Ein Programm von Übergangsforderungen

Das Trotzkistische Manifest, Kapitel 3, Sommer 1989

Die gegenwärtige Periode ist durch defensive ökonomische Massenkämpfe in den imperialistischen Ländern, durch aktuelle oder latente politisch- revolutionäre Krisen in den degenerierten Arbeiterstaaten und durch vorrevolutionäre und revolutionäre Krisen in den halbkolonialen Ländern gekennzeichnet. Diese fortdauernde Ungleichheit macht es unmöglich, wie Trotzki 1938 von einer weltweit vorrevolutionären Situation zu sprechen. Aber dies ändert nichts an der Dringlichkeit, die Arbeiterbewegung mit einem Übergangsprogramm zu bewaffnen.

Nur ein solches Programm kann absichern, daß die Fortschritte, die die Massen in diesem oder jenem Teilkampf erreicht haben, aufeinander aufgebaut und konsolidiert werden und daß ihnen diese nicht bei der ersten Gelegenheit von den Kräften der Reaktion wieder gestohlen werden. Nur ein solches Programm kann den fundamentalen Widerspruch, an dem die internationale Arbeiterbewegung krankt, lösen: einerseits sind die Massen bereit, ihre Errungenschaften zu verteidigen und auch die revolutionäre Offensive zu wählen; andererseits aber sind die etablierten Führungen immer noch in der Lage, eben diese Kämpfe zu demobilisieren und zu verraten.

Ein Übergangsprogramm bemüht sich, diese subjektive Schwäche anzusprechen, indem es für die Massen eine Brücke zwischen ihren unmittelbaren Verteidigungskämpfen und dem Kampf für die sozialistische Revolution baut. Diese Brücke hat die Form einer Reihe miteinander verbundener Forderungen, die in ihrer Gesamtheit eine offene und direkte Herausforderung an die kapitalistische Herrschaft darstellen. Aber Revolutionäre sind keine Sektierer. Sie kämpfen für Mindestforderungen und sind in jedem Teilkampf die gründlichsten und gewissenhaftesten Taktiker und Organisatoren. Wir stehen bei allen Kämpfen der Arbeiterklasse an vorderster Front, egal wie partiell sie sind. Aus diesem Grund wäre es falsch, das Übergangsprogramm den existierenden Massenkämpfen als Ultimatum entgegenzustellen.

Aber es ist eine zentristische Verzerrung des Übergangsprogramms, einzelne Forderungen vollständig aus dem in sich verketteten System herauszutrennen und sie als dürftig maskierte und isolierte Gewerkschaftsforderungen zu präsentieren. Ebenso sind alle Versuche, Übergangsforderungen als strukturelle Reformen des Kapitalismus darzustellen, äußerst opportunistisch. Der eigentliche Zweck von Übergangsforderungen ist, die Massen gegen den Kapitalismus zu mobilisieren. Die Aufgabe der revolutionären Avantgarde ist es deshalb, in den unmittelbaren Massenkämpfen einzelne Forderungen im Kontext eines Kampfes für das Programm als ganzes zu verwenden.

In der Praxis wird dies bedeuten, innerhalb eines Einzelkampfes für zugespitzte, relevante Übergangsforderungen zu agitieren, während Propaganda für das Programm als ganzes gemacht wird, indem erklärt wird, was die Realisierung dieser oder jener Forderung für die nächste Phase des Kampfes bedeuten wird. Wie muß dieser Fortschritt gefestigt werden, wie können wir einen Gegenangriff der Herrschenden verhindern? Das Verhältnis zwischen solcher Agitation und Propaganda, der Punkt, von dem an die Massenagitation die Propaganda ersetzt, wird vom Umfang, Tempo und der Intensität des Kampfes bestimmt.

Der Übergangscharakter des Systems von Forderungen wird durch verschiedene Merkmale ausgedrückt. An erster Stelle sprechen solche Forderungen die fundamentalen ökonomischen und politischen Bedürfnisse der Massen, wie sie durch die objektive Situation bestimmt werden, an. Die Forderungen hängen in ihrer Richtigkeit nicht davon ab, ob sie für das reformistische Massenbewußtsein annehmbar sind; auch werden sie nicht entwertet, wenn die kapitalistischen oder stalinistischen Bürokraten dazu gezwungen sind, solchen Forderungen zu entsprechen. Zweitens versuchen Übergangsforderungen, die Massen unabhängig von den offenen politischen Repräsentanten der Bourgeoisie und deren reformistischen Agenten innerhalb der Arbeiterbürokratie zu organisieren. Dies wollen wir durch Gewerkschaften, Fabrikkomitees, Arbeiterräte und die revolutionäre Partei erreichen.

Rund um diese Forderungen mobilisiert, stellt die Arbeiterklasse in solchen Organisationen die Herrschaft der Kapitalisten in Frage. Sie beeinträchtigt die bürgerliche Herrschaft in Fabrik, Büro und Schule, durch Streikpostenketten und Straßenaktionen, ja sogar auf Regierungsebene. Zu diesem Zweck verkörpert jede Übergangsforderung einen Kampf für irgendein Element direkter Arbeiterkontrolle über die Kapitalisten. Indem im Kampf für die Erhaltung von Arbeitsplätzen elementare Formen von Arbeiterkontrolle über die Produktion errichtet werden, wird die Auseinandersetzung auf eine höhere Ebene gebracht. Die Frage ist aufgeworfen: Wer hat die Macht in der Fabrik, die Arbeiter oder die Bosse? Ein erfolgreicher Kampf auf Fabrikebene stellt die Arbeiter in der Folge vor neue Herausforderungen, sowohl in Beziehung zu anderen Industriezweigen als auch zur Gesellschaft als ganzer.

Zusätzlich üben sich die Massen durch das System der Arbeiterkontrolle im Führen der Fabrik und bereiten sich so auf die kommenden Aufgaben unter der Diktatur des Proletariats vor. Daher sind Übergangsforderungen einerseits das Mittel zum Übergang von den heutigen, unmittelbaren Kämpfen zu einem revolutionären Angriff auf das gesamte kapitalistische Regime und andererseits eine Schule, ein Mittel, die Arbeiter für die Aufgaben des Übergangs zum Sozialismus selbst zu erziehen.

Gegen die kapitalistische Offensive

Die vereinte Offensive der Kapitalisten zur Lösung ihrer Krisen und zur Herbeiführung eines Konjunkturaufschwunges hat einen schweren Tribut auf die Lebensbedingungen der Weltarbeiterklasse und der unterdrückten Bauernschaft gefordert. Steigende Preise, die in einigen Halbkolonien sogar das Niveau der Hyperinflation erreichten, und Massenarbeitslosigkeit sind der Preis zeitweiser Stabilisierung. Um ihre Kampfkraft zu erhalten, muß die Arbeiterklasse ihr Recht auf Arbeit verteidigen und einen ausreichenden Lohn verdienen. Sie ist dazu gezwungen, das von der Bourgeoisie zugestandene Wohlfahrtssystem – den sogenannten Soziallohn – zu verteidigen und auszudehnen. Es ist notwendig, Forderungen voranzutreiben, die den Überlebenskampf zu beenden versuchen.

In jedem Land kämpfen wir für einen gesetzlich garantierten Mindestlohn in einer Höhe, die von der Arbeiterbewegung und nicht von den Herrschenden bestimmt wird. Das soll natürlich keinesfalls heißen, daß sich Kollektivverträge auf ein solches Minimum beschränken. Die Arbeiterklasse muß sich ständig bemühen, über den Mindestlohn, der einfach nur ein Sicherheitsnetz gegen niedere Löhne und die Armut des unterdrücktesten Teils der Arbeiter ist, hinausgehen.

Kampf der Inflation

Unter Bedingungen, unter denen die Herrschenden steigende Preise dazu benutzen, die Arbeiter zu verarmen, kämpfen wir für den Schutz kollektiver Abkommen gegen jede Preissteigerung durch die Unternehmer. Zu diesem Zweck kämpfen wir für eine gleitende Lohnskala, die Lohnsteigerungen zum Ausgleich für steigende Lebenshaltungskosten garantiert. Natürlich werden die Herrschenden mit gefälschten Indizes zu beweisen versuchen, daß die Lebenshaltungskosten nicht steigen, und dadurch die Massen zu hintergehen. Um dieser Gaunerei zu begegnen, kämpfen wir für einen Lebensmittelindex der Arbeiterklasse, erstellt und bestimmt durch Preiskontrollkomitees, bestehend aus gewählten Delegierten von den Arbeitsplätzen und den Arbeiterbezirken: den Wohnsilos, den Arbeitervierteln, den Barrios und Slums, den Organisationen der Frauen der Arbeiterklasse und den proletarischen Konsumenten. Unter der Bedingung der Hyperinflation werden darüber hinausgehende Maßnahmen erforderlich, um die Ausgebeuteten und Unterdrückten vor dem Hunger, der Zerstörung ihrer Sicherheit und ihrer dürftigen Ersparnisse zu schützen. Sie müssen um die Kontrolle über die lebensnotwendigen Güter kämpfen. Dies bedeutet Arbeiterkontrolle über die Lebensmittelindustrie, die großen landwirtschaftlichen Betriebe, die verarbeitende Industrie, das Transportwesen und die Supermarktketten. Weiters bedeutet dies, direkte Handelsbeziehungen zwischen den Arbeitern und den Bauern durch den Austausch von Gütern einzuführen. Dies führt zum Aufbau von Arbeiter- und Bauernkomitees, um die Lebensmittelpreise und deren Verteilung zu kontrollieren.

Aber um die Hyperinflation zu stoppen, müssen die Arbeiter die Kontrolle über die Banken erlangen und ihre vollständige Nationalisierung erzwingen, einschließlich der Konfiszierung der Einlagen der Bourgeoisie und der ausländischen Multis. Wir fordern Aktionen zur Verhinderung der Kapitalflucht ins Ausland, zur sofortigen Nichtanerkennung der Auslandsschuld und zur Einstellung aller Zinsenzahlungen. Die Ersparnisse der Arbeiter, Bauern und Kleinbürger sollten zu ihrem vorhyperinflationären Wert gesichert werden.

Alle diese Maßnahmen verweisen auf die Notwendigkeit eines Staatsmonopols über den Außenhandel und auf die Einführung demokratischer Planung durch die Produzenten. Um ein Arbeiter- und Bauernprogramm gegen die Inflation durchzusetzen, ist eine Regierung eben dieser Klassen ein unerläßliches Instrument. Ohne dieses wird die Bourgeoisie die Hyperinflation dazu benutzen, die Arbeiter zu demoralisieren und die Bauernschaft und das Kleinbürgertum gegen sie aufzuhetzen (Bolivien 1985 – 1986). Sie wird versuchen, die inflationäre Krise zu lösen, indem sie die Arbeiter niederknüppelt und ihnen brutale deflationäre Maßnahmen aufzwingt: Kürzung des Staatsbudgets für Gesundheits- und Erziehungswesen, Lohnkürzungen und Schließungen von Fabriken und Bergwerken. Inflation und Deflation sind beides Waffen der Bourgeoisie, um das revolutionäre Moment der Arbeiterklasse zu brechen. Gegen beides vereinigen wir die Massen um ein Programm, das darauf besteht: „Laßt die Reichen zahlen!“

Die Geissel der Arbeitslosigkeit

Massenarbeitslosigkeit ist heute ein beständiges Merkmal eines jeden kapitalistischen Landes. In den Halbkolonien führt der Zusammenbruch der Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt zur Zerstörung ganzer Industrien, während die Landwirtschaft Millionen von landlosen Bauern in die Städte getrieben hat, wo sie keine Arbeit finden und in die Reihen des Lumpenproletariats hinabgedrückt werden. In den imperialistischen Kernländern ließ die kapitalistische Umstrukturierung Millionen Menschen am Schrotthaufen der Arbeitslosigkeit landen. Gegen diese Geißel bringt unser Programm die Forderung für das Recht auf Arbeit für alle, unabhängig von Geschlecht, Rasse, Alter, Glaubensbekenntnis oder sexueller Orientierung, vor. Diese Forderung ist nur verwirklichbar auf der Basis von militanten, direkten Aktionen – Streiks gegen Entlassungen, Besetzungen gegen Betriebsschließungen, militante Proteste durch die Organisationen der Arbeitslosen. Solche Kämpfe müssen sich die Erreichung einer gleitenden Arbeitszeitskala zum Ziel setzen. Unter der Herrschaft der Arbeiterkontrolle soll die Arbeit unter allen Arbeitenden eines Unternehmens aufgeteilt und die Arbeitswoche verkürzt werden, um diese Arbeitsaufteilung zu erleichtern. Unter keinen Umständen sollen bei weniger Arbeitsstunden die Löhne gekürzt werden. Dies ist eine bewußte Verallgemeinerung und revolutionäre Ausdehnung von Forderungen, die spontan von den Arbeitern für die „35-Stunden-Woche ohne Lohnverlust“ (Britannien, BRD) oder von „30 für 40“ (USA) aufgestellt wurden.

Für jene, die die Kapitalisten in der Arbeitslosenschlange stehen lassen, kämpfen wir für Arbeit oder vollen Lohn. Wenn die Kapitalisten keine Arbeit zur Verfügung stellen, fordern wir staatliche Arbeitslosenunterstützung in einer Höhe, die von der Arbeiterbewegung festgelegt werden soll. Wenn der Kapitalismus unfähig ist, soziale Betreuungseinrichtungen zur Verfügung zu stellen, und Frauen daran gehindert werden, ganztägig zu arbeiten, dann fordern wir volle Unterstützungsleistungen. Aber diese Forderung muß mit dem Kampf für soziale Einrichtungen für Kinder, Kranke und Behinderte verbunden werden, sodaß es Frauen möglich ist zu arbeiten.

Volle Unterstützungszahlungen sollten für all jene gefordert werden, die der Kapitalismus aufgrund ihres Alters, ihrer Behinderung oder Krankheit aus der gesellschaftlichen Produktion ausschließt. Für die Älteren verlangen wir das Recht, in einem Alter in Pension zu gehen, das von der Arbeiterbewegung eines jeden Landes festgelegt wird. Inflationsgesicherte Pensionen müssen vom Staat in einer von der Arbeiterklasse festgesetzten Höhe, die den Lebensstandard der Älteren erhält, bezahlt werden. Für jene über dem Pensionsalter, die weiterarbeiten wollen, muß dies zu vollen von den Gewerkschaften ausgehandelten Löhnen möglich sein.

Die Arbeitslosen selber dürfen nicht als Zuschauer im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit stehengelassen werden. Kommunisten und Kommunistinnen streben nach dem gemeinsamen Kampf von Arbeitslosen und Arbeitenden. Wir sind für das Recht der Arbeitslosen, sich in den Gewerkschaften mit vollen Rechten, aber reduzierten Beiträgen zu organisieren. Wir sind auch für den Aufbau von demokratischen Massenarbeitslosenbewegungen, die durch die Arbeiterbewegung beträchtliche finanzielle Unterstützung erhalten, ohne daß Bedingungen an diese Zahlungen geknüpft werden. Sie sollen volle Vertretungsrechte innerhalb der Arbeiterbewegung haben. Solche Organisationen werden eine entscheidende Rolle spielen, um zu verhindern, daß die Arbeitslosen der Ideologie des Faschismus (oder anderen reaktionären Ideologien und Bewegungen), der Kriminalisierung und der Verlumpung zum Opfer fallen. Sie sind ein wichtiges Druckmittel gegenüber den beschäftigten Arbeitern, um einen aktiven Kampf zur Verteidigung ihrer arbeitslosen Kollegen und Kolleginnen aufzunehmen.

Um alle Arbeitslosen in den Produktionsprozeß zu integrieren und es ihnen zu ermöglichen, sozial nützliche Arbeit zu verrichten, kämpfen wir unermüdlich für ein Programm von öffentlichen Arbeiten unter Arbeiterkontrolle, bezahlt durch den kapitalistischen Staat. Die Notwendigkeit für ein solches Programm ist unübersehbar. In den imperialistischen Kernländern sind alle Arten von öffentlichen Einrichtungen verbesserungs- oder renovierungsbedürftig. In den Halbkolonien leben die Massen im Elend und müssen die grundsätzlichsten Annehmlichkeiten des Lebens (Wohnen, Wasser, sanitäre Anlagen und Heizung, Erziehung und Gesundheitsversorgung) entbehren. Das Programm für öffentliche Arbeiten versucht sowohl diese brennenden Bedürfnisse, wie den Bau von Wohnungen, Spitälern, Schulen und sonstigen Einrichtungen, zu befriedigen, als auch Arbeitsplätze für Millionen Menschen bereitzustellen. Weiters schult es die Arbeiterklasse, die Wirtschaft in einer Art und Weise zu führen, die ihre Bedürfnisse befriedigt. Es ist eine Schule für die Planwirtschaft selbst.

Verbunden mit einem solchen Programm für öffentliche Arbeit ist der Kampf für soziale Einrichtungen oder für deren Verteidigung und Ausbau. Diese dienen in gewisser Weise dazu, die Arbeiterklasse vor den schlimmsten Auswirkungen der kapitalistischen Ausbeutung zu schützen. Der Kapitalismus ist nicht nur bereit, unseren Lebensstandard seinem Lechzen nach Profit zu opfern, er ist dies auch in Bezug auf unser Recht auf Bildung, auf das Recht, die uns verbleibende Freizeit zu genießen und in Bezug auf das Recht auf Krankenversorgung. Was für ein besseres Zeugnis für den Bankrott des Kapitalismus kann erwartet werden als das Faktum, daß die USA als reichstes und mächtigstes Land der Welt eine der höchsten Kindersterblichkeitsraten aller industrialisierten Länder aufweisen. Um solche Ungerechtigkeiten zu bekämpfen, kämpfen wir für kostenlose Bildung, freie öffentliche Einrichtungen und Freizeitmöglichkeiten und ein kostenloses Gesundheitswesen für alle. Diese Rechte müssen durch staatliche Subventionen in einer von den Massen selbst bestimmten Höhe garantiert werden. Diese Einrichtungen dürfen nicht von kapitalistischen Managern geleitet werden, sondern durch eine Arbeiterkontrolle über die öffentlichen Dienste.

Die habgierige Suche nach Profit degradiert und zerstört die Individuen weit über die Fabrik und das Büro hinaus. Im Kapitalismus treibt der Gebrauch von Drogen Hunderttausende über die Grenzen von Genuß und Stimulation hinaus in die Unproduktivität von Abhängigkeit und Knechtschaft: Alkoholismus und Drogenabhängigkeit zerstören das Leben von vielen potentiellen Klassenkämpfern gegen das System, das solche Abhängigkeiten verursacht. Wir fordern die Entkriminalisierung des Drogengebrauchs und die Beschlagnahme der enormen Profite, die die Rauschgiftmagnaten aus dem illegalen Import und Export von Drogen ziehen. Wir sind für ein staatliches Monopol, das von einem Arbeiter- und Bauern-Preiskomitee überwacht wird, für den Verkauf von Drogen für den pharmazeutischen und nicht-pharmazeutischen Gebrauch. Wir fordern wissenschaftlich fundierte Erziehung und Information über die Gefahren des Gebrauchs von manchen Drogen für nicht-medizinische Zwecke.

Es wird keinen Mangel an Kapitalisten, bürgerlichen Politikern, wirtschaftlichen „Experten“ und reformistischen Apologeten des Kapitalismus geben, welche „beweisen“ werden, daß unsere Forderungen für Löhne, Arbeitsplätze und Dienstleistungen nicht realisierbar seien und sicher nicht geleistet werden können. Darauf antworten wir, daß wir es uns nicht leisten können, ohne die Erreichung unserer Forderungen zu leben. Wir gehen nicht davon aus, was das kapitalistische System behauptet, sich leisten zu können. Die ganze Geschichte hindurch traf jede unserer Forderungen auf den Aufschrei, daß unsere Herrscher sie nicht verkraften könnten. Dennoch haben wir sie gewonnen, denn was leistbar ist, wird durch den Kampf entschieden; in Summe sind Reformen das Nebenprodukt des revolutionären Kampfes gegen den Kapitalismus. Wenn der bürgerliche Staat die Forderungen der Massen nach Löhnen, Arbeit oder Sozialleistungen mit dem Argument ablehnt, daß das zu einem Budgetdefizit führen würde, dann schlagen wir ein revolutionäres Programm der Besteuerung vor.

Die Arbeiter in den Fabriken und Banken sollen das veranlagte und flüssige Vermögen der Arbeitgeber berechnen. Auf der Grundlage dieses Kapitals und anderen Besitzes soll eine stark progressive Vermögenssteuer von ihnen eingehoben werden. Mit diesen Einnahmen wird es möglich sein, mit der Finanzierung der Bedürfnisse der Massen anzufangen. Andererseits soll die indirekte Besteuerung von Gütern des Massenkonsums und die Einkommensteuer der besitzlosen Massen über Bord geworfen werden. Die progressive Einkommens- und Vermögenssteuer für die Kapitalisten muß durch Arbeiter kontrolliert werden, um die Umgehung und Korruption durch Finanzexperten aufzudecken. Auch muß jeder Versuch, die Sonderbesteuerung der Kapitalisten auf die Preise der Massenkonsumgüter abzuladen, durch die Arbeiterkontrolle verhindert werden. Wenn die Kapitalisten sich weigern, ihre Steuern zu zahlen, diese zu hinterziehen versuchen oder Zahlungsunfähigkeit vorgeben, dann muß ihr Vermögen konfisziert werden.

Die Gewerkschaften

In vielen Teilen der Welt sind die Gewerkschaften dauerhafte Massenorganisationen des Proletariats geworden. Revolutionäre und Revolutionärinnen müssen daher eine zentrale Ausrichtung auf die Gewerkschaften haben, trotz deren reaktionärer Führungen. Eine richtige revolutionäre Intervention in die Gewerkschaften erfordert ein klares Verständnis ihres Charakters, ihrer Grenzen im Kapitalismus sowie eine systematische Strategie für deren Umwandlung in Instrumente des revolutionären Kampfes.

Reines Gewerkschaftertum verkörpert Klassenkampf in den Grenzen des Kapitalismus. Im allgemeinen haben sich die Gewerkschaften als elementare Organisationen zur Verteidigung der Arbeiterklasse gegen die Auswüchse der kapitalistischen Ausbeutung, zur Erlangung der Mittel für den Lebensunterhalt und zur Verbesserung des Lebensstandards der Arbeiter und ihrer Familien herausgebildet. Auf diese Weise anerkennt das reine Gewerkschaftertum das Lohnsystem, das System der Lohnsklaverei. Als eine Form des Bewußtseins verbleibt es auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft. Rein gewerkschaftliches Bewußtsein ist daher eine Form des reformistischen, bürgerlichen Bewußtseins innerhalb der Arbeiterklasse.

Das System der kapitalistischen Ausbeutung erzeugt jedoch den Klassenkampf selbst, wenn auch zumindest anfangs rein ökonomisch und zersplittert. Dies geschieht deswegen, weil die Bourgeoisie durch die Konkurrenz gezwungen ist, die Arbeitskosten zu senken und damit entweder die Intensität zu steigern oder den Arbeitstag zu verlängern. Dieser Klassenkampf schafft die objektiven Bedingungen für die Überwindung der reformistischen Beschränkungen des reinen Gewerkschaftertums. Die Arbeiterklasse wird zur Anwendung von Klassenkampfmethoden getrieben, die drohen, über die Grenzen reformistischer gewerkschaftlicher Lösungen hinauszugehen. Diese objektive Tatsache gibt Gewerkschaftsorganisationen einen widersprüchlichen Charakter. Auf der einen Seite widerspiegeln sie den selbstbeschränkenden Reformismus eines reinen gewerkschaftlichen Bewußtseins. Andererseits verkörpern sie episodenweise das revolutionäre Potential einer Arbeiterklasse, die zur Anwendung von Streiks, Besetzungen und Streikposten gezwungen ist. Sie können daher als „Kriegsschulen“ der Arbeiterklasse dienen.

Dieser widersprüchliche Charakter der Gewerkschaftsorganisationen offenbart sich auf mannigfaltige Weise. Selbst mit der Ausdehnung des Proletariats in die halbkoloniale Welt organisieren die Gewerkschaften weiterhin nur eine Minderheit der internationalen Arbeiterklasse. Die etablierten Bürokratien sind bei der Integration neuer Arbeiterschichten durch konservative Trägheit gekennzeichnet. Sie sind ängstlich besorgt, daß der Zustrom solcher Arbeiter ihre Privilegien und ihr ruhiges Leben gefährden könnte. Tendenziell organisieren die Gewerkschaften die Arbeiteraristokratie, die besser ausgebildeten und privilegierten Teile der Klasse. Sie widerspiegeln den Gruppenegoismus und das enge handwerklerische Bewußtsein dieser Schichten. Sie neigen im Namen der Neutralität zu einer selbstschädigenden Enthaltsamkeit in der Politik, obwohl die Gewerkschaftsführung oft gleichzeitig bei Wahlen die Stärke der Gewerkschaften reformistischen oder liberalen bürgerlichen Parteien ausliefert.

Im wesentlichen werden Gewerkschaften von einer reformistischen Bürokratie dominiert, die sich in den imperialistischen Ländern während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts aus der Arbeiteraristokratie entwickelte und sich vor allem auf die organisierten Facharbeiter stützte. In vielen Halbkolonien entstand ebenfalls eine Bürokratie, auch hier aus der Arbeiteraristokratie. Doch ist sie kleiner und genießt weniger materielle Privilegien als die der imperialistischen Länder. Sie wurde von bürgerlich- nationalistischen oder reformistischen Kräften gefördert, die sich so eine soziale Basis zu sichern hofften (wie in Mexiko und Argentinien). In anderen Ländern, wo sich entweder noch keine Arbeiteraristokratie entwickelt hat oder diese noch zu schwach ist, um die Gewerkschaften oder reformistische bzw. nationalistische Parteien zu beeinflussen, entstand eine reformistische Bürokratie oft durch Verbindungen mit der internationalen Gewerkschaftsbewegung und durch die materielle Hilfe der Bürokratien in den imperialistischen Ländern.

Die Gewerkschaftsbürokratie ist eine besondere Kaste, die ihre Position und ihre materiellen Privilegien (wie gering sie auch immer sein mögen) ihrer Rolle als Unterhändler im Klassenkampf zwischen den Arbeitern und ihren Bossen verdankt. Ihre privilegierte Position geht oft einher mit ihrer Einbindung in untere Ebenen des kapitalistischen Staates. Um diese Positionen aufrechtzuerhalten, hat sie ein objektives Interesse an der Erhaltung des Systems der Klassenausbeutung und beschränkt und verrät daher die Klassenkämpfe. Sie handelt also als Feldwebel der Kapitalisten in der Arbeiterklasse und ist ein verschworener Feind des militanten Klassenkampfes und einer echten Arbeiterdemokratie.

Im Gegensatz dazu hat die Gewerkschaftsbasis kein objektives Interesse an der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ausbeutung. In den Momenten verschärften oder verallgemeinerten Klassenkampfes erweisen sich die Bestrebungen der Arbeiter an der Basis als das genaue Gegenteil der Methoden der Bürokratie. Im Angesicht der Attacken von seiten ihrer Bosse greifen die Arbeiter zu direkten Aktionen zur Verteidigung ihrer Interessen. Sie versuchen, die sektoralen Verschiedenheiten in ihren Reihen zu überwinden, die Unorganisierten zu organisieren und sich mit Arbeitern anderer Industrien und Gewerkschaften zu vereinigen. Im Gegensatz zur notorischen „Neutralität“ ihrer Bürokratie gibt es unzählige Beispiele, wo Arbeiter an der Basis ihre Organisationen für eindeutig politische Ziele zu nutzen versuchten. Die grundlegenden Interessen der Gewerkschaftsbasis sind daher nicht einfach verschieden von denen der Bürokratie, sondern ihr genaues Gegenteil.

Um dieses elementare Klassenbewußtsein der Gewerkschaftsbasis zu revolutionärem Bewußtsein zu entwickeln, ist es notwendig, für eine revolutionäre Umwandlung der Gewerkschaften zu kämpfen. Entweder werden Gewerkschaften zu Instrumenten der Unterordnung der Arbeiterklasse unter die Interessen des Kapitals, oder sie werden zu Instrumenten des revolutionären Kampfes gegen den Kapitalismus. So etwas wie Neutralität der Gewerkschaften im Klassenkampf kann es nicht geben. Das Ergebnis des Kampfes für die Umwandlung der Gewerkschaften hängt in erster Linie von der organisierten Stärke des revolutionären Kommunismus in ihnen ab. Wir sind bestrebt, kommunistische Fraktionen in den Gewerkschaften aufzubauen, die von Mitgliedern und Sympathisanten der revolutionären Partei gebildet werden und auf der Grundlage eines revolutionären Programms offen um die Gewerkschaftsführung kämpfen.

Um unser Ziel der Entmachtung der Bürokratie zu erreichen, befürworten wir oppositionelle Basisbewegungen, die der Basisdemokratie, der jederzeitigen (Ab-)Wählbarkeit und Verantwortlichkeit aller Funktionäre und einem Klassenkampfprogramm verpflichtet sind. Wir bekämpfen alle Beschränkungen der Basisdemokratie, jede von der Bürokratie erzwungene Spaltung, alle Versuche, die Gewerkschaften politisch „neutral“ zu halten oder genauer, sie von revolutionärem Einfluß freizuhalten. Wir leisten Widerstand gegen alle Versuche, Revolutionäre und Militante mit bürokratischen Mitteln aus Gewerkschaftsorganen zu jagen. Wir bekämpfen alle Bemühungen, die Kämpfe der Arbeiterklasse zu verraten beziehungsweise sie um ihren Erfolg zu bringen. Wir verteidigen die Rechte der gesellschaftlich Unterdrückten (Frauen, Jugendliche, sexuelle und rassische Minderheiten) auf eigene getrennte Treffen. Wir treten für die Einheit der Gewerkschaften auf einer demokratischen und klassenkämpferischen Basis und für Industriegewerkschaften ein.

Die Taktik der oppositionellen Basisbewegung (nach dem Modell des „Minority Movement“ 1920 in Britannien) widerspricht nicht dem Ziel, eine kommunistische Gewerkschaftsfraktion zu bilden. Sie ist eine Bewegung, in der die Kommunisten eine Fraktion bilden, aber durch die sie gleichzeitig versuchen, eine Massenkraft zu werden und auf der Grundlage eines Aktionsprogramms von Übergangsforderungen die Führung der Gewerkschaften zu übernehmen. Sie ist eine Form der Einheitsfront, die dort notwendig ist, wo Kommunisten eine Minderheit darstellen, aber gleichzeitig die Möglichkeit der Mobilisierung nicht-kommunistischer Arbeiter besitzen.

Die Geschichte des reformistischen Verrats und die Einbindung einiger Gewerkschaften in den bürgerlichen Staat hat viele Sektierer dazu geführt, die Massenorganisationen preiszugeben und „saubere“Gewerkschaften oder „rote Gewerkschaften“ aufzubauen, die weder die Massen noch irgendwelche bedeutenden Teile der Arbeiterklasse miteinschließen. Diese Politik der ‚Doppelgewerkschaften‘ ist in Wirklichkeit eine Form der feigen Enthaltung. Sie überläßt die Massen der verräterischen Bürokratie. Sie beläßt sie unter deren Einfluß und damit zur Niederlage verdammt. Unsere Politik ist es daher nicht, uns von den reformistischen Massengewerkschaften abzuspalten anstatt darin für eine revolutionäre Führung zu kämpfen. Wir kämpfen in ihnen für die volle politische und organisatorische Unabhängigkeit vom Staat und den Unternehmern. Arbeitermilitante sollten sogar in vom Management oder vom Staat kontrollierten Gewerkschaften arbeiten, wenn diese die Masse der Arbeiter organisieren; und zwar mit dem Ziel, die Massen zum Bruch mit diesen Gewerkschaften zu führen und tatsächliche Arbeitergewerkschaften zu bilden. Wir sind andererseits keine Fetischisten der Gewerkschaftseinheit. Wir sind sehr wohl bereit, Gewerkschaften zu spalten, die tatsächlich Streikbrecherorganisationen geworden sind. Insbesondere lehnen wir jede Verbindung mit Gangster-Syndikaten oder Politikern offen bürgerlicher Parteien ab, die sich als „Freunde der Arbeiter“ darstellen wollen.

Auch sind wir keine Gewerkschaftsfetischisten. Gewerkschaftsorganisationen vereinigen notwendigerweise breite Schichten. Sie sind uneinheitlich und umfassen sowohl fortgeschrittene als auch noch wenig entwickelte Teile der Arbeiterklasse. Sie können daher nicht die politisch geschulte Avantgarde ersetzen – die revolutionäre Partei. Im Gegensatz zu den Syndikalisten und Trade- Unionisten sehen wir in Gewerkschaften keinen Selbstzweck und keinen Ersatz für die Partei und die Arbeiterräte. Denn nur die Partei kann die strategischen Interessen des Proletariats in seiner Gesamtheit vertreten. Und nur die Partei kann die vielen Bewegungen des Klassenkampfes zur Niederlage des kapitalistischen Systems selbst hinführen. Gewerkschaften, selbst wenn sie von Revolutionären geführt werden, stellen für uns nur ein Instrument unter vielen dar, um unser Ziel zu erreichen – die sozialistische Revolution. Nur der Sieg der Partei und ihres Programms in den Gewerkschaften, genauso wie in allen anderen Organisationen des Massenkampfes, garantiert einen bleibenden Sieg des Proletariats über das Profitsystem.

Arbeiterkontrolle und Fabrikkomitees

Das kapitalistische Ausbeutungssystem erfordert, daß die Bosse jeden Aspekt des Produktionsprozesses kontrollieren. Die Suche nach höherer Produktivität und höheren Profiten gefährdet die Sicherheit, ruiniert die Gesundheit und intensiviert die Ausbeutung. Die Arbeiterklasse ist daher zunehmend gezwungen, auf die kapitalistische Kontrolle mit Arbeiterkontrolle zu antworten, um selbst grundlegende und begrenzte Forderungen durchzusetzen. Aus diesem Grund stellt die revolutionäre Avantgarde den Kampf für Arbeiterkontrolle in den Mittelpunkt ihrer Propaganda und Agitation. Gegen die kapitalistische Ausbeutung kämpfen wir für die Arbeiterkontrolle über die Produktion. Kurz gesagt heißt das, daß wir uns ein Vetorecht über die Pläne und Aktionen der Bosse in jedem Teil der Produktion vorbehalten, von den grundlegendsten Dingen (Arbeitstempo, Recht auf Pausen) bis auf die Ebene der Verwaltung der Fabrik (Zahl der Beschäftigten, Bezahlung der Löhne, Art der Produktion). Wir lehnen aber die tausendundein Schemata von Arbeitermitbestimmung kategorisch ab. Diese sind nur dazu entwickelt worden, um die Arbeiterklasse zu täuschen und in die Mechanismen des Kapitalismus zu integrieren, und sie versuchen, die Arbeiter dazu zu verführen, Verantwortung für das Versagen der kapitalistischen Produktion zu übernehmen. Sie sind darauf ausgerichtet, Absprachen für Angriffe auf Arbeitsplätze, Löhne und Arbeitsbedingungen abzusichern.

Die Arbeiterkontrolle auf der Ebene der Fabrik ist unvollständig, wenn sie nicht auf die gesamte kapitalistische Produktion ausgeweitet wird. Die Kapitalisten halten ihre Geschäftsbücher und Konten streng geheim vor den Arbeitern (wenngleich nicht untereinander). Dadurch täuschen und manipulieren sie die Arbeiterklasse. Wir kämpfen daher gegen den Schwindel des Geschäftsgeheimnisses, für die Öffnung aller Geschäftsbücher der Kapitalistenklasse – ihrer Firmen, ihrer Gesellschaften, ihrer Banken und ihres Staates – und für die Untersuchung durch die Arbeiter und Arbeiterinnen selbst. Das Ziel dieser Kontrolle ist nicht, eine Niederlage zuzugestehen, falls sich dieses oder jenes Unternehmen tatsächlich als bankrott erweist. Der Ruin individueller Kapitalisten ist nicht unsere Schuld. Und auch nicht unsere Sorge. Nein: Die Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses ist darauf ausgerichtet, den Bankrott des gesamten kapitalistischen Systems darzulegen, seinen Betrug und sein Mißmanagement der Wirtschaft, seinen Parasitismus, seine Tendenz, den Reichtum zu vergeuden, den die Arbeiter schaffen, und seine extrem ungerechten Methoden der Verteilung dieses Reichtums.

Aber die seit 1945 stark ausgeweitete Anwendung von Wissenschaft und Technik in der Produktion verlangt immer weiter reichende Formen der Arbeiterkontrolle. Da Wissenschaft und Technik vom Kapital organisiert werden, werden Ziel und Auswirkung der Einführung neuer Technologien immer mehr vor den Arbeitskräften verborgen. Sie erlangen davon nur bei Rationalisierungen, durch Sicherheitsrisiken, bei der Intensivierung der Arbeit und durch die verheerenden Auswirkungen auf die Umwelt Kenntnis. Die Frage der Arbeiterkontrolle über die technische und wissenschaftliche Planung des Staats und der Unternehmer kann sogar eine Frage des Überlebens werden – nicht nur für die Arbeitskräfte, sondern auch für die umliegenden Gemeinden. Das zeigte sich immer wieder, sei es nun in Bhopal oder Tschernobyl. Die Arbeiterkontrolle über den technischen und wissenschaftlichen Apparat bedeutet auch, daß die Arbeiter die Trennung von Hand- und Kopfarbeit überwinden. Ein diesbezüglicher Erfolg wird es ermöglichen, daß technische und wissenschaftliche Arbeiter und Arbeiterinnen dafür gewonnen werden, mit den Fabrikarbeitern in Arbeiterkontrollkomitees zusammenzuarbeiten.

In der imperialistischen Epoche haben die Tendenzen zur verstärkten staatlichen Regulation der Industrie verschiedene Reformisten und Zentristen dazu geführt, alternative Produktionsschemata innerhalb des Kapitalismus zu entwickeln. Die Arbeiter und Arbeiterinnen wurden sogar aufgerufen, unter der Aufsicht reformistischer oder nationalistischer Regierungen bestimmte Unternehmen zu „managen“. Die alternative Planung im Kapitalismus ist aber eine Utopie. Natürlich entwickeln wir in Zeiten tiefer ökonomischer und sozialer Krisen einen Aktionsplan für eine revolutionäre Arbeiterregierung zur Lösung dieser Krisen. Aber selbst der elementarste Plan muß auf der Arbeiterkontrolle über die Produktion im nationalen Maßstab basieren, wenn er einen Fortschritt gegenüber kapitalistischem Chaos und Sabotage bringen soll. Es bedeutet, die Rolle frommer Berater des bankrotten kapitalistischen Systems zu spielen, solch einen Plan vom revolutionären Kampf für Arbeiterkontrolle zu trennen und ein Arbeitermanagement auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft zu befürworten. Die Arbeiterkontrolle ist kein Mittel, eine sozialistische Planwirtschaft durch die Hintertür einzuführen. Sie muß vielmehr den revolutionären Kampf um die Macht in der ganzen Gesellschaft beflügeln und dient so als Voraussetzung des Arbeitermanagements für die Zeit nach dem Sieg der Revolution.

Die reformistisch geführten Gewerkschaften sind bestenfalls nur teilweise dazu geeignet, die Arbeiterkontrolle über die Produktion auszuüben. Die Berufsgruppentrennung in den Fabriken, die oft durch auf dieser Trennung basierende Gewerkschaftsorganisationen wiedergespiegelt und befestigt wird, begrenzt die Fähigkeit dieser Gewerkschaften, die Kontrolle über die Produktion auszuüben. Abgesehen von speziellen Kontrollkommissionen, die ad hoc für bestimmte Ziele eingerichtet werden, ist das Fabrikkomitee die beste Organisationsform, um den Kampf für die Arbeiterkontrolle zu führen. Das Fabrikkomitee ist in der Lage, alle Arbeitskräfte zu vereinigen, diese auf den täglichen Kampf um Kontrolle zu orientieren und die Macht des Managements herauszufordern, indem darin alle Arbeiter und Arbeiterinnen einer Fabrik – unabhängig von Beruf, Abteilung und Gewerkschaftsmitgliedschaft – organisiert werden. Weiters kann das Fabrikkomitee im Kampf für die Umformung der Gewerkschaften in klassenkämpferische Industriegewerkschaften eine Rolle spielen. Das Fabrikkomitee muß direkt-demokratisch aufgebaut sein, das heißt, daß die Delegierten, die auf Abteilungs- und Massenversammlungen gewählt werden, jederzeit abwählbar sind und in täglichem Kontakt mit den Arbeitern und Arbeiterinnen stehen.

Als „inoffizielle“ Organe werden die Fabrikkomitees gleichermaßen von den Bossen und Bürokraten angegriffen und sabotiert werden. Der Grund dieser Feindschaft ist ihre Möglichkeit, Kampforgane des Proletariats zu sein. Die Fabrikkomitees sind (so wie die Fabriksbesetzung) eine Herausforderung für das Recht des Managements auf Leitung, die unantastbare Natur des Privateigentums und für die Macht der Gewerkschaftsbürokratie über die Arbeitenden. Sie etablieren eine Doppelmachtsituation in der Fabrik, und ihre Existenz stellt die Frage: Wer herrscht in der Fabrik – die Arbeitenden oder die Bosse? Daher sind sie für Perioden intensiven Klassenkampfes charakteristisch. Und genauso wie die Doppelmacht in der Gesellschaft nicht für längere Zeit aufrechterhalten werden kann, kann sie dies auch in der Fabrik nicht. Das Fabrikkomitee ist gezwungen, den Kampf für Arbeiterkontrolle immer kühner voranzutreiben. Wenn das nicht der Fall ist, riskiert es seinen Zerfall oder seine Vereinnahmung.

In Österreich und Deutschland entstanden nach dem ersten Weltkrieg Fabrikkomitees als Kampforgane. Aber die Niederlage der Revolution führte zur Umwandlung dieser Komitees in Organe der Kollaboration mit den Bossen. Diese Komitees werden von der Gewerkschaftsbürokratie und der Bourgeoisie als Stützen des sozialen Friedens verwendet. Diese Erfahrung zeigt gerade die Gefahr der Vereinnahmung auf, wenn sich das Fabrikkomitee nicht in revolutionäre Richtung entwickelt. Wo keine Fabrikkomitees existieren, müssen sie von Anfang an als Kontrollorgane der Arbeiterinnen und Arbeiter aufgebaut werden. Wo sie als Organ bürokratischer Kontrolle existieren, müssen sie zur Gänze transformiert werden, um die Rolle von Arbeiterkontrollorganen zu spielen.

Verteidigt die Umwelt durch Arbeiterkontrolle

Alle Produktionsweisen haben zur Störung der Umwelt geführt. Der Kapitalismus aber hat in der imperialistischen Epoche eine Zerstörung auf einer qualitativ neuen Stufe möglich gemacht. Die kapitalistische Produktionsweise hat ein Umweltproblem hervorgebracht, das sowohl physische Beschädigungen (an lebenden Organismen, Ökosystemen und der Ozonschicht) als auch die daraus folgenden sozialen und psychischen Auswirkungen für die Menschen einschießt (Krankheit, Hunger, psychischer Streß). Die Verbindung von wissenschaftlichem und technischem Fortschritt hat die Möglichkeit von Überfluß für die gesamte Menschheit hervorgebracht. Aber das nach wie vor bestehende Privateigentum an den Produktionsmitteln führte im Kontext einer von den imperialistischen Mächten beherrschten Welt zu einer vierfachen Bedrohung der Menschheit: Sie wird durch einen möglichen Nuklearkrieg von ihrer vollständigen Ausrottung bedroht; das Regenerationsvermögen der natürlichen Umwelt wird durch die rücksichtslose Zerstörung lebenswichtiger Teile des Ökosystems aufs Spiel gesetzt; die Bevölkerung wird durch die unzureichende Kontrolle der Anwendung gefährlicher Substanzen und Prozesse gefährdet; die sozialen Folgen der weltweiten Arbeitsteilung des Imperialismus trieben Millionen in den Hungertod und machten die Verstädterung zur ökologischen Gefahr.

In den degenerierten Arbeiterstaaten hat die Herrschaft der Bürokratie zu ähnlichen Konsequenzen geführt. Diese Kaste greift auf Produktionsmethoden zurück, die auf eine kurzfristige Maximierung des Outputs ausgerichtet sind. Die langfristigen Auswirkungen auf die Umwelt bleiben unberücksichtigt. Ähnlich der Bourgeoisie hat auch die Bürokratie die Wissenschaften weiterentwickelt. Aber sie steht ihren Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der Massen und den Folgen ihrer Anwendung auf die Produktion gleichgültig gegenüber. Auch in den degenerierten Arbeiterstaaten erfordert ein grundlegender Fortschritt auf diesem Gebiet den Sturz der herrschenden Macht.

Obwohl das Proletariat und die kleinen Bauern am meisten unter den zerstörerischen Folgen des Kapitalismus litten und leiden, waren es Teile des städtischen Kleinbürgertums und der Intelligenz in den imperialistischen Ländern, die die gegenwärtige Gefahr als erste in größerem Maßstab erkannten. Seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre vervielfachte sich die Anzahl von Ein- Punkt-Kampagnen beispielsweise in der BRD und in Österreich, aber später auch in Frankreich und Italien. Diese mündeten schließlich in eine breite Ökologiebewegung. Diese Bewegungen waren vorwiegend vom Kleinbürgertum getragen. Erstmals wurden ihre Wohngegenden, ihre Kinder und ihre Gesundheit bedroht. Aufgrund ihrer sozial und kulturell privilegierten Position waren sie in der Lage, die Umwelt zum politischen Thema zu machen. Einige von ihnen beleuchteten sogar die Folgen für die halbkolonialen Ländern. Die Politik dieser kleinbürgerlichen Schicht war zwar begrenzt, aber fortschrittlich, da sie das Problem der Umweltzerstörung in einer systematischen Form stellte. Sie führte Massenmobilisierungen durch und die Ökologie-Frage gewann als deren Folge erstmals Einfluß auf das öffentliche Bewußtsein. Außerdem gelang es ihnen, eine bedeutende Anzahl von qualifizierten und gut bezahlten Arbeitern und Arbeiterinnen einzubeziehen. Die großteils utopischen, sogar offen reaktionären Antworten dieser Bewegungen ändern nichts an der fortschrittlichen Rolle, die sie angesichts reformistisch dominierter Arbeiterorganisationen spielten, die in dieser Frage selbstzufrieden an der Seite ihrer Bourgeoisie standen.

Die von den Umweltschützern vorgeschlagenen Lösungen griffen weder die Herrschaft des Privateigentums an Produktionsmitteln noch die des bürgerlichen Staates an. Das spiegelt die soziale Lage des Kleinbürgertums und der Intelligenz wider. Die von ihnen vorgeschlagenen Strategien und Taktiken waren – abgesehen von ihrer häufigen Ineffektivität – auch Ablenkungen von der notwendigen Aufgabe, die soziale und ökonomische Macht der Arbeiterklasse zu mobilisieren. Aber wo diese Bewegungen Mobilisierungen initiierten, die die Interessen der Arbeiterklasse verteidigen oder vorantreiben, dort sind gemeinsame Aktionen der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen mit diesen kleinbürgerlichen Bewegungen notwendig. Unser Ziel ist, deren fortgeschrittenste Elemente für eine proletarische Orientierung zu gewinnen und folglich die kleinbürgerliche Bewegung zu spalten.

Die Arbeiterklasse hat ein lebendiges Interesse daran, die Gefährdung der Umwelt durch den Imperialismus zu bekämpfen. Während seiner ganzen Geschichte hat das Proletariat für den Stopp gefährlicher Produktionsmethoden und den Kapitalisten die Einführung von Sicherheitsstandards aufgezwungen. Die Arbeiterklasse hat dadurch in diesen Bereichen Ziele verwirklicht, die zur Schaffung einer bewohnbaren Umwelt für die Lohnabhängigen führte. Wiewohl dieser Kampf fortgesetzt und intensiviert werden muß, kann er niemals dauerhaft gewonnen werden, ohne den Kapitalismus selbst zu stürzen. Die erfolgreichsten Kampfmethoden – selbst für unmittelbare Verbesserungen – sind die Methoden des Klassenkampfes, sei es auf lokaler, nationaler oder internationaler Ebene. Trotz der häufigen Gleichgültigkeit der momentanen Gewerkschaftsführung ist es entscheidend, daß der Kampf für eine proletarische Antwort auf die Umweltfrage in die Massenorganisationen der Arbeiterklasse getragen wird. Das ist ein integraler Bestandteil des Kampfes, den Reformisten die Gewerkschaftsführung zu entreißen. Um sicherzustellen, das die Arbeiter und Arbeiterinnen Zugang zur Beratung mit unabhängigen Experten und Expertinnen haben, fordern wir die Bildung von Beratungskommissionen für Umweltschutz- und Sicherheitsbelange in den Gewerkschaften.

Gegen gefährliche Prozesse und Praktiken in den Werken kämpfen wir dafür, daß Fabrikkomitees und Gewerkschaften ein Veto einlegen und die Einführung von sichereren Technologien oder Arbeitsbedingungen auf Kosten des Profits überwachen. Wo die Gefahr über das Unternehmen hinausgeht, treten wir für die direkte Aktion der Arbeiter und Arbeiterinnen des Werks und der örtlichen Gemeinde mit dem Ziel ein, die Regierung zu zwingen, die Verwendung sichererer Methoden und Materialien vorzuschreiben. Wo die Bosse oder ihr Staat die Gefahr leugnen oder wirtschaftliche Rentabilität zur Verteidigung gefährlicher Fabriken ins Treffen führen, rufen wir zur Offenlegung aller relevanten Geschäftsbücher und Protokolle für eine Arbeiteruntersuchung auf. Wir weisen die Forderung nach unmittelbarer Schließung aller Atomkraftwerke zurück. Das heißt aber nicht, daß wir die Gefahren ignorieren, die Atomkraftwerke verursachen. Der Forderung nach unmittelbarer Schließung stellen wir die nach einer Untersuchung durch die Arbeiter oder durch von ihnen ausgewählte Repräsentanten gegenüber. Die revolutionäre Partei präjudiziert die Entscheidung einer solchen wissenschaftlichen Untersuchung nicht. Wir unterstützen die Mobilisierung der Arbeiterklasse zur Forderung und Durchsetzung der Schließung, wo eine Arbeiteruntersuchung oder eine Kommission der Arbeiterbewegung die Schließung empfiehlt oder wo akute und unmittelbare Gefahr gegeben ist. In diesen Fällen fordern wir die Erhaltung des Lebensstandards der dortigen Arbeitskräfte durch den Staat.

Wir kämpfen für Arbeiterkontrolle über Forschung und Planung der wissenschaftlich-technischen Institutionen der Unternehmen und des Staates. Das beinhaltet die Offenlegung der Art der Forschungs- und Entwicklungsprojekte und die Formulierung von darauf bezüglichen Gesundheits- und Sicherheitsforderungen. Weiters kann es auch bedeuten, im Zusammenhang mit einem Programm gesellschaftlich nützlicher, öffentlicher Arbeiten andere Forschungsziele durchzusetzen.

Für das Proletariat erschöpft sich die Ökologiefrage nicht in einem Kampf um vorbeugende Maßnahmen. Vieles wurde bereits zerstört und muß wiederhergestellt werden. Wir fordern daher, daß die Wiederherstellung einer lebenswerten Umwelt einen zentralen Platz im Rahmen eines Programms gesellschaftlich nützlicher gesellschaftlicher Arbeiten einnimmt. So ist die Gewährleistung angemessene sanitärer Anlagen und sauberen Trinkwassers eine brennende Notwendigkeit für Millionen Slumbewohner. Integrierte regionale Wiederherstellungsprogramme sind in großen Teilen Afrikas, die in den letzten Jahren in Wüsten verwandelt wurden, dringend notwendig. Große Mittel müssen für die Konstruktion von Hochwasserdämmen in den Monsungebieten der Erde verwendet werden. Die Bourgeoisie muß gezwungen werden, die in diesen Programmen vorgesehenen notwendigen Reparaturen durchzuführen.

Zahlreiche Gefahren können nicht auf der Ebene der Veränderung oder Schließung einzelner Produktionsstätten gelöst werden. Luft- und Wasserverschmutzung, Zerstörung ganzer Ökosysteme durch Abholzung oder Monokulturen oder die vollständige Auslaugung natürlicher Ressourcen sind oft internationale Erscheinungen, auch wenn ihre Auswirkungen anfangs meist in einzelnen Ländern bemerkbar sind. Auf nationaler und internationaler Ebene treten wir für die Einführung gesetzlicher Sicherheitsstandards für die Umwelt ein – aber wir kämpfen für diese mit den Methoden des proletarischen Klassenkampfes und wir vertrauen den internationalen Agenturen des Imperialismus in keiner Weise, wenn es darum geht, diese Standards, selbst wenn sie eingeführt würden, durchzusetzen. Keine dieser Forderungen kann dauerhaft verwirklicht werden, ohne daß das Proletariat die politische und ökonomische Macht von den Kapitalisten errungen und eine demokratische internationale Planung etabliert hat. Nur auf diesem Weg kann der Gegensatz von Stadt und Land aufgehoben und die menschliche Produktion mit der Natur ausgesöhnt werden.

Enteignung und Nationalisierung

Das sozialistische Programm tritt für die vollständige Enteignung der Kapitalistenklasse, die Zerschlagung ihres Staates und die Etablierung der Arbeitermacht ein. In der imperialistischen Epoche wurde eine ganze Reihe staatskapitalistischer Verstaatlichungen entweder durch „konsensuale“ konservative und reformistische Regierungen in den imperialistischen Nationen oder durch nationalistische Regierungen in den Halbkolonien durchgeführt.

Im ersten Fall sind die staatskapitalistischen Nationalisierungen generell im Interesse der gesamten Kapitalistenklasse. Sie gewährleisten die Fortführung notwendiger wirtschaftlicher Bereiche, die für die individuellen Kapitalisten zu wenig profitabel sind. Diese stellen anderen Teilen der Wirtschaft üblicherweise Produkte und Leistungen zu geringen Kosten zur Verfügung. Sie sind auch eine Möglichkeit, bankrotte und schlechte Manager, die für ihre Inkompetenz mit ungeheuren Entschädigungen bezahlt werden, abzusichern.

In den Halbkolonien war die Verstaatlichung eine Methode, durch die eine schwache oder embryonale Bourgeoisie die Mittel zur Kapitalakkumulation, die zuvor in den Händen des Imperialismus waren, konzentrierte. Das war für das Wachstum der nationalen Bourgeoisie notwendig.

Obwohl diese oder jene Verstaatlichung einen Schlag gegen den Imperialismus bedeuten mag (Nasser in Ägypten, die Verstaatlichungen der Kupferminen in Chile unter Allende) oder Zugeständnisse an die Massen darstellen können, so führen sie keineswegs zur Enteignung des Kapitalismus. Vielmehr wird die Herrschaft der Kapitalistenklasse in einem bestimmten Sektor oder mehreren Sektoren der Wirtschaft durch den kapitalistischen Staat ausgeübt. Die Verstaatlichungen verführen die Massen zu dem Glauben, daß ihnen dieser oder jener Teil der Ökonomie „gehört“, obwohl diese Nationalisierungen nur eine betrügerische Methode der Verwaltung des Kapitalismus, nicht aber seines Sturzes ist. Gleichzeitig werden die Arbeiter und Arbeiterinnen staatlicher Unternehmen daran gehindert, irgendeine Kontrolle über die Produktion auszuüben.

Wo die Arbeiter und Arbeiterinnen aufgerufen werden mitzuverwalten, dient dies generell dazu, den Fortbestand der Unternehmen zu sichern oder das bürgerliche Regime zu retten, das die Verstaatlichungen durchgeführt hat, und sich in einem, wenngleich nur zeitweiligen Konflikt mit dem Imperialismus befindet (Mexiko in den 30er Jahren, Bolivien in den 50er Jahren). Dasselbe gilt für Managementbeteiligungen der Arbeiter und Arbeiterinnen in den kränkelnden Industrien und Werken. Dabei beuten sie sich oft unter der Maske von „Kooperativen“ selbst aus; sie werden gezwungen, beständig Lohnforderungen zurückzunehmen und Lohneinbußen hinzunehmen, um die Arbeitsplätze zu erhalten. Sobald diese verstaatlichten Sektoren wieder profitabel sind, kennt der kapitalistische Staat keine Gewissensbisse, wenn er die einst nationalisierten Unternehmen zu Schleuderpreisen an Privatkapitalisten zurückgibt (Ägypten unter Sadat, Britannien unter Thatcher). Die Reformisten und Nationalisten werden keinerlei ernsthafte Aktion setzen, um diese Übergaben zu verhindern.

Trotz unserer Kritik an bürgerlichen Verstaatlichungen, stellt die Privatisierung, wie sie immer wieder von den Bossen versucht wird, einen Rückschritt dar, der auf Kosten der Arbeiterklasse durchgeführt wird. Das Proletariat wird dabei gezwungen, die Kosten der Privatisierung durch Arbeitslosigkeit und Lohneinbussen direkt zu bezahlen. Im allgemeinen gehen sie auf Kosten von Sozialleistungen, gewerkschaftlicher Organisations- und Mitspracherechte. Die Arbeiterklasse zahlt die Privatisierungen auch indirekt durch die Steuern, die ursprünglich für die Verstaatlichungen aufgewandt wurden. Wenn diese Unternehmen wieder verkauft werden, erhält die Arbeiterklasse im Gegensatz zu den ehemaligen Eigentümern, die für die Nationalisierung Entschädigungen erhielten, keine solchen von den neuen Bossen. Schließlich wird, allgemein gesprochen, die Aufgabe des Übergangs zum Sozialismus durch die Existenz privater Unternehmen erschwert.

Obwohl wir diese verstaatlichten Industrien nicht als sozialistische betrachten, bedeutet die Zentralisation in den Händen des Staates einen klaren Vorteil für einen Arbeiterstaat in der Übergangsepoche. Wir fordern daher von den Reformisten und Nationalisten in der Regierung, die behaupten, daß sie gegen Kapitalismus und Imperialismus seien, daß sie alle privaten Industrien ohne Entschädigung und unter Arbeiterkontrolle wieder verstaatlichen.

Im Gegensatz zu den Reformisten und Nationalisten und ihren Sonntagsreden treten wir für die Enteignung ein. Die Arbeiterklasse benötigt die politische Macht, um die ökonomische Herrschaft der Kapitalistenklasse zu zerstören. Trotzdem argumentieren wir schon heute für die unmittelbare Enteignung unter Arbeiterkontrolle und ohne Entschädigung für die Bosse, wo sie ein Werk oder eine ganze Industrie schließen wollen. Eine Verstaatlichung, die auf dieser Basis durchgeführt wird, zwingt alle Unternehmer, vermittelst des Staates, für die Krise ihres Systems zu zahlen. Wir schrecken auch nicht davor zurück, zur Enteignung ganzer Sektoren der Industrie oder der Infrastruktur (Transport, Energie und Trinkwasseraufbereitung) aufzurufen, um die Anarchie der kapitalistischen Produktion zu bekämpfen. Jeder Erfolg, den die Arbeiter durch das Erzwingen solcher Enteignungen machen, stellt sie vor die Notwendigkeit der Enteignung weiterer Teile der Wirtschaft, um die kapitalistische Sabotage der von den Arbeitern kontrollierten Industrien zu verhindern. Um das Monopol des Großkapitals über Information und Propaganda durch die sogenannte ‚freie Presse‘ zu brechen, stellen wir die Losung der Verstaatlichung der Zeitungs- und Fernsehgesellschaften und der anderen Medien unter Arbeiterkontrolle und ohne Entschädigung für die Medienbarone auf. Diese Maßnahme ist weit davon entfernt, eine freie Presse zu verhindern. Im Gegenteil: Sie ermöglicht den Arbeitern, die Kapitalisten am Verbreiten von Lügen, von Attacken auf Kämpfe der Arbeiter und von ekelhafter sexistischer, rassistischer und homosexuellenfeindlicher Propaganda zu hindern. Gleichzeitig verteidigen wir das Recht der Arbeiterorganisationen und ihrer politischen Parteien, ihre eigene Presse unabhängig von staatlicher Kontrolle zu organisieren.

Obwohl die Enteignung des gesamten Kapitals das strategische Ziel der Arbeiterklasse ist, muß das Proletariat der taktischen Wichtigkeit der Neutralisierung bestimmter Kleinkapitalisten und kleinbürgerlicher Eigentümer Rechnung tragen. Daher soll diese Schicht, die in den Halbkolonien oft zahlenmäßig sehr bedeutend ist, von ihren drückenden Schulden ans Finanzkapital befreit werden. Das Maß der Enteignung großer und kleiner Kapitale wird in einem jungen Arbeiterstaat einerseits durch den Rhythmus des Klassenkampfs im Land und international bestimmt und andererseits durch den Grad der Enteignungen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt zum Brechen des kapitalistischen Widerstands und zur Sicherung der ökonomischen Entwicklung notwendig sind. Analog dazu und vorausgesetzt, daß es möglich ist, können Entschädigungen an Kleinkapitalisten und kleinbürgerliche Investoren bezahlt werden, wenn das dazu beiträgt, diese Schichten zu neutralisieren.

Die Enteignung eines Teils der Industrie bringt die Arbeiter und Arbeiterinnen in Konflikt mit den Banken und Finanzhäusern, die den Geld- und Kreditfluß kontrollieren. Das wirtschaftliche Regime dieser Parasiten ruiniert nicht nur die Arbeiter, sondern auch Teile des städtischen Kleinbürgertums und der Bauern. Gegen ihre Sabotage treten wir für die Enteignung der Banken und Finanzhäuser ein. Nur dadurch können die Kredite für die Bauern und Bäuerinnen billiger gemacht werden. Nur dadurch können die bedeutendsten Rechnungsbücher der Gesellschaft für die aufmerksamen Augen der Arbeiter und Arbeiterinnen geöffnet werden. Nur so können die in zahlreichen unterdrückten Ländern angehäuften Schulden gestrichen werden, ohne eine plötzliche wirtschaftliche Erschütterung zu riskieren. Nur so können die Massen Schritte ergreifen, um die Plage der Hyperinflation zu beenden. Die Arbeiterkontrolle über die Banken und Finanzhäuser wird auch gewährleisten, daß die kleinen Sparer, die proletarischen Eigenheimbesitzer und die kleinen Bauern von den gierigen Finanziers nicht ausgepreßt werden.

Die Enteignung von Industriesektoren, der Banken und Finanzhäuser stellt einen Übergang zur vollständigen wirtschaftlichen Vernichtung der Kapitalistenklasse dar. Nur dann wird wirkliche Planung möglich sein, d.h. Produktion für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und nicht für den Profit. Die Ungleichgewichte zwischen einzelnen Teilen der Industrie, die für das System des Privateigentums charakteristisch sind, werden auf fortschrittliche Weise überwunden. Dasselbe gilt für die Gesellschaft, in der ständige Überproduktion mit unbefriedigten Bedürfnissen einhergeht, da nützliche Güter unverkauft bleiben, wenn sie keinen Profit erzielen. Doch die Enteignung der Kapitalistenklasse wird nur dann die Grundlage für eine sozialistische Planung sein können, wenn die Staatsmacht vollständig von den Händen der Kapitalisten und der stalinistischen Bürokratie in die der Arbeiter und Arbeiterinnen übergeht.

Von der Verteidigung der Streikposten zur Arbeitermiliz

Alle entscheidenden Konflikte in der Geschichte wurden letztendlich mit Waffengewalt entschieden. Die Reformisten, die über einen friedlichen Weg zum Sozialismus blöken, sind entweder naive Narren, die sich nicht bewußt sind, wie Geschichte „gemacht“ wird, oder zynische Diener der Bourgeoisie. Keine herrschende Klasse ist jemals kampflos von der Bühne der Geschichte abgetreten. Das Proletariat ist die einzige Klasse in der Geschichte, die ein Interesse an der Abschaffung aller Klassen hat. Um dies zu erreichen, muß es durch einen bewaffneten Aufstand seine Diktatur über die Ausbeuter errichten. Die Vorbereitung der Arbeiterklasse für den Aufstand durchläuft eine Reihe von Forderungen und Aktionen, die sich alle auf die Verteidigung der Arbeiterkämpfe und die Destabilisierung und Zerstörung der bürgerlichen Staatsgewalt konzentrieren.

Seit Beginn der kapitalistischen Gesellschaft wurde der Arbeiterklasse mit Gewalt entgegengetreten, wenn sie versuchte, für ihre Rechte am Arbeitsplatz zu kämpfen. Angesichts solcher Angriffe entwickelte sie ihr eigenes Mittel zur Verteidigung: die Streikpostenkette. Aus diesem Grund versucht der bürgerliche Staat diese auf einen ineffektiven Protest zu beschränken. Andererseits haben Arbeiter, die ernsthaft siegen wollen, versucht, aus den Streikposten eine Massenkraft zu machen, welche in der Lage ist, Streikbrecher, Firmengangster und ebenso die Staatspolizei zu verjagen. Aber egal wie groß sie ist, die Streikpostenkette ist unzureichend, sowohl um ihre unmittelbaren Ziele gänzlich durchzusetzen, als auch für die ausreichende Verteidigung der kämpfenden Arbeiter. Die Arbeiter müssen in jedem Kampf ihre eigene Verteidigung organisieren und so die Basis für die Arbeitermiliz zu schaffen.

Der erste Schritt dazu ist die Verteidigung der Streikpostenkette und der Fabriks- oder Landbesetzung. Jedesmal, wenn Arbeiter oder arme Bauern versuchen, ihren Willen durchzusetzen, wird ihnen mit Repression entgegengetreten. Die Agenten solch einer Repression variieren je nach Ort und Umständen. Aber gleichgültig, ob die Streikbrecher und ihre Drahtzieher die Polizei (wie in Westeuropa), die Armee (wie in vielen Halbkolonien) oder bezahlte Gangster und „Nationalgardisten“ (wie in den USA) sind, ihre Funktion ist die physische Zerschlagung der Streikpostenkette der Arbeiter und Arbeiterinnen. Unter Bedingungen extremer Krisen wird die Bourgeoisie Zuflucht zu faschistischen Banden nach dem Modell der „Schwarzhemden“ Mussolinis oder der „Braunhemden“ Hitlers nehmen oder zu geheimen „Todesschwadronen“, die mit den Streitkräften verbündet sind, um nach und nach die Kampfkraft der Arbeiterklasse zu brechen.

Die Streikbrecher lassen sich selbstbewußt auf diese Auseinandersetzung ein, weil sie wissen, daß sie das ganze Gewicht des bürgerlichen Staates hinter sich haben. Jedoch stehen ihre Erfolge in direktem Verhältnis zum Mangel an Organisation innerhalb der Arbeiterklasse und armen Bauernschaft. Besondere Einheiten von Streikenden, unterstützt von den Massen, aber speziell zum Zweck des bewaffneten Kampfes ausgebildet, können das Selbstvertrauen der Streikbrecher zerstören und diesen Mob in die Flucht schlagen. So kann die Streikpostenkette von einer bloßen Scheingeste oder einer schlecht organisierten Demonstration in eine disziplinierte und effektive Abteilung der proletarischen Armee umgewandelt werden. Damit können auch die ersten Elemente einer Arbeitermiliz versammelt werden. In allen Phasen dieses Kampfes sind wir für die Mobilisierung und Ausbildung von proletarischen Frauen, so daß jene eine vollwertige Rolle in den militärischen Organisationen der Arbeiterklasse spielen können.

Natürlich muß der Aufbau einer solchen Organisation mit der gebührenden Rücksichtnahme auf das vorhandene Bewußtsein der Massen und ihr erreichtes Niveau der Organisierung durchgeführt werden. Im Falle eines Streikes oder einer Besetzung sind Verteidigungstrupps notwendig. Sogar in „friedlichen“ Perioden des Klassenkampfes erkennen wir die Notwendigkeit, junge Kämpfer der Arbeiterklasse für die zukünftigen Auseinandersetzungen zu trainieren, und benutzen dazu alle möglichen Mittel und Organisationen. Aber unter keinen Umständen darf diese Aufgabe aufgeschoben werden. Verzögerung führt zur Niederlage – und die Niederlage zum Weiterbestand der Klassengesellschaft.

Für die Zerschlagung der bewaffneten Staatsmacht

Allein wird die Arbeitermiliz nicht in der Lage sein, die Macht des bürgerlichen Staates zu zerschlagen. Die bewaffneten Streitkräfte der herrschenden Klasse müssen sowohl von innen als auch von außen gebrochen werden. Jede revolutionäre Situation hat gezeigt, daß in einer entscheidenden Auseinandersetzung mit der Arbeiterklasse Teile der bewaffneten Streitkräfte (Polizei, Armee, Marine, Luftwaffe) schwankten und mit ihren kapitalistischen Auftraggebern brachen.

Das Wesen der Streitkräfte und Polizeiorganisationen ist in vielen Teilen der Welt unterschiedlich. Normalerweise bilden die Polizeikräfte den alltäglichen Repressionsapparat des kapitalistischen Staates. In Notfällen, in Situationen von Kriegsrecht und unter Militärregierungen wird auch die Armee die direkt repressive Rolle spielen. Deshalb stellen wir uns überall jener utopischen Idee entgegen, daß diese Organe bewaffneter Männer und Frauen demokratisiert, in eine neutrale Kraft oder in einen Verbündeten der Arbeiterklasse umgewandelt werden können. Sie müssen zerschlagen und durch eine Volksmassenmiliz auf der Grundlage der Arbeiter und armen Bauern ersetzt werden.

Jedoch erfordert die Verschiedenheit in Zusammensetzung und Organisation der Streitkräfte (Berufsheer oder allgemeine Wehrpflicht, arme bäuerliche oder proletarische Rekruten) verschiedene Taktiken, um sie zu zerbrechen. Aber alle diese Taktiken zielen darauf ab, die Kette zwischen Kommando und Gehorsam zu destabilisieren und zu sprengen. Zu diesem Zweck treiben wir den Klassenkampf innerhalb des Militärs voran. Das Offizierscorps bildet eine absolut unreformierbare und hingebungsvolle Vorhut der herrschenden Klasse gegen das Proletariat. Die Arbeiter müssen dafür kämpfen, die niederrangigen Soldaten und Unteroffiziere gegen die Autorität, die Privilegien und die Korruption dieser Kaste zu organisieren. Um diese Arbeit anzuleiten, bemühen wir uns, (geheime) kommunistische Zellen in den Streitkräften aufzubauen, welche an die einfachen Soldaten gerichtete Bulletins herausgeben.

Genauso wichtig wie die Untergrabung der Disziplin ist, daß Kommunisten und Kommunistinnen den berechtigten Groll der einfachen Soldaten unterstützen. Nur auf einer solchen Basis können wir hoffen, die repressive Rolle der Streitkräfte zu unterminieren und die einfachen Soldaten dazu zu gewinnen, sich mit der Arbeiterklasse zu solidarisieren, indem sie zum Beispiel ablehnen, Demonstrationen und Streikposten anzugreifen, oder sich weigern, Gefangene zu foltern. Deshalb fordern wir das Recht für die einfachen Soldaten und Polizisten, Gewerkschaften und politische Organisationen zu gründen, politische Literatur in Umlauf zu bringen und zu streiken.

Obwohl es nicht unsere Aufgabe ist, höhere Löhne oder bessere Bedingungen für die Armee oder Polizei des kapitalistischen Staates zu verfechten, unterstützen wir die Kämpfe der unteren Ränge, wo diese sie in einen fortschrittlichen Konflikt mit dem kapitalistischen Staat bringen. Zu diesem Zweck kämpfen wir für das Ende des Kasernierungssystems und für die Wahl aller Offiziere durch die niederen Ränge. Wir kämpfen für Tribunale dieser unteren Ränge, um Offiziere vor Gericht zu stellen, die der Brutalität, der Korruption, der Verschwörung und reaktionärer Anschläge bezichtigt werden. In vorrevolutionären Situationen agitieren wir dafür, daß die Soldaten Räte bilden und Delegierte zu den lokalen, regionalen und nationalen Räten der Arbeiter und Bauern schicken.

Solange jedoch die Polizei, die Gefängniswärter und die Armee unter dem ungebrochenen Kommando des bürgerlichen Staates bleiben, kommt es überhaupt nicht in Frage, ihren Gewerkschaften oder Organisationen Zutritt in die Reihen der Arbeiterbewegung einschließlich ihrer nationalen oder lokalen Gewerkschaftsverbände zu gewähren.

Im Kampf um die Zerstörung der bürgerlichen Streitkräfte gehen wir vom Grundsatz aus: Keinen Groschen, keine Person für dieses System! Wir verurteilen alle Arbeitervertreter, die für Militärbudgets oder Kriegskredite unter dem Vorwand der Verteidigung der Nation stimmen. Daraus folgt, daß wir gegen die Einberufung junger Arbeiter in das Heer der Bourgeoisie sind. Wir sind gegen die Einführung der Wehrpflicht und ihre Existenz. Aber wir sind dies nicht vom Standpunkt des Pazifismus aus. Wir sind für das Recht und die Möglichkeit aller, militärische Fertigkeiten zu lernen und Waffen zu tragen. Dies schließt das Recht der Frauen auf militärische Ausbildung in bürgerlichen Armeen ein. Nieder mit dem Monopol der Kapitalisten auf Gewaltmittel! Militärische Ausbildung sollte am Arbeitsplatz und in Gemeinschaften der Arbeiterklasse organisiert werden, unter Gewerkschaftskontrolle und in Verbindung mit Soldatenkomitees.

Wir unterstützen das Recht von einzelnen, sich zu weigern, zu den Streitkräften einberufen zu werden, aber solch einen Schritt zu propagieren, ist ein Akt von kleinbürgerlichem Pazifismus. Revolutionäre Kommunisten und Kommunistinnen gehen in die Armeen, wo auch die Arbeiter zu finden sind, und arbeiten für die Revolution von innen her. Wo es Massenbewegungen gegen einen reaktionären imperialistischen Krieg gibt, die unter pazifistischer oder reformistischer Führung stehen, geben wir diesen kritische Unterstützung, insofern sie die Kriegsbemühungen behindern oder sabotieren. Aber wir betonen, daß Militärdienstverweigerungen die Bourgeoisie niemals ihrer bewaffneten Macht berauben werden.

Gegen bürgerlichen Militarismus, gegen imperialistischen Krieg!

Das Proletariat ist eine internationale Klasse, die keinerlei Interesse an der Verteidigung des bürgerlichen Nationalstaates hat. Deshalb müssen die Arbeiter und Arbeiterinnen in den imperialistischen Ländern in ihrem Defätismus unerschütterlich sein. Die leninistische Position, die zwischen 1914 und 1918 entwickelt wurde, behält vollständig ihre Gültigkeit. Revolutionärer Defätismus basiert auf dem Prinzip, daß der Hauptfeind der Arbeiterklasse die Bourgeoisie des eigenen Landes ist. Die Niederlage der „eigenen“ imperialistischen Bourgeoisie infolge des revolutionären Kampfs der Arbeiterklasse um die Macht ist ein geringeres Übel als ihr Sieg infolge von Klassenkollaboration und des Verzichts auf die proletarische Unabhängigkeit während des Krieges. Die Sozialchauvinisten, die Partei für den sozialen Frieden ergreifen, werden argumentieren, daß sich die Arbeiter und Arbeiterinnen während eines Krieges den Notwendigkeiten der „Nation“ beugen sollten, indem sie die Produktion beschleunigen und gesetzliche Beschränkungen des Streikrechts akzeptieren.

Wir müssen jedoch gegen eine Beteiligung der Arbeiterklasse an den Kriegsbemühungen kämpfen. Die Arbeiterorganisationen müssen den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg verwandeln. Angesichts eines Krieges gegen eine Halbkolonie oder einen Arbeiterstaat müssen die Arbeiter dem Feind des Imperialismus Solidarität und Hilfe geben. In einem Konflikt mit einem Arbeiterstaat, egal wie degeneriert dieser ist und welche militärischen Waffen in diesem Konflikt angewendet werden (nukleare, biologische, chemische oder konventionelle Waffen), müssen ihn die Arbeiter gegen den imperialistischen Angriff verteidigen.

Außerhalb der imperialistischen Länder ist verallgemeinerter Defätismus nicht in jedem Konfliktfall die richtige Methode. Die konkreten Bedingungen werden verschieden sein, und die revolutionäre Avantgarde wird entweder für Defätismus oder für Verteidigung kämpfen müssen, was primär vom Charakter der kriegführenden Staaten abhängig ist. Innerhalb von Halbkolonien oder degenerierten Arbeiterstaaten, welche sich in Konflikt mit dem Imperialismus befinden, muß das Proletariat eine Verteidigungsposition beziehen. In Anbetracht von Kriegen zwischen Halbkolonien (Indien-Pakistan) oder zwischen degenerierten Arbeiterstaaten (China-Vietnam) sollten die Arbeiter auf beiden Seiten generell eine defätistische Position einnehmen, außer es ist der Fall, daß eine Seite ein Handlanger des Imperialismus ist und daß das internationale Proletariat durch den Sieg einer Seite gestärkt würde.

Das Proletariat verteidigt die Halbkolonien und Arbeiterstaaten nicht mit den gleichen Methoden wie die Bourgeoisie oder die Bürokratie. Die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse ist notwendig, um internationale Solidarität und die Niederlage der Imperialisten zu sichern. Selbst wo sich eine imperialistische Macht in einem militärischen Bündnis mit einem Arbeiterstaat befindet, behält das Proletariat in jenem imperialistischen Land seine defätistische Position bei und sollte unter keinen Umständen den Klassenkampf aussetzen. Nur wo die Fortführung einer bestimmten Aktion im Klassenkampf die Kriegsbemühungen des Arbeiterstaates direkt behindert, würde das Proletariat seine Aktion unterbrechen. Aber keinesfalls würde solch ein Ausnahmefall einen Aufschub der Politik des Defätismus in Bezug auf den imperialistischen Krieg und die kapitalistische Klasse signalisieren.

Die Existenz riesiger Arsenale atomarer Sprengköpfe, biologischer und chemischer Waffen, die in der Lage sind, die Menschheit mehrfach zu vernichten, erzeugen berechtigte Angst im Herzen von Millionen. Angesichts dieser Bedrohung predigen die sozialdemokratischen und stalinistischen Reformisten der Arbeiterklasse von weltweiter Abrüstung und der Verbannung des Krieges von der Erde. Es geht aber nicht abstrakt um die Frage der Abrüstung, sondern darum, wer entwaffnet werden soll und mit welchen Mitteln. Die Bourgeoisie wird nie kampflos ihre Waffen aufgeben. Sie muß vom revolutionären Proletariat gewaltsam entwaffnet werden. Indem versucht wird, die Arbeiter und Teile eben jener Bourgeoisie in einer Abrüstungskampagne zu vereinigen, wird die Illusion geschürt, daß die Herrschenden überzeugt werden könnten, jene Waffen aufzugeben, die sie zur Verteidigung ihres Monopols auf die Produktionsmittel besitzen. Tatsächlich gehen die ausgehandelten Abkommen zwischen den Imperialisten und den degenerierten Arbeiterstaaten, bestimmte Waffentypen zu reduzieren, Hand in Hand mit neuen Aufrüstungsrunden. Wie vor den beiden Weltkriegen können internationale Friedenskonferenzen ein Vorspiel des Krieges sein, indem sich jede Seite damit beschäftigt, propagandistische Schliche auszuarbeiten, welche die gegnerische Seite als den Feind des Friedens darstellen.

Wo immer jedoch die Pazifisten Teile der Arbeiterschaft und des Kleinbürgertums in direkte Auseinandersetzungen führen, die das Militärprogramm der herrschenden Klasse untergraben, nehmen Revolutionäre und Revolutionärinnen an solchen Aktionen teil, während sie aber ihre vollständige Opposition gegen die utopische Politik der Pazifisten klarlegen und unser Übergangsprogramm mit Forderungen zu Krieg und Militarismus vorbringen.

Die Kriegsindustrie ist für die herrschende Klasse sehr profitabel. Wir kämpfen für die Veröffentlichung ihrer Geschäftsgeheimnisse, für die Beschlagnahme ihrer Militärprofite und für ihre Enteignung und Stellung der Produktionsmittel unter Arbeiterkontrolle. Indem die Bourgeoisie Kriegsvorbereitungen trifft, werden Geld und Leute in die Streitkräfte gepumpt. In Opposition zu ihren Rüstungsprogrammen fordern wir ein Programm nützlicher öffentlicher Arbeiten.

Sogar in Zeiten, in denen es keinen globalen Konflikt gibt, konstruieren die Imperialisten Pakte und Verträge zur Verteidigung ihrer Interessen und unterstützen sie durch die Androhung militärischer Intervention. Wir fordern die Auflösung aller imperialistischen Pakte und Verträge und ein Ende der Geheimdiplomatie. Alle Verträge und Abkommen sollten offengelegt und veröffentlicht werden.

Wir stellen die Forderung an die reformistischen bürgerlichen Arbeiterparteien, daß sie, wenn sie in der Regierung sind, Forderungen durchsetzen, die im Interesse jener Klasse sind, die sie zu vertreten beanspruchen. Wir verlangen den Rückzug aus NATO, ANZUS, SEATO, die Ablehnung der Militärbudgets und die Weigerung, Waffengewalt gegen die Arbeiter und unterdrückten Völker anzuwenden. Sie müssen die Forderung nach vollen demokratischen Rechten für Soldaten unterstützen, das Recht auf Gründung von Soldatenkomitees und -gewerkschaften anerkennen und Arbeiterinspektionen und -kontrollen der Kasernen unterstützen, die allgemeine Wehrpflicht abschaffen und das Recht der Arbeiter auf Bildung von Selbstverteidigungsorganisationen befürworten. Wir müssen den progressiven Wunsch der Arbeiter nach Frieden verwenden, um für solche Forderungen innerhalb der Arbeiterbewegung zu kämpfen, zugleich aber beharrlich vor der bankrotten Strategie des Pazifismus warnen. Der einzige Weg, die schreckliche Barbarei eines Atomkriegs zu verhindern, ist die internationale sozialistische Revolution.

Bürgerliche Demokratie und demokratischen Forderungen

Solange die soziale und politische Stabilität aufrechterhalten werden kann, ist die bürgerliche Demokratie die bevorzugte Herrschaftsform in den imperialistischen Ländern. Sie ist die spezifische Herrschaftsform, welche die Bourgeoisie in ihrer revolutionären Epoche als Mittel zur Gewinnung der Massen im Kampf gegen den Feudalismus, und um sich selbst politisch gegen die feudalen Stände zu konsolidieren, entwickelte. Mit dem Parlament wird eine demokratische Fassade errichtet, um die tatsächliche Diktatur der Bourgeoisie zu verbergen. Mittels der parlamentarischen Demokratie wirft die Bourgeoisie der Arbeiterklasse kleine Brocken hin, gewährt ihr das Recht, von Zeit zu Zeit zu wählen, und gliedert ihre Führung in die Verwaltung des bürgerlichen Staates ein. Durch die Medien und die Presse haben die Kapitalisten eine mächtige Propagandamaschinerie zur Verfügung, die imstande ist, für ganze Perioden die Massen zu täuschen und sie an die Illusion zu binden, daß unter diesem System das Volk herrsche.

Aber hinter der Fassade liegt die Realität der kapitalistischen Staatsmacht – die Exekutive: die ungewählte (oder, wenn sie gewählt ist, die nicht rechenschaftspflichtige) Richterschaft und Bürokratie, die Polizei und die Streitkräfte. Sobald die Kapitalisten meinen, daß ihr Eigentum oder ihre Herrschaft durch die Arbeiterklasse streitig gemacht wird, wird die volle Wucht des Repressionsapparats ins Spiel gebracht. Die Reformisten in der parlamentarischen Quatschbude sehen ohnmächtig zu, wenn Polizei und Armee Streikpostenketten durchbrechen und die Richter Gewerkschafter inhaftieren. Selbst wenn eine reformistische Mehrheit im Parlament versucht, die schwächlichsten Reformen im Interesse der Arbeiter und Arbeiterinnen durchzusetzen, wird sie von der Staatsbürokratie sabotiert, verwenden die Wirtschaftsmagnaten ihre finanzielle Kontrolle, um die Reformisten zu bescheidenem Gehorsam zu zwingen, und warten die Sicherheitsdienste und Streitkräfte jederzeit hinter den Kulissen, bereit einzugreifen, sollten die Dinge außer Kontrolle der Herrschenden geraten. Und in jeder bürgerlichen Demokratie werden in der Gestalt von Monarchen oder Präsidenten die potentiellen Instrumente einer bonapartistischen Herrschaft bewahrt.

Im imperialistischen Südafrika existiert die parlamentarische Herrschaftsform nur für die weiße Minderheit. Der Masse der Bevölkerung, den Schwarzen, werden die meisten elementaren demokratischen Rechte verweigert, und sie werden von einer unbarmherzigen Diktatur beherrscht. Unter Umständen wie diesen kann der Kampf der Arbeiterklasse für demokratische Rechte, selbst wenn diese an die bürgerliche Demokratie angeschlossen sind, als Sprengsatz für den revolutionären Kampf dienen. Aber während eine solche Revolution als demokratische beginnen kann, erfordert ihr Sieg ihre Umwandlung in eine sozialistische Revolution.

Die strategische Aufgabe der revolutionären Avantgarde besteht in der Zerstörung aller Formen bürgerlicher Herrschaft, einschließlich ihrer demokratischen Form. Zu diesem Zweck bemühen wir uns, die parlamentarische Attrappe vor der Arbeiterklasse zu entlarven und Organisationen proletarischer Demokratie zu schaffen. Allerdings wurden die gesetzlichen Rechte, welche die Arbeiterklasse in der bürgerlichen Demokratie erreichen konnte, den Herrschenden in Kämpfen abgerungen und stellen Errungenschaften dar, die gegenüber Angriffen von seiten der Kapitalistenklasse verteidigt werden müssen. Die wiederkehrenden Krisen der gegenwärtigen Periode zwingen die Kapitalisten, die von den Arbeitern erreichten demokratischen Rechte in Frage zu stellen. In der imperialistischen Epoche besteht immer eine Tendenz zur Negation der bürgerlichen Demokratie und ihrer Ersetzung durch bonapartistische, offen diktatorische Herrschaftsformen.

Diese Tendenz wird in allen imperialistischen Kernländern heftiger. Gewerkschaftsfeindliche Gesetze, die Beschneidung der Redefreiheit, die Fähigkeit, Gesetze mittels einer völligen Umgehung des Parlaments einzuführen, die Stärkung des Repressionsapparates; all dies stellt eine embryonale Form des Bonapartismus dar. In allen solchen Fällen kämpfen Revolutionäre für die Verteidigung der von der Arbeiterbewegung erreichten grundlegenden Rechte in der bürgerlichen Demokratie: das Streikrecht, die Redefreiheit, Zugang zu den Medien, das Recht auf Versammlung und Bildung von Vereinigungen. Mehr noch, wir verteidigen die parlamentarische Demokratie, wenn sie vom Bonapartismus bedroht wird und wo wir sie noch nicht durch proletarische Demokratie ersetzen können. Wir machen das nicht als Selbstzweck, sondern als ein Mittel, die gesetzlichen Rechte der Arbeiterklasse auf Organisierung zu bewahren und ihren Kampf gegen die Ausbeuter fortzusetzen.

Wir bekämpfen die „Mini-Apartheid“-artigen Beschränkungen der demokratischen Rechte, die überall in der Welt den immigrierten Arbeiter und Arbeiterinnen auferlegt werden. Diese Beschränkungen sind Mittel, um die Überausbeutung dieser Immigranten und die Spaltung der Arbeiterklasse eines Landes entlang rassischer oder nationaler Linien zu erleichtern. Indem wir uns auf die Prinzipien des revolutionären Internationalismus stellen, kämpfen wir für das Recht auf völlige Bewegungsfreiheit der Arbeiterschaft – gegen alle von den imperialistischen Ländern auferlegten Einwanderungs- und Auswanderungskontrollen, für das Recht aller Arbeiter und Arbeiterinnen auf volle demokratische Rechte, einschließlich des Wahlrechtes in dem Land, in dem sie leben und arbeiten. In den Halbkolonien sind wir gegen alle Einwanderungskontrollen und kämpfen für diese demokratischen Rechte, außer im Falle kolonialer Ansiedelungen. Wir sind gegen jegliche Nationalitätengesetzgebung, welche als Mittel zur Verfolgung und Unterdrückung der immigrierten Arbeiter und Arbeiterinnen dient.

Im Kampf um die Erreichung oder Verteidigung demokratischer Rechte wendet das Proletariat die Methoden des Klassenkampfes an. Das Streikrecht zum Beispiel wird in jenem Ausmaß erreicht und verteidigt, als die Arbeiterklasse bereit ist, die Waffe des Streiks im Kampf zu verwenden. Der Widerstand gegen die Einschränkung unserer Rechte, die Weigerung, sich vor dem kapitalistischen Klassengesetz zu beugen, die Bereitschaft zur Verwendung aller proletarischen Kampforganisationen und Kampfmethoden auf politischem Gebiet, das den Kampf für Wahlrecht einschließt; dies sind die nötigen Methoden, welche sicherstellen, daß die Arbeiterklasse aus dem Kampf für demokratische Rechte profitiert. Wie in allen Kämpfen wird die Opferung der unabhängigen Interessen der Arbeiterklasse im Interesse einer Einheit mit „progressiven“ oder „demokratischen“ bürgerlichen Kräften fatal für das Proletariat und seinen Kampf für die sozialistische Revolution sein.

Unter Bedingungen einer tiefen sozialen Krise kann sich die Bourgeoisie, um ihre Herrschaft über die Arbeiterklasse zu erhalten, einer faschistischen Bewegung zuwenden. Faschismus, eine reaktionäre Massenbewegung, welche sich hauptsächlich aus den Reihen des durch die Krisen des Kapitalismus zur Verzweiflung gebrachten Kleinbürgertums und Lumpenproletariats rekrutiert, hat die Zerstörung der unabhängigen Arbeiterbewegung und die Errichtung der durch keinerlei Elemente bürgerlicher Demokratie gehemmten Herrschaft des Finanzkapitals zum Ziel. Er ist der letzte Ausweg für die Bourgeoisie, nachdem sie in die Abschaffung ihrer eigenen parlamentarischen Vertretungen verwickelt wurde. Trotzdem, wie Nazi-Deutschland und Mussolini-Italien zeigen, ist er eine Maßnahme, die ergriffen wird, wenn die Situation es erfordert.

In den halbkolonialen Ländern kann sich der Faschismus als eine Bewegung entwickeln, die aus kommunalen Konflikten oder reaktionären klerikalen Bewegungen entsteht. Die Phraseologie solcher Bewegungen kann zeitweise antiimperialistisch sein. Aber dies sollte uns gegenüber dem antikommunistischen und arbeiterfeindlichen Charakter solcher Bewegungen nicht täuschen. Diese Rhetorik ist von derselben Beschaffenheit wie der demagogische Antikapitalismus der Nazis. Durch den Triumph eines Kommunalismus oder klerikalen Faschismus in den Halbkolonien wird die Herrschaft des Imperialismus aufrechterhalten oder sogar gestärkt werden.

Vom Augenblick des Entstehens dieses Faschismus an muß die Arbeiterklasse einen unbarmherzigen Kampf führen, um ihn zu zerschlagen. Auch wenn er seine allgemeineren Ziele verbirgt und sich darauf konzentriert, die giftigen Dämpfe des Rassenhasses zu verbreiten, muß zu seiner Bekämpfung die Arbeitereinheitsfront organisiert werden. Den Faschisten können keine demokratischen Rechte (wie z.B. Rede-, Presse- und Organisationsfreiheit) zugestanden werden. Indessen stellen wir nicht die Forderung auf, sie durch den bürgerlichen Staat verbieten zu lassen. Da die Bourgeoisie die eigentliche Stütze der Faschisten ist, kann ihr diese Aufgabe nicht anvertraut werden. Der Staat würde in Wirklichkeit die Verbote zur Entwaffnung und Behinderung des antifaschistischen Widerstandes verwenden. Die revolutionäre Avantgarde mobilisiert die Arbeiterklasse um die Slogans: Keine Plattform für Faschisten, werft die Faschisten aus den Arbeiterorganisationen hinaus. Wir setzen uns für eine physische Bekämpfung aller ihrer Mobilisierungen ein und organisieren Arbeiterverteidigungseinheiten, um faschistische Angriffe auf rassisch Unterdrückte und die Arbeiterbewegung zurückzuschlagen.

Der Kampf zur Verteidigung der demokratischen Rechte der Arbeiter und gegen den Faschismus bildet in keiner Weise eine vom gesamten Übergangsprogramm abgesonderte und getrennte Reihe von Aufgaben. Der Kampf gegen Bonapartismus und Faschismus kann schließlich nur gewonnen werden durch die Verwirklichung des Programms von Übergangsforderungen in ihrer Gesamtheit.

Wahltaktik

Die Arbeiterklasse kann die Macht nicht durch Parlamente und Wahlen erreichen. Es ist die Pflicht der Revolutionäre, den parlamentarischen Kretinismus erbarmungslos zu entlarven ohne dem wahlfeindlichen Kretinismus der Anarchisten nachzugeben. Revolutionäre benützen Parlamente als Tribünen, um die Massen anzusprechen. Diese bieten die Gelegenheit, wesentliche Punkte des kommunistischen Aktionsprogramms in Form allgemeiner Propaganda zu präsentieren.

Die beste Methode, diese Propagandamöglichkeit zu nutzen, ist es, Kandidaten der revolutionären Partei auf Basis ihres Programms aufzustellen. Wenn eine revolutionäre Kandidatur unmöglich ist, ist es zulässig, einer reformistischen oder zentristischen Partei, die organisch mit einem großen Teil der proletarischen Avantgarde oder der Volksmassen im allgemeinen verbunden ist, kritische Wahlunterstützung zu gewähren. Das Ziel der Wahl ist es, diesen Schichten zu sagen: Wir werden für eure Partei stimmen, trotz unseres völligen Fehlens an Vertrauen in ihre Führer und in ihr Programm, um euch zu helfen, ihre Handlungen, in und außerhalb der Regierung, zu testen. Wir fordern euch auf dafür zu kämpfen, daß eure Führer Maßnahmen setzen, die eindeutig im Interesse der Arbeiter sind, und daß sie mit der Bourgeoisie brechen. Diese Taktik erfordert es von Revolutionären und Revolutionärinnen, vollständige Kritik an Reformismus und Zentrismus, am Parlamentarismus, aber auch an der verräterischen Vergangenheit der jeweiligen Partei zu üben.

Wo nur klassenfremde Parteien oder hoffnungslos unbedeutende, reformistische oder zentristische Sekten bei den Wahlen antreten, sind wir verpflichtet, klassenbewußte Arbeiter dazu aufzurufen, „weiß“ zu wählen. Dies darf nicht mit einem Wahlboykott verwechselt werden, der als Taktik nur zulässig ist, wenn der revolutionäre Kampf der Arbeitermassen die Frage des Umsturzes des Parlaments als unmittelbare Perspektive stellt.

Die Arbeiter- und Bauernregierung und die Diktatur des Proletariats

Das strategische Ziel des Kampfes des Proletariats ist der Übergang zum Kommunismus. Um diesen Übergang zu verwirklichen, muß das Proletariat seine eigene Diktatur errichten. Wenn das Proletariat einmal die Staatsmacht errungen hat, kann es, wie es Anarchisten anstreben, nicht sofort auf diese verzichten. Auf nationaler und internationaler Ebene wird sich die Bourgeoisie verschwören und versuchen, die Konterrevolution zu organisieren. Die Arbeiterklasse ist verpflichtet, ihren Willen der ganzen Gesellschaft aufzuzwingen, um die Revolution zu verteidigen und den Widerstand der Bourgeoisie zu brechen. Sie übt ihre Klassendiktatur auf Basis ihrer eigenen – eindeutig proletarischen – Demokratie (Arbeiterräte, Fabrikkomitees, Arbeitermilizen) offen aus. Sie zentralisiert diese Demokratie in einer nationalen Regierung, einer revolutionären Arbeiter- oder Arbeiter- und Bauernregierung. Die einzige konsequent revolutionäre Arbeiter- oder Arbeiter- und Bauernregierung ist die, welche die Diktatur des Proletariats ausübt.

Dennoch treten in der Übergangsperiode Krisen auf, welche die Machtfrage für das Proletariat stellen, bevor seine Mehrheit für die revolutionäre Partei gewonnen wurde. In diesen Situationen erwartet die Arbeiterklasse selbstverständlich von ihrer aktuellen Führung, falls diese an der Regierung ist, die Erlassung eines Programms in ihrem Interesse.

Unter solchen Umständen benutzten die Bolschewiki – und entwickelte die Komintern – die Losung der Arbeiter- sowie Arbeiter- und Bauernregierung. Das wesentliche an der Taktik der Bolschewiki in Bezug auf die provisorische Regierung war es, von den kleinbürgerlichen Führern der Arbeiter (Menschewiki) und der Bauern (Sozialrevolutionäre) zu verlangen, mit der Bourgeoisie zu brechen und in den Kampf für eine wirkliche Arbeiter- und Bauernregierung einzutreten.

Revolutionäre und Revolutionärinnen verlangen nicht nur einen formalen Bruch mit den bürgerlichen Parteien, die an der Regierung sind, sondern auch, daß die Führer der Arbeiter und Arbeiterinnen sofortige Maßnahmen zur Lösung der Krise auf Kosten der Bourgeoisie durchführen. Dies muß die sofortige Enteignung von imperialistischem Besitz und der großen Kapitalisten unter Arbeiterkontrolle einschließen, ebenso wie die Beschlagnahmung des Großgrundbesitzes, die sofortige Bewaffnung der Arbeiterorganisationen und die Entwaffnung der bürgerlichen Konterrevolution. Es muß der gesamte staatliche Repressionsapparat, der gegen Arbeiter- und Bauernorganisationen eingesetzt wird, aufgelöst und die Autorität aller Organisationen der Arbeiter- und Bauerndemokratie anerkannt werden. Auf dem Weg zu solch einer Regierung bietet die Arbeiterklasse allen ihre revolutionäre Hilfe gegen Angriffe der Imperialisten und der Bourgeoisie unter Beibehaltung ihrer Unabhängigkeit an, ohne jedoch politische Verantwortung für solch eine Regierung zu übernehmen, deren Mehrheit nicht aus Revolutionären besteht.

Die Erfahrung von 1917 hat gezeigt, daß die Weigerung der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre, einem solchen Weg zu folgen, keine Ausnahme war. Alle späteren Erfahrungen bestätigen dies. Die heutigen Führer der Arbeiter und der Bauern tun ihr möglichstes, um – entweder durch Volksfronten oder durch bürgerliche Arbeiterregierungen – den Kapitalismus vor dem Untergang zu retten. Die Ereignisse in Frankreich und Spanien in den dreißiger, in Bolivien in den fünfziger und achtziger Jahren und heute in Nicaragua bezeugen diese Tatsache.

Die heutigen Zentristen haben sich den Stalinisten in deren opportunistischer Entstellung der Losung der Arbeiter- und Bauernregierung angeschlossen. Während die Stalinisten Lenins aufgegebene Formel von der „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ in den zwanziger Jahren wiederbelebten, indem sie diese zu einer notwendigen bürgerlichen Stufe der Revolution erklärten, tat das heutige Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale (VS) dasselbe mit Trotzkis Formel der „Arbeiter- und Bauernregierung“. In Algerien und Nicargua wurden kleinbürgerlich-nationalistische Regierungen, die nicht einen Schritt zum Bruch mit der Bourgeoisie getan hatten, zu „revolutionären Arbeiter- und Bauernregierungen“ erklärt, die der politischen Unterstützung wert seien.

Verschiedenartige Strömungen des zentristischen „Trotzkismus“ (z.B. die Lambertisten in Frankreich und Portugal in den siebziger und achtziger Jahren) bezeichnen Regierungen, die von Arbeiterparteien (Sozialdemokraten und Stalinisten) gebildet werden, als „Arbeiterregierungen“. Das ist ein betrügerischer und opportunistischer Gebrauch dieser Losung. Nur wenn eine Regierung von Arbeiterparteien durch die Massen in einen wirklichen Kampf gegen die bürgerliche Ordnung getrieben wird und gezwungen ist, sich auf die Massenorganisationen auf eine Art und Weise zu stützen, sodaß dies deren Bewaffnung beinhaltet, kann sie als revolutionäre Arbeiterregierung gesehen werden.

Trotz der opportunistischen Verzerrung der Arbeiter- und Bauern- Regierungslosung bleibt sie eine entscheidende Waffe bei der Erziehung und die Vorbereitung der Massen für bzw. auf die Macht. Wir benutzen sie, um Forderungen an die Führung der Arbeiterklasse zu stellen und um den Anhängern dieser Führung zu zeigen, daß diese es ablehnt, mit der Kapitalistenklasse zu brechen. Diese Losung beinhaltet die Möglichkeit, die reformistischen und kleinbürgerlich-nationalistischen Parteien zu spalten, die Basis und die besten Führer für einen wirklichen Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus zu gewinnen.

Diese Losung ist notwendigerweise abstrakt, da jede Krisensituation von der anderen verschieden ist und unterschiedliche Führungen an die Macht bringt. Das heißt, daß die tatsächliche Zusammensetzung solch einer Regierung nicht vor dem konkreten Kampf fixiert werden kann. Wenn eine Arbeiterregierung entsteht, die nicht die direkte Diktatur des Proletariats darstellt, wäre sie lediglich eine Regierung des Bürgerkrieges gegen die Kapitalistenklasse. In Konfrontation mit der Bourgeoisie muß sie entweder zurücktreten oder sich als zeitlich begrenzte Brücke zu dieser Diktatur erweisen. Auf keinen Fall ist die Arbeiterregierung, in Einheitsfrontform, eine historisch notwendige Stufe, die vor der Errichtung der Diktatur des Proletariats durchlaufen werden muß.

Trotzki postulierte im Übergangsprogramm die theoretische Möglichkeit, daß in einer außergewöhnlichen revolutionären Krise die traditionellen Führungen dazu gezwungen werden, weiter zu gehen, als sie eigentlich wollten, das heißt, mit der Bourgeoisie zu brechen und eine Arbeiterregierung zu etablieren. In der Geschichte hat sich diese Möglichkeit mehrere Male praktisch bewiesen, allerdings immer mit konterrevolutionärem Ergebnis.

Die Stalinisten stürzten unter außergewöhnlichen Umständen in Osteuropa, China, Indochina und Cuba den Kapitalismus. Die Werkzeuge dieser sozialen Umstürze waren bürokratische Arbeiterregierungen. Diese hatten nichts gemeinsam mit einer revolutionären Arbeiterregierung, welche den Weg zum Kampf für den Sozialismus öffnet. Obwohl die bürokratischen Arbeiterregierungen den Kapitalismus beseitigten, geschah dies in konterrevolutionärer Form. Bevor die Bourgeoisie enteignet wurde, erstickten die Stalinisten alle unabhängigen Organe der Arbeiterdemokratie, um die Etablierung ihrer eigenen bürokratischen Kastenherrschaft zu sichern.

Die Pflicht des Proletariats unter solchen Umständen ist es, nicht die Enteignung der Kapitalisten aufzuhalten, sondern die bürokratische Form der Durchführung zu bekämpfen. Indem der Kampf für proletarische Demokratie in den Vordergrund gestellt und die Forderung an die Stalinisten gerichtet wird, das Regime der Arbeiterkontrolle in den Fabriken anzuerkennen, und indem weiters die Bewaffnung der Massen und die Auflösung der stalinistisch kontrollierten Sicherheitskräfte gefordert wird, können die Massen dazu organisiert werden, den Prozeß der Enteignung fortzusetzen und gleichzeitig das geplante konterrevolutionäre Resultat zunichtezumachen: nämlich die Entstehung eines degenerierten Arbeiterstaates, der den Weg zum Sozialismus versperrt.

Arbeiterräte und der Kampf für die Macht der Arbeiterklasse

Die krönende Losung des Übergangsprogramms ist die Forderung nach Sowjets – oder auf Deutsch nach Arbeiterräten. Ist das Fabrikkomitee das Organ der Doppelmacht in der Fabrik, so ist der Arbeiterrat, koordiniert auf nationaler Ebene, das Organ der Doppelmacht in der ganzen Gesellschaft. Solche wirklichen Arbeiterräte entstehen auf lokaler und nationaler Ebene, wenn die Gesellschaft in eine revolutionäre Krise eintritt, wenn die Massen über die Grenzen ihrer traditionellen Organisationen hinauswachsen und revolutionäre Organisations- und Kampfformen anwenden. Eine revolutionäre Krise entsteht, wenn die Gesellschaft eine Sackgasse erreicht: Die Bourgeoisie ist gespalten und von Regierungskrisen heimgesucht, die Massen sind nicht mehr bereit das alte Regime zu tolerieren, und demonstrieren wiederholt ihren Willen und die Bereitschaft, alles zu opfern, um den Kapitalismus zu besiegen.

In der Geschichte des Kapitalismus hat es eine Reihe von revolutionären Perioden gegeben, bestehend aus einer ausgedehnten Kette von ökonomischen und politischen Krisen, die nur durch die grundlegende Niederlage einer der konkurrierenden Klassen gelöst hatten werden können. Danach erlaubten radikal neue ökonomische und politische Kräfteverhältnisse eine Stabilisierung und die weitere Entwicklung des Kapitalismus. Perioden revolutionärer Krisen erfassen ein Land, einen Kontinent oder die ganze Welt. Sie sind verschieden in Länge und Tiefe, wobei die tiefgreifendsten mit Kriegen, erfolgreichen Revolutionen oder Konterrevolutionen verbunden sind.

Eine revolutionäre Situation kann aus mehreren kürzeren Phasen oder Situationen bestehen. Eine vorrevolutionäre Situation besteht, wenn eine tiefgehende ökonomische Krise massive Inflation (oder Deflation), Arbeitslosigkeit und Bankrotte nach sich zieht. Durch diese Katastrophen zeigt sich der todkranke Charakter des kapitalistischen Systems für Millionen. Eine vorrevolutionäre Situation kann auch durch eine militärische Niederlage, wie in Rußland 1905, entstehen. Solche Krisensituationen tendieren dazu, politische Krisen zu produzieren, die die Bourgeoisie dazu zwingen, entweder zu autoritäreren Regierungsmethoden Zuflucht zu nehmen oder die Führer der Arbeiter darin einzubinden, die Krise auf Kosten der Arbeiterklasse zu lösen. Spaltungen innerhalb der herrschenden Klasse darüber, welcher Kurs einzuschlagen sei, geben dem Proletariat einen zusätzlichen Impuls, im allgemeinen und in den politischen Formen des Kampfes immer militanter zu werden. Eine revolutionäre Situation ist die Folge.

In einer vorrevolutionären Situation ist es die zentrale Aufgabe der revolutionären Partei, die allgemeinsten Losungen des politischen Klassenkampfes (Generalstreik, Arbeiterselbstverteidigung, der Aufbau von embryonalen Arbeiterräten, wie z.B. Aktions-, Streik- oder Einheitsfrontkomitees) aufzustellen. In einer revolutionären Situation ist es zentral, all diese Organe in voll ausgeformte Arbeiterräte umzuwandeln: Der direkte Kampf um die Macht kann nicht mehr länger verschoben werden. Wenn die Arbeiterklasse darin versagt, eine erfolgreiche Revolution durchzuführen, wird die Konterrevolution entweder in Form einer Diktatur (faschistisch oder bonapartistisch) über die Arbeiterklasse und ihre Verbündeten oder in der mehr beschränkten Form der „demokratischen Konterrevolution“ triumphieren. Letztere beläßt eine bürgerlich-demokratische Verfassung mehr oder weniger in Kraft und überläßt die revolutionäre Avantgarde dem Terror von Militär, Polizei und Justiz.

Diese Konterrevolutionen beenden eindeutig die revolutionäre Periode. Was folgt, kann sich als langandauernde Periode der Konterrevolution herausstellen, wie sie etwa den Niederlagen der Arbeiter in Deutschland 1933 oder der chilenischen Arbeiter 1973 folgte. Auf der anderen Seite kann eine nichtrevolutionäre Periode auftreten, eine Periode sozialer Stabilisierung, wenn eine tiefgreifende Erholung von der ökonomischen und politischen Krise auftritt. Trotzdem: Wo fundamentale Widersprüche, die die Revolution haben aufbrechen lassen, fortdauern und wo die Arbeiterklasse nicht eine Niederlage von historischem Ausmaß erlitten hat, kann eine zwischenrevolutionäre Periode auftreten, bevor der Kampf zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie erneut losbricht. Das Erkennen dieser Änderungen von Perioden kann entscheidend sein für das Wachstum oder gar das Überleben einer revolutionären Partei. Es ist lebenswichtig, die geeigneten legalen oder illegalen Taktiken und Methoden der Organisation zu ergreifen und zum richtigen Zeitpunkt in die Defensive oder in die Offensive zu gehen.

Rußland im Februar 1917, Deutschland 1918, Spanien in den dreißiger Jahren und viele andere Beispiele zeigen deutlich auf, daß, falls das Proletariat es schafft, seine eigenen bewaffneten Kräfte aufzubauen, ohne gleichzeitig die bewaffneten Kräfte der Bourgeoisie total zu zerstören, es zu einer Situation der Doppelmacht kommt, in welcher sich zwei Regime verschiedener Klassen gegenüberstehen. Diese Situation der Doppelmacht ist in ihrem Wesen instabil. Sie kann nur – egal für welchen Zeitraum – existieren, wenn die bewaffneten Kräfte der Arbeiter stark sind und die Bourgeoise die Kontrolle über wesentliche Sektoren ihrer bewaffneten Kräfte verloren und Angst vor der endgültigen Konfrontation hat.

Ansonsten kann Doppelmacht nur für längere Zeit andauern, wenn die reformistische oder zentristische Führung des Proletariats zaudert und schwankt, wenn sie mit der Aufgabe der Führung des Kampfes, der auf die endgültige Entscheidung hinsteuert, konfrontiert ist. Solche Kräfte innerhalb der Arbeiterbewegung versuchen, entweder die Doppelmacht im Sinne eines „legitimen“ (bürgerlichen) Staates zu lösen oder einen Staat mit dauerhaftem Doppelmachtcharakter zu begründen. Dieses Konzept, welches dahin strebt, einen „Zwitterstaat“ mit Parlament parallel zu Arbeiterräten zu etablieren, ist immer zum Scheitern verurteilt (Deutschland 1918-23), da es das Unvereinbare zu vereinigen versucht. Die Versuche von linken Reformisten oder Zentristen, Arbeiterräte mit parlamentarischer Demokratie zu „kombinieren“, laufen einfach darauf hinaus, den revolutionären Kampf der Massen zu demobilisieren.

Wenn eine Situation der Doppelmacht auch ein enormer Schritt vorwärts ist, verglichen mit der unbestrittenen Ordnung der Bourgeoisie, so ist sie dennoch weder eine unvermeidliche Phase noch ein strategisches Ziel für sich selbst. Unser Ziel ist die vollständige Vernichtung des bürgerlichen Staates, und wir streben danach, die Doppelmacht durch die Diktatur des Proletariats als Ergebnis einer bewaffneten Erhebung zu ersetzen. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn die revolutionäre Partei die Führung in den Arbeiterräten erringt. Nur dann kann die Losung „Alle Macht den Arbeiterräten!“ tatsächlich verwirklicht und die Konterrevolution besiegt werden.

Embryonale Arbeiterräte können sich aus verschiedenen Organisationsformen entwickeln – aus revolutionierten Gewerkschaften, aus Fabrikkomitees oder aus Aktionskomitees, die um Teilkämpfe herum aufgebaut wurden. Obwohl wir der Frage der Form keine übergroße Bedeutung zumessen, bestehen wir darauf, daß es keinen Ersatz für jene Kampforgane gibt, die das Wesen der Arbeiterräte zum Ausdruck bringen. Wir trachten danach, die verschiedenen embryonalen Formen von Arbeiterräten so weiterzuentwickeln und anzuleiten, daß sie zu tatsächlichen Arbeiterräten werden. Fabrikkomitees und -gewerkschaften, egal wie radikal sie sind, können aus sich selbst heraus nicht als Arbeiterräte dienen. Die Gründe dafür sind im Charakter der Arbeiterräte selbst angelegt.

Arbeiterräte sind nicht fabrik- oder industriespezifisch. Tatsächlich sind sie zentrale Mittel, um Teile der Gesellschaft, wie etwa die arme Landbevölkerung und die einfachen Soldaten, für die Sache des Proletariats zu organisieren und zu gewinnen. Alle, die sich im Kampf befinden, sind in diesen Räten vertreten. Sie setzen sich aus Delegierten der Fabriken, der Gewerkschaften, von allen Arbeitsplätzen, Arbeiterbezirken, von Bauernkomitees und den Arbeiterparteien zusammen. Sie durchbrechen sektorale Barrieren und ersetzen diese durch eine klassenweite kämpferische Einheit. Sie haben territorialen Charakter, durch welchen alle Ausgebeuteten und Unterdrückten in einer Stadt oder einer Region einbezogen werden. Durch regelmäßige Wahlen und die jederzeitige Abberufbarkeit wird die demokratischste Form repräsentativer Organisation der Arbeiter, die die Geschichte je gesehen hat, erzeugt. Frei von vorher bestehenden bürokratischen Apparaten, sind sie unmittelbar empfänglich für die Änderungen in der Stimmung, die politischen Ansichten und die Militanz der Massen. Arbeiterräte sind das sicherste Entscheidungsmittel über den tatsächlichen, momentanen Willen des kämpfenden Proletariats.

Aufgrund dieser Eigenschaften eignen sich Arbeiterräte außergewöhnlich gut für den revolutionären Kampf. In Perioden sozialen Friedens aber kann ein Arbeiterrat keine dauerhafte Organisation sein. Er lebt und atmet durch den täglichen Kampf mit der Bourgeoisie, beobachtet jede ihrer Bewegungen, organisiert Widerstand gegen jede ihrer Attacken, kämpft für die Interessen der Massen, die er vertritt, und hebt das kämpferische Selbstvertrauen der Massen mit jedem Sieg. Keine andere Organisationsform ist im Durchführen der notwendigen taktischen Manöver im revolutionären Kampf mit der Bourgeoisie so flexibel wie der Arbeiterrat.

Zuletzt, aber keinesfalls am unwichtigsten, sind Arbeiterräte die Basis für die Verwaltung des zukünftigen Arbeiterstaates. Sie sind Organe der Macht der Arbeiterklasse. Ebenso wird die Arbeitermiliz vom Werkzeug des Aufstandes in die Bastion zur Verteidigung des Arbeiterstaates gegen die Konterrevolution verwandelt. Jede revolutionäre Situation hat bewiesen, daß die Arbeiterklasse nicht einfach die existierende Staatsmaschinerie beibehalten und dazu benützen kann, um den Sozialismus aufzubauen. Neue proletarische Organisationen müssen den Platz des kapitalistischen Staates einnehmen. Die Arbeiterräte, welche in Situationen der Doppelmacht dazu gezwungen sind, die Kontrolle über Produktion, öffentliches Leben und Verteilung auszuüben, sind ideal dafür geeignet, die Leitung des Arbeiterstaates zu übernehmen. Sie sind beides: revolutionäre Werkzeuge im Kampf um die Macht und revolutionäre Organe der Machtausübung. Bis jetzt hat niemand eine Form der Organisation gefunden, die sich besser für diese Zwecke eignen würde. Versuche, Ersatz für Arbeiterräte zu finden, führten ausnahmslos zu opportunistischen Fehlern.

Der Aufstand

Die Aufgabe der revolutionären Partei in den Arbeiterräten ist es, alle Kämpfe auf das Ziel der Zerschlagung des kapitalistischen Staates hin zu vereinigen. Der Generalstreik und der bewaffnete Aufstand sind Schlüsselwaffen, um dieses Ziel zu erreichen. Aufstände haben sich auch ohne Generalstreik als erfolgreich erwiesen (wie in Petrograd, Oktober 1917), aber der Generalstreik ist unter vielen Umständen eine revolutionäre Schlüsselmethode des Kampfes, da er die gesamte Maschinerie des kapitalistischen Feindes und seines Staates lähmt. Er stellt die Frage: Wer regiert die Gesellschaft, die Kapitalisten, die die Produktionsmittel besitzen, oder die Arbeiter, die sie am Laufen erhalten? Er setzt den Kampf um die Macht auf die Tagesordnung. Aber aus sich selbst heraus kann eine massenhafte Arbeitsniederlegung die Frage, wer regiert, nicht beantworten. Daher muß ein Generalstreik den Weg zum bewaffneten Aufstand vorbereiten.

Die Geschichte hat gezeigt, daß das Proletariat der Bourgeoisie die Staatsmacht nur durch gewaltsame Mittel entreißen kann. Natürlich wird das notwendige Ausmaß an Gewalt, abhängig von der Verteilung der Kräfte am Vorabend des Aufstandes, verschieden sein. Es wird teilweise davon abhängen, in welchem Ausmaß die bewaffneten Kräfte für die Sache des Proletariats gewonnen werden konnten. Wie auch immer: Die Arbeiterklasse muß damit rechnen, dem maximalen Widerstand der Kapitalisten zu begegnen, und sie muß deshalb auch ihre eigenen Kräfte zu maximieren versuchen, um dem Widerstand entgegenwirken und ihn zerstören zu können. Ohne revolutionäre Situation, in welcher die Massen vollständig hinter der revolutionären Partei stehen, wird ein Aufstand, der von einer revolutionären Minderheit geführt wird, ein abenteuerlicher Putsch sein und zu Rückschlägen für den revolutionären Kampf führen. Wenn das neue Regime, das durch den Aufstand geschaffen wird, stabil und dauerhaft sein soll, muß die Partei bereits die Mehrheit der organisierten Arbeiter und Arbeiterinnen der großen Städte und der Ortschaften gewonnen haben.

Aufstände hat es, historisch gesehen, in zwei Formen gegeben. Die eine ist die „Februarrevolution“ (Frankreich 1848, Rußland 1917), in der spontane Massenerhebungen gegen ein diktatorisches Regime stattfinden und wo keine dominante bewußt-revolutionäre Partei die Massen führt. Hier kann das Resultat ein demokratisch-bürgerliches Regime sein, eine Situation der Doppelmacht oder, in seltenen und nur ausnahmsweisen Umständen, ein Triumph der Arbeiter und Arbeiterinnen, wie etwa die Pariser Kommune, unter einer Führung, die entweder nicht die Führung behalten will oder nicht weiß, wie sie diese festigen beziehungsweise ausweiten kann. Der Standpunkt der revolutionären Minderheit zu solch einer spontanen Erhebung ist es, voll daran teilzunehmen, danach zu streben, ihr eine bewußte Führung zu geben, im speziellen durch den Kampf für Arbeiterräte und eine revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung, die auf letzteren aufbaut.

Die andere Form des Aufstandes ist die bewußte, geplante, gewaltsame Übertragung der Staatsmacht an das Proletariat nach dem Modell der Oktoberrevolution in Rußland. Das Durchführen des Aufstandes ist eine technische Aufgabe, welche heimliche Planung erfordert. Die Arbeiterräte müssen für das Ziel des Aufstandes gewonnen werden, und die Arbeitermiliz und diejenigen Regimenter, die auf der Seite der Arbeiterklasse stehen, sind die Mittel zur Durchführung der Erhebung. Nur die revolutionäre Partei alleine kann den allgemeinen Führungsstab zur Leitung der Erhebung zur Verfügung stellen. Obwohl sich die Partei die Hilfe von Offizieren, die aus den einfacheren Mannschaftsgraden kommen, zunutze machen kann, muß deren Kommando immer auf die militärische Handlungen beschränkt bleiben, kontrolliert durch gewählte Kompanie- und Regimentskomitees. Die Inbesitznahme der Schlüsseleinrichtungen, die Organisation der Verteidigung des neuen Regimes, die Verteilung von Waffen und die Zuteilung von proletarischen Aufständischen kann nicht der Spontaneität der Massen oder „aufgeklärten Offizieren“ überlassen werden. Die Partei ist entscheidend für die Koordination dieser Tätigkeiten. Aber am Tag nach einem erfolgreichen Aufstand wird die Belohnung für diese Vorbereitung klar sein: die Zerschlagung des kapitalistischen Staates und die Etablierung der Diktatur des Proletariats auf Basis der Macht der Arbeiterräte.




Rechtsruck in Deutschland: Der Fall Aiwanger

Martin Suchanek, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Im Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten, so könnte man meinen, fällt ein Aiwanger Hubert mehr auch nichts ins Gewicht. Was ist schon ein Nazi-Pamphlet aus Gymnasialtagen, was ist schon ein Verhöhnen der Opfer des Holocaust im Flugblatt verglichen mit dem Mitmachen, Mitlaufen, Mitverwalten, Mitaburteilen, Mitdeportieren in der Nazi-Diktatur, dessen sich Aiwangers Eltern- und Großelterngeneration schuldig gemacht hat.

Auch diesen wurde schließlich vergeben – vorzugsweise durch sich selbst und einen Nachfolgestaat der NS-Diktatur, der im Kalten Krieg die alten Leistungsträger:innen der Gesellschaft, deutsche Unternehmer:innen, deutsche Beamt:innen, deutsche Offizier:innen, deutsche Intelligenz brauchte. Warum, also so fragen die Söders scheinheilig, sollten wir dem Aiwanger nicht seine Jugendsünden vergeben? Warum nicht, nachdem „wir“ auch unserer Eltern- und Großelterngeneration längst nichts mehr nachtragen? Schließlich hätten wir alle daraus irgendetwas gelernt. Und schließlich: haben „wir“ nicht alle in der Jugend „gesündigt“ haben? Warum nicht, nachdem sich der Aiwanger Hubert dafür sogar, wenn auch reichlich spät und wenig schlüssig, „entschuldigt“ habe?

Populistische Inszenierung

Geschickt, wenn auch nicht unbedingt originell, inszenieren Aiwanger, die Freien Wähler und, im Nachgang, Söder und die CSU, den Schulterschluss mit ihren spießbürgerlichen Anhänger:innen – und das sind bekanntlich viele, weit über dessen kleinbürgerlichen Kern hinaus. Klar, so gesteht der Aiwanger Hubert freimütig, habe er Fehler gemacht und diese auch zu spät gestanden. Aber er habe sich entschuldigt, er habe daraus gelernt. Jetzt würden ihn andere fertigmachen wollen, eine regelrechte Kampagne wäre ins Leben gerufen worden, um ihn, sein Lebenswerk und stellvertretend auch das aller anderen ehrlich schaffenden bayrischen und deutschen Menschen zu zerstören.

Die Freien Wähler bedienen sich hier einer für populistische Rhetorik typischen Stilfigur. Den „einfachen Menschen“, die vom stellvertretenden Ministerpräsidenten zum Bürgermeister, vom erfolgreichen Unternehmer zum Facharbeiter reichen, werden die besserwisserischen, arroganten, vom „wirklichen Leben“, das vorzugsweise auf bayrischen Volksfesten stattfindet, entrückten Kritiker:innen gegenübergestellt. So wird eine klassenübergreifendes „Wir“ konstruiert, das sich im Aiwanger Hubert personifiziert. Die Kritiker:innen schlagen darauf „von oben“ herab, geradezu gnadenlos ein. Sollen wir uns da nicht „wehren“ dürfen und dem Jugendsünder beherzt zu Seite springen?

Wer hat schließlich in seiner Jugend nicht gesündigt? Wer hat denn keine Äpfel vom Baum in Nachbars Garten gestohlen, wer hat nicht am Schulhof geraucht oder gar gekifft? Wer fuhr nicht alkoholisiert auf Bayerns Landstraßen? Und wer hat nicht Blödsinn verbreitet und geschmacklose Witze erzählt? Waren, ja sind wir nicht alle kleine Sünder:innen, die sich vom Aiwanger Anton nur durch die Art der Sünde, für die er sich sogar – durchaus im Gegensatz zu manch anderem ehrenwerten Spießer-Menschen – entschuldigt hat?

Solcherart wird unter der Rubrik „Jugendsünde“ das Nazi-Flugblatt entschuldet, zur Bagatelle unter Bagatellen. Dass sich der Aiwanger an nichts genaues mehr erinnern kann, erweist sich vor diesem Hintergrund nicht als skandalöser Vertuschungsversuch, sondern macht ihn nur noch menschlicher und volksnäher – und zwar nicht nur in den Augen seiner Fans von den Freien Wählern, sondern auch in denen der bayrischen Staatskanzlei. Auf die 25 Fragen Söders zur „Klärung“ des Falls Aiwanger, antwortet dieser nicht nur möglichst knapp, sondern vorzugsweise damit, dass er sich nicht erinnern könne oder nichts zur Frage wisse. Die Gedächtnislücken stehen im eigentümlichen Kontrast zu seiner Aussage: „Der Vorfall war ein einschneidendes Erlebnis für mich. Er hat wichtige gedankliche Prozesse angestoßen.“ Welche das sind, führt Aiwanger nicht aus. Dafür stellt er am Ende nur fest: „Fehler aus der Jugendzeit dürfen einem Menschen allerdings nicht für alle Ewigkeit angelastet werden.“

Damit spricht er seinen Anhänger:innen aus der Seele. Mit dem „ewigen“ Anlasten müsse endlich Schluss sein, zumal sich – von wegen „ewig“ – auch in den letzten 30 Jahren niemand darüber aufgeregt habe. Die rechte, konservative, rechtspopulistische Gefolgschaft verharmlost nicht nur Faschismus und Antisemitismus, sie inszeniert sich zugleich als Gemeinschaft nachsichtiger und wohlwollender Menschen. Das Vergeben der Jugendsünde wird zum Bestandteil deutscher Leitkultur.

Gnadenlos, unbarmherzig, falsch sind nicht jene, die selbst nicht wissen, warum sie mit antisemitischen Flugblättern in der Schultasche rumliefen, sondern jene, die den armen Jugendsünder bis heute an den Pranger stellen wollen. Gnadenlos, unbarmherzig sind jene, die schon seit 1968 keinen Frieden geben können, sind die Linken, die rot-grüne „Elite“, kosmopolitische Intellektuelle, Gender-Wahnsinninge und „das Ausland“, das sich auch noch in Bayerns Staatskanzlei und in den Wahlkampf einmischen wolle.

Angesichts dieser brutalen Kampfansage „von oben“ auf die Leistungsträger:innen der bayrischen und deutschen Gesellschaft, auf „unsere“ Leitkultur, inszenieren sich CSU und Freie Wähler als Kräfte der Gnade, der Nachsicht, des Zusammenrückens und Verzeihens. Sicher wären auch AfD und verschiedene Nazigruppen bei dieser christlich-abendländischen Inszenierung der Nächstenliebe gern mit von der Partie, doch noch passen sie nicht so recht ins Sittenbild der konservativen „Mitte“.

Aber auch Gnade und Vergeben kennen, wie alles, ihre Grenzen. Das macht Aiwanger schon in seiner Antwort an die Bayrische Staatskanzlei deutlich: „Die Veröffentlichungen aus Lehrerkreisen sind ein massiver Verstoß gegen das Bayrische Dienstrecht. Gegen die Verdachtsberichterstattung mit überwiegend anonymen Aussagen und dem Weglassen entlastender Inhalte behalte ich mir rechtliche Schritte vor.“ So viel zur aufrichtigen Reue des Herrn Aiwanger.

Hier wird deutlich, dass Vergeben, Nachsicht, Großzügigkeit und das Verzeihen aller Jugendsünden längst nicht für alle gilt. Genauer, sie gilt, selbst der Phrase nach, nur für die Angehörigen der spießbürgerlichen Gemeinschaft echter deutscher Menschen, die die Freien Wähler und die CSU im Blick haben. Und hier zuerst natürlich ihren Spitzenexponenten wie Aiwanger, dessen „Lebenswerk“ als Regierungsmitglied zerstört werden soll. Geschickt präsentiert er diese wirkliche oder vermeintliche Gefahr für sich als hoch dotierten Spitzenpolitiker als ob die berufliche Zukunft seiner Wähler:innen auch zur Disposition stünde.

So verlogen diese imaginäre Einheit gegenüber den Anhänger:innen der Freien Wähler:innen, so wenig gilt das Nachsichtsversprechen für die Kritiker:innen Aiwangers.

Kritische Medien und erst recht verbeamtete Lehrer:innen dürfen auf Gnade nicht hoffen. Die Nachsicht gegenüber Aiwangers Jugendsünden darf niemand als Freibrief für wirkliche Bagatelldelikte missverstehen. Schwarzfahren oder kleiner Ladenklau dürfen „natürlich“ nicht entkriminalisiert werden.

Erst recht gilt das, wenn die Gegner:innen der rechtspopulistischen Freien Wähler:innen und der konservativen bis liberalen Mitte ins Visier genommen werden. Aiwangers Gedächtnislücken möge man nachsehen, Lücken in der Vita traumatisierter Geflüchteter – niemals. Abschiebung muss Abschiebung, Unrecht muss Unrecht bleiben. Ein Nazipamphlet an der Schule möge man verzeihen, aber keine antifaschistische und antirassistische Selbstverteidigung, keine Solidarität mit vom Imperialismus Verfolgten.

Die Entschuldung der eigenen Wähler:innen, der Träger:innen der deutschen Leitkultur bildet nur das Gegenbild zur umso brutaleren, menschenverachtenden Hetze gegen „Schein-Ayslant:innen“, „Überfremdung“, „Sozialscharozertum“, jugendliche und migrantische „Krimininelle“, die allesamt die volle Härte des Gesetze ohne jede Nachsicht und Gnade heute erfahren müssen und sollen.

Kulturkampf und Diskursverschiebung

Kein Wunder also, dass die Freien Wähler, CDU/CSU wie auch die AfD, die konservative und die extreme Rechte die Auseinandersetzung um Aichwanger als regelrechten Kulturkampf inszenieren. In der Tat geht es dabei um eine wirkliche grundlegende Diskursverschiebung im politischen Raum.

Bei der Verharmlosung des faschistischen und antisemitischen Pamphlets und der Rolle Aiwangers geht es nicht bloß um eine persönliche Entschuldung. „Jugendlicher“ Faschismus und Antisemitismus sollen insgesamt bagatellisiert, quasi-normalisiert werden.

Damit steht auch eine, wenn auch auf halben Weg steckgebliebene Errungenschaft der 68er-Bewegung entsorgt werden. Diese thematisierte nach Jahrzehnten des Unter-den-Teppich-Kehrens den Faschismus und die Kontinuität seiner Funktionsträger:innen in Staat und Wirtschaft. Blieb die Entnazifizierung auch aus, so hielt die Jugend den Eltern und Großeltern den Spiegel vor. Die wirklich Selbstgerechten mussten sich endlich rechtfertigen. Einmal verschoben sich das politische Geschehen, der öffentliche Diskurs und die Kultur in der Bundesrepublik nach links. Zweifellos: Die 68er sind gescheitert, nicht zuletzt an sich. Doch ihre Halbheiten, ihre Teilreformen, ihre partiellen Errungenschaften noch geben einen Geschmack von dem, was möglich wäre. Daher stehen sie auch im Visier des konservativen und rechten Rollbacks.

Die mit der 68er-Bewegung assoziierten und von Frauenbewegung, Studierenden, Jugend wie auch von der Arbeiter:innenklasse gemachten Errungenschaften sind ihnen ein Dorn im Auge. Das betrifft sowohl in Gang gesetzten soziale und demokratische Reformen. Auch wenn sie im Rahmen des Kapitalismus verblieben, in diesen mehr oder weniger integriert wurden, stellen sie oder ihre Überreste bis heute auch Errungenschaften, teilweise zur Selbstverständlichkeit gewordene Aspekte des sozialen Lebens dar, gegen die sich selbst hart gesottene Reaktionär:innen (noch) nicht anzugehen wagen (z. B. die Vergewaltigung in der Ehe).

Vielleicht noch bedeutsamer aber waren und sind die Errungenschaften der 68er auf der kulturellen und diskursiven Ebene. Dazu gehört auch, dass faschistische und anti-semitische Flugblätter an der Schule eben nicht mehr als landesüblicher „Lausbubenstreich“ durchgingen. Selbst Aiwangers mangelndes Erinnerungsvermögen deutet noch darauf hin. So wie die Beteiligung am Faschismus und seinen Verbrechen nach 1945 durch „Vergessen“ und Schweigen gesellschaftlich tabuisiert wurde, so soll über den jugendlichen „Fehler“ der Mantel des Vergessens geworfen werden. Wer nachfragt, wer nicht schweigt, ja wer bloß nicht jede Schutzbehauptung für bare Münze nehmen will, wird in der rechten Diskursverschiebung zum Täter, zum „elitären“ Besserwisser.

Längst geht es dabei nicht um Aiwanger. Schon gar nicht geht es, wie Sozialdemokrat:innen und Grüne gern entrüstet behaupten darum, dass dem Ansehen Deutschlands geschadet würde. Schließlich passt Aiwanger ganz gut zu einer Meloni und einem Orban, zu einem Erdogan und einer Le Pen. Und, betrachten wir die Diskussion über die Verschärfung des rassistischen Grenzregimes und die Aushebelung der verbliebenen Rechte der Geflüchteten, so sind die Grenzen zwischen Rechten, Konservativen, Liberalen, Sozialdemokrat:innen und Grünen fließend, so reichen sich rechte und linke Populist:innen die Hand.

Vielmehr bildet der Fall Aiwanger nur einen weiteren Baustein zur Entsorgung des Faschismus für den deutschen Imperialismus. Es geht dabei nicht darum, dessen Existenz und Verbrechen zu leugnen, sondern vielmehr zu einem bloßen Stück Geschichte unter anderem herabzusetzen, um den Boden für eine reale Kontinuität imperialistischer Großmachtpolitik in der EU und international leichter zu begründen und hoffähig zu machen. Vor allem aber dient es auch als Klammer einer konservativen, großkapitalistischen und aggressiven Agenda, die durch rechten Populismus eine imaginäre, klassenübergreifende „Volkseinheit“ ideologisiert.




Österreich: Die Rezession ist da: Nach dem Wirtschaftsabschwung ist vor der Krise

Mo Sedlak, Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1231, 13. September 2023

Österreich ist in einer Rezession, das Bruttoinlandsprodukt ist im zweiten Quartal gesunken. Diese Zahlen für April bis Juni bestätigen, was wir uns wegen der großen Firmenpleiten denken konnten. Bei kika/Leiner, Salamander, Delka, Forstinger, Yves Rocher und Christof Industries und anderen Pleiten sind in nur einem halben Jahr 9.000 Menschen arbeitslos geworden.

Insgesamt hat sich der Trend bei der Arbeitslosigkeit wieder in die roten Zahlen gedreht. Zum ersten Mal seit dem Coronajahr 2020 steigt sie wieder. Gleichzeitig fällt wegen der Teuerung und Reallohnverluste das Einkommen der Menschen, die noch einen Job haben.

Mit dieser Krise war leider zu rechnen. Schon 2019 waren alle Anzeichen für Negativwachstum und Firmenpleiten da. Tatsächlich gab es schon vor dem Ausbruch der Pandemie eine abgegrenzte, aber erhebliche Krise auf den Energiemärkten. Die Rezession damals wurde aber von den Lockdowns „überdeckt“, ihre Folgen wurden durch die staatlichen Hilfsmaßnahmen und die plötzliche Nachfrage nach Masken, Tests und Impfungen ausgeglichen. Die dahinter liegende Krisendynamik ist aber nur verschleppt worden und fällt uns jetzt doppelt auf den Kopf.

In den politisch-ökonomischen Perspektiven des Arbeiter*innenstandpunkt für 2023 haben wir diese Entwicklung ausführlicher analysiert. „2023 wird die österreichische und europäische Wirtschaft in eine Rezession bei gleichzeitigen hohen Inflationsraten eintreten. Das ist die logische Folge aus schon länger fallenden Industrieprofitraten und der gestiegenen Unsicherheit in Produktion und Kapitalverwertung. […] Der Wirtschaftsabschwung 2023 hat denselben Hintergrund wie die Hochinflation 2022. Die Profitrate, also das Verhältnis von Profit zur Gesamtinvestition in Maschinen, Arbeitskraft, Miete usw. in der Industrie geht bereits seit Jahren zurück, was 2020 schon vor der Coronapandemie zu einem beginnenden Abschwung geführt hat.“

Diese Einschätzung hat die Statistik Austria jetzt mit konkreten Zahlen untermauert. Tatsächlich wurde schon die Quartalsstatistik im März so kommentiert, dass Österreich „haarscharf an der Rezession vorbeischrammt“. Die Verluste in Industrie und Bau wurden noch durch den Tourismus ausgeglichen, das war aber mehr ein Aufholen der Lockdowns als echtes Wachstum.

Jetzt erleben wir eine Industrierezession bei gleichzeitig hoher Inflation. Das belastet vor allem die Arbeiter:innen und Erwerbslosen, aber der Druck wird auch die Rezessionsdynamik auf der Kapitalseite befeuern. Viele kleine und größere Firmen haben unprofitables Wirtschaften und Überakkumulation (also Investitionen, die sich eigentlich gar nicht auszahlen) durch die staatlichen Coronahilfen ausgeglichen, es gibt eine Blase bei den Firmenanlagen, die jetzt platzt.

Die Rezession wird aber in eine echte Krise umschlagen, wenn auch der Finanzbereich wackelt. Damit müssen wir aus zwei Gründen rechnen. Erstens bedeuten Insolvenzen auch Zahlungsausfälle, woraufhin Banken weniger Kredite vergeben, und wieder weniger Firmen ihre Zahlungsschwierigkeiten auf Pump überbrücken können. Zweitens braut sich auch auf den internationalen Finanzmärkten etwas zusammen. Die chinesische Immobilienwirtschaft ist überschuldet, der weltweit am meisten verschuldete Konzern Evergrande hat schon Gläubigerschutz beantragt. Die Aktienkurse sinken schon seit 2022, alleine nach der Pleite der Silicon Valley Bank war der Börsenwert des weltweiten Bankensystems um 16 % gefallen. Dazu kommt ein spezifisch österreichisches Problem: Die heimischen Banken sind in Russland, Ost- und Zentraleuropa „überexponiert“, sie haben mehr Kredite vergeben, als sie an Ausfällen verkraften können.

Krise bedeutet im Kapitalismus immer Verteilungskampf. Als erstes müssen wir damit rechnen, dass die Industrie probiert, uns in den Kollektivvertragsverhandlungen über den Tisch zu ziehen, die Reallohnverluste des letzten Jahres nicht ausgleichen will. Es ist gut, dass die Gewerkschaftsspitze das schon jetzt zurückweist (Reinhold Binder von der PRO-GE: „Lohnraub kann nicht die Lösung sein!“ PRO-GE: Produktionsgewerkschaft für z. B. den Metallbereich). Die Versuchung zu einem faulen Kompromiss wird aber größer, wenn der Druck in den Medien und aus der Politik stärker wird, da können nur streikbereite Kolleg:innen und spürbare Solidarität aus der Linken entgegenwirken.

Es werden sich die Lösungsvorschläge von der Kapitalseite und der Sozialdemokratie gegenüberstehen. Die Industrie will schnell die schwächsten Kapitale loswerden und Verluste für die Besitzer:innen vom Staat bezahlen lassen, damit es wieder Raum zum Wachsen gibt. Für die Arbeiter:innen bedeutet das Massenentlassungen, anschließend wird es konservativen Druck für Sparpakete und Abbau von Arbeitsrechten geben. Das ist kein ökonomisches Gesetz, sondern ein politisches Programm, das auch politisch besiegt werden kann.

Auch die sozialdemokratische Standardantwort ist keine Perspektive für die Arbeiter:innen. Weil sie davon ausgeht, dass die Krise von fehlender Konsum- und Investitionsnachfrage kommt, will sie die durch Subventionen und Kurzarbeit wieder ankurbeln. Das hilft zwar, die Krisenfolgen zu lindern oder zumindest auf einen längeren Zeitraum aufzuteilen, an der grundlegenden Dynamik ändert sie aber nichts: Die Krise entsteht auf der Kapitalseite, weil im Wettbewerbsdruck soviel investiert wird, dass prozentual weniger Profit rausschaut. Dementsprechend wird auch der Druck der Kapitalseite nicht geringer, diese „Überakkumulation“ durch Arbeitsplatzabbau und „Marktbereinigung“ zu lösen.

Wenn man die beiden Seiten einfach gewähren lässt, kommt die übliche Dynamik heraus: erst Massenarbeitslosigkeit, dann Staatshilfen, dann Sparpakete und Sozialabbau. Das haben wir schon nach 2008 gesehen, wo die Krise zu einer Umverteilungsmaschine von unten nach oben geworden ist.

Die Alternative ist ein kämpferischer Zugang zur politischen Ökonomie, ein Kampf um politische Antworten und ökonomische Sicherheit. Kündigungsverbot in der Krise, Enteignung von Unternehmen, die Arbeitsplätze abbauen, Steuern auf Vermögen und Krisenprofite, Reallohnerhöhungen im Kollektivvertrag und ein Rechtsanspruch auf soziale Sicherheit für Erwerbslose und Sorgearbeiter:innen. Dieses offensive Programm kann nicht erst „nach der Revolution“ funktionieren, sondern ist die konkrete Antwort auf die Krise des Kapitalismus jetzt.

Eine große Gefahr wird die Antwort der Rechten darstellen. Die nutzen Krisendynamiken, um ihre Kernideologie als Scheinlösung anzubieten, und werden auf Rassismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit setzen. Die Choreographie von Kickl in der Coronapandemie kann man da als Blaupause nehmen. Die FPÖ wird eine Verschwörung der Eliten wittern (aber nicht von ihren Sponsor:innen bei den Konzernen), um dann gegen Migrant:innen, Feminist:innen und eine angebliche queere Verschwörung zu hetzen. Auch darauf braucht es eine konkrete Antwort der Linken und Arbeiter:innen: Wir lassen uns nicht spalten und wir geben Rechten keine Möglichkeit, sich aufzuspielen.

Warum erst jetzt?

Marxist:innen wollen Krisen oft auf den Tag genau vorhersagen, und deshalb schaffen wir es oft, von drei Krisen zehn anzukündigen. Wir vom Arbeiter*innenstandpunkt waren uns zum Beispiel Ende letzten Jahres nicht sicher, ob Österreich Anfang oder Ende 2023 in die Rezession schlittert, jetzt haben wir uns in der Mitte getroffen. Aber der Wirtschaftseinbruch hat sich nicht erst seit 2022 angekündigt. Der kapitalistische Wettbewerb führt zu regelmäßigen Krisen, weil durch massive Investitionen die Grundlagen der Wertschöpfung ausgehöhlt werden: menschliche Arbeit und unsere natürliche Umwelt. Dieser innere Widerspruch führt zu regelmäßigen Einbrüchen, zuletzt 2008, davor die Dotcom-Blase der 2000er, die Ostasien- und Russlandkrise 1997 und so weiter.

Diesen Frühsommer haben die Nationalbank und das Wirtschaftsforschungsinstitut noch davon gesprochen, dass Österreich dem Abschwung „technisch gesehen“ entkommen wäre. Die Konjunkturabteilung der Nationalbank schrieb damals „Österreich schrammt haarscharf an einer technischen Rezession vorbei“, redete aber davon, dass die Lage sich im zweiten Halbjahr wieder verbessern würde. Schon damals waren die wichtigen Branchen Industrie und Bau geschrumpft, der Zweckoptimismus kam vor allem vom Wachstum im Tourismus.

Das „Wachstum“ in Beherbergung und Gastronomie ist aber eigentlich ein Nachholeffekt gegenüber den letzten Jahren (Statistiker:innen nennen das Basiseffekt), ein Aufholen des tiefen Einbruchs in den Coronawellen. Es gibt aber immer noch um 5 % weniger Übernachtungen und 3.000 Beschäftigte weniger als vor der Pandemie. Aber auch der Außenhandel war im Jänner und Februar 2023 nochmal umsatzstärker als in den Vorjahren, die Auslandsnachfrage konnte in der Industrie einen noch stärkeren Absturz verhindern.

Es ist nicht unüblich, dass in Tourismus und Handel die Krise später ankommt. Die stabilisierende Wirkung dieser Bereiche ist aber vergleichsweise gering, dort werden niedrigere Durchschnittslöhne gezahlt und saisonale Beschäftigung ist weit verbreitet. Entlassungen im Industriebereich führen zu größeren Einkommensverlusten (weil davor mehr da war) und auch zu einem größeren Einbruch der Konsumnachfrage. Das trifft dann wieder Handel und Konsument:innendienstleistungen, zum Beispiel Friseur:innen, aber eben verzögert.

Der Grund für die beginnende Rezession ist aber nicht ein Einbruch der Konsument:innennachfrage. Sie hat in der Produktion, bei den Kapitalist:innen, und bei den internationalen Beziehungen begonnen. Politik, die jetzt versucht, kurzfristig Konsumausgaben zu stabilisieren, und Firmeninvestitionen subventioniert, kann die Krise kurzzeitig dämpfen. Sie ändert aber nichts an ihren Ursachen und auch nicht an den Vorstößen des Kapitals: Lohnkürzungen, Sozialabbau und Vernichtung von Arbeitsplätzen bei weniger konkurrenzfähigen Firmen. Diese Dynamik kann nur politisch abgewehrt werden, die Bürgerlichen lassen sich nicht durch „besser durchdachte“ Vorschläge davon abbringen.

Was noch dazu kommt: Finanzkriseleien

Es schaut im Moment auch so aus, als ob es zu einer internationalen Bankenkrise kommt. Vor allem in China hat sich eine riesige Blase an Immobilienkrediten aufgebaut. Das Platzen der Immobilienblase in den USA 2007 war ja auch der Startschuss für die globale Finanzkrise gewesen. Wenn etwas Vergleichbares noch einmal passiert, wird sich die schon begonnene Wirtschaftskrise jedenfalls verschärfen.

Dazu kommt, dass das Wirtschaftswachstum in China nach 2008 die globale Wirtschaft als „internationaler Wachstumsmotor“ teilweise stabilisieren konnte. Das geht sich natürlich nicht aus, wenn die größte Volkswirtschaft der Welt selber strauchelt.

Wir haben in den politisch-ökonomischen Perspektiven des Arbeiter*innenstandpunkt für 2023 geschrieben: „Egal ob die Krise vom Finanzsektor ausgeht oder der Finanzsektor als Multiplikator dahinter liegender Krisendynamiken funktioniert, wird mit der Rezession ab 2023 auch eine Finanzkrise einhergehen. Die Banken werden keinesfalls stabilisierend wirken können, sondern im Gegenteil die Geschwindigkeit der Krisenentwicklung weiter anheizen.“ Man kann im Vorhinein immer schwer abschätzen, ob die Krise zuerst bei den Finanzmärkten oder Konzernen sichtbar wird. Die dahinter liegende Dynamik ist aber dieselbe: Sinkende Unternehmensprofite führen zur Blasenbildung und gleichzeitigen Kreditausfällen im Bankensektor; der Einbruch im Finanzsektor verstärkt dann noch einmal die Krise.

Der Einbruch 2023 wurde jetzt zuerst bei Konzernpleiten und negativem Industriewachstum sichtbar. Das bedeutet aber auch, dass der verschärfende Effekt des Bankensektors noch aussteht.

Politische Antworten und politische Ökonomie

Krisen sind hochpolitische Momente. Es ist für die Arbeiter:innenbewegung zentral, sich in diesen Momenten gegen die Antworten der Herrschenden zu organisieren. Das Verständnis der Krisendynamik bestimmt auch den politischen Kurs: Die nachfrageseitige Erklärung der Keynesianer:innen (es kommt zur Krise, weil Menschen über zu wenig Einkommen verfügen, um zu konsumieren) führt zu sozialdemokratischen Vorschlägen (Kurzarbeit und Unternehmenssubventionen). Die federn zwar das Schlimmste ab, setzen aber den danach kommenden Angriffen der Bürgerlichen nichts entgegen. Damit können sich Revolutionär:innen, die Linke und die Arbeiter:innenbewegung nicht begnügen.

Die Antwort der Neoliberalen ist noch unattraktiver. Um kapitalistische Krisen zu lösen, aber gleichzeitig den Kapitalismus zu stärken, setzt das Kapital auf eine Radikalkur. Die unprofitabelsten Firmen werden vom Markt verdrängt, die schwächsten Kapitale zerstört. Das nennen Konservative die „reinigende Wirkung der Krise“, dadurch wird wieder Wachstumspotential frei. Ganz auf den Staat verzichten die Marktfetischist:innen aber auch nicht: Verluste für Unternehmensbesitzer:innen und Banken sollen durch Regierungshilfen verhindert werden: Krise für uns, Sozialstaat für sie, sozusagen.

Die Zerstörung von Kapital bedeutet Massenentlassungen, Einkommenseinbruch für Arbeiter:innen und schlechtere Gehälter, wenn man überhaupt wieder einen Job findet. Außerdem nutzen Konservative die Krise auch für politische Angriffe wie Sozialabbau und Abbau von Arbeitsrechten, die langfristig die Lage der Arbeiter:innen verschlechtern, aber die Unternehmensprofite hochtreiben.

Die Entlassungen werden uns zuerst einmal als bedauernswertes Ergebnis von anonymen Marktkräften präsentiert, die offiziell-politischen Vorstöße zum Sparen kommen oft erst später. Aber tatsächlich sind das nur zwei Seiten derselben politischen Medaille. Die Kapitalist:innen und ihre Parteien wälzen die Krisenkosten auf die Arbeiter:innen ab. Die Arbeiter:innenbewegung und die Linke kann auch beide gleichzeitig bekämpfen.

Wir dürfen auf keinen Fall auf die Rhetorik von anonymen Marktkräften und wirtschaftlichen Gesetzen, die leider so sind, hereinfallen. Stattdessen sagen wir klar: Wir können und wollen demokratisch entscheiden, wie produziert, verteilt und beschäftigt wird. Die Krise zeigt, dass der Markt das schlecht und, wenn überhaupt, dann im Interesse von einigen wenigen Kapitalist:innen regelt. Wir fordern politische Lösungen für das, was wir ja bewusst politische Ökonomie nennen: Entlassungsverbote und Enteignung von Unternehmen, die glauben, dass es ohne Arbeitsplatzabbau nicht geht, ein Arbeitslosengeld mit einer Nettoersatzrate von 100 % auf Kosten einer Reichensteuer und ganz bestimmt keine Geschenke an Konzerne und Banken.

Damit warten wir auch nicht darauf, bis der Markt durch eine demokratisch geplante Wirtschaft ersetzt wird. Der politische Klassenkampf auf der ökonomischen Bühne wird von der Kapitalseite jeden Tag geführt, die Arbeiter:innenbewegung muss ihn genauso tagtäglich beantworten. Dass die Gewerkschaftsspitzen schon jetzt sagen, Lohnraub kann nicht die Lösung sein, ist ein guter Ansatz. Wieviel davon aber Rhetorik bleibt und wieviel auch in reale Arbeitskämpfe und Erfolge umgesetzt wird, werden wir noch sehen. Druck von der Basis ist auf jeden Fall notwendig, damit die Gewerkschaftsspitzen nicht wieder sofort einknicken und so wie im letzten Jahr massive Reallohnverluste ausverhandeln.

Wir wissen ja jetzt, was an Rezession und politischen Angriffen auf uns zukommt. Am besten ist es, schon jetzt zu sagen „Wir sind streikbereit“, damit Verhandler:innen und Gewerkschaftsspitzen gar nicht in Versuchung geraten, sich auf faule Kompromisse einzulassen. Dafür müssen wir uns aber im Betrieb organisieren, von den Betriebsrät:innen einfordern, dass Versammlungen organisiert werden und andernfalls selber die Kolleg:innen einladen. Wenn einem/r das erst einfällt, wenn die Betriebsrät:innenkonferenz schon angekündigt ist, ist es zu spät.

Dieser Widerstand, an der konkreten Frage aufgehängt, ist auch der Ausgangspunkt für die Veränderung in den Gewerkschaften, die wir dringend brauchen. Statt Entscheidungen in den Händen von einigen gut bezahlten und auf Sozialpartner:innenschaft getrimmten Funktionär:innen wollen wir hin zu selbstorganisierten Kampforganisationen, die nichts außer den Interessen der Arbeiter:innen im Blick haben. Das ist solch eine radikale Änderung, dass man sie nicht anders als eine „Revolutionierung der Gewerkschaften“ nennen kann.

Linke Betriebsgruppen und antibürokratische Oppositione sind in Österreich leider schwach und wenige. Es ist natürlich wichtig, genau jetzt welche aufzubauen und sich abzusprechen. Aber gleichzeitig können wir auch Druck auf der Straße erzeugen, durch aktive Unterstützung von Warnstreiks, Teilnahme an Gewerkschaftsdemonstrationen und eigenen Protesten wo wir den ewig alten Standardspruch der Linken noch einmal wiederholen: „Wir zahlen nicht für diese Krise“.




Eine Welt in der Krise

Markus Lehner, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

Der ökonomische Zusammenbruch Sri Lankas im Jahr 2022 und die ähnlichen Zuspitzungen, die sich etwa in Pakistan im Jahr 2023 angedeutet haben, sind symptomatisch für die aktuelle Weltlage. Sie bringen die tiefe Krise vieler Länder des „globalen Südens“ an die Oberfläche, die seit einem Jahrzehnt die Realität außerhalb der imperialistischen Zentren der Welt prägt. Während „Globalisierung“ einst mit dem Narrativ verbunden war, dass das Ende des Kalten Krieges und die weltweite Ausbreitung von Kapital und Demokratie nun auch den ärmeren Ländern eine nachholende Entwicklung ermöglichen würde, wenden sich heute selbst hoffnungsvolle Schwellenländer wieder in großer Zahlan den IWF, um den Kollaps abzuwenden. Immer mehr stehen vor der Wahl, ihre Ökonomien dem Diktat der westlichen Finanzmärkte oder Chinas zu unterwerfen.

Die Globalisierung, die als Explosion des Welthandels, der internationalen Finanzströme, des weltweiten Informations- und Meinungsaustauschs über offene Netze, der Ausdehnung eng miteinander verflochtener internationaler Produktionsketten, der Beschleunigung globaler Verkehrssysteme usw. verstanden wurde, scheint derzeit ins Stocken geraten zu sein. Was manchmal als vorübergehendes Stottern des Globalisierungsmotors verkauft wurde (Unterbrechung von Lieferketten, Transportprobleme, Kapitalabfluss aus bestimmten Ländern, Zahlungsprobleme …), trägt heute in vielerlei Hinsicht einen systematischeren Charakter: Liefer- und Produktionsketten werden neu ausgerichtet, Investitionen aus bestimmten Ländern politisch angegriffen, Zollschranken und Investitionsbeschränkungen in großem Stil wiederbelebt, Finanzinstitute als politische Waffe eingesetzt usw.

Die Welt erscheint wieder klar geteilt in imperialistische Mächte und ihre Halbkolonien (die Rede von „Schwellenländern“ kann man getrost vergessen), während die Großmächte dabei sind, die „Globalisierung“ in ihre Einflusssphären und Machtblöcke aufzuteilen. Nur haben sich in der Zeit der Globalisierung China und Russland als neue Konkurrenten gegen den „westlichen Block“ etabliert und sind damit als Herausforderer des schwächelnden Welthegemons USA auf den Plan getreten. In vielen Regionen des krisengeschüttelten globalen Südens konkurrieren diese Mächte nun um ihre Position, sei es als Handelspartnerinnen, Kreditgeberinnen, Rüstungslieferantinnen oder Bündnis„partnerinnen“. Mehr und mehr wird diese Konkurrenz auch zur offenen Konfrontation. Der Ukrainekrieg ist nur der schärfste Ausdruck dieser wachsenden Konfrontation bei der Neuaufteilung der Welt 3.0.

Doch diese Krise der Globalisierung und die damit verbundene neue politisch-ökonomische Weltunordnung sind nur ein Ausdruck tiefer liegender Krisenprozesse. Der Kapitalismus ist ein Wirtschaftssystem, das zum Wachstum, zur Akkumulation von Kapital verurteilt ist, scheinbar ohne Grenzen. Jede Stagnation der Akkumulation, sei es als Rezession, anhaltende Produktionsausfälle, Absatzprobleme oder Kurseinbrüche bei den Finanzwerten, führt zu Zahlungsausfällen, ausbleibenden Kapitalzuflüssen, Betriebsschließungen und Firmenzusammenbrüchen, kurz zur Unterbrechung der Geld-Waren-Metamorphose und damit letztlich der Verwandlung von Mehrarbeit in Profit, der Grundlage der kapitalistischen Klassengesellschaft. Aber diese erzwungene Grenzenlosigkeit der Kapitalakkumulation führt direkt zu ihrem Gegenteil: zur Schaffung oder Verschärfung von Schranken für die erweiterte Reproduktion.  Der Zwang zur Steigerung der intensivsten Ausbeutung von Mensch und Natur, wie er der kapitalistischen Rationalisierung inhärent ist, führt zu solchen Erscheinungen, wie sie Marx im Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate zusammengefasst hat. Während der aus dem einzelnen Produktionsakt erwachsende Mehrwert also abnimmt, kann die Profitmasse durch die Steigerung der Gesamtproduktion ausgeweitet werden. Dies führt zu einem Punkt, an dem die gestiegenen Kapitalkosten, sei es für Energie, Maschinen, Rohstoffe, Produktionssteuerung und -planung usw. selbst die absolute Profitmasse aufzehren. Die Kapitalakkumulation gerät zur Überakkumulation, das Kapital in Form des investierten Bestands und seines Bedarfs an Material, Energie, Arbeit und neuem Kapital wird zu einem Hindernis für neues Wachstum.

Verbunden mit dieser wirtschaftlichen Wachstums- ist die soziale und ökologische Krise. Bereits durch die kapitalistische Rationalisierung bedroht, werden die arbeitenden Klassen durch die Mechanismen der kapitalistischen Krisenbewältigung, der Kapitalentwertung und -vernichtung, der Kapitalkonzentration, der Standortverlagerung usw. sowohl in der direkten Produktion als auch in abgeleiteten Bereichen (öffentliche Versorgung, staatliche Dienstleistungen, Kleinbürgertum usw.) existenziell bedroht. Andererseits stößt der Hunger der Kapitalakkumulation nach Energie und Rohstoffen zunehmend an die Grenzen der natürlichen Reproduktionssysteme.  Der Rockströmbericht nennt neun planetarische Grenzen, die bei Beibehaltung der gegenwärtigen Wirtschaftsweise in absehbarer Zeit überschritten werden und damit die Existenz des menschlichen Lebens in Frage stellen.

Die 1,5-Grad- und 2-Grad-Szenarien und die daraus resultierenden Ziele für die Reduktion klimaschädlicher Treibhausgase zumindest innerhalb der nächsten 2 Jahrzehnte bilden nicht einmal die größten Herausforderungen. Die zunehmende Verknappung von Süßwasser, die Versauerung der Meere, die Überlastung der Stickstoff- und Phosphorkreisläufe in Böden und Gewässern, das Artensterben etc. erfordern dringend globales Handeln. Viele der „Umwelterfolge“ im globalen Norden wurden einfach durch die Verlagerung in schlechterer Form in den globalen Süden erkauft. Global führt der Zwang zur Kapitalakkumulation zu einem ökologischen Bruch – der Entwicklung eines tiefen Widerspruchs zwischen expandierter wirtschaftlicher Reproduktion und der Anpassungsfähigkeit zentraler natürlicher Reproduktionssysteme. Es besteht kein Zweifel, dass sich dieser ökologische Bruch in der Zeit der Globalisierung zu einer Menschheitskrise verschärft hat. Die sich bereits abzeichnenden Umweltkatastrophen oder die verzweifelten Versuche der Gegensteuerung im Rahmen des Systems („Transformation“) wirken zwangsläufig auf das Wirtschaftswachstum zurück.

Das Kapital reagiert auf die oben beschriebenen immanenten Grenzen der Kapitalakkumulation mit dem, was Marx als „gegenläufige Tendenzen“ zum Fall der Profitrate bezeichnete. Dabei ist zu beachten, dass das Problem vor allem eins des Falles der „Durchschnittsprofitrate“ ist. Die Kapitalakkumulation findet in einem Raum statt, der zum einen in Sektoren mit unterschiedlicher Produktivität oder Kapitalintensität und zum anderen in Länder und Regionen mit sehr unterschiedlichem „Entwicklungsstand“ (in Bezug auf die Kapitalakkumulation) segmentiert ist. Ein grober und dynamischer Ausgleich der durchschnittlichen Profitraten findet nur zyklisch durch Kapital- und Arbeitsströme zwischen den Segmenten statt. Dieser kann vorübergehend gestoppt oder modifiziert werden, z. B. durch Monopolbildung, so dass z. B. Großkonzerne ihre Ausbeutungsprobleme für einen längeren Zeitraum auf andere Wirtschaftszweige abwälzen können (Monopolrentabilität). Andererseits ermöglichen es die unterschiedlich ausgeprägten Kapital- und Arbeitsströme auf dem Weltmarkt gegenüber nationalen/regionalen Märkten, dass Kapitalexporte und Welthandel genutzt werden, um höhere Ausbeutungsraten in weniger entwickelten Ländern („Entwicklung“ hier im Sinne der Akkumulationsbewegung) als Quelle für Extraprofite zu nutzen. Im Zeitalter des Finanz- und Monopolkapitals, d. h. des Imperialismus, können diese Momente ausgedehnt werden, so dass in den imperialistischen Zentren längere Perioden scheinbar stabiler Akkumulation und die Vermeidung ausgeprägter Krisenmomente erreicht werden. Die Krise der Überakkumulation bricht also zunehmend in der inneren und äußeren Peripherie aus, um über kurz oder lang auch die Monopolprofitrate in den Zentren selbst zu treffen.

Mit der Globalisierung seit Anfang der 1990er Jahre hat sich die Verteilung der direkten Industrieproduktion freilich noch stärker zu Ungunsten der klassischen imperialistischen Länder (wie sie in der G7 vertreten sind) verschoben: Noch im Nachkriegsaufschwung konzentrierten sich 80 % auf die „entwickelten“ OECD-Staaten mit nur 20 % der Weltbevölkerung, während für den Rest der kapitalistischen Welt die Rolle als Rohstofflieferant:in und die Herstellung weniger kapitalintensiver Produkte (z. B. Textilien) blieb. Dies hat sich heute radikal geändert: USA/CND/EU/J mit inzwischen nur noch 15 % der Weltbevölkerung produzieren nur noch 42 % des Welt-BIP (etwa so viel wie in Asien ohne Japan). Ein entscheidender Faktor hat sich jedoch kaum verändert: die Verteilung des Kapitals. 70 % des Vermögens- und Investitionskapitals sind nach wie vor in der genannten Ländergruppe konzentriert. Zählt man China und Russland zur imperialistischen Welt hinzu, bleiben für den Rest, d. h. für den „globalen Süden“, nur noch 10 % des investierbaren Kapitals übrig (wovon der größte Teil davon dann auch noch auf Rentierkapital entfällt, z. B. Fonds von Ölkartellstaaten).

Die Globalisierung hat zwar die industrielle Produktion weltweit stärker verteilt, nicht aber die Anfangs- und Endpunkte der Kapitalakkumulation, das Kapital, das nach profitablen Investitionsfeldern sucht. Bei krisenhaften Entwicklungen in den Zielländern der Kapitalströme kommt es sehr schnell zur Rückkehr in die „sicheren Häfen“ des globalen Nordens. Dies haben verschiedene als „Schwellenländer“ angepriesene Kandidat:innen wie die Türkei, Brasilien oder Pakistan im letzten Jahrzehnt schmerzlich erfahren. Letztlich waren nur China und Russland in der Lage, sich als neue imperialistische Mächte in der Globalisierungsperiode zu etablieren, während Indien als einziges der ehemaligen Schwellenländer dem Absturz bis jetzt noch widerstand.

Auf der Grundlage dieser Weltmarktbewegung des Kapitals können keine „vereinigten Staaten der Welt“, kann nicht einmal ein „Hyperimperialismus“, entstehen. Aufgeteilt in Zentrum und Peripherie bleiben auch die Finanzkapitale und Monopole im Wettbewerb und der letztendlichen Wirkung der Ausgleichsmechanismen unterworfen. Auf Perioden der relativen Stabilität folgen Krisen, Zusammenbrüche und Umverteilungsprozesse. Die Perioden der Stabilität werden auch immer von der Vorherrschaft eines Systems von Großmächten begleitet, welches die Weltordnung garantiert und so etwas wie eine globale politische Agenda bestimmt – allerdings letztlich immer im Rahmen der Vertretung der Weltmarktinteressen des „eigenen“ Kapitals, aber verkleidet als „Kampf um Fortschritt, Menschenrechte und Demokratie“. Das nationalstaatliche System, in dem der Kapitalismus ursprünglich entstanden ist, ist längst zu einem unpassenden Korsett für die imperialistische Entwicklungsstufe des Kapitalismus geworden – aber es gibt keine globale politische Struktur, die der Kapitalismus als Ersatz für das nationalstaatliche Konzept hervorbringen kann. Daher erweist er sich als unzureichend, um lebenswichtige globale Probleme wie Klimakatastrophe, Pandemien, Welternährung usw. durch eine global geplante Politik zu lösen. Auch „Demokratie“ und „nationale Selbstbestimmung“ erweisen sich im gegenwärtigen Zustand der globalen Kapitalentwicklung zunehmend als illusorische bürgerliche Ideen. In den stabileren Perioden der monopolistischen Zyklen kann das globale Kapital durch die hegemoniale Rolle einer der Großmächte eine gewisse politische Stabilität erreichen. Sie verfügt dann sowohl über die wirtschaftlichen und monetären Hebel als auch über die militärische Interventionsfähigkeit und die politischen und ideologischen Mittel, um politische und wirtschaftliche Krisen im Rahmen aller imperialistischen Mächte, aber vor allem im eigenen Weltmarktinteresse, mit seiner Bündnis- und Militärpolitik zu lösen.

War dies lange Zeit der britische Imperialismus, so ist er seit dem Zweiten Weltkrieg durch den US-Imperialismus abgelöst worden. Zu Beginn der Globalisierung wirtschaftlich angeschlagen, konnte er in dieser Periode vor allem aufgrund seines nach wie vor überlegenen Finanz- und Technologiekapitals wieder eine dominierende Rolle spielen – allerdings auf Kosten des Aufstiegs Chinas zu einem zentralen Akteur in der Welt des globalen Industriekapitals.

Der Rückgang der Produktivität und Rentabilität wichtiger Industriesektoren in den USA wurde durch immer größere Blasen in der Finanzwelt und durch fiktive Kapitalakkumulation kompensiert. Mit der Großen Rezession von 2008/2009 wurde der wirklich stagnierende Charakter der US-Wirtschaft immer deutlicher. Wir gehen daher davon aus, dass wir in eine Phase eintreten, in der mit der allgemeinen kapitalistischen Krise die Frage nach der Führungsrolle der USA zunehmend umstritten sein wird.

Die Periode der Globalisierung – Aufstieg und Weg in die Krise

Grafik 1 fasst den Zeitraum von 1990 bis 2019 anhand der Entwicklung der Profitraten einiger ausgewählter Länder zusammen. Die zugrundeliegende Berechnung der Profitraten ist den Extended Penn World Tables (Release 7.0) entnommen. Hier wird die Profitrate anhand der Kapitalquote (Anteil der Gewinne am Volkseinkommen), der Kapitalproduktivität und der Abschreibungsrate berechnet.

Grafik 1: Profitratenentwicklung ausgewählter Länder

Das Schaubild zeigt die Erholung der Profitrate der USA zu Beginn der 1990er Jahre als Impuls und Ausdruck einer veränderten Wirtschaftsdynamik sowie den großen Unterschied zur chinesischen Profitrate. Entgegen der oben genannten Tendenz zeigt die chinesische Profitrate, die den gesamten Zeitraum bestimmte, dass das Bewegungszentrum des Zeitraums die enorme Kapitalakkumulation in China bildete, die an seinem Ende in eine Phase der Überakkumulation des chinesischen Kapitals überging. Erst mit der Abschwächung der US-Profitrate und dem Aufblühen des China-Booms erholten sich die Profitraten in Deutschland und Japan und in ihrem Gefolge auch die Russlands, um dann mit der Großen Rezession in eine stagnierende bis fallende Richtung zu gehen. Nimmt man eine typische Halbkolonie wie Brasilien hinzu, so ist die Profitrate dort in der Regel viel höher (wie gesagt, das ist genau der Ausdruck einer abhängigen Entwicklung, die sich in geringerer Kapitalintensität und höherer Ausbeutungsrate manifestiert), aber mit viel stärkeren Ausschlägen nach oben und unten (in Brasilien zwischen 14 und 10 Prozent) – als Ausdruck der Abhängigkeit von Kapitalzuflüssen und den Verwertungsbedingungen auf dem Weltmarkt.

Anmerkung: Die Berechnung der Profitrate in China ist umstritten. Die statistischen Daten, insbesondere zu Beginn des Zeitraums, sind fragwürdig und können im Hinblick auf die Gewinn- und Abschreibungswerte ungenau sein. Daher gibt es mehrere Schätzungen der Rate. Im Allgemeinen sind die in den obigen Statistiken aufgezeigten Tendenzen jedoch ähnlich.

Was waren die Startbedingungen, die vor allem das US-Kapital bot? Die Überwindung der vorangegangenen Krisenperiode (gekennzeichnet durch zwei Jahrzehnte sinkender Profitraten, Überakkumulation, Verschuldung, Zunahme der Klassenkämpfe und eine Eskalation der Blockkonfrontation) wurde durch einige entscheidende Niederlagen der Arbeiter:innenbewegung, der Kämpfe in den Halbkolonien und den Zusammenbruch der degenerierten Arbeiter:innenstaaten ermöglicht. Die Verschiebung des globalen Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen zugunsten des Kapitals führte zu dem, was damals „Neoliberalismus“ genannt wurde: der Schwächung der gewerkschaftlichen Durchsetzungskraft, Deregulierung der Arbeitsbeziehungen, einer neuen Qualität der Privatisierung und des Abbaus sozialer und öffentlicher Dienstleistungen, dem Abbau von Handels- und vor allem von Investitions-„Schranken“, der Verringerung staatlicher Interventionsmöglichkeiten in der Wirtschaft und zu all dem der Deregulierung der globalen Finanzmärkte mit unbegrenzten Möglichkeiten für den Kapitalfluss zu den günstigsten Produktions- und Investitionsmöglichkeiten auf der ganzen Welt. Dadurch wurden nicht nur die bereits erwähnte globale Differenz der Profitraten optimal genutzt (Ausgleich des eigenen Profitratenverfalls), sondern auch die absolute und relative Mehrwertrate als weitere Stabilisierungsmaßnahme erhöht. Hinzu kommen technische Innovationen im Transportwesen (z. B. das globale System der Containerlogistik), in der Steuerungs- und Regelungstechnik (Elektronik und IT) usw., die zur Bildung sehr großer Produktions- und Versorgungsnetze auf Weltebene geführt haben. Diese Produktionsketten werden häufig als „Wertschöpfungsketten“ bezeichnet, weil die Produktion und die Aneignung von Werten entlang der Kette von der Investitionsentscheidung, der Planung, der Konstruktion, der Einbindung von Zulieferer:innen, der Teile- und Systemproduktion, dem Vertrieb und dem Marketing bis hin zur Verteilung der Erträge und der Kontrolle ihrer Verwendung sehr ungleich verteilt sind. Während sich die arbeitsintensiven Produktionsprozesse in Ländern mit hoher Ausbeutungsrate konzentrieren, werden die qualifizierteren Spezialaufgaben, die technische und finanzielle Gesamtplanung und letztlich die Gesamtkontrolle weiterhin in den „Zentren“ wahrgenommen. Diese Form der Wertschöpfungskette ist also eine neue Form des Werttransfers aus den Halbkolonien in die imperialistischen Zentren, die direkter mit dem Produktionsprozess verbunden ist als die klassischen Direktinvestitionen. Für die Arbeiter:innen in den imperialistischen Zentren resultierte das in vielen Abwehrkämpfen um die Verlagerung von Produktionsstätten oder auch nur von Arbeitsbereichen in „Billiglohnländer“.

Mit der Verfestigung dieser Formen der internationalen Arbeitsteilung wurde auch die Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen stabilisiert, so dass die oben als Imperative des Kapitals beschriebenen Elemente des Neoliberalismus zu „Sachzwängen“ wurden. Der „Neoliberalismus“ war nicht nur eine schlechte Ideologie, die plötzlich von Manager:innen und Politiker:innen in den Zentren und in der Peripherie übernommen wurde und der, wie viele Linke meinten, mit „Argumenten“ begegnet werden müsste. Vielmehr gibt es zu ihm keine Alternative, solange es der Arbeiter:innenklasse nicht gelingt, ein Netzwerk des Widerstands gegen die Kapitalströme und die damit verbundene Bildung von Produktionsketten auf ebenso globaler Ebene zu schaffen.

Insgesamt hat die neue Qualität der Globalisierung des Kapitals den Spielraum für soziale Reformen und damit auch für Demokratie und nationale Selbstbestimmung im Rahmen der bürgerlichen Politik weltweit weiter eingeschränkt, wenn auch in unterschiedlichem Maße in den Halbkolonien und in den imperialistischen Zentren. Die Gewöhnung an die Grenzen demokratischer oder sozialer Forderungen ist so groß geworden, dass solche, die den neoliberalen Rahmenbedingungen widersprechen, leicht als „Populismus“ diffamiert werden können. Am erfolgversprechendsten waren Klassenkampfzyklen, die supranationale Bedeutung erlangten (z. B. ausgehend von Frankreich oder Griechenland sich ausbreitend auf den Rest der EU), die Sozialforumsbewegung (die regionale und internationale Proteste lose zusammenführte), die „Pink Tide“ (die mehrere lateinamerikanische Linksregierungen hervorbrachte), die internationalen Protestbewegungen nach der Großen Rezession (Arabischer Frühling, die „Aufstände“ in Südeuropa, vor allem Griechenland, Occupy). Aber es gelang nicht, diese in eine international koordinierte Kraft des antikapitalistischen Widerstands zu verwandeln (fälschlicherweise als „Antiglobalisierungsbewegung“ bezeichnet). Nach der daher unvermeidlichen Niederlage dieser Bewegungen zogen sich ihre Anhänger:innen auf den nationalen linken Reformismus oder stark lokal konzentrierte „Arbeit vor Ort“ zurück. Einem Kapital, das noch immer seinen globalen Hebel ansetzen kann, steht also kein international koordinierter Widerstand gegenüber, schon gar nicht in Krisenzeiten der Globalisierungsperiode.

Dennoch waren diese Klassenkämpfe, Bewegungen und politischen Widerstände wichtig, um die anfänglichen Steigerungsraten des absoluten Mehrwerts abzuschwächen. Wie in jeder Aufschwungsperiode folgte auf die Phase, in der die verstärkte unmittelbare Ausbeutung und Intensivierung der Arbeit im Vordergrund stand, die, in welcher die Rationalisierung und Modernisierung des Kapitaleinsatzes dominierte. Vor allem aber ging es um die Ausweitung internationaler Produktionsketten – zunächst mit der verstärkten Tendenz, China in ihren Mittelpunkt zu stellen. Grafik 1 zeigt die Abschwächung der Profitrate in den USA seit Mitte der 1990er Jahre. Wie wir an anderer Stelle ausführlich dargelegt haben, beruht diese auf einem viel ausgeprägteren Abwärtstrend der industriellen Gewinnraten (aufgrund der sinkenden Kapitalproduktivität). Dies wurde in den frühen 2000er Jahren durch das stark kreditfinanzierte Chinageschäft kompensiert (Fortsetzung der Kapitalakkumulation auf der Grundlage der fiktiven Wertsteigerung von unproduktivem Kapital, z. B. Immobilien, als finanzielle Grundlage für einen sehr starken Anstieg der Importe aus China). Daher die Eile, mit der China 2001 in die WTO aufgenommen wurde (Beseitigung wichtiger Handelshemmnisse), auch ohne dass die üblichen Öffnungen des Finanzmarktes oder Übernahmemöglichkeiten für chinesische Unternehmen durchgesetzt wurden. Auf der anderen Seite nutzten imperialistische Volkswirtschaften wie Deutschland und Japan diese Zeit, um ihre Produktionsketten in Richtung China auszudehnen und so ihre Exportindustrien nach Nordamerika und in die übrige EU wesentlich wettbewerbsfähiger zu machen. Die fiktive Erholung der Profitrate in den USA in den Jahren 2000 – 2005 ist somit eng mit dem großen Sprung der chinesischen Profitrate und der deutlichen Erholung der Profitraten in Deutschland und Japan bis zur Großen Rezession verbunden.

Abbildung 2: Globale Wertschöpfungsketten

Abbildung 2 zeigt einen Überblick über die Entwicklung der globalen Wertschöpfungsketten in einem gewichteten Diagramm, je nach Ausmaß der Aufteilung der Teilprozesse der Produktion zwischen einigen Zentren und ihrer „Peripherie“ (aus dem Global-Value-Chain-Bericht der WTO 2017). Es ist zu erkennen, dass zu Beginn der 2000er Jahre China noch als untergeordneter Zuliefererstandort für den NAFTA-Sektor auftrat (mit den USA als Zentrum und Mexiko als Hauptlieferanten), während sich das europäische Produktionskettennetz mit Deutschland im Zentrum noch relativ separat entwickelte. Im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre, dem Höhepunkt der Globalisierung, entwickelte sich China zu einem eigenen Zentrum der Wertschöpfungsketten in Asien, in engem Zusammenhang mit dem Ausbau solcher Industriemodelle in Japan und Südkorea. Bis 2011 scheinen diese drei Zentren auch zunehmend miteinander verbunden zu sein, wobei Deutschland sowie die anderen großen EU-Volkswirtschaften (Frankreich, Benelux, Vereinigtes Königreich, Italien, Spanien) ihre Produktionsprozesse zunehmend internationalisierten. Erwähnenswert sind auch Länder wie Brasilien, die bis in die 1990er Jahre überwiegend Nordamerika belieferten, dann mehr in den europäischen Block exportierten und heute in den chinesischen Wertschöpfungsketten auftauchen. Mitte des letzten Jahrzehnts, im Zuge der Großen Rezession und ihrer Auswirkungen, ist ein leichter Bedeutungsverlust der globalen Wertschöpfungsketten und ein erneutes Auseinanderdriften der Hauptblöcke zu beobachten. Es muss betont werden, dass es hier um Produktionsketten geht – bei den klassischen Direktinvestitionen, Handelsströmen und vor allem Finanzmarktbewegungen gibt es ganz andere Zentren und Netzwerke (z. B. in letzteren New York, London, Singapur, Hongkong), die für die Dynamik der Globalisierung mindestens genauso wichtig sind.

Die große globale Rezession von 2008/2009 wurde durch die anhaltende Finanzmarktkrise nach dem Platzen der US-Immobilienblase ausgelöst. Wie an anderer Stelle ausführlich dargelegt, offenbarte die Schwächung der Möglichkeiten, überakkumuliertes Kapital in fiktive Anlagen zu investieren, das Problem der Masse des anlagesuchenden Kapitals, das nur noch Anlagemöglichkeiten mit deutlich geringerer Rendite fand oder in solchen mit geringerer Rendite gebunden war. Der Einbruch bei der Finanzierung bestehender Unternehmen, die Refinanzierung von Schulden und das Ausbleiben großer Investitionen führten 2009 zu einem Wachstumseinbruch von rund 5 % synchron in den USA, den wichtigsten EU-Ländern, Japan und in der Folge zu einer Verlangsamung der Wirtschaft im Rest der Welt, auch in China. Der normale Verlauf der kapitalistischen Krise hätte darin bestanden, die unrentablen Kapitalien einfach zu vernichten (Konkurs von Schuldner:innen, Realisierung von Verlusten in der Gläubigerkette, Firmenzusammenbrüche, massenhafte Privatkonkurse, Massenarbeitslosigkeit, -entlassungen). Tatsächlich ist dies nicht im erwartbaren Umfang geschehen (bzw. hat vor allem auf die unteren Einkommensschichten Auswirkungen gehabt), aber das Szenario von 1929 wurde von den zentralen imperialistischen Finanzinstitutionen auf der Grundlage des Prinzips „too big to fail“ abgewendet: Der größte Teil des „überschüssigen“ Kapitals wurde durch die Politik des „quantitative easing“ (QE) vorm Untergang bewahrt. Einerseits retteten die Zentralbanken das gefährdete Kapital durch den Ankauf von Vermögenswerten in Billionenhöhe, andererseits sorgte die Nullzinspolitik der großen Zentralbanken (FED, EZB, BoJ) dafür, dass Refinanzierung und Neuinvestitionen nicht durch Zinsen belastet wurden. Hinzu kamen staatliche Beihilfen und Investitionsprogramme in Milliardenhöhe.

All dies hat jedoch nicht zu einem neuen Aufschwung geführt. Die 2010er Jahre waren in den alten imperialistischen Ländern durch noch niedrigere Wachstumsraten als in den Jahrzehnten zuvor, wiederkehrende Verschuldungsprobleme, niedrige Investitionsquoten, sinkende Arbeitsproduktivitätszuwächse und stagnierende Profitraten auf niedrigem Niveau gekennzeichnet. Die Halbkolonien (insbesondere die „Schwellenländer“) waren von massiven Kapitalabflüssen, einer Verdünnung der Lieferketten, einem Rückgang der Nachfrage nach Rohstoffen und Halbfertigwaren und damit der Rückkehr der Schreckgespenster Rezession, Verschuldung, Währungskrisen und Inflation betroffen. Insbesondere war das Jahrzenht aber auch durch eine deutliche Veränderung der Rolle Chinas in der Weltwirtschaft gekennzeichnet.

Die geringe krisenbedingte Kapitalvernichtung, d. h. die Aufrechterhaltung eines großen Teils des überakkumulierten Kapitals, führte zu einem stetigen Anstieg der Zahl der Unternehmen oder Investitionen, die eigentlich nur durch ständiges Subventionskapital (sei es durch Anleihekäufe oder direkte Unterstützung) am Leben erhalten werden können.

Abbildung 3: Anteil der Zombie-Unternehmen

Abbildung 3 zeigt den Anteil der „Zombie“-Unternehmen, d. h. der Firmen, die ihre Schulden langfristig nicht aus ihren Gewinnen finanzieren können. Nicht nur, dass der Anteil nach der Großen Rezession weiter auf rund 16 % gestiegen ist, auch die Wahrscheinlichkeit, dass diese Unternehmen aus diesem Status nicht mehr herauskommen, hat sich erhöht. Allein diese hohe Ziffer macht deutlich, dass ein erheblicher Teil des Kapitals in unrentablen Investitionen gebunden ist und nicht für neue Investitionen genutzt werden kann.

Darüber hinaus führte die Gefahr von Verlusten in den Jahren 2008/2009 dazu, dass die Anleger:inen eher Risiken vermieden und sich auf Anlagen konzentrierten, die weniger Rendite versprachen, aber sicher erschienen. Insbesondere die Erklärung der großen Zentralbanken, dass sie die Investitionen in ihrem Bereich schützen würden, „koste es, was es wolle“ (EZB-Chef Mario Draghi), führte dazu, dass die internationalen Investor:innen (deren Kapital sich ohnehin größtenteils aus den klassischen imperialistischen Ländern und den Ölrentiers speist) ihre Gewinne so schnell wie möglich repatriierten oder wieder auf sichere Anlagen wie Staatsanleiehn, Immobilien- und Energierenten setzten.

Grafik 4, die die Entwicklung der Auslandsinvestitionen aus den klassischen imperialistischen Ländern in die „unterentwickelten“ Halbkolonien nach Kategorien darstellt, zeigt, dass es nach 2013 zu einer Rückflut von Kapital in historischem Ausmaß kam (um kurze Zeit später unter „günstigeren Bedingungen“ wieder zurückzukehren). Insbesondere die Kategorie „Portfolioinvestitionen“, also kurz- und mittelfristiges, schnell abbaubares Investitionskapital, wurde rapide reduziert; aber auch das Volumen der Direktinvestitionen ging zurück.  In allen imperialistischen Ländern ist aus der Leistungsbilanz im Kapitel „Einkommen aus Auslandsvermögen“ ersichtlich, dass diese Erträge in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts jährlich etwa 2 – 4 % zum BIP beitrugen. Dies sind die Profiteinkommen, die aus Anlagen im Ausland ins Heimatland zurückfließen. Da es sich um reine Profiteinkommen aus Auslandsinvestitionen handelt, müssten sie eigentlich mit den Profiteinkommen im Inland und nicht mit dem gesamten Inlandsprodukt ins Verhältnis gesetzt werden: D. h., tatsächlich steigerten die Zuflüsse aus dem Ausland die Gewinne um bis zu 10 %.  Auch dies ist ein Indikator für die verstärkte Überschussextraktion aus den Halbkolonien durch Kapitalzu- und -abflüsse. Diesen positiven Bilanzen in den imperialistischen Ländern stehen in den Halbkolonien je nach Region negative Vermögenvon 2 % – 5 % im entsprechenden Kapitel gegenüber, die als US-Dollarverpflichtungen (d. h. reale Werttransfers aus dem dort erbrachten Mehrwert) mit großem Aufwand erfüllt werden müssen. Zusammen mit dem Abbau von Lieferketten führte dies zu massiven wirtschaftlichen Schocks in vielen Halbkolonien (in Lateinamerika, Nordafrika, Südafrika, der Türkei, Pakistan und einigen anderen asiatischen Ländern), die für ihre Kapitalakkumulation ohnehin stark von Kapitalzuflüssen abhängig waren.  Die daraus resultierenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Instabilitäten, Kriege und Bürgerkriege führten wiederum zu weiteren Investitionsverlusten oder zum Wiedererstarken der Rolle von IWF und Weltbank bzw. zu direkten militärischen Interventionen.

Mit der Großen Rezession änderte sich Chinas Rolle in der Weltwirtschaft. Statt als Quelle für billig produzierte Waren für die USA zu fungieren, konzentrierte es sich auf eine selbsttragende Kapitalakkumulation und stieg in der Wertschöpfungskette (auch bei den Arbeitskosten) auf. Angestachelt durch ein Billionen-US-Dollar-Konjunkturprogramm begann China, seinen eigenen Markt zu entwickeln und selbst in die höheren technologischen Sphären der Wertschöpfungsketten zu klettern. Nichts macht die Entwicklung der 2010er Jahre so deutlich wie die Entwicklung der Profitraten Chinas und der USA in Grafik 1: Entgegen dem, was viele über die Entwicklung der Profitraten missverstehen, ist paradoxerweise eine sinkende Profitrate (wenn sie mit hohen Wachstumsraten verbunden ist) ein Indikator für eine besonders dynamische, von kapitalintensiven Investitionen getriebene Wirtschaftsentwicklung, während eine „gleichbleibende“ Profitrate bei schwachem Wachstum genau das Gegenteil, eine stagnierende Entwicklung mit wenig Verbesserung der Kapitalproduktivität und schwacher Modernisierung des Anlagekapitals (Neuinvestitionen), offenbart. Vor allem Anfang der 2010er Jahre war China in allen wichtigen Bereichen des Produktivkapitals zu einem ernsthaften globalen Konkurrenten für das US-Kapital mutiert.

Dass dieses Wachstum Mitte der 2010er Jahre ins Stocken geriet, lag nicht nur an Fehlern bei der Planung der Konjunkturprogramme (z. B. Bau ganzer Städte, die nie gebraucht wurden) oder an den immer offensichtlicher werdenden Schwächen des Finanzsektors (Rolle der Schattenbanken, Immobiliengesellschaften etc.). All das war vielmehr nur Ausdruck der Tatsache, dass mit der rasanten Kapitalakkumulation und Investitionstätigkeit immer mehr Kapital in Anlagen investiert wurde, seien es hochproduktive oder unsinnige, und damit ab einem bestimmten Punkt, als die Profitrate sank, das Kapital für neue Investitionen einfach knapp wurde. Deshalb kamen Schattenbanken und durch Bodenspekulation getriebene Immobilienblasen zum Tragen, da solche Kapitalien verstärkt zur Finanzierung eingesetzt werden mussten. Darüber hinaus war China auch vom Rückzug von Direkt- und Portfolioinvestitionen betroffen (sei es direkt oder über zwischengeschaltetes Kapital in Hongkong, Singapur oder Taiwan), und das Geschäft zwischen den USA und China ging sowohl in Bezug auf den Handel als auch auf die Lieferketten zurück.

Andererseits expandierte China, um seine Profitratenentwicklung durch den Aufbau von Produktionsketten (siehe oben, z. B. Indien, Indonesien, Malaysia, Vietnam, Thailand, Brasilien), durch verstärkte Direktinvestitionen (z. B. „Neue Seidenstraße“, als Kreditgeber in Afrika und Lateinamerika) und durch die Einrichtung internationaler Zahlungssysteme als Alternative zu den von den USA dominierten US-Dollar-Systemen zu kompensieren. Auch in China sind in den letzten Jahren die Einnahmen aus Auslandsvermögen (wenn auch oft über Hongkong vermittelt) gestiegen. Dies ist ein klarer Hinweis auf den imperialistischen Charakter der chinesischen Wirtschaft und die wirtschaftlichen Vorteile des Imperialismus in Zeiten der Überakkumulation (und Pech für diejenigen, die sich bei China Geld geliehen haben, z. B. in Afrika und Lateinamerika).

Die beschriebene Dynamik der verschiedenen regionalen Volkswirtschaften spiegelt sich letztlich in der Entwicklung der Akkumulation über den gesamten Zeitraum wider, wie sie in Abbildung 5 im Verhältnis von Kapitalstock zu Investitionen, d. h. dem Gewicht des aus Gewinnen neu investierten Kapitals im Vergleich zu dem in bestehenden Investitionen gebundenen Kapital, dargestellt ist.

Grafik 5: Akkumulationsraten im Vergleich

Das Beispiel USA zeigt, dass es in den 1990er Jahren einen leichten Anstieg der Akkumulationsrate gab, die dann mit der Großen Rezession in eine Abwärtsbewegung überging und dann auf niedrigem Niveau stagnierte (man muss bedenken, dass eine Abschreibungsrate von 4 % in den 2010er Jahren bedeutet, dass die tatsächlichen Neuinvestitionen marginal waren). Die gleiche Abwärtsbewegung ist auch in der deutschen Wirtschaft zu beobachten, allerdings von einem noch niedrigeren Niveau aus (wenn auch mit einer Abschreibungsrate von nur 3 %). Auf der anderen Seite ist in China in der Zeit nach dem WTO-Beitritt ein starker Kapitalaufbau durch Investitionen zu beobachten, der sich aber nach dem oben beschriebenen Übergang zum unabhängigen Akkumulationsmodell nach 2010 deutlich abschwächt – ein deutliches Zeichen für die Überakkumulation von investiertem Kapital, was auch gut zu der sinkenden Gewinnrate in diesem Zeitraum passt. In der ausgewählten Halbkolonie Brasilien hingegen ist deutlich zu erkennen, wie der seit Anfang der 2000er Jahre steigende Akkumulationszyklus (fast parallel zu dem Chinas) 2014 abrupt abbricht (Doppeleffekt aus Kapitalabzug und Nachfragerückgang auf dem Weltmarkt). In den Folgejahren entspricht dies einer leichten wirtschaftlichen Erholung in den USA/EU/J im Vergleich zur Rezession in vielen Halbkolonien (wie Brasilien) und der Abschwächung der Wachstumsraten in China.

Insgesamt ist zu erkennen, dass sich die imperialistischen Länder (einschließlich Chinas) nach großen Unterschieden in der Profitrate, der Kapitalzusammensetzung und den Akkumulationsraten gegen Ende des Zeitraums stärker angenähert haben – und das bei geringer Profitabilität und Investitionstätigkeit. Offensichtlich hat die „entgegenwirkende Ursache“ der Globalisierung viel von ihrer Kraft verloren, so dass nach 2019 ein klarer Trend zur globalen Rezession erkennbar war. Dass diese im Jahr 2020 eintrat, hatte aber natürlich einen ganz anderen Grund, auf den wir später noch eingehen werden.

Entwicklung des Weltmarkts, des Weltwährungssystems und der globalen Schuldenproblematik

Ein zentrales Moment der Globalisierungsperiode war nicht nur die neue Qualität der Internationalisierung der Produktion und der globalen Finanzströme, sondern auch die enorme Expansion des Welthandels. Während der Anteil des Welthandels am Welt-BIP nach dem Nachkriegsboom auf 40 % anstieg, erhöhte er sich in der Globalisierungsperiode nochmals auf über 60 %. Das bedeutet, dass heute weit mehr als die Hälfte der für Investitionen oder Konsum erworbenen Güter über den Weltmarkt beschafft und nicht im Inland produziert werden. Dies ist in den imperialistischen Ländern natürlich noch stärker ausgeprägt als in den Halbkolonien. In letzteren ist der Anteil des im Inland produzierten BIPs größer, insbesondere was die Güter des Massenkonsums oder den Umfang des informellen Sektors und der Subsistenzwirtschaft betrifft.

Dies bedeutet, dass die Kosten für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft viel niedriger sind, was sich in den „Kaufkraftparitäten“ widerspiegelt (d. h., mit einem viel niedrigeren Lohn kann immer noch der „Standardwarenkorb“ gekauft werden). Zusammen mit der niedrigeren Arbeitsproduktivität und Kapitalintensität bedeutet dies, dass der inländische Sektor einer anderen Wertbildung unterliegt als der, der für den Weltmarkt produziert – wo in US-Dollar und nicht in Kaufkraftparitäten bezahlt wird. Aus der Sicht der Halbkolonie muss also weit mehr Wert als Äquivalent für importierte Güter aus Ländern mit höherer Kapitalzusammensetzung produziert werden, als zurückgewonnen wird. Während aus Sicht des Weltmarktes ein gleichwertiger Austausch stattfindet, erscheint dies aus der Sicht der Halbkolonie als „ungleicher“ und Werttransfer in die imperialistischen Volkswirtschaften. Dies wird besonders deutlich, wenn man den Wert der Außenhandelsgüter in Kaufkraftparitäten und in US-Dollar vergleicht. Hier wird in fast allen Halbkolonien der Wert der Weltmarktgüter in Kaufkraftparitäten etwa doppelt so hoch bewertet wie zumWeltmarktpreis, während in den imperialistischen Ländern der Wert in Kaufkraftparitäten meist unter dem Weltmarktpreis liegt.

Dies drückt eben aus, dass die Halbkolonien einen viel größeren Teil ihrer Arbeitskraft und Produktionsmittel für den Erwerb von Weltmarktprodukten aufbringen müssen als die imperialistischen Länder. Das Problem ist nun, dass viele Studien (z. B. Ocampo/Parra) gezeigt haben, dass sich diese „Terms of Trade“ zwischen dem globalen Norden und Süden in der Globalisierungsperiode weiter zu Ungunsten des letzteren verschlechtert haben. In den imperialistischen Ländern führt dies z. B. zu einer Erhöhung der relativen Mehrwertrate durch billigere Importe von Konsumgütern. Wenn diese vom imperialistischen Kapital angeeignet werden, resultiert dies in einer Steigerung der Profitrate.

Ein wichtiger Faktor dabei ist der Wandel im weltweiten Agrar- und Rohstoffhandel in diesem Zeitraum. Beide Sektoren waren durch bisher nicht gekannte Monopolisierungstendenzen großer, internationaler Privatkonzerne gekennzeichnet. Angetrieben von Fortschritten in der Saatgut-, Düngemittel- und Mechanisierungstechnologie haben die Agrarkonzerne vor allem in den Halbkolonien riesige Flächen übernommen und bewirtschaften sie in großem Stil, um direkt für den Weltmarkt zu produzieren. Nach Angaben der FAO kontrollieren nur 2 % aller landwirtschaftlichen Betriebe mehr als zwei Drittel der weltweiten Agrarnutzfläche, in den Halbkolonien sogar mit Großbetrieben von rund 10.000 Hektar.

Die 2,6 Milliarden Kleinbauern/-bäuerinnen auf der Welt bewirtschaften jeweils weniger als 2 Hektar. Bis vor wenigen Jahren zeichneten diese Kleinstbetriebe für 80 % der Nahrungsmittelversorgung im globalen Süden verantwortlich. Die Expansion des Agrobusiness im Zuge der Globalisierung hat nicht nur immer mehr Kleinbauern/bäuerinnen von ihren Feldern vertrieben, sondern durch billige Industriegüter auch immer mehr solcher Selbstversorgungsnetze zerstört. Die Auseinandersetzungen um die Folgen dieses Verdrängungswettbewerbs haben in den letzten Jahren zu großen Agrarprotesten, z. B. in Indien, geführt. Zudem tendiert die Abhängigkeit der Grundversorgung solcher Länder vom Weltmarkt dazu, dass dessen Preisschwankungen, z. B. durch Währungsabwertungen oder Ereignisse wie den Ukraine-Krieg, sich unmittelbar in den betroffenen Ländern manifestieren – wo sie z. B. zum Arabischen Frühling führten.

Auch im Bergbau wurden fast alle ehemaligen Staatsbetriebe privatisiert und von einigen wenigen großen internationalen Konzernen übernommen. Auch diese sind nahtlos in die globalen Lieferketten integriert worden. Durch die Kontrolle seitens der multinationalen Agrar- und Rohstoffkonzerne verlieren die Volkswirtschaften des globalen Südens weitere Punkte bei den „Terms of Trade“, indem ihre internen Märkte weiter geschwächt werden und der Werttransfer in die imperialistischen Zentren ausgeweitet wird.

Diese Bedeutung des Weltmarktes für die globale Umverteilung sowie für Direktinvestitionen und Finanzmarkttransaktionen unterstreicht die Notwendigkeit für den Imperialismus, ein „Weltgeld“, heute den US-Dollar, durchzusetzen. Es gibt einen Angleichungsprozess zwischen den imperialistischen Ländern und eine starke gegenseitige Abhängigkeit durch gegenseitige Direktinvestitionen, die auch zu geringen Schwankungen zwischen ihren Währungen in der Zeit der Globalisierung geführt haben. Andererseits müssen die Länder mit abhängiger Entwicklung große Anstrengungen unternehmen, damit ihre Währungen gegenüber dem US-Dollar nicht abwerten – sonst werden die Kosten für die benötigten Weltmarktprodukte noch höher und es droht eine Inflation.

Daher müssen sie eine möglichst ausgeglichene Leistungsbilanz und die Bildung großer US-Dollarreserven anstreben. Beides erzwingt zwangsläufig eine so genannte neoliberale Politik, d. h. Öffnung für ausländische Investor:innen – vor allem als Profiteur:innen von Privatisierungen, Haushaltskürzungen –, niedrige Sozialbudgets, minimaler Spielraum für eigene wirtschaftliche Interventionen usw. Und wenn, wie geschehen, dennoch in größerem Umfang Kapital abgezogen wird, müssen die Devisenreserven vergeudet werden, um die eigene Währung zu stabilisieren. In den letzten Jahren haben wir dieses Drama in Ländern wie Brasilien, der Türkei und vor allem Argentinien erlebt.

Nach dem Zusammenbruch von Bretton Woods (Aufhebung der Goldbindung des US-Dollars) ist er selbst zu einem Objekt der Finanzspekulation geraten. Heute wird er vor allem durch Kreditvergabe und Anleihekäufe der US-Notenbank geschaffen, was bedeutet, dass seine Deckung von regelmäßigen, weltweiten Zinserträgen und der Entwicklung der Wertpapiermärkte abhängt. Das geht so lange gut, wie die großen Kapitalvermögen letztlich die Finanzinstitute im US/Euro-Raum/J als sichere Häfen für Investitionen bevorzugen.

Die Finanzmarktkrise 2007/2008 hat diese kurzzeitig erschüttert, aber letztlich nur zu deren Stärkung angesichts fehlender Alternativen (durch Rückkehr zu den klassischen Anlagemärkten) geführt. Die Kehrseite dieser weiteren Rettung der US-Dollarwirtschaft war die mit QE verbundene Ausweitung von Schulden und Geldmenge. Angesichts der stagnierenden Akkumulation und der niedrigen Profitraten ist jedoch weder ein rascher Abbau von Schuldverpflichtungen noch eine Ausweitung des Warenangebots im Vergleich zur Geldmenge zu erwarten. Die inflationäre Tendenz war also bereits in der Endphase der Globalisierung angelegt. Andererseits würde eine rasche Abschreibung von Billionen wertloser Geldeinlagen und Zombie-Unternehmen, z. B. nach einem erneuten Platzen der Immobilienblasen, sowie eine damit verbundene Abwertung von US-Dollar/Euro/Yen das derzeitige Finanzsystem wohl erneut in Frage stellen – und die Frage nach konkurrierenden Währungen aufwerfen.

Durch die Russlandsanktionen im Zuge des Ukrainekrieges dürfte diese Frage für viele Länder immer dringlicher werden: Die Beschlagnahme seiner US-Dollar-/Euro-/Yen-Devisenreserven und der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System zur Abwicklung des internationalen Zahlungsverkehrs in US-Dollar haben hier die imperialistische Macht des US-Dollar-Systems überdeutlich gemacht. Daher führten die von China entwickelten Alternativen wie CIPS (internationale Zahlungsabwicklung für Banken, angesiedelt bei der Bank of China), China Union Pay (für globale Kreditkartensysteme), Universal Digital Payments Networks (basierend auf Blockchain) zu einer größeren Rolle Chinas bei globalen Finanzoperationen.

Zusammen mit seiner zunehmenden Bedeutung als Direktinvestor und internationaler Kreditgeber könnte dies den RMB zu einem Konkurrenten des bisher vom US-Dollar geprägten Systems machen. Gegenwärtig hat der US-Dollar seinen Anteil an den weltweiten Devisenreserven zwischen 2000 und heute von 70 % auf 59 % verringert, was jedoch durch einen Anstieg der Anteile von Euro, Pfund und Yen auf zusammen etwa 30 % kompensiert wurde. Der RMB gehört nur zu den 10 % „Nicht-Standard“-Währungen in den Devisendepots. Sein Anteil nimmt jedoch seit einigen Jahren stark zu. Bei einer erneuten Finanzkrise, einer Stabilisierung des chinesischen Finanzsektors und einer weiteren Expansion Chinas auf dem Weltmarkt könnten wir daher in eine Phase einer multilateralen Währungswelt ähnlich der 1970er Jahre (damals mit US-Dollar, Pfund, Yen und D-Mark) abgleiten, in der auch Euro und Yen wieder eine eigenständigere Rolle spielen könnten. Dies würde die globale Steuerungsfähigkeit der Krisenprozesse nicht gerade stärken und ähnlich wie in den 1970er und frühen 1980er Jahren zu einer Phase von Währungsturbulenzen, Inflations- und Rezessionsrisiken führen.

Die EU und Russland als die schwächsten Glieder des Imperialismus

Rein quantitativ gesehen ist die EU mit einem Anteil von 17,2 % am Welt-BIP der größte Wirtschaftsraum der Welt. China und die USA liegen nur etwa 1 % dahinter (die EU ist auch die mit Abstand größte Exporteurin weltweit). Sie ist jedoch durch innere Widersprüche gekennzeichnet. Im Zentrum der EU steht ein industriell starkes Deutschland, das die EU-Peripherie von Ost- bis Südeuropa als Zuliefererin für seine Produktionsketten nutzt. Gleichzeitig verfügt es weder über global bedeutendes Finanzkapital noch über politisch-militärisches Gewicht in der Sicherheits- und Außenpolitik. Im Vergleich zu Großbritannien (solange es noch Teil der EU war) und Frankreich ist dies umgekehrt. Ergänzt wird dieser Kern durch Italien und Spanien, die zu einer Zwischenkategorie gehören. Diese 4 – 5 führenden Nationen werden durch kleinere imperialistische Mächte ergänzt, von denen die meisten mit Deutschland einen Schwerpunkt in der Exportindustrie haben, sowie durch die Benelux-, die skandinavischen EU-Länder und Österreich. Gleichzeitig ist die EU ein Wirtschaftsblock, der eine Reihe von sehr unterschiedlichen Halbkolonien integriert: südeuropäische Länder wie Portugal, Griechenland, Zypern und Malta, Balkanländer, die sehr unterschiedlichen osteuropäischen Länder (mit Polen als einem der größten EU-Länder) und die baltischen Staaten.

Die Länder des Baltikums, Osteuropas und des Balkans, die aus den ehemaligen degenerierten Arbeiter:innenstaaten hervorgegangen sind, wurden während der Globalisierung stark in die Produktionsketten des deutschen, niederländischen und skandinavischen Imperialismus integriert. Dies führte zu einer Stabilisierung der Industriesektoren nach ihrem Zusammenbruch während der Restaurationsphase. Dies zeitigte jedoch auch große Einkommensunterschiede bei den Beschäftigten in den Exportindustrien und Dienstleistungsunternehmen, in den ruinierten öffentlichen Sektoren, in den von EU-Agrarsubventionen profitierenden landwirtschaftlichen Betrieben und in verlassenen, prekären Gebieten. Nachdem ein großer Teil der ehemaligen Bürokratie ins Lager der Bourgeoisie und des Managements gewechselt ist, gibt es seit den 2000er Jahren kaum noch nennenswerte linke Kräfte mit Massenunterstützung auf der politischen Bühne dieser Staaten. Die Gewerkschaften vertreten vor allem sektorale Schichten (z. B. recht erfolgreich in der Automobilindustrie mit hohen Lohnerhöhungen; dagegen eher verzweifelte Abwehrkämpfe im Gesundheitssektor).

Infolgedessen konnten in fast allen diesen Staaten politische Kräfte die Führung übernehmen, die populistisch vorgeben, die Interessen der Zurückgebliebenen zu vertreten, während sie gleichzeitig die Opposition mit einer stark nationalistischen und autoritären Politik klein halten. Während sie sich scheinbar im „Widerstand“ gegen die imperialistischen Herr:innen in Berlin, Brüssel und Co. befinden, sind sie, wenn es um „konservative Werte“ geht, die der Nation angeblich wichtig sind, umso radikaler in der Umsetzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Besonders deutlich wurde dies während der Eurokrise, als die baltischen und osteuropäischen Regierungen die radikalsten Kritikerinnen „linker“ Projekte waren, die im Gegensatz zum Brüsseler Spardiktat standen.

Die Eurokrise brachte den Widerspruch deutlich zum Ausdruck, dass zwar eine gemeinsame Währung mit bestimmten Haushaltsregeln geschaffen wurde, die Akkumulationsmodelle dieser Länder aber keineswegs angeglichen waren. Die hohen Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands, der Niederlande und der skandinavischen Länder standen in der Krise in starkem Kontrast zum Gegenteil in Südeuropa. Dies führte zwangsläufig zu niedrigen Zinssätzen für die einen und enorm steigenden für die anderen. Die Weigerung des Europäischen Rates und der EZB, auf den Kapitalmärkten gegenzusteuern, führte unweigerlich zu einem Problem bei der Refinanzierung des enormen Schuldenanstiegs in der Zeit der Überakkumulation und im Gefolge der Großen Rezession. Um den Zusammenbruch Griechenlands oder den Austritt aus dem Euro zu vermeiden, wurden schließlich umfangreiche EU-Programme aufgelegt, um die Zahlungsfähigkeit gegenüber den privaten (meist europäischen) Gläubiger:innen zu sichern, was letztlich zu einer Verstaatlichung dieser Schuldenrisiken führte und den Südeuropäer:innen enorme Opfer für die jahrelange Bearbeitung dieser Schulden auferlegte. Der Bankrott des linken Widerstands dagegen, z. B. der Syriza-Regierung in Griechenland, führte daher zur Zementierung von Varianten neoliberaler Politik auch in Südeuropa – mit der nahezu zwangsläufigenFolge des Aufstiegs des Rechtspopulismus (z. B. in Italien und Spanien).

Der Aufstieg der europäischen Exportindustrien und ihrer internationalen Produktionsketten ist eng mit der zunehmenden Zusammenarbeit mit einem wieder erstarkenden russischen Imperialismus verbunden. Bereits in der Lissabon-Agenda wurde das Ziel eines mit dem US-Imperialismus konkurrenzfähigen EU-Blocks mit der Idee neuer Partnerschaften verknüpft. Im Hinblick auf China soll dies insbesondere für die deutsche Industrie durch eine engere Einbindung in die Produktions- und Handelsbeziehungen erreicht werden, die mittlerweile die mit den USA bei den Importen übertreffen. Der VW-Konzern generiert inzwischen 40 % seines Umsatzes in China.

Die Stabilisierung des russischen Kapitalismus nach dem Zusammenbruch Ende der 1990er Jahre (der „Russlandkrise“) führte dazu, dass mit dem Putin-Regime nach der „wilden“ Privatisierungsphase eine Wiederherstellung der Staatsmacht gelang. Insbesondere die großen Energiekonzerne und die Banken wurden einer strengen staatlichen Kontrolle unterworfen, die auch ein starkes direktes Eingreifen beinhaltete (eine besondere Rolle spielte dabei die Kontrolle über die Justiz). Mit den Gewinnen der Energiekonzerne konnte auch das Leid der vielen Verlierer:innen der Restauration etwas gemildert werden (z. B. Rentner:innen). Putins Populismus gewann gerade durch die Unterstützung der ärmeren und ländlichen Bevölkerung an Stabilität und konnte so die Unzufriedenheit der verschwindend kleinen „Mittelschichten“ in Russland verkraften. Die Stabilisierung des russischen Imperialismus ist auch in Grafik 1 zu sehen, wo die Perioden starker Erholung (oder sogar Wiederherstellung) der Profitrate offensichtlich mit der gestiegenen Nachfrage nach Energie und Rohstoffen in den aufstrebenden Industriezyklen der EU und Chinas zu tun haben.

Insbesondere die starke Ausrichtung des deutschen Kapitals auf Russland („Energiepartnerschaft“, die Nord-Stream-Projekte usw.) sorgte in der EU, vor allem in den baltischen Staaten und in Osteuropa, lange Zeit für Kritik und Polemik. Dies deckte sich mit den Interessen der USA, die sich durch die EU in ihren Russland-China-Partnerschaften herausgefordert sahen. Länder wie Polen und die baltischen Staaten witterten die Chance, unabhängig von Berlin/Brüssel zu agieren und sich der Unterstützung des US-Imperialismus sicher zu sein, der auf dem europäischen Kontinent ohnehin durch die NATO engagiert ist, die in der Sicherheitspolitik eine weitaus größere Rolle spielt als die EU. Die USA wiederum nutzten vor allem ihre baltischen und osteuropäischen Verbündeten, um die Osterweiterung der NATO voranzutreiben und deren Aufrüstung zu fördern. Die sich daraus zwangsläufig ergebende Konfrontation mit Putin-Russland musste auch die „Partnerschaft“ des EU-Projekts mit ihm als Konkurrenz zur US-Hegemonie erschüttern. In den bekannten „Pufferstaaten“ Ukraine, Belarus (Weißrussland), Georgien, wo es sowohl westliche als auch russische Machteinflüsse gab, musste diese Konfrontation schließlich in heiße Konflikte umschlagen.

Die genaueren Hintergründe und Verläufe dieser Konflikte werden an anderer Stelle behandelt. Wichtig ist hier, dass mit dem Ukrainekrieg das Projekt des EU-Blocks gegenüber Russland völlig gescheitert ist. Selbst die engen Beziehungen zu China geraten angesichts der engeren Beziehungen zwischen diesem und Russland ins Wanken. Das ist eine Katastrophe vor allem für den deutsch-französischen Kern der EU. Einerseits ist die Exportwirtschaft Deutschlands (aber auch der Niederlande und Österreichs) durch den Wegfall der russischen Energieimporte enorm betroffen. Der Anstieg der Energiepreise trifft Industrien, die bereits stark unter Versorgungsproblemen und Preisschocks leiden. Kurzfristig wird dies sicherlich zu Rezessionstendenzen führen. Insgesamt aber muss sich ein geschwächtes europäisches Kapital wiederum dem US-Kapital unterwerfen und sein Geschäftsmodell radikal auf eine atlantische Anbindung umstellen. Dies wird in der EU auch von den Regierungen in Polen und den baltischen Staaten vorangetrieben, die sich nun auf der Siegerstraße mit den USA sehen. Nach dem Brexit kann der britische Imperialismus auch eine neue Rolle als Vermittler in der Unterordnung unter die USA spielen und mit der Nordirlandfrage weiter an der Integrität der EU rütteln. Ein wirtschaftlich und politisch stark geschwächtes Kerneuropa um Deutschland, Frankreich und Italien ohne hegemoniales Projekt wird die Tendenzen, die EU zu einer immer loseren Interessengruppe zu transformieren, kaum aufhalten können – während die Integrationstendenzen immer schwächer werden.

Russland wird, wie immer der Krieg ausgeht, wirtschaftlich und politisch enorm geschwächt sein. Es hat seine wichtigsten Handelsbeziehungen verloren ebenso wie die Aussicht, über die EU und insbesondere Deutschland eine Alternative zum Bündnis mit China aufzubauen. Dies wird es dazu zwingen, seine zentralen Verbündeten, wahrscheinlich aus einer schwachen Position heraus, in China und Indien zu suchen. Dieses Bündnis trüge sicherlich das wirtschaftliche Potenzial, dem von den USA geführten Block zu widerstehen. Es ist jedoch noch nicht klar, ob China weiterhin versuchen könnte, in diesem Block zu operieren und seine wirtschaftlichen Beziehungen (die weitaus stärker sind als die zu Russland) auszubauen. Insbesondere in Lateinamerika, Afrika und vielen Regionen Asiens kann China den US-Imperialismus bereits herausfordern. Ob Russland für China als Lieferant von Öl, Waffen und Söldner:innen wichtig ist, bleibt abzuwarten. Andererseits gibt es in einigen zentralasiatischen (sehr rohstoffreichen) Ländern und an den Tausenden von Kilometern gemeinsamer Grenze genügend Konfliktpunkte zwischen China und Russland.

Energie, Wachstum und ökologische Krise

Wie in vielen Studien bestätigt, ist eine Entkopplung von Wirtschaftswachstum und entsprechendem Anstieg des Energieverbrauchs aus globaler Sicht bis heute nicht gelungen. Das bedeutet, dass die „Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch“ entgegen den Ankündigungen unter dem Schlagwort „Green Economy“ auf der „Nachhaltigkeitskonferenz“ von Rio 2012 nicht gelungen ist. Die versprochenen „neuen Technologien“ und „effizienteren Wirtschaftsweisen“ ändern nichts an der Tatsache, dass der Zwang zu ständig steigender Kapitalakkumulation mit einem ebenso zunehmenden Energie- und Rohstoffhunger verbunden ist.

Grafik 6: Verhältnis BIP-Wachstum und Energieverbrauch

Abbildung 6 zeigt die enge Korrelation zwischen dem Wachstum des BIP (nach Angaben der Weltbank) und dem des Energieverbrauchs (gemessen in Litern Öläquivalenten, nach EPWT). Die Schwankungen des Energieverbrauchs sind stärker, da sie enger mit den physischen Zyklen in der Industrie verbunden sind (dennoch beträgt die Korrelation 0,75). Auch wenn der Anstieg des Energieverbrauchs in den USA im letzten Jahrzehnt geringer war (da auch die Wachstumsraten zurückgingen), wird dies weltweit durch seinen enormen Anstieg in China kompensiert (Wachstumsraten von bis zu 14 % im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre; danach immer noch Raten von bis zu 10 %) und, nachdem sich der Anstieg in China Mitte der 2010er Jahre verlangsamt hat, durch einen Anstieg des Energieverbrauchs insbesondere in den asiatischen Lieferländern für China wie Indonesien um 5 % von einem viel niedrigeren Niveau aus.

Während der weltweite Energieverbrauch im Globalisierungszeitraum (1990 – 2019) um rund 60 % gestiegen ist, hat sich der Anteil der erneuerbaren Energien nur von 22 % auf 29 % erhöht. Weltweit, insbesondere in den Halbkolonien, stand und steht die Wasserkraft im Vordergrund (16 %). Allerdings besitzen die großen Staudammprojekte auch enorme ökologische Nachteile (siehe die Auseinandersetzungen um den Grand Ethiopian Renaissance Dam oder den Staudamm am Rio San Francisco in Brasilien). Auch Photovoltaik und Windkraft erzeugen bei der Rohstoffgewinnung, der Produktion, dem Flächenverbrauch, der Lieferung und dem Betrieb Treibhausgase, sind also nicht 100 %ig „CO2-frei“. Daher ist es nicht verwunderlich, dass im Zuge der Globalisierung die Treibhausgasemissionen insgesamt gestiegen sind, ebenso wie der Ressourcen- und Flächenverbrauch für die Energieerzeugung. Jede neue Wachstumswelle wäre daher im Kapitalismus mit neuen ökologischen Katastrophen verbunden. Entweder beschleunigt sich die Klimakatastrophe durch die Beibehaltung fossiler Energieträger oder der rasante Ausbau der erneuerbaren Energien verbraucht massiv Land, Rohstoffe, Ökosysteme (z. B. Wasserkraft) oder Nahrungsmittel (z. B. für Biokraftstoffe). In jedem Fall wird die Frage nach einer nachhaltigen Wirtschaft, die die massenhafte Energieverschwendung durch eine effiziente Planung im globalen Maßstab ersetzt, zunehmend zu einer des Überlebens für die Menschheit. Die in der ökologischen Bewegung verbreitete Illusion einer „Gesellschaft ohne Wachstum“ („Degrowth“) oder der „Entkopplung von Wachstum und Energieverbrauch“ („Green Economy“) wird sich im Kapitalismus nicht realisieren lassen. Die unmittelbare Folge der Grenzen des bestehenden Energiesystems und der Umstellung auf erneuerbare Energien wird ein langfristiger Anstieg der Energiepreise sein. Die „billige Energie“, auf der die Zeit der Globalisierung basierte (z. B. durch die Autarkie der USA durch steigenden Verbrauch fossiler Ressourcen, billiges russisches Öl und Gas), wird kaum wiederkommen.

Corona und Ukrainekrieg als Krisenauslöser

Bereits 2019 deuteten viele Indikatoren auf ein erneutes Abgleiten der Weltwirtschaft in eine globale Rezession und eine tiefere Krise zu Beginn der 2020er Jahre hin. Auch wir haben diese Erwartung in unsere Perspektiven aufgenommen. Im Jahr 2018 schrieben wir: „Die Überwindung des stagnierenden Aufschwungs 2010 – 2016 und die gravierenden Widersprüche des aktuellen Aufschwungs bedeuten, dass wir auf eine nächste Rezession vorbereitet sein müssen, die um das Jahr 2020 eintreten könnte. Die Probleme der Schwellenländer und die Handelskonflikte machen es sehr wahrscheinlich, dass es sich um eine Rezession handeln wird, die nicht auf einige Länder oder Regionen beschränkt sein wird. Wie tief die Krise sein wird, hängt von der Verlangsamung in China, den Turbulenzen in den Schwellenländern, der EU-Krise und sicherlich von den Schockwellen der Schulden- und Finanzkrise ab.“ Wir hatten die kurze Erholungsphase nach 2016 bereits als Ergebnis der Rückkehr des Kapitals gesehen, die nicht auf einer nachhaltigen Verbesserung der Rentabilität und Modernisierungsinvestitionen beruhte, sondern durch Probleme wie Schwellenländerkrisen, verstärkte Deglobalisierungstendenzen, das Abwürgen des chinesischen Aufschwungs und die anhaltende EU-Krise ins Gegenteil verkehrt werden würde. Die Prognose war insgesamt nicht falsch – nur der Auslöser der Krise im Jahr 2020 war ein ganz anderer, der von kaum jemandem vorhergesehen werden konnte.

Wie so oft in der Geschichte des Kapitalismus war es ein äußerer Schock, der die Krise auslöste, aber letztlich nur zum Beschleuniger der tieferen Krisenmomente wurde: das plötzliche Auftreten einer sich schnell ausbreitenden Pandemie Anfang 2020, die durch das hochansteckende Coronavirus (Sars-CoV-2) verursacht wurde und zu einer lebensbedrohlichen Krankheit, Covid-19, führte. Das Auftreten von Pandemien ist für die kapitalistische Epoche nichts Neues (Spanische Grippe), wurde aber durch die Fortschritte in der Medizin und insbesondere Mikrobiologie als reale Gefahr stark aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt. Die industriellen Formen der Massentierhaltung und der weltweite Handel mit exotischen Tieren sind ideale Brutstätten für Erreger, die vom Tier auf den Menschen überspringen (Zoonose). Die genauen Ursprünge des Erregers Sars-CoV-2, der erstmals in der chinesischen Stadt Wuhan registriert wurde, werden noch erforscht. Klar ist jedoch, dass die starke zwischenmenschliche Interaktion auf internationaler Ebene aufgrund der Globalisierung dazu geführt hat, dass dieses Virus, das sich durch die Luft verbreitet, überall auf dem Globus auftaucht.

Tatsächlich erwiesen sich die üblichen epidemiologischen Schutzmaßnahmen im internationalen Reiseverkehr als völlig unzureichend. In nur einem Monat war im Frühjahr 2020 praktisch jedes Land der Welt mit einem Ausbruch konfrontiert. Es wurde auch schnell klar, dass ein ausreichend großer sofort zu einem exponentiellen Wachstum der Viruserkrankungen führen würde, was in kurzer Zeit die Kapazitäten der intensivmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten fast aller bestehenden Gesundheitssysteme übersteigen würde. Die drei bekannten Reaktionsmodelle bestanden in (1) der Entwicklung einer Herdenimmunität, indem die Infektion durch die Bevölkerung weitergegeben wird; (2) strengen Quarantänemaßnahmen zur Isolierung der Ausbrüche und damit zum Austrocknen der Infektion (Null-Covid); (3) der Begrenzung des Anstiegs der Infektion auf ein Niveau, das die Gesundheitssysteme kontrollieren können, in der Hoffnung auf frühzeitige Einführung eines wirksamen Impfstoffs.

Alle diese Strategien trugen auf ihre Weise ernste wirtschaftliche Folgen: Der Ansatz der Herdenimmunität führt zu vielen Krankheiten und Todesfällen und natürlich zu Produktionsausfällen. Die Null-Covid-Strategie in China schien zunächst äußerst erfolgreich zu sein, da sie die Sperrungen auf einige wenige, „kleinere“ Zentren beschränkte, während der Großteil der chinesischen Wirtschaft weiterlaufen konnte. Doch schließlich waren im Jahr 2022 auch sehr große Wirtschaftszentren betroffen, in denen die strengen Isolierungsmaßnahmen selbst mit den autoritären Methoden des chinesischen Seuchenschutzes nur schwer durchsetzbar waren, was zu einer Kettenreaktion von Einbrüchen der Wirtschaftstätigkeit in ganz China führte.

In den westlichen imperialistischen Ländern wurde zumeist die „Eindämmungs“strategie verfolgt, eine Mischung aus Kontakt- und Reisebeschränkungen und kleineren Abriegelungen, die nur eine sehr kurzfristige Unterbrechung der Produktion zum Ziel hatten. Die geringeren Restriktionen führten zwar zu weniger direkten wirtschaftlichen Folgen, machten das Virus aber auch langfristig „heimischer“ und förderten zusammen mit der Strategie der Herdenimmunität weltweit eine rasche Abfolge neuerer Mutationen des Virus, die mit Kontaktbeschränkungsmaßnahmen immer schwerer zu bekämpfen sind. Eine Entspannung ergab sich erst durch die überraschend schnelle Entwicklung wirksamer Impfstoffe, die bereits Ende 2020 klinisch erfolgreich getestet wurden. Hier wiederum begann die irrationale, global ungeplante Herangehensweise des Kapitalismus an ein weltweites Problem zu wirken: Anstatt Impfstoffe systematisch und je nach Ansteckungsdichte weltweit zu verteilen, wurde ein Großteil von den westlichen imperialistischen Zentren aufgekauft.

In diesen Ländern konnte zwar eine gewisse Beruhigung der Coronapandemie erreicht werden, aber vor allem im globalen Süden (der mit Testkits bereits schlecht versorgt war) war die Versorgung, vor allem für die ärmeren Bevölkerungsschichten, zu gering, um einen angemessenen Schutz zu bieten. Infolgedessen kam es 2021 zu weiteren Todesfällen und die Möglichkeit neuer Mutationen und Infektionswellen auf der ganzen Welt wurde ebenfalls vorbereitet. Während viele imperialistische Länder Mitte 2021 bereits das Ende der Pandemie feierten, wurde die Welt in der zweiten Hälfte des Jahres erneut von einer heftigen Infektionswelle getroffen. Mit den Omikronvarianten und den erreichten Impfquoten hat sich die Lage seit dem Frühjahr 2022 zwar beruhigt, von einer Entwarnung kann aber keine Rede sein. Nach Ansicht der meisten Expert:innen ist das Virus nicht endemisch geworden (d. h. auf das Niveau einer normalen Grippewelle gesunken). Es kann immer noch eine gefährlichere, ansteckende Variante von Sars-CoV-2 auftreten, die eine weitere Welle auslösen könnte, die die Intensivstationen wieder füllt. Es kann also nur eine vorläufige wirtschaftliche Bilanz gezogen werden.

Abbildung 7: Einbruch der geleisteten Arbeitsstunden nach 2019

Im Gegensatz zur Großen Rezession von 2008/2009 wurde die Krise von 2020/2021 nicht direkt durch die inneren Widersprüche der Kapitalakkumulation ausgelöst. Aber die Unfähigkeit des Kapitalismus, diese Krise tatsächlich auf globaler Ebene zu bekämpfen, bedeutete, dass der externe Schock der Pandemie zum Verstärker der bereits bestehenden Krisentendenz geriet. Die unmittelbare Auswirkung der Pandemie im Frühjahr 2020 bestand darin, dass innerhalb von ein bis zwei Monaten die Produktions- und Handelsströme fast überall auf der Welt zum Erliegen kamen (aufgrund von verschiedenen Schließungen, Einschränkungen am Arbeitsplatz, Grenzschließungen usw.). Auch wenn in der Folgezeit mit Ausnahme Chinas keine drastischen Maßnahmen ergriffen wurden, so wurden doch einige Wirtschaftszweige langfristig eingeschränkt. Vor allem kam es zu einem starken Einbruch der geleisteten Arbeitsstunden aufgrund von Krankheiten, der viele Monate anhielt. Abbildung 7 zeigt den von der ILO gemessenen Einbruch der globalen Arbeitsstunden nach Ende 2019. Er geriet im zweiten Quartal 2020 zum stärksten, der jemals gemessen wurde, sogar schlimmer als in den Jahren 2008/2009: Während die durchschnittliche Wochenarbeitszeit im Jahr 2020 um 2,6 Stunden sank, waren es in der „Großen Rezession“ nur 0,6 Stunden (ILO Monitor Covid-19, 2021). Der Einbruch war regional deutlich gestaffelt: Lateinamerika, Südostasien, Nordafrika und Südeuropa waren die Länder mit den größten Arbeitszeitverlusten.

Vor allem in Anbetracht des letztgenannten Punktes ist es nicht verwunderlich, dass es zu enormen Einbrüchen in den globalen Lieferketten und im Welthandel kam. Der Welthandel mit Gütern ging bis 2020 um 8,2 % zurück, der mit Dienstleistungen sogar um 16,7 %. Die Störungen der „globalen Wertschöpfungsketten“ (GVC) sind schwieriger zu quantifizieren. Studien der WTO zeigen jedoch, dass die GVC in Korrelation mit dem Welthandel Versorgungsprobleme aufwiesen, die Störung aber viel langfristiger anhielt (asynchrone Wellen in den verschiedenen Regionen, häufige Unterbrechungen der Transportketten, Dominoeffekte bei Versorgungskettenproblemen, Nachfrageschwankungen usw.). Darüber hinaus rückte ein weiteres wichtiges Moment in den Vordergrund: Bereits in der kurzfristigen Erholungsphase der Industrien des klassischen Imperialismus nach 2016 begann das Phänomen des „Reshoring“ (im Gegensatz zum „Offshoring“ Anfang der 2000er Jahre): Durch verstärkte Automatisierung und KI können westliche Industrien im Rahmen der „Industrie 4.0“ angesichts gestiegener Transportkosten billigere Arbeitskräfte in Halbkolonien einsetzen. Im Zuge der Versorgungsrisiken in der Coronakrise hat sich diese Tendenz zum Reshoring nun offensichtlich verstärkt – um mit dem Ukraine-Krieg nochmals beschleunigt zu werden.

Ursprünglich verkündeten die meisten Wirtschaftsforscher:innen zu Beginn der Coronakrise, dass nach einem kurzen Produktionsstillstand, der durch staatliche Hilfen abgefedert werden konnte, das Wachstum der Vorkrisenzeit nach einer ebenso schnellen Erholungsphase nach dem scharfen Abschwung nahtlos in einer Art V-Form fortgesetzt werden könne. Zu Beginn des Jahres 2021 schien sich diese optimistische Prognose zusammen mit dem Beginn der Impfkampagnen zumindest in den imperialistischen Ländern zu erfüllen. Doch in der zweiten Hälfte des Jahres schlug nicht nur eine neue Coronawelle zu, sondern auch die langfristigen Probleme im Welthandel und in den globalen Wertschöpfungsketten machten sich bemerkbar. So klagten drei Viertel der deutschen Industriebetriebe über wesentliche Lieferprobleme (VW musste wegen fehlender Teile auf Kurzarbeit zurückgreifen), weltweite Produktionsausfälle, gestiegene Rohstoff- und Energiepreise usw. Der versprochene Aufschwung brach also sofort zusammen. Dies hatte aber noch eine weitere unangenehme Folge: Die zu Beginn der Coronakrise ergriffenen Maßnahmen zur Stabilisierung der Wirtschaft bewahrten viele Unternehmen vor dem Zusammenbruch und hielten die Nachfrage nach Konsumgütern auf hohem Niveau – allerdings in der Annahme, dass Produktion und Welthandel bald wieder in Gang kommen und diese Nachfrage dann befriedigen könnten. Das fehlende Wachstum des Angebots führte im Jahr 2021 zu einem Nachfrageüberhang, der zu einem Preisanstieg führen musste.

Es sind also nicht die „lockere Geldpolitik“, die „mangelnde Haushaltsdisziplin“ oder gar „zu hohe Löhne“, die die Inflation auf den Stand der 1970er Jahre zurückbrachten, sondern ist eindeutig das Problem der Stagnation des globalen Produktionsprozesses, das zu einem Angebotsschock führte.  In diesem Punkt können wir Michael Roberts zustimmen: „Die kapitalistische Produktion und die Investitionen verlangsamten sich, weil die Rentabilität des Kapitals in den großen Volkswirtschaften vor der Pandemie nahezu historische Tiefstände erreicht hatte. Die Erholung der Investitionen und der Produktion nach COVID war nur ein ,Zuckerrausch’, als sich die Volkswirtschaften wieder öffneten und aufgestaute Ausgaben freigesetzt wurden. Jetzt wird deutlich, dass das Produktions- und Investitionswachstum in den großen Volkswirtschaften einfach zu schwach ist, um auf die wiederbelebte Nachfrage zu reagieren.  Daher ist die Inflation in die Höhe geschossen“ (M. Roberts,  https://thenextrecession.wordpress.com/2022/06/18/a-tightening-world/).

Grafik 8: Verschuldung der Industrieländer, in Prozent des BIP (1970 – 1918)

Darüber hinaus gibt es einen weiteren wichtigen Aspekt der Krisenverschärfung: die Rolle der Schulden. Die Krisenpolitik nach der Großen Rezession hat die globale Schuldenlast enorm erhöht. Zu Beginn der Coronakrise betrug das globale private und öffentliche Schuldenvolumen das 2,6-fache des Welt-BIP (siehe Grafik 8: Verhältnis zwischen Schulden und BIP, nach „Die Volkswirtschaft“, einer Publikation des Schweizer Wirtschaftsministeriums). Mit den Rettungspaketen, Anleihekäufen, Wirtschaftshilfen usw. der Coronawirtschaftspolitik beträgt die Schuldenlast heute mehr als das Dreifache des Welt-BIP. Für imperialistische Länder, deren privates Kapitalvermögen das 4- bis 6-Fache des jeweiligen nationalen BIP ausmacht, mag das noch finanzierbar sein – in Halbkolonien muss es jedoch zu den bekannten Mustern von Schuldenkrisen führen. Auch in den imperialistischen Ländern zieht dies einen wachsenden Anteil an Kapital nach sich, das in Anlagen mit geringer Rendite gebunden ist. Laut Bloomberg stieg der Index der in Grafik 3 erwähnten Zombie-Unternehmen im Jahr 2022 auf über 20 % (31/05/22 „Zombie Firms Face Slow Death in US as Era of Easy Credit Ends“). Das bedeutet, dass das Kapital, das jetzt für Reshoring, „Industrie 4.0“ oder die Energiewende benötigt würde, fehlt. Zudem treibt die schuldenfinanzierte Nachfrage die Inflation weiter auf hohem Niveau an. Eine weitere Ausweitung des Schuldenregimes stößt daher derzeit auf den erbitterten Widerstand mächtiger Kapitalfraktionen, insbesondere der nach profitablen Investitionen suchenden Finanz- sowie der profitablen Industriekapitale. Diese drängten die Zentralbanken zu einem Ende des „Quantitative Easing“.

Die Einstellung der Anleihekäufe für angeschlagene Unternehmen und die Anhebung der Zinssätze, auf die sich die großen Zentralbanken nun konzentrieren (QT; Quantitative Tightening), wird unweigerlich zu einem mehr oder weniger schnellen Ausfall der Zombie-Unternehmen führen. Da es sich dabei um große Unternehmen, z. B. in der Luftfahrt- oder Energiebranche, handelt, werden sich sicherlich wieder einige die Frage stellen, ob der Zusammenbruch eines Unternehmens eine Kettenreaktion wie beim Zusammenbruch von Lehman im Jahr 2008 auslösen könnte. Die Zentralbanken und Regierungen werden die nächsten 2 – 3 Jahre damit verbringen, die verschuldeten Unternehmen abzuwickeln, ohne dass es zu einer Pleitewelle oder dem Platzen von Finanzblasen kommt. Die Bankenkrise vom März 2023 markierte bereits ein deutliches Anzeichen der Anpassungsprobleme der Geschäftsbanken an die restriktivere Geldpolitik der Zentralbanken (Zusammenbruch der zweitgrößten Schweizer Bank). Andererseits könnte ein zu langsames Tempo den Trend zur Stagflation weiter verstärken. Denn eine steigende Inflation könnte zusammen mit den bereits bestehenden Wachstumshemmnissen schnell zu einer Abwärtsspirale aus ungünstigen Inputkosten und mangelnden Investitionen führen, die auch durch steigende Kreditzinsen behindert werden. Die Zusammenbruchsszenarien hingegen können zu rasch steigender Arbeitslosigkeit, Ausfall von Produktions- und Lieferketten und schließlich zusätzlich über eine Angebots- zu einer Nachfragekrise führen – also zu Deflation und Stagnation, d. h. zu einer Depression. In jedem Fall kommt das Kapital unter diesen Bedingungen nicht mehr umhin, seine Überakkumulationskrise durch Kapitalvernichtung zu lösen. Ob dies nun durch Stagflation, Depression oder ein gefährliches Manöver dazwischen geschieht und wie die Ausmaße regional unterschiedlich ausfallen werden, sicher ist, dass jede dieser Lösungen mit massiven Verschlechterungen für die Arbeiter:innenklasse und heftigen Angriffen auf ihre Errungenschaften verbunden sein wird.

Wie auch immer sich die Inflation entwickelt, die Höhe der Löhne und Sozialleistungen bildet sicher nicht ihre Ursache. Die Arbeit„nehmer“:innen haben im letzten Jahr damit begonnen, ihre in einigen Bereichen durch Reshoring und „angespannte Arbeitsmärkte“ gestärkte Verhandlungsposition für Kämpfe zum Schutz des Lohnniveaus zu nutzen. Insbesondere darf man sich durch das Gerede von der „Lohn-Preis-Spirale“ nicht dazu drängen lassen, auf einen nachhaltigen Inflationsausgleich zu verzichten: Jede kurzfristige Entlastung, die jetzt angeboten wird, führt nur dazu, dass bei einer weiteren Verschärfung die Kampfkraft zur Abwehr weiterer Lohneinbußen noch schlechter ausfällt. Der Verzicht auf einen Inflationsausgleich ist keine „Inflationsbekämpfung“, sondern ein Mittel zur Gewinnsteigerung (so wie bestimmte staatliche Subventionen für die Mineralölindustrie in Deutschland nicht zur Senkung der Benzinpreise, sondern zur „Förderung“ der Gewinne der Unternehmen eingesetzt wurden).

In Zeiten der Inflation müssen die Preissteigerungen durch Klassenkampf gegen die Profite aufgefangen werden, sei es durch gleitende Lohntarife, Preiskontrollen oder Gewinnsteuern – jeweils verbunden mit entsprechenden Kontrollgremien der Arbeiter:innenklasse. Da sich die Preissteigerungen vor allem um die Bereiche Energie, Wohnen und Verkehr drehen, müssen auch hier weitere Kämpfe geführt werden, für die Verstaatlichung der Energieunternehmen, der Wohnungsbaugesellschaften und für den Ausbau des kostenlosen öffentlichen Verkehrs. Wir müssen uns auf die kommende Welle von Betriebsschließungen und Entlassungen vorbereiten, damit nicht jeder einzelne Betrieb auf verlorenem Posten für sich kämpft. Die Krise muss mit einer Welle von Besetzungen, Streiks, letztlich dem Generalstreik, um die Verteilung der immer noch steigenden Arbeit auf alle, verbunden mit einer entsprechenden Anpassung der Wochenarbeitszeit, einhergehen.

Krieg und Kriegswirtschaft

Natürlich wird die derzeitige Krisenphase dadurch verschärft, dass die neue Blockbildung der imperialistischen Mächte zunehmend auf eine militärische Konfrontation drängt. Nachdem das Ende der Coronakrise Anfang 2022 die schlimmsten wirtschaftlichen Einbrüche abzumildern schien, begann Russland im Februar 2022 seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dies hat zu einer Konfrontation zwischen dem „westlichen“ und russischen Imperialismus geführt, die es seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr gegeben hat. Die EU hat gemeinsam mit der NATO und den USA weitreichende Wirtschaftssanktionen ergriffen, die auch Auswirkungen auf die gesamte Weltwirtschaft nach sich ziehen. Länder wie China, Indien oder Brasilien, die sich nicht an den Sanktionen beteiligen, sind von den Sekundärsanktionen nicht betroffen, müssen aber eine langfristige Schwächung ihrer Handelsbeziehungen mit „dem Westen“ befürchten, insbesondere was China betrifft. Kurzfristig werden China und Indien jedoch vom billigeren Zugang zu russischem Gas, Öl, Rohstoffen und landwirtschaftlichen Erzeugnissen profitieren.

Die Sanktionen beinhalten zum einen den Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungsverkehrssystem SWIFT und die Sperrung von russischen Devisenkonten in „westlichen“ Währungen. Damit sind Direktinvestitionen in Russland unmöglich bzw. weitgehend eingestellt worden. Ebenso ist der Handel praktisch zum Erliegen gekommen – mit der wichtigen Ausnahme von Gas und Öl, da ein sofortiger Stopp in den meisten EU-Ländern akut zu einer tiefen Rezession geführt hätte. Die Wirtschaftssanktionen betreffen also hauptsächlich die EU-Imperialist:innen selbst. Während Russland große Probleme mit der Einfuhr westlicher Hochtechnologie bekommt, kann es sein Öl weiterhin zu guten Preisen an die nicht sanktionierenden Länder liefern. Hinzu gesellt sich das Problem des Weltagrarmarktes: Vor dem Krieg belegten Russland und die Ukraine einen Anteil von 15,8 % bzw. 9,8 % am weltweiten Getreideexport – beide sind durch die Blockade der Schwarzmeerhäfen und des Bosporus gefährdet bzw. extrem eingeschränkt. Angesichts des oben beschriebenen Wandels in den Subsistenzwirtschaften der Halbkolonien drohen in vielen Ländern des globalen Südens Hungerkrisen. Während der Weltmarktindikator „Food Price Index“ während der Coronakrise von 100 % in den Jahren 2014 – 2016 auf über 150 anstieg, nahm er während des Ukrainekrieges auf 250 zu. Auch die Energiepreisindizes sind durch den Krieg von ihrem bereits hohen Coronaniveau aus so stark angestiegen, dass die EU-Industrie allein in diesem Jahr voraussichtlich 30 % höhere Energiekosten zahlen muss (sofern es nicht noch schlimmer kommt). Damit hat der Krieg die bereits bestehende inflationäre Tendenz weiter beschleunigt. Insbesondere für das EU-Kapital stellen der Energiepreisschock und der Abbruch der Handelsbeziehungen mit Russland einen weiteren Krisen- und Inflationsbeschleuniger dar. Mit dem „Krieg für die Freiheit in Europa“ verfügt man aber auch über einen ideologischen Vorteil, um alle Krisensymptome Russland in die Schuhe zu schieben und die wirtschaftlichen Angriffe auf soziale Errungenschaften als „patriotische“ Notwendigkeiten zu tarnen.

Natürlich bringt der Krieg auch direkte wirtschaftliche Auswirkungen mit sich: Die Ukraine selbst ist natürlich das Hauptopfer der massiven Zerstörung und der extremen menschlichen Verluste. Wer die Kosten für den Wiederaufbau des ohnehin bitterarmen und hoch verschuldeten Landes (die Ukraine hat das halbe Pro-Kopf-Einkommen Bulgariens, des bisher ärmsten EU-Lands, und war bereits Opfer mehrerer IWF-Umschuldungsprogramme) tragen wird, ist mehr als unklar und wird in einem EU-Beitrittsprozess Milliarden verschlingen, mit entsprechenden Auflagen für einen mehr oder weniger offenen Kolonialstatus des Landes in der EU. Für Russland bedeutet der Krieg jeden Tag Kosten in Milliardenhöhe (von den menschlichen Opfern ganz zu schweigen). Es ist durchaus möglich, dass es nach dem Krieg angesichts der Kosten und der Folgen von Sanktionen in den Staatsbankrott schlittert, je nachdem wie lange er dauert. Ein möglicher Wechsel an der Spitze des Staates macht aber eine weniger nationalistische Ausrichtung Russlands keineswegs wahrscheinlicher. Sicherlich muss es sich finanziell, handelspolitisch und auch bei der militärischen Ausrüstung sehr stark an China anlehnen, um überhaupt als (untergeordnete) imperialistische Macht überleben zu können.

Obwohl die westlichen imperialistischen Mächte noch nicht direkt mit kämpfenden Einheiten in der Ukraine zusammengearbeitet haben (auch wenn freiwillige „Ex-Soldat:innen“ ermutigt werden), haben sie die ukrainischen Streitkräfte bereits vor dem Krieg massiv ausgerüstet und ausgebildet und sie im Krieg mit Waffen, Logistik und Informationsdiensten sowie mit der Ausbildung an den neueren Waffensystemen unterstützt. Darüber hinaus wurde der Krieg genutzt, um die Präsenz der NATO-Truppen und aller Arten von Waffen entlang der Ostfront auszubauen. Mehrere EU-Staaten haben umfangreiche Aufrüstungsprogramme beschlossen (darunter auch Deutschland). Nach Angaben der Washington Post haben allein die USA von 2014 bis 2021, also bereits vor dem Krieg, 2,7 Milliarden US-Dollar an Militärhilfe bereitgestellt. Im ersten Jahr des Ukrainekriegs haben die USA 48 Milliarden US-Dollar an finanzieller und militärischer Hilfe geleistet, während die EU-Staaten (und die Union) 52 Milliarden US-Dollar aufbrachten. Zusammen mit der Hilfe des Vereinigten Königreichs und anderer Länder (Kanada, Australien, … ) hat die Ukraine im ersten Kriegsjahr eine Hilfe erhalten, die dem BIP entspricht, das sie im Jahr vor dem Krieg produziert hat. Allein die USA haben seit Beginn des Krieges bis November 2022 direkte Militärhilfe in Höhe von 23 Milliarden US-Dollar geleistet (alle diese Daten stammen aus dem „Ukraine Support Monitor“ des „Instituts der deutschen Wirtschaft“, das der deutschen Regierung und dem Deutschen Arbeit„geber“verband nahesteht). Im Vergleich dazu haben die USA in einem durchschnittlichen Jahr vor 2021 280 Millionen US-Dollar in Afghanistan investiert.

Der Großteil der bis Ende 2022 an die Ukraine gelieferten Ausrüstung stammte aus den Beständen westlicher Armeen. Dies ging mit einer langfristigen Erneuerung mit moderneren Waffen in diesen einher. Schon vor dem Krieg gehörte die Rüstungsindustrie im Westen zu den am schnellsten wachsenden Bereichen der imperialistischen Länder. Während der Coronakrise wuchs sie im Jahr 2021 um 2 %. Im ersten Quartal 2022 konnten Panzer- und Artilleriehersteller:innen wie Rheinmetall ihre Gewinnspanne um 10 % steigern. Doch das Beste für diese Unternehmen steht noch bevor. Ende 2022 wird immer deutlicher, dass die Lieferungen aus Lagerbeständen für die ukrainische Armee nicht ausreichen. Sie verbraucht pro Tag Munition, die den Vorrat ganzer NATO-Armeen aufbraucht, so dass Anfang 2023 ein erheblicher Munitionsmangel entsteht, vor allem für die moderneren Waffen (z. B. die Leopardpanzer, die Munition aus Schweizer Produktionsstätten benötigen würden). Dies erfordert nun eine direkte Lieferung aus westlichen Produktionsstätten. Normalerweise dauert es bei komplexeren Waffen 28 Monate von der Bestellung bis zur Lieferung. Einiges davon war zwar bereits vorbereitet, aber die NATO-Regierungen haben nicht mit einem so langen Zermürbungskrieg gerechnet – vor allem nicht mit der Menge an konventionellen Waffensystemen wie Panzern und Artillerie. Die westliche Führung appelliert nun an die Industrie, riesige Rüstungsprojekte auf die Beine zu stellen, um Vorräte anzuhäufen und schnell auf den Kriegsschauplatz liefern zu können. Die Vertreter:innen der Rüstungsindustrie reagierten eifrig, verwiesen aber gleichzeitig auf die gestiegenen Produktionskosten und verlangten strenge Zahlungsverpflichtungen. Während also die militärische Unterstützung bisher nur über die Lieferung aus Vorratsdepots finanziert wurde, wird deren Kalkulation nun direkt zur Staatsverschuldung beitragen.

Da die westlichen Imperialist:innen also auf eine Kriegswirtschaft zusteuern, wird dies spezifische Auswirkungen auf die weltwirtschaftlichen Krisentendenzen mit sich führen. Einerseits hat das Wachstum der Rüstungsindustrien kurzfristige Auswirkungen in Form von Nachfrage- und Beschäftigungswachstum. Da es sich dabei aber um unproduktive Arbeit für den Kapitalkreislauf handelt, löst sie in keiner Weise die langfristigen Probleme der Kapitalverwertung. Dies kommt in der Frage der Finanzierung dieses Wachstums zum Ausdruck. Wie beim Vietnamkrieg in den 1960er/1970er Jahren ist nicht zu erwarten, dass die Kriegsanstrengungen über Steuererhöhungen finanziert werden. Er (wie später auch Afghanistan) wurde vor allem über eine massive Erhöhung der Staatsverschuldung und eine Ausweitung der verfügbaren Geldmenge finanziert. Der Vietnamkrieg verkörperte somit den Beginn der ersten Inflationsperiode nach dem Zweiten Weltkrieg. Da wir bereits in das zweite Jahr des Ukrainekrieges mit hohen Inflationsraten und einem astronomischen Schuldenstand eintreten, wird der Drang zur Kriegswirtschaft das QT-Projekt des Schulden- und Inflationsabbaus konterkarieren. Hinzu kommen die unmittelbaren Probleme der Rüstungsindustrie selbst: Wie alle Industrien weist sie Versorgungsprobleme (z. B. im wichtigen Bereich der Halbleiter oder Rohstoffe) durch Preissteigerungen bei Vorprodukten und Mangel an qualifizierten Arbeitskräften auf. Letzteres hängt auch mit der Notwendigkeit zusammen, die Produktionsketten der Rüstungsindustrie in den „zuverlässigen“ imperialistischen Kern zu verlagern. Nicht zuletzt gehört sie auch zu den größten Produzentinnen von Treibhausgasen und muss vor allem in den imperialistischen Kernländern zunehmende Restriktionen einhalten. All dies führt zu explodierenden Kosten des neuen Wettrüstens. Wie im Fall des Vietnamkriegs könnten die hohen wirtschaftlichen Risiken, die auf dem Spiel stehen, die USA dazu veranlassen, eine direkte Beteiligung in Betracht zu ziehen, um einen schnellen Sieg sicherzustellen.

Der Faktor China

Nach eher pessimistischen Prognosen