die Republikanerin Meghan McCain nie gefragt, ob sie sich von der Politik ihrer Partei oder frauenfeindlichen Äußerungen ihres Vaters distanziere. Im Gegenteil: Sie wurde willkommen geheißen, weil sie als prominente Republikanerin die Bewegung verbreiten, Mallory mit ihrem Antizionismus und Antikolonialismus hingegen „die Frauen spalten“ würde.

Hinter dieser Konzeption wird deutlich, dass „identitätspolitische“ Einheit, die Einheit „aller“ Frauen unabhängig von Klassenzugehörigkeit und Unterdrückung nur ein ideologischer Deckmantel für die Durchsetzung besonderer, in der Regel bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Klasseninteressen darstellt.

Dieses Beispiel verweist auch schon darauf, dass die Identitätspolitik in den letzten Jahrzehnten eine weit über die ursprüngliche Frauenbewegung hinausgehende Bedeutung erfahren hat und Eingang in die bürgerliche Öffentlichkeit fand.

Eine „(neo)liberale“ Identitätspolitik, die vor allem die besonderen Interessen der Frauen aus den Mittelschichten, dem KleinbürgerInnentum und z. T. auch aus der ArbeiterInnenaristokratie artikulierte, wurde von bürgerlichen und reformistischen Parteien aufgegriffen, um diese Frauen oder in analoger Weise auch andere Unterdrückte als WählerInnen zu gewinnen.

Linke Feministinnen wie Nancy Fraser oder im Manifest „Feminismus für die 99 %“ unterzogen diesen „liberalen Feminismus“ einer scharfen Kritik, der faktisch eine Allianz mit Vertreterinnen des „aufgeklärten“ Kapitalismus auf dem Rücken der proletarischen „weißen“ Männer, aber auch aller anderen subalternen Schichten und Klassen geschlossen habe. Damit hätte er Trump und dem Rechtspopulismus erleichtert, sich als Vertretung der „arbeitenden Klasse“, der „hart arbeitenden AmerikanerInnen“ auszugeben.

Dieser durchaus berechtigte Vorwurf greift aber zu kurz. Während Fraser die Folgen und die politische Kapitulation eines liberalen Feminismus entlarvt, greift sie nicht die jeder Identitätspolitik zugrundeliegende Vorstellung an, dass die eigene Erfahrung direkt zu fortschrittlichem, befreiendem und gesellschaftsveränderndem Bewusstsein führen würde. Im Gegenteil, das Manifest „Feminismus für die 99 %“ durchziehen selbst identitätspolitische Vorstellungen, namentlich wenn die Bildung eines gesellschaftsverändernden „revolutionären“ Subjekts selbst als Allianz verschiedener Klassenfraktionen der Subalternen und der Unterdrückten, also als Addition kollektiver Identitäten, verstanden wird (eine ausführliche Kritik findet sich in Urte March, Feminismus für die 99 Prozent – eine Kritik, in: Fight 8, März 2020).

Veränderung der Klassenbasis

Die Erweiterung des Begriffs gegenüber den 1970er Jahren reflektiert eine Veränderung der Klassenbasis von Identitätspolitik. Ursprünglich stellte sie eine kleinbürgerliche Ideologie dar, die aus Bewegungen von Unterdrückten hervorging und eine, aus der gemeinsamen Erfahrung gewonnene Einheit im Kampf begründen sollte – auch in Abgrenzung zu anderen Unterdrückten oder Ausgebeuteten, die eine vergleichsweise privilegierte Stellung in der Gesellschaft innehatten.

Die frühen, identitätspolitisch geprägten Gruppierungen, Bündnisse und Bewegungen gingen oft mit einer ideologischen Tendenz zur „Essentialisierung“ des Unterdrückungsverhältnisses einher. Diese drängt sich geradezu auf, wenn die Identität der Unterdrückten direkt der gemeinsamen Erfahrung entspringen soll. Diese scheint dann nicht in einem historisch konstituierten gesellschaftlichen Verhältnis zu stehen, sondern als „Eigenschaft“ einer bestimmten Gruppe von Menschen, die im Extremfall biologisch, natürlich oder durch gemeinsame Kultur, Lage usw. spontan produziert wird.

Daher können Frauen z. B. als das „friedliche“ Geschlecht erscheinen, das von Haus aus „verständigungsorientierter“ sei. Die Tendenz zur Naturalisierung liegt der Identitätspolitik zugrunde, weil ihr die Identität (bzw. das bürgerliche Individuum) selbst als etwas „Natürliches“ erscheint, als Grundkonstante, als ein vorgefundenes Wesen des/der Unterdrückten.

Dies trifft auch auf radikalere Teile der Frauenbewegung zu, die ihre Politik oft genug mit einer „Essentialisierung“ der gemeinsamen Erfahrung begründen. So lassen sich auch die heftigen Konflikte jener Teile des Feminismus, die ein essentialistisches Verständnis des natürlichen Geschlechts und der Geschlechteridentität („Frauen sind Frauen“) vertreten, mit Trans-AktivistInnen verstehen. Auf der Basis von Identitätspolitik sind diese Gegensätze letztlich nicht auflösbar.

Solange der/die TrägerIn der Identität nicht als Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern als vereinzeltes bürgerliches Individuum oder als Gruppe von Individuen verstanden wird, die gemeinsame Eigenschaften und Erfahrungen teilen, erscheint Identität als ein unhinterfragbares Absolutes. Wer nichts besitzt, besitzt immerhin, so scheint es, seine eigene Identität.

Natürlich wohnt der Suche nach ihr und dem Austausch gemeinsamer Erfahrungen auch ein wichtiges emanzipatorisches Moment inne, ohne das es keine fortschrittliche oder revolutionäre politische Bewegung geben kann. Aber zugleich müssen die Grenzen dieser Suche verstanden werden.

Wird die Identität als Ort privilegierter Erfahrung und Wahrheit gesetzt, so ergibt sich für jede darauf begründete Politik eine Tendenz zur Verabsolutierung der jeweils individuellen oder Gruppenerfahrung „der“ Frauen, „der“ Schwarzen, aber auch „der“ FabrikarbeiterInnen usw. usf.

Wird die eigene oder kollektive Erfahrung zum entscheidenden Kriterium für Wahrheit und Richtigkeit von Politik, so lässt sich über diesen Wahrheitsanspruch und die daraus abgeleitete Politik letztlich nicht vernünftig streiten. Verschiedene Ansprüche stehen einander mit gleichem Recht auf Authentizität entgegen. Jedes Infragestellen des unbedingten Anspruchs auf die Richtigkeit der eigenen Erfahrung und Wahrnehmung erscheint notwendigerweise als eine Relativierung der sich erhebenden Identität der/des Betroffenen.

Die Verabsolutierung der eigenen Erfahrung tritt uns in verschiedenen Formen entgegen, z. B. im Konzept von Definitionsmacht, dem zufolge allein die Beschuldigung von TäterInnen durch Opfer physischer oder verbaler Übergriffe auf Unterdrückte definiert, ob eine solche Tat auch vorlag – im Grunde ein Rückfall hinter das bürgerliche Recht, weil Beschuldigten oder TäterInnen jedes Recht auf Verteidigung genommen wird. Die rechtliche oder gesamtgesellschaftliche Problematik ist offenkundig. Sie zeigt sich außerdem auch schlagend, sobald verschiedene Unterdrückte auf ihre jeweilige Definitionsmacht absolut pochen, wenn also z. B. ein rassistisch unterdrückter Mann einer weißen Frau Rassismus vorwirft, diese wiederum dem Mann Sexismus.

Noch weitaus problematischer wird es, wenn die eigene Unterdrückungserfahrung zum entscheidenden Wahrheitskriterium für die Richtigkeit von Politik gemacht wird. Über die Politik einer nationalen Befreiungsbewegung könnten demzufolge Menschen aus den Metropolen, die keine Angehörigen der unterdrückten Nation sind, nicht „von außen“ urteilen. Dies käme einer typisch westlichen, kolonialistischen Arroganz gleich. Lassen wir einmal beiseite, dass auch die Solidarisierung mit einer Befreiungsbewegung (oder erst recht mit einer bestimmten politischen Strömung) ein Urteil „von außen“ impliziert, so läuft diese identitätspolitische Vorstellung regelmäßig auf eine Immunisierung vor Kritik hinaus. Und diese begünstigt unwillkürlich die dominierenden bürgerlichen Klassenkräfte innerhalb dieser Bewegungen.

In extremer Form schlägt die Identitätspolitik in einen Relativismus um, der den Kampf gegen reaktionäre Ideologien und Organisationen unter den Unterdrückten ablehnt oder deren repressiven Charakter verharmlost. Vom Standpunkt revolutionärer Klassenpolitik aus bedeutet eine Akzeptanz der Identitätspolitik in der Frauenbewegung eine Anpassung an kleinbürgerliche und bürgerliche, zumeist feministische Ideologien, bei nationalen Befreiungsbewegungen an verschiedene Spielarten des Nationalismus. Kurzum, der mit der Identitätspolitik einhergehende Relativismus führt unwillkürlich zur politischen Unterordnung des Proletariats unter kleinbürgerliche, bürgerliche, im Extremfall sogar direkt reaktionäre Klassenkräfte.

Linke Lösungsversuche

Diese Problemstellungen greifen linke VerteidigerInnen der Identitätspolitik wie Lea Susemichel/Jens Kastner in ihrem Buch „Identitätspolitiken“ auf und versuchen, eine „relativierte“ Identitätspolitik zu begründen, die diesen Fehler vermeiden soll.

Einerseits nehmen sie eine Erweiterung des Begriffs vor, indem sie faktisch jede Massenpolitik, jede Bewegung als eine Form von Identitätspolitik interpretieren, weil diese immer auf ein kollektives Wir verweisen müsse, auf eine gemeinsame Lage, Erfahrung und GegnerInnen, um eine gemeinsame politische oder gesellschaftliche Kraft zu konstituieren.

So erscheint für Susemichel/Kastner die ArbeiterInnenbewegung als eine neue, organisierte Massenbewegung, als erste, globale Form der Identitätspolitik. Neben dieser fortschrittlichen Urform (Identifikation mit der Klasse statt mit der Nation) steht für sie am anderen Pol eine rechte Identitätspolitik wie z. B. der Populismus eines Trump.

Wenn alles Identitätspolitik ist, diese also als Bedingung des Politischen erscheint, wird der Begriff freilich inflationär und nichtssagend. Wohl müssen wir uns fragen, warum so diese verschiedenen politische Bewegungen und Ideologien überhaupt als „Identitätspolitik“ erscheinen können. Der Grund dafür liegt nicht einfach darin, dass Bewegungen auch auf gemeinsame Erfahrungen rekurrieren sowie auf ein gemeinsames Wir oder eine/n gemeinsamen (Klassen-)GegnerIn.

Der Punkt für die Überlappung von rechter und linker Identitätspolitik liegt vielmehr im Versuch, die Politik einer Bewegung, ihr Programm, ihre Forderungen usw. aus dieser scheinbar unmittelbar vorgefundenen Identität herzuleiten. Er rekurriert dabei auf eine wirkliche oder angebliche gemeinsame Erfahrung aller Frauen, Weißen, Unterdrückten, die zu einer „natürlichen“ Gemeinsamkeit verklärt wird.

Auch wenn alle diese Bewegungen Momente von Identitätspolitik enthalten, so wirft die Charakterisierung politischer Strömungen unter diesem Label eigentlich mehr Probleme auf, als sie löst. Wenn Bewegungen und politische Kräfte, die sich auf unterschiedliche Klassen (oder Teile von Klassen) stützen, zusammengeworfen werden, wird der Begriff entweder nichtssagend oder er verwischt die eigentlich grundlegenden Unterschiede zwischen diesen Bewegungen, vor allem ihren Bezug auf die verschiedenen Klassen der Gesellschaft.

Die Frage müsste also vielmehr lauten, warum Nationalismus, Populismus, Feminismus, Ökonomismus so leicht mit identitätspolitischen Vorstellungen verknüpft werden können. Der Grund liegt darin, dass diese Ideologien allesamt mit dem Rekurs auf eine angebliche gemeinsame Identität oder Erfahrung die ArbeiterInnenklasse sowie gesellschaftlich Unterdrückte bürgerlichen Kräften unterordnen. Dies verdeutlicht einmal mehr den grundsätzlich reaktionären Charakter der Identitätspolitik.

Vorläufer und historische Bezugspunkte linker Identitätspolitik

Die VertreterInnen einer „linken“ Identitätspolitik versuchen, die Probleme, die mit deren „Essentialisierung“ einhergehen, durch die Begründung einer nicht-essentialistischen Identitätspolitik zu lösen. Ihre Bemühungen knüpfen dabei an historische Vorbilder wie Simone de Beauvoir oder an Frantz Fanon an, die wir im Folgenden untersuchen werden, um zu verdeutlichen, dass auch diese Spielart der Identitätspolitik ihren inneren Problemen nicht entkommen kann.

De Beauvoir

In ihrem Werk „Das andere Geschlecht“ kommt de Beauvoir das Verdient zu, radikal „das Frausein“ in Frage zu stellen. „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“, fasst sie zusammen. Damit verweist sie – ähnlich wie die marxistisch-materialistische Erklärung der Frauenunterdrückung – darauf, dass Geschlechterrollen, das „Frausein“, weibliche Sexualität (bzw. deren Verleugnung) keine „natürlichen“, angeborenen Eigenschaften „der Frau“, sondern gesellschaftliche Phänomene darstellen.

Auch wenn de Beauvoir nicht die Erste war, die auf die gesellschaftliche Konstitution der Geschlechterrollen und Identitäten hingewiesen hat, so liegt die Bedeutung ihres Buchs darin, diese markant und für Millionen Frauen hervorgehoben zu haben.

Aber aufgrund ihrer philosophischen Grundlage, des Existenzialismus, kann sie das Wesen „des Menschen“ nur individualistisch und abstrakt fassen. Für sie geht (wie für Sartre und andere) die Existenz „des Menschen“ seinem gesellschaftlichen Wesen voraus; d. h. das Individuum wird ontologisch als Mensch verstanden, der in die Welt geworfen, zum Individuum gemacht wird, indem er gezwungen ist, sich zu entscheiden. Der Mensch ist, wofür, wozu er sich entscheidet. Bei de Beauvoir ist dies eng mit dem Streben nach Freiheit verbunden.

Damit greift sie zwar ein reales Moment menschlichen und insbesondere politischen Handelns auf, das notwendig Entscheidungssituationen hervorbringt. Aber sie abstrahiert von der historischen Bestimmtheit dieses Entscheidens und des Strebens nach Freiheit. „Entscheidung“ und „Freiheit“ werden nicht mehr als historisch konstituierte und wandelbare Größe begriffen, sondern als Grundeigenschaften „des Menschen“.

In de Beauvoirs Arbeiten werden zwar immer wieder die Grenzen dieser abstrakten Bestimmungen des für sich existierenden Individuums deutlich. Aber ihr philosophischer Ausgangspunkt lässt in sie gesellschaftliche und historische Faktoren nur im Nachhinein einfließen. Diese relativieren zwar die grundlegenden Fehler des Existenzialismus, aber ohne dessen eigentliche Grundlagen zu überwinden, nämlich „Freiheit“ oder „Entscheidung“ nicht als historische, sich entwickelnde Phänomene zu begreifen, die mit der Entwicklung der Gesellschaftsformationen und der Produktivkräfte selbst erst entstehen und einem Veränderungsprozess unterzogen sind.

Diese Probleme tauchen in jeder „nicht-essentialistischen“ Identitätspolitik auf wie auch im Queer- und Differenzfeminismus. Um den Fallstricken des „Essentialismus“ zu entgehen, nehmen Letztere zum subjektiven Idealismus Zuflucht. Frau, Geschlecht, Identität erscheinen als rein diskursive Konstruktionen, in denen „die Frau“ oder „das Geschlecht“ „gemacht“ wird. Der Preis für diese „Lösung“ besteht freilich darin, dass jede kollektive Identität per se suspekt und tendenziell repressiv wird. Differenz- oder Queerfeminismus führen daher politisch logisch zu einer rein idealistischen, individualistischen Politik – Identität selbst ist eine Konstruktion. Oder anders formuliert: Auf Grundlage einer Dekonstruktion eines scheinbar natürlichen Wesens kann nur eine rein individuell, negativ bestimmte Identität von Unterdrückten hergeleitet werden. Befreiung wird damit ihrer kollektiven Aspekte entkleidet und wesentlich auf Selbstbestimmung, Selbstermächtigung des Individuums und auf Verschiebung von Diskursen, also Sprachpolitik konzentriert. Der Queer- und Differenzfeminismus mit seinem Fokus auf das Individuum stellt dabei nicht nur eine reaktionäre, idealistische Konzeption dar. Diese Ideologie entspricht zugleich der Klassenlage der Mehrzahl ihrer VertreterInnen unter den lohnabhängigen Mittelschichten (v. a. den akademisch ausgebildeten).

Grenzen

Die „nicht-essentielle“ Identitätspolitik hingegen will nicht nur dem Problem des „Essentialismus“, sondern auch des bürgerlichen Individualismus entgehen. Sie greift daher – wie der „Essentialismus“ – auf eine gemeinsame Erfahrung als Grundlage für gemeinsame Politik zurück. Dessen Fehler und Tendenzen zur Verabsolutierung sollen aber durch Reflexion auf ihre möglichen, andere Unterdrückte „ausschließenden“ Momente der eigenen Identität vermieden werden. Dazu wurde eine ganze Reihe von Techniken entwickelt, darunter der Intersektionalismus, eine Art Reparaturbetrieb auf Grundlage der Identitätspolitik.

Das Problem, das bei der Begründung einer „nicht-essentialistischen“ Identitätspolitik immer wieder auftaucht, hängt mit Folgendem zusammen. Um die Identität einer Massenbewegung zu begründen, reicht eine rein abstrakte, bloß negative oder rein diskursive Bestimmung der Identität nicht aus. Eine kollektive Identität muss also an der Wirklichkeit ansetzen. Dazu soll die gemeinsame Erfahrung herhalten. Doch die Erfahrung selbst stellt sich in der bürgerlichen Gesellschaft als widersprüchliche dar. Auch jene der Unterdrückung (oder erst recht des „Ausgebeutet-Seins“) bringt die realen gesellschaftlichen Verhältnisse keineswegs unmittelbar zum Ausdruck, sondern auf eine ideologisierte, die realen Verhältnisse teilweise sogar auf den Kopf stellende oder verschleiernde Weise.

Wenn bei Bildung einer kollektiven Identität unmittelbar aus der eigenen Erfahrung ein sich befreiendes Subjekt abgeleitet werden soll, entsteht unwillkürlich die Tendenz, dass auf gesellschaftlich vorherrschende Formen des Bewusstseins der Unterdrückten zurückgegriffen wird. Dass z. B. auch der Masse der Frauen die Familie als „natürliche“ und wünschenswerte Form des Zusammenlebens erscheint, entspringt den gesellschaftlichen Verhältnissen im Kapitalismus selbst (ganz so wie den WarenbesitzerInnen die Warenproduktion als natürlich erscheint).

Wir wollen das an einem Beispiel verdeutlichen. Im Kapitalismus wird der größte Teil der Reproduktionsarbeit von Frauen geleistet. Diese geschlechtsspezifische Arbeitsteilung führt dazu, dass sie nicht nur dementsprechende Fähigkeiten und darauf aufbauende Bewusstseinsformen stärker ausbilden als Männer. Weil diese Arbeitsteilung über Generationen, ja in unterschiedlicher Form die gesamte Geschichte der Klassengesellschaften prägt, erscheint es so, dass Frauen nicht nur „von Natur“ aus besser für Reproduktions- und Sorgearbeiten geeignet wären, sondern auch mit dieser verbundene Haltungen gegenüber anderen Menschen „natürlich“ einnähmen. Sie wären sorgender, mitfühlender, kooperativer, friedfertiger, kompromissbereiter … Ein auf Identitätspolitik basierender Feminismus greift zwar durchaus die in der bürgerlichen Gesellschaft vorherrschenden Rollenzuschreibungen und Ungleichheiten der Geschlechter an, er übernimmt aber auch bestimmte scheinbar natürliche Charaktereigenschaften „der“ Frau. Statt diese als Resultate einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zu begreifen, werden diese auch in der Identitätspolitik als natürliche Eigenschaften der Frau reklamiert, allerdings positiv konnotiert. So sollten Frauen mehr bestimmen, weil sie das an sich friedfertigere, solidarischere, sorgendere Geschlecht seien.

Die „nicht-essentialistische“ Identitätspolitik begreift zwar dieses Problem. Sie erkennt, dass die identitätspolitischen Bewegungen gesellschaftlich Unterdrückter an einen toten Punkt angelangten, wenn verschieden Unterdrückte (z. B. „die Frauen“, „die rassistisch Unterdrückten, „die Jugend“) ihre Unterdrückung gegenüber anderen jeweils absolut setzten. Aber die Begrenzung gegenüber der Absolutheit durch Vermittlung zwischen den Bewegungen und Reflexion der eigenen „blinden Flecken“ greift in Wirklichkeit zu kurz.

Ihr gerät nämlich der ideologische, widersprüchliche, verkehrte Charakter der „spontanen“ Identität der Unterdrückten selbst aus dem Blick. Um die Grenzen der Identitätspolitik zu sprengen und zugleich eine Massenbewegung (z. B. von proletarischen Frauen oder von rassistisch Unterdrückten) aufzubauen, reicht es nicht aus, die ausgrenzenden Tendenzen „spontaner“ identitätspolitischer Bewegungen einzuhegen. Es muss vielmehr die Vorstellung problematisiert werden, dass die eigene Erfahrung von Unterdrückung spontan zur richtigen Erkenntnis der Ursachen und Wege zur Überwindung der Unterdrückung führen könnte.

Frantz Fanon

Dies wollen wir auch an einem zweiten Vorbild der „nicht-essentialistischen Identitätspolitik“ verdeutlichen: Franz Fanon. In seiner Schrift „Die Verdammten dieser Erde“ übt er immer wieder scharfe Kritik an der Anpassung der schwarzen Intelligenz an koloniale Herrschaft und bürgerlich-demokratische Ideologien, aber auch an einen schwarzen Nationalismus, der die traditionellen afrikanischen Gesellschaften romantisiert und deren Vergangenheit neu beleben möchte. Fanon selbst charakterisiert dies als reaktionäre und folkloristische Sentimentalität, als Ablenkung vom Kampf um Befreiung.

In diesem Sinn ist Fanon „anti-essentialistisch“. Aber um eine Massenbewegung im antikolonialen Befreiungskampf zu begründen, greift er nicht zum Marxismus und zu Trotzkis Theorie der permanenten Revolution, die allein den Kampf um demokratische Rechte und die sozialistische Revolution theoretisch und programmatisch zu verbinden vermag. Er steht vielmehr in der Tradition des sowjetrussischen Stalinismus und Maoismus und der von ihnen geprägten Etappentheorie, der zufolge die Revolution in den Halbkolonien zuerst zur nationalen Befreiung führen muss, bevor die sozialistischen Aufgaben angegangen werden können.

Er verleiht ihr freilich noch eigene Elemente. Erstens gilt Fanon die städtische ArbeiterInnenklasse in den Kolonien als eine gekaufte, eng mit dem Kolonialismus verbundene Klasse, und sie scheidet somit als revolutionäre Kraft aus, ja mag wie große Teile der städtischen Bevölkerung als rückschrittlich erscheinen. Kein Wunder also, dass er die revolutionäre Kraft eher auf dem Land als in den Zentren sucht und der von dort aus organisierte Befreiungskampf favorisiert wird.

Zweitens trennt er scharf zwischen der „nationalen Kultur“, wie sie vorgefunden wird, von der „Nation“, wie sie im Befreiungskampf erst begründet wird, am Entstehen ist. Wie ein Phönix aus der Asche erhebt sich ein nationales Bewusstsein, das für ihn auch die höchste Form revolutionären Bewusstseins darstellt.

„Die internationalen Ereignisse, der um sich greifende Zusammenbruch der Kolonialreiche, die Widersprüche innerhalb des kolonialistischen Systems unterhalten und verstärken die Kampfbereitschaft, lassen ein nationales Bewusstsein entstehen und geben ihm Kraft.“ (Fanon, Die Verdammten dieser Erde, suhrkamp, Frankfurt/Main 1981, S. 202)

Und weiter: „Wenn die Kultur eine Äußerung des Nationalbewusstseins ist, so zögere ich für unseren Fall nicht zu sagen, dass das Nationalbewusstsein die am meisten entwickelte Form der Kultur ist.“ (Ebenda, S. 208)

Er versucht, einen „revolutionären Nationalismus“ zu begründen, der ihm zufolge qualitativ anders als der Nationalismus alter Prägung sei, insofern er eine „internationale Dimension“ besitze. Anders als der Marxismus, der auch den Nationalismus der unterdrückten Nationen als bürgerliche Ideologie betrachtet und kritisiert und daher den Kampf um nationale Befreiung scharf von allen Zugeständnissen an den Nationalismus abgrenzt, imaginiert Fanon einen „internationalen“ Befreiungsnationalismus. Für diesen will er in der Realität Anknüpfungspunkte finden, ihn aus den „positiven“ Traditionen des nationalen Kampfes ziehen. Im konkreten Fall des Befreiungskampfs in Algerien waren dies die linke, bürgerlich-nationalistische Befreiungsfront FLN und die entstehende panafrikanische Bewegung.

Die Verallgemeinerung einer aus unmittelbaren Erfahrungen gewonnenen „Identität“, selbst wenn sie sich von Beginn an von problematischen hergebrachten Formen abgrenzt, führt also auch bei Fanon dazu, dass er auf eine reale, vorgefundene, von der Gesellschaft geprägte Identität zurückgreifen muss.

Für die Bildung eines kollektiven Subjekts reicht auch beim „Befreiungsnationalismus“ eine rein negative Bestimmung letztlich nicht aus. Es muss an etwas, das „spontan“ in den Auseinandersetzungen, Erfahrungen auftritt, angeknüpft werden, das dann die gemeinsame Identität bildet. Diese kann entweder „essentialistisch“ im biologischen Wesen, der Natur des Menschen gefunden oder muss scheinbar spontan auftretenden, in Wirklichkeit jedoch gesellschaftlich vermittelten objektiven Bewusstseinsformen entnommen werden. Im Fall Fanons ist Letzteres der kämpfende Nationalismus. Letztlich entrinnt diese „nicht-essentialistische“ Identitätspolitik den Problemen ihres Konterparts nicht, sondern ideologisiert vielmehr das Klasseninteresse der bürgerlichen Führungen der Befreiungsbewegungen der 1960er Jahre.

Ökonomismus

Neben AutorInnen wie de Beauvoir oder Fanon präsentieren einige VerteidigerInnen einer linken Identitätspolitik auch die ArbeiterInnenbewegung als eine solche. „Denn auch all jene praktischen wie theoretischen Versuche, unter den Lohnabhängigen (und über diese hinaus) Klassenbewusstsein zu formieren, sind Formen von Identitätspolitik: Schließlich ging es nicht zuletzt darum, dass die einzelnen Individuen sich kollektiv über die Arbeit und über ihre Klassenposition identifizieren.“ (Susemichel/Kastner, Identitätspolitiken, UNRAST-Verlag, Münster, 2018, S. 13)

Das Problem mit dieser Auffassung besteht aber gerade darin, dass das „spontane“, im Rahmen des Lohnabhängigkeitsverhältnisses und der Identifikation mit der Arbeit hervorgebrachte Bewusstsein längst noch kein Klassenbewusstsein darstellt – jedenfalls nicht für Marx, Lenin und andere AutorInnen der revolutionär-marxistischen ArbeiterInnenbewegung. Im Gegenteil: Marx verweist im „Kapital“ auf die Problematik des spontanen ArbeiterInnenbewusstseins. So zeigt er beispielsweise im Kapitel über den Arbeitslohn, dass die Lohnform notwendigerweise bei den KapitalistInnen wie bei den ArbeiterInnen ein verkehrtes Bewusstsein über das Klassen- und Ausbeutungsverhältnis hervorbringt.

In der kapitalistischen Produktionsweise muss der Wert der Ware Arbeitskraft notwendigerweise die Form des Arbeitslohns annehmen. Es erscheint, als würde der/die KapitalistIn nicht die Arbeitskraft kaufen, sondern die gesamte, vom/von der Lohnabhängigen für ihn verrichtete Arbeit bezahlen. Daher verschwinden mit der Lohnform auch Mehrarbeit und -wert und damit die eigentliche kapitalistische Ausbeutung im Bewusstsein von KapitalistInnen und LohnarbeiterInnen. Wie Marx zeigt, stellt dieses Verschwinden des grundlegenden Ausbeutungsverhältnisses im Bewusstsein antagonistischer Klassen ein notwendiges Resultat der kapitalistischen Produktionsweise selbst dar, eine Verkehrung, die mit der Wertform der Waren untrennbar verbunden ist. Es handelt sich bei der Lohnform also um eine objektive Gedankenform, eine Mystifikation wesentlicher Verhältnisse. Die unmittelbare Erfahrung der ArbeiterInnenklasse und der nur-gewerkschaftliche Kampf zwischen Lohnarbeit und Kapital bewegen sich innerhalb dieser Gedankenform, ja bestärken diese sogar bis zu einem gewissen Grad. Im Alltagsbewusstsein der Arbeitenden drückt sich das z. B. darin aus, dass nur schlecht bezahlte, prekäre Arbeit als „Ausbeutung“ zu einem Hungerlohn erscheint, während ein Lohn, der die Reproduktionskosten deckt oder sogar etwas höher als diese bezahlt wird, als „gerecht“ wahrgenommen wird.

Auch der rein ökonomische Klassenkampf verbleibt, wie Lenin an Marx anknüpfend in „Was tun“ deutlich macht, noch auf der Ebene des Aushandelns der Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft. Diese Auseinandersetzung kann zwar eine Schärfe erreichen, die Lohnabhängige empfänglich für revolutionäre Agitation und Propaganda macht, z. B. wenn bestimmte Kämpfe wie Streiks, die vom Staat unterdrückt werden, Fragen aufwerfen, die über den Bewusstseinshorizont der gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen hinausgehen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass das politische Klassenbewusstsein nicht spontan in diesen Auseinandersetzungen entsteht. Es kann vielmehr, wie es Lenin ausdrückt, „dem Arbeiter nur von außen gebracht werden, das heißt aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern.“ (Lenin, Was tun?, LW 5, S. 436)

Wenn die ArbeiterInnenbewegung als identitätspolitische, also auf der spontanen, naturwüchsig entstehenden Identifikation mit der Arbeit, dem ArbeiterInnensein und der Lohnbewegung beruhende begriffen, ja fixiert wird, so wird hier nur der Fehler des Ökonomismus wiederholt, den gewerkschaftlichen Konflikt und dessen reformpolitische, gesetzgebende Verlängerung im Ringen gegen „soziale Ungleichheit“ zum eigentlichen ArbeiterInnenkampf zu verklären.

Das Problem besteht aber gerade darin, dass dieses spontane ArbeiterInnen- kein revolutionäres Klassenbewusstsein bilden kann, sondern eine Form bürgerlichen Bewusstseins darstellt. Dasselbe trifft auch auf eine solcherart geprägte „ArbeiterInnenidentität“ zu. Wenn wir beispielsweise die Kultur und Identität betrachten, wie sie z. B. der Austromarxismus, der „Sozialstaat“, aber auch die vom Stalinismus beherrschten Staaten hervorbrachten, so waren diese wesentlich Formen verbürgerlichter „ArbeiterInnenkultur“ und dementsprechender Identitäten. Diese gingen zwar mit der Anerkennung der LohnarbeiterInnen als gesellschaftlicher Kraft einher. Zugleich jedoch wurden mit dieser nicht nur Identifikation mit „der Arbeit“ und ein gewisser Stolz vermittelt, sondern auch ein in den gesellschaftlichen Zusammenhang eingegliedertes „ArbeiterInnensein“, das dann nicht auf die Aufhebung der ArbeiterInnenklasse (oder gar den revolutionären Sturz des Kapitalismus oder der Herrschaft einer Staatsbürokratie) abzielte. Im Gegenteil, Sozialdemokratie, Gewerkschaftsbürokratie und Stalinismus drängten und drängen danach, eine bestimmte „ArbeiterInnenkultur“ zu verewigen. Diese geht notwendigerweise mit einer Anpassung an die bürgerliche Kultur, eine Übernahme von reaktionären Elementen einher, so z. B. einer Idealisierung der bürgerlichen Familie, von reaktionären Geschlechterrollen, aber auch der jeweiligen nationalen Kultur. Wie die Identitätspolitik fassen auch Reformismus und Ökonomismus die „ArbeiterInnenidentität“ als etwas Gegebenes, Statisches.

Für den revolutionären Marxismus hingegen ist revolutionäres, das eigentliche proletarische Klassenbewusstsein grundlegend verschieden von demjenigen, das an der Oberfläche der Gesellschaft entsteht. Das spontane Bewusstsein ist ein bürgerliches. Dem Marxismus geht es darum, die ArbeiterInnenbewegung in eine Richtung zu lenken, die Verhältnisse erkämpfen kann, in denen nicht nur diese Bewusstseinsformen aufgehoben werden können, sondern vor allem die Bedingungen, die sie notwendig hervorbringen.

In der Einleitung zur „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ formuliert Marx die Forderung, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1, S. 385).

Die revolutionäre Kraft der ArbeiterInnenklasse besteht nicht darin, die Identität, die der aktuelle Zustand hervorbringt, einfach positiv bejahend aufzunehmen, sondern sich vielmehr als ein im Werden begriffenes Subjekt zu verstehen. Dies erfordert aber, dass die ArbeiterInnenklasse (wie auch sozial Unterdrückte) nicht bloß als bestehende Gruppe von Menschen mit ähnlichen Erfahrungen (oder auch einem/r gemeinsame GegnerIn) begriffen werden darf, sondern auch von ihrem Ziel, von ihrer Bestimmung als revolutionärer Kraft verstanden werden muss. Das Wesen der ArbeiterInnenklasse, das sie überhaupt erst zu einer revolutionären Klasse macht, besteht also nicht darin, wie sie ist, sondern wie sie werden kann und muss, um sich selbst und die gesamte Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung zu befreien.

Die Identitätspolitik hingegen vertritt einen statischen, aus dem Hier und Jetzt, sei es nun „essentialistisch“ oder „nicht-essentialistisch gewonnenen Begriff von Identität. Da sie Identität als etwas Gegebenes, Statisches oder Konstruiertes auffasst, verstrickt sie sich in die Dialektik des Wesens und kann zu keiner Aufhebung vorgefundener Identitäten kommen. Hier erweist sich das philosophische Verharren auf dem Empirismus, Pragmatismus, Existenzialismus, Postmodernismus oder auch einem mechanischen Materialismus als fatal.

Gegenüber diesen letztlich antidialektischen Theorien besteht der Fortschritt in der Hegel’schen Bestimmung des Wesensbegriffs gerade darin, dass es selbst als etwas erst im Entstehen Begriffenes, Nicht-Fertiges aufgefasst ist, das gerade und trotz dieser Unbestimmtheit und Offenheit der Entwicklung im Zusammenhang des Ganzen zentral für die Gesamtbewegung ist. Wie es in der Phänomenologie heißt: „Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.“ Und weiter: Es ist „wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein.“ (Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. 3, S. 24)

Das Subjekt der Befreiung liegt daher in diesem Sinn nicht fertig vor. Seine Wirklichkeit und Erfahrungen sind vielmehr notwendig widersprüchlich und erst in Bildung begriffen. Die dekonstruktivistische Kritik am „Essentialismus“ beraubt das Subjekt gerade um das, was Voraussetzung seines Werdens als Geschichtssubjekt ist – seine Kollektivität, seinen Massencharakter –, während letztlich jede Form von Identitätspolitik verkennt, dass sich das Subjekt überhaupt erst herausbilden muss.

Genau diesen Punkt greift der Marxismus auf, wenn er von der Entwicklung der Klasse an sich zu einer für sich spricht. Als eine Klasse für sich bildet sich die ArbeiterInnenklasse jedoch nur als revolutionäre, wenn sie sich als Geschichtssubjekt der Umwälzung und Errichtung einer neuen Gesellschaftsordnung konstituiert, also die Bedingungen schafft für das Abstreifen aller reaktionären, rückschrittlichen Seins- und Bewusstseinselemente sowie ihrer Aufhebung als Klasse, ihr Aufgehen in einer vom Joch der Klassenherrschaft befreiten Menschheit. Das Ziel der revolutionären Bewegung der ArbeiterInnenschaft besteht schließlich nicht in der nachrevolutionären Verewigung als nun herrschende Klasse, sondern in der Überwindung der Klassenspaltung selbst und dem Schaffen einer klassenlosen Gesellschaft, in der erst die Menschen endgültig das Erbe ihrer Erniedrigung, Versklavung, Vereinseitigung abgeschafft haben werden.

Wurzeln der Identitätspolitik unter Unterdrückten

Abschließend wollen wir noch einige wesentliche Schlussfolgerungen unserer Betrachtung und Kritik zusammenfassen:

Erstens muss eine marxistische Kritik der linken Identitätspolitik verstehen, warum diese ideologisch so prägend werden konnte. Dies liegt zu einem guten Teil auch an den traditionell vorherrschenden Strömungen und Ideologien in der ArbeiterInnenklasse. Stalinismus, Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbürokratie negieren letztlich die subjektiven Erfahrungen der Lohnabhängigen als handelnde Subjekte. Daher machen viele Unterdrückte, darunter auch sozial unterdrückte Teile der ArbeiterInnenklasse mit den verkrusteten, verbürokratisierten und reformistischen Führungen die Erfahrung, dass ihre Unterdrückung, ihre verstärkte Ausbeutung auch von der ArbeiterInnenbewegung nicht ernst genommen wird. Sie werden – oft nicht viel anders als in der bürgerlichen Gesellschaft – auf einen „späteren“ Zeitpunkt vertröstet, weil jetzt angeblich Wichtigeres auf der Tagesordnung stünde. Sie werden paternalistisch-wohlwollend behandelt, als Objekt, um das man sich schon kümmern würde. Ihre Subjektivität, zumal eine aktive, rebellische, gilt als suspekt. Die Tatsache, dass die ArbeiterInnenbürokratie auch alle anderen Teile der Klasse passiv und unter Kontrolle hält, kann darüber nicht hinwegtrösten.

Im Gegenteil: Die ArbeiterInnenbürokratie stützt sich in der Regel auf die relativ privilegierten Lohnabhängigen in den imperialistischen Ländern, auf die ArbeiterInnenaristokratie, die ihrerseits oft männlich, weiß, heterosexuell geprägt ist. Natürlich sind auch deren Bewusstseinsformen oft von reaktionären Ideologien – Chauvinismus, Sexismus, teilweise sogar Rassismus – geprägt. Die vorherrschende Politik der Gewerkschaften und reformistischen Parteien, sich auf rein ökonomische Kämpfe bzw. Wahlkämpfe und Sozialreform zu beschränken, bedeutet, dass der gesellschaftlich vorherrschende Bewusstseinszustand der Klasse nicht nur in Kauf genommen wird. Oft stützen sich gewerkschaftliche Apparate und reformistische Parteien direkt auf diese Formen. Im schlimmsten Fall verhalten sie sich gegenüber Kämpfen der Unterdrückten passiv oder vertreten Formen von Chauvinismus, Nationalismus, Rassismus, Sexismus, Homo- und Transphobie, wie sie auch im bürgerlichen Mainstream vorherrschen.

Daher erfordert eine politische Auseinandersetzung mit Identitätspolitik in fortschrittlichen Bewegungen einen unversöhnlichen Kampf gegen alle Formen repressiver, unterdrückerischer Politik in der ArbeiterInnenbewegung selbst. Nur so werden die besten KämpferInnen von den inneren Grenzen und der Notwendigkeit des Bruchs mit der Identitätspolitik überzeugt werden können. Nur so werden sie überzeugt werden können, dass die marxistische Kritik am bürgerlichen Charakter dieser Ideologie nichts mit einer passiven Haltung zu ihrer Unterdrückung und ihren persönlichen und kollektiven Erfahrungen zu tun hat.

Im Gegenteil, RevolutionärInnen müssen dafür kämpfen, dass diese gehört werden, diese Kraft Eingang in den Kampf findet. Eine Erscheinungsform jeder sozialen Unterdrückung wie auch der kapitalistischen Ausbeutung besteht schließlich tatsächlich darin, dass ihre Erfahrungen (und noch vielmehr spontane Formen von Rebellion, Aufbegehren und Widerstand) in dieser Gesellschaft marginalisiert werden.

Der Marxismus erkennt an, dass Subjektwerdung der Klasse auch eine viel breitere, umfassende Artikulation der Erfahrungen mit Ausbeutung und Unterdrückung beinhaltet. Die ArbeiterInnenkorrespondenzen in den Zeitungen der Zweiten und Dritten Internationale verdeutlichten auch, wie wichtig diese für die Formierung einer kämpfenden Bewegung und den kollektiven Austausch waren. Die Betonung dieser Erfahrung in der Identitätspolitik inkludiert somit ein richtiges Moment, das die ArbeiterInnenbewegung insgesamt – und zwar nicht nur hinsichtlich der Erfahrung von Lohnabhängigen, sondern aller Unterdrückten forcieren muss.

Zweitens muss die ArbeiterInnenbewegung alle fortschrittlichen Kämpfe von gesellschaftlich Unterdrückten, sei es gegen die UnternehmerInnen, den Staat oder die Rechten, sei es gegen imperialistische Ausbeutung und Besatzung, ohne Wenn und Aber unterstützen. Dass die Identitätspolitik bei vielen Auseinandersetzungen und Bewegungen eine bedeutende, wenn nicht sogar vorherrschende Ideologie spielen mag, ändert daran nichts. Es geht schließlich nicht darum, eine falsche politische Konzeption zu unterstützen, sondern die legitime Gegenwehr. Wenn die ArbeiterInnenbewegung und vor allem deren revolutionärer Flügel wirklich zeigen will, dass sie jedes Aufbegehren gegen Unterdrückung als integralen Bestandteil des Klassenkampfes um eine andere, sozialistische Gesellschaft begreift, so muss sie dies z. B. den AktivistInnen der Frauenbewegung, in antirassistischen Kämpfen, Geflüchteten, sexuell Unterdrückten auch praktisch zeigen.

Kritik der Identitätspolitik

Diese praktische Politik muss aber einhergehen mit eine unversöhnlichen Kritik der Identitätspolitik selbst. Diese geht letztlich von einem bürgerlichen Verständnis der Subjektbildung aus. Im Grunde betrachtet sie das Individuum oder Identität und damit Bewusstsein nicht als gesellschaftliches, geschichtliches, veränderbares Produkt.

Entweder tut sie das in der kruden Form, dass aus der eigenen Erfahrung/Empfindung unmittelbar auf die Richtigkeit der gesellschaftlichen Einschätzung Rückschluss gezogen wird (Teile des Feminismus, Antikolonialismus, Ökonomismus) oder diese Politik wird komplexer gedacht und begründet. So wird anerkannt, dass auch das Bewusstsein der Unterdrückten „entstellt“, vom Unterdrückungsverhältnis geprägt sein kann. Aber statt den widersprüchlichen Charakter der persönlichen und kollektiven Erfahrung selbst zu begreifen, wird auf eine eigentliche, aber dahinter liegende, weniger unmittelbare Erfahrung rekurriert, die gewissermaßen nur freigelegt werden müsse, oder es wird eine gewisse Relativierung wie im Intersektionalismus vorgenommen, wenn verschiedene Erfahrungen gegeneinander abgewogen werden.

Auch wenn die eigene bzw. kollektive Erfahrung für den Kampf gegen Ausbeutung oder Unterdrückung einen unerlässlichen Ausgangspunkt für Handeln, Rebellion, Infragestellung scheinbarer Selbstverständlichkeiten darstellt, so kann aus ihr selbst heraus sicher nie die Richtigkeit einer Analyse, eines Verständnisses des Gesamtzusammenhangs hergeleitet werden.

Im Gegenteil, im Kapitalismus kann, ja wird bei den Unterdrückten notwendig und spontan ein falsches Verständnis reproduziert werden. Das tut z. B. der bürgerliche Feminismus, indem er die Frauenunterdrückung auf eine Gleichheitsfrage reduziert; das tut der Nationalismus von Befreiungsbewegungen, denn der Nationalismus ist auch dann noch eine bürgerliche Ideologie; das tut der Ökonomismus, indem er ArbeiterInnenpolitik als Verlängerung des nur-gewerkschaftlichen Klassenkampfes betrachtet.

Für den Marxismus stellt der Mensch hingegen ein „Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse“ dar. D. h. die Individualität, auch die Identität der Einzelnen z. B. ist selbst ein historisches Produkt.

Damit ist nicht nur gemeint, dass wir in eine bestimmte Welt mit bestimmten Möglichkeiten hineingeboren worden sind. Bestimmte Klassengesellschaften bringen auch verschiedene Klassenindividuen hervor und je nach Typus spezifische objektive Gedanken- und Bewusstseinsformen, damit auch bestimmte Formen der Identität.

Aber die Identität stellt sich im Kapitalismus spezifisch dar. Und zwar selbst in doppelter Weise als bürgerliches  (WarenbesitzerIn) und Klassenindividuum (Klasse an sich).

Das Bewusstsein, bestimmte Bewusstseinsformen der Individuen sind schon in der Form davon geprägt, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihnen verschleiert werden, verkehrt erscheinen oder überhaupt ihr Wesen verschwindet – und zwar mit Notwendigkeit. So z. B. in der Lohnform – und das hat auch Auswirkungen auf die Frage der Hausarbeit, privaten Arbeit, damit auch des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern.

D. h. die Identität der Ausgebeuteten und Unterdrückten ist nicht einfach nur in dem Sinne „geformt“, dass sie z. B. herrschaftskonforme Stereotypen nachvollziehen (z. B. Gehorsam, moralische Werte, Geschlechternormen), sondern auch in dem, dass ihre spontanen moralischen Ziele (Gleichheit, Gerechtigkeit, …) selbst ideologische Formen darstellen und eine dem System selbst entsprechende, wenn auch widersprüchliche Identität gebildet wird. Diese enthält bewusste und unbewusste Komponenten und auch in sich widersprüchliche Momente – nicht zuletzt weil auch die Gesellschaft, deren subjektive Reflexion sie darstellt, widersprüchlich ist.

Eine nicht gesellschaftsbezogene Betrachtung führt das dazu, dass die Ungleichheit von Mann und Frau in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung als Effekt biologischer „natürlicher“ Unterschiede erscheint oder als Auswirkung eines Diskurses, Narrativs betrachtet wird.

Dieser Biologismus sitzt ebenso wie Identitätspolitik und Queerfeminismus gesellschaftlichen Oberflächenphänomen auf. Er nimmt die Identität (oder im Fall des Letzteren den Diskurs), also eine bewusstseinsmäßige Widerspiegelung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zum Ausgangspunkt, nicht die materiellen, alltäglichen Grundlagen der Gesellschaft: die herrschenden Produktionsverhältnisse.

Wenn aber die gesellschaftlichen Verhältnisse (Ausbeutung, Unterdrückung) nur vermittelt, ideologisiert im Bewusstsein und in Rollen„zuweisungen“ erscheinen können, so kann auch nicht aus der eigenen Erfahrung unmittelbar auf die Wurzeln oder die gesellschaftliche Bedeutung der eigenen Unterdrückung/Ausbeutung geschlossen werden.

Das Verhältnis von kapitalistischer Ausbeutung zu Frauenunterdrückung lässt sich aus der unmittelbaren Erfahrung nicht ableiten. So stellt das Kapitalverhältnis (und damit die Ausbeutung der Lohnarbeit) das grundlegende gesellschaftliche dar. Das bedeutet jedoch keineswegs immer, dass die Lebenslage der ArbeiterInnenklasse am schlechtesten wäre. In etlichen Ländern oder ganzen Perioden kann die der Kleinbauern/-bäuerinnen und Landlosen deutlich schlechter sein. Nichtsdestotrotz vermögen diese keine konsequent revolutionäre Kraft zu konstituieren aufgrund ihrer gesellschaftlichen Lage als, wenn auch in Auflösung begriffener, Teile des KleinbürgerInnentums.

Auch der Unterschied zwischen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnis lässt sich nicht aus der Erfahrung erkennen und verstehen, lässt sich nicht aus der Identität der Ausgebeuteten oder Unterdrückten herleiten, weil die Identität selbst objektiv gesellschaftlich geprägt ist, also „funktionale“ unterm Kapitalismus spezifische objektive Bewusstseinsformen, Fetischformen (nicht nur im Sinn von falschen Zuschreibungen) hervorbringt.

Identitätspolitik geht nicht vom Menschen als „Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse“ aus, sondern vom Individuum. Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden nicht als konstitutiv eingeführt, sondern bei der Analyse erst nachträglich (z. B. in Form von Kritik an Privilegien, diskursiven Zuschreibungen usw.) hinzugefügt und auch dann in der Regel auf der Ebene von Verteilungsverhältnissen, nicht des ihnen zugrundeliegenden kapitalistischen Produktionsverhältnisses und eines Verständnisses der Totalität der bürgerlichen Gesellschaftsformation.

Damit werden zwar reale Erscheinungsformen zur Kenntnis genommen und betont, aber auf einer falschen methodischen Grundlage, in der z. B. Klassenverhältnisse nur als ein weiteres Attribut von Diskriminierung und (autoritärer) Herrschaft erscheinen, nicht als grundlegendes Ausbeutungsverhältnis.

Daher kann ein Programm auf Basis der Identitätspolitik bestenfalls eklektisch sein, nicht revolutionär.

Daher muss der Marxismus Identitätspolitik grundsätzlich und in jeder Form ablehnen, insbesondere  auch die Vorstellung, Klassenpolitik als eine Form der Identitätspolitik zu begreifen. Das würde bedeuten, Marxismus auf Ökonomismus zu reduzieren.

Die Ablehnung der Identitätspolitik bedeutet dabei nicht, die Wichtigkeit eigener Erfahrung und der Bedeutung kollektiver Identität abzulehnen. Im Gegenteil: Deren Betonung stellt ein wichtiges Element revolutionärer Politik dar. Aber diese kann nicht spontan zu revolutionärer Politik führen. Revolutionäres Klassenbewusstsein erfordert vielmehr eine Verbindung kollektiver Erfahrung mit dem Marxismus. Dies wiederum bedeutet den Aufbau einer revolutionären Partei und Internationale, eines internationalen Kampfverbandes der entschlossensten und bewusstesten Teile der ArbeiterInnenklasse und aller Unterdrückten auf der Basis eines Programms, dem eine wissenschaftlich fundierte Verallgemeinerung geschichtlicher Erfahrung zugrunde liegt.




Luisa, Carola und das Recht der KapitalistInnen

Robert Teller, Infomail 1133, 2. Januar 2021

„Wer hat die Macht, Verträge zu brechen?“ – diese Frage stellen Luisa Neubauer und Carola Rackete im Spiegel und beantworten sie auf ihre Weise.

Marx schreibt im Kapital zum Kampf um die Länge des Arbeitstages: „Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt“. Sichtbar wurde diese Wahrheit neuerdings im Dannenröder Wald. Den BesetzerInnen wurde in Verkennung, ja Umkehrung der Realität weithin Gewalt (laut Duden die „Macht, Befugnis, das Recht und die Mittel, über jemanden, etwas zu bestimmen, zu herrschen“) vorgeworfen. In Wirklichkeit fand diese aber leider von Seiten des bürgerlichen Staates in Wahrnehmung der Interessen des rechtsausübenden Bauunternehmens statt. Luisa und Carola stellen fest, dass hier das Pariser Klimaabkommen gegen das Baurecht von STRABAG steht.

STRABAG beansprucht, den Bau der A49 durchzuführen, wozu die Firma nicht nur berechtigt, sondern auch beauftragt ist. STRABAG beruft sich also darauf, ihr Recht mithilfe der Staatsgewalt durchzusetzen.

Systemfrage?

Die 196 Unterzeichnerstaaten (alle außer dem Vatikanstaat und den USA) bekennen dagegen, die Erderwärmung auf 1,5 °C begrenzen zu wollen, zumindest aber auf 2 °C. 196 Staaten haben zwar auch Recht, aber niemand kann dieses so recht durchsetzen. Aus Recht haben folgt nicht Recht bekommen. Mit diesem Verweis versetzen die Autorinnen jenen einen verdienten Schlag in die rechte Magengrube, die das Recht für sich allein beanspruchen. Aber sie beschränken sich natürlich nicht auf die richtige, wenn auch wenig originelle Erkenntnis, dass sich hinter dem Recht Beanspruchen immer auch gesellschaftliche Interessen verbergen. Luisa und Carola versuchen den Brückenschlag zur „Systemfrage“, womit aber nur die Frage des Rechtssystems gemeint ist:

„Menschen haben ein juristisches System geschaffen, das uns geradewegs in eine Heißzeit hinein legalisiert. Nicht zu vergessen, dass diese Gesetze auf einem Planeten geschrieben wurden, der ökologisch schon nicht mehr vergleichbar ist mit dem, auf dem wir heute leben.“

Doch worin besteht eigentlich die Systemfrage für Luisa und Carola:

„Was wir aber mit Systemwandel meinen, ist erst mal nichts anderes als die banale, rationale, ja bescheidene Feststellung: So geht es nicht weiter. Wir stehen vor einem Komplex an Krisen, nicht zuletzt auch an Krisen von Gerechtigkeit und Mitspracherecht.“

Die Systemfrage werde durch die Natur selbst gestellt. Die von Menschen geschaffenen Systeme haben uns – sozusagen unverschuldet – in eine Lage gebracht, in der Mensch und Natur sich feindlich gegenüberstehen. Nichtstun sei tödlich, Baumbesetzung insofern legitim. Luisa und Carola erklären die BesetzerInnen zu bloßen VollstreckerInnen der „Radikalität der Wirklichkeit“ – respektable und moralisch korrekte Kinder ihrer Zeit, ÜberbringerInnen unwillkommener Wahrheiten, nicht aber Subjekte, die bewusst für politische Veränderungen kämpfen und sich hierfür auch bewusst für ein Programm, für Ziele und Taktiken entscheiden müssen.

Die Interpretation, dass es sich bei den BesetzerInnen um aufrechte Naivlinge handelt, die aber zu weit gingen und/oder dass die Grünen ihren politischen Offenbarungseid leisten würden, dass sie den Status quo bewahren und nicht infrage stellen, bringen sie zwar ins Spiel. Ihr Bild, das die Grünen als Kraft präsentiert, die „ein Gleichgewicht zwischen politischem Kompromiss und physikalischen Tatsachen“ anstreben würden, bleibt letztlich Randnotiz im Beitrag. Auch, was das politische Ziel der Waldbesetzung ist oder sein soll – diese Frage wird von den Autorinnen nicht aufgeworfen.

Auch wenn Luisa und Carola immer wieder auf die „Systemkrise“ verweisen, so bleibt doch unbestimmt und unklar, was eigentlich unter dem System zu verstehen ist.

Dabei betrachtet ein großer Teil der BesetzerInnen den Kampf im Danni tatsächlich als Kristallisationspunkt der Systemfrage – der Infragestellung der Verfügungsgewalt von klimaschädlichen Unternehmen über ihr Eigentum, wozu die Produktionsstätten schicker Verbrenner- oder Elektroautos ebenso gehören wie der Wald, unter dem Kohle lagert oder an dessen Stelle in Zukunft LKWs fahren sollen.

Luisa und Carola solidarisieren sich mit diesen Aktionen, in denen sie die Verteidigung einer zukünftigen, rationalen Lösung gegen die herrschende Unvernunft und Irrationalität erblicken.

„Während das Irrationale regiert, werden so diejenigen, die heute im Wald sind und das Ende der ökologischen Zerstörung einfordern, zu den Vernünftigsten von allen. Sie haben nicht nur begriffen, dass es so nicht weitergehen kann, sie haben auch begriffen, dass es so lange so weitergeht, solange sie keinen Widerstand leisten. Solange niemand interveniert und die Systeme zum Anhalten bringt, so lange wird die Zerstörung weitergehen.“

Diese empathische Solidarisierung kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass unklar bleibt, worin eigentlich die systemische Ursache besteht, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der (rechtliche) Systeme, die „wir“ geschaffen haben, „gegen uns arbeiten.“

Das K-Wort, der Bezug auf die kapitalistische Produktionsweise und ihre inneren Gesetzmäßigkeiten will Luisa und Carola nicht über die Lippen kommen. Der Kapitalismus findet im Spiegel-Artikel keine Erwähnung. Somit müssen aber auch der Charakter des Systems und die eigentlichen Ursachen der Krise im Dunklen bleiben – und das gesellschaftliche Problem erscheint als Gerechtigkeitsfrage, genauer als Rechtsfrage.

Zu fordern, dass in Zukunft das Pariser Abkommen in der Rechtsprechung über Bauprojekte zu berücksichtigen ist, ist nur insofern eine Systemfrage, als dass sie letztlich im System verhaftet bleibt. Nicht der Zweck der derzeitigen kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse (die Anhäufung privaten Reichtums) geraten bei Luisa und Carola in Konflikt mit den natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit, sondern der Überbau der kapitalistischen Gesellschaft (konkret das Rechtssystem) stehe in einem Widerspruch zu einem angeblich gesamtgesellschaftlichen Ziel, Wohlstand und Wohlergehen nachhaltig zu fördern. Der Überbau müsse angepasst werden, damit das System wieder funktioniere.

Dabei wäre gerade Aufklärung über die Beziehung zwischen ökonomischer Basis und politischem und rechtlichem Überbau der Gesellschaft nötig, um zu verstehen, welches System, welches Klasseninteresse hinter dem „Irrationalismus“ der bestehenden Rechtsordnung steckt. Wie derselbe Marx schrieb: „Das Recht kann nie höher stehen als die ökonomische Gestaltung der Gesellschaft selbst.“

Radikaler Flügel

Die BesetzerInnenbewegung im Danni ist ein Sammelpunkt für AktivistInnen, die Klimakämpfe mit radikaleren Mitteln und einem grundlegenderen Anspruch führen wollen, die wenig Hoffnungen in einen Green New Deal hegen, die diesen Kampf als Teil eines „großen Ganzen“ sehen, gegen Kapitalismus, Sexismus, Rassismus, gegen globale Ungleichheit und mehr. Diese Strömung innerhalb der Klimabewegung ist in den vergangenen zwei Jahren gewachsen.

Aber sie kann die Hegemonie des rechteren, bürgerlichen, grünlastigen Flügels, für den auf jeden Fall auch Luisa Neubauer steht, insbesondere bei Fridays for Future nicht herausfordern, solange sie nicht auch eine bewusste politische Auseinandersetzung um Methoden und politische Ziele der Bewegung gegen den bürgerlichen Flügel führt. Dazu braucht der radikalere Flügel freilich auch eine marxistische Kritik am Kapitalismus und nicht bloß radikalere, kleinbürgerliche „Visionen“ einer anderen Gesellschaft, die letztlich von der Systemkritik einer Luisa und Carola nicht so weit entfernt sind.

Utopien können charmant und motivierend sein, aber am Ende haben uns die Bullen wieder aus den Träumen gerissen. Wir brauchen jetzt einen Plan, wie es für die Bewegung weiter geht. Wir müssen uns bewusst werden, worum es in den kommenden Kämpfen gehen wird, für welche Ziele wir dort kämpfen werden, mit welchen Methoden und mit welchen BündnispartnerInnen. Wo geht es Richtung „System Change“? Was sind die nächsten Schritte? Die Bewegung braucht ein politisches Programm, das erklärt, wie denn tatsächlich diese eine Demo, dieser eine Klimastreik oder diese Baumbesetzung ein Schritt zum „System Change“ werden kann – nicht nur in der Vorstellung der jetzt beteiligten AktivistInnen, sondern auch in den Kämpfen aller anderen, die von der Krisenhaftigkeit des Systems auf andere Weise betroffen sind. Sonst wird „System Change“ eine geschmeidige Phrase ohne Inhalt, hinter der sich auch diejenigen verstecken können, die wenig Systemsprengendes im Sinn haben.

Programm und Klassenfrage

Der bürgerliche Flügel hat ein Programm – und es beruht auf der Vorstellung, dass bei allen gesellschaftlichen Klassen in Bezug auf die Klimafrage eine grundsätzliche Interessengleichheit besteht oder zumindest möglich wäre. Diese Vorstellung versteckt sich hinter der Floskel, dass die konkrete Umsetzung der Klima-Kehrtwende nur eine „politische Gestaltungsfrage“ sei, dass es darauf ankommt, die wissenschaftliche Realität anzuerkennen, dass es jetzt „Leaders“ braucht, die Ernst machen und mutig vorangehen. Solange nicht gesagt wird, welche „Leaders“ das sein sollen, wie der gesellschaftliche Charakter der notwendigen, fundamentalen Transformation von klimaschädlichen Produktions- und Transporttechnologien beschaffen sein soll, kann das nur ein Appell an die bestehenden „Leaders“ sein, an bürgerliche Parteien und Regierungen.

Die Aufgabe der Klimabewegung reduziert sich darauf, ein neues „Narrativ“, einen „gesellschaftlichen Konsens“ zu etablieren, der anerkennt, dass die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen nicht nur unsere Zukunft im Allgemeinen aufs Spiel setzt, dass sie sozial und auch global höchst ungerecht ist, sondern dass sie im Speziellen auch die Voraussetzungen für die Kapitalverwertung untergräbt, also „gesamtgesellschaftlich“ irrational ist. Diese Strategie ist utopisch, weil sie unterstellt, dass Politik unter kapitalistischen Verhältnissen auch anders, nämlich „gesamtgesellschaftlich rational“ sein könne. Doch wie rational ist ein System, wo etwa das Überleben von Millionen von einem Impfstoff abhängt, und dann wird ein „Wettrennen“ um den Impfstoff ausgerufen, d. h. die (kollektive) Überlebensfrage muss sich einem gesellschaftlichen Verhältnis unterordnen, der kapitalistischen Konkurrenz? Wie rational ist es, dass das pharmazeutische Know-how unter Verschluss bleibt und die Länder des „globalen Südens“ absehbar nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung werden impfen können?

Wir wählen dieses Beispiel, weil die Pandemie-Politik in Teilen der Klimabewegung als erfolgreiche Krisenbewältigung gefeiert wird. Wie erfolgreich diese ist, hängt eben immer noch davon ab, welche Kriterien man gelten lässt, also von einem gesellschaftlichen Standpunkt. Ebenso die Klimafrage: Sie ist zweifellos eine „Menschheitsfrage“, aber das heißt nicht, dass alle Menschen gleichermaßen und unabhängig von ihrem Klassenstandpunkt dazu berufen sind, dafür eine Lösung zu finden. Es kann keinen echten Klimaschutz geben, der die Profitinteressen der großen ProfiteurInnen im Energie- und Transportsektor unangetastet lässt. Das möglichst rasche Erreichen der Klimaneutralität ist nur mit einem massiven Angriff auf das Eigentumsrecht, d. h. deren Privateigentum, realisierbar, durch zwangsweise Abschaltung von Verbrennungskraftwerken, erzwungenen Bau klimafreundlicher Alternativen und Umstellung der industriellen Produktion weg vom Individualverkehr auf kollektive Reorganisation des Güter- und Personenverkehrs hin.

Wenn man sagt, „es gibt keinen grünen Kapitalismus“, dann ist das nicht einfach ein abstraktes Bekenntnis, sondern es bedeutet auch: unter kapitalistischen Bedingungen – unter denen wir aktuell kämpfen – gibt es keinen wirklichen Klimaschutz, der nicht in Konflikt mit Kapitalinteressen gerät. Er kann dem Kapital abgerungen werden, aber Errungenschaften stehen zur Disposition, wenn sich das Kräfteverhältnis der Klassen ändert. Die Klimafrage ist eine Klassenfrage, nicht eine von Moral oder Einsicht. Deshalb ist sie eine Systemfrage.

Die Systemfrage nicht nur „stellen“, sondern auch beantworten

Konkret bedeutet das: Wie können wir die Klimafrage verbinden mit sozialen Kämpfen von Belegschaften, die ebenfalls, aber anders, von kapitalistischer Krise betroffen sind, denen die „Klimakrise“ sogar als Rechtfertigung für Angriffe auf ihre eigenen Rechte präsentiert wird? Wie können wir sie verknüpfen mit sozialen und demokratischen Bewegungen im „globalen Süden“, wo politische und ökonomische und zunehmend eben auch klimatische Verhältnisse von den Interessen der Kapitale in den imperialistischen Zentren bestimmt werden? Und wie können wir auch politischen Druck entfalten, Wahlkämpfe als politisches Podium nutzen?

Luisa (und andere) rufen gerne dazu auf, „die Richtigen“ zu wählen, und es muss gar nicht extra gesagt werden, wer diese sind. Dieses verlegene Ausweichen vor der politischen Debatte (unter dem Deckmantel der „Überparteilichkeit“) verhindert aber, dass wir als Bewegung konkrete Kampfziele entwickeln, aus denen sich Taktiken, Bündnisse und Aktionsformen ableiten lassen würden, die die Ebene des bloß symbolischen Protests verlassen.

Konkret müssen wir unter den Belegschaften, die beim Bau der Straße oder beim Betrieb der Kraftwerke und Kohlegruben auch noch von Unternehmensführungen (und oft auch reformistischen GewerkschaftsführerInnen) als politisches Schild gegen die Klimabewegung ins Feld geführt werden, für unsere Ziele werben. Wir müssen die Gewerkschaften auffordern, den Protest zu unterstützen und zu verbinden mit dem Kampf gegen jede Entlassung – bei RWE, Daimler und anderen KlimazerstörungsprofiteurInnen. Wir müssen die Bahnbeschäftigten gewinnen, sich unserem Kampf anzuschließen, und zugleich für den massiven Ausbau der Infrastruktur, Einstellung von Personal zu Tariflöhnen und die Verstaatlichung des gesamten Transportsektors eintreten. Wir müssen unsere Ziele so konkret wie möglich formulieren, um greifbar zu machen, wo das Problem mit diesem „System“ liegt und wie wir es ändern können.

Also: Als Linke in der Klimabewegung müssen wir die Losung „System Change“ mit politischem Inhalt füllen. Ansonsten wird die „Systemfrage“ wenig mehr sein als die nur scheinbar radikale Begleitmusik zur bürgerlichen Politik einer Luisa Neubauer.




China als Modell?

Das isw Müncheni und der chinesische Imperialismus

Alex Zora, Revolutionärer Marxismus 53, November 2020

Der Aufstieg Chinas in den letzten vier Jahrzehnten dürfte kaum jemanden entgangen sein. Ausgehend von den Reformen unter Deng Xiaoping hat in China in den vier Jahrzehnten seit 1978 eine riesige gesellschaftliche Umwälzung stattgefunden. Es ist nicht nur die weltweit größte industrielle ArbeiterInnenklasse aus hunderten Millionen ehemaligen Bauern und Bäuerinnen entstanden, sondern China hat es auch geschafft, zu einer ernsthaften Konkurrenz zu den USA aufzusteigen. Grund genug, China und seine „sozialistischen Marktwirtschaft“, wie die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) die wirtschaftlichen Verhältnisse im Land gerne bezeichnet, zu untersuchen. Diese Erkenntnis hat sich auch im eurokommunistisch geprägten Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung in München (isw) durchgesetzt, und in den letzten 10 Jahren gab es mehrere Ausgaben ihres mehrmals jährlich erscheinenden Reports, die sich China bzw. dem Konflikt China-USA widmeten, mit deren Analysen wir uns im folgenden Beitrag beschäftigen wollen. Sie stehen auch weitgehend im Einklang – wenn auch in unterschiedlichen Abstufungen und Schattierungen – mit den Einschätzungen, die auch rund um die europäische Linkspartei, das Netzwerk „transform! Europe“ oder die deutsche Rosa-Luxemburg-Stiftung weit verbreitet sind.

Neuer Kalter Krieg?

Schon unter Präsident Obama wurde der Dreh- und Angelpunkt der US-Außenpolitik (pivot to asia) auf Asien gelegt. Durch China ausschließende Freihandelsabkommen wie TPP sollte es ökonomisch und politisch isoliert und im Rahmen der „regelbasierte internationalen Ordnung“, die in erster Linie von den USA etabliert wurde, bekämpft werden.

Seit der Wahl von Donald Trump war klar, dass sich in der herrschenden Klasse der USA die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass China längst zum wichtigsten strategischen Gegner aufgestiegen war und mit einseitigen Maßnahmen der USA bekämpft werden müsse – auch ohne Verbündete, wenn nötig. Trumps China-Politik ist indikativ dafür, dass sich ein immer größerer Teil der US-Bourgeoisie nicht mehr auf die Mechanismen der internationalen Freihandelsordnung verlässt. Mit dem Beitritt Chinas zur WTO hatte man sich seine Durchdringung mit US- und, in geringerem Maße, auch europäischem Kapital erhofft, um es in eine untergeordnete neokoloniale Rolle herabzudrücken. Die Erfahrung seit 2001 zeigte aber, dass sich China in den letzten zwei Jahrzehnten nicht stärker in eine Abhängigkeit der traditionellen imperialistischen Metropolen begeben, sondern – insbesondere durch die Wirtschaftskrise 2008/09 – sich eine deutlich eigenständigere und unabhängigere Rolle verschafft hat.

Statt den Strategien der Obama Ära hat sich also in den letzten Jahren die Meinung in der US-Bourgeoisie durchgesetzt, dass man sich gegenüber China mit allen Mitteln verteidigen müsste. Wichtige VertreterInnen beider Parteien der US-Bourgeoisie heißen Trumps Strafzölle gegen China gut. Immer wieder sprach insbesondere der demokratische Minderheitsfraktionsführer im Senat, Charles Ellis „Chuck“ Schumer, Präsident Trump in seinem Kurs gegenüber China die Unterstützung zu. Durchaus beachtlich, da die Demokratische Partei Trumps erratischen Kurs in der Außenpolitik als einen ihrer Hauptangriffspunkte betrachtet.

Trumps Handelskrieg, der mit Strafzöllen auf Stahl und Aluminium im März 2018 begann, war ein Bestandteil der strategischen Auseinandersetzung zwischen den USA und China. Zwar wurde Anfang dieses Jahres in einem ersten Teil eines Handelsabkommen die Eskalation der Zölle erst einmal gestoppt, die schon bestehenden sollen aber bis zum Abschluss eines zweiten Teils nicht aufgehoben werden. Die Entwicklung rund um die Covid-Pandemie hat aber den Konflikt zwischen China und den USA in anderen Bereichen wieder eskalieren lassen. Auf der einen Seite bezeichnete Trump das Coronavirus auch gerne als „Chinavirus“ und schob China die Schuld an der globalen Epidemie zu. Der Konflikt, der sich auch im Rahmen der Weltgesundheitsorganisation WHO abspielte, nahm in den letzten Monaten weit gefächerte Formen an. Schon mit Beginn der weiten Ausbreitung von Covid-19 in den USA begann Trump, der WHO die Schuld für die Pandemie zuzuschieben. Im April kündigte er die Kürzung der US-amerikanischen WHO-Beiträge um 50 % an. Und nachdem die USA eine entscheidende Abstimmung über eine von der EU eingebrachte und von China mitgetragene Resolution bei der Weltgesundheitsversammlung im Mai diesen Jahres verlor, kündigte die Trump-Regierung dann den Rückzug der USA aus der WHO 2021 an. Grund dafür sei, dass die WHO von den USA geforderte „Reformvorschläge“ nicht vollziehen würde.

Einen neuen Höhepunkt der Eskalation erreichte die Auseinandersetzung zwischen den USA und China, als im Juli die USA das Konsulat Chinas in Houston (Texas) schließen ließen. Chinas Konter, die Schließung des US-Konsulats in Chengdu (Südwestchina), folgte kurze Zeit später. Die USA hatten den Vorwurf erhoben, dass das Konsulat in Houston ein wichtiger Bestandteil des chinesischen Spionagenetzwerks in den USA gewesen sei.

Der Konflikt, der sich hier zwischen China und den USA abspielt, ist aber kein Produkt von Trumps Psyche und wird sich auch nicht so schnell durch einen Wechsel an der Spitze der USA ändern. Es ist zwar zu vermuten, dass sich eine Regierung der demokratischen Partei unter Joe Biden wohl verstärkt darauf fokussieren würde, gemeinsam mit der Europäischen Union China zu isolieren, aber die grundlegenden bestehenden Widersprüche sind ökonomischer Natur. China und die USA werden in den nächsten Jahren klären müssen, wer die ökonomische und politische Vorherrschaft behalten bzw. erlangen wird. China will bis 2049 (1949 wurde die Volksrepublik gegründet) zur globalen Supermacht aufsteigen – ökonomisch, politisch und militärisch.

Das isw und der Konflikt China – USA

In seinen Publikationen wird der Konflikt zwischen China und den USA ausführlich diskutiert. Positiv fällt hier vor allem auf, dass das isw nicht in die klassisch liberale Deutung des Konflikts als eines zwischen dem demokratisch Westen und dem despotischen China verfällt. Doch für eine sich dem Marxismus zuordnende Publikation reicht diese Erkenntnis noch nicht aus.

Dagegen [gegenüber der militarisierten Globalisierung des Westens] praktiziert China die Globalisierung anders. Sie soll „gerecht und inklusiv“ sein und ohne militärische Begleitung.ii

Richtigerweise kreidet das isw die scheinheilige Verwendung von Menschenrechten als politische Waffe des westlichen Imperialismus an, aber wenn es um die Politik der chinesischen Führung geht, wird diese kaum hinterfragt. Dabei sollte zentraler Ausgangspunkt für die Beurteilung des Konfliktes zwischen China und den USA die grundlegende Betrachtung der Rolle der beiden Kräfte im kapitalistischen Weltsystem sein. Der politische Ausdruck des ökonomischen Konflikts ist nicht in erster Linie daran zu messen, welche der beiden Seiten den ersten Stein geworfen hat oder die aggressivere Politik verfolgt, sondern an ihrem Klassencharakter und ihrer Stellung auf dem Weltmarkt. Beide Länder sind kapitalistische, ja imperialistische Großmächte.

Dem isw geht es aber eben nicht vorab demzufolge darum, Liebknechts berühmtem Leitsatz „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ Rechnung zu tragen, sondern in erster Linie werden die USA als Hauptfeind ausgemacht. Denn die europäischen Imperialismen werden in erster Linie als ZuträgerInnen des Us-amerikanischen Imperialismus gesehen. Conrad Schuhler macht das in einem Artikel auch ganz explizit, wenn er zustimmend Albrecht Müller zitiert „Die Deutschen – und die Mehrheit der Europäer – sollten sich daran gewöhnen, dass die USA nicht unser Freund sind. Sie sind das Imperium und behandeln uns wie eine Kolonie.iii

Die Position ist damit nicht in erster Linie antiimperialistisch, sondern eigentlich ein Ratschlag für den deutschen (bzw. europäischen) Imperialismus, den traditionellen Verbündeten fallenzulassen und sich der aufstrebenden Macht zuzuwenden. Garniert wird dies zuweilen noch mit dem Ratschlag, doch ein bisschen vom chinesischen System, wie einen aktiven, bedeutenden staatlichen Sektor, zu übernehmen. Walter Baier dazu: „Die politische Frage, auf die die großen europäischen Staaten und die EU eine Antwort finden müssen, lautet, ob sie sich gegenüber dem Druck der USA, die auf eine Zerstörung des freien Welthandels und eine Verschärfung der politischen und militärischen Konfrontationen zielen, emanzipieren wollen oder nicht. Gerade in Deutschland sollte man verstehen, dass der von der Trump-Administration entfesselte Wirtschaftskrieg sich gegen die europäischen Industrien und Arbeitsplätze richtet.iv

Der Charakter Chinas

Die zentrale Frage für die Bewertung des Konfliktes zwischen China und den USA ist – zumindest für revolutionäre MarxistInnen – also nicht die nach dem „Aggressor“ sondern dem grundlegenden Charakter des ökonomischen Systems und der Stellung im kapitalistischen Weltgefüge. Das isw tut sich weitgehend schwer damit, eine eindeutige Charakterisierung Chinas abzugeben. „,Sozialismus chinesischer Prägung’, ,Sozialistische Marktwirtschaft’, eine ,Art Staatskapitalismus unter dem Kommando der KP’, ,Staatlich kontrollierter Kapitalismus’, ,Wohlfahrtstaat’ nach schwedischen Modell – es fällt schwer, den chinesischen Weg zu einer modernen Volkswirtschaft in ein Schema zu pressen und zu kategorisieren“, schreibt zum Beispiel Fred Schmidv. Um einiges leichter tun sich die VertreterInnen des chinesischen Regimes, die vor allem im isw Report 119 zu Wort kommen. Für sie ist klar, dass es sich bei China um eine „Sozialistische Marktwirtschaft“ handelt, also eine Marktwirtschaft deren „sozialistischer“ Charakter durch die Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas garantiert wird.

Die Charakterisierung Chinas als „Neoliberalismus mit chinesischem Antlitz“, wie David Harvey behauptetvi, wird entschieden abgelehnt. Genauso wird die Charakterisierung Chinas als Imperialismus zurückgewiesen. „Chinas Globalisierung ist ein dezidiert antikoloniales, nicht-imperialistisches, völkerrechtskonformes Projekt; es stiftet Frieden und breiten Wohlstand.vii

Die Argumentation dafür ist bezieht sich im Wesentlichen auf diverse Überbauphänomene: China sei kein Aggressor; seine Auslandsinvestitionen bzw. -kredite seien nicht an spezifische Spar- oder Reformprogramme gebunden, wie das bei IWF oder Weltbank üblich ist. China mische sich auch nicht oder zumindest viel weniger in die Innenpolitik der jeweiligen Länder ein; das Militär sei auch in erster Linie defensiv aufgestellt und wichtige strategische Projekte wie die neue Seidenstraße, die weiter unten noch detaillierter behandelt wird, seien auch nicht an eine militärische Strategie gebunden usw. Ob all diese Bewertungen so auch wirklich stimmen oder nicht, sei einmal dahingestellt. Zentral ist aber, dass sie nicht die determinierenden Faktoren für die Stellung eines Landes im imperialistischen Weltsystem ausmachen – für MarxistInnen.

Es ist zwar unter speziellen Umständen möglich, dass ein Land weder eine dominante Rolle als Großmacht (oder unterstützend als Juniorpartner) noch als dominierte Neokolonie spielt. China und Russland auf ihrem Weg zur Wiedereinführung des Kapitalismus wiesen bestimmte Eigenschaften dieser Zwischenkategorie auf. Doch zentral ist, dass in einem imperialistischen Weltsystem, das keine dauerhafte stabile Situation darstellt, sondern die internationale Konkurrenz auf höhere Stufenleiter hebt, die Länder entweder eine dominierende Position erobern oder in die Beherrschung durch andere zurückfallen müssen. Für das isw hingegen scheint China zumindest bis auf Weiteres außerhalb dieser Hierarchien stehen zu können und das, obwohl es, wie auch das isw zugesteht, als kapitalistisches Land vollkommen in den Weltmarkt integriert ist.

Kaum jemand beim isw würde wohl bestreiten, dass die USA nicht erst mit den Eintritt in den 2. Weltkrieg und der damit enorm geänderten Außenpolitik einen imperialistischen Charakter annahmen. In der Zwischenkriegszeit wiesen sie durchaus einige Ähnlichkeiten mit dem Verhalten Chinas der letzten beiden Jahrzehnte auf. Das Militär der USA nach dem 1. Weltkrieg und seine Einmischung in außeramerikanische Angelegenheiten waren äußerst beschränkt. Mit derselben Argumentation wie das isw hätte man in den 1920er Jahren das französische und britische Imperium den USA entgegenstellen können, um damit zu begründen, dass es sich bei letzteren unmöglich um eine imperialistische Großmacht handeln könne. Das isw begeht hier den gleichen Fehler wie Kautsky während des 1. Weltkriegs. Für ihn handelte es sich beim Imperialismus nicht um ein Stadium, eine Epoche der kapitalistischen Weltwirtschaft, sondern schlicht um Militarismus, Großmacht- und Kanonenbootpolitik.

Hier ist nicht der Ort, um eine ausführliche Analyse Chinas als neuer imperialistischer Großmacht anstellen zu können. Doch mit der letzten Krisenperiode, die mit dem Platzen der Immobilienblase in den USA 2008 ihren Anfang nahm und verschiedene Phasen durchmachte, konnte es seine Position auf dem Weltmarkt und im imperialistischen Weltsystem wesentlich stärken. Es profitierte dabei nicht nur von der krisengeschüttelten Europäischen Union, den sich spätestens sei 2015/16 abzeichnenden Tendenzen zum Rückzug auf den Nationalstaat einiger imperialistischer Länder wie Großbritanniens und der USA (Brexit, Wahl Donald Trumps, …) und den sich dadurch politisch auftuenden Räumen, sondern auch vom Umbau der eigenen Wirtschaft weg von einem Billiglohnland zu einem mit einer der weltweit größten kaufkräftigen „Mittelschichten“ und vermehrt von einem ausschließliches Billigwarenexporteur hin zu einem Kapitalexporteur. Die Rolle Xi Jinpings als neuer starker Mann (auf einer Ebene mit Mao oder Deng Xiaoping) ist dafür politischer Ausdruck.

Aber sein Aufstieg und seine gestärkte Rolle sind nicht nur ein Ausdruck für die gestärkte Rolle Chinas in der Welt, sondern auch seiner inneren Dynamik. Das Land ist trotz seines unglaublichen Aufstiegs von riesigen inneren Widersprüchen gekennzeichnet: auf der einen Seite zwischen den durch den Staat und die Bürokratie organisierten staatskapitalistischen Unternehmen und Banken und auf der anderen Seite den oft dynamischeren privaten Unternehmen und mit ihnen verknüpften Privatinstitutionen. Insbesondere wichtig sind hier die sogenannten Schattenbanken, die in China ein riesiges Ausmaß der Finanzwirtschaft kontrollieren und ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor sind. Für Xi Jinping ist es in dieser Situation möglich, sich zwischen den unterschiedlichen Fraktionen des Kapitals und der Bürokratie eine besondere Position zu erobern. Dabei sind auch interne Spaltungslinien in der Partei relevant, insbesondere die unteren und mittleren Schichten der Bürokratie in den unterschiedlichen Provinzen und Städten sind dabei noch vermehrt mit den staatlichen Unternehmen verbunden, die höheren Führungskader hingegen stärker mit dem Interesse des Gesamtkapitals und insbesondere auch den dynamischen Privatunternehmen.

Wesentlich für die Bewertung der Rolle Chinas als neue imperialistische Großmacht ist, dass es hier nicht ausschließlich um die Anwendung der fünf Lenin’schen Merkmale des Imperialismus gehen kann. Diese sind wesentlich für die Feststellung des Imperialismus als Stadium des Kapitalismus, also der gesellschaftlichen globalen Gesamtheit, müssen aber nicht vollständig für jedes einzelne Land zutreffen, erfüllt sein, um eine imperialistische Großmacht zu verkörpern. Ausschlaggebend für seine Charakterisierung ist seine Stellung in der Weltmarkthierarchie. Für Lenin war z. B. auch klar, dass es bei der Kategorisierung als imperialistische Großmacht nicht darum geht, ausschließlich den ökonomischen Entwicklungsstand zu bewerten, wenn er auch eine wichtige Rolle spielt. Zum Beispiel bewertete er sowohl Japan als auch Russland als imperialistische Großmächte, die zu seiner Zeit ökonomisch nicht auf derselben Stufe wie die USA, Deutschland oder Großbritannien standen. Entscheidend war hier, dass sie wie diese Länder in einem imperialistischen Verhältnis zu anderen Staaten und Nationen standen. „In Japan und Rußland wird das Monopol des heutigen, modernen Finanzkapitals zum Teil ergänzt, zum Teil ersetzt durch das Monopol der militärischen Macht, des unermeßlichen Gebiets oder der besonders günstigen Gelegenheit, nationale Minderheiten, China usw. auszuplündern.viii

Schließlich sei noch der Hinweis gestattet, dass China (im Gegensatz zu Russland, bei dem sich der imperialistische Charakter noch aus deutlich spezifischeren Umständen ergibt) mittlerweile auch viele der „klassischen“ Merkmale aufweist. Chinesische Banken gehören zu den größten der Welt; in Fragen des Kapitalexports steht China auf Augenhöhe mit den anderen imperialistischen Großmächten und hat mit Lenovo, ZTE, Huawei, Alibaba und anderen weltweit agierende Konzerne geschaffen. Dazu ist es vermehrt militärisch selbstbewusst mit den weltweit zweitgrößten Militärausgaben, unterhält mittlerweile schon mehrere Militärbasen in anderen Ländern (Tadschikistan, Dschibuti) und darüber hinaus ist auch die brutale nationale Unterdrückung der UigurInnen sowie eine stärker aufflammende nationalistische Rhetorik wesentlicher Bestandteil seines imperialistischen Charakters.

Die Neue Seidenstraße – Globalisierung ohne militärische Begleitung?

Seit einigen Jahren ist Chinas „One Belt, One Road“-Initiative sein zentrales außenpolitisches Projekt. Ziel ist es – angelegt an die antike Seidenstraße –, sowohl über den indischen Ozean (Belt; Meerenge) als auch über Zentralasien (Road; Landweg) den eurasisch-afrikanischen Raum für den internationalen Warenverkehr zu erschließen. Ein enormer Ausbau der Infrastruktur soll Chinas Exportrouten diversifizieren, geopolitischen Einfluss in den beteiligten Ländern erlangen und letztlich einen Ausweg aus seinem wohl größten geostrategischen Problem schaffen. China ist für die absolute Mehrheit seiner Exporte, aber auch seiner Rohstoffimporte, auf den Seeweg – insbesondere auf die Straße von Malakka – angewiesen. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass – falls es zu einer militärischen Auseinandersetzung mit den USA kommt – eine Seeblockade Chinas für seine Wirtschaft tödlich wäre. Deshalb sollen Land-, sowie kombinierte Land- und Seerouten (mit Häfen in Pakistan) die Versorgung des Landes mit Rohstoffen sowie den Export sicherstellen.

Die Neue Seidenstraße ist nicht nur das größte Globalisierungsprojekt der bisherigen Menschheitsgeschichte, sondern vor allem: Es kommt zum ersten Mal in der neueren Geschichte ohne militärische Begleitung aus.ix Doch so einfach ist die Sache nicht, denn schon jetzt gibt es an zwei neuralgischen Punkten – in Dschibuti am Horn von Afrika und in Tadschikistan in Zentralasien – chinesische Militärbasen. Auch der Ausbau bzw. Aufbau militärischer Anlagen im südchinesischen Meer (Spratly- und Paracel-Inseln im Südchinesischen Meer) ist in diesen Kontext einzuordnen. China möchte sich aus der militärischen Umklammerung durch die USA befreien, denn diese unterhalten unzählige Militär- und Marinebasen im Westpazifik, aber auch im indischen Ozean und Zentralasien. Auch in anderen Häfen, wie in Sri Lanka (Hambantota) oder in Pakistan (Gwadar), gab und gibt es Spekulationen über den möglichen raschen Ausbau zur chinesischenMarinebasis, obwohl der in nächster Zukunft wohl nicht zu erwarten ist.

Zusätzlich wird China vom isw dafür gepriesen, dass es mit den riesigen Krediten für die am Projekt der Neuen Seidenstraße beteiligten Länder keine politischen Absichten verfolge, also nicht wie IWF oder Weltbank auf Umstrukturierungs- oder Reformmaßnahmen dränge. Das ist zwar durchaus richtig, aber China macht es auch nicht einfach aus einer altruistischen Perspektive heraus, sondern mit dem Motiv, bei einer möglichen Zahlungsunfähigkeit einfach Eigner oder Pächter der Infrastruktur zu werden. So bekam nach der Zahlungsunfähigkeit Sri Lankas China den Hafen von Hambantota für 99 Jahre verpachtet. Solche Kreditausfälle mit anschließender Übernahme von Infrastruktur werden sich in den nächsten Monaten und Jahren vermutlich häufen, wenn die Auswirkungen der Wirtschaftskrise voll durchschlagen werden.

Im Kontext der Neuen Seidenstraße ist auch die Politik der chinesischen Regierung gegenüber den UigurInnen zu verstehen. Strategisch verläuft durch die Provinz Xinjiang, in der nahezu alle UigurInnen in China leben, ein essentieller Zugang zum zentralasiatischen Raum. Ihre Unterwerfung und Auslöschung als Nation (worauf die Politik der chinesischen Regierung, insbesondere der „Umerziehung“ und Ansiedlung ethnischer Han-ChinesInnen abzielt) ist hierbei essentiell, um diese strategische Rolle der Region zu sichern. Dazu kommt noch, dass Xinjiang reich an Rohstoffen ist, insbesondere an Öl, Gas und diversen Metallen, und eine mögliche uigurische Unabhängigkeitsbewegung oder allgemeiner Widerstand gegen die Politik der Zentrale für diese nicht in Kauf genommen werden können. Auch hier ist das Agieren der chinesischen Regierung ein Musterbeispiel für imperialistische Politik.

Beispiel für erfolgreiche nachholende Entwicklung?

Das isw lobt auch den chinesischen Entwicklungsweg als nachahmenswert für zurückgebliebene Volkswirtschaften:

Für Schwellenländer hat der chinesische Weg aber durchaus einen gewissen Vorbildcharakter. Er zeigt, dass eine erfolgreiche nachholende Entwicklung möglich ist, bei gleichzeitiger Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung und Überwindung der Armut. Notwendig sind dazu ein „proaktiver Entwicklungsstaat“ (UNDP) sowie staatliche Planung, zumindest staatliche Rahmen- und Schwerpunktplanung […].“xAn anderen Stelle bei Fred Schmidxi wird China nicht nur als Beweis für die erfolgreiche nachholende Entwicklung für Schwellenländer, sondern auch für Entwicklungsländer dargestellt. Es sei der Beweis dafür, dass man ohne westliche Hilfe, wie es die sogenannten Tigerstaaten gebraucht hätten, um eine erfolgreiche Entwicklung zu nehmen, auch den Aufstieg aus der Armut schaffen könne.

China ist in der Tat eines der seltenen Beispiele von Ländern, die es nicht nur geschafft haben, sich zu industrialisieren und das allgemeine Lebensniveau der Massen zu heben, sondern auch zu einer imperialistischen Großmacht aufzusteigen. Doch es muss klar sein, dass das nicht die Regel, sondern nur die Ausnahme ist. China hat unter ganz spezifischen Umständen, die nicht ohne Weiteres kopiert werden können, eine erfolgreiche nachholende Entwicklung zustande gebracht.

Zuerst einmal kann man China nicht aus der Gegenwartsperspektive betrachten und dann die essentiellen Faktoren ableiten, die es von anderen Staaten unterscheiden. Es ist vielmehr notwendig, die lebendige Entwicklung zu untersuchen und die historischen Besonderheiten abzuleiten, die es zu dem gemacht haben, was es heute ist. Der wohl wesentlichste Unterschied Chinas zu „herkömmlichen“ unterentwickelten Staaten ist, dass dort – als von Beginn an bürokratisch degenerierter oder deformierter ArbeiterInnenstaatxii – mehrere Jahrzehnte lang kein Kapitalismus existierte. Dazu kam, dass vor allem seit dem Bruch mit der Sowjetunion, der Ende der 1950er Jahre einsetzte, China auch noch einmal besonders auf eine eigenständige Entwicklung angewiesen war. Dadurch entwickelte sich eine stark abgeschlossene Wirtschaft, die frei von jeglichem ausländischen Kapital war.

Die Entwicklung Chinas hin zur Einführung des Kapitalismus haben wir in „Von Mao zum Markt“ von Peter Main (Revolutionärer Marxismus 39) ausführlich nachgezeichnet. Von den ehemals degenerierten ArbeiterInnenstaaten ist nur die DDR (als Teil Deutschlands) sowie Russland die Entwicklung zu einem imperialistischen Staat gelungen. In Ostdeutschland geschah dies durch den Anschluss an die imperialistische BRD, auch wenn diese Region ähnlich dem italienischen Süden nur die zweite Geige im Land spielt. Die größten Konzerne Deutschlands sind ausschließlich westdeutschen Ursprungs, in der herrschenden Klasse dominiert westdeutsches Kapital. Darüber hinaus sind auch das Lohnniveau und andere Indikatoren des Lebensstandards auf dem Gebiet der ehemaligen DDR noch signifikant niedriger. Für Russland hat es sehr spezifische Umstände gebraucht, um sich zu einer imperialistischen Macht zu entwickeln. In den 1990er Jahren nach dem Kollaps der sowjetischen Wirtschaft sah es lange Zeit danach aus, als ob es auch den Weg in den neokolonialen Status einschlagen würde. Doch auch Russland hat es unter sehr spezifischen Umständen – vor allem durch die alten Verbindungen der Sowjetunion, sein militärisches Gewicht sowie bis zu einem gewissen Grad auch durch seine Monopolstellung als Rohstoffexporteur gegenüber Europa – vermocht, eine prekäre Stellung als imperialistische Großmacht zu erringen. Bezüglich der Betrachtung Russlands sei auf „Die Auferstehung des russischen Imperialismus“ von Frederik Haber (Revolutionärer Marxismus 46) verwiesen.

Chinas besondere Umstände, nämlich, dass es aufgrund seiner Geschichte als von Beginn an degenerierter ArbeiterInnenstaat frei von der Durchdringung mit ausländischem Kapital war, lässt sich für den durchschnittlichen neokolonialen Staat nicht einfach wiederholen. Die Ausgangsbedingungen sind nämlich komplett andere. Ein wesentlicher Umstand für die spezielle Lage, in der sich China befand, war die chinesische Auslandsbourgeoisie, die aus spezifischen historischen Gründen nicht nur in Taiwan, sondern auch in Hongkong sowie überhaupt in einigen südostasiatischen Staaten eine besondere Stellung eingenommen hatte und bei der Öffnung des Landes für ausländisches Kapital kräftig im Land investierte.

Ein weiterer wichtiger Vorteil für China war, dass im Gegensatz zu fast allen anderen ehemaligen stalinistischen Staaten in Osteuropa während der Wiedereinführung des Kapitalismus durch das Regime der KPCh weiterhin sehr stabile Machtverhältnisse im Land herrschten. Dafür war die Niederschlagung der Oppositionsbewegung 1989 essentiell. Die Herrschaft der kommunistischen Partei übernahm dabei ähnliche Rollen wie der preußisch-deutsche, russische oder italienische Staat am Ende des 19. Jahrhunderts, als die Industrialisierung und die Entwicklung des Kapitalismus wesentliches staatliches Projekt waren und aktiv gefördert wurden und nicht einfach organisch entstanden. Das durchschnittliche neokoloniale Land kann nicht einfach so die Dominanz des ausländischen Kapitals abschütteln, dafür wäre letztlich eine soziale Revolution notwendig. Eine unabhängige nationale Entwicklung des Kapitalismus ist nicht möglich. Beispiele wie Venezuela zeigen deutlich, zu welche Methoden der Konfrontation insbesondere der Imperialismus anwandte, um diesen Weg zu verbarrikadieren.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass China kein Modell für andere Staaten sein kann. Im imperialistischen Weltsystem ist es nicht einfach möglich, durch geschickte staatliche Politik die Fessel zu durchbrechen und die Entwicklung hin zu einem eigenständigen und unabhängigen Kapitalismus anzutreten. Für China mussten neben der generellen Größe des Landes und der Bevölkerung eine Reihe an spezifischen historischen Umständen zusammenkommen, um dies zu ermöglichen. Das lässt sich auch darin erkennen, wie schwer es Indien fällt, einen ähnlichen Weg zu beschreiten.

Partei und Bourgeoisie

Die lang andauernde Herrschaft der KPCh ist ein zentrales Merkmal für den chinesischen Kapitalismus, vergleichbar nur mit der der KP Vietnams. Doch die Frage, ist wie diese Herrschaft bewertet wird. Für die chinesischen FunktionärInnen ist sie klar positiv beantwortet:

Zusammenfassend kann man sagen, dass die sozialistische Marktwirtschaft über moderne wirtschaftspolitische Steuerungsmöglichkeiten verfügt. Zuallererst ist die Führung der Partei ein wichtiges Merkmal des sozialistischen Marktwirtschaftssystems und ein wichtiger Garant für moderne Governance-Kompetenz wirtschaftspolitischer Steuerung. Das sozialistische Marktwirtschaftssystem steht unter der Führung der Kommunistischen Partei Chinas und steht fest auf sozialistischem Boden. Wir müssen uns auf unser theoriegeleitetes Selbstbewusstsein, unsere aufrichtigen Institutionen und die Führung der Partei verlassen, um diesen großartigen Prozess zum sozialistischen Marktwirtschaftssystem zu vollenden.“ xiiiAber nicht nur in den von direkten VertreterInnen des chinesischen Systems, denen im isw Platz geboten wird, wird diese Ansicht geteilt. Auch bei Fred Schmidxiv gibt es viele lobende Worte für die Partei, insbesondere die Anti-Korruptionskampagnen und die Stärkung ihrer Zellen und Grundeinheiten unter Xi Jinping.

Dass die Kommunistische Partei spätestens seit Anfang der 1990er Jahre klar die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse verteidigt und ausbaut, sollte wohl auch den naivsten KommentatorInnen aufgefallen sein. Zwar wird die „Sozialistische Marktwirtschaft“ weiterhin als Anfangsphase des Sozialismus bezeichnetxv, doch wenn man einmal von der Rhetorik absieht und sich die Fakten vor Augen führt, kann man erkennen, dass sich die Bourgeoisie in China immer mehr als Klasse formiert. Seit 2001 dürfen auch PrivatunternehmerInnen Mitglied der Kommunistischen Partei werden. Im isw Report Nr. 119 finden sich auch interessante Zahlen dazu – natürlich mit der Argumentation verbunden, wie gut es gelingen würde, die neuen Eliten „aufzunehmen und zu lenken“xvi. Von den verantwortlichen Personen der größten 100 chinesischen Privatunternehmen sind „19 % […] Abgeordnete des Nationalen Volkskongresses, 15 % Abgeordnete der Provinz- und Kommunalkongresse, 27 % Mitglieder der Föderation von Industrie und Handel sowie der Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes. 39 % sind Leiter von Handelskammern, Jugend-, Handels-, und Unternehmensverbänden.“ Die langwierige Entwicklung von Chinas Bourgeoisie von einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich ist in den letzten Jahren also ein gutes Stück vorangekommen.

Lange Zeit spekulierte der Westen darauf, dass sich mit der Öffnung Chinas hin zum Markt eine selbstständige Bourgeoisie herausbilden würde, die dann in weiterer Folge in einen Konflikt mit der KPCh-Bürokratie geriete, was dann in weiterer Folge die Herrschaft der Partei untergraben und eine „Öffnung“ beschleunigen würde. Ob das dabei durch friedlichen Druck passieren würde, der die KPCh zwingen würde, einen Weg der demokratischen Reformen und die Einführung eines Mehrparteiensystems zu beschreiten, oder sie andernfalls auch à la UdSSR/Ostblock gestürzt würde, war dabei zweitrangig.

Diese Erwartungen haben sich im letzten Jahrzehnt als Fehleinschätzung herausgestellt. Insbesondere seit der Ära Xi Jinpings, seiner Antikorruptionskampagnen und der Stärkung der Partei wurde der chinesischen Bourgeoisie gezeigt, dass der Weg innerhalb der Partei um einiges besser ist. Gut wird das in einem Artikel Hu Lemingsxvii umrissen: „Institutioneller Wandel ist nicht nur Prozess der rationalen Konstruktion, sondern auch ein Prozess der spontanen Veränderung. Es ist nicht nur ein von der Politik geförderter Top-down-Prozess, sondern auch ein von privaten Unternehmern geförderter Bottom-up-Prozess. Es ist ein Prozess der Interaktion zwischen Politikern und Unternehmern.“

Der chinesische Staat und seine herrschende Bürokratie schaffen es trotz (oder vielleicht auch gerade wegen) der jüngeren Vergangenheit als von Geburt an degenerierter ArbeiterInnenstaat besonders gut, die Rolle als ideelle/r GesamtkapitalistIn zu übernehmen. Ein wesentliches Merkmal des Abstiegs des US-amerikanischen Imperialismus dagegen ist, dass sich die unterschiedlichen Interessen der Fraktionen der herrschenden Klassen immer mehr aufsplittern. In den USA ist eine langfristige Strategie der Bourgeoisie immer weniger möglich. Die Widersprüche zwischen Demokratischer und Republikanischer Partei, zwischen Protektionismus und Freihandel, zwischen Silicon Valley, Wall Street und den verbliebenen Industrien und heute zwischen VertreterInnen von „Herdenimmunität“ und „Social Distancing“ machen die Verteidigung der Stellung als imperialistische Großmacht Nr. 1 schwer.

Das bedeutet aber nicht, dass in China die gesamte Bourgeoisie mit der Partei zu einer Einheit verschmolzen wäre. Einerseits ist die chinesische Auslandsbourgeoisie nicht wirklich in diese Strukturen eingebunden, andererseits ist es auch kein widerspruchsfreier Prozess. Es ist durchaus möglich, dass sich durch innere wie äußere Faktoren eine eigenständige von der KP-Bürokratie unabhängige Kraft der Bourgeoisie wird versuchen zu etablieren. Wenn es beispielsweise zu einer größeren landesweiten Bewegung gegen das Regime kommt, würde es vermutlich die Spaltungstendenzen innerhalb der Bürokratie selbst vergrößern und ein Teil der Bourgeoisie würde zweifelsfrei versuchen, sich außerhalb des Staats und der Kommunistischen Partei in einer eigenen Partei zu organisieren. Doch auch eine längere Dauer des obrigkeitsstaatlich gelenkten Kapitalismus wie in Preußen und im frühen Deutschen Reich, Russland, Japan oder in seiner parlamentarisch-demokratischen Variante in Frankreich nach dem 2. Weltkrieg oder in Großbritannien unter Attlee ist als Möglichkeit nicht auszuschließen.

China ist ein Beispiel für das Gesetz der ungleichen und kombinierten Entwicklung. Der chinesische Staat trägt starke Züge einer zuvor existierenden Gesellschaftsformation (der gleichen und kaum von der Chinas zu unterscheidenden wie in Vietnam) ähnlich wie einige andere Staaten mit schwächeren (Großbritannien) oder stärkeren (Saudi-Arabien) monarchistischen Elementen in der Exekutive. Die weitere Existenz der KPCh als herrschende Partei kann deshalb kein Argument für einen grundlegend anderen Klassencharakter Chinas sein.

Wie weiter für China und die ArbeiterInnenklasse?

Bei allen Lobeshymnen auf die Volksrepublik China muss sich das isw doch immer mal wieder eingestehen, dass es vielleicht doch dort auch noch irgendwie ein paar demokratische Defizite gibt. „Dennoch bleibt die Frage nach der demokratischen, insbesondere produktionsdemokratischen, Teilhabe (!) der Menschen in China.“xviii2010 wurden im isw Report Nr. 83/84 noch zwei Möglichkeiten aufgezeigt. Auf der eine Seite gäbe es die der „Herausbildung einer gewerkschaftlichen Gegenmacht und ihre Formierung zur Arbeiterbewegung“xix, auf der anderen Seite für – eine vermutlich durch graduelle Reformen eingeführte – „vertikale Demokratie“. In ihr „werden die Visionen und Ziele des Landes in einem interaktiven Prozess von Spitze und Basis gleichermaßen geformt.“xxWas genau das konkret bedeuten soll, wird weder ausgeführt noch klar definiert.

Acht Jahre später in isw Report Nr. 115 ist dann von der Formierung einer Gegenmacht, geschweige denn politischer und ökonomischer Etablierung der ArbeiterInnenklasse als herrschendes und planendes Subjekt keine Rede mehr. „Ein echter demokratischer Ansatz“ ist jetzt nur mehr „die Weiterentwicklung der „vertikalen Demokratie““xxi. Ein unabhängiger Klassenstandpunkt ist jetzt offenbar weder realistisch noch gewünscht. Hier zeigt sich schließlich am klarsten die endgültige Kapitulation vor dem chinesischen Kapitalismus. Die Rolle von MarxistInnen geht beim isw offenbar kaum mehr ein bisschen über Beifall für eine „vertikale Demokratie“ hinaus.

Aus Chinas besonderer Geschichte ergibt sich für das isw offenbar, dass auf es keinerlei marxistische Kategorien oder Analysen mehr anwendbar seien. Es wird zwar zugestanden, dass es sich auch in dort um eine Kapitalismus handelt, aber dieser sei durch die Rolle der Partei im Staat, die sich noch immer kommunistisch nennt, und des Staates in der Wirtschaft so besonders, dass er eigentlich nicht mehr wirklich des Klassenkampfes, einer eigenständigen Organisation des Proletariats (nur mehr knapp über 7 % der Parteimitgliedschaft sind IndustriearbeiterInnenxxii) oder überhaupt einer proletarischen Revolution für die Abschaffung des Kapitalismus und für eine ArbeiterInnendemokratie bedürfe. Dabei ist China doch mit der weltweit größten Bevölkerung und der größten ArbeiterInnenklasse eines der Schlüsselländer im imperialistischen Weltsystem!

Die aktuelle Situation in Wirtschaftskrise und Corona-Pandemie sind für China genauso wie die ganze Welt von entscheidender Bedeutung. In China ist es durch die sehr starke Position des Staates gelungen, die Ausbreitung der Krankheit relativ rasch unter Kontrolle zu bringen und auch die Produktion wieder anzuwerfen, doch es steht vor dem Problem, dass es trotz aller Stärkung des Binnenmarktes immer noch sehr zentral auf den Exportsektor angewiesen ist. Wie in vielen anderen Staaten hat es in der Krise der aktuellen Regierung gegenüber, falls diese nicht vollkommen absurde Maßnahmen durchführte, einen großen Vertrauensvorschuss gegeben. Doch die ökonomischen Widersprüche (insbesondere die Frage, wie lange die Industrieproduktion alleine auf staatlicher Stimulanz basieren kann), die sich aus dem weiteren Verlauf der Wirtschaftsentwicklung ergeben werden, werden unweigerlich ihren politischen Ausdruck finden. Ob sich dieser „nur“ in der Partei und dem Staat abspielen oder auch einen gesamtgesellschaftlichen Ausdruck finden wird, ist noch nicht abzusehen.

Aber zentral für das Verständnis Chinas ist, seine Stellung im imperialistischen Weltsystems zu verstehen. Die Charakterisierung als neue imperialistische Großmacht hat eben nicht nur akademischen Charakter, sondern ist wesentlich zum Verständnis und zur Einordnung eines der wichtigsten Länder für den globalen Klassenkampf. Der imperialistische Hauptkonflikt – zwischen China und den USA – wird sich in den nächsten Jahren nur zuspitzen und in der einen oder anderen Form gelöst werden. Dabei ist es von größter Bedeutung, eine antimilitaristische, antiimperialistische und internationalistische Position in die ArbeiterInnenklassen sowohl in China als auch im Westen zu tragen. Wenn dies nicht gelingt, können die kommenden Konflikte für die ArbeiterInnenklasse und die gesamte Menschheit nur in der Katastrophe enden. Der Hauptfeind steht – auch in der VR China – dabei im eigenen Land!

Endnoten

iInstitut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e. V. mit Sitz in München. Es wurde 1990 von linken SozialwissenschaftlerInnen und GewerkschafterInnen gegründet.

ii„Der neue Systemkonflikt zwischen dem US-geführten Westen und der Volksrepublik China“, Werner Rügemer in isw Report 119, S. 25

iii„Trumps ,America first’ – der Versuch, die USA zur unumschränkten globalen Supermacht zu machen“, Conrad Schuhler in isw Report 115, S. 11

iv„Warum muss die sozialistische Linke über die VR China diskutieren?“, Walter Baier in isw Report Nr. 119, S. 36

v„China – Krise als Chance?“, Fred Schmid in isw Report Nr. 83/84, S. 61

viebenda

vii„Der neue Systemkonflikt zwischen dem US-geführten Westen und der Volksrepublik China“, Werner Rügemer in isw Report Nr. 119, S. 26

viii„Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus“, Lenin in Werke Band 23, S. 113

ix„Der neue Systemkonflikt zwischen dem US-geführten Westen und der Volksrepublik China“, Werner Rügemer in isw Report Nr. 119, S. 26

x„Trumps Wirtschaftskrieg gegen China“, Fred Schmid in isw Report Nr. 115, S. 36

xi„China – Krise als Chance?“, Fred Schmid in isw Report Nr. 83/84, S. 60

xiiDie VR China war wie Kuba, Nordkorea, Nordvietnam, Jugoslawien und Osteuropa ein ArbeiterInnenstaat, der von Beginn seiner Existenz an bürokratisch entstellt war und wo die Arbeiterinnenklasse von der unmittelbaren Ausübung ihrer Diktatur ausgeschlossen blieb. Das unterscheidet ihren degenerierten Charakter vom frühen Sowjetrussland, in dem die stalinistische politische Konterrevolution ab 1924 die Oberhand gewann. Sie unterlag einem Prozess der Degeneration und startete ihre Existenz nicht mit diesem Zustand.

xiii„Die Risiken von Sozialistischer Marktwirtschaft und neoliberalem Kapitalismus“, Ding Xiaoqin in isw Report Nr. 119, S. 5

xiv„Trumps Wirtschaftskrieg gegen China“, Fred Schmid in isw Report Nr. 115, S. 36

xv„Die Risiken von Sozialistischer Marktwirtschaft und neoliberalem Kapitalismus“, Ding Xiaoqin in isw Report Nr. 119, S. 4

xvi„Das chinesische Modell aus der Perspektive staatlicher Handlungsfähigkeit“, Yang Hutao in isw Report Nr. 119, S. 15

xvii„Chinesische Erfahrungen bei Reform und Entwicklung“ Hu Leming in isw Report Nr. 119, S. 10

xviii„Trumps Wirtschaftskrieg gegen China“, Fred Schmid in isw Report Nr. 115, S. 36

xix„China – Krise als Chance?“, Fred Schmid in isw Report Nr. 83/84, S. 62

xxebenda

xxi„Trumps Wirtschaftskrieg gegen China“, Fred Schmid in isw Report Nr. 115, S. 37

xxii„Number of Chinese Communist Party (CCP) members in China in 2019, by employment“ in https://www.statista.com/statistics/249968/number-of-chinese-communist-party-ccp-members-in-china-by-employment/




Frankfurter Linke und Palästina: Kein Antirassismus ohne Antiimperialismus

Stefan Katzer, Infomail 1126, 25. November 2020

Am 3. Oktober fand in Frankfurt eine Demonstration in Solidarität mit jenen Geflüchteten statt, die von der EU in Lagern gefangen gehalten, drangsaliert und abgeschoben werden. Die Demonstration „Moria befreien!“ richtete sich die gegen die mörderische Politik der Herrschenden, „die seit Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten Menschen aus dem globalen Süden trifft“ – so die Ankündigung der organisierenden Gruppen. Man sollte meinen, dass sich bei diesem Thema alle linken Kräfte einig sind. Und tatsächlich wurde von verschiedenen Gruppen für die Demo mobilisiert, darunter Migrantifa Hessen, Black Power Frankfurt, Fridays for Future, Seebrücke Frankfurt, Free Palestine FFM u. a.

Mit der scheinbaren Einigkeit zwischen den Gruppen war es allerdings schnell vorbei und die tiefgreifenden Unterscheide bezüglich zentraler Fragen des antirassistischen und antiimperialistischen Kampfes wurden sichtbar, nachdem auf der Demonstration vereinzelt auch Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf bekundet und eingefordert wurde. Free Palestine FFM wurde daraufhin zur Zielscheibe zahlreicher verbaler Angriffe von antideutschen Gruppierungen, der bürgerlichen Presse bis hin zu VertreterInnen der CDU, die der Gruppe Antisemitismus vorwarfen.

Auch viele der an der Demonstration beteiligten Strömungen distanzierten sich öffentlich. Sowohl Fridays for Future als auch die Seebrücke Frankfurt fühlten sich dazu veranlasst, die vermeintlich antisemitischen Parolen zu verurteilen. Auch Migrantifa Hessen veröffentlichte ein Statement, in dem sie sich dafür entschuldigte, „isrealbezogenem Antisemitismus“ eine Bühne geboten zu haben, und ankündigten, den Vorfall gründlich aufarbeiten und die politische Arbeit vorerst einstellen zu wollen.

Was war passiert?

Der Vorwurf des Antisemitismus bezog sich einerseits auf die Rede von Free Palestina FFM, deren antiimperialistische Position einfach nur denunziert wurde. Einen Nachweis des Vorwurfs ersparten sich hingegen die „KritikerInnen“, frei nach dem Motto, das Antizionismus ohnedies nur Antisemitismus sein könne.

Zum anderen bezog sich der Vorwurf auf den Spruch „Palestine will be free, from the river to the sea“, der während der Demonstration gerufen wurde. Dieser wurde so ausgelegt, als handele es sich dabei um einen Aufruf zur Vertreibung bzw. Ermordung der in Israel lebenden Jüdinnen und Juden zwecks Errichtung eines „ethnisch reinen“ Staates „Palästina“.

Menschen, die es gewohnt sind, in völkischen Kategorien zu denken, kommt es scheinbar nicht in den Sinn, dass „Palästina“ auch der Name eines multiethnischen, binationalen ArbeiterInnenstaates sein könnte. Uwe Becker (CDU) jedenfalls, Bürgermeister der Stadt Frankfurt am Main und Antisemitismusbeauftragter des Landes Hessen, sah in der Forderung einen Ausdruck „antisemitischen Israel-Hasses“.

Ohne jegliche Begründung wurde der im Raum stehende Vorwurf, bei der gerufenen Parole handle es sich um Antisemitismus, weiterverbreitet. Auch bürgerliche Medien wie die Frankfurter Rundschau trugen zur Verwirrung bei, indem sie „israelfeindliche Parolen“ kurzerhand mit „Antisemitismus von links“ gleichsetzten – ohne dies näher zu erläutern.

Grundlegend für diese Art der „Kritik“ an antiimperialistischen Positionen ist die Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus. Mag diese von einigen ansonsten progressiven Gruppen auch aufgrund mangelnder Erfahrung, moralischen Drucks oder Unfähigkeit zur Differenzierung vollzogen werden, sollte das nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie bewusst als Mittel eingesetzt wird, die Vertreibung und Unterdrückung der PalästinserInnen zu relativieren, wenn nicht aus der öffentlichen Diskussion zu verbannen und zugleich den Widerstand zu delegitimieren. Der Zionismus wird als vermeintlich klassenneutrale Ideologie „des jüdischen Volkes“ präsentiert und der Staat Israel als die angeblich einzig mögliche Form der politischen Selbstbestimmung jüdischer Menschen angepriesen. Dabei dient diese Ideologie heute vor allem dazu, die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung zu legitimieren und die Klassenspaltung im „jüdischen Volk“ zu verdecken. Sie ist keinesfalls „klassenneutral“ und kann dies auch gar nicht sein.

Wir sehen als revolutionäre SozialistInnen vielmehr die Notwendigkeit, zwischen dem zionistischen Staat mitsamt seinem bürgerlich-kapitalistischen Charakter und den dort lebenden Juden und Jüdinnen zu differenzieren: Auch in dieser Klassengesellschaft wird Politik nicht von und im Interesse der werktätigen Mehrheit der Menschen gemacht, sondern werden nichtjüdische wie auch jüdische Menschen unterdrückt. Ebenso werden die PalästinenserInnen vom israelischen Staatsapparat niedergehalten, dem daran gelegen ist, sich ihre Ressourcen und Territorien einzuverleiben. Dass der israelische Staat sich dabei auch Mechanismen der Apartheid bedient, wurde selbst von der UNO wiederholt festgestellt.

Diesem System von Ausbeutung und Unterdrückung stellen wir eine antiimperialistische Perspektive entgegen, welche den Befreiungskampf der PalästinenserInnen und das  Ringen der israelischen ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten als gemeinsamen Kampf für einen säkularen sozialistischen Staat begreift, in dem kein Mensch mehr ausgebeutet oder aufgrund seiner religiösen Überzeugung, seines Geschlechts, seiner sexuellen Orientierung oder seiner Herkunft unterdrückt wird. Für uns ist klar, dass dies nur durch den bewussten Bruch der werktätigen Massen im Nahen Osten mit der zionistischen Ideologie sowie durch eine sozialistische Perspektive erkämpft werden kann.

Die Forderung nach einem freien, multiethnischen Palästina schließt somit keineswegs die Vertreibung oder gar Ermordung der im heutigen Israel lebenden Jüdinnen und Juden ein, wie dies die KritikerInnen von Antideutschen bis CDU gerne behaupten. Das Gegenteil ist der Fall.

Jüdische ArbeiterInnenklasse und Befreiung

In Wirklichkeit kann sich die jüdische ArbeiterInnenklasse in Israel nicht selbst befreien und zu einem Klassensubjekt werden, wenn sie nicht mit dem zionistischen Staat und seiner rassistischen Ideologie bricht, die sie an das „eigene“ Kapital und den Imperialismus ketten. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Stellung der jüdischen Lohnabhängigen nicht grundsätzlich von der der ArbeiterInnenklasse der herrschenden Nation in anderen SiedlerInnenkolonien oder in imperialistischen Staaten.

Die jüdische ArbeiterInnenklasse bildet in Israel einen Teil der herrschenden Nation, während die PalästinserInnen ein unterdrücktes Volk darstellen. Natürlich gibt es auch unter diesem – wie unter allen unterdrückten Nationen – fortschrittliche und reaktionäre, proletarische, kleinbürgerliche und bürgerliche Strömungen, Weltanschauungen und politische Kräfte. Am grundlegenden Unterdrückungsverhältnis, der verharmlosend als „Konflikt“ bezeichneten permanenten Vertreibung und Enteignung der palästinensischen Bevölkerung ändert das jedoch nichts.

Diese Analyse muss aber den Ausgangspunkt für eine marxistische Einschätzung, der politischen Taktik und Programmatik bilden, nicht die Bewertung von Ideologien und Einstellungen der Unterdrückten. Um den nationalen Gegensatz zu überwinden, bedarf es keiner abstrakten Appelle an „Völkerverständigung“ und Toleranz. Vielmehr erfordert dies ein Programm, das den Kampf für die Befreiung der PalästineserInnen, z. B. für das Rückkehrrecht aller Vertriebenen, die Schaffung eines demokratischen Staates für alle, die in Palästina/Israel leben, mit dem für eine soziale Umwälzung verbindet. Dies ist aber unmöglich, ohne den zionistischen Staat selbst in Frage zu stellen.

Wer das Existenzrechts eines rassistischen Staats für sakrosankt erklärt, muss letztlich die weitere Unterdrückung der PalästinenserInnen billigend in Kauf nehmen, weil dies die Anerkennung der Vertreibung und der bisherigen Resultate der Kolonisierung inkludiert – unabhängig von allen sonstigen Absichten. Damit fällt man nicht nur allen palästinensischen und internationalistischen Kräften in den Rücken, die gegen die Unterdrückung kämpfen, sondern auch der antizionistischen Linken in Israel und der jüdischen ArbeiterInnenklasse. Warum? Damit diese selbst zu einem fortschrittlichen politischen Subjekt werden kann, müssen RevolutionärInnen darum kämpfen, dass sie mit dem Zionismus bricht und den Befreiungskampf der PalästinenserInnen unterstützt.

Dies ist, nebenbei bemerkt, auch der wirksamste und letztlich einzig effektive Weg, reaktionären Ideologien unter den PalästinserInnen – sei es dem (klein-)bürgerlichen Nationalismus, sei es dem Islamismus – den Boden zu entziehen und die proletarischen und linken Kräfte im Befreiungskampf zu stärken.

Ideologische Nebelkerzen

Die gängige bürgerliche Sichtweise und jene der Antideutschen besteht jedoch darin, vom eigentlichen Unterdrückungsverhältnis abzusehen, dieses allenfalls als Randerscheinung zu betrachten. Der deutsche Imperialismus hat natürlich gut Gründe, den „Konflikt“ als einen zwischen der israelischen „Demokratie“ und schlecht behandelten, aber allzu radikalen PalästinenserInnen darzustellen, die auf Terror und Islamismus setzen würden. Damit oder mit ähnlichen Ideologien wird die Politik Israels prinzipiell gerechtfertigt. Dass in den letzten Jahren die Hamas und andere islamistische Gruppierungen v. a. in Gaza erstarkten, dient als zusätzliche Rechtfertigung für Besatzung und Vertreibung, die zum „Verteidigungsakt“ uminterpretiert werden.

In Wirklichkeit werden damit jedoch nur die Verhältnisse auf den Kopf gestellt. Die Unterstützung Israels bildete schon lange vor der Entstehung von Hamas und anderen islamistischen Gruppierungen, also als die palästinensische Befreiungsbewegung von säkularen, bürgerlichen oder linken kleinbürgerlichen Kräften geprägt war, einen Teil der außenpolitischen Strategie des deutschen Imperialismus. Die Unterstützung des Zionismus folgt letztlich ökonomischen und geostrategischen Interessen – und sonst nichts.

Wenn die BRD-Regierungen von historischer Verantwortung für den industriellen Massenmord am jüdischen Volk und für Antisemitismus sprachen, so hatte das nie mit einer Anerkennung der Verantwortung des BRD-Imperialismus oder ernsthafter Aufarbeitung zu tun, sondern diente letztlich nur zur ideologischen Rechtfertigung und Verschleierung eigener Ziele. Alles anders sind ideologische Nebelkerzen, die auch dadurch nicht erhellender wirken, dass sie von verschiedenen liberalen, linken und natürlich den antideutschen Gruppierungen nachgeplappert werden.

Der von uns und vielen anderen InternationalistInnen und AntiimperialistInnen vertretene Antizionismus folgt hingegen als Konsequenz aus der Analyse des Klassencharakters des zionistischen Staates und seiner Rolle als von imperialistischen Kräften abhängiger Regionalmacht.

Taschenspielertrick

Diese Form des Antizionismus mit dem israelbezogenen Antisemitismus reaktionärer Gruppierungen gleichzusetzen, ist eine perfide Verleumdung, um den berechtigten Widerstand der palästinensischen Bevölkerung und auch israelischer AntizionistInnen zu diskreditieren.

Es ist wichtig, dass alle linken Gruppen mit einem emanzipatorischen Anspruch diesen Unterschied begreifen und sich diesbezüglich nicht von reaktionären Kräften an der Nase herumführen oder unter Druck setzen lassen. Wer den Kampf gegen Antisemitismus dem gegen Besatzung und Unterdrückung entgegenstellt, betreibt eine Spaltungspolitik im Interesse der Herrschenden!

Andererseits streiten wir nicht ab, dass es israelbezogenen Antisemitismus gibt und dieser effektiv bekämpft werden muss. Die faschistische Organisation Der III. Weg etwa verwendet den Begriff „Israel“ synonym für „die Juden“ auf ihren Plakaten mit der Aufschrift „Israel ist unser Unglück“. Hier wird der Antizionismus vorgeschoben, um den Hauptinhalt, den Antisemitismus, zu verdecken. Ist damit jegliche Form des Antizionismus diskreditiert?

Um deutlich zu machen, warum dies nicht der Fall ist, sei ein anderes Beispiel genannt:  Sogenannte „völkische AntikapitalistInnen“ geben vor, den Kapitalismus überwinden zu wollen und für den Sozialismus zu kämpfen. Sie verfolgen dabei das Programm eines „nationalen Sozialismus“. Wie beim (vermeintlichen) Antizionismus ist hier nicht der (vermeintliche) Antikapitalismus der Rechten das Problem, sondern das konkrete Programm, das sie verfolgen und das sie dem Zionismus bzw. Kapitalismus entgegenstellen. Dieses Programm ist durch und durch reaktionär.

Der Antisemitismus unter palästinensischen Organisationen wie z. B. der islamistischen Hamas muss ebenfalls als extrem reaktionäre Ideologie bekämpft werden, auch wenn er anderer Wurzeln hat als der von deutschen FaschistInnen. Diese Gruppierungen und ihre AnhängerInnen stellen letztlich die extremste Form von ParteigängerInnen des deutschen Imperialismus dar, der ihre Auffassung nach bei der Aufteilung der Welt noch immer zu kurz gekommen sei. Islamistische Organisationen wie die Hamas hingegen greifen – ganz im Gegensatz zu deutschen Nazis – die reale, barbarische Unterdrückung der PalästinenserInnen auf und verknüpfen sie mit reaktionären Zielen, antisemitischen Erklärungsmustern und deuten den Konflikt von einer nationalen in eine sektiererische Frage um.

Auch diesen Kräften muss sich die gesamte Linke entschlossen entgegenstellen. Wo diese wie im Fall der Hamas einen bedeutenden Einfluss auf die unterdrückten Massen haben und teilweise auch Aktionen des Widerstandes anführen, benötigt die ArbeiterInnenklasse eine korrekte Einschätzung der Ursachen der Unterdrückung neben politischen Taktiken, um die Massen von diesen Kräften wegzubrechen. Das heißt die ArbeiterInnenklasse – ob nun die jüdische in Israel oder die in den imperialistischen Ländern – muss eine klare Position zur Unterstützung der Unterdrückten einnehmen. Ansonsten wird sie bei diesen vollkommen zu Recht kein Gehör finden.

Eine internationalistische Linke muss daher immer wieder deutlich machen, dass und wie die Kämpfe gegen Kapitalismus, Antisemitismus, Rassismus, Sexismus und andere Formen der Unterdrückung zusammenhängen und weshalb die reaktionären Kräfte keine Lösungen für die ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten anzubieten haben.

Hierfür wurden nun auch in Frankfurt die ersten Schritte gesetzt. Im Anschluss an die Demonstration kam es zu ersten Ansätzen der Vernetzung zwischen verschiedenen antiimperialistischen und antirassistischen Gruppen, angestoßen durch die Gruppe „Studis gegen rechte Hetze“. Diese Vernetzung sollte verstetigt und wenn möglich weiter ausgebaut werden. Die gegenseitige Unterstützung antiimperialistischer Kräfte auch gegen physische Angriffe sog. Antideutscher und anderer reaktionärer Gruppen wäre sinnvoll, um Veranstaltungen und Demonstrationen zu schützen und gemeinsam Aktionen zur Solidarisierung mit Befreiungskämpfen und gegen imperialistische Interventionen durchzuführen.




Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) – bedingungslos gut?

Martin Suchanek, Infomail 1103, 10. Mai 2020

Ein wichtiger Bestandteil einer kommunistischen Gruppierung besteht auch in der theoretischen, ideologischen, programmatischen Auseinandersetzung und Klärung. Nur auf Basis einer revolutionären Theorie ist letztlich eine revolutionäre Praxis überhaupt möglich.

Daher setzten wir uns im Rahmen unserer wöchentlichen Online-Veranstaltungen am 7. Mai mit dem bedingungslosen Grundeinkommen auseinander.

Seit über zwei Jahrzehnten wird diese Forderung immer wieder in sozialen Bewegungen diskutiert, aber auch von bürgerlichen Kräften als Mittel zur „Reform“ der Sozialsysteme in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung ins Feld geführt.

Daher wollen wir hier den Vortrag vom 7. Mai vollständig unseren LeserInnen zur Verfügung stellen. Wir freuen uns über Beiträge, Kommentare, Diskussionen.

Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) – bedingungslos gut?

Auf den ersten Blick scheint das eine einfache Frage zu sein, zumal wenn wir an dieser Stelle von den sehr verschiedenen Vorschlägen absehen, wie es finanziert werden soll oder es begründet wird.

Das Grundeinkommen verspricht schließlich eine Reihe unmittelbarer Verbesserungen für Menschen ohne Arbeit, mit geringen Einkommen, Menschen, die unter Schikanen der Ämter zu leiden haben.

Grundsätzlich versprechen alle Modelle für Grundeinkommen eine staatliche Transferleistung, die Personen – unabhängig davon ob sie eine Bedürftigkeit vorweisen können oder nicht – erhalten sollen. D. h. es sollen ALLE kriegen, ob nun Obdachlose, prekär Beschäftigte, FacharbeiterInnen, ProfessorInnen oder KonzerneigentümerInnen. Staffelungen sind zumeist nur bei Kindern und Jugendlichen vorgesehen, früher auch bei manchen Modellen für gering Qualifizierte. Eine Reihe von Modellen – das vorweg – beschränkt die Bezugsberechtigung allerdings nur auf StaatsbürgerInnen, schließt also einen großen Teil der MigrantInnen und alle Flüchtlinge aus.

Alle Modelle versprechen zudem, reale Probleme zu lösen: Arbeitslosigkeit, Umstrukturierung der Arbeitswelt, den Zwang, Billigjobs anzunehmen, die gesellschaftliche Abwertung nicht entlohnter Beschäftigung wie z. B. von privater Hausarbeit.

Und alle versprechen mehr Selbstständigkeit und Freiheit des Individuums, weil dieses mit einem garantierten Einkommen abgesichert sei, da es ein Grundeinkommen von 800–1500 Euro/Monat ohne Bedingungen zur freien Verfügung hätte und sich dann auch noch etwas „dazuverdienen“ könne oder auch nicht.

Im Vortrag wollen wir zuerst auf direkt bürgerliche Modelle eingehen; daran schließt eine erste Kritik an. Daraufhin beschäftige ich mich mit linken, in der Regel kleinbürgerlichen Modellen. Abschließend folgen deren Kritik und die klassenpolitische Alternative zum BGE.

1. Bürgerliche Modelle

An dieser Stelle komme ich auf einige Modelle offen bürgerlicher ÖkonomInnen, PolitikerInnen oder von UnternehmerInnen zu sprechen, also auf Vorschläge, die keinerlei antikapitalistischen Anspruch haben, wohl aber mehr Selbstbestimmung und Freiheit versprechen.

Hier sei zuerst die sog. negative Einkommensteuer erwähnt. Sie geht auf Milton Friedman, einem der Begründer des Neo-Liberalismus, zurück und bildet die Grundlage verschiedener Modelle des Bürgergeldes, aber auch etlicher Finanzierungsmodelle des BGE. Der Staat sichert praktisch jedem/r einen festzulegenden Geldbetrag, der in Friedmans Vorstellung mit der Einkommensteuerschuld verrechnet wird. Für Menschen mit keinen oder geringen Steuern ergibt sich daraus ein Plus, daher auch der Terminus negative Einkommensteuer.

Friedman koppelt seinen Vorschlag – auch das kommt in verschiedenen Spielarten  bürgerlicher Modelle immer wieder vor – an die Abschaffung anderer staatlicher Transferleistungen, verspricht Bürokratieabbau samt Einsparung der in der Sozialverwaltung Beschäftigten, …

Das ist auch etlichen, in der BRD diskutierten, Modellen ähnlich. So dem sog. „Althaus-Modell“, benannt nach dem ehemaligen Thüringer CDU-Ministerpräsidenten. Dieses wurde von der Adenauer-Stiftung schon vor gut 10 Jahren für Beträge von 800 bzw. 400 Euro berechnet und als „kostenneutral“ befunden. Warum? Weil es mit der Abschaffung der Sozialversicherung für Alter und Krankheit einhergeht, diese müsste also privat bezahlt werden. Daher wäre es auch durch Bürokratieabbau und massive Reduktion der sog. Lohnnebenkosten, also eigentlich von Lohnbestandteilen, gegenfinanzierbar.

Götz Werner, Gründer der Drogeriemarktkette dm, spricht sich auch für ein bedingungsloses Grundeinkommen aus, in der Höhe von zuerst 900,-, dann ansteigend auf 1500,- Euro. Auch er will zugleich Sozialabgaben und andere Transferleistungen abschaffen. Finanziert werden soll sein Modell durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 48 %, also v. a. Massensteuern. Auch dies soll kostenneutral sein.

Werner verspricht außerdem, dass sein Modell den Zwang zur Annahme niedrig entlohnter Arbeit abschaffen würde. Die Unternehmen würden vielmehr zur Rationalisierung und zum Ersetzen unqualifizierter Arbeit durch Maschinen gezwungen. Die Durchsetzung von „Angebot und Nachfrage“ würde, so verspricht er, gar zu höher qualifizierten Angeboten für Beschäftigte führen. Zugleich hat er auch eine frohe Botschaft für das Kapital – die Gewerkschaften würden überflüssig, weil die Menschen nur noch die Arbeit annehmen müssten, die sie annehmen wollten.

Dies ist jedoch selbst bei seinem Modell albern. Ein BGE von 1500,- Euro verbliebe unter der Höhe des von vielen Gewerkschaften geforderten Mindestlohns. Zieht man private Kranken- und Rentenversicherungsbeiträge und Mieten ab, so kommt man rasch ans untere Ende der Reproduktionskosten, also der Kosten, die notwendig sind, um die Ware Arbeitskraft zu erhalten und auch zukünftige Generationen auszubilden. Wenn wir die durchschnittlichen Kosten für Lebensmittel, Wohnung, Miete, Bildung, Kindererziehung, Betreuung von Angehörigen usw. in Rechnung stellen, bleibt bei den 1500,- Euro gerade genug zum Überleben.

2. Kritik an den bürgerlichen Vorschlägen

Faktisch laufen alle diese Modelle auf Kombilohn hinaus, also darauf, dass die Menschen zum BGE „dazuverdienen“ müssen. Der Zwang, die Arbeitskraft als Ware zu verkaufen, bleibt also bestehen.

Es ändert sich aber doch einiges. Die KapitalistInnen werden bei diesen Modellen von den sog. Lohnnebenkosten befreit. Da diese in Wirklichkeit nur als Arbeit„geber“Innenanteile verklärte Lohnbestandteile darstellen, sinken also faktisch die Lohnkosten. Zweitens ermöglicht das Modell eine Ausweitung von schlecht bezahlter Arbeit, Mini-Jobs usw., gerade weil ein Teil der Reproduktionskosten schon staatlich ausbezahlt wird.

Natürlich werden schon jetzt bestimmte Teile des Arbeitslohns über Transferleistungen – Versicherungen – bestritten bzw. wird ein Teil der Reproduktionskosten durch staatliche Einrichtungen (Schulen, Jugendfreizeiteinrichtungen … ), also über Steuern, finanziert, von denen ohnedies einen immer größeren Batzen die Lohnabhängigen bezahlen.

Mit dem Grundeinkommen oder BürgerInnengeld soll das vereinfacht werden, sollen also die Verwaltungskosten gespart werden. Alle kriegen das BGE, dafür entfallen möglichst alle Formen der Transferleistung und damit auch die Rechtsansprüche auf diese Leistungen. Der neo-liberale Trend zur Privatisierung und Individualisierung von Vorsorgeleistungen, staatlicher Ansprüche wie Bildung, Kita, … könnte so der privaten Wahl der EinkommensbezieherInnen überlassen werden.

Ideologisch wird das aber als Zugewinn von Freiheit und Selbstbestimmung verbrämt.

In Wirklichkeit wird der Zwang zum Verkauf der Ware Arbeitskraft jedoch nur in andere Formen gegossen.

Außerdem wird eine mehr oder minder große Reservearmee der ArbeiterInnenklasse (also von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung) dauerhaft in Rechnung gestellt. Seit Jahrzehnten wird in vielen Analysen das angebliche Verschwinden der Arbeit, die mehr oder minder vollständige Ersetzung menschlicher Arbeitskraft beschworen. Diese Behauptungen haben sich nicht nur empirisch als fragwürdig, ja falsch erwiesen, gerade wenn wir das Wachstum der globalen ArbeiterInnenklasse in den letzten Jahrzehnten betrachten. Die Freisetzung menschlicher lebendiger Arbeit wird zudem als eine unvermeidliche „natürliche“ Entwicklungstendenz dargestellt, als „Sachzwang“ und Automatismus, nicht als Folge der Kapitalakkumulation, also eines gesellschaftlichen Verhältnisses.

Akzeptiert man aber die Verklärung zur unvermeidlichen, „natürlichen“ Entwicklung, so erscheint das BGE als humanere Alternative zu Hartz IV alternativlos.

Das BGE bildet somit ein bürgerliches Programm, das nur auf eine andere Form der Verwaltung der Erwerbslosen und prekär Beschäftigten hinausläuft. Am meisten wird das vom Anthroposophen und Humanisten Götz Werner verkleistert. Leute wie Althaus, die CDU-AnhängerInnen von BürgerInnengeld oder Friedman machen das nicht. Sie sind gewissermaßen ehrlicher, jedenfalls offener bezüglich ihrer Klassenziele, aber auch realistischer, was die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus betrifft.

Aus dem Gesagten wir auch schon deutlich, dass das BGE an grundlegenden Verhältnissen nichts verändert:

  • Das betriff zuerst die Struktur der gesellschaftlichen Arbeit, der Arbeitsteilung, das Verhältnis von Beschäftigten und Arbeitslosen, die Verteilung über die Branchen, aber auch das Verhältnis von Mann und Frau. All das bleibt vom BGE grundsätzlich unberührt, eventuell verstärkt es z. B. die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung sogar.
  • Die Ungleichheit zwischen StaatsbürgerInnen und NichtstaatsbürgerInnen wird verfestigt. Alle bürgerlichen Modelle und auch viele andere, die Transferleistungen durch BGE ersetzen wollen, würden die Lage nichtdeutscher Menschen massiv verschlechtern, weil diese vom BGE ausgeschlossen wären.
  • Als Gesellschaftsmodelle verfestigen, ja verschärfen sie somit die Spaltung der ArbeiterInnenklasse – insbesondere auch zwischen Beschäftigten und Unbeschäftigten. Sie laufen nämlich auf eine Umverteilung des Einkommens innerhalb der Klasse hinaus. Ein mehr oder minder großer Teil der Finanzierung würde nämlich durch Lohnabhängige für Lohnabhängige über Steuern oder andere Mittel erbracht werden.
  • Alle BGE-Modelle setzen voraus, dass die Zahl der Beschäftigten von den Akkumulationsbedürfnissen des Kapitals bestimmt wird.

Es geht einzig um eine Umverteilung von Einkommen, die möglichst „kostenneutral“, also ohne Kosten für das Kapital, vonstattengehen soll. Die Verteilung der Produktionsmittel in der Gesellschaft, deren Besitz von der KapitalistInnenklasse monopolisiert ist, bleibt außen vor.

3. Linke Modelle

Neben den Modellen von offen Bürgerlichen gibt es zahlreiche, im weitesten Sinn linke Modelle. Z. B. präsentiert Ronald Blaschke, Mitstreiter von Katja Kipping und Vertreter im Rat des „Netzwerk Grundeinkommen“, im Oktober 2017 eine Übersicht über 14 Modelle. Sicher gibt es weit mehr. Bei der Finanzierung streben die meisten – im Gegensatz zu Althaus oder Friedman – eine Umverteilung von oben nach unten an. So sollen manche auch über Steuern – einschließlich einer Teilfinanzierung über Vermögensteuer – finanziert werden, andere über Änderung der Sozialabgaben usw. Die vorgeschlagene Höhe des BGE reicht von 1000,- bis 1500,-, etliche machen dazu auch keine Angaben. Politisch kommen sie von Teilen der SPD, Grünen, Kirchen, Sozialinitiativen/Verbünden, attac, Linkspartei. Außerdem wird das BGE von Gruppierungen und TheoretikerInnen des Post-Autonomismus (z. B. Negri und Hardt im „Empire“) favorisiert und zu einem Mittel zur Schaffung einer anderen, postkapitalistischen Gesellschaft stilisiert.

Die linken Modelle – auch hier gibt es eine ganze Reihe – versuchen, die Defizite der bürgerlichen zu überwinden, indem sie die Forderung nach bedingungslosem Grundeinkommen an bestimmte Ziele binden:

a) Es soll wirklich bedingungslos sein – d. h. wirklich keine Form der Bedürftigkeitsprüfung inkludieren (d. h. es gibt natürlich auch Geld für Reiche, die aber insgesamt mehr einzahlen als erhalten).

b) Es muss unabhängig von der Staatsangehörigkeit allen zukommen, die hier leben. Bei manchen wird es auch als „globales soziales Recht“ gefordert.

c) Es soll armutsfest sein – daher auch eine Mindesthöhe haben, die zum Leben in Würde reicht.

Da der Begriff der „Würde“ ökonomisch vage und unbestimmt ist, so dient er mehr als Wunsch, denn als reale Bestimmung. Im Grund sollen auch die linken BGEs die Reproduktionskosten decken, genauer das notwendige Minimum, um unter gegebenen Bedingungen die Kosten für Grundbedürfnisse einer Person (Essen, Wohnen, Ausbildung, Freizeit) sowie auch zukünftiger Generationen zu sichern.

Was die Höhe betrifft, unterscheiden sich die linken Modelle also nicht substantiell von den Vorschlägen eines Götz Werner. Ihr Unterschied liegt wohl eher in den zahlreichen Heilsversprechen, die zur Begründung des BGE herhalten sollen und in ihrer Gesamtheit kein schlüssiges Modell darstellen, wohl aber dem kleinbürgerlichen Klassenstandpunkt ihrer VertreterInnen entsprechen. So verweist das „Netzwerk Grundeinkommen“ darauf, dass folgende Argumente für ein BGE sprechen würden:

  • „mehr Autonomie für Unternehmerinnen und Unternehmer durch deren Befreiung von der Verantwortung als ‚Arbeitgeber‘,
  • mehr Autonomie für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch die grundsätzliche Möglichkeit der Nichterwerbstätigkeit bzw. einer sinnvollen Tätigkeit außerhalb der Erwerbsarbeit,
  • mehr Autonomie für alle durch die Sicherung von Existenz und Beteiligung am gesellschaftlichen Leben ohne Wenn und Aber,
  • größere Unabhängigkeit bei der Suche nach einem Erwerbseinkommen,
  • größere Verteilungsgerechtigkeit,
  • Anreiz zu größerer Wertschöpfung und Rationalisierung,
  • Flexibilität des Arbeitsmarktes,
  • größere Effizienz des Sozialstaates,
  • Wahrung der Würde aller Menschen und die Beseitigung von Stigmatisierungen vor allem bei den gegenwärtig Erwerbslosen und Sozialhilfebeziehern,
  • Humanisierung der Arbeit,
  • Förderung der Bildung,
  • Stärkung der Familien,
  • Förderung von Existenzgründungen wie auch von ehrenamtlichen Tätigkeiten,
  • Förderung von Kreativitätspotenzialen durch die Möglichkeit der Muße.“

Dieser politische Gemischtwarenladen entspricht der zumeist kleinbürgerlichen Ausrichtung der Initiativen. Er zeigt aber außerdem, dass auch die „linken“ Initiativen keineswegs unbedingt  fortschrittliche Begründungen anführen.

Vor allem ist hier nichts von einem bestimmten, proletarischen Klassenstandpunkt zu merken; im Gegenteil, das BGE wird auch in vielen linken Varianten als „Menschheitsmodell“ angepriesen, das allen Klassen, Beschäftigten wie UnternehmerInnen zugutekommen und zugleich den schrittweisen Aufbau eines nicht auf Lohnarbeit basierenden Sektors erlauben würde.

Bei den linkesten Modellen/Initiativen verknüpft sich das mit bestimmten ideologischen Zielen/Werten, die mit dem BGE durchgesetzt würden:

  • Entkoppelung vom Zwang zur Lohnarbeit oder gar vom „Arbeitszwang“; Einstieg in eine neue Form der Vergesellschaftung,
  • Kritik an der Arbeitsgesellschaft, Umbewertung der Nichtlohnarbeit,
  • verbunden mit Anspruch auf Änderung geschlechtsspezifischer Teilnahme.

Diese werden aber nicht als Kampfziele formuliert, sondern als quasi automatische Folge des BGE suggeriert.

4. Kritik an „linken“ Vorstellungen

Schon sehr früh in der Debatte wurde dagegen von sozialistischen, feministischen, operaistischen linken Strömungen massiver und oft auch richtiger Widerspruch eingelegt. Die Kritik bezog sich sowohl darauf, dass das BGE seine Versprechen nicht einlösen könne, wie auch auf die negativen Folgen der zugrundeliegenden politischen Zielvorstellungen.

Wir wollen hier auch unsere wichtigsten Einwände darstellen:

1. Die Modelle des BGE werden als sozialpolitische staatliche Reformmodelle vorgetragen.

Sie erscheinen nicht als Kampfziele in der Auseinandersetzung gegensätzlicher Klassen, sondern als Abfederungsmittel gegen negative Auswirkungen des kapitalistischen Systems selbst. „Gerechtigkeit“ wird als Rechenaufgabe, weniger als Kampfauftrag verstanden. Das BGE soll gewissermaßen alle Klassen, abzüglich ihrer „uneinsichtigsten“ Teile, glücklich machen. Es ist daher kein Zufall, dass sich die Kritik der VertreterInnen des BGE nicht nur an staatlichen Zwangsmaßnahmen festmacht und gegen die GegnerInnen ihrer Konzepte in der Bourgeoisie richtet, sondern auch gegen große Teile der organisierten ArbeiterInnenbewegung und die sozialistische Linke.

2. Im Grunde wird die Existenz einer industriellen Reservearmee als feststehendes Faktum nicht nur akzeptiert, sondern auch schöngeredet, indem unterstellt wird, dass die weniger repressive oder „repressionsfreie“ Alimentierung des Arbeitslosengeldes, von Hartz IV usw. zu einer schrittweisen, wenn nicht gar automatischen Überwindung des Systems der Lohnarbeit führen würde.

3. Die Ursachen von Armut usw. werden als Verteilungsproblem aufgefasst. Es wird daher auch bei allen Modellen eine Lösung vorgestellt, die Einkommen der Gesellschaft einfach nur umzuverteilen. Damit würden die Auswirkungen der Ausbeutung, Arbeitslosigkeit, … nicht nur vermindert. In den scheinbar radikalsten Begründungen wird auch behauptet, dass so das Privateigentum an Produktionsmitteln immer nebensächlicher werde, weil ja mehr im Sektor geschaffen würde, der nicht durch das Verhältnis von Lohnarbeit zu Kapital geprägt wäre. Andersrum: Wozu sich noch der Mühe unterziehen, das Kapital zu enteignen, wenn im BGE-Sektor ohnedies „neue“ Formen des Zusammenlebens aufgebaut werden?

4. Die verschiedenen Einkommensarten der Klassen (Lohn, Profit, Grundrente) erscheinen beim BGE nur als Mehr oder Weniger an Geld, also rein quantitativ verschieden. Sie sitzen damit dem Schein der bürgerlichen Gesellschaft auf, wie er sich auf der Ebene der Warenzirkulation aufdrängt. Ob das Geld aus Lohnarbeit oder Profit, aus Erbschaft oder Lottogewinn stammt, sieht im keine/r an. Daher erscheint es auch als nebensächlich, ob Menschen als LohnarbeiterInnen beschäftigt oder freigesetzt sind und die gleiche Summe als BGE beziehen. Dabei verkennen die BGE-AnhängerInnen aber das Spezifische des Arbeitslohns im Unterschied zu anderen Einnahmequellen.

5. Der Arbeitslohn ist bekanntlich nichts anderes als die Erscheinungsform des Werts der Ware Arbeitskraft, ihr Tauschwert, genauer dessen Preisform.

Hinter dieser Erscheinungsform verschwindet jedoch das Spezifische der Ware Arbeitskraft im Kapitalismus, nämlich ihr Gebrauchswert, Mehrwert für das Kapital zu schaffen.

Auf der gesellschaftlichen Oberfläche, in der alltäglichen Wahrnehmung und damit auch im spontanen Bewusstsein aller Klassen erscheint die Mehrwert schaffende Arbeit als eine Tätigkeit unter vielen anderen. Die Lohnabhängigen stellen auf dieser Ebene nur eine besondere Gruppe von EinkommensbezieherInnen dar.

Daher kann es auch so erscheinen, als würde eine Umverteilung der Einkommen, also eine immer größere Einkommensangleichung auch zur graduellen Abschaffung der Zwangsgesetze der bürgerlichen Gesellschaft führen können, insbes. auch zur Abschaffung des Zwangs zum Verkauf der Ware Arbeitskraft.

Das ist reine Illusionsmalerei – und auch insofern gefährlich, als die realen gesellschaftlichen Verhältnisse verkannt und auf den Kopf gestellt werden. Im Kapitalismus bestimmt die Produktionssphäre die Verteilung, nicht umgekehrt. Aus ihrer Eigendynamik heraus muss ein BGE also gerade zum gegenteiligen Resultat führen als dem, das von den BGE-VertreterInnen angestrebt wird. Das BGE tendiert unter kapitalistischen Verhältnissen nämlich immer zum Kombilohn. Insofern ist es kein Zufall, dass sich in Zeiten von Krisen Teile der Bourgeoisie und bürgerliche Regierungen zu „Reformmodellen“ mit dem BGE entschließen. So wird dies z. Z. in Spanien und Irland erwogen.

Die „linken“ VertreterInnen des BGE erweisen sich hier als blauäugig, utopisch, weil sie selbst der Oberflächenerscheinung der gesellschaftlichen Ungleichheit aufsitzen, diese wesentlich als ungerechte Verteilung auffassen und darauf verkürzen.

6. Dabei bestimmt in Wirklichkeit die Produktionssphäre – die Sphäre der Mehrwertproduktion – die Verteilung des Reichtums. Lohn, Profit, Grundrente sind unterschiedliche Einkommensquellen gesellschaftlicher Klassen, die durch ihre Stellung im Produktionsprozess bestimmt werden. In der Geldform erscheint dieser qualitative Unterschied jedoch ausgelöscht, nur als ein quantitativer Unterschied. Die ungleiche Verteilung folgt aus den Verhältnissen in der Produktionssphäre, stellt also einen vom Gang der Kapitalakkumulation abhängigen Faktor dar.

7. Das ist auch ein Grund, warum andere Formen der Ungleichheit und der Unterdrückung durch bloße Veränderungen an der Einkommensverteilung allenfalls zeitweilig abgemildert, doch nicht überwunden werden können. Das Kapitalverhältnis stellt nämlich das wesentliche gesellschaftliche Verhältnis dar, weil es alle anderen in ihren Ausformungen unterordnet, bestimmt. Marx selbst weist darauf bei der Analyse der Reproduktion des Kapitals, also der Akkumulation, im ersten Band des „Kapital“ hin.

8. Dort macht er auf den Unterschied aufmerksam, ob wir das Kapitalverhältnis nur vom Standpunkt des/r einzelnen KapitalistIn zum/r einzelnen ArbeiterIn betrachten oder als Verhältnis zwischen Klassen. Solange wir es als Verhältnis zweier Individuen analysieren, erscheint die Zeit außerhalb der Arbeitszeit als „frei“. Betrachten wir Kapital und Arbeit jedoch als Gesamtklassen, so zeigt sich, dass selbst die Sphäre der Reproduktion und der individuellen Konsumption der Arbeitenden noch vom Kapital bestimmt wird – und damit natürlich auch die Reproduktion der Lohnabhängigen, die ihrer Arbeitskraft nicht verkaufen können, unabhängig davon, ob diese ALG 1, Hartz IV, BGE oder gar nichts kriegen.

9. Die Bewegung des Gesamtlohns der ArbeiterInnenklasse in seinen verschiedenen Bestandteilen (Nettolohn,  indirekte Lohnbestandteile, staatliche Transferzahlungen …) hängt dabei maßgeblich von der Akkumulationsbewegung des Kapitals ab. Sie reguliert die Höhe des Gesamtlohns je nach konjunkturellen und längerfristigen strukturellen Profitabilitätsbedingungen. Daher findet darin auch die Höhe des BGE der LohnarbeiterInnen – als eine Form des Gesamtlohns betrachtet – ihre Grenzen.

10. Im Rahmen des Kapitalismus gibt es nur eine Weise, wie die ArbeiterInnenklasse die Höhe des Arbeitslohns verteidigen oder ausdehnen kann – durch organisierten betrieblichen, gewerkschaftlichen und politischen Kampf.

11. Die Zahl der Arbeitslosen – der industriellen Reservearmee – ist dabei eine zentrale Größe für die Erfolgsaussichten der Klasse. Je größer der Anteil der Beschäftigten, desto größer die Kampfkraft, die ins Feld geführt werden kann. Je größer die Anzahl der Arbeitslosen, umso schwieriger wird die Verteidigung der Einkommen, Lebensbedingungen usw.

12. Den Kampf auf ein BGE zu konzentrieren und dieses gar zu einem Allheilmittel für eine andere Gesellschaft zu stilisieren, bedeutet bestenfalls, den Kampf auf die Sicherung der Existenz der Reservearmee zu konzentrieren. Es bedeutet auch, sich dauerhaft mit einer Millionenmasse von Arbeitslosen oder Unterbeschäftigten, also einer weniger kampfstarken Klasse abzufinden. Es schwächt sie letztlich – und ein BGE, das die Existenz sichert, wird so auch nicht aufrechterhalten werden können.

13. Hier kommt eine weitere zentrale Schwäche aller linken VertreterInnen des BGE ins Spiel. Die Frage, wie die Klasse zu einer kämpfenden Klasse werden kann, wie sie sich als ArbeiterInnenklasse überhaupt konstituiert, wie sich Klassenbewusstsein bildet, existiert für sie erst gar nicht. Bestenfalls bestehen die Lohnabhängigen als eine Gruppe schlechter verdienender EinkommensbezieherInnen neben anderen. Die VertreterInnen des BGE verfolgen daher auch keine klassenpolitische Ausrichtung, sondern stellen vielmehr eine kleinbürgerliche Strömung dar, die die zentrale Bedeutung des Klassenkampfes für das Erringen von Verbesserungen wie für eine andere Gesellschaft durch Hoffnungen in den Selbstlauf eines Reformmodells ersetzt.

14. Der Klassenkampf kann und muss jedoch geführt werden und auch im Zentrum unserer politischen Perspektive stehen, wenn Erwerbslosigkeit, Entlassungen und damit weitere Verschlechterungen für beschäftigte und unbeschäftigte LohnarbeiterInnen verhindert werden sollen. Dass die Gewerkschaftsführungen den Kampf nicht oder nur auf extremer Sparflamme führen, heißt nicht, dass er nicht geführt werden kann. Es bedeutet aber, dass wir selbst eine klassenkämpferische Bewegung aufbauen müssen – in den Betrieben, aber auch unter den nicht beschäftigten Teilen der ArbeiterInnenklasse.

15. Für Arbeitslose, RentnerInnen, StudentInnen usw. treten wir für eine Mindesthöhe ihrer Leistungsbezüge ein – und zwar in der Höhe des Mindestlohns und ohne Schikanen, Zwang vom Arbeitsamt, irgendeine Arbeit anzunehmen usw. Zur Zeit wären das mindestens 1600 Euro/Monat. Dies soll für alle Betroffenen dieser Gruppen unabhängig von ihrer StaatsbürgerInnenschaft gelten. Das scheint manchen einem bedingungslosen Grundeinkommen nahezukommen – aber es unterscheidet sich grundsätzlich durch die politische Stoßrichtung, die damit verbunden wird.

16. Beim BGE bildet nämlich die Verteilung der Transferleistungen den Hauptaspekt. Für uns steht hingegen der Kampf für folgende Forderungen im Zentrum, die unmittelbar das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital berühren:

  • gegen alle Entlassungen und Schließungen;
  • für Arbeitszeitverkürzung, um alle beschäftigen zu können. Der Kampf für eine 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich stellt einen wichtigen ersten Schritt dar;
  • für Mindestlohn von 13,50 Euro/Stunde; Erhöhung der Tariflöhne.

17. Diese Losungen verbinden wir mit der Forderung nach Enteignung der Unternehmen, die mit Kürzungen, Massenentlassungen, Schließungen drohen; mit dem Kampf für Fortführung und Reorganisation der Produktion und Dienstleistungen unter Kontrolle der Arbeitenden und für die Umstrukturierung der Produktion gemäß den Bedürfnissen der Gesellschaft und ökologischer Nachhaltigkeit.

18. Wenn wir nämlich, wie manche linke AnhängerInnen des BGE proklamieren, das System der Lohnarbeit und den Kapitalismus überwinden wollen, wird das nicht dadurch geschehen, dass BGE-BezieherInnen scheinbar selbstbestimmt in Nischen alternative Produkte schaffen, sich um andere kümmern usw. Dabei mögen nützliche Dinge produziert werden, aber die Gesellschaft verändert das nicht. Vielmehr müssen die schon geschaffenen sachlichen Produktionsmittel, die heute Eigentum der KapitalistInnenklasse bilden und für deren Profitzwecke produzieren, unter die Kontrolle der ProduzentInnen, also der Gesellschaft gestellt werden. Das ist jedoch nur möglich, wenn die ArbeiterInnenklasse über eine möglichst große Kampfkraft und Bewusstheit verfügt, um die Herrschaft des Kapitals zu brechen und selbst die politische Macht zu erringen. Nur so ist es möglich, die Gesellschaft grundsätzlich umzustrukturieren und erste Schritte zu einer sozialistischen Planwirtschaft zu machen.

19. Wenn wir das BGE kritisieren, so kritisieren wir Konzept und Absichten seiner bürgerlichen und auch vieler kleinbürgerlichen VertreterInnen. Die linken VertreterInnen des BGE kritisieren wir nicht wegen ihrer proklamierten Ziele, sondern weil ihr Konzept den eigenen fortschrittlichen Zielen letztlich zuwiderläuft. Mit einer revolutionären Klassenpolitik ist das BGE nämlich auch in seinen linken Varianten unvereinbar. Gegen die Krise braucht es vielmehr eine Strategie, ein Programm, das den Kampf gegen Entlassungen, Schließungen, für Mindestlohn und Einkommen ins Zentrum rückt und mit dem Kampf für die Enteignung des Kapitals verbindet.