Kritik des transnationalen Feminismus

Leonie Schmidt, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Transnationaler Feminismus? Viele, insbesondere im deutschsprachigen Raum, haben diesen Begriff wahrscheinlich noch nicht gehört. Doch Autorinnen wie Arruza, Bhattacharya und Fraser, die „Feminismus für die 99%“ verfasst haben oder Verónica Gago, die in„How to change everything“ einen Vorschlag für eine feministische Internationale skizziert – sie alle sind  von theoretischen Konzeptionen des transnationalen Feminismus geprägt. Daher durchziehen diese Ideen auch die Frauen-/Fem*Streikbewegungen, die in den letzten Jahren in verschiedenen Ländern am 8. März viele Personen auf die Straße bringen konnten.

Feministische Streikwelle

Die Streiks haben ihren Ursprung 2016 in Lateinamerika im Rahmen der ursprünglich argentinischen Bewegung #Ni Una Menos (Nicht eine mehr), welche sich vor allem auf die vielzähligen Femizide bezog, und breiteten sich bis 2019 weltweit aus. So gingen am 8. März 2018 in über 177 Ländern Menschen für die Rechte der Frauen auf die Straße. Allein in Spanien streikten 2018 und 2019 6 Millionen Frauen gegen sexuelle Gewalt, für gleiche Löhne und das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper. In der Türkei demonstrierten mehrere Tausende trotz starker Repression seitens des Erdogan-Regimes. In Pakistan beteiligten sich am Aurat-Marsch in den größeren Städten wie Lahore, Karatschi, Hyderabad und Islamabad ebenfalls Tausende an den Aufmärschen. Doch Pandemie und daraus resultierende Einschränkungen von Protestmöglichkeiten haben scheinbar zu einem Abflachen der Bewegung geführt. Es folgten Solidarisierungen mit dem Protest iranischer Frauen sowie lokale Streiks, welche über das Jahr verteilt stattfanden, wie in der Schweiz, Baskenland oder in Island (siehe Artikel dazu in dieser Ausgabe).

Doch die immense Kraft des internationaler Frauen-/ Fem*Streiks konnte auf lokaler Ebene nicht derartig reproduziert werden. Denn wenngleich sich die Organisator:innen immer wieder auch auf Frauen in anderen Ländern und deren Kämpfe bezogen, das Ausbleiben von internationaler Absprache und Koordinierung, die diese Streikbewegung auf ein höheres Level heben könnten, blieb aus.

Die Potenziale und die ursprüngliche Anziehungskraft, die die Frauen-/Fem*Streikbewegung ausübte, wurden also nicht genutzt. Im Folgenden wollen wir uns deswegen anschauen, welche Rolle der transnationale Feminismus dabei spielt. Dafür wollen wir zuerst betrachten, was diesen überhaupt ausmacht, wie er entstehen und sich etablieren konnte, und gehen dann über in eine Kritik der theoretischen Ansätze. Im letzten Teil wollen wir dann aufzeigen, was unserer Meinung nach stattdessen notwendig ist, um den Imperialismus und seine patriarchalen Strukturen weltweit zu schlagen.

Was ist überhaupt transnationaler Feminismus?

Wie bei den meisten politischen Strömungen, gibt es auch im transnationalen Feminismus unterschiedliche Ausprägungen und Schwerpunktsetzungen. Den gemeinsamen Kern bildet jedoch die Ablehnung einer globalen, international zusammenhängenden und koordinierten feministischen Bewegung. Dies entspringt aus der Annahme, dass nicht alle Frauen auf die gleiche Weise und aus gleichen Gründen unterdrückt werden. Somit haben und können sie auch  keine gleichen Interessen vertreten. Die Ausmaße dieser Ablehnung sind von Theoretiker:in zu Theoretiker:in unterschiedlich stark ausgeprägt. So fordern fordern manche durchaus eine lose Zusammenarbeit, eine gegenseitige Bezugnahme und einen Erfahrungsaustausch, wie sie auch in der Frauen-/Fem*Streikbewegung stellenweise umgesetzt wurden.

Dem zugrundeliegende Idee ist die Ablehnung der „globalen Schwesternschaft“, die vom westlichen Feminismus propagiert wird. Das schließt auch ein, dass feministische Ideale oder Werte, wie sie von westlichen Feminist:innen auf Frauen aus Halbkolonien projiziert werden, als eurozentrisch, unangebracht sowie paternalistisch verstanden werden. Das Leben in der westlichen Welt solle als Ideal übergestülpt werden – obwohl es komischerweise auch dort noch Frauenunterdrückung gibt. Ein nachvollziehbares Beispiel sind Vertreter:innen wie Alice Schwarzer, die der Meinung sind, Frauen aus Halbkolonien müssten in erster Linie gegen religiöse Unterdrückung kämpfen und wären frei, sobald sie beispielsweise das Kopftuch ablegen „dürften“ – ganz egal ob diese vielleicht ganz andere Probleme für ihre Unterdrückung als Frau identifizieren (zum Beispiel imperialistische Ausbeutung und Abhängigkeiten). Oftmals geht dies damit einher, Frauen aus Halbkolinien in eine Opferrolle zu drängen. Schließlich müssen die „erstmal über ihre Rechte aufgeklärt werden“. Gleichzeitig gehen Teile des transnationalen Feminismus (z. B. Spivak, Mitbegründerin der postkolonialen Theorie) sogar von einer Kompliz:innenschaft westlicher Frauen mit dem westlichen Imperialismus aus, weswegen das Ziel von Spivak nicht darin besteht, Gemeinsamkeiten in ihrer Lage als unterdrückte Frauen zu erkennen, sondern die Verbindung („linkage“) zu begreifen. Daraus resultiert auch eine Ablehnung von  generalisierenden Theorien wie etwa der marxistischen über Imperialismus oder eines Klassenbegriffs, da diese den Blick von den spezifischen lokalen Zusammenhängen ablenken würden.

Zuerst das Positive: Eine Kritik am Begriff der „globalen Schwesternschaft“ ist mehr als notwendig und berechtigt. Es gibt zwar Probleme, die alle Frauen treffen, aber eben nicht auf die gleiche Art und Weise – sei es beim Kampf gegen Gewalt an Frauen, Selbstbestimmung über den eigenen Körper oder der Ungleichverteilung der Hausarbeit. Das erzeugt letzten Endes trotzdem die Illusion von Frauen als Gesamtheit. Nachvollziehbar ist das am besten am Beispiel der „Girlboss“-Mentalität. Während auf der ganzen Welt Frauen in schlechten, zumeist informellen Arbeitsbedingungen angestellt sind sowie der Gender Pay Gap ein reales Problem ist, wird oftmals der Fokus auf Forderungen wie „Frauenquote in Führungsetagen“ gelegt oder die Förderung von Frauen als Unternehmerinnen, ganz nach dem Motto „Representation matters“. Sind diese jedoch in der Führungsriege angekommen, liegt es – Überraschung! – nicht in ihrem Interesse, dass  Löhne steigen, denn das könnte den Profiten schaden. Sie werden nicht zugunsten der „globalen Schwesternschaft“ anfangen, höhere Löhne zu zahlen oder  unbefristete Verträge auszustellen. Das würde ihre eigene Position innerhalb der kapitalistischen Konkurrenz gefährden. (Und wenn sie es tun, würden sie aufgrund dieser untergehen.) Somit hilft die Girlboss-Mentalität der Mehrheit der Frauen der Arbeiter:innenklasse sowohl in imperialistischen Staaten als auch in Halbkolonien kein Stück. Für sie ist es letzten Endes egal, wer in der Führungsetage sitzt, wenn es darum geht, ob man vom Lohn das Leben bestreiten kann. Dabei muss angemerkt werden, dass die Lage der Arbeiterinnen nicht komplett gleich ist. In den imperialistischen Staaten ist die Arbeiter:innenklasse natürlich privilegierter als die in Halbkolonien. Doch auf diese Frage wollen wir später noch einmal zurückkommen.

Herauszustellen ist, dass auch wir die Idee des bürgerlichen Feminismus ablehnen, es würde eine globale klassenübergreifende Schwesternschaft geben. Ein damit einhergehendes Problem ist nämlich auch, dass die bürgerlichen Feminismen keine Antwort darauf haben, wie Frauenunterdrückung eigentlich überwunden werden kann. Sie setzen sich nur für Reformen und somit für die Festigung ihrer eigenen Stellung ein und da sie daher den Imperialismus nicht angreifen (wollen), müssen sie sich auch umso mehr aufklärerisch und eurozentristisch gegenüber Frauen in Halbkolonien verhalten. Somit basiert der weiße bürgerliche Feminismus auch auf der Überausbeutung der Frauen in Halbkolonien. Dies entspringt jedoch nicht aus kulturellen Unterschieden, einer  „besonderen Psychologie“ der Frauen in den Halbkolonien oder einer grundsätzlichen, klassenunabhängigen Kompliz:innenschaft westlicher Frauen. Das Problem liegt woanders und zwar in der Klassengesellschaft und im Imperialismus selbst. Diese benötigen die doppelte Ausbeutung der Arbeiterin, da diese einerseits Mehrwert in der Produktion erwirtschaftet und andererseits die unentlohnte Reproduktion der Ware Arbeitskraft in der Arbeiter:innenfamilie verrichtet. Hier sehen wir also den Grund, warum es keine globale Schwesternschaft gibt: Die Interessen der Frauen verschiedener Klassen unterscheiden sich genauso wie die konkrete Lage der Frauen in imperialistischen Staaten und in Halbkolonien. Doch gleichzeitig hegen Frauen der Arbeiter:innenklasse international nicht nur ein gemeinsames objektives Interesse, die materielle Grundlage der Frauenunterdrückung, den Kapitalismus, zu überwinden; sondern auch die Fähigkeit dazu aufgrund ihrer Stellung im Produktions- und Verwertungsprozess.

Wie ist der transnationale Feminismus entstanden und wie hat er sich entwickelt?

Verfasst wurden die Grundlagen des transnationalen Feminismus bereits in den 1970er, 1980er Jahren und stellen eine Reaktion auf das Fehlen eines internationationalistischen Programms dar, das weder bürgerliche Feminist:innen aufgrund ihres Fehlschlusses der globalen Schwesternschaft geben konnten noch die damalige Arbeiter:innenbwegung, in der Reformismus sowie Stalinismus die führenden Kräfte darstellten. So gewann diese Strömung mit dem Zusammenbruch des Stalinismus sowie  der Veränderung der Weltlage – dem Beginn der Globalisierung – schließlich mehr Relevanz in den 1990er Jahren. Diesen Prozess wollen wir im Folgenden skizzieren, um für die kommende Auseinandersetzung mit den Theoretiker:innen eine Grundlage zu schaffen.

a) Verrat und Zerfall des Stalinismus

So wie der transnationale Feminismus eine Strömung innerhalb des feministischen Spektrums ist, so der Stalinismus eine der Arbeiter:innenbewegung, die noch dazu als Marxismus auftritt. Einen vollen Abriss der Entwicklung können wir an dieser Stelle nicht geben, jedoch halten wir es für notwendig, auf eine Punkte einzugehen, um aufzuzeigen, warum einige Kritikpunkte seitens der transnationalen Feminist:innen berechtigt sind – aber letzten Endes nicht den Marxismus, wohl aber seine stalinistischen und reformistischen, verfälschenden Lesarten treffen. Dabei können wir an dieser Stelle nicht auf alle Kritikpunkte eingehen. Für den Gegenstand relevant sind jedoch vor allem zwei Punkte: Die dem Stalinismus zugrundeliegende Etappentheorie sorgte für fehlerhafte politische Außenpolitik, da sie zur illusionären Strategie der globalen „friedlichen Koexistenz“ mit dem Imperialismus führt. So wurden Initiativen der Arbeiter:innenklasse wie in Griechenland oder Polen und Revolution wie in Spanien und anderen Ländern verraten, da Unterstützung nur in in Unterordnung unter die außenpolitischen Ziele der stalinistischen Bürokratien bei ihren eigenen Manövern mit dem Imperialismus stattfand. Zudem spielte in den 1980er Jahren die UdSSR beispielsweise in Afghanistan eine konterrevolutionäre Rolle sowohl in der Art, wie sie die fortschrittlichen Kräfte unterstützte, wie auch in ihrem beschämenden Abrücken von jenem Lager im Zuge seiner Kapitulation vor dem Imperialismus. Auch die „Volksdemokratische Partei Afghanistans“ war zum Beispiel bereit, die Kampagne gegen Analphabetismus unter Frauen zu stoppen, um mit den islamischen Stammesfürsten zu einem Kompromiss zu kommen. Doch der Stalinismus verriet die Interessen der proletarischen Frauen auch auf anderer Ebene: Während es nach der Oktoberrevolution 1917 diverse Anstrengungen gab, die Hausarbeit zu vergesellschaften und Rechte auf körperliche Selbstbestimmung umzusetzen, drängte der Stalinismus darauf, die sogenannte „neue Familie“ umzusetzen, letztendlich auch nichts anderes als das Ideal der bürgerlichen Familie mit sowjetischem Anstrich, bei dem die Mutterrolle auf eine reaktionäre Art und Weise stark unterstrichen und die Frau somit wieder in die häusliche private Reproduktionsarbeit gedrängt wurde. Auch die Mangelwirtschaft der UdSSR fiel insbesondere den Frauen zur Last, da sie nicht die Möglichkeit hatten, Küchengeräte zu nutzen, die in imperialistischen Ländern längst Einzug gehalten hatten und dort die Intensität der Hausarbeit massiv verkürzten. Auch die Nahrungsmittelknappheit fiel vor allem Frauen zur Last. Die staatlichen und gesellschaftlichen Führungspositionen in Partei, Gewerkschaft usw. blieben außerdem auch eine Domäne der Männer. Es gab zwar auch diverse Errungenschaften, aber nicht im Ansatz genügend, was notwendig gewesen wäre, um die Frauenbefreiung wirklich voranzutreiben. Im Angesicht dieser Politik ist es nicht verwunderlich, dass diese, unter dem Label des Marxismus betrieben, kein Mittel zur Befreiung sein kann – ob nun für Frauen insgesamt oder in der halbkolonialen Welt.

Die Restauration des Kapitalismus in Russland, China und Osteuropa stellt zwar auch eine Niederlage der Arbeiter:innenbewegung dar und wurde von vielen als Beweis betrachtet, dass sich gezeigt habe, dass der Marxismus nicht siegen könne und gescheitert wäre. Somit kehrten viele ihm den Rücken zu und suchten nach anderen Ideen und Theorien, die „moderner“ erscheinen sowie die Fehler des angeblichen Marxismus nicht wiederholen sollten – z. B. Theorien des Poststrukturalismus und des Dekonstruktivismus. Auch der Queerfeminismus von Butler entspringt dieser Zeit.

b) Aufkommen der Globalisierung

Gleichzeitig kam es unter anderem aufgrund dessen, dass kein Systemantagonismus mehr bestand, zu einer Periode der Globalisierung. Die USA mussten sich als Hegemon beweisen, um der ganzen Welt eine einheitliche ökonomische Politik aufzuzwingen. Gleichzeitig mussten sie die Überakkumulation mitsamt den immer weiter fallenden Profitraten in der heimischen Wirtschaft vorerst versuchen zu kompensieren. Dafür stülpten sie ihr Wirtschaftssystem immer größeren Teilen der Welt über und dehnten ihre Konzerne ebenso in diese Regionen aus. Die Unternehmen hatten zwar bereits früher zweitrangige Niederlassungen in Halbkolonien, doch sie wurden nun wirklich multinational. Ein bedeutender Teil der Warenproduktion selbst wurde weg aus den imperialistischen Staaten in die Halbkolonien ausgelagert, da billigere Arbeitskraft und generell die geringeren Produktionskosten dort höhere Profite versprachen. Das ging auch mit dem Anspruch auf Steuererleichterungen und diverse Sonderrechte gegenüber den Regierungen der Halbkolonien einher. Die Folge davon sind „Löhne“ am absoluten Existenzminimum, hochgefährliche Arbeitsplätze (z. B. hinsichtlich des Feuer- oder Gesundheitsschutzes), Sklaverei und Kinderarbeit. Ebenso wurden Freihandelszonen errichtet. Zusätzlich wurden staatliche Vermögen von diesen Unternehmen aufgekauft und wurde Geld von ausländischen Regierungen geliehen. Somit spitzte sich auch der Imperialismus immer weiter zu, da die Arbeiter:innen der halbkolonialen Staaten nun in Teilen direkt von der westlichen Bourgeoisie ausgebeutet und auch die Regierungen und die regionale Bourgeoisie immer abhängiger vom USA-Finanzkapital wurden. Durch die sich verschärfende Situation in den Halbkolonien gewann die Idee des transnationalen Feminismus an Bedeutung und die Kämpfe bezogen sich nun explizit auf die Ausbeutung von Frauen in dortigen multinationalen Unternehmen, antikoloniale sowie Kämpfe indigener Bevölkerungen gegen Vertreibung und Zerstörung bzw. Landgrabbing ihrer Landflächen durch imperialistische Konzerne.

Zu einem besonderen Höhepunkt kam es während der Invasion der USA in Afghanistan: Durch die Instrumentalisierung von Frauenrechten im Kampf gegen die Taliban versuchten die USA, ihre geopolitischen Interessen in diesem Krieg zu verstecken. Westliche Feminist:innen beteiligten sich an dieser Stimmungsmache, wo die andere Kultur allgemein rassistisch verunglimpft wurde und sie als barbarisch im Gegensatz zur eigenen, zivilisierten dargestellt werden sollte. Ähnliches passierte beim Irakkrieg: Die Rechte der Irakerinnen wurden auf einmal zu einem wichtigen Ansatzpunkt der USA während der Invasion, während man sich davor jedoch gar nicht um sie scherte. Insbesondere diese Ereignisse verliehen der Theorie des transnationalen Feminismus mehr Bedeutung innerhalb der feministischen Debatten.

Dekonstruktivistische Elemente und Ablehnung von Generalisierungen

Im Gegensatz zur marxistischen Zielsetzung der Überwindung der materiellen Grundlage von Ausbeutung und Unterdrückung liegt das Ziel transnationaler Feminist:innen darin, den westlichen Feminismus auf einer postkolonialen, antiimperialistischen und intersektionalen Ebene zu kritisieren und daraus Schlüsse für das lokale Vorgehen in feministischen Kämpfen zu ziehen. Dafür bedienen sie sich in gewissem Maß des Dekonstruktivismus, wie bereits im „transnational“ zu erkennen ist: Die Vorsilbe „trans“ soll hier darauf hinweisen, dass nicht nur  nationalstaatliche Grenzen überwunden werden sollen und der Kampf auch in „Sphären“ außerhalb staatlicher Strukturen geführt werden (zum Beispiel in der Nachbarschaft, der Familie, der Freund:innengruppe), sondern auch, dass die Nation an sich als Kategorie in Frage gestellt werden soll. Somit werden Nationalstaaten nicht als „real existierende Gebilde“ angesehen, welche eine wichtige Funktion für Kapitalismus und Imperialismus erfüllen und die es natürlich durchaus zu kritisieren und zu überwinden gilt, sondern eher als Narrative, die subjektive Meinungen widerspiegeln würden und mit anderen Ideen anstatt mit tatsächlich radikalem Handeln bekämpft werden müssten.

Ein weiteres Element des Dekonstruktivismus im transnationalen Feminismus ist die bereits erwähnte Annahme, dass es keine generalisierenden Theorien geben könne. Damit einher geht die Idee, es würde keine außerhalb des Diskurses existierende, objektive Wahrheit geben. Jede Erfahrung von Unterdrückung ist somit grundsätzlich anders und die Verbindungen müssen alle berücksichtigt werden, um sie nachvollziehen zu können. In diesem Fall soll allerdings der subjektive Idealismus dieser Annahme dadurch verschleiert werden, dass es sich bei den Betroffenen nicht um Einzelpersonen handelt und sie in einem regionalen Kollektiv zusammengeschlossen werden können. Trotzdem sei diese regionale Erfahrung völlig anders als jede andere und könne nicht kategorisiert werden. Solch eine Auffassung nimmt offensichtlich den Nährboden für jegliche objektive Analyse weg und vor allem für eine gemeinsame Praxis der Unterdrückten für gesamtgesellschaftlichen Veränderung. Sie ist einerseits idealistisch und andererseits rückschrittlich, da sie verhindert aufzuzeigen, woher gemeinsame, aber auch unterschiedliche  Unterdrückungserscheinungen kommen. Im Gegensatz dazu gibt es im Marxismus durchaus die Möglichkeit einer Überwindung von reiner Subjektivität: das revolutionäre Bewusstsein, welches von den geschichts- und erkenntnisstiftenden Elementen in der gesellschaftlichen Arbeit und ihren Wandlungen im historischen Materialismus getragen wird und der Anerkennung dessen, dass es durchaus eine objektive, materialistische Realität gibt, die dafür sichtbar gemacht werden muss. Warum dies notwendig ist, um kollektive Befreiung zu erreichen, wollen wir um Folgenden argumentieren, indem wir uns mit verschiedenen Theoretiker:innen näher auseinandersetzen.

Khaders Kritik am westlichen Feminismus

Die transnational-feministische Theoretikerin Serene Khader bezeichnet den westlichen Feminismus auch als missionarisch, da die westlichen Feminist:innen von ihrer ideologischen Vormacht überzeugt seien. Sie bezieht sich hierbei auf ihre folgenden Werte:

1. die westliche Überlegenheit, legitimiert durch das quasi theologische Paradigma der Aufklärung, und damit einhergehend:

2. der Unabhängigkeitsindividualismus, was bedeutet, dass es als Ideal gilt, wenn Frauen in keinerlei Abhängigkeit zur Familie und Beziehungspersonen stehen,

3. Aufklärungsfreiheit, was das Infragestellen von Traditionen und religiösen Überzeugungen zu einem Ideal macht, und

4. der Ansatz, dass Genderrollen Geschlechtergerechtigkeit verhindern und für die Befreiung von sexistischer und sexueller Unterdrückung aufgehoben werden müssen.

Diese Werte und daraus hervorgehenden Lebensarten würden imperialistische Strukturen festigen, da sie zur Idealisierung westlicher Werte und Verschleierung des Einflusses der imperialistischen Ausbeutung auf die Halbkolonien beitragen würden. Um diese Probleme zu überwinden, seien Ansätze notwendig, die Wertschätzung der Beziehungsabhängigkeiten, Tradition, Religion und Geschlechterrollen ermöglichen sollen. Deswegen sei es nötig, die spezifischen Kontexte in Betracht zu ziehen und eine konkrete Praxis anstelle idealistischer, abstrakter Moralvorstellungen zu etablieren. Denn bei einer Generalisierung könne es sonst dazu kommen, dass die Unterdrückung in den lokalen Unterschieden und nicht im imperialistischen System verortet wird. Des Weiteren solle der Widerstand gegen antifeministische Praktiken nur von den Betroffenen selber kommen und keine Intervention von außen erfolgen, um sie nicht zu entmündigen. Erstmal ist es natürlich völlig richtig, den westlichen bürgerlichen Feminismus und seinen Überlegenheitsanspruch in Frage zu stellen. Jedoch sollte hier differenziert werden, denn manche seiner Ideen und Forderungen stellen zumindest keinen falschen Ausgangspunkt dar.

a) Fortschritt und Entwicklung im historischen Materialismus

Die Grundsätze der Aufklärung wie Kritik der Kirche als Institution, Fokus auf Vernunft und naturwissenschaftliche Erkenntnisse sowie Bürger:innenrechte stellen – auch wenn sie bürgerliche Errungenschaften sind –  innerhalb der historischen Entwicklung einen Fortschritt dar. Zwar dienten sie zur Legitimation der bürgerlichen Herrschaft gegenüber dem Feudalsystem, also letztendlich des Kapitalismus, verkörperten aber gleichzeitig eine Verbesserung gegenüber dem religiös geprägten Austausch. Zudem ist die Behauptung, die Aufklärung sei eine rein westliche Erfindung bereits eine Rückkehr zum Orientalismus, den die postkolonialen Theorien, auf die sich der transnationale Feminismus bezieht, eigentlich kritisiert hatten. So gab es auch beispielsweise im Osmanischen Reich vergleichbare Ansätze und der Bezug auf Rationalität und Naturwissenschaftlichkeit ist kein rein „europäisches Phänomen“.

Wichtig ist, dass der Fortschritt einer einzelnen Gesellschaftsformation nicht als „ewig“, starr und unantastbar gelten darf, sondern im Verhältnis zu seinen eigenen Potentialen und auch Entwicklungshemmnissen beurteilt werden muss. Denn jede dieser von Widersprüchen geprägten Gesellschaftsform verliert irgendwann ihren fortschrittlichen Charakter und muss sich ihrer Fesseln entledigen (oder fällt zurück). Das heißt, dass es nur Brüche und Umwälzungen der Produktionsformen sind, die einen wirklichen Fortschritt bringen können, nicht die unaufhörliche Weiterentwicklung der jeweiligen Gesellschaftsform. Sichtbar kann das zum Beispiel werden, wenn wir die rückschrittlichen Tendenzen des Kapitalismus in seinem aktuellen Stadium betrachten: Er ist zu einer Fessel des Fortschritts und der Befreiung der Menschheit geraten.

Demnach ist es jedoch völlig richtig, im Rahmen der Imperialismustheorie die halbkolonialen Staaten als unterentwickelt zu betrachten. Das soll keine Herabwürdigung darstellen, sondern beschreibt ihr materialistisches, dialektisches Verhältnis zu den imperialistischen Staaten. Halbkolonien sind gar nicht in der Lage, sich gleichsam wie diese zu entwickeln, da sie aufgrund ihrer Abhängigkeit die Entwicklung nicht aufholen können. Es ist sogar ein erklärtes Ziel der imperialistischen Staaten, sie unterentwickelt zu halten, auch wenn mit „Entwicklungshilfe“ etwas anderes suggeriert werden soll. Das darf jedoch nicht in eine ideologische Vormachtstellung insofern umschlagen, als dass man die Unterdrückten selbst auch als „unterentwickelt“ einschätzt und sie somit rassistisch abwertet, ihnen die eigene Perspektive aufzwingt oder dies zur Legitimierung des bestehenden Systems nutzt.

Gleichsam darf man nicht zur Schlussfolgerung kommen, wie sie auch Stalinist:innen entwickelten, es sei erst eine bürgerliche Revolution in den Halbkolonien notwendig, um dann diese noch einmal erneut überwinden zu müssen. Sehr wohl müssen aber die bürgerlich-demokratischen Aufgaben vollendet werden, was einen wichtigen Ansatzpunkt für revolutionäre Kräfte darstellt. Dazu aber  später mehr. Erstmal stellt sich hier natürlich die Frage nach der Notwendigkeit des Bruches mit der vorkapitalistischen Ausbeuter:innenordnung: Dieser ist nicht notwendig, da die Halbkolonien bereits in das imperialistische Weltsystem und dessen grenzenlosen Drang nach Wertschöpfung integriert sind. So haben bereits gemäß Trotzkis Gesetz der kombinierten und ungleichzeitigen Entwicklung die fortschrittlichen Technologien in den Halbkolonien Einzug erhalten, denn die Produktivkräfte kennen den nationalen Rahmen nicht und müssen nicht in jeder Region neu erfunden werden. Das äußert sich auch darin, dass die Entwicklung in den Branchen, welche für die Kapitalbewegung interessant sind, vorangetrieben wird. Daher breitet sich zum Beispiel die Arbeiter:innenklasse in den Halbkolonien immer weiter aus, während gleichzeitig die rückschrittlichen Produktionsformen und -techniken trotzdem weiterhin gefestigt werden, zum Beispiel in der Landwirtschaft, um die Reproduktionskosten und damit das Lohnniveau weiterhin so günstig wie möglich zu halten. Was könnte eine bürgerliche Revolution nun ändern? Vermutlich wenig. Denn die lokale Bourgeoisie kann sich aufgrund ihrer geringen Größe und ihres unbedeutenden Einflusses nicht von den internationalen Investor:innen lossagen und fürchtet die Rebellion der eigenen Bevölkerung viel mehr. Vor allem aber stellen diese rückständigeren Formen im modernen Kapitalismus im Wesentlichen keinen „störenden Überrest“ einer vorhergehenden Produktionsweise dar, sondern wurden in das kapitalistische Gesamtsystem integriert.

Auch in den Halbkolonien müssen Traditionen, kulturelle Praktiken und Religionen Kritiken unterzogen werden, um einen gesellschaftlichen Fortschritt gewährleisten zu können, da sie oftmals reaktionäre Elemente enthalten, die sich schon über Jahrhunderte entwickelten. So übte beispielsweise auch Marx Religionskritik aus, da er davon ausging, dass diese in jeder Klassengesellschaftsformation zur Verschleierung der materiellen Lage und Ausbeutung dient. Eine Kritik der Religion ist demnach notwendig, um die wahren Ursachen – die Klassengegensätze – zu Tage zu bringen. Das heißt, dass Religion nicht die Basis der Unterdrückung liefert, sondern ihren Überbau, der benötigt wird, um sie aufrechtzuerhalten und zu legitimieren. Herleitend ist es also sogar im Sinne der Bourgeoisie, diese beizubehalten, da so die imperialistischen und neokolonialen Unterdrückungsmechanismen mystifiziert werden können. Letztendlich stellt sich die Behauptung Khaders, man müsse Konzepte entwickeln, die Religion und Co wertschätzen, genau in diesen Dienst der Imperialist:innen. Da Marxist:innen erkennen, dass die Religion eine materielle Basis in den bestehenden Verhältnissen hat, jedoch auch, dass diese wie jede andere bürgerliche oder kleinbürgerliche Ideologie nicht „abgeschafft“ werden kann, solange die Verhältnisse weiter bestehen, die sie hervorbringen.

Daher ist es falsch, von Frauen in Halbkolonien grundsätzliche Ablehnung ihrer Religion zu fordern, um ihre antisexistische Emanzipation voranzutreiben oder es gar zu einer Bedingung für den gemeinsamen Kampf zu machen. Jedoch ist der gegen theokratischen Regime fortschrittlich, denn diese errichten i. d. R. Diktaturen zum Leidwesen von Frauen, LGBTIA*-Personen, nationalen Minderheiten sowie der gesamten Arbeiter:innenklasse. Demnach können die Forderungen im Sinne der permanenten Revolution Trotzkis nach bürgerlichen Rechten wie Demokratie, gleichen Persönlichkeitsrechten für alle, Befreiung von feudalistischen und anderen vorkapitalistischen Rückständen, Frieden und Wohlstand jedoch als revolutionäres Vehikel funktionieren. Denn es ist klar, dass sie sich eben unterm Kapitalismus für Halbkolonien nicht erfüllen lassen, sondern die Strukturen der Klassengesellschaft überwunden werden müssen, um gleiche Rechte für alle und wirkliche Demokratie gewährleisten zu können. Ebenso dürfen diese Kämpfe nicht im nationalen Rahmen stehenbleiben, sondern müssen so viele Gebiete wie möglich umfassen und zu einer Weltrevolution werden.

b) Unabhängigkeitsindividualismus und Geschlechterrollen

Auch dieser Punkt an Khaders Kritik bedarf einer näheren Betrachtung. Für sie stellt der westliche Feminismus die unabhängige Karrierefrau in den Mittelpunkt, die keine Zeit für Familie, Kinder und Haushalt hat. Daraus resultiert, dass sie die Reproduktionsarbeit, die ihr durch die Geschlechterrollen als Frau aufgehalst werden würde, anders lösen muss: nämlich, indem sie andere Frauen dafür einstellt. Somit kann man sagen, dass die Reproduktionsarbeit auch im Kapitalismus schon in einer gewissen Hinsicht vergesellschaftet ist, allerdings unter dem Vorzeichen der herrschenden Klasse. Wer sich die Auslagerung von Reproduktionsarbeit leisten kann, hat Glück. Hierbei wird vor allem deutlich: Es handelt sich nicht um „den westlichen“ Feminismus per se, sondern um bürgerlichen Feminismus. Denn auch in halbkolonialen Ländern ist diese Form der Auslagerung für Frauen aus der herrschenden Klasse und Teile der Mittelschicht möglich.

Das Bedürfnis nach Unabhängigkeit kann also im Kapitalismus nicht wirklich für alle Beteiligten zufriedenstellend aufgelöst werden. Es ist zwar richtig, dass durch den Kapitalismus eine Entfremdung von der Gemeinschaft, die vorher in einer gewissen Hinsicht z. B. im Feudalismus existierte, ausgelöst wurde, das kann jedoch in den jetzigen Strukturen nicht überwunden werden, da sie auf der aktuellen Produktionsweise beruht. Angebliche Konzepte vorkapitalistischer Gemeinschaft und der Abhängigkeit fördern nicht die Frauenbefreiung. Ökonomische Abhängigkeiten sorgen oftmals dafür, dass Frauen eben nicht ihrem gewalttätigen Mann entfliehen können, da sie in ihrem Job aufgrund ihrer Verpflichtungen zur Reproduktionsarbeit, die ihnen mithilfe der Geschlechterrollen auferlegt wurden, zu wenig verdienen, um wirklich unabhängig zu leben. Das trifft natürlich auch Frauen, die gar nicht berufstätig sein dürfen (sei es aufgrund des Verbots durch Mann oder Staat). Es ist aber auch so, dass zum Beispiel alleinerziehende Mütter, die keine gesellschaftliche Unterstützung erfahren, auch nicht unbedingt bessere Lebensbedingungen haben. Um ihre Kinder großziehen zu können, sind sie oftmals auf flexible Arbeitsstellen mit Schichtarbeit angewiesen, damit sie alles unter einen Hut bekommen können. Flexible Jobs sind meistens auch im Niedriglohnsektor angesiedelt. Jedoch ist ihre Lage genauso darin zu verorten, dass die Reproduktionsarbeit ins Private verschoben wurde, anstatt eine gemeinschaftliche Pflege und Erziehung von Kindern bzw. Alten zu gewährleisten. Auch die Abhängigkeit von der eigenen Verwandtschaft geht sehr wohl mit patriarchaler Unterdrückung einher, wenn es zum Beispiel um Konzepte von Familienehre oder Zwangsheirat geht.

Natürlich sollte das Ziel nicht darin liegen, ein einsames zurückgezogenes Leben zu führen, um jeglicher Abhängigkeit zu entfliehen und alleine erfolgreich zu sein oder sich zumindest gerade so über Wasser halten zu können.

Der zentrale Punkt ist jedoch, dass für die Aufhebung der Strukturen, die Frauen in die Abhängigkeit drängen, wie das Ideal der bürgerlichen Familie, die der damit einhergehenden Geschlechterrollen und der ins Private gedrängten Reproduktionsarbeit den Schlüssel darstellen und nicht eine Illusion von spirituellen Gemeinschaften und traditionsreichen Abhängigkeiten. Denn diese stellen nur den ideologischen Ausdruck (den Überbau) der Frauenunterdrückung dar. Auch eine bloße Kritik der Geschlechterrollen kann keine Befreiung herbeiführen. Erst die Überwindung des Kapitalismus und die Kollektivierung von Produktion und Reproduktion können die aktuelle Entfremdung überwinden und zu einer neuen Gemeinschaft führen, die geprägt von vielerlei zwischenmenschlichen Beziehungen ist. Die Annahme, Geschlechterverhältnisse seien in Halbkolonien grundsätzlich anders und hätten auch einen anderen Ursprung als in imperialistischen Staaten, entbehrt jeder Logik. Der ideologische Überbau und der Grad der sozialen Unterdrückung können sich zwar unterscheiden, aber zum Beispiel fortschrittlichere Gesetzgebungen können in imperialistischen Staaten auch wieder zurückgenommen werden, wie man an Abtreibungsrechten in den USA oder der Aberkennung von Rechten queerer Eltern in Italien in den letzten Jahren sieht. Gleichstellung auf dem Papier heißt nicht, dass diese wirklich konsequent umgesetzt und verfolgt wird, wie man  an der Anzahl der Femizide und sexualisierter Gewalt auch in imperialistischen Staaten feststellen kann.

Es mag in Halbkolonien vielleicht Strukturen geben, wo Gemeinschaft und Hausarbeit anders gelebt und geleistet werden, als das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie suggerieren soll. Das überschreitet aber trotzdem meistens nicht den Rahmen einer Familie und beschreibt dann eher die Zusammenarbeit von Frauen aus verschiedenen Generationen innerhalb ihrer, wie es auch in feudalen und anderen vorkapitalistischen Verhältnissen üblich war. Diese Umstände werden auch in manchen Fällen von den Imperialist:innen bewusst gefördert oder zumindest unangerührt gelassen. Es mag auch indigene Völker geben, deren Gesellschaftsstruktur mehr noch der des „Urkommunismus“ ähnelt, trotzdem stellen sie eine Seltenheit dar. Somit bleibt die Hausarbeit in den Halbkolonien also trotzdem im Privaten. Des Weiteren ist die Klasse der Lohnarbeiter:innen auch mittlerweile so ausgedehnt, dass die Notwendigkeit der Reproduktion im privaten Bereich dort ebenso besteht und ausgeführt wird. Die Grundlage der Unterdrückung der Frau bleibt also dieselbe: die Klassengesellschaft.

c) Entstehung des Bewusstseins

Die Annahme, es dürfe im Kampf gegen Antisexismus keine Interventionen von „außen“ geben, geht ebenso auf die bereits erwähnte Idee zurück, dass es keine objektive, vom Bewusstsein unabhängige Wirklichkeit geben könne und lediglich die subjektiven Wahrnehmungen der Betroffenen ihnen Erkenntnisse über ihre individuelle Situation bringen könnten. Das heißt also, ausschließlich die Frauen in der jeweiligen Halbkolonie haben die Möglichkeit zu erkennen, warum sie unterdrückt werden, da sie die Betroffenen sind.

Erst einmal kommt niemand zum Bewusstsein, nur weil die Person unterdrückt wird. Sonst würde es bereits jetzt keinen Kapitalismus mehr geben. Natürlich kann die eigene Betroffenheit eine Anregung sein, um sich tiefergehender mit Hintergründen zu beschäftigen und Ideen dagegen zu entwickeln. Aber man kann genauso auch komplett falsch in seiner Analyse liegen. Denn das Bewusstsein ist eine kollektive Frage, welche ihre Grundlage und ihren Gradmesser von Wahrheit zwar in den ökonomischen Strukturen und im gemeinsamen Kampf gegen diese hat, jedoch auch mit theoretischen Erkenntnissen verknüpft werden muss, welche von außen in die Klasse getragen werden müssen. Das gilt auch für eine proletarische Frauenbewegung. Das soll natürlich nicht heißen, dass westliche Feminist:innen alles bestimmen, jedoch, dass es neben gemeinsamen Kämpfen auch eine gemeinsame internationalde Analyse der Welt braucht, wobei Internationalismus das Fundament bilden muss, um zu gewährleisten, dass die objektive Lage auch erfasst wird und nicht von nationalistischen Ideen bzw. imperialistischem Chauvinismus geprägt ist. Darauf aufbauend kann es dann Diskussionen über die gemeinsame Ausrichtung geben. Außerdem ist es auch notwendig, dass aus Erfolgen und Misserfolgen von Arbeiter:innen- und Frauenbewegungen der Vergangenheit Lehren gezogen werden. Denn wenn jede:r Unterdrückte erst einmal unbehelligt wieder denselben Fehler machen soll, nur um nicht bevormundet zu werden, sieht es für unsere klassenlose und befreite Zukunft wahrscheinlich eher düster aus. Aber das darf natürlich keineswegs eine Einbahnstraße sein. Genauso muss der westliche Feminismus mitsamt seinen neoliberalen und individualisierenden Tendenzen scharf kritisiert werden, damit eine sinnvolle klassenkämpferische Einheit gegen Frauenunterdrückung gebildet werden kann, die sich auch wirklich Antiimperialismus und Antikapitalismus auf die Fahne schreiben kann und erfolgversprechend ist.

Kritik des Marxismus von Kaplan, Grewal und Spivak

Ein Blick auf die transnationalen Feministinnen Kaplan und Grewal zeigt jedoch, dass solch ein Ansatz nicht im Sinne des transnationalen Feminismus ist. Sie stellen in ihrem Text „Transnational Feminist Cultural Studies: Beyond the Marxism/Poststructuralism/Feminism Divides (1994)“ hauptsächlich infrage, dass es ein homogenes Weltproletariat gibt, und wollen damit beweisen, dass die marxistische Theorie veraltet sei. So würde es bei Anwendung eines Klassenbegriffes zu einer Gemeinmachung von Mann und Frau kommen, sowie würden soziale Unterdrückung und imperialistische Ausbeutung nicht beachtet werden. Dem zugrunde liegt die Annahme, dass das Kapital heutzutage keine Konformität mehr produziert, also kein generalisiertes revolutionäres Subjekt, sondern, es die Personen in ihrem zugrundeliegenden kulturellen Kontext anspricht. Communities anstatt Klassen produzieren Bewusstsein, insbesondere durch den Versuch, mit Diversität die Ausbeutung zu verschleiern. Mit Bezugnahme auf Spivak argumentieren sie, es würde durch die imperialistische Wertschöpfungskette nicht nur der Wohlstand für die imperialistischen Staaten, sondern auch gleich die Möglichkeit zur kulturellen Selbstrepräsentation von den Halbkolonien produziert werden. Spivak geht davon aus, dass die Marx’sche Wertschöpfungstheorie nicht genügend erklären kann, wie soziale Unterdrückung entsteht. Sie schlussfolgert, dass kulturelle Dominanz und Ausbeutung Hand in Hand gehen und sich gegenseitig formen. Daraus herleitend lehnen Kaplan und Grewal jegliche generalisierenden Theorien und Kategorien ab, da diese nicht in der Lage seien, die Komplexität zu erfassen. Sie schlagen Solidarität und Koalitionen vor, aber keinen konkreten gemeinsamen Kampf oder gar gemeinsame Organisierung.

a) Zur Frage des Weltproletariats

Zuerst einmal ist es keine falsche Annahme, dass es kein homogenes Weltproletariat gibt. Der marxistische Klassenbegriff ist keine starre Kategorie, die die Arbeiter:innenklasse an ihrem monatlichen Einkommen misst, sondern argumentiert, dass die Arbeiter:innenklasse im Verhältnis zur Kapitalist:innenklasse und zu den Produktionsmitteln existiert. Der Weltmarkt schuf internationale Wertschöpfungsketten. Im Zuge der Globalisierung wurden vor allem in Asien, aber auch in weiteren Teilen der Welt Millionen in diesen integriert – als Arbeiter:innen, Landlose oder Arbeitslose ohne Zugang zu Produktionsmitteln. Die Kapitalbewegung bestimmt hier die Zusammensetzung der Arbeiter:innenklasse und die konkrete Form der Ausbeutung, welche in Zeiten des Aufschwungs durchaus etwas liberaler oder bequemer ausgestaltet sein kann. In Zeiten von Krisen hingegen nehmen die Unterschiede zwischen der Lage der Klasse in imperialistischen Staaten und in den Halbkolonien immer weiter massiv zu. Die Arbeiter:innen der imperialistischen Staaten sind zweifelsohne privilegiert gegenüber denen in den halbkolonialen Staaten, aber sie bleiben dennoch die Ausgebeuteten, sie werden nicht selbst zur herrschenden Klasse. Abgeleitet aus diesen Punkten muss man schon die Existenz einer internationalen Arbeiter:innenklasse an sich gegen diese Annahme sprechen. Diese ist jedoch – wie bereits geschrieben – nicht homogen und es gibt Hindernisse, die dazu führen dass sie nicht als Klasse für sich auf internationaler Ebene agiert.

Hervorzuheben ist in diesem Kontext die Schicht der Arbeiter:innenklasse, die wir als Arbeiter:innenaristokratie bezeichnen. Sie stellt in den imperialistischen Kernzentren einen privilegierten Teil dar – finanziert aus den Extraprofiten, d. h. der Überausbeutung der Arbeiter:innen der halbkolonialen Welt, und ist teilweise durch Kampfkraft entstanden, teilweise weil sie an einer derartig relevanten Stelle im Wertschöpfungsprozess angesiedelt ist, dass diese Schichten aus Mitteln der imperialistischen Überausbeutung heraus sozial befriedet wurden. Bedeutend ist diese Schicht, weil sie die soziale Stütze der Bürokratie in der Gewerkschaft bildet, die die Politik der Sozialpartnerschaft stützt. Die Bürokratie bringt die Aristokratie nicht hervor, aber sie kann die Verfassung, den Bewusstseinszustand von arbeiter:innenaristokratischen Schichten beeinflussen. Die Gewerkschaftsbürokratie ist jedoch nicht bloß eine Verlängerung, Apparat gewordene Form des falschen, weil ungenügend entwickelten gewerkschaftlichen Bewusstseins. Sie ist historisch zu einer Kaste entwickelt, die im Interesse der Kapitalist:innen in den Organisationen der Arbeiter:innenklasse wirkt – als politische Polizei, verlängerter Arm des Staatsapparats. Als bürokratische Schicht entwickelt sie selbst ein materielles Interesse, ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital zu verewigen – und damit auch, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse zu verteidigen. Das ist der Kern der Sozialpartnerschaft. Die Arbeiter:innenbürokratie bindet die Klasse somit an die Lohnform, selbst verschleierter Ausdruck des Klassengegensatzes. Sie ist in diesem Sinne ein strategisches Hindernis für Revolutionär:innen, die sich der Aufgabe stellen, den alltäglichen Widerstand (von Teilen) der Arbeiter:innenklasse in unerbitterlichen Widerspruch gegen die Klassengesellschaft zu bringen. Nicht nur, weil das Programm der Sozialpartnerschaft verhindert, dass Kämpfe in imperialistischen Zentren erfolgreich geführt werden, sondern weil die Idee der „Standortlogik“ sowie „Wettbewerbsfähigkeit“ eine reale Hürde für die Herausbildung eines internationalistischen Standpunkts ausmachen und die Klasse spalten. Deswegen ist es auch zentral, diesem ein politisches Programm entgegenzustellen, anstatt die Unterschiede zwischen Arbeiter:innen in imperialistischen Ländern und Halbkolonien als gegeben hinzunehmen. Dies naturalisiert letzten Endes die vorhandene Spaltung.

Denn gleichzeitig sind die Privilegien der Arbeiter:innenaristrokatie nicht automatisch dauerhaft. Während diese Schicht selbst immer kleiner wird, wie man an Ländern wie Deutschland sehen kann, findet paralell eine fortschreitende Fragmentierung der Klasse in ihrer Gesamtheit statt. Das heißt: Durch den Ausbau des Niedriglohnsektors nehmen Prekarisierung sowie Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse zu und der Unterschied zwischen der Arbeiter:innnenaristokratie und den Arbeiter:innen der Niedriglohnsektoren in den imperialistischen Kernzentren wird größer. Auch die doppelte Ausbeutung in Produktion und Reproduktion der Arbeiterin werden in einer marxistischen Analyse nicht unter den Teppich gekehrt.

Auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag, dass die Arbeiter:innenklasse von der Überausbeutung ihrer Kolleg:innen in den Halbkolonien profitiert, so liegt es letzten Endes nicht in ihrem objektiven Interesse, wenn es darum geht, den Kapitalismus zu überwinden. Dies kann letztlich nur auf einer internationalen Ebene erfolgreich sein oder ist zum Scheitern verurteilt. Um das zu gewährleisten, müssen Forderungen aufgestellt werden, die sich gegen die Auswirkungen des Imperialismus stellen – sei es beispielsweise im Falle von imperialistischen Interventionen, Sanktionen, der Auslagerung umweltschädlicher Produktion oder Ausbeutung. Dies ist möglich, da die entscheidende Gemeinsamkeit in der Ausbeutung der Ware Arbeitskraft besteht. Demnach vereint diese auch das objektive Interesse, diese Ausbeutung zu überwinden und ermöglicht, es gemeinsame Kämpfe zu führen. Doch die postkoloniale Tradition des transnationalen Feminismus stellt hier die Differenz zwischen Ländern anstatt zwischen Klassen in den Vordergrund.

b) Kulturelle Vorherrschaft und Mehrwertschöpfung

Auch kann nicht behauptet werden, dass die kulturelle Vorherrschaft durch die Wertschöpfungsketten gleich mitproduziert wird, so wie von Spivak behauptet. Es handelt sich hierbei um ein völlig falsches Verständnis von Mehrwertschöpfung und Kapital. Die kulturelle Vorherrschaft dient dem Imperialismus als Begründung und Verschleierung der Ausbeutung, sie bildet einen Teil des gesellschaftlichen Überbaus. Hiermit wird die Spaltung der Klasse vertieft, werden Lohndumping und Differenzen begründet und die Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Ländern im Geiste „kultureller“ oder „rassischer“ Überlegenheit erzogen.

Im Endeffekt ist es zwar überhaupt nicht im objektiven Interesse des westlichen Proletariats, aber diese reaktionäre Ideologie stellt eine extrem wichtige Waffe in den Händen der herrschenden Klasse zur Sicherung ihrer globalen Herrschaft dar. Diese wird durch die Privilegien verstärkt, die die Lohnabhängigen – hier vor allem die Arbeiter:innenaristokratie – der imperialistischen Nationen im Verhältnis zu jenen der Halbkolonien genießen. Aber längerfristig und vom historischen Interesse der Lohnabhängigen aus betrachtet, bieten diese nicht nur keine Perspektive zur Überwindung der Ausbeutung, sondern stellten vielmehr eine Fessel für die Arbeiter:innenklasse auch in den imperialistischen Ländern dar, die sie an ihre Ausbeuter:innen bindet.

Diese Annahmen der kulturellen Vorherrschaft kritisieren zwar Spivak, Kaplan und Grewal zu Recht und der Kampf gegen diesen Chauvinismus, Nationalismus und Rassismus muss in der Arbeiter:innnenklasse und ihren Organisationen entschlossen geführt werden – und zwar sowohl im Hier und Jetzt wie sicher auch nach erfolgreicher Revolution, denn selbst dann werden rückständige, über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte fest verankerte Ideen und Verhaltensweisen nicht ohne bewussten Kampf dagegen verschwinden. Die Theorie kritisiert zwar reaktionäres Bewusstsein in der Arbeiter:innenklasse der imperialistischen Länder – sie kapituliert aber letztlich davor, dieses zu bekämpfen. Direkt reaktionär ist ihre Ideologisierung rückständiger Bewusstseinsformen, z. B. religiöser Ideen in der Arbeiter:innenklasse der halbkolonialen Länder. Diese sind letztlich nichts anders als Mittel, mit denen die herrschende Klasse der Halbkolonien „ihre“ Arbeiter:innen (und armen Bauern/Bäuerinnen) politisch-ideologisch an eine kapitalistische Ordnung bindet. Hier zeigt sich der Klassencharakter dieser Theorien (wie postkolonialer Theorie). Scheinbar springen sie den „rückständigen“ Massen der Halbkolonien gegen „eurozentristische“ oder „universalistische“ Kritik bei. In Wirklichkeit zementriert ihr bürgerlicher Paternalismus ideologisch die Unterordnung und Ausbeutung der Lohnabhängigen in der halbkolonialen Welt.

Gagos Vorschlag einer feministischen Internationale: nichts Halbes, nichts Ganzes

Zum Schluss wollen wir uns noch Verónica Gago als zeitgenössische Vertreterin des transnationalen Feminismus kurz näher anschauen. Sie kann als Theoretikerin der mehr oder weniger aktuellen Frauen-/Fem*streikbewegung verstanden werden. Dabei ist herauszustellen, dass die Vernetzung und eine Gleichzeitigkeit der Aktionen am 8. März einen Fortschritt darstellen. Das beweist auch der anfängliche Erfolg der Bewegung, der in der Einleitung beschrieben wurde. Allerdings sind es die theoretischen sowie strategischen Mängel, die dafür sorgten, dass es nicht so bahnbrechend weitergehen konnte, wie die Bewegung begann. In der Tradition des transnationalen Feminismus lehnt Gago natürlich jegliche Homogenisierung der Bewegung durch ein gemeinsames Programm ab. Es ist zwar richtig, dass ein solches auf die unterschiedliche Lage von imperialistischen Staaten und Halbkolonien eingehen muss, jedoch kann es dennoch zwangsläufig einen gemeinsamen Kampf und ein gemeinsames Ziel geben. Schließlich sind die Gegenspieler, die imperialistischen Kapitale, auch dieselben Feinde, die nur in der Masse geschlagen werden können. Stattdessen kann die feministische Internationale Gagos überall praktiziert werden, sei es im Bett, auf derArbeit oder Straße.

Die Annahme, dass ein Streik außerhalb der Lohnarbeit genauso effektiv sein kann, und sei er noch so klein, wie zum Beispiel auf ein Lächeln zu verzichten, geht auch aus dem neuen Klassenbegriff von Gago hervor, welcher Arbeiter:innen, das Bäuerinnen-/Bauerntum und das niedere Kleinbürger:innentum zusammenschließen will, als ob diese in irgendeiner Form wirklich ein gemeinsames objektives Klasseninteresse hätten. Natürlich sollten Marxist:innen versuchen, auch diese Klassen und Schichten auf die Seite der Arbeiter:innenklasse zu ziehen, aber dennoch formen diese oft selbstständige Zwischenklassen, da sie durchaus Produktionsmittel besitzen, sich aber selber ausbeuten müssen und Gefahr laufen, zwischen dem Hauptklassenantagonismus zerrieben zu werden. Trotzdem ist die grundsätzliche Generalisierung nicht unproblematisch und verhindert in gewisser Hinsicht auch, ein konkretes Programm aufzustellen. Denn das revolutionäre Subjekt ist weiterhin die Arbeiter:innenklasse, da nur sie das objektive Klasseninteresse hat, den Kapitalismus zu stürzen, um sich von Ausbeutung und Unterdrückung zu befreien, und insbesondere da sie aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess auch die Möglichkeit hat, diese gesellschaftliche Macht als Kollektiv zu entfalten.

Die Ablehnung von Strategie, Taktik und Programm und das Setzen auf spontane Erhebungen, wie Gago es beschreibt, bezieht sich auf die Annahme, das Bewusstsein der feministischen Bewegung würde spontan entstehen können. Es stellt in gewisser Weise eine Übertragung des Ökonomismus auf Frauen- und LGBTIA* -Kämpfe dar. Aber die Geschichte hat schon oft genug bewiesen, wie zum Beispiel beim Arabischen Frühling, dass spontanes Bewusstsein eben nicht einfach so entsteht und auch kein Programm ersetzen kann, wenn der Aufstand oder die Bewegung erfolgreich sein will. Ein loser Zusammenhang ohne Diskussionen und Debatten über konkrete Forderungen, Taktiken und Strategien führt nicht zur anhaltenden Wirkung der Bewegung.

Was wir stattdessen brauchen

Es braucht eine länderübergreifende Organisierung, die als Grundprinzip das internationale, gemeinsame und koordinierte Handeln verfolgt. Hierbei können nicht die Unterschiede zwischen der gemeinsamen Lage im Vordergrund stehen, wie es zum Beispiel Spivak forderte. Diese müssen anerkannt werden und Raum finden, doch angesichts der globalen Krisen und des Rollbacks gegenüber Frauen (sowie LGBTIA*-Personen) und des Rechtsrucks bleibt unbedingt notwendig, sich als ersten Schritt auf gemeinsame Forderungen für den koordinierten globalen Kampf zu einigen. Dafür schlagen wir folgende Eckpunkte vor:

1. Volle rechtliche Gleichstellung und Einbezug in den Produktionsprozess!

Auch wenn es als positiv dargestellt worden ist, dass nun fast überall auf der Welt Frauen wählen dürfen, haben sie vielerorts nicht die gleichen Rechte. Das bedeutet praktisch beispielsweise erschwerte Scheidungsmöglichkeit oder keine politische Teilhabe. Ein Verbot, arbeiten zu gehen oder dies nur von zuhause aus tun zu können, bedeutet vollkommene ökonomische Abhängigkeit von Partner oder Familie. Dort, wo diese Frauen nicht organisiert sind, müssen wir die Gewerkschaften dazu auffordern, sie für unsere Reihen zu gewinnen. Dies ist ein wichtiger Schritt, der deutlich macht, dass auch sie Teil der Arbeiter:innenklasse sind.

2. Gleiche Arbeit, gleicher Lohn!

Während Reaktionär:innen versuchen, den Lohnunterschied damit zu erklären, dass Frauen einfach in weniger gut bezahlten Berufen arbeiten, weil sie angeblich „nicht so hart arbeiten können“ wie Männer, ist für uns klar: Der Unterschied in der Lohnhöhe folgt aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die der Kapitalismus reproduziert. Der Lohn der Frau erscheint bis heute in den meisten Ländern als „Zuverdienst“ zum Mann.

3. Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

Ob durch religiöse Vorschriften, rassistische Hetze oder Abtreibungsgegner:innen: Überall auf der Welt sind Frauen damit konfrontiert, dass man versucht, über ihre Körper zu bestimmen. Deswegen treten wir dafür ein, dass sie selbstständig entscheiden können, was sie anziehen dürfen oder ob sie schwanger werden oder bleiben wollen.

4. Recht auf körperliche Unversehrtheit!

Ob nun sexuelle Grenzüberschreitungen, Vergewaltigungen oder Femizide: Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig!

Dabei ist herauszustellen, dass dies ein internationales Problem verkörpert und nicht auf bestimmte Regionen bzw. Religionen beschränkt ist, wie manche Reaktionär:innen behaupten. Es ist vielmehr eine Frage der gesellschaftlichen Basis und politischen Bedingungen, wo und wie stark religiöse Vorstellungen zur Ideologie rückschrittlicher Bewegungen werden und Einfluss gewinnen.

Essentiell ist es, die Forderung nach Selbstverteidigungskomitees aufzuwerfen, die in Verbindung mit der Arbeiter:innenbewegung und den Unterdrückten stehen. Der Vorteil solcher Strukturen besteht darin, dass Frauen nicht passive Opfer bleiben sollen, sondern man ihnen die Möglichkeit gibt, sich aktiv gegen Unterdrückung zu wehren. Daneben ist die Forderung nach Selbstverteidigungskomitees für Marxist:innen wichtig, weil wir nicht auf Polizei oder Militär als verlässliche Verbündete setzen können. Diese stehen oft vielmehr auf der Seite der Täter oder sind selbst welche. Außerdem schaffen Selbstverteidigungsstrukturen ein Gegengewicht gegen ihr Gewaltmonopol und das des bürgerlichen Staates allgemein.

5. Vergesellschaftung der Hausarbeit!

Dies ist eine wesentliche Forderung, um die Doppelbelastung von Frauen zu beenden und letzten Endes auch einer der Schritte, die die geschlechtliche Arbeitsteilung – und mit ihr die Stereotype – beenden. Grundgedanke ist es, die Arbeit, die wir tagtäglich verrichten, um uns zu reproduzieren (essen, Wäsche waschen, Kindererziehung), nicht länger im stillen Kämmerlein alleine zu absolvieren, sondern sie kollektiv zu organisieren und auf alle Hände zu verteilen. Diese kann dann beispielsweise in großen Wohneinheiten, Kantinen oder Waschküchen erfolgen.

Vom Frauen-/Fem*streik zur proletarischen Frauenbewegung

Diese Frauenbewegung muss multiethnisch und international sein, da die patriarchalen Strukturen und der Kapitalismus ein weltweites System darstellen und es in den vorherrschenden kleinbürgerlich geprägten Feminismen oftmals nur um „die westliche, weiße cis Frau“ geht, wie es zurecht vom transnationalen Feminismus kritisiert wurde. Es ist wichtig, dass eben auch die Belange von Frauen aus halbkolonialen Ländern oder rassistisch Unterdrücken in imperialistischen Staaten ins Zentrum gerückt werden, weil sie unter besonders heftigen Formen der Ausbeutung leiden und, global betrachtet, den größten Teil der proletarischen Frauen ausmachen.

Des Weiteren darf es sich nicht nur um einen losen Zusammenschluss handeln, da dessen Mobilisierungspotential zeitlich ebenso wie in der Schlagkraft begrenzt ist, wenn es sich nur um unkoordinierte lokale bzw. nationale Aktionen handelt. Die Frauenbewegung steht dann letzten Endes vor zwei Aufgaben:

Erstens, sich als globale, organisierte Bewegung um gemeinsame Ziele, verbindliche Aktionen und Kampagnen zu koordinieren. Dazu müssen gemeinsame Bezugspunkte wie die obigen Forderungen gefunden, aber auch gemeinsame Kämpfe verschiedener Strömungen geführt werden bspw. mit der Organisierung und den Streiks in der Pflege, der Umweltbewegung oder der gegen Rassismus. Beispielsweise könnte gerade der gemeinsame Kampf mit Pflegekräften und betroffenen Frauen im Rahmen der Abtreibungsproteste relevant werden. Diese Forderungen müssen in die Bereiche unseres alltäglichen Lebens getragen werden wie Schule, Uni und Arbeit. Hier müssen wir uns dafür einsetzen, dass darüber nicht nur geredet wird, sondern auch konkrete Errungenschaften damit einhergehen. Dafür müssen Aktions- und Streikkomitees aufgebaut werden. Mit diesen alltäglichen Forderungen wie bspw. Recht auf körperliche Selbstbestimmung  ist es revolutionären Frauen möglich, einen gemeinsamen Kampf auch mit Reformist:innen oder kleinbürgerlichen Feminist:innen zu führen. Jedoch darf es nicht nur bei diesen alltäglichen Forderungen bleiben, sie müssen in ein umfangreiches Aktions- und letztendlich in ein revolutionäres Übergangsprogramm eingeschlossen werden, um den Weg zu einer befreiten Gesellschaft aufweisen zu können. Für dieses müssen revolutionäre Frauen kämpfen, ebenso wie sie auch für Solidaritätsstreiks der gesamten Arbeiter:innnenklasse agitieren müssen.

Entscheidend ist demnach, welche Klasse einer solchen Bewegung ihren Stempel aufdrückt. Oben genannte Forderungen können dabei die Grundlage für den Aufbau einer internationalen, proletarischen Frauenbewegung bilden, in der Revolutionär:innen um politische Hegemonie und kommunistische Führung kämpfen.

Eng damit verbunden ist eine zweite Aufgabe, nämlich für eine Internationale zu werben und die Notwendigkeit dieser Organisierungsform aufzuzeigen. Das hängt eng zusammen mit der notwendigen Zerschlagung des imperialistischen Weltsystems. Denn wer keinen Plan dafür hat und davon ausgeht, dass das sowieso dann alles spontan funktioniert, nimmt in Kauf, dass Leute sich nach dem Misserfolg der Bewegung demoralisiert abwenden, was keine Seltenheit ist. Die stalinistische Idee des „Sozialismus in einem Land“ ist im 21. Jahrhundert noch deutlich illusorischer, als sie es im 20. Jahrhundert war, und bereits hier hat der Stalinismus durch Umsetzung dieser Idee schon Millionen von Arbeiter:innen verraten und dafür gesorgt, dass der Marxismus als gescheitert angesehen wird. Gleichzeitig sind aber durch die internationalisierten Produktionsketten und aufgrund der enormen Fortschritte in der Geschwindigkeit des Austausches und der Kommunikation die Bedingungen für internationale Solidarität um einiges einfacher geworden. Antworten auf diese Fragen und, wie die Kämpfe zu gewinnen sind, können wir nur ausreichend beantworten (und vor allem umsetzen), wenn wir an allen Orten der Welt die fortschrittlichsten Arbeiter:innen, Frauen und Jugendlichen organisieren und für die Perspektive des antikapitalistischen Kampfes gewinnen. Außerdem braucht eine Bewegung nicht nur gemeinsame Forderungen, sondern auch eine Führung und klare klassenpolitische Ausrichtung, um erfolgreich zu sein. Wohin lose, wenngleich dynamische Bewegungen führen, können wir an verschiedensten Kämpfen sehen: seien es der Arabische Frühling, Fridays for Future oder auch die Frauen-/Fem*streikbewegung. Die Dominanz bürgerlicher, kleinbürgerlicher oder reformistischer Kräfte hat diese Bewegungen selbst in eine Krise oder gar zum Scheitern geführt.

Revolutionäre Frauen stehen daher nicht „nur“ vor der Aufgabe, in den Frauen-/Fem*streiks und anderen Foren und Kämpfen um eine klassenpolitische Ausrichtung zu ringen. Auch jene Kräfte, die die Notwendigkeit einer internationalen, ja selbst einer proletarischen Frauenbewegung anerkennen, müssen wir zu Konferenzen aufrufen, um zu gemeinsamen Forderungen und international koordinierten Aktionen zu kommen. Dazu müssen wir auch reformistische Organisationen wie Linkspartei, DGB-Gewerkschaften oder selbst die SPD sowie feministische Gruppierungen und Kampagnen adressieren, um so vor allem deren Basis in die Aktion zu ziehen, gemeinsame Kämpfe zu führen und zugleich praktisch die Fehler der reformistischen Führung offenzulegen. So kann nicht nur die aktuelle Schwäche der Frauen-/Fem*streikbewegung überwunden werden.

Die gemeinsame Aktion und der Kampf für eine internationale Frauenbewegung erfordern auch ein internationales Programm und den Kampf für eine neue Arbeiter:inneninternationale. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Frauenunterdrückung selbst untrennbar mit dem kapitalistischen System verbunden ist, also nur durch den Sturz dessen wirklich beseitigt werden kann. Daher ist der Kampf für eine proletarische Frauenbewegung untrennbar mit dem für eine revolutionäre, Fünfte Internationale verbunden.




Heteronormativität als Ursache queerer Unterdrückung – eine marxistische Kritik.

Sani Meier, REVOLUTION/Deutschland, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Gesellschaftliche Konventionen

Egal ob in Kinderbüchern, Märchen, Videospielen, der Werbung oder unseren Lieblingsfilmen: Seit jeher strahlen uns dort glücklich verliebte Pärchen entgegen und präsentieren uns die traumhafte Partner:innenschaft, nach der viele dann ihr ganzes Leben lang suchen. In unserer Gesellschaft scheinen erst die Beziehung, dann die Ehe, Kind(er) und ein gemeinsam geführtes Leben, am besten im Eigenheim, besondere Ziele zu sein. Wer kennt nicht die ewigen Fragereien der Familie danach, wann man denn endlich mal den/die Partner:in mitbringe und für Frauen ab Mitte Zwanzig gibt es die übergriffige Frage nach der Kinderplanung gleich gratis dazu. Dabei ist es jedoch alles andere als egal, wie besagte Partner:innenschaft oder Familie konkret aussiehen, sondern streng vorgegeben: Das „ideale“ Paar besteht auch heute noch aus einem Mann und einer Frau: Adam und Eva, Romeo und Julia, Dornröschen und der Prinz, Bonnie und Clyde … etc. Dabei ist sowohl das gegenteilige Geschlecht beider Partner:innen wichtig, setzt also eine klar abgrenzbare Vorstellung von zwei Geschlechtern voraus, aber auch die Tatsache, dass die Beziehung aus genau zwei Personen besteht. Offene Beziehungen oder Polygamie werden nach wie vor kritisch beäugt und in der Ehe schonmal gar nicht berücksichtigt (bis auf bestimmte religiöse und kulturelle Ausnahmen, bei denen aber meistens nur männliche Polygamie erlaubt ist). Unsere Kultur und Bildung, aber auch juristische und institutionelle Strukturen sind also durchzogen von dieser spezifischen Liebes- und Sexualitätsvorstellung und prägen uns von klein auf, ohne dass wir uns dessen überhaupt bewusst sind. Es ist irgendwie einfach „normal“. Der Fachbegriff für dieses Phänomen heißt Heteronormativität.

Unsere Entwicklung und unser Selbstverständnis werden also darauf gelenkt, heterosexuelle Partner:innenschaften als normal, natürlich und erstrebenswert anzusehen – sie sind die Norm. Homo- und Bisexualität sowie transgender und Intergeschlechtlichkeit werden als Abweichungen davon je nach gesellschaftlichem Kontext diskriminiert bis gewaltsam unterdrückt. Gleichgeschlechtliche Liebe wird in vielen Staaten kriminalisiert und intergeschlechtliche Säuglinge werden chirugisch an „eindeutig“ binäre Standards angepasst, obwohl keinerlei medizinische Notwendigkeit besteht. Dabei herrscht sowohl in Bezug auf Geschlechter als auch sexuelle/romantische Orientierungen die Annahme, beides sei von Geburt an festgeschrieben und könne sich nicht immer wieder wandeln. Heteronormative Identitäten und Beziehungen stehen in der Hierarchie ganz oben und werden durch verschiedene Privilegien gefördert (z. B. Steuererleichterungen wie Ehegattensplitting oder umfassende und vergleichsweise unkomplizierte Adoptionsrechte). Viele Frauen haben diese Vorstellungen so sehr internalisiert, dass es sich für sie oft so anfühlt, als könnten sie nur in einer Beziehung mit einem Mann wirklich glücklich sein, und suchen deshalb konstant nach männlicher Anerkennung und Bestätigung. Der Begriff Heteronormativität wird dabei oft dem Aufkommen der Queer Studies zugeschrieben, existiert aber bereits seit mehreren Jahrzehnten und wird von unterschiedlichen politischen und philosophischen Theorien mit variierenden Schwerpunkten benutzt. Spätestens seit die Beliebtheit postmoderner Theorien zugenommen hat und das Interesse an Philosophen wie Michel Foucault und der Queer Theory gestiegen ist, kam es zu einer stärkeren Hinwendung zu diskursbezogenen Konzepten von Heteronormativität. Der Diskurs bezeichnet hierbei die gesellschaftliche Produktion von Bedeutungen und „Wahrheiten“, aus denen sich konkrete Machtverhältnisse ergeben wie unter anderem die Heteronormativität. Bis heute liefern die postmoderne oder auch poststrukturalistische Theorie die dominante Erklärung für den Druck, in heteronormativen Verhältnissen zu leben. Während diese Verwendung von Heteronormativität viele Symptome des Phänomens durchaus treffend darstellt, liegen ihr einige problematische Annahmen zugrunde, welche im Folgenden erklärt werden.

Schwächen postmoderner Erklärungsansätze

Grundsätzlich liegt das Problem dieser Ansätze darin, dass der Diskurs Machtverhältnisse erzeuge und in diesem, also in Strukturen des Wissens, die Ursache von Unterdrückung ausgemacht wird. Während wir durchaus zustimmen, dass sich heteronormative Standards und Kriterien durch (unter anderem) unser Bildungs- und Gesundheitssystem ziehen und diese immer weiter verankert werden, so fehlt dieser Feststellung die Erklärung, wie es eigentlich dazu kommen konnte. Gesellschaftliche Institutionen wurden von Menschen erschaffen und werden von diesen fortgeführt. Welche Überzeugungen und Ziele sie dabei mit einfließen lassen, ist nicht willkürlich, sondern abhängig von ihren Umständen und dem Kontext, unter denen sie leben. In den Worten von Marx: „Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein.“ Wie wir leben, welche Probleme wir haben und wie wir glauben, diese lösen zu können, spielt also eine Rolle in unseren Interessen und Entscheidungen. Betrachtet man die Gesellschaft aus einer materialistischen Perspektive, fokussiert man sich zuerst auf die Produktionsverhältnisse, da die Art und Weise, wie wir arbeiten, in jeder Phase der menschlichen Entwicklung von entscheidender Bedeutung war und das Zusammenleben bis heute maßgeblich strukturiert. Der Kapitalismus zeichnet sich durch die Tatsache aus, dass wenige Menschen Produktionsmittel besitzen und die Mehrheit ihre Arbeitskraft an diese verkaufen muss, um zu überleben. Kapitalist:innen kaufen diese, bezahlen den Arbeiter:innen aber nicht das volle Äquivalent ihrer geleisteten Arbeit und eignen sich die Differenz selbst an, was die Quelle ihres Profits darstellt. Der Lohn, den sie zahlen, muss allerdings ausreichen, damit die Arbeiter:innen all das kaufen können, was nötig ist, um weiterhin arbeiten zu können: Miete, Essen, Strom, Fahrkarten etc. Wofür sie allerdings nicht zahlen, ist die Arbeit, die privat in den Haushalten geleistet wird: sogenannte Hausarbeit. Kochen, Putzen, Kinder erziehen und versorgen, Sorgearbeit, Kranken- und Altenpflege, Wäsche waschen und vieles mehr zählt zu diesen unbezahlten Arbeiten und ist für die Kapitalist:innen weitestgehend gratis. Den Grund dafür bildet die geschlechtliche Arbeitsteilung, durch welche Frauen über Jahrhunderte hinweg rechtlich und ideologisch in die private häusliche Sphäre verdrängt und zu unentlohnten Hausarbeiterinnen erzogen wurden. Sie sorgen dafür, dass sich die Arbeitskraft ihrer Partner reproduziert und ihre Kinder sichern den Nachschub an Arbeitskräften. All das, was hierfür nicht gezahlt werden muss, vergrößert den Profit der Kapitalist:nnen und macht sie zu Profiteur:innen dieses Systems.

So wie es hier beschrieben wurde, würden sich wohl die wenigsten Frauen freiwillig in diese Rolle fügen wollen. Finanzielle Abhängigkeit und die moderne Doppelbelastung aus Haus- und Lohnarbeit sind nur einige der gravierenden Konsequenzen dieser Form der Arbeitsteilung. Es gab also die Notwendigkeit, diese ideologisch aufzuwerten und somit wurde das Konzept der bürgerlichen Kleinfamilie mit klarer geschlechtlicher Rollenverteilung idealisiert, romantisiert und als natürlich verkauft. Gleiches gilt für die Ehe: Was ursprünglich zur Sicherstellung von Monogamie und Vererbung durch eindeutige Abstammungslinien eingeführt wurde, gilt heute als romantischster Tag im Leben eines Paares. Die Kapitalist:innen haben es also erfolgreich geschafft, durch Gesetze, Kultur und Religion, ihre Profitinteressen als „natürliche“ Tatsachen zu etablieren.

Es lässt sich nun also auch erklären, warum die Unterdrückung von allen nicht-heterosexuellen, nicht-cis und -monogam lebenden Menschen eine notwendige Konsequenz der kapitalistischen Produktionsweise und ihr vorausgehender Klassengesellschaften ist: All diese Lebensformen und Identitäten passen nicht ins Schema der bürgerlichen Kleinfamilie (Vater, Mutter, Kind) und stellen deren vermeintlich natürlichen Charakter in Frage. Um ihre Profite weiterhin maximieren zu können, werden sich Kapitalist:innen niemals ernsthaft für die Interessen queerer Menschen einsetzen können. Heteronormativität ist also ein Symptom der Klassenverhältnisse und beschreibt die Gesamtheit der Rollenzuschreibungen, die benötigt werden, um den Kapitalismus am Laufen zu halten. Diskurse, Wissensstrukturen, Gesetze und kulturelle Erzeugnisse machen Mittel zum Zweck der Durchsetzung patriarchaler Verhältnisse aus und bilden nicht deren Ursache. Eine Politik, die sich lediglich auf diese Mittel fokussiert, wird nicht in der Lage sein, die Wurzeln des Problems zu lösen, und ewige Symptombekämpfung betreiben. Der Kampf gegen Heteronormativität muss also ein antikapitalistischer sein und das Patriarchat in seinen Grundfesten, also dem Privateigentum an Produktionsmitteln, angreifen. Die private Kontrolle der Produktion muss gemeinschaftlich und demokratisch von den Arbeiter:innen übernommen werden. Nur dann wird es möglich sein, Hausarbeit kollektiv und gemeinschaftlich zu bewältigen und geschlechtliche Arbeitsteilung und damit zusammenhängende Geschlechterrollen zu überwinden.




Trotz alledem – warum und wie wir uns an den Anti-AfD-Protesten beteiligen

Georg Ismael, Infomail 1244, 2. Januar 2024

Mit Bestürzung, Schmerz und Wut haben wir die rassistischen Übergriffe auf Palästinenser:innen auf Demonstrationen gegen die AfD erlebt. Den tragischen Tiefpunkt bildeten körperliche und verbale Übergriffe am Sonntag, den 21. Januar, auf der Reichstagswiese in Berlin.

Hier wurde deutlich, wie tief der Rassismus gegen Geflüchtete, Muslim:innen und Araber:innen auch in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen ist. Dieser Rassismus wird heute im Besonderen durch antipalästinensischen Rassismus befeuert.

Antipalästinensischer Rassismus

Während der Internationale Gerichtshof Anzeichen für einen Genozid in Gaza sieht, liefert die deutsche Regierung Waffen an die rechtsradikale israelische Regierung, stellt humanitäre Hilfe für die Palästinenser:innen ein, schiebt ab, kriminalisiert kritische Stimmen und hebelt Grundrechte aus. Zur gleichen Zeit werden auf Initiative der CDU Gesetze, die die Ausbürgerung von Staatsbürger:innen erlauben und eine massive Einschränkung des Organisations- und Versammlungsrechtes nach sich ziehen würden, im Bundestag diskutiert.

Deutschland unterstützt einen Genozid und sichert diese Politik mit Repression im Inland ab. Von dieser waren neben Palästinenser:innen besonders Muslim:innen, Araber:innen und migrantisierte Menschen betroffen, die trotz ihrer besonders prekären Lage in den vergangenen Monaten ihre Solidarität mit den Menschen Gazas auf Deutschlands Straßen zum Ausdruck brachten.

Wir müssen anerkennen, dass die Bundesregierung, aber auch Landesregierungen mit Billigung der meisten Parlamentarier:innen und Abgeordneten gegen Palästinenser:innen vieles von dem umsetzen, was die AfD für die gesamte Gesellschaft fordert.

Gerade weil wir die Unterdrückung, die Gewalt und die Apartheid gegen die Palästinenser:innen durch den ethnonationalistischen israelischen Staat und die rechtsradikale israelische Regierung kennen, haben wir eine besondere Verpflichtung uns gegen die ethnonationalistische und rechtsradikale AfD in Deutschland zu stellen.

Wir tun dies in Solidarität mit den Palästinenser:innen und in internationalistischer Verpflichtung, nicht für das gute Gewissen deutscher Biedermeier:innen. Wir denken nicht, dass die Anti-AfD-Proteste in ihrer heutigen Form die multiethnische, religionsübergreifende, antikoloniale und antiimperialistische Solidarität der Palästinenser:innen verdient hätten. Aber wir sind es uns politisch schuldig, unsere Stimmen und unsere Körper auf diesen Protesten zu präsentieren.

Wir beteiligen uns an diesen Protesten, weil es hier auch um uns geht. Wir sind es uns schuldig, gegen die AfD zu kämpfen, und wir sind es den Menschen in Palästina schuldig, ihre Stimmen den selbsternannten antirassistischen Protesten in Deutschland gegenüber sichtbar zu machen.

Es waren nicht einheimische, sondern migrantisierte Menschen, die seit Oktober auf den Straßen Berlins und Deutschlands geschlagen, gedemütigt und kriminalisiert wurden. Wir wissen, dass deutsche Medien und deutsche Regierungspolitiker:innen über uns und den Genozid in Gaza lügen.

Daher wollen wir den vorrangig weißen Menschen auf diesen Protesten eine Chance geben, uns und unsere Perspektiven kennenzulernen und unsere Erfahrungen zu teilen. Wir wollen daran glauben, dass unter ihnen etliche der mehr als 60 Prozent Deutschen sind, die das Vorgehen Israels in Gaza ablehnen. Wir sind es den Menschen in Gaza schuldig, durch direkten Dialog diese stille Ablehnung in praktische Solidarität zu verwandeln.

Daher haben wir den für uns emotional äußerst schmerzlichen und für viele in der Palästinasolidarität vielleicht nicht intuitiven Weg gewählt und den Austausch mit den Organisator:innen von „Hand in Hand“ in Berlin gesucht.

Forderungen

Wir hatten diese drei Forderungen gemeinsam mit Genoss:innen von „Palestinians and Allies“ und REVOLUTION erarbeitet und vorgetragen:

  1. Ordner:innen schützen Palästinenser:innen und ihre Verbündeten konsequent gegen rassistische Übergriffe. Rassistische Individuen oder Gruppen werden unverzüglich gebeten, den Protest zu verlassen. Bei Missachtung werden Rassist:innen aktiv vom Protest entfernt. Hierzu gehört neben körperlichen Attacken und ungewollten Berührungen beispielsweise auch die rassistische Diffamierung von Muslim:innen, Araber:innen und Palästinenser:innen als „Terrorist:innen“, „Terrorunterstützer:innen“ oder „Mörder:innen“. Systematische Übergriffe werden auch von der Bühne aus verurteilt.
  2. Es wird ein deutliches Willkommen explizit an palästinensische Teilnehmer:innen geäußert. Darüber hinaus ist es notwendig, deutlich zu Beginn der Demonstration von der Bühne aus  die rassistischen Übergriffe gegen Palästinenser:innen auf der vergangenen Demonstration zu verurteilen und anzukündigen, dass derartige Übergriffe nicht erneut erduldet und unverzüglich geahndet werden.
  3. Die stellvertretende Vorsitzende der Jüdischen Stimme und anerkannte Psychologin Iris Hefets und die palästinensische Rechtsanwältin Nadija Samour halten eine gemeinsame Rede gegen antipalästinensischen und antimuslimischen Rassismus, Antisemitismus und Krieg. Sie zeigen auf, wie im konkreten gemeinsamen Kampf gegen Unterdrückung und Entrechtung die gemeinsame Menschlichkeit unabhängig von Religion oder Herkunft hervortritt.

Reaktion

Die erste Forderung wurde weitestgehend angenommen. Wir werden ihre Umsetzung genau beobachten, denn auch das ist traurige Wahrheit: Niemand wollte bestreiten, dass es zu erneuten Übergriffen kommen könnte. Die zweite Forderung wurde nur insofern aufgenommen, dass Palästinenser:innen in einer Aufzählung begrüßt werden. Dies ist zwar ein Entgegenkommen, letztlich aber vollkommen unzulänglich. Es waren ausschließlich Palästinenser:innen und ihre Verbündeten, die auf vergangenen Protesten systematisch verbal und körperlich angegriffen und von der Polizei kriminalisiert wurden. Zu einem Zeitpunkt, an dem eine bestimmte Gruppe eine spezielle Diskriminierung auf den eigens organisierten Protesten erfährt, diese nicht besonders zu verurteilen, stellt unseres Erachtens nach einen politischen Skandal dar, weil man sich so vor dem konkreten Problem drückt.

Unsere dritte Forderung wurde mit knapper Mehrheit abgelehnt. Dies ist uns unverständlich. Es wurde an uns herangetragen, dass es von Gegensprecher:innen die „Befürchtung“ gab, dass „problematische Aussagen“ wie „Genozid“ getätigt werden könnten. Es zeigt, dass hier, freundlich formuliert, ein unerhörter Selbstbildungsbedarf besteht. Unfreundlich formuliert, handelt es sich um das Verharmlosen eines drohenden Völkermordes.

Gleichzeitig ist zentrale Gastrednerin, Frau Düzen Tekkal, die noch vor Kurzem als solche auf einer von der Springerpresse und der Jerusalem Post, beides rechte Medienhäuser, ausgerichteten Konferenz namens „Joint Perspectives“ sprechen sollte. Neben Justizminister Marco Buschmann war unter anderem auch der rechtsradikale israelische Minister Amichai Chikli geladen. Chikli hatte vor Kurzem an einer Konferenz zur „Umsiedlung“ (man könnte auch im AfD-Jargon Remigration sagen) der Palästinenser:innen aus Gaza teilgenommen. Dass Herr Chikli mittlerweile ausgeladen wurde und Frau Tekkals Name nicht mehr auf der Redner:innenliste der Konferenz erscheint, kann dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird. Proisraelische Stimmen, die den Genozid in Gaza aktiv leugnen, die zu Konferenzen gehen, an denen auch Rechtsradikale Interesse zeigen, werden als Redner:innen in Erwägung gezogen, während anerkannte linke palästinensische und jüdische Stimmen von hoher moralischer Autorität nicht akzeptabel für eine aktuelle Mehrheit des „Hand in Hand“-Bündnisses zu sein scheinen.

Diese Personen sollten tief in sich gehen, nach ihrer Menschlichkeit suchen und falls sie sie finden sollten, beginnen, sich selbst zu bilden. Wir schlagen vor, mit der Lektüre der Anklageschrift Südafrikas gegen Israel und dem Urteil des Internationalen Gerichtshofes zu beginnen. Diese Selbstbildung sollte dadurch fortgesetzt werden, endlich mit anstatt über Palästinenser:innen zu reden. Dies beinhaltet auch, sie auf Bühnen antirassistischer Proteste in Deutschland einzuladen. Nicht wir, sondern diese Gegensprecher:innen haben einen Bedarf an antirassistischer Bildung vonnöten. Wir formulieren dies in jener Schärfe, weil wir die zu erwartende Argumentation nicht anerkennen, dass unsere Forderungen „zu kurzfristig“ formuliert wurden.

Der brutale und genozidale Krieg gegen die Palästinenser:innen hält mit deutscher Unterstützung seit vier Monaten an. Die Nakba und seitdem andauernde Entrechtung der Palästinenser:innen dauern nun fast 80 Jahre. Wir haben uns darüber nicht erst kurzfristig informiert. Diese Gegensprecher:innen haben es seit Langem nicht zur Kenntnis genommen. Es handelt sich hier auch nicht um „irgendeinen Krieg“, von denen es „ja etliche gäbe“, wie ein Gegensprecher meinte. Es handelt sich aktuell um den Krieg mit den meisten zivilen Opfern, einen genozidalen, der maßgeblich von Deutschland unterstützt wird. Wer auch nach physischen Übergriffen auf Palästinenser:innen während antirassistischer Proteste die Warnsignale noch nicht gehört hat, ist so verroht, dass man die Dinge in aller Deutlichkeit formulieren muss.

Wir nehmen aber auch zur Kenntnis, dass es eine relevante Minderheit in der Diskussion und Abstimmung gab, die unsere Anliegen unterstützen möchte. Wir gehen daher davon aus, dass dies auch auf viele Teilnehmer:innen des Protestes zutrifft.

Beteiligt Euch an der Solidaritätsdelegation am 3. Februar!

Unter diesen Gesichtspunkten und auch angesichts der Notwendigkeit einer möglichst großen Aktionseinheit gegen die AfD haben wir uns dazu entschieden, als Teil einer Solidaritätsdelegation an dem „Hand in Hand“-Protest vor der Reichstagswiese teilzunehmen. Der gemeinsame Treffpunkt ist um 12 Uhr an dem U5-Ausgang „Bundestag“. Wir laden euch ein, euch uns anzuschließen. Diese Einladung schließt auch die Möglichkeit für Interessierte ein, uns ernsthaft gemeinte Fragen zu stellen, in eine gemeinsame, auch kontroverse Diskussion zu treten. Wir erwarten allerdings, dass dies mit grundlegendem Respekt und ohne eine rassistische oder stereotype Einordnung geschieht.

Solange palästinensische und propalästinensische Stimmen allerdings kein Gehör auf den Bühnen der Anti-AfD-Proteste finden, können wir die eigenständigen Proteste der Palästinasolidarität nicht vernachlässigen, geschweige denn absagen. Wir rufen daher alle dazu auf, sich ab 14 Uhr am Potsdamer Platz in Solidarität mit Palästina zu versammeln. Dies ist auch ein Aufruf an jene, die gegen die AfD und jede rassistische Politik in Deutschland kämpfen wollen, verunsichert sind oder Fragen haben. Kommt auf unsere Proteste, stellt Fragen, bildet euch, ob am Samstag, den 03.02., oder in der Zukunft! Erlebt und seht mit eigenen Augen die Polizeigewalt, die wir seit vier Monaten erleiden! Hört euch die diversen Reden an! Seht, wie Palästinenser:innen, Juden und Jüd:innen so wie Menschen unterschiedlichster Herkunft auf Kundgebungen und Demonstrationen, die von linken Slogans und Inhalten geprägt sind, gemeinsam tatsächlich „Hand in Hand“, trotz Verleumdung und Polizeigewalt seit vier Monaten protestieren!

Wir verbleiben in der Hoffnung, dass wir den Tag sehen werden, an dem getrennte, parallele Proteste der Vergangenheit angehören. Die Verantwortung hierfür liegt allerdings nicht in unserer Hand. Wir haben zum aktuellen Zeitpunkt unser Bestes, viele von uns, insbesondere unsere palästinensischen Genoss:innen, auch emotional mehr als das gegeben, um ihre Anliegen erst an Fridays for Future Berlin, dann „Hand in Hand“ zu tragen.

Dass wir diese Zeilen schreiben, das muss noch einmal deutlich gesagt werden, ist daher kein Zeichen der Spaltung. Es ist ein Zeichen, dass wir trotz alledem, trotz unseres eigenen Schmerzes, der häufig auch aus dem Verlust von Geliebten und Familie herrührt, die Hoffnung nicht aufgeben wollen, dass ein Antirassismus, der sich wirklich gegen jede Unterdrückung richtet, in Zukunft möglich sein kann.

Die Verantwortung hierfür liegt nun aber in der Hand insbesondere der weißen, deutschen Organisator:innen der Anti-AfD-Proteste. Ihnen stellt sich die dringende Aufgabe, sich mit Kolonialismus und Imperialismus als Triebfedern des Rassismus in Deutschland und international auseinanderzusetzen. Sie stehen in der Verpflichtung, nicht nur die Rolle der deutschen Regierung in diesen Prozessen anzukreiden, sondern auch aktiv zu bekämpfen. Gaza steht unserer Einschätzung nach heute im Zentrum dieser Fragen, sowohl innen- als auch außenpolitisch. Wer zu Ausbürgerungsgesetzen aus der „Mitte“, Kolonialismus, Apartheid und Genozid, vom deutschen Imperialismus schweigt, der wird den Rassismus nie vernichten können.




Marxistische Filmkritik: die Sissi-Trilogie

Felix Ruga, REVOLUTION, Infomail 1241, 3. Januar 2024

Dieses Jahr habe ich mir vorgenommen, die Sissi-Trilogie aus den 1950er Jahren, die jedes Jahr im Wohnzimmer meiner Familie zur Weihnachtszeit läuft, mal etwas bewusster zu schauen, und konnte es zunächst kaum verstehen: Wie kann das eigentlich sein, dass gerade dieser Film zu so einem Weihnachtsklassiker geworden ist? Da geht es kein bisschen um Weihnachten! Aber irgendwie fühlt es sich doch stimmig an. Welche Bedürfnisse werden also bedient? Warum gehört der Film zur Weihnachtstradition doch einiger Familien in Deutschland?

Kurzer Überblick

In der Trilogie wird ziemlich frei das junge Leben der Kaiserin Elisabeth von Österreich, genannt Sissi und gespielt von Romy Schneider, nacherzählt. Im Grunde verläuft die Handlung entlang ihrem romantischen Verhältnis zu Kaiser Franz. Sie treffen 1853 zufällig aufeinander, während Sissi noch eine jugendliche Adlige in Bayern ist, und verlieben sich natürlich innerhalb weniger Stunden unsterblich ineinander. Damit beginnen dann die ganzen Konflikte des Films: Was ist mit der bereits arrangierten Ehe von Franz? Hat Sissi als niedere Adelige überhaupt das Zeug dazu, Kaiserin zu werden? Wie gewinnt Sissi das Herz des Wiener Hofs und gerade ihrer herrischen Schwiegermutter? Wie kriegen die beiden die Politik und ihre Liebe unter einen Hut? Kann Sissi die politischen Krisen im großen Kaisertum und Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn mit ihrer Forschheit, Cleverness und ihrem Charme lösen? Und dann wird sie auch noch schwanger! Das alles wird dann verhandelt auf Hofbällen, Ausflügen, dem Schloss oder in den vielen humorvollen bis melodramatischen Dialogen.

Damit hätte man schon den ersten Ansatz, was den Film so passend zu Weihnachten macht: Er ist auf mehreren Ebenen „leicht“. Zum einen wäre da natürlich das Filmische, also dass die Ästhetik kitschig und das Schauspiel übertrieben theatralisch ist, sodass man eigentlich immer sofort versteht, was bei den Charakteren so abgeht. Alle Rollen passen ins Gut-böse-albern-Schema. Zum anderen ist die Stimmung leicht, denn man kann den Film eigentlich gar nicht ernst nehmen. Immer, wenn es mal etwas schwerfälliger werden könnte, trampelt irgendein trotteliger Offizier herein oder der Film schneidet rüber zu den herzlich-komischen Eltern von Sissi. Alles wird getragen von der schnulzigen und reinen Romantik zwischen den Protagonist:innen. Kein Wort über die wahren Verhältnisse in der Ehe zwischen dem Kaiser, der seine damals 16-jährige Cousine heiratete oder Sissis ständiger Flucht vom Hof, Magersucht und „Melancholie“. Und letztendlich sind Sissis Adeligenprobleme für uns moderne Arbeiter:innen doch mehr als fremd und deswegen besonders leicht bekömmlich.

Die guade oide Zeit

So weit, so gewöhnlich. Solche seichte Unterhaltung ist so alt wie das Kino selbst und heute mit etwas anderer Ästhetik immer noch weitverbreitet. Um zu verstehen, was die Sissi-Trilogie für die Deutschen so betörend macht, muss man schauen, unter welchen Vorzeichen diese gedreht wurden. Die 3 Filme kamen 1955, 1956 und 1957 raus und lagen damals voll im Trend, denn da wurde eine Heimatschnulze nach der anderen gedreht. Nach der Befreiung Deutschlands von den Nazis kann man hier die Stimmung ablesen: Zum einen hegten die Deutschen immer noch die ideellen Werte von Heimat, Familie, Autorität und symbiotischer Einigkeit zwischen Volk und Staat, zum anderen wurde man jedoch besiegt, gedemütigt und so manche:r wird mit der eigenen Mitwirkung an den Untaten der Nazis konfrontiert, während ein Großteil gar nicht dran denken will. Heimatschnulzen klemmen sich in diesen Widerspruch besonders gut rein: oberflächlich unpolitisch, unkompliziert und unbeschwert, aber gleichzeitig wird die Romantisierung der ganzen alten Naziwerte betrieben.

Die Sissi-Trilogie hat dieses politische Unpolitisch-Sein gemeistert und das ist sicherlich ein entscheidender Grund, warum sie bis heute so ein großer Erfolg ist. Indem man nämlich in die romantisierte Darstellung einer längst vergangenen Zeit schlüpft, bricht man oberflächlich aus der kapitalistischen Modernität aus. Das wird durch den ganzen Kitsch noch weiter zementiert. Dazu werden antimoderne Wünsche befriedigt: Da wäre zum einen natürlich die fast schon skandalöse Idealisierung des Adels und Verniedlichung seiner Herrschaft. Da in dem Film fast ausschließlich Adelige oder deren unmittelbare Bediensteten auftreten, entsteht der Eindruck einer „Klassenlosigkeit“: kein Wort zu den heftigen Klassenkämpfen und revolutionären Bestrebungen zu dieser Zeit, keine Beachtung des anwachsenden Proletariats, der beraubten Bauern-/Bäuerinnenschaft von ihrem Land, am Rande werden mal die aufsteigenden Nationalbewegungen verhandelt. Vor allem geht es aber um die auf magische Weise wohlhabenden Adligen in ihren prunkvollen Sälen. Das gibt mehr als genug Raum für Eskapismus aus den Mühen des modernen Kapitalismus.

Zum anderen sind da die nationalistischen Gefühle, die dem Film zwar aus allen Poren triefen, aber nicht so plump wie im Nazi-Stil. Denn es geht im Film ja nicht um Deutschland, sondern „nur“ um das Habsburgerreich Österreich-Ungarn, was aber für Deutschnationale eigentlich ja auch nur verlorene Deutsche sind, und zwar genau zu einer Zeit, als dieses noch mächtig und groß war und diverse Länder unterjochen konnte. Dadurch wird die Sehnsucht nach der Zeit bedient, „als wir in der Welt noch wer waren“, ohne es so offensichtlich zu machen, dass man sich damit aktiv auseinandersetzen müsste. Das alles kulminiert in der Schlussszene der Trilogie: Venedig will sich vom Habsburgerreich emanzipieren und protestiert, indem dem Kaiserpaar bei der Ankunft nicht zugejubelt wird. Doch Sissi erwärmt mit ihrem Charme die Herzen der Venezianer:innen und die politische Krise ist abgewehrt. Zur Feier schmettert in voller Länge die deutsche Nationalhymne los. Aber zwinker, zwinker – es ist ja nicht wirklich die bundesdeutsche Nationalhymne, sondern Österreich hatte damals die gleiche Melodie! Ist ja nichts dabei, in Zeiten des geteilten Deutschlands die Nation zu beschwören. Alles nur geschichtliche Sorgfalt, nicht wahr?

Schuldige Unschuld und unschuldige Schuld

Zuletzt sollte man sich noch die ideologische Rolle der namensgebenden Protagonistin Sissi anschauen. Hier kann man die Interpretationen zwischen damals und heute etwas aufteilen. Sissi wird in dem Film als gutherzige, liebenswürdige, volksnahe, jugendlich-unschuldige Frau dargestellt, die zwar eigensinnig, aber doch irgendwie pflichtbewusst in die herrschenden Kreise aufsteigt. Mächtig, beliebt, unschuldig und irgendwie einzigartig in einer fremden Welt. Das ist der ferne deutsche Traum in der Nachkriegszeit und dementsprechend war Sissi damals eine besondere Identifikationsfigur.

Aber auch für das aktuelle Zeitenwende-Deutschland hält Sissi etwas bereit. Überhaupt, als weibliche und starke Protagonistin hat sie etwas Modernes. Sie ist eine Rebellin, aber nicht durch Wut oder Kampfeswillen, sondern weil sie einfach ein gutes Herz hat und ideelle Werte verkörpert und sich nicht an den althergebrachten Machtspielchen beteiligen, aber doch die Weltpolitik mitgestalten will. Eigentlich perfektes Spiegelbild der „wertegeleiteten“ Außenpolitik. Und beide sind doch nur Fassade und im Hintergrund bleibt das Streben nach Ordnung im nationalstaatlichen Interesse.

So lässt sich insgesamt auch erklären, warum der Film so ein Weihnachtsklassiker geworden ist: Er bedient über die historischen Perioden hinweg deutsche Träume, setzt sich dabei aber immer in einen unpolitischen und ungefährlichen Kontext und kann deswegen ganz gedankenlos geguckt werden. Wie immer in den Weihnachtsfilmen werden die guten alten Werte wie Familie, Treue und Nächstenliebe ganz großgeschrieben und das alles wird dann in eine ordentliche Portion Kitsch, Frohsinn und Romantisierung gepackt. Nostalgie dürfte das zentrale Moment des Films sein: Schon in den 1950er Jahren hat er eine nostalgische Vergangenheitsklitterung betrieben, heute ist der Film schon aus der Tradition heraus mit Nostalgie verbunden. Dementsprechend sollte man aber die Ideologie des Films als eine reaktionäre verstehen, denn sie ist rückwärtsgewandt im eigentlichen Sinne, will die modernen Probleme mit der Besinnung auf Altes bewältigen ohne eine kritische Auseinandersetzung mit dessen Konsequenzen. Die Kälte, Konflikte und Widersprüche der kapitalistischen Moderne lassen sich nicht durch solche Beschönigungen lösen, was auch für fast alle weihnachtlichen Vorstellungen gilt. Das kann nur die Überwindung des Kapitalismus schaffen.




Queerfeminismus: die bunte Befreiung?

Aventina Holzer/Michael Märzen, Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail1235, 25. Oktober 2023

Wer in linken Kreisen unterwegs ist, ist sicher schon mal über das Wort Queerfeminismus gestolpert. Feminismus gilt hier als selbstverständlich und immer mehr, vor allem junge Aktivist:innen, bezeichnen sich als queer. Wenn beides als progressiv gilt, dann kann die Synthese nur noch besser sein. Oder …? Wir wollen in diesem Beitrag Überlegungen anstellen, was Queerfeminismus eigentlich ist und ob er eine sinnvolle Strategie zur Frauen- und Queerbefreiung ist.

Ist jetzt aber Queerfeminismus einfach nur Feminismus, der nicht nur die Gleichberechtigung von Frauen, sondern auch die von queeren Menschen anstrebt? „Heterosexismus“ wird als System erkannt, das allen Menschen, nicht nur Frauen, innerhalb derselben Logik einer binären Geschlechterordnung Unterdrückungsmechanismen aufdrängt. Tatsächlich ist der Begriff aber nicht so einfach zu verstehen. Wenn man Aktivist:innen nach ihrer Definition von Queerfeminismus fragt, herrscht meist Unklarheit oder man bekommt eine Antwort im obigen Sinn. Tatsächlich findet man etliche linke politische Organisationen, die sich offen, wenn auch selten klar und nachvollziehbar, auf einen Queerfeminismus berufen. Eine Ausnahme finden wir bei LINKS, das sich angesichts der Wiener Gemeinderatswahlen 2020 gegründet hat und den Queerfeminismus in seinem Selbstverständnis, sowie auch statutarisch, verankert hat. Das gab uns, der Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt, auch eine Motivation, dieses politische Konzept genauer zu betrachten. Eine Definition davon, was der Begriff politisch eigentlich aussagen soll, wurde in LINKS bisher selten und wenn, doch sehr stark unterschiedlich beschrieben.

Viel öfter als den expliziten Bezug auf Queerfeminismus finden wir politische Ausrichtungen wie beim Bündnis „Take back the streets!“, welches mittlerweile in Wien die jährliche Demonstration am 8. März veranstaltet. Dabei wird ein Feminismus vertreten, welcher die Unterdrückung von homo-, bi-, intersexuellen und agender Menschen sowie solchen mit nichtbinärer, trans oder queerer Geschlechtsidentität neben die frauenspezifische stellt und sie alle quasi gleichberechtigt oder auf derselben Ebene behandelt. Ohne das an dieser Stelle bewerten zu wollen, soll damit gesagt sein, dass ein Feminismus weitere Verbreitung findet, welcher LGBTQIA+-Personen inkludiert und gleichberechtigt mit Frauen repräsentieren möchte.

Bei der Österreichischen Hochschüler:innenschaft an der Fachhochschule Campus Wien finden wir ein Referat für Queerfeminismus. Dieses kümmere sich „um alle Anliegen betreffend Genderidentität(en) und Feminismus. Es stellt Deine Anlaufstelle bei Problemen mit Diskriminierung Deiner/n Genderidentität(en) und sexueller Orientierung dar und kämpft für gleiche Studienbedingungen, unabhängig von diesen Faktoren.“

Die „feministische“ Gegenposition zu diesem „inklusiven“ Herangehen hängt sich meist an der (Nicht-)Inklusion von trans Personen auf. Durch die Integration von trans Frauen in den Feminismus und in Frauenräume würden die Stellung von Frauen und deren Anliegen unterminiert oder ihre Schutzräume gestört (so etwa bei der Debatte um die Nutzung von Frauentoiletten). Im Juni 2023 kam es zu einer aufgeregten Diskussion, als die Nationalratsabgeordnete der Grünen, Faika El-Nagashi, an einer Kundgebung der transfeindlichen Initiative „Let Women Speak“ teilnahm. Dort sah man Schilder mit „Men are not Women“ und hörte den Slogan „Keine Frau hat einen Penis!“ Danach teilte sie auch weitere transfeindliche Inhalte, anstatt sich davon zu distanzieren.

Wovon reden wir?

Worum geht es also bei diesen Debatten? Was ist Queerfeminismus? In einem Artikel des deutschen Magazins stern findet man beispielhaft eine gewisse populäre Auffassung: „Im Queerfeminismus geht man also nicht davon aus, dass es nur Mann und Frau, sondern eine breite Palette an Geschlechtern und Sexualitäten gibt. (…) Unter Queerfeminismus versteht man also auch den Kampf für Gleichheit, Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und Freiheit aller Geschlechter und Identitäten.“ Das entspricht dem Verständnis, das wir eingangs bereits beschrieben haben.

Auf Wikipedia findet man ein paar wenige, aber doch substantiellere Angaben. Dort heißt es, der Queerfeminismus gehöre zur Dritten Welle des Feminismus, genauer zum dekonstruktivistischen Feminismus, und richte sich sowohl gegen Heteronormativität als auch binäre Geschlechterordnung. Viel gesagt ist damit jedoch immer noch nicht.

Eine genauere Definition findet man auf der Website feministisch-veraendern.de. Hier heißt es: „Queerfeminismus kann insbesondere in den deutschsprachigen Auseinandersetzungen als feministische Strömung bezeichnet werden, die sich in Bezugnahme auf Queer Theory in ein akademisches (erkenntnistheoretisches) und ein politisches Projekt ausdifferenzieren lässt. (…) Die erkenntnistheoretische Dimension queerfeministischer Debatten geht davon aus, dass Sexualität, geschlechtliche Identität und Körper nur durch eine Matrix kulturellen Wissens erfahr- und verstehbar sind. (…) Queerfeministische Praxis nutzt den Modus der störenden Performanz (Butler 1995: 35), um etablierte kulturell vergeschlechtlichte Praxen und Konzepte zu »durchqueeren« und zu unterwandern, von der Sprache bis hin zu habituellen Merkmalen wie zum Beispiel Kleidungsstilen oder auch Alltagspraktiken, die geschlechtlich gelesen werden. Dominante Repräsentationen, die sich ständig reproduzieren, werden subversiv aufgebrochen.“ Das klingt schon klarer, wenn auch kompliziert.

Klärung grundsätzlicher Begriffe

Damit die Sache nicht noch komplizierter wird, wollen wir zuerst mit einer Abgrenzung des Begriffes von anderen, klarer abgesteckten beginnen, bevor wir nochmal einen Blick auf die genaue Bedeutung des Begriffes „Queerfeminismus“ werfen.

Queer: (aus dem Englischen) bedeutet ursprünglich „seltsam“ oder „eigenartig“ und wurde lange Zeit als Schimpfwort für Menschen benutzt, die von den vorherrschenden, heterosexuellen Vorstellungen von Sexualität und Geschlecht abweichen, insbesondere homo-, trans- und intersexuelle Personen. Es wird seit einiger Zeit aber als positive Selbstbezeichnung verwendet.

Geschlecht: Im Feminismus begann man mit der Unterscheidung eines sozialen Geschlechts oder einer Geschlechterrolle („gender“) von einem biologischen Geschlecht („sex“), das im Zusammenhang mit der menschlichen Fortpflanzung steht. Auf diese Weise sollte die Auffassung erleichtert werden, dass weibliches Verhalten und die Aufgaben, die Frauen gesellschaftlich zugeschrieben werden, nicht mit einer weiblichen Natur gleichzusetzen sind. Dadurch konnte die Geschlechterrolle Frau als gesellschaftlich konstruiert debattiert werden. Der dekonstruktivistische Feminismus und die Queertheorie, die von Judith Butler maßgeblich geprägt wurden, gehen hier einen radikalen Schritt weiter und fassen auch das biologische Geschlecht als sozial konstruiert auf (womit nicht gemeint ist, dass es keine anatomischen Körper gibt).

Dekonstruktivismus: Eine philosophische Strömung, stark geprägt durch Jacques Derrida, in der – vereinfacht gesagt – die Bedeutung von „Text“ kritisch untersucht und seine Grundannahmen aufgedeckt und hinterfragt werden. Dabei ist Text nicht einfach das geschriebene Wort, sondern eigentlich im Sinne Derridas praktisch alles, was Bedeutung trägt.

Queertheorie: Die wohl wichtigste Vertreter:in ist Judith Butler, welche in den 1990er Jahren die Queertheorie mit dem Buch „Gender Trouble“ (dt.: Das Unbehagen der Geschlechter) prägte. Butler setzt mit einer Kritik am Feminismus an, welcher sich auf das in einer binären Geschlechterordnung befangene Subjekt Frau stützt und damit Ausschließungen produziert. Butler untersucht diskursiv, wie diese binäre Geschlechterordnung aus einem heterosexuellen Zwangssystem folgt und worin eine subversive Strategie besteht.

Identitätspolitik: Die Identitätspolitik geht auf das Combahee River Collective zurück. Die Idee dabei lautet, dass eine Gruppe mit einer bestimmten Identität am besten die eigenen Interessen vertreten sollte und sie das Mittel ist, um kollektive Handlungsmacht zu stärken. Das Problem dabei ist nicht, dass Identität schlecht und ausgrenzend ist oder Betroffene nicht selbst gegen ihre Unterdrückung kämpfen sollen. Es entsteht dann, wenn Betroffene nicht über den Rahmen der eigenen Erfahrung und Betroffenheit hinausgehen und darauf aufbauend ihre Unterdrückung im Kontext der kapitalistischen Klassengesellschaft begreifen und bekämpfen wollen.

Nachdem wir diese Begriffe ungefähr geklärt haben, wollen wir einen Überblick über die Queertheorie geben, da sie den theoretischen Kern sowie praktischen Bezugspunkt des Queerfeminismus bildet. Im weiteren Verlauf wollen wir noch eine marxistische Kritik daran vorstellen sowie strategisch-programmatische Ansätze für die Frauen- sowie LGBTQIA+-Befreiung.

Zur Butlers Queertheorie

Judith Butler hat die Queertheorie maßgeblich geprägt, wenn nicht gar begründet. Dabei erstreckt sich das theoretische Werk über mehrere Bücher, angefangen in den 1990er Jahren mit dem „Unbehagen der Geschlechter“. Darin wird der Zusammenhang von Geschlecht, Körper und Macht diskutiert. Macht ist dabei, abstrakt gefasst, alles durchdringend und konstituiert Diskurs, Wirklichkeit und Wahrheit. Der Diskurs bezeichnet die mitunter sprachliche Praxis, die systematisch die Wirklichkeit bildet und ordnet. Es handelt sich hier also um eine Philosophie, die sich unter anderem an Michel Foucault anlehnt. Die Untersuchung von Diskursen und ihre Verortung in Machtprozessen nennt sich Genealogie. Sie sucht nicht nach der Wahrheit hinter den Kategorien, sondern entlarvt diese als Effekte von Institutionen, Verfahrensweisen und Diskursen. Butler versucht eine Genealogie der Geschlechterbinarität. Darunter versteht man die Auffassung in unserer Gesellschaft, dass es zwei Geschlechter gibt, nämlich jene von Mann und Frau. Butler stellt die Frage, wie der Körper zu einem Geschlechtskörper wird und warum es dabei nur zwei Geschlechter gibt. Das ist insofern relevant, weil Butler das biologische Geschlecht selbst als sozial konstruiert betrachtet und der Zweigeschlechlichkeit die theoretische Unendlichkeit von Geschlecht entgegenhält. Dem bisherigen Feminismus unterstellt Butler, dass er die binäre Geschlechterordnung bestätigt und mit der Vorstellung einer homogenen Gruppe „Frauen“ Ausschlüsse produziert. Es geht dann nicht einfach darum, die Unterdrückung zu bekämpfen, sondern jene Begriffe zu dekonstruieren, welche die Unterdrückung erst ermöglichen.

Performativität

Wenn man Geschlechterbinarität von klein auf gewohnt ist, wenig mit Queertheorie zu tun hatte und vielleicht die klassisch-feministische Trennung von sex und gender verinnerlicht hat, mag es zunächst schwer begreiflich sein, wie Butler zu diesen Ansichten kommt. Wie schon erwähnt, ist sie von Foucault beeinflusst und stützt sich auf dessen Begriff von Macht und Genealogie. In dieser Perspektive lautet die Frage nicht, was der biologische Kern des weiblichen oder des männlichen Geschlechts ist. Sie lautet vielmehr, durch welche Mechanismen das Geschlecht als biologische Eigenschaft des Körpers erscheint. Die bedeutende Rolle kommt hier dem Begriff der Performanz (engl.: Performance = Darstellung, Inszenierung) zu. Butler lehnt sich damit an ein Konzept des Sprachphilosophen John Langshaw Austin an. Dieser bezeichnet „performative Sprechakte“ als jene, die das, was sie bezeichnen, auch in Kraft setzen bzw. erzeugen. Sprache schafft hier also Wirklichkeit. Das klassische Beispiel ist der Ausruf bei der Geburt: „Es ist ein Junge!“ oder „Es ist ein Mädchen!“ Die Wirkmächtigkeit besteht hierbei im wiederholten Zitieren von Normen bzw. in der ständig wiederholten Macht des Diskurses.

Die heterosexuelle Matrix

Butler vollzieht die Abtrennung von Geschlecht und Geschlechtsidentität vom Körper. Geschlecht wird nun am Körper über gewisse Merkmale markiert. Diese bilden aber die Wirkung von Vorgängen, welche das Geschlecht auf den Körper zurückführen. Das geschehe über eine binär organisierte, heterosexuelle Matrix, die in ihrer Entstehung auf die Erkenntnispolitik der Humanwissenschaften zurückgehe und selbst der Performanz unterliege. Vor allem Gynäkologie und Sexualwissenschaft im 19. Jahrhundert waren bemüht, eine Einheit zwischen dem sozialen Geschlecht und der Anatomie des Körpers herzustellen. Letztlich sei dieser Versuch aber gescheitert. Es gebe kein eindeutiges Kriterium zur Geschlechtsbestimmung, was herauskomme, sind nur die Durchschnitte männlicher und weiblicher Geschlechtsmerkmale. Wo gender war, wird sex. Geschlecht erscheint bei Butler als Wirkung eines zwangsordnenden Regimes der Heterosexualität. Das dient letztlich einer auf Fortpflanzung ausgerichteten Körper- und Bevölkerungspolitik.

Möglichkeiten des Widerstands

Die Macht schlägt sich im Individuum und seiner Psyche nieder, wo sich dieses unbewusst selbst normativ diszipliniert (Stichwort: Gewissen). Dabei ist es nicht so, dass sich ein schon vorhandenes Subjekt erst dieser Macht unterordnet, sondern es wird mit seiner Erzeugung zeitgleich unterworfen. Die Unterwerfung ist Bedingung seiner Existenz. Die Subjektbildung ist aber nie vollständig abgeschlossen und die Anweisung zu einer bestimmten Geschlechtsidentität unterliegt Verfehlungen. In der Möglichkeit der Reflexion des Subjekts liegt das Potential zu Widerstand und Subversion. „Queer“ ist bei Butler nun der politische Ausdruck des von der Norm Abweichenden, Namenlosen, das nun benannt werden kann und die Möglichkeit eröffnet, Bereiche des Psychischen und des Gesellschaftlichen zu verschieben. Das gelingt in der Strategie der Queertheorie in einer Politik des Performativen. Sozial autorisierte Kontexte von Sprechakten können durch performative Verschiebung durchbrochen werden, indem ein Sprechakt eine nichtkonventionale Bedeutung erhält. Die Mittel dafür sind etwa Parodie, Travestie und Geschlechterinszenierung, wie das Experimentieren mit alternativen Identitätsformen. Beispielsweise unterläuft Drag (z. B. Dragqueen) die Vorstellungen von Geschlechternormen. Das politische Ziel liegt in der Vermehrung und Vervielfältigung kultureller Konfigurationen von Geschlecht.

Kritik der Queertheorie

Was ist nun das Problem an der Queertheorie? An sich klingt es ja fortschrittlich, die starren Geschlechtervorstellungen in unserer Gesellschaft aufzubrechen. Tatsächlich liegt es auch nicht in diesem Anspruch, sondern einerseits auf der theoretisch-philosophischen Ebene, andererseits auf der praktisch-politischen. Diese beiden Ebenen sind miteinander verknüpft, was man hoffentlich aus der obigen Darstellung der Theorie erkennt.

Zum Theoretischen: Butler versucht darzustellen, wie Geschlecht konstruiert wird, nämlich als Effekt einer heterosexuellen Zwangsordnung. Dabei ist es durchaus nicht uninteressant, welche Rolle performative Sprechakte spielen. Allerdings ist es problematisch, auf dieser Ebene der Analyse zu verbleiben. Was steht hinter dem Zwang zur Heterosexualität? Butlers Genealogie liefert zwar Ansätze zum Verständnis, wie die heterosexuelle Matrix zustande kommt, aber letztlich ist die historische Perspektive nur schwach ausgeprägt und ein historisch-materialistischer Zugang fehlt nicht nur, sondern wird bewusst abgelehnt. Das liegt an der diskurstheoretischen Auffassung selbst. Die Materialität des Körpers ist nicht etwas objektiv Gegebenes, das erkannt werden kann, sondern immer schon kulturell. Gesellschaft und ihre symbolische Ordnung materialisieren sich im Körper, der Diskurs erzeugt die Materie. Das ist letztlich eine philosophisch-idealistische Position, die die Bedingungen für Geschlechterbinarität nicht richtig erfasst und dadurch auch keine adäquate Strategie zur Befreiung von geschlechtlicher Unterdrückung liefert.

Zum Praktischen: Butlers Strategie verbleibt auf der Ebene des Performativen. Dabei ist es, wie gesagt, nicht verkehrt, starre Geschlechterrollen und Geschlechtsidentitäten aufzubrechen. Allerdings ist das kein geeigneter Ansatz, um das Problem an der Wurzel zu packen, welche nämlich in der sozialen Reproduktion und der bürgerlichen Familie liegt. Um hier anzusetzen, braucht es eine Strategie des ökonomischen und politischen Klassenkampfs, der mit dem Aufbrechen von Geschlechterrollen verbunden werden kann und die Grundlagen legt, diese auch wirklich abzuschaffen.

Ein marxistisches Verständnis von Geschlecht

Geschlecht hängt nicht im luftleeren Raum oder schlichtweg an einer auf Fortpflanzung ausgerichteten Bevölkerungspolitik. Es manifestiert sich historisch in Relation zur menschlichen Fortpflanzung. Damit ist nicht gesagt, dass Geschlecht biologisch und sozial nicht darüber hinausgeht, dass ein Mann ohne Hoden kein Mann sein könne, eine Frau ohne Uterus keine Frau usw. Nur weil es keinen fixen Punkt gibt, der für alle Zugehörigen eines Geschlechts gleich und für Geschlecht in seiner Totalität determinierend ist, heißt es aber auch nicht, dass es keine Grundlage hätte. Zur Reproduktion der menschlichen Spezies bestehen zwei qualitative Pole, die historisch, biologisch männlich und weiblich genannt werden und anhand derer Geschlecht sozial vermittelt ist. Wichtig ist hier, dieses zweigepolte Spektrum nicht mit einer Binarität (entweder das eine oder das andere) zu verwechseln. Auf Grundlage der Reproduktionsfähigkeit lässt sich historisch eine geschlechtliche Arbeitsteilung feststellen, die mit dem Aufkommen des Privateigentums und der Klassengesellschaft verstetigt und mit einer gesellschaftlichen Unterdrückung verbunden wurde. Daran sind soziale Vorstellung von Geschlecht und Sexualität als männlich und weiblich geknüpft. Natürlich gibt es biologisch und sozial geschlechtliche Ausprägungen dazwischen, die historisch entweder in einer gewissen Form akzeptiert oder unterdrückt sind. Im Kapitalismus ist die soziale Reproduktion zu einem großen Teil in Form der bürgerlichen Familie organisiert, also in den privaten Haushalt der Kleinfamilie gedrängt. Auch wenn diese Struktur Zerrüttungen unterworfen ist, ist es für das Kapital die ökonomisch sinnvollste Form, das Aufziehen von Kindern, die Hausarbeit und Formen physischer und psychischer Pflegearbeit der unbezahlten, vorwiegend weiblichen, Arbeitskraft aufzubürden.

Strategie zur Befreiung

Eine Strategie zur geschlechtlichen und sexuellen Befreiung muss an der geschlechtlichen Arbeitsteilung ansetzen und mit ihr die starre Form der bürgerlichen Kleinfamilie aufheben. Das geschieht durch Formen der Vergesellschaftung von Reproduktionsarbeit, sodass die Familie nicht mehr die „kleinste ökonomische Einheit“ in der Gesellschaft bleibt. Das bedeutet den Ausbau von Pflege, Kinderbetreuung, kollektive und kollektivierte Formen der Hausarbeit (Kantinen, Wäschereien etc.), die Stärkung der ökonomischen Unabhängigkeit von geschlechtlich und sexuell Unterdrückten und alternativen Formen des Zusammenlebens. All das kann natürlich nicht von heute auf morgen passieren und es gibt viele andere Aspekte, die nicht auf dieser politisch-ökonomischen Ebene liegen, für die es heute zu kämpfen gilt. Dazu zählt insbesondere das Recht auf sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung, dazu zählt immer das auf eine eigene Geschlechtsidentität. Die Kämpfe darum sind keineswegs irrelevant oder nachgeordnet, aber ohne Umgestaltung der ökonomischen Struktur unserer Gesellschaft bleiben ihre Erfolge begrenzt.

Queerfeminismus: ja oder nein?

Wie sollte man gemäß diesen Ausführungen also zum Queerfeminismus stehen? Aufgrund der schwammigen politischen Konzeption und der dekonstruktivistischen, irreleitenden theoretischen Basis lehnen wir für uns eine Selbstzuschreibung als queerfeministisch ab und tun dies auch in politischen Zusammenhängen, in denen wir aktiv sind, z. B. LINKS. Gleichzeitig wollen wir uns nicht sektiererisch oder gar unsolidarisch gegenüber Kräften und Aktivist:innen verhalten, die sich in die queerfeministische Strömung einordnen. Sofern es praktische Überschneidungen im Kampf um Frauen- oder LGBTQIA+-Befreiung gibt, und davon gibt es etliche, wird eine Zusammenarbeit auch sinnvoll sein. Somit ist es für uns selbstverständlich, dass wir uns in diese Kämpfe einreihen und sie als integralen Teil des Klassenkampfs begreifen. Dabei verteidigen wir auch die Einbeziehung von trans Frauen in die Frauenbewegung sowie die Zusammenführung von Kämpfen rund um queere Identitäten. Wir wollen, so gut es geht, miteinander in einer starken Arbeiter:innenbewegung für unser aller Rechte kämpfen. Dabei bekämpfen wir natürlich auch Exklusionen innerhalb ihrer.

Wir sind aber dagegen, die Fragen vom Kampf gegen geschlechtliche und sexuelle Unterdrückung inhaltlich zu stark zu vermischen, wie es beispielsweise bei der Verwendung des FLINTA*-Begriffs (Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre, trans und agender Personen) passieren kann, denn hier stehen zum Teil unterschiedliche Forderungen im Vordergrund. Beispielsweise wird der FLINTA*-Begriff häufig für Themen verwendet, wo es eigentlich klar ist, dass sich Frauen davon angesprochen fühlen sollen, was wiederum FLINTA* zu einem reinen Ersatz-Begriff für Frauen macht und die anderen Identitäten wieder in den Hintergrund rücken lässt oder umgekehrt. Darüber hinaus ist beispielsweise die Frage von Kinderbetreuung eine, die Mütter eher betrifft als homosexuelle Männer, während sich viele Frauen von der Frage eines dritten Geschlechtseintrags in offiziellen Dokumenten nicht betroffen fühlen. Das heißt aber nicht, dass wir uns nicht mit den Anliegen verschiedener Gruppen (auch praktisch) solidarisieren müssen. Nur eine saubere inhaltliche Analyse erlaubt zielgerichtete Forderungen. Letztlich wollen wir diese Kämpfe gemeinsam im Sinne eines solidarischen Klassenkampfs führen, der den Zusammenhang von geschlechtlicher sowie sexueller Unterdrückung mit dem Kapitalismus erkennt und den Kampf um Befreiung mit einer revolutionären, sozialistischen Perspektive verbindet.




Revolutionärer Marxismus 55: Eine Welt in der Krise

Redaktion, Neue Internationale 274, Juni 2023

Im Juni 2023 erscheint Nummer 55 unseres theoretischen Journals „Revolutionärer Marxismus“. Sie widmet sich schwerpunktmäßig der internationalen Lage, ihrem Verhältnis zur imperialistischen Konkurrenz, Veränderungen der Kapitalbewegung, Klassenzusammensetzung und Krieg. Mit und seit der reaktionären Invasion Russlands in der Ukraine beginnt auch eine neue Etappe des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt, der Konfrontation zwischen den alten, westlichen Großmächten unter Führung der USA einer- und China und Russland andererseits.

Die aktuelle Ausgabe des revolutionären Marxismus beleuchtet Kernaspekte der veränderten Weltlage, grundlegende krisenhafte Phänomene des globalen Kapitalismus und ihre Entwicklungsdynamik. Viele Artikel entstanden ursprünglich aus der Arbeit an Hintergrundpapieren und Dokumenten für den Internationalen Kongress der Liga für die Fünfte Internationale im November 2022. Für diese Ausgabe wurden sie noch einmal umgearbeitet und aktualisiert. Entscheidend ist jedoch, dass wir in den Texten nicht nur ein Abbild der aktuellen Entwicklung liefern, sondern auch Tendenzen herausarbeiten wollen, die noch über Jahre prägend sein werden.

Am Beginn dieser Ausgabe des Revolutionären Marxismus steht eine Analyse der Weltwirtschaft. Im Artikel „Eine Welt in der Krise“ verweist Markus Lehner ausführlich auf die innere Dynamik der Kapitalakkumulation seit 2008, die selbst zu einer Krise der kapitalistischen Globalisierung geführt hat. Er beschäftigt sich mit der Entwicklung in allen Kernsektoren der globalen Ökonomie, darunter auch in China. Alle sind von fallenden oder stagnierenden Profitraten geprägt. Eine Basis für ein neues, expansives Akkumulationsregime ist aus der inneren ökonomischen Entwicklung nicht abzusehen. Dieses würde eine Vernichtung überschüssigen akkumulierten Kapitals im historischen Ausmaß voraussetzen, sowohl im Finanzsektor wie auch und vor allem des industriellen Kapitalstocks. Und genau hier zeigt sich die enge Verbindung dieser Krise mit dem Kampf um die Neuaufteilung der Welt, da alle großen Mächte ihr Kapital auf Kosten der Konkurrenz retten wollen.

Die Pandemie und der Ukrainekrieg wirken als Katalysatoren dieser Entwicklung. Inflation bis hin zur Hyperinflation in den Halbkolonien haben die Welt fest im Griff. Zugleich erleben wir eine weitere Fragmentierung des Weltmarktes, Schritte zur „Deglobalisierung“ und zur partiellen, im Fall Russlands der praktisch vollständigen Umstellung auf Kriegswirtschaft. In den nächsten Jahren werden wir mit einer Welt von Krieg und Krisen konfrontiert sein, die auch eine grundlegende Neuausrichtung der Linken und der Arbeiter:innenklasse erfordern.

Der darauffolgende Artikel beschäftigt sich mit dem Aufstieg Chinas zur imperialistischen Macht. Dass die fetten Jahre der wirtschaftlichen Expansion vorbei zu sein scheinen, hängt vor allem mit zwei Faktoren zusammen. Einerseits machen sich auch in China die inneren Widersprüche der Kapitalakkumulation, ihre krisenhafte Logik und der Fall der Profitraten geltend. Zweitens bedeutet die Konkurrenz zu den USA und den anderen „traditionellen“ imperialistischen Mächten, dass die Zeiten wechselseitiger ökonomischen Vorteile längst vorbei sein. Vielmehr geht es zunehmend darum, welche Großmacht, welche Mächtegruppe, die Welt in ihrem Interesse neu organisiert. Damit einher gehen nicht nur ein immer heftigerer Kampf um Märkte und Einflussgebiete, sondern auch Formen eines regelrechten Wirtschaftskrieges, wechselseitige Drohungen, Tendenzen zur Abschottung des jeweils eigenen „Einflussgebietes“ vor der Konkurrenz sowie Militarisierung, Aufrüstung und wachsende Kriegsgefahr.

Der Artikel beschäftigt sich jedoch nicht nur mit der enorm gewachsenen Rolle des chinesischen Imperialismus, sondern auch mit den historischen Wurzeln des bonapartischen Regimes und den inneren Widersprüchen dieser Großmacht.

Die Texte zur Weltlage werden durch zwei weitere Beiträge ergänzt. Im Beitrag „Die verschiedenen Ebenen des Ukrainekriegs“ wird untersucht, wie dessen verschiedene Dimensionen – nationaler Verteidigungskrieg gegen die russische imperialistische Invasion einer-, innerimperialistischer Konflikt zwischen Russland und den NATO-Staaten andererseits – miteinander verwoben sind und welche Schlussfolgerungen Revolutionär:innen daraus ziehen.

Ein weiterer Artikel geht auf das Wachstum der extremen Rechten, sei es rechtspopulistischer oder gar faschistischer Kräfte, ein. Dabei wird nicht nur deren gesellschaftliche Basis in der gegenwärtigen Periode untersucht, sondern auch auf die Frage, wie ihr Aufstieg erfolgreich bekämpft werden kann, eingegangen.

Die Reihe der aus der Kongressdiskussion unserer Strömung erwachsenen Beiträge schließt der Artikel „Krise und Wandel der Arbeiter:innenklasse“ ab. Schon im „Kapital“ zeigt Marx, dass sein Wandel, Wachstum wie Stagnation, die Zusammensetzung und Reproduktionsbedingungen der Arbeiter:innenklasse entscheidend bestimmen.

Die ersten Abschnitte des Artikels skizzieren dabei die wichtigsten Veränderungen der Klasse der Lohnabhängigen während der Globalisierungsperiode, die Auswirkungen der Pandemie und des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt seit Beginn des Ukrainekrieges. Die beiden folgenden Teile sind der Lage der Gewerkschaften und Arbeiter:innenparteien und ihrer politischen Entwicklung gewidmet. Die Politik des nationalen Schulterschlusses und der systematischen Klassenkollaboration, wie sie seit Jahren von den reformistischen Parteien und den Gewerkschaftsführungen betrieben wird, bildet selbst einen entscheidenden Faktor dafür, dass die herrschenden Klassen die Kosten von Krieg, Umweltzerstörung, Gesundheitskrise und Inflation den Lohnabhängigen aufbürden können.

Die Führungskrise des Proletariats nimmt weitere, dramatische Dimensionen an – und nicht nur, wenn wir die „traditionellen“ sozialdemokratischen und stalinistischen Massenparteien betrachten. Auch der linke Reformismus und scheinbar radikale kleinbürgerliche Kräfte bilden letztlich einen Teil des Problems der Führungskrise und nicht ihrer Lösung. Doch auch die subjektiv revolutionären, zentristischen Kräfte vermögen keine programmatische Antwort auf die Krise zu geben. Der Artikel skizziert daher nicht nur ein Bild deren aktuellen Zustands, sondern auch historische Lehren des Kampfes für revolutionäre Parteien und eine revolutionäre Internationale, die es gilt, für die heutige Lage fruchtbar zu machen, wenn erfolgreich neue revolutionäre Organisationen aufgebaut werden sollen.

Zwei Texte, die sich Fragen von Programm und Strategie widmen, schließen diese Ausgabe des Revolutionären Marxismus ab. Der Beitrag „Wohin treibt die DSA?“ von Andy Young wurde ursprünglich in unserem internationalen Magazin „Fifth International“ veröffentlicht und unterzieht die Politik der Democratic Socialists of America und vor allem ihren zweiten Kongress einer marxistischen Kritik.

Den letzten Beitrag bildet die Übersetzung des Artikels „Gramsci und die revolutionäre Tradition“. Auch wenn dieser 1987 verfasst wurde, so enthält er eine umfassende Darstellung des politischen Werdegangs von Gramsci und insbesondere auch eine Kritik seiner politischen Strategie, wie sie in den sog. Gefängnisheften entwickelt wird.

Damit schließt diese Ausgabe des Revolutionären Marxismus ab. Zweifellos kann sie nur Aspekte der gegenwärtigen Krise in der nötigen Tiefe und Komplexität darstellen – aber eine Schwerpunktsetzung ist leider unvermeidlich. Wir wollen aber vor allem die theoretisch interessierten Leser:innen auf die beiden vorhergehenden Ausgaben des Revolutionären Marxismus – „Umweltkrise. Eine Krise des Kapitalismus“ (RM 54) und „Imperialismus. Theorie, Kontroversen und Kritik“ (RM 53) – verweisen, die wichtige Grundlagenarbeit enthalten, die in dieser Ausgabe wieder aufgegriffen wird. Eine solche bildet einen unerlässlichen Bestandteil jeder marxistischen Organisation, denn ohne revolutionäre Theorie kann es keine revolutionäre Praxis geben.




Kontext verzerrendes Bildergewitter gewinnt vier Oscars

Leo Drais, Infomail 1216, 13. März 2023

Da hat die deutsche Netflix-Neuverfilmung von „Im Westen Nichts Neues“ also vier Oscars gewonnen: ein bildgewaltiger Film, dessen Plot jedoch eine Welt versinnbildlicht, die wieder am Rand des Weltenbrandes steht und keinen Ausweg daraus findet. Warum ist das so?

Krieg als Kunst als Ware

Dass ein Antikriegsfilm – und als solcher darf sich die Arbeit von Regisseur Edward Berger auf jeden Fall bezeichnen – auch nichts anderes als eine Ware ist, die Geld auf dem Filmmarkt einspielen soll, ist ja kein Geheimnis. Genauso wenig, dass die Oscars selbst Teil dieser Industrie sind, die sich in der Verleihungschoreographie quasi selbst geil findet.

Zwangsläufig führt das jedoch zu einer besonderen Form der Dramaturgie, die schnell ins Ahistorische übergeht. Zum Beispiel, wenn der Film in einer der Anfangsszenen die mythisierte Kriegsbegeisterung ins Jahr 1917 verlegt, eine Zeit, die längst von Hunger, Kriegsmüdigkeit und Zynismus geprägt war.

Oder indem die Handlung des Romans auf 148 Minuten zusammengestaucht wird. Relevante Szenen des Romans – etwa der Streich Paul Bäumers und seiner Kameraden an ihrem erniedrigenden Ausbilder; der Fronturlaub; das Unverständnis und die Verlorenheit, die Bäumer zuhause fühlt; seine Begegnung mit russischen Kriegsgefangenen – haben da drin logischerweise keinen Platz. Es bleibt das Geschehen in den Gräben, wo der Film technisch groß aufgefahren hat und durchaus sehr überzeugende schauspielerische Leistungen zeigt.

Dennoch: Netflix produziert doch sonst aus jedem noch so abgedroschenen Thema eine von durchschnittlicher Mittelmäßigkeit durchsetzte Serie. Hier wäre mal die Chance gewesen, darüber hinauszuwachsen.

Aber letztlich ist das egal. Den durchschnittlichen Zuschauer:innen reicht das Gemetzel, um ihrer Angstlust nachzugehen und dann zu sagen: „Schrecklich!“ oder „Krass!“

Konzernproduktionen von Netflix, Warner oder Disney haben weder die Aufgabe noch den Anspruch, historische Ereignisse korrekt zu kontextualisieren. Ihre Macher:innen haben auch selbst gar kein Bewusstsein dafür. Das ist ja gerade die Crux mit der Ideologie. Am Set denken sie vielleicht wirklich, sie tragen hier dazu bei, zukünftige Kriege zu verhindern. Aber ob es diese Gedanken gestern auch beim Applaus gab?

Klar könnte man jetzt sagen, dass Erich Maria Remarques Roman diesen Kontext selbst nicht herstellt. Das stimmt. Die Kritik ist trotzdem gerechtfertigt, weil Bergers Film bei allen Weglassungen aus dem Roman selbst einen zweiten Handlungsstrang zusätzlich geschaffen hat, der direkt so, wie er dargestellt wird, auf Geschichtsklitterung im Dienste des Dramas hinausläuft.

Kriegsende ohne Revolution

Es geht um die Verhandlungen im Eisenbahnwagen im Wald von Compiègne, die zum Waffenstillstand führten.

Was der Film definitiv gut darstellt, ist die besondere Sinnlosigkeit der letzten Angriffsversuche selbstsüchtiger Befehlshaber, die noch Minuten vor dem Waffenstillstand Menschen ins Feuer trieben.

Das Problem liegt im Kontext der Verhandlungen selbst.

Während die Herrschenden auf allen Seiten vier Jahre lang kein Problem damit hatten, Massen auf die Schlachtbank zu führen, taucht nun der gute Matthias Erzberger von der konservativen Zentrumspartei auf und appelliert vor Humanismus triefend bei den französischen Unterhändlern um Frieden.

Noch 1916 stand derselbe Erzberger für einen Siegfrieden ein, ab 1918 für einen „Verständigungsfrieden“ – also einen Frieden, den die Imperialist:innen am Runden Tisch beschließen, um die Welt dort unter sich aufzuteilen.

Das größte Problem an der Erzählung im Film ist, dass diese Friedensbemühungen bei Erzberger (Daniel Brühl) als rein einsichtige Guter-Mensch-Tat erscheint, auch wenn immerhin anklingt, dass die Oberste Heeresleitung in ihm einen nützlichen Trottel gefunden hat, der das schmutzige Geschäft des Friedens – also der Niederlage – übernahm und das Militär somit die Dolchstoßlegende zur Wahrung des eigenen Gesichts bemühen konnte.

Aber ohne die aussichtslose Kriegssituation und vor allem ohne die heraufziehende Novemberrevolution lassen sich die Waffenstillstandsbemühungen auf deutscher Seite nicht verstehen. Letzteres lässt der Film sträflich einfach weg. Während im Roman der Protagonist „Entweder gibt es Frieden oder eine Revolution“ denkt, fällt dieses R-Wort nirgends im Film. Das wäre aber Pflicht gewesen im Sinne einer historischen Richtigkeit. Denn während das Buch im Oktober 1918 endet, treibt der Film die Handlung ja bis in den November.

Natürlich war auch Remarque kein Revolutionär. Aber er vermied es, sich die Finger am falschen Frieden zu verbrennen, indem er sich rein auf die Perspektive Paul Bäumers konzentrierte.

Berger und Netflix sind aber absichtlich über dieses Perspektive hinausgegangen und bei ihnen ist der ganze Frieden nicht mehr als eine gute Tat der Herrschenden. Er erscheint nicht als etwas, womit sie ihren eigenen Kopf vor der Revolution retteten. Denn selbstredend war Erzberger genauso wie Ebert, Noske und Co. ein entschiedener Gegner der sozialistischen Revolution.

Kontext heute

Und damit mal zurück in die Gegenwart, in die Zeit des Krieges in der Ukraine, wo der Kampf um die Neuaufteilung der Welt erneut eskaliert. Die NATO handelt hier in der Unterstützung der Ukraine genauso wenig selbstlos wie ein Erzberger in Compiègne. Sie verfolgt durch das ukrainische Militär eigene imperialistische Interessen gegenüber der russischen Konkurrenz.

Es gibt viele frappierende Parallelen, sei es, dass es wie ein Jahr nach dem Beginn des ersten Weltkrieges auch heute wieder einen Munitionsmangel gibt oder sei es, dass Bachmut mit Verdun verglichen wird.

Entsprechend kam der Film für die westlichen Verbündeten zur genau richtigen Zeit. Russland erscheint in den Köpfen der Meisten als der Aggressor – was es ja auch ist. Die Kriegsziele werden jedoch kaum hinterfragt, was die westliche Seite angeht. Jetzt taucht so ein Film auf, der die Schrecken des Krieges zeigt, und: Oha! Das wiederholt sich ja heute, und Russland hat Schuld daran. Über die Angst vor dem Krieg bindet „Im Westen Nichts Neues“ die Zuschauer:innen in die westlichen Kriegsbemühungen ein, der Pazifismus landet auf dem Bauch. Die vier Oscars sind kein Zufall. Mindestens unbewusst wirken die Bilder des Krieges von damals und heute zusammen.

Für die Macher:innen des Films gilt, dass sie sich, indem sie mit dem Finger mahnend auf die Vergangenheit weisen, heute moralisch auf der richtigen Seite wähnen. Aber: Psst! – auf dieser Seite wähnten sich viele Kulturschaffende auch vor 109 Jahren!

Russland hat den Krieg zwar begonnen, aber wenn dieser zum Dritten Weltkrieg ausartet tragen dafür alle daran beteiligten Herrschenden Schuld, und alle sind sie von ihrer Unschuld überzeugt. Manche Regisseur:innen von Antikriegsfilmen sind vielleicht, ohne es zu wissen, auf dem besten Weg, zur moralischen Unterstützung des Krieges zu werden.

Stellt sich noch die Frage nach der Verhinderung und dem Ende des Krieges.

Für Marxist:innen ist in Gedenken an Rosa Luxemburg (über deren Tod Matthias Erzberger bestimmt nicht traurig war) klar, dass die Weltlage auf Sozialismus oder Barbarei hinausläuft.

Der Sozialismus ist kaum als eine Alternative für unsere Gegenwart bekannt. Das ist auch den Produzent:innen nicht vorzuwerfen. Wohl aber, historisch inkorrekt und unvollständig gearbeitet zu haben. Und das wirkt nun mal auch ins barbarische Heute.

In den letzten Jahren gab es viele Filme, die die Geschichte zum Gegenstand nahmen. Babylon Berlin ist ein anderes Beispiel dafür, wobei die Serie offen zur eigenen Fiktion steht.

Trotzdem: Das Ergebnis dieser Produktionen ist, auch wenn das die Macher:innen vielleicht nicht wollen, dass die Vergangenheit noch rätselhafter, willkürlicher und naturgesetzlicher erscheint, als sie das sowieso schon im Schulunterricht ist. Aber Geschichte ist Pseudonatur. Sie wird von Menschen gemacht und Menschen können sie auch positiv bewusst auflösen.

Weit weg von solchen Ideen (Wofür auch, es ist ja eine kapitalistisch vergewaltigte Kunst, die Geld und Ruhm bringen soll!) ist die Vergangenheitsbewältigung der modernen Großfilmindustrie darauf reduziert, die Geschichte als mitreißendes Drama auf die Leinwand zu tragen – und damit selbst zum Teil des sehr realen Gegenwartsdramas zu werden.




Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) – bedingungslos gut?

Martin Suchanek, Neue Internationale 269, November 2022

Im September 2022 votierte eine Mehrheit der Mitglieder der Linkspartei dafür, die Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen in das Programm aufzunehmen. 18.667 Menschen – also rund ein Drittel – beteiligte sich an der Abstimmung, 56,64 % sprachen sich für die Forderung aus, 38,43 % stimmten dagegen.

Für manche Gewerkschafter:innen war es ein weiteres Signal, der Partei den Rücken zu kehren, der sog. emanzipatorische Flügel feiert einen weiteren Erfolg. Wie das BGE der Linkspartei zufolge genau ausgestaltet werden soll, muss der Vorstand zum nächsten Parteitag ausformulieren.

Mit anderen Worten, das beschlossene „Modell“ der Linkspartei unterscheidet sich von anderen dadurch, dass es erst konkretisiert werden muss – es soll aber bedingungslos, armutssicher, nicht neoliberal und außerdem bei der gemeinsamen Durchsetzung mit anderen gesellschaftlichen Kräften nicht verwässert werden.

Dabei ist die Forderung nach einem BGE bekanntlich nicht neu. Seit über zwei Jahrzehnten wird sie wieder in sozialen Bewegungen diskutiert, aber auch von bürgerlichen Kräften als Mittel zur „Reform“ der Sozialsysteme in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung ins Feld geführt. Den Argumenten linker Befürworter:innen hat DIE LINKE nichts hinzugefügt. Wenn überhaupt, zeichnet sich der Beschluss dadurch aus, unklarer als andere Modelle zu sein. Wir konzentrieren uns dabei im folgenden Beitrag auf grundsätzliche Überlegungen zum BGE und werden darlegen, warum diese Forderung zurückgewiesen werden muss und für die Arbeiter:innenklasse keinen Segen, sondern einen Fallstrick darstellt.

Versprechen

Auf den ersten Blick scheint die Frage nach dem BGE  einfach zu sein, zumal wenn wir von den sehr verschieden Vorschlägen absehen, wie es finanziert werden soll oder womit es begründet wird.

Das Grundeinkommen verspricht schließlich eine Reihe unmittelbarer Verbesserungen für Menschen ohne Arbeit, mit geringen Einkommen und jene, die unter Schikanen der Ämter zu leiden haben.

Grundsätzlich versprechen alle Modelle für das Grundeinkommen eine staatliche Transferleistung, die Personen – unabhängig davon, ob sie eine Bedürftigkeit vorweisen können oder nicht – erhalten sollen. D. h. es sollen ALLE kriegen, ob nun Obdachlose, prekär Beschäftigte, Facharbeiter:innen, Professor:inen oder Konzerneigentümer:innen. Staffelungen sind zumeist nur bei Kindern und Jugendlichen vorgesehen, bei manchen Modellen auch für gering Qualifizierte. Eine Reihe von Vorschlägen beschränkt die Bezugsberechtigung allerdings nur auf Staatsbürger:innen, schließt also einen großen Teil der Migrant:innen und alle Geflüchteten aus.

Alle Modelle versprechen zudem, reale Probleme zu lösen: Arbeitslosigkeit, Umstrukturierung der Arbeitswelt, den Zwang, Billigjobs anzunehmen, die gesellschaftliche Abwertung nicht entlohnter Beschäftigung wie z. B. von privater Hausarbeit.

Und alle versprechen mehr Selbstständigkeit und Freiheit des Individuums, weil dieses mit einem garantierten Einkommen abgesichert sei, da es ein Grundeinkommen von 800 –1.500 Euro/Monat ohne Bedingungen zur freien Verfügung hätte und sich dann auch noch etwas „dazuverdienen“ könne oder eben nicht.

Bürgerliche Modelle

Für viele auf den ersten Blick überraschend, vertritt eine Reihe offen bürgerlicher Ökonom:innen, Politiker:innen und auch Unternehmer:innen das BGE.

Hier sei zuerst die sog. negative Einkommensteuer erwähnt. Sie geht auf Milton Friedman zurück, einen der Begründer des Neoliberalismus, und bildet die Grundlage verschiedener Modelle des Bürgergeldes, aber auch etlicher Finanzierungsmodelle des BGE. Der Staat sichert praktisch jedem/r einen festzulegenden Geldbetrag, der in Friedmans Vorstellung mit der Einkommensteuerschuld verrechnet wird. Für Menschen mit keinen oder geringen Steuern ergibt sich daraus ein Plus, daher auch der Terminus negative Einkommensteuer.

Friedman koppelt seinen Vorschlag an die Abschaffung anderer staatlicher Transferleistungen, verspricht Bürokratieabbau samt Einsparung der in der Sozialverwaltung Beschäftigten. Ähnliche Vorstellungen finden wir bei verschiedenen bürgerlichen Konzepten des BGE.

So z. B. beim „Althaus-Modell“, benannt nach dem ehemaligen Thüringer CDU-Ministerpräsidenten. Dieses wurde von der Adenauer-Stiftung schon vor gut 10 Jahren für Beträge von 800 bzw. 400 Euro berechnet und als „kostenneutral“ befunden. Warum? Weil es mit der Abschaffung der Sozialversicherung für Alter und Krankheit einhergeht, diese müsste also privat bezahlt werden. Daher wäre es auch durch Bürokratieabbau und massive Reduktion der sog. Lohnnebenkosten, also eigentlich von Lohnbestandteilen, gegenfinanzierbar.

Götz Werner, Gründer der Drogeriemarktkette dm und mittlerweile tot, sprach sich ebenfalls für ein bedingungsloses Grundeinkommen aus, in der Höhe von zuerst 900, dann ansteigend auf 1.500 Euro. Auch er will zugleich Sozialabgaben und andere Transferleistungen abschaffen. Finanziert werden soll sein Modell durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 48 %, also v. a. Massensteuern. Auch dies soll kostenneutral sein.

Werner meinte außerdem, dass sein Modell den Zwang zur Annahme niedrig entlohnter Arbeit abschaffen würde. Die Unternehmen würden vielmehr zur Rationalisierung und zum Ersetzen unqualifizierter Arbeit durch Maschinen gezwungen. „Angebot und Nachfrage“ würden, so versprach er, gar zu höher qualifizierten Angeboten für Beschäftigte führen. Zugleich hatte er auch eine frohe Botschaft für das Kapital – die Gewerkschaften würden überflüssig, weil die Menschen nur noch die Arbeit annehmen müssten, die sie annehmen wollten.

Dies ist jedoch albern. Selbst ein BGE von 1.500 Euro verbleibt unter der Höhe des von vielen Gewerkschaften geforderten Mindestlohns. Zieht man private Kranken- und Rentenversicherungsbeiträge und Mieten ab, so kommt man rasch an die Grenze der Reproduktionskosten, die notwendig sind, um die Ware Arbeitskraft zu erhalten und auch zukünftige Generationen auszubilden. Wenn wir die durchschnittlichen Kosten für Lebensmittel, Wohnung, Miete, Bildung, Kindererziehung, Betreuung von Angehörigen usw. in Rechnung stellen, bleibt von 1.500 Euro gerade genug zum Überleben – und das galt schon vor der aktuellen Inflation.

Kritik am bürgerlichen BGE

Faktisch laufen alle diese Modelle auf Kombilohn hinaus, also darauf, dass Menschen zum BGE „dazuverdienen“ müssen. Der Zwang, die Arbeitskraft als Ware zu verkaufen, bleibt also bestehen.

Die Kapitalist:innen werden bei diesen Modellen von den sogenannten Lohnnebenkosten befreit. Da diese in Wirklichkeit nur als Arbeit„geber“:innenanteile deklariert verklärte Lohnbestandteile darstellen, sinken also faktisch die Lohnkosten. Zweitens ermöglicht das Modell eine Ausweitung von schlecht bezahlter Arbeit, Minijobs usw., gerade weil ein Teil der Reproduktionskosten schon staatlich ausbezahlt wird.

Natürlich werden schon jetzt bestimmte Teile des Arbeitslohns über Transferleistungen (Sozialversicherung) bestritten bzw. wird ein Teil der Reproduktionskosten durch staatliche Einrichtungen (Schulen, Jugendfreizeiteinrichtungen … ), also über Steuern, finanziert, von denen einen immer größeren Anteil die Lohnabhängigen bezahlen.

Mit dem Grundeinkommen oder Bürger:innengeld soll das vereinfacht, sollen also die Verwaltungskosten gespart werden. Alle kriegen das BGE, dafür entfallen möglichst alle Formen der Transferleistungen und damit auch die Rechtsansprüche auf diese. Der neoliberale Trend zur Privatisierung und Individualisierung von Vorsorgeleistungen würde somit forciert. Bisher an den Staat gerichtete Ansprüche wie Bildung, Kita, … könnten so der privaten Wahl der Einkommensbezieher:innen überlassen werden.

Ideologisch wird das Ganze als Zugewinn von Freiheit und Selbstbestimmung verbrämt.

In Wirklichkeit wird der Zwang zum Verkauf der Ware Arbeitskraft jedoch nur in andere, letztlich sehr viel nachteiligere Formen gegossen.

Außerdem wird eine mehr oder minder große Masse an Arbeitslosen und Unterbeschäftigten dauerhaft in Rechnung gestellt.

Seit Jahrzehnten wird in vielen Analysen das angebliche Verschwinden der Arbeit, die mehr oder minder vollständige Ersetzung menschlicher Arbeitskraft beschworen. Diese Behauptungen haben sich nicht nur empirisch als falsch erwiesen, erst recht, wenn wir das Wachstum der globalen Arbeiter:innenklasse in den letzten Jahrzehnten betrachten.

Das Auf-die.Straße-Setzen lebendiger Arbeit wird auch noch als eine unvermeidliche „natürliche“ Entwicklungstendenz dargestellt, als „Sachzwang“ und Automatismus, nicht als Folge der Kapitalakkumulation, also eines gesellschaftlichen Verhältnisses.

Akzeptiert man aber die Verklärung zur unvermeidlichen, „natürlichen“ Entwicklung, so erscheint das BGE als humanere Alternative zu Hartz IV alternativlos. Es bildet daher ein bürgerliches Programm, das nur auf eine andere Form der Verwaltung der Erwerbslosen und prekär Beschäftigten hinausläuft. Am meisten wird das vom Anthroposophen und Humanisten Götz Werner verkleistert. Leute wie Althaus, die CDU-Anhänger:innen von Bürger:innengeld oder Friedman machen das nicht. Sie sind gewissermaßen ehrlicher, jedenfalls offener bezüglich ihrer Klassenziele, aber auch realistischer, was die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus betrifft.

Aus dem Gesagten wird auch schon deutlich, dass das bürgerliche BGE an grundlegenden Verhältnissen nichts verändert:

  • Die Struktur der gesellschaftlichen Arbeit, die Arbeitsteilung, das Verhältnis von Beschäftigten und Arbeitslosen, die Verteilung über die Branchen, aber auch das Verhältnis von Mann und Frau bleiben grundsätzlich unberührt, eventuell verstärkt das BGE z. B. die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung sogar.

  • Die Ungleichheit zwischen Staats- und Nichtstaatsbürger:innen wird verfestigt. Alle bürgerlichen Modelle und auch viele andere, die Transferleistungen durch BGE ersetzen wollen, würden die Lage nichtdeutscher Menschen massiv verschlechtern, weil diese vom BGE ausgeschlossen wären.

  • Als Gesellschaftsmodelle verfestigen und verschärfen die unterschiedlichen Entwürfe die Spaltung der Arbeiter:innenklasse – insbesondere zwischen Beschäftigten und Unbeschäftigten. Sie laufen nämlich auf eine Umverteilung des Einkommens innerhalb der Klasse hinaus. Ein mehr oder minder großer Teil der Finanzierung würde durch Lohnabhängige für andere Lohnabhängige über Steuern oder andere Mittel erbracht werden.

  • Alle BGE-Modelle setzen voraus, dass die Zahl der Beschäftigten von den Akkumulationsbedürfnissen des Kapitals bestimmt wird. Es geht einzig um eine Umverteilung von Einkommen, die möglichst „kostenneutral“, also ohne Kosten für das Kapital, vonstattengehen soll. Die Verteilung der Produktionsmittel in der Gesellschaft, deren Besitz von der Kapitalist:innenklasse monopolisiert ist, bleibt außen vor.

Linke Modelle

Neben denen von offen Bürgerlichen gibt es zahlreiche, im weitesten Sinn linke Modelle. Bei der Finanzierung streben die meisten – im Gegensatz zu Althaus oder Friedman – eine Umverteilung von oben nach unten an.

So sollen manche über Steuern – einschließlich einer Teilfinanzierung über eine Vermögensteuer – finanziert werden, andere über Änderung der Sozialabgaben. Die vorgeschlagene Höhe des BGE reicht von 1.000 bis 1.500 Euro, etliche machen dazu auch keine Angaben. Politisch kommen sie von Teilen der SPD, Grünen, Kirchen,

 Sozialinitiativen/Verbünden, attac oder – der Linkspartei.

Ronald Blaschke und Katja Kipping betätigten sich über Jahre als Befürworter:innen in der Linkspartei und waren auch wichtige Unterstützer:innen des BGE bei der Urabstimmung. Außerdem wird das BGE von Gruppierungen und Theoretiker:innen des Postautonomismus (z. B. Negri und Hardt im „Empire“) favorisiert und zu einem Mittel zur Schaffung einer anderen, postkapitalistischen Gesellschaft stilisiert.

Die linken Modelle versuchen, die Defizite der bürgerlichen zu überwinden, indem sie die Forderung nach bedingungslosem Grundeinkommen an bestimmte Ziele binden:

a) Es soll wirklich bedingungslos sein – d. h. wirklich keine Form der Bedürftigkeitsprüfung inkludieren (d. h. es gibt natürlich auch Geld für Reiche, die aber insgesamt mehr einzahlen als erhalten sollen).

b) Es muss unabhängig von der Staatsangehörigkeit allen zukommen, die hier leben. Bei manchen wird es auch als „globales soziales Recht“ gefordert. Die Begründung zum Antrag der Linkspartei stellt ein „identitätsstiftendes“ BGE für die gesamte EU in Aussicht.

c) Es soll armutsfest sein – daher auch eine Mindesthöhe haben, die zum Leben in Würde reicht.

Da der Begriff der „Würde“ ökonomisch vage und unbestimmt ist, dient er mehr als Wunsch denn als reale Bestimmung. Im Grund sollen auch die linken BGEs die Reproduktionskosten decken, genauer das notwendige Minimum, um unter den gegebenen Bedingungen die Kosten für Grundbedürfnisse einer Person (Essen, Wohnen, Ausbildung, Freizeit) sowie  zukünftiger Generationen zu sichern.

Was die Höhe angeht, unterscheiden sich die linken Modelle daher nicht substantiell von den Vorschlägen eines Götz Werner. Ihr Unterschied liegt wohl eher in den zahlreichen Heilsversprechen, die zur Begründung des BGE herhalten sollen. In ihrer Gesamtheit stellen sie kein schlüssiges Konzept dar. Gerade die zahlreichen ideologischen Überhöhungen entsprechen aber dem Klassenstandpunkt ihrer Vertreter:innen. So verweist das „Netzwerk Grundeinkommen“ (Blaschke) darauf, dass für ein BGE spräche:

„- mehr Autonomie für Unternehmer:innen durch deren Befreiung von der Verantwortung als Arbeit„geber“:innen,

– mehr Autonomie für Arbeit„nehmer“:innen durch die grundsätzliche Möglichkeit der Nichterwerbstätigkeit bzw. einer sinnvollen Tätigkeit außerhalb der Erwerbsarbeit,

– mehr Autonomie für alle durch die Sicherung von Existenz und Beteiligung am gesellschaftlichen Leben ohne Wenn und Aber,

– größere Unabhängigkeit bei der Suche nach einem Erwerbseinkommen,

– größere Verteilungsgerechtigkeit,

– Anreiz zu größerer Wertschöpfung und Rationalisierung,

– Flexibilität des Arbeitsmarktes,

größere Effizienz des „Sozialstaates“,

– Wahrung der Würde aller Menschen und Beseitigung von Stigmatisierungen vor allem bei den gegenwärtig Erwerbslosen und Sozialhilfebezieher:innen,

– Humanisierung der Arbeit,

– Förderung der Bildung,

– Stärkung der Familien,

– Förderung von Existenzgründungen wie auch von ehrenamtlichen Tätigkeiten,

– Förderung von Kreativitätspotenzialen durch die Möglichkeit der Muße.

Dieser Gemischtwarenladen entspricht der zumeist kleinbürgerlichen Ausrichtung der Initiativen. Er zeigt aber außerdem, dass auch die „linken“ Initiativen keineswegs unbedingt fortschrittliche Begründungen anführen.

Vor allem ist hier nichts von einem bestimmten, proletarischen Klassenstandpunkt zu merken. Im Gegenteil, das BGE wird auch in seinen linken Varianten als „Menschheitsmodell“ angepriesen, das allen Klassen, Beschäftigten wie Unternehmer:innen zugutekommen und zugleich den schrittweisen Aufbau eines nicht auf Lohnarbeit basierenden Sektors erlauben würde.

Bei den linkesten Modellen/Initiativen verknüpft sich das mit bestimmten ideologischen Zielen/Werten, die mit dem BGE durchgesetzt würden:

  • Entkoppelung vom Zwang zur Lohnarbeit oder gar vom „Arbeitszwang“; Einstieg in eine neue Form der Vergesellschaftung;

  • Kritik an der Arbeitsgesellschaft, Umbewertung der Nichtlohnarbeit;

  • Veränderung geschlechtsspezifischer Teilnahme am (Arbeits-) Leben.

Dies alles wird aber nicht als Kampfziele formuliert, sondern als quasi automatische Folge des BGE suggeriert.

Kritik an „linken“ Vorstellungen

Schon sehr früh in der Debatte wurde von sozialistischen, feministischen, operaistischen linken Strömungen massiver und oft auch richtiger Widerspruch gegen das BGE eingelegt. Die Kritik bezog sich sowohl darauf, dass das BGE seine Versprechen nicht einlösen könne, wie auch auf die negativen Folgen der zugrundeliegenden politischen Zielvorstellungen.

Wir wollen hier unsere wichtigsten Einwände darstellen:

1. Die Modelle des BGE werden als sozialpolitische staatliche Reformmodelle vorgetragen. Sie erscheinen nicht als Kampfziele in der Auseinandersetzung gegensätzlicher Klassen, sondern als Abfederung  negativer Auswirkungen des kapitalistischen Systems selbst. „Gerechtigkeit“ wird als Rechenaufgabe, weniger als Kampfauftrag verstanden. Das BGE soll gewissermaßen alle Klassen, abzüglich ihrer „uneinsichtigsten“ Teile, glücklich machen. Es ist daher kein Zufall, dass sich die Kritik der Vertreter:innen des BGE nicht nur an staatlichen Zwangsmaßnahmen festmacht und gegen die bürgerlichen Gegner:innen ihrer Konzeption richtet, sondern auch gegen große Teile der organisierten Arbeiter:innenbewegung und die sozialistische Linke.

2. Im Grunde wird die Existenz einer industriellen Reservearmee (Arbeitslosenmasse) als feststehendes Faktum nicht nur akzeptiert, sondern auch schöngeredet, indem unterstellt wird, dass die weniger repressive oder „repressionsfreie“ Alimentierung des Arbeitslosengeldes, von Hartz IV usw. zu einer schrittweisen, wenn nicht gar automatischen Überwindung des Systems der Lohnarbeit führen würde.

3. Die Ursachen von Armut usw. werden als Verteilungsproblem aufgefasst. Es wird daher auch bei allen Modellen eine Lösung vorgestellt, die Einkommen der Gesellschaft einfach nur umzuverteilen. Damit würden die Auswirkungen der Ausbeutung, Arbeitslosigkeit  usw. nicht nur vermindert. In den scheinbar radikalsten Begründungen wird auch behauptet, dass so das Privateigentum an Produktionsmitteln immer nebensächlicher werde, weil ja immer mehr im Sektor geschaffen würde, der nicht durch das Verhältnis von Lohnarbeit zu Kapital geprägt wäre. Andersrum: Wozu sich noch der Mühe unterziehen, das Kapital zu enteignen, wenn im BGE-Sektor ohnedies „neue“ Formen des Zusammenlebens aufgebaut werden?

4. Die verschiedenen Einkommensarten der Klassen (Lohn, Profit, Grundrente) erscheinen beim BGE nur als Mehr oder Weniger an Geld, also rein quantitativ verschieden. Sie sitzen damit dem Schein der bürgerlichen Gesellschaft auf, wie er sich auf der Ebene der Warenzirkulation aufdrängt. Ob das Geld aus Lohnarbeit oder Profit, aus Erbschaft oder Lottogewinn stammt, sieht man ihm nicht an. Daher erscheint es auch als nebensächlich, ob Menschen als Lohnarbeiter:innen beschäftigt oder freigesetzt sind, solange sie die gleiche Summe als BGE beziehen. Dabei verkennen die BGE-Anhänger:innen aber das Spezifische des Arbeitslohns im Unterschied zu anderen Einnahmequellen.

5. Der Arbeitslohn ist nichts anderes als die Erscheinungsform des Werts der Ware Arbeitskraft, ihr Tauschwert, genauer dessen Preisform. Hinter dieser Erscheinungsform verschwindet jedoch das Spezifische der Ware Arbeitskraft im Kapitalismus, nämlich ihr Gebrauchswert, Mehrwert für das Kapital zu schaffen.

Auf der gesellschaftlichen Oberfläche, in der alltäglichen Wahrnehmung und damit auch im spontanen Bewusstsein aller Klassen erscheint die Mehrwert schaffende Arbeit als eine Tätigkeit unter vielen anderen. Die Lohnabhängigen stellen auf dieser Ebene nur eine besondere Gruppe von Einkommensbezieher:innen dar.

Daher kann es auch so erscheinen, als würde eine Umverteilung der Einkommen, also eine immer größere Einkommensangleichung auch zur graduellen Abschaffung der Zwangsgesetze der bürgerlichen Gesellschaft führen können, insbesondere auch zur Abschaffung des Zwangs zum Verkauf der Ware Arbeitskraft.

Das gerät illusionär und gefährlich, weil die realen gesellschaftlichen Verhältnisse verkannt und auf den Kopf gestellt werden. Im Kapitalismus bestimmt die Produktionssphäre die Verteilung, nicht umgekehrt. Aus deren Eigendynamik heraus muss ein BGE also gerade zum gegenteiligen Resultat führen als dem, das von seinen Fürsprecher:innen angestrebt wird. Es tendiert unter kapitalistischen Verhältnissen nämlich immer zum Kombilohn. Insofern ist es kein Zufall, dass sich in Zeiten von Krisen Teile der Bourgeoisie und bürgerliche Regierungen zu „Reformmodellen“ wie dem BGE entschließen. So wird dies z. Zt. in Spanien und Irland erwogen.

Die „linken“ Vertreter:innen des BGE erweisen sich hier als blauäugig und utopistisch, weil sie selbst der Oberflächenerscheinung der gesellschaftlichen Ungleichheit aufsitzen, diese wesentlich als ungerechte Verteilung auffassen und darauf verkürzen.

6.  Tatsächlich sind Lohn, Profit, Grundrente unterschiedliche Einkommensquellen unterschiedlicher gesellschaftlicher Klassen, die durch ihre Stellung im Produktionsprozess bestimmt werden – die Produktionssphäre bestimmt die Verteilung von Einkommen. Diese stellt also einen vom Gang der Kapitalakkumulation abhängigen Faktor dar. Bloß, in der Geldform erscheint dieser qualitative Unterschied ausgelöscht, nur als ein quantitativer.

7. Das ist auch ein Grund, warum andere Formen der Ungleichheit und Unterdrückung durch bloße Veränderungen an der Einkommensverteilung nicht überwunden werden können. Denn das Kapitalverhältnis stellt das wesentliche gesellschaftliche Verhältnis dar, weil es alle anderen in ihren Ausformungen unterordnet, bestimmt.

8. Marx machte in „Kapital Band 1“ darauf aufmerksam, dass es einen Unterschied macht, ob wir das Kapitalverhältnis nur vom Standpunkt des/r einzelnen Kapitalist:in zum/r einzelnen Arbeiter:in betrachten oder als Verhältnis zwischen Klassen. Solange wir es als Verhältnis zweier Individuen analysieren, erscheint die Zeit außerhalb der Arbeitszeit als „frei“. Betrachten wir Kapital und Arbeit jedoch unter Klassenbedingungen in ihrer Gesamtheit, so zeigt sich, dass selbst die Sphäre der Reproduktion und individuellen Konsumption der Arbeitenden noch vom Kapital bestimmt wird – und damit natürlich auch die Reproduktion der Lohnabhängigen, die ihre Arbeitskraft nicht verkaufen können, unabhängig davon, ob diese ALG 1, Hartz IV, Bürger:innengeld, BGE oder gar nichts kriegen.

9. Die Bewegung des Gesamtlohns der Arbeiter:innenklasse in seinen verschiedenen Bestandteilen (Nettolohn, indirekte Lohnbestandteile, staatliche Transferzahlungen …) hängt dabei maßgeblich von der Akkumulationsbewegung des Kapitals ab. Sie reguliert die Höhe des Gesamtlohns je nach konjunkturellen und längerfristigen strukturellen Profitabilitätsbedingungen. Daher findet darin auch die Höhe des BGE der Lohnarbeiter:innen – als eine Form des Gesamtlohns betrachtet – ihre Grenzen.

10. Im Rahmen des Kapitalismus gibt es nur eine Weise, wie die Arbeiter:innenklasse die Höhe des Arbeitslohns verteidigen oder ausdehnen kann – durch organisierten betrieblichen, gewerkschaftlichen und politischen Kampf.

11. Die Zahl der Arbeitslosen – der industriellen Reservearmee – ist dabei eine zentrale Größe für die Erfolgsaussichten der Klasse. Je größer der Anteil der Beschäftigten, desto stärker die Kampfkraft, die ins Feld geführt werden kann. Je größer die Anzahl der Arbeitslosen, umso schwieriger wird die Verteidigung der Einkommen, Lebensbedingungen usw.

12. Den Kampf auf ein BGE zu konzentrieren und dieses zu einem Allheilmittel für eine andere Gesellschaft zu stilisieren, bedeutet bestenfalls, ihn auf die Sicherung der Existenz der Reservearmee auszurichten. Es bedeutet allerdings auch, sich dauerhaft mit einer Millionenmasse von Arbeitslosen oder Unterbeschäftigten, also einer weniger kampfstarken Klasse abzufinden. Es schwächt sie letztlich – und ein BGE, das die Existenz von Millionen sichert, wird so auch nicht aufrechterhalten werden können.

13. Hier kommt eine weitere zentrale Schwäche aller linken Vertreter:innen des BGE ins Spiel. Die Frage, wie die Klasse zu einer kämpfenden Einheit werden kann, wie sie sich als Arbeiter:innenklasse überhaupt konstituiert, sich Klassenbewusstsein bildet, existiert für sie erst gar nicht. Bestenfalls bestehen die Lohnabhängigen als eine Gruppe schlechter verdienender Einkommensbezieher:innen neben anderen. Die Vertreter:innen des BGE verfolgen daher auch keine klassenpolitische Ausrichtung, sondern stellen vielmehr eine kleinbürgerliche Strömung dar, die die zentrale Bedeutung des Klassenkampfes für das Erringen von Verbesserungen wie für eine andere Gesellschaft durch Hoffnungen in den Selbstlauf eines Reformmodells ersetzt.

14. Der Klassenkampf kann und muss jedoch geführt werden und auch im Zentrum unserer politischen Perspektive stehen, wenn Erwerbslosigkeit, Entlassungen und damit weitere Verschlechterungen für beschäftigte und unbeschäftigte Lohnarbeiter:innen verhindert werden sollen. Dass die Gewerkschaftsführungen den Kampf nicht oder nur auf extremer Sparflamme führen, heißt nicht, dass er nicht geführt werden kann. Es bedeutet aber, dass wir selbst eine klassenkämpferische Bewegung aufbauen müssen – in den Betrieben, aber auch unter den nicht beschäftigten Teilen der Arbeiter:innenklasse.

15. Für Arbeitslose, Rentner:innen, Studis usw. treten wir für eine Mindesthöhe ihrer Leistungsbezüge ein – und zwar in der Höhe des Mindestlohns und ohne Schikanen, Zwang vom Arbeitsamt, irgendeine Arbeit anzunehmen usw. Zur Zeit wären das mindestens 1.600 Euro/Monat. Dies soll für alle Betroffenen dieser Gruppen unabhängig von ihrer Staatsbürger:innenschaft gelten. Das scheint manchen einem bedingungslosen Grundeinkommen nahezukommen – aber es unterscheidet sich grundsätzlich durch die politische Stoßrichtung, die damit verbunden wird.

16. Beim BGE bildet nämlich die Verteilung der Transferleistungen den Hauptaspekt. Für uns steht hingegen der Kampf für folgende Forderungen im Zentrum, die unmittelbar das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital berühren:

  • gegen alle Entlassungen und Schließungen;

  • für Arbeitszeitverkürzung, um alle beschäftigen zu können. Der Kampf für eine 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich stellt einen wichtigen ersten Schritt dar zur Aufteilung der Arbeit auf alle;

  • für einen Mindestlohn von 15 Euro/Stunde; Erhöhung der Tariflöhne, automatische Anpassung der Löhne und Einkommen an die Inflation.

17. Diese Losungen verbinden wir mit der Forderung nach Enteignung der Unternehmen, die mit Kürzungen, Massenentlassungen, Schließungen drohen; mit dem Kampf für Fortführung und Reorganisation der Produktion und Dienstleistungen unter Kontrolle der Arbeitenden und für die Umstrukturierung der Produktion gemäß den Bedürfnissen der Gesellschaft und ökologischer Nachhaltigkeit.

18. Wenn wir nämlich, wie manche linke Anhänger:innen des BGE proklamieren, das System der Lohnarbeit und den Kapitalismus überwinden wollen, wird das nicht dadurch geschehen, dass BGE-Bezieher:innen scheinbar selbstbestimmt in Nischen alternative Produkte schaffen, sich um andere kümmern usw. Dabei mögen nützliche Dinge produziert werden, aber die Gesellschaft verändert das nicht. Es müssen die schon geschaffenen sachlichen Produktionsmittel, die heute Eigentum der Kapitalist:innenklasse bilden und für deren Profitzwecke produzieren, unter die Kontrolle der Produzent:innen, also der Gesellschaft gestellt werden. Das ist jedoch nur möglich, wenn die Arbeiter:innenklasse über eine möglichst große Kampfkraft und Bewusstheit verfügt, um die Herrschaft des Kapitals zu brechen und selbst die politische Macht zu erringen. Nur so ist es möglich, die Gesellschaft grundsätzlich umzustrukturieren und erste Schritte zu einer sozialistischen Planwirtschaft zu setzen.

19. Einige scheinbar radikale Vertreter:innen des BGE stellen dieses als Vorwegnahme einer zukünftigen, klassenlosen Gesellschaft dar, weil mit dem BGE der Arbeitszwang entfallen würde. In Wirklichkeit tritt bei diesen Heilsversprechen vor allem ein radikaler Grad an Verwirrung und Utopismus zutage. Grundsätzlich besteht für jede menschliche Gesellschaft ein Zwang zur Arbeit, also zur zielgerichteten, auf einen bestimmten Zweck gerichteten Tätigkeit zur Umwandlung von Rohstoffen zu Gebrauchsgütern zwecks Befriedigung menschlicher Bedürfnisse mithilfe mehr oder weniger entwickelter Arbeitsmittel (Werkzeuge, Maschinen). Natürlich wird eine zukünftige Gesellschaft die Masse gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit massiv reduzieren und die frei verfügbare Zeit der Individuen ausweiten. Sie wird insbesondere auch anstrengende, eintönige Arbeit auf ein Mindestmaß zu reduzieren suchen. Aber auch im Sozialismus und Kommunismus – von der Übergangsperiode zum Sozialismus ganz zu schweigen – wird die zum Leben notwendige Arbeit im Bereich der Produktion wie Reproduktion nicht verschwinden. Das kommunistische Ziel besteht nicht darin, den Zwang zur notwendigen Arbeit „abzuschaffen“, denn das ist unmöglich, sondern diese auf alle Gesellschaftsmitglieder gleich aufzuteilen, so dass niemand Zeit seines Lebens allein oder auch nur vornehmlich diese verrichten muss, und zweitens die Arbeit so zu gestalten, dass die Trennung von Zwang und Freizeit relativiert, tendenziell aufgehoben wird.

Der Unterschied zum Kapitalismus besteht also nicht in der Abschaffung des Zwangs zur Arbeit an sich – das ist für jede menschliche Gesellschaft unmöglich, wenn sie nicht verhungern und aussterben will – sondern erstens darin, dass er für alle gilt (auch für Angehörige der ehemaligen Kapitalist:innenklasse, die es im Kommunismus natürlich nicht mehr gibt), und darin, dass die notwendige Arbeit bewusst und geplant unter den Gesellschaftsmitgliedern aufgeteilt wird.

Wenn wir das BGE kritisieren, so lehnen wir Konzept und Absichten seiner bürgerlichen und auch vieler kleinbürgerlichen Vertreter:innen ab. Mit einer revolutionären Klassenpolitik ist das BGE – auch in seinen linken oder scheinbar linken Varianten – unvereinbar, denn gegen die Krise braucht es eine Strategie, ein Programm, das den Kampf gegen Entlassungen, Schließungen, für Mindestlohn und Einkommen ins Zentrum rückt und mit dem für die Enteignung des Kapitals verbindet.




Die KPÖ nach 1990: Geschichte und Programm

Heidi Specht und Mo Sedlak, Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt (Österreich), ursprünglich erschienen in Flammende 1, Infomail 1195, 15. August 2022

Ob die Kommunistische Partei Österreichs denn tatsächlich kommunistisch ist, war die letzten 30 Jahre auch für die Partei selbst eine schwierige Frage. Nach dem Zusammenbruch von Sowjetunion und DDR ging ihr neben Finanzierung und Infrastruktur auch der ideologische Bezugspunkt verloren.

Die Suche der KPÖ nach einer Neuorientierung können wir anhand ihrer Praxis und ihres Programms verstehen. Eine ehrliche Kritik am Verhältnis der alten und neuen KPÖ zum Kommunismus kann helfen, zu einem erfolgreichen, revolutionären und kommunistischen Widerstand gegen den Kapitalismus zu gelangen.

Gründung und erste Schritte der KPÖ

Die KPÖ war bei ihrer Gründung im November 1918 weltweit eine der ersten kommunistischen Parteien. Ihre Gründung fällt nicht nur international in eine entscheidende Phase, auch für das österreichische Proletariat war 1918 ein bedeutsames Jahr. Nachdem die sozialdemokratische Führung die massenhaften, revolutionären Jännerstreiks erfolgreich abgewürgt hatte, nutzte sie auch im November 1918 ihren Einfluss, um eine Revolution in Österreich zu verhindern. Die Gründung der KPÖ in jener Situation, als das Proletariat in Österreich die entscheidende Kraft war, stellte den einzig richtigen Schritt dar. Nach ersten Anlaufschwierigkeiten konnte sie 1919 massiv Mitglieder gewinnen. „Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten“ war dabei ihre zentrale Losung. Als einzige Kraft arbeitete sie auf den Sturz der bürgerlichen Gesellschaft hin. Mit revolutionären Losungen schaffte es die KPÖ auch, sozialdemokratische Arbeiter:innen für Kampagnen wie jene zur Unterstützung der ungarischen Räterepublik zu gewinnen. Und der jungen Partei gelang es damals – nicht ohne den einen oder anderen Fehler –, revolutionäre Forderungen, Aktionen und eine Ausrichtung auf fortschrittliche Arbeiter:innen zu solider revolutionärer Politik zu kombinieren. Doch die zunehmende Bürokratisierung der Sowjetunion und im weiteren Verlauf der Komintern zeigten auch Wirkung bei der KPÖ. Bereits 1923 beginnt der politische Niedergang der anfangs vielversprechenden revolutionären Kraft.

Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion

Was die stalinistischen Regierungen des so genannten „Ostblocks“ veranstaltet haben, war natürlich kein Kommunismus: Einparteienherrschaft einer sich selbst nachbesetzenden Bürokratie, weder Arbeiter:innendemokratie noch Kontrolle darüber, was produziert wird, Auslöschen der innerparteilichen Opposition, umfassende Polizeirepression und Militärinterventionen in Staaten, die der eigenen Einflusszone zugerechnet wurden – das ist viel, aber sicher kein Sozialismus oder Kommunismus. Und auch den kommunistischen Parteien im kapitalistischen Ausland wurde eine Rolle als linke – aber bestenfalls in Sonntagsreden staatsgefährdende – Teilnehmer:innen am demokratischen Wettbewerb „vorgeschlagen“. Eine Weltrevolution wurde nämlich schon unter Stalin abgelehnt.

Dennoch boten die stalinistischen Staaten ein greifbares Gegenkonzept zum Nachkriegskapitalismus und konnten dem westlichen Imperialismus etwas entgegensetzen: Industrialisierung und „Wettrennen im Weltraum“, aber auch atomare Aufrüstung und Militärinterventionen in Ungarn und der Tschechoslowakei. „Bruderparteien“ wie die KPÖ konnten ihre Führungsaktivist:innen an Parteihochschulen ausbilden lassen und danach mit den Gewinnen als de facto Handelsvertretung im Osten als Hauptamtliche anstellen. Damit gab es zumindest einen Begriff von „Kommunismus“, auf den und dessen Unterstützung sich die KPÖ beziehen konnte.

Das war nicht in jeder Situation ein Vorteil: Zum Beispiel kostete die öffentliche Unterstützung des sowjetischen Einmarschs gegen den Prager Frühling die KPÖ einige Mitglieder und Parteiintellektuelle. Sie blieb in der gesamten Geschichte der Zweiten Republik eine Kleinpartei, konnte sich aber (sicher mithilfe des sowjetischen und ostdeutschen Außenhandels) einen großen Parteiapparat und kulturelle Institutionen leisten.

Scheideweg: Linksreformismus oder Linksreformismus?

Damit war es 1990 vorbei. Seitdem hat sich in der KPÖ einiges getan, etwa die Umstellung auf eine „Aktivist:innenpartei aus Freiwilligen“ und der fliegende Wechsel des Bezugspunkts von KPdSU und SED auf „die sozialen Bewegungen“. Neben einer unübersichtlichen Landschaft aus neuen linken Experimenten (von „Munizipalismus“ bis zu Lesekreisen, die „die Linke“ dekonstruieren wollen), gibt es in Europa zwei grobe Vorbilder für traditionell kommunistische Parteien ohne großen Moskaubezug.

Der Eurokommunismus versucht durch Teilnahme am bürgerlich-demokratischen Prozess (bis hin zur Regierungsbeteiligung) und Verankerung in der traditionellen Arbeiter:innenbewegung einen reformistischen Weg zum Kommunismus oder zumindest einen zu einem von der kommunistischen Partei mitgestalteten Kapitalismus. Beispiele bilden vor allem die Orientierung der kommunistischen Parteien in Italien und Frankreich sowie nach ihrer Gründung die Mehrheit der deutschen Linkspartei[i].

Auf der anderen Seite gibt es die oft vermischten Spielfelder der Transformationstheorie und des Linkspopulismus, die beide eher aus den Universitäten und der intellektuellen Opposition gegen die Moskautreue kommen. Beide versprechen sich, verkürzt gesagt, aus der Eroberung von ideologischen, kulturellen oder, im Linkspopulismus, „diskursiven“ Hochburgen das stückweise Aufbauen einer Alternative zum Kapitalismus, aus der heraus dieser auch überwunden werden kann. Das ist ein Reformismus im ursprünglichen Sinne, der Weg der kleinen Schritte zum Kommunismus[ii].

Die KPÖ seit 1990

Der Zusammenbruch der Sowjetunion brachte einen Wendepunkt für die Welt – und insbesondere für alle Parteien, die wie die KPÖ eine enge Bindung an die Sowjetbürokratie aufwiesen: Es mischten sich Ratlosigkeit und sehr unterschiedliche Vorstellungen über die nächsten Schritte. Vorschläge von der Auflösung in einer breiten linken Formation bis hin zur Rückbesinnung auf den orthodox-stalinistischen „Marxismus-Leninismus“ wurden ernsthaft diskutiert.

Auch finanziell musste sich die KPÖ umstellen: Einen großen Teil ihrer Finanzen hatte sie direkter Unterstützung der und Einbindung in die Außenwirtschaft von Sowjetunion und DDR verdankt. Beispielsweise gab es Firmen im KPÖ-Besitz, die exklusive Geschäfte mit der UdSSR und der DDR abwickelten. So gehörte beispielsweise ein Großteil der Turmöl-Tankstellen bis 1989 über zwielichtige Strohpersonen der KPÖ. Sie deckten teilweise bis zu 80 % des österreichischen Heizölmarktes für Haushalte ab. Als diese Einnahmen wegfielen, musste sich die KPÖ stark umstellen – sie konnte sich beispielsweise bei weitem nicht mehr so viele Angestellte leisten, die hauptberuflich Parteiarbeit leisteten. 2004 verlor die KPÖ durch ein Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichtshofs weiteres Eigentum, das der DDR zugesprochen und zugunsten der Rechtsnachfolgerin Bundesrepublik Deutschland enteignet wurde.

Die vergangenen 30 Jahre der KPÖ sind geprägt von parteiinternen Konflikten, bürokratischen Manövern und immer weniger gemeinsamem Parteiprofil. Als 1990 Walter Silbermayr und Susanne Sohn den Parteivorsitz übernahmen, verlor die KPÖ ein Drittel ihrer Mitgliedschaft, das nicht mit den Vorschlägen zwischen Selbstauflösung bzw. Umwandlung in eine pluralistische Linke einverstanden war. Bereits 1991 endete das Projekt der beiden Vorsitzenden: Sie traten aufgrund mangelnder Unterstützung zurück. Der nächste Parteitag wählte dann Sprecher:innen statt Vorsitzenden und leitete die Dezentralisierung der KPÖ ein. In den kommenden Jahren wurden immer wieder (letzten Endes erfolglose) Versuche getätigt, die KPÖ wieder auf einen funktionierenden Kurs zu bringen.

1994 erhielten die parteiinternen Differenzen bereits einen klaren Ausdruck – es gab offene Konflikte zwischen der Parteiführung und oppositionellen Strömungen wie jenen der neuen Volksstimme oder der Internetplattform „kominform“. Die verschiedenen Strömungen innerhalb der Partei warfen sich gegenseitig unter anderem Revisionismus und stalinistische Tendenzen vor. Diese Konflikte eskalierten 2001/02 und verzögerten zum Beispiel die damals geplante Programmdebatte.

Ein Wendepunkt für die KPÖ war der Beitritt zur Europäischen Linkspartei im Jahr 2004. Bis dahin hatte sich die KPÖ für einen EU-Austritt starkgemacht. Mit der Position der Europäischen Linkspartei, die eine ökosoziale Reformierung der EU anstrebte, war diese Forderung nicht mehr vereinbar. Der EU-Austritt – bis dahin eine zentrale Forderung der KPÖ – wurde ab sofort nur noch als eine Option betrachtet. Die gleichzeitige Beteiligung an den globalisierungskritischen „Europäischen Sozialforen“ stand im Spannungsverhältnis zu Reformversuchen der imperialistischen EU, wie die KPÖ in ihrer „Politischen Plattform“ 2004 auch bemerkte. Mittlerweile ist dieses Spannungsverhältnis mit dem Niedergang der Sozialforen weitgehend aufgehoben.

Im selben Jahr gründete sich mit der „Kommunistischen Initiative“ eine Plattform der stalinistischen Kräfte innerhalb der KPÖ, die der Parteiführung Verrat am Marxismus vorwarf.

2004 gipfelten die Konflikte in bürokratischen Manövern wie Parteiausschlüssen und innerparteilichen Klagedrohungen (vor bürgerlichen Gerichten) rund um den 33. Parteitag. Die Flügel trugen Konflikte auf organisatorischer statt politischer Ebene aus. Walter Baier gab nach 12 Jahren als Parteivorsitzender auf und trat Anfang 2006 zurück. Die Kommunistische Initiative spaltete sich aufgrund der undemokratischen Vorgehensweise von der KPÖ ab. 2013 konstituierte sie sich als Partei der Arbeit. Der parlamentarisch erfolgreichste Landesverband – die KPÖ Steiermark – weigerte sich, die Beschlüsse des Parteitags anzuerkennen, blieb aber innerhalb der KPÖ und ist seitdem autonom von der Bundespartei.

Diese Spaltung führt auch bis heute zu Auswirkungen auf die Jugend- und Student:innenorganisationen. Der Kommunistische StudentInnenverband (KSV) und die Kommunistische Jugend Österreich (KJÖ) gingen (abseits der Steiermark) mit der Kommunistischen Initiative beziehungsweise der PdA. Erst 2021 wurde das Naheverhältnis aufgekündigt. Die 2017 ausgeschlossenen Jungen Grünen schlossen sich als Junge Linke in einem besonderen Naheverhältnis zur KPÖ an.

Die KPÖ findet weiterhin keine klare gemeinsame Ausrichtung und pflegt stattdessen den Pluralismus nach innen und außen. Als Taktik zum Aufbau oder zum Aufgehen in einer breiteren Linken begibt sie sich vor allem in Wahlbündnisse mit auffällig uneinheitlicher Zusammensetzung. Ein Beispiel ist der Antritt zur EU-Wahl 2004 mit der Plattform LINKE Liste, deren Spitzenkandidat Leo Gabriel sich gegen den Sozialismus aussprach. Einen gemeinsamen Antritt mit mehr Ausdauer bildete die Plattform KPÖ PLUS gemeinsam mit den Jungen Grünen zur Nationalratswahl 2017. Diese Öffnung gegenüber jüngeren linken Kräften begründete das Bündnis der heutigen Jungen Linken mit der KPÖ. Unter demselben Namen traten KPÖ und Umfeld 2019 zur EU-Wahl an und schafften im selben Jahr sogar den Einzug in den Salzburger Gemeinderat. Auch wenn die Öffnung, die die KPÖ mit KPÖ PLUS gegangen ist, einen positiven Schritt in Richtung Handlungsfähigkeit darstellen, so haben sie doch nichts an den grundlegenden politischen Schwächen und der reformistischen Politik der KPÖ selbst geändert.

Gemeinsam mit LINKS konnte die KPÖ 2021 bei der Wiener Gemeinderatswahl  das beste Wahlergebnis (2,06 %) seit fast 50 Jahren erzielen. Die Wahlen in Graz 2021 (28,84 %) und Salzburg 2019 (3,7 %) waren für sie sogar noch beachtlichere Erfolgserlebnisse. In Graz wurde sie stärkste Kraft und stellt mit Elke Kahr die Bürgermeisterin. Zwar war die KPÖ Graz schon davor außergewöhnlich stark, was unter anderem mit einer enormen Schwäche der SPÖ und andererseits einem klaren Fokus auf Kommunalpolitik zusammenhängt. Der Sieg über den ÖVP-Bürgermeister Nagl ist dennoch beispiellos.

Doch auch wenn die Politik der KPÖ-geführten Stadtregierung durchaus fortschrittliche Züge trägt, befindet sie sich in keiner Weise auf Konfrontationskurs mit dem Kapital und dem herrschenden System.

Von der einst revolutionären KPÖ ist nicht mehr viel geblieben. Sie wurde zu einer reformistischen Partei mit traditionalistischen Anhängseln wie der Alfred Klahr Gesellschaft (AKG) oder einzelnen Grundorganisationen. Die letzte bescheidene Verbindung zur Arbeiter:innenklasse behält sie über ihre Gewerkschaftsfraktion, den Gewerkschaftlichen Linksblock (GLB).

Programm der KPÖ: Schrittweise vom Bewegungssozialismus zum Linksreformismus

Das letzte gültige Programm der KPÖ wurde 1994 beschlossen[iii]. Der Titel „Grundzüge einer Neuorientierung“ bezieht sich auf den Zusammenbruch der Sowjetunion. Der hatte, wie erwähnt, die davor eher „moskautreue“ Partei vor große Herausforderungen gestellt, während gleichzeitig die Antiglobalisierungsbewegung der 1990er Jahre von allen Linken eine Umorientierung erforderte.

Dazu kommen noch das Forderungsprogramm von 2007 „KPÖ in Aktion, Partei in Bewegung“[iv] und die programmatischen Leitanträge der Parteitage 2004 („Politische Plattform der KPÖ“)[v], 2011 („Für eine solidarische Gesellschaft“)[vi] und 2017 („Wie Weiter“)[vii]. Die „Politische Plattform“ von 2004 ist zwar kein Programm, schließt aber einige Diskussionen ab, die in den „Grundzügen einer Neuorientierung“ aufgeworfen wurden. Sie definiert als Aufgabe der KPÖ, die radikale Gesellschaftskritik der Antiglobalisierungsbewegung in Reformen des Kapitalismus zu verwandeln. Die beiden Dokumente zur „solidarischen Gesellschaft“ legen daneben die neue Zielsetzung der KPÖ fest, in der die „sozialistische Ausgestaltung“ nur noch eine von vielen wünschenswerten Möglichkeiten ist.

„Grundzüge einer Erneuerung“

Die „Grundzüge einer Neuorientierung“ (1994) wurden vor fast 30 Jahren beschlossen. Das Programm versucht, die doppelte Herausforderung des sowjetischen Zusammenbruchs und der beginnenden Antiglobalisierungsbewegung zu beantworten. Das war auch die Zeit des „Aufspragelns“ der KPÖ zwischen Stalinismus, Eurokommunismus und Transformationsreformismus.

Wie bereits angemerkt, verließen die traditionell stalinistischen (in eigenen Worten „marxistisch-leninistischen“) Teile  als Kommunistische Initiative 2004 die KPÖ und gründeten später die Partei der Arbeit, die sich 2021 noch einmal spaltete. Die Auseinandersetzung zwischen Eurokommunismus und Transformationstheorie fand innerhalb der KPÖ statt.

Grob gesagt versucht der Eurokommunismus eine Mischung aus Kommunismus und westlicher Demokratie in Abgrenzung von den stalinistischen Staaten, also parlamentarischen Reformismus auf Basis der bestehenden KP-Strukturen. Der transformationstheoretische Reformismus sieht hingegen neben parlamentarischer Arbeit (beziehungsweise allgemeiner der Arbeit im bürgerlichen Staat) vor allem Bewegungen, Selbstorganisierung und soziale Zusammenhänge als Ausgangspunkt, mit schrittweisen Verbesserungen, effektiven Brüchen und Machtverschiebungen den Kapitalismus zu überwinden.

Die notwendige radikale Umorientierung nach dem Wegfall von politischem Bezugspunkt und finanzieller Absicherung 1990 spiegelt sich auch im Programm wider. Der Anspruch, als revolutionäre Partei im Klassenkampf voranzugehen, wird eigentlich aufgegeben: „Die ‚Kommunistische Weltbewegung‘, die sie zum Hauptkriterium des ‚Proletarischen Internationalismus‘ machte, wird in der alten Form nicht wieder erstehen. Schon heute ist erkennbar: Der neue Internationalismus wird durch eine Vielfalt von Strömungen (Kommunisten, linke Sozialisten, fortschrittliche Christen u. a.) […] gekennzeichnet sein.“ (KPÖ 1994).

Das Programm positioniert sich tatsächlich antikapitalistisch, aber eigentlich nicht kommunistisch. Aus der notwendigen „Neuerfindung“ der kommunistischen Parteien wird ein positiver Bezug auf die sozialen Bewegungen abgeleitet. Die KPÖ stellt der „Krise der gesamten bisherigen Produktions-, Regulierungs- und Lebensweise des Kapitalismus“ einen linksreformistischen Antikapitalismus entgegen.

Bei Luxemburg soll das kommunistische Programm eine Kampfanleitung für die Arbeiter:innenklasse sein, vom Hier und Jetzt mit jedem Schritt zum Sozialismus[viii]. Gerade dieser Bezugspunkt fehlt dem Programm der KPÖ aber. Sie bekennt sich zur kommunistischen Gesellschaft als langfristigem Projekt, lehnt aber ab, sie zum konkreten Ziel zu machen: „Weil ein solcher Prozess ständige Weiterentwicklung bedeutet, sind vorgefertigte ‚Sozialismusmodelle‘ verfehlt“ (KPÖ 1994).

Die neue Gesellschaft, die sie im Bündnis schaffen will, soll zwar soziale Gleichberechtigung, Menschen- und Bürger:innenrechte verwirklichen. Die soziale Umwälzung, die in einem kommunistischen Programm die Aufhebung der Klassenwidersprüche wäre, wird aber auf die Schaffung einer Gesellschaft reduziert, die „soziale Sicherheit für alle als Voraussetzung für freie und gleichberechtigte Teilnahme am politischen Willensbildungsprozess verwirklicht, [..] gesellschaftliche Eigentumsverhältnisse [schätzt], […] [und] in der Demokratie den Alltag erfaßt und auf den Arbeitsprozeß ausgedehnt wird “ (KPÖ 1994).

„Politische Plattform der KPÖ“ (2004)

Die „Politische Plattform der KPÖ“ von 2004 spielt eigentlich eine ähnliche Rolle wie das Programm von 1994 „Grundzüge einer Neuorientierung“. Sie bettet die Aufgaben der KPÖ noch mehr in die globalisierungskritische Bewegung, aber auch in das Bekenntnis zur EU ein, das mit Beitritt zur und dem Aufbau der Europäischen Linkspartei abgelegt wurde. In der „Politischen Plattform“ bezeichnet sich die KPÖ als antikapitalistische Partei und verbindet das mit einem Schwerpunkt auf den antipatriarchalen Kampf. Daraus schließt das Programm: „Wichtigste Aufgabe der KPÖ ist es, zu einer breiten und vielfältigen antikapitalistischen und antipatriarchalen Bewegung beizutragen“.

Die Plattform beginnt mit einer Analyse des „normalen Kapitalismus“ und seiner neoliberalen Besonderheiten. Der Bezug auf den Nachkriegskapitalismus romantisiert diesen Normalzustand, bezieht sich auf Lohnwachstum und Sozialstaat. Kritisiert werden nur Ausformungen wie die patriarchale Aufteilung von produktiver und reproduktiver Arbeit. Die Grundlagen des Kapitalismus in dieser (und jeder anderen) Zeit waren aber auch die Unterdrückung des Arbeiter:innenwiderstands, die rassistische Überausbeutung von Arbeitsmigrant:innen, koloniale und neokoloniale Schreckensherrschaft, Kriegstreiberei bis zur atomaren Aufrüstung und Umweltzerstörung.

Nach einer Beschreibung von normalem, neoliberalem und neoimperialistischem Kapitalismus (vor allem unter dem Eindruck des „Kriegs gegen den Terror“) macht die KPÖ den Übergang vom Sein zum Tun am „Widerspruch unserer Epoche“ fest: Der Neoliberalismus als „passive“, innerkapitalistische Revolution von oben und die Globalisierung führten zu einer Entwicklung der Produktivkräfte, die sich in der „revolutionär[n] Dialektik […] „Eine andere Welt ist möglich!“ […] ausdrückt. Sie sieht ihre Rolle vor allem in der Gegenbewegung – der „Bewegung der Bewegungen“ – analysiert aber auch, dass deren Forderungen nur im Bündnis mit Arbeiter:innenklasse und Gewerkschaften durchgesetzt werden können.

„Der grundlegende Klassenwiderspruch im Kapitalismus zwischen Kapital und Arbeit führt auch dazu, dass die neuen Produktivkräfte in der heutigen Zeit einerseits ein ungeheures Vernichtungs- und Gefahrenpotential, andererseits aber auch Möglichkeiten für die Gestaltung einer neuen, höheren Stufe der menschlichen Zivilisation in sich bergen. Diese revolutionäre Dialektik der Epoche ist es, die in der Losung der globalisierungskritischen Bewegung – ‚Eine andere Welt ist möglich!‘ ausgedrückt wird.” (KPÖ 2004)

Trotz Bekenntnis zu Kommunismus und Marx sowie harten Worten gegen Kapitalismus und sozialdemokratischen Reformismus ist die „Politische Plattform“ der KPÖ ein linksreformistisches Programm. Dabei unterscheidet es sich vom sozialdemokratischen Reformismus, der durch Reformen den Kapitalismus erträglicher machen möchte. Der Linksreformismus der KPÖ ist die Ansage, durch Pluralität, einem breiten Verständnis von Partei sowie Sozialismus („Sozialistisch ist jene Gesellschaft, in der die Bewegung zur Überwindung des kapitalistischen Eigentums an den Produktionsmitteln eine hegemoniale Rolle spielt“) und kleinen Verbesserungen die Überwindung des Kapitalismus möglich zu machen:

„Die politische Funktion von KommunistInnen ist es daher, in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld die Notwendigkeit von (gesellschaftspolitischen) Veränderungen bewusst zu machen: • Bedürfnisorientiertes Wirtschaften auf der Basis des gesellschaftlichen Besitzes der Produktionsmittel anstelle der mörderischen Jagd nach Profiten • Tatsächliche Gleichberechtigung anstelle der patriarchalen und rassistischen Segmentierung der Gesellschaft • Sozialismus anstelle der Herrschaft des Kapitals • Hinterfragen der persönlichen Lebensgewohnheiten • Besinnen auf die „Qualität“ des Lebens“ (KPÖ 2004).

Die solidarische Gesellschaft (2011)

Unabhängig vom Weg zur freiwilligen Aktivist:innenpartei nach 1990 veränderte die KPÖ sowohl ihre programmatischen Grundlagen als auch ihre Praxis. Der Fokus auf die Einbettung in Bewegungen vor Ort und auf europäischer Ebene (vor allem die Europäische Linkspartei und das transform-Netzwerk) spiegelte sich auch in einer stetigen Neudefinition ihrer gesellschaftlichen Ziele wider. Ganz grob gesagt wurde das Vorbild des stalinistischen bürokratischen „Arbeiter:innenstaats“ ersetzt durch eine „solidarische Gesellschaft“, die zwar im Widerspruch zum Kapitalismus steht, diesen aber nicht notwendigerweise ersetzen muss. Das ist eine humanistische Utopie, weil sie die ökonomische Diktatur des Kapitals mit der politischen Gestaltung durch die Unterdrückten vereinbaren möchte. Sie ist auch der Übergang vom Transformationsreformismus, der den Kapitalismus durch viele kleine Schritte in die richtige Richtung überwinden will, zum Mitverwaltungsreformismus, der durch Teilhabe und Bewegungen von unten einen lebenswerten Kapitalismus für möglich hält.

Die „Solidarische Gesellschaft“ von 2011 ist kapitalismuskritisch, aber nicht antikapitalistisch. Sie ist nicht bedingungslos auf die Überwindung des Kapitalismus ausgerichtet und begründet deshalb auch nicht die Alternativlosigkeit des kapitalistischen Untergangs. Statt Luxemburgs „Sozialismus oder Barbarei“ wird, ähnlich wie von Bernstein, die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus an die von ihm selbst zugespitzten Widersprüche angenommen.

Gleichzeitig ist das Programm natürlich nicht kapitalismusunkritisch. Es betont, dass das Konkurrenzprinzip im Kapitalismus alternativlos ist und sich als Verwertungslogik in allen Lebensbereichen niederschlägt. Der Fokus der Kritik liegt auf dem „Kreislauf aus ökonomischer Profit- und hegemonialer Hegemonieproduktion“ (KPÖ 2011). Die Handlungsanweisung, die aus dieser Kritik entsteht, ist der Aufbau der solidarischen Gesellschaft als „Strategie des Lebens und Überlebens im System und dessen gleichzeitiger Überwindung“ (KPÖ 2011). Die Analyse ist im Grunde transformationstheoretisch. Sie geht von verknüpften und schrittweisen Kämpfen aus, die im Kapitalismus solidarische Lebensentwürfe ermöglichen und so an dessen Grundfesten rütteln. Sie stützt sich auf sechs Aufgaben (gewerkschaftliche Praxis, Widerstand gegen Sozialabbau, demokratische Teilhabe, Pluralismus/Diversität in der Bewegung, Antirassismus und Vergesellschaftung der Lebensgrundlagen). Dafür wird Luxemburgs Begriff der revolutionären Realpolitik verwendet, was für eine neogramscianisch-transformationstheoretische Position typisch ist. Gleichzeitig wird der Antireformismus vor allem von Luxemburg, aber auch von Gramsci unterschlagen. Das Programm stellt elf Forderungen auf, mit denen sich die KPÖ in die Bewegung für die solidarische Gesellschaft einbringen möchte, von sozialer Existenzsicherung und Umverteilung des Reichtums bis zu ökologischer Transformation und Antimilitarismus.

Diese Forderungen sind radikal reformistisch und entsprechen dem Minimalprogramm der frühen Sozialdemokrat:innen und der Stalinist:innen. Aber sogar das sozialistische Maximalprogramm wird nicht einfach auf Sonntagsreden beschränkt, sondern gleich auf eine von mehreren möglichen Ausgestaltungen der solidarischen Gesellschaft reduziert. Das ist eine Willensbekundung, keine sozialistische Methode. Sie bietet weder die von Luxemburg eingeforderten Schritte für das Proletariat, vom Hier und Jetzt bis zum Sozialismus, noch eine Begründung für eine grundlegende Ablehnung des Kapitalismus. Folgerichtig auch kein Wort über das revolutionäre Subjekt, das diesen überwinden kann und muss.

Die KPÖ ist pluralistisch in ihrem Linksreformismus

Der neue Bundessprecher:innenrat, den die KPÖ 2021 gewählt hat, ist ein weiterer Versuch, eine Identität als Partei zu finden beziehungsweise diese zu erneuern. Die Widersprüche in den programmatischen Dokumenten, zum Beispiel der zwischen EU-Reformierung und Antiglobalisierungsbewegung, werden auch angesprochen.

Vor 1990 hat sich die KPÖ als linker Teil des österreichischen Staatsprojekts verstanden. Das war vor allem eine außenpolitische Rolle im Auftrag der bürokratischen Herrschaft von DDR und Sowjetunion, die in Österreich einen neutralen und ungefährlichen Kapitalismus haben wollten, aber keine Revolution und auf gar keinen Fall eine tatsächlich sozialistische Entwicklung. Diese Rolle wurde der KPÖ vom österreichischen Kapital und seinen sozialdemokratischen Verbündeten aber auch nicht zugestanden.

Programm und Praxis der KPÖ schwanken heute, je nach Bundesland, zwischen Mitgestaltung der Lokalpolitik und dem Versuch, radikalreformistische Bewegungen loszutreten. Der Pluralismus, auf den sich die KPÖ beruft, ist nicht stolz. Er bringt nicht verschiedene kämpfende Aktivist:innengruppen aus unterschiedlichen Richtungen zusammen, sondern repräsentiert viele bisher erfolglose Versuche, sich aus der gegenwärtigen Schwäche der Linken zu befreien. Das spiegelt sich auch in den Programmen wider. Wie die frühsozialdemokratischen und stalinistischen Programme spalten sie tagesaktuelle Minimalforderungen und langfristige „Maximalforderungen“ auf, wobei das Minimalprogramm die Einheit der Partei sicherstellen soll und das Maximalprogramm immer weiter zurückgedrängt wird. Aber selbst das Maximalprogramm ist so vage, dass zwischen „solidarischer Gesellschaft“ und Sozialismus alles denkbar ist.

Eine revolutionäre Partei muss Debatten offen führen und verschiedene Meinungen aufeinandertreffen lassen. Aber sie muss diese Debatten auch in ein gemeinsames Verständnis und eine kollektive Praxis überführen, die den Kapitalismus überwindet. Dazu gehört auch die Einsicht, dass ein schrittweises Verbessern bis zur klassenlosen Gesellschaft eine utopische Illusion ist. Sie scheitert in dem Moment, wo sie eine kritische Masse erreicht hat, am bewaffneten und gut organisierten Widerstand der herrschenden Klasse. Eine revolutionäre Partei braucht ein Übergangsprogramm, das die brennendsten Probleme der Unterdrückten aufgreift und mit Zielen versieht, um die es sich zu kämpfen lohnt. Weil die kapitalistische Produktionsweise im Zentrum der meisten brennenden Probleme (zum Beispiel Armut, Hunger, Krieg und Umweltzerstörung) steht und die Forderungen den Aufbau proletarischer Gegenmacht in den Mittelpunkt stellen, führen diese Antworten über den Kapitalismus hinaus. Sie verwandeln den Kampf gegen Verschlechterungen in einen gegen deren Ursache.

Und jetzt?

Die Aufgaben der KPÖ in den letzten 30 Jahren waren unglaublich schwierig. Dass die ideologische und finanzielle Grundlage ihrer Arbeit weggebrochen war, während gleichzeitig ein neues und unübersichtliches Kapitel im weltweiten Klassenkampf begonnen hatte, ist kein Zufall: Der Zusammenbruch der Sowjetunion, ein imperialistisches Rennen um die Aufteilung der dadurch frei gewordenen Märkte und Einflusszonen (Globalisierung) und der entstehende breite Widerstand waren eng miteinander verwoben. Aber für die KPÖ kam zu den Herausforderungen für alle Linken auch noch die interne Neuordnung hinzu. Die herrschende Bürokratie in der „kommunistischen“ Weltbewegung hatte sich selbst diskreditiert. Das wäre eine Chance für die KPÖ-Basis gewesen, zu einer Klassenkampfpartei zu werden, in manchen Aspekten zurückzukehren zu ihren revolutionären Wurzeln der Ersten Republik, in anderen Aspekten nach vorne zu gehen zu einer revolutionären Politik des 21. Jahrhunderts. Das ist ihr nicht gelungen.

In den vergangenen Jahren hat die KPÖ es allerdings geschafft, ihre Mitgliedschaft zu öffnen und zu verjüngen. Das zeigt sich auch am neuen Bundessprecher:innenrat, dessen Mitglieder zum Teil aus der neu gewonnenen Jungen Linken kommen. Die aktiveren und erfolgreichen Wahlkämpfe in Wien, Salzburg und Graz, aber auch Kampagnen zu Preiserhöhungen und leistbarem Wohnen zeigen, dass sich die KPÖ zumindest in einzelnen Feldern auf eine gemeinsame und öffentlichkeitswirksame Aktivität einigen kann.

Sowohl die Wahlprogramme als auch die radikalen, aber radikal reformistischen Forderungen der Kampagnen zeigen aber, aus welcher politischen Einigung die neue Handlungsfähigkeit stammt. Die KPÖ hat sich in den letzten 30 Jahren von einer stalinistischen zu einer plural-linksreformistischen Partei gewandelt. Auch die Veränderung der programmatischen Dokumente geht in dieselbe Richtung (weg vom Kommunismus, hin zur „solidarischen Gesellschaft“, weg vom Antikapitalismus hin zum „Beitragen zu den sozialen Bewegungen“). Das kann sich durchaus noch ändern, wenn die Grenzen der reformistischen Politik in der Praxis offensichtlich werden (solange sie sich auf Forderungen und Öffentlichkeitsarbeit beschränken, sind sie oft nicht so spürbar).

Eine handlungsfähige linksreformistische Kraft ist besser als keine. Aber um die sich zuspitzenden kapitalistischen Widersprüche – von Klimakatastrophe bis zur Weltkriegsgefahr – auflösen zu können, braucht es eine revolutionäre Perspektive. Die KPÖ hat eine solche im Moment nicht und es wird ihr angesichts ihrer programmatischen Orientierung auch keine in den Schoß fallen.

Endnoten

[i] Martin Suchanek, 2015, „Krise, Klasse, Umgruppierung. Strategie und Taktik in der aktuellen Periode.“ Revolutionärer Marxismus 47, http://www.arbeitermacht.de/rm/rm47/umgruppierung.htm

[ii] Eine ernsthafte Besprechung der Transformationstheorie kann man zum Beispiel bei Markus Lehner, 2017, „Modell Oktoberrevolution. Aktualität und Diskussion der bolschewistischen Revolutionskonzeption.“ Revolutionärer Marxismus, 49, nachlesen. http://www.arbeitermacht.de/rm/rm49/modelloktoberrevolution.htm

[iii] KPÖ, 1994, „Grundzüge einer Erneuerung“. https://alte.kpoe.at/home/positionen/programmatik-kpoe/beschluesse-und-grundlagen/1994/grundzuege-einer-neuorientierung.html

[iv] KPÖ, 2007, „KPÖ in Aktion. Partei in Bewegung.“ https://alte.kpoe.at/home/positionen/programmatik-kpoe/34-parteitag/2007/beschluss-forderungsprogramm-kpoe-in-aktion-partei-in-bewegung.html

[v] KPÖ, 2004, „Politische Plattform der KPÖ“. https://alte.kpoe.at/home/positionen/programmatik-kpoe/beschluesse-und-grundlagen/2004/politische-plattform-der-kpoe.html

[vi] KPÖ, 2011, „Für eine solidarische Gesellschaft“. https://alte.kpoe.at/home/positionen/programmatik-kpoe/35-parteitag/35-pt-beschluesse/2011/leitantrag-fuer-eine-solidarische-gesellschaft.html

[vii] KPÖ, 2017, „Wie Weiter“. https://alte.kpoe.at/partei/positionen/2017/quot-wie-weiter-quot-leitantrag-des-37-parteitags.html

[viii] „Ist unser Programm einmal die Formulierung der geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft vom Kapitalismus zum Sozialismus, dann muß es offenbar auch alle Übergangsphasen dieser Entwicklung formulieren, in sich in den Grundzügen enthalten, also auch das entsprechende Verhalten im Sinne der Annäherung zum Sozialismus in jedem Moment dem Proletariat anweisen können. Daraus folgt, daß es überhaupt für das Proletariat keinen Augenblick geben kann, in dem es gezwungen wäre, sein Programm im Stiche zu lassen, oder wo es von diesem Programm könnte im Stiche gelassen werden.“ Rosa Luxemburg, 1899. „Sozialreform oder Revolution“, Abschnitt 3 „Die Eroberung der politischen Macht“




Ukrainekrieg: Pazifismus zusehends hilflos

Jürgen Roth, Neue Internationale 263, April 2023

Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine dauerte erst wenige Tage an, da löste sich die Schockstarre. Der größte Friedensprotest seit dem Irakkrieg 2003 führte europaweit mehrere Millionen Teilnehmende auf die Straßen, darunter mehr als eine halbe Million allein am 27. Februar in Berlin. Fast zeitgleich kündigte Kanzler Scholz nur wenige hundert Meter entfernt das größte Aufrüstungsprogramm der Nachkriegsgeschichte an. Wahrlich eine Zeitenwende, die auch an Friedensbewegung und DIE LINKE nicht spurlos vorübergehen wird!

Alle Redner:innen befürworteten Sanktionen seitens der Bundesregierung. Eine Sprecherin aus der Ukraine forderte, ganz im Einklang mit der Linie ihrer Regierung, Waffen. Viel interessanter war, was in allen Reden nicht einmal benannt wurde. Es fiel kein Wort über die just zuvor beschlossene massive Aufrüstung der Bundeswehr, die Osterweiterung der NATO und ihre Manöver an der belarussischen und ukrainischen Grenze. Auch die jüngere ukrainische Geschichte seit den Euromaidanprotesten war keine Erwähnung wert. Den Ruf nach Sanktionen schluckte die Mehrzahl der Friedensbewegten also bereits. Damit meinte sie, sich weiterhin offensichtlich genug vom Militarismus abgrenzen zu können, schließlich stand das der Forderung nach Waffen (und deutscher Kriegsbeteiligung) und somit ihrem pazifistischen Image förderlich entgegen – einstweilen!

Dilemma des Pazifismus

Wir sehen also, dass der Pazifismus in letzter Konsequenz gegen sein eigenes Mantra verstoßen muss, sobald der erste Schuss fällt. Pazifist:innen teilen alles Bürgerliche – außer Kriegsgewalt. Diese erscheint ihnen nicht als Fortführung der Politik mit anderen Mitteln, als aus den Widersprüchen der Klassengesellschaft erwachsen, sondern als unerklärlicher Betriebsunfall der Geschichte, Sieg des Bösen über das Gute im Menschen.

Bricht der Krieg entgegen allen pazifistischen Formeln doch aus, so bleibt entweder das letztlich abstrakte Beschwören des Friedens – oder man schließt sich notgedrungen jener Seite an, die das „Gute“ zu verkörpern scheint, in unserem Fall der Bundesregierung und der NATO. Damit begibt sich der Pazifismus auf die Rutschbahn nach rechts – zum Chauvinismus und entwaffnet sich trotz aller Friedensbekundungen vor dem Kriegstreiben der „eigenen“ Regierung.

Die reformistischen Parteien (SPD, Linkspartei) und viele zentristische Organisationen der Arbeiter:innenbewegung teilen entweder Chauvinismus oder Pazifismus bzw. schwanken zwischen diesen, weshalb wir auch von Sozialchauvinismus bzw. -pazifismus sprechen. Geht ersterer spätestens mit Kriegsausbruch offen ins Regierungslager über, appelliert letzterer an den Willen zum Friedensschluss – mitten im Krieg! Der Status quo ante soll also wieder hergestellt werden, das Pulverfass der imperialistischen Widersprüche unversehrt voll bleiben – nur ohne Lunte! Eine unabhängige Klassenpolitik, die auf die Niederlage der „eigenen“ Regierung keine Rücksicht nimmt, lehnt der Sozialpazifismus ab. Der Logik „töten oder getötet werden“ kann er sich nicht entziehen. Er gerät damit zu einer „alternativen“ Form der Vaterlandsverteidigung, die große Teile bald auf die Abgleitfläche zur echten rutschen lässt.

Allerdings müssen wir zwischen dem ehrlichen, berechtigten Pazifismus Lohnabhängiger aus Angst vor Krieg und in Solidarität mit den ukrainischen Massen und dem heuchlerischen der Kirchenfürst:innen, Politiker:innen und Journalist:innen unterscheiden. Diese Unterscheidung ist deshalb wichtig, weil wir unter ihnen unsere Verbündeten im Kampf gegen die Kriegsgräuel suchen müssen, nicht in Parlamenten, Amtsstuben und Militär. Dazu ist jedoch ein politischer, geduldiger Kampf gegen die grundlegenden Fehler und Schwächen dieser Ideologie unerlässlich.

Anders als die (Sozial-)Pazifist:innen unterscheiden wir zwischen fortschrittlichen und reaktionären Kriegen. So ist der Bürger:innenkrieg zur Erringung der Herrschaft der Arbeiter:innenklasse ebenso zu unterstützen wie der Kampf einer unterdrückten Nation um Selbstbestimmung einschließlich des Rechts auf Abtrennung von Gebieten, wenn deren Bevölkerungsmehrheit das will. Im imperialistischen Krieg treten wir dagegen für den revolutionären Defaitismus ein, den Klassenkampf ohne Rücksicht auf die Niederlage der „eigenen“ Regierungen.

Aber sollten die Arbeiter:innen nicht einen reaktionären Krieg verhindern? Ja, unbedingt! Aber mit eigenen Mitteln des Klassenkampfes, nicht mit zahnlosen Appellen an die Regierungen!

Katalysator Kriegsfrage

In Zeiten verschärften Konflikts um die Neuaufteilung der Welt geraten auch die halbkolonialen Länder wie die Ukraine zusehends ins Gravitationsfeld der einen oder anderen imperialistischen Machtkonstellation. Das gilt leider auch für den (Sozial-)Pazifismus. Kann der Ausbruch eines Kriegs nicht verhindert werden, ist das Friedenslatein schnell am Ende. Jetzt ist der Klassenkampf noch unmöglicher als zuvor geworden, scheint es. Sind nicht die jungen Arbeiter:innen an der Front? Gebietet nicht der Krieg die Einstellung aller unabhängigen Klassenaktivität? Denn diese könnte doch die Niederlage der „eigenen“ Regierung heraufbeschwören? Und wäre das nicht gleichbedeutend, einseitig das Werk der Kriegsgegner:innen zu verrichten?

Da Imperialismus die Konzentration des Kapitals und herrschende Politik konzentriertester Ausdruck gesamtkapitalistischer nationaler Interessen bedeuten, spitzt der Krieg alle Widersprüche zu. Das ist der Hintergrund, warum Pazifist:innen ins (sozial-)chauvinistische Lager überlaufen müssen, wenn sie nicht die Niederlage der „eigenen“ Regierung in Kauf nehmen wollen.

DIE LINKE: haltloser Pazifismus

Das Milieu, aus dem sich Friedens- wie manch andere humanitäre Bewegung (Seebrücke, NGOs) vorrangig rekrutieren einschließlich der Linkspartei, wird ein politisches Erdbeben erleben.

So diskutierte die Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus am ersten Märzwochenende und deren Co-Vorsitzender Carsten Schatz forderte: „Sofortiger Rückzug der russischen Truppen!“ Die richtige Forderung wird freilich zur Anpassung an die Bundesregierung, wenn jede Kritik an der NATO-Politik ausbleibt. Kultursenator Lederer bezichtigt Putin des „offensiven Bruchs mit der europäischen Friedensordnung“, für die Deutschland und die EU Verantwortung zu übernehmen hätten.

Ohne Namen zu nennen, geht er ans vermeintliche Eingemachte der Partei: antimilitaristische Haltung, Position zur NATO, zu Russland: „Lasst es einfach weg!“ Pankows Bezirksbürgermeister Benn sieht ein „Selbsterschrecken“ in den eigenen Reihen, ein tiefes „Selbstbefragen einer ganzen Reihe von Positionen“ am Horizont aufziehen. Sozialsenatorin Kipping legt nach: „Keine Verharmlosung von Putin mehr. Putin ist nun mal Feind der Linken.“

Für die Ex-Parteivorsitzende steht der Hauptfeind exklusiv im anderen Land. Mögen ihr beim alljährlichen Gedenkritual an die Ermordung Liebknechts und Luxemburgs die Nelken in der Hand verdorren! Tobias Schulze bemerkt scheinheilig: „Was für die Rüstung geht, geht offenbar für die städtische und soziale Infrastruktur nicht, nämlich die Schuldenbremse auszusetzen.“ Gäbe es also die Schuldenbremse nicht, so drängt sich auf, wäre die Aufrüstung für DIE LINKE zustimmungsfähig. Welch‘ prinzipienfester Antimilitarismus!

Die Abgrenzung von wirklichen oder vermeintlichen „Putinversteher:innen“ erfüllt beim rechten Flügel der Linkspartei längst nicht mehr allein die Funktion einer Kritik an der Verharmlosung des russischen Imperialismus – vielmehr sollen so alle Stimmen zum Schweigen gebracht werden, die an einer angeblichen starren NATO-Ablehnung festhalten wollen. Es ist damit zu rechnen, dass der starke „Reformer“-Flügel um die sog. Regierungssozialist:innen, welcher sich offen prowestlich und hinter vorgehaltener Hand pro-NATO aufstellt, zum Angriff auf die in die Jahre gekommenen traditionslinken, sozialpazifistischen Grundsätze blasen wird, denen er sich bislang unterordnen musste. Die Ukrainekrise bringt nun neue Bewegung in den Transformationsprozess der Linkspartei nach rechts, während der linke Flügel noch weiter in die Defensive gerät. Es rächt sich heute, dass über Jahre Pazifismus, humanitäre Friedensphrasen und das Beschwören von Völkerrecht und UNO als Ultima Ratio der internationalen Ordnung als „Antimilitarismus“ verklärt wurden. In Wirklichkeit wurde nur das Fehlen einer antiimperialistischen und internationalistischen Politik schöngeredet, was heute dem rechten Flügel der Partei in die Hände spielt.

Interventionistische Linke (IL)

Doch nicht nur die reformistische Linke gerät in schweres Fahrwasser. Auch die größte Organisation der „radikalen Linken“, die IL, gerät ins Studeln.

In ihrem Aufruf vom März 2022 verurteilt sie den russischen Angriff. Gleichzeitig lehnt sie eine Parteinahme im Konflikt ab: „Wir lehnen die falschen Alternativen ab, weil die behauptete Alternativlosigkeit jeden Raum für Widersprüche und Kritik verschließt. [ … ] Wir entziehen uns der Identifikation mit staatlicher Macht. Stattdessen sind wir mit jenen parteilich, die unter dem Krieg leiden und sich ihm widersetzen [ … ], wenn sie fliehen, desertieren, zivilen Ungehorsam leisten oder kämpfen.“

Leider „entzieht“ sich die IL auch einer klaren revolutionären Antwort, wie der Krieg gestoppt werden kann. Sie spricht sich für die Unterstützung der „Menschen vor Ort“ aus? Doch worin soll diese bestehen? Welche Politik sollen die Arbeiter:innenklasse und Linke in Russland oder in der Ukraine vertreten? Über diese Fragen schweigt sich die IL aus und verbleibt letztlich bei einer sicherlich löblichen, politisch aber unzureichenden humanitären Unterstützung von Opfern des Krieges.

Darüber hinaus wendet sie sich gegen kapitalistische Geopolitik und westliche Doppelmoral, bezeichnet den Krieg „als vorläufige[n] negative[n] Höhepunkt von weltweit immer schärfer werdenden wirtschaftlichen, politischen und militärischen Konflikten.“ Sie tritt zu Recht gegen die Aufrüstung der Bundeswehr ein, für Solidarität mit Geflüchteten aller Hautfarben und Herkunft aus der Ukraine, Kriegsdienstverweiger:innen, Friedensaktivist:innen, Frauen und LGBTIQ, Genoss:innen der sozialen, linken, sozialistischen und anarchistischen Bewegungen aus beiden kriegführenden Ländern.

Richtig ist auch ihre Aufforderung, aktiv zu werden, eine Bewegung gegen Militarismus und Krieg aufzubauen, die lebendig, links und internationalistisch agieren soll. Doch für die Grundlage eines solchen Antikriegsbündnisses macht sie keinen Vorschlag. Stattdessen prophezeit sie (fälschlich): „Die Aufrüstungspläne der Bundesregierung finden in der Klimagerechtigkeitsbewegung einen neuen, starken Gegner. [ … ] Bringen wir zusammen, was zusammengehört: die Kämpfe gegen alle Grenzen, gegen Imperien und Kriege, gegen Klimakrise, Patriarchat und Kapitalismus.“ Mit dämlichen Parolen wie „Heizung runter für den Frieden!“, „Pullover statt Erdgas!“, am 24. März zu sichten, dürfte das Zusammenbringen arg schwierig ausfallen.

So wenig selbst blau-gelbe Pullover eine Antwort auf drohende Energiearmut liefern, so großzügig sieht die IL über die Untauglichkeit einer Bewegung im Sog des Vaterlandsverteidigungstaumels für ein Antikriegsbündnis hinweg. Die IL spielt ein Chamäleon, das hinter „Bewegungen“ unkritisch hinterher trabt, statt ihnen eine antikapitalistische Perspektive anzubieten. Die Farbe Rot verblasst gerade, wenn’s drauf ankommt!

Dahinter steckt nicht nur ein mehr oder weniger hoffnungsfroher „Optimismus“ – es wird auch das Fehlen jeder Klassenpolitik deutlich. Die Frage, wie die Lohnabhängigen, wie Gewerkschafter:innen, die reformistisch dominierte Arbeiter:innenbewegung für eine Antikriegsbewegung gewonnen werden können, stellt sich die IL erst gar nicht. Den Spitzenbürokrat:innen im DGB, bei der Linkspartei und erst recht in der SPD wird’s recht sein. Uns nicht.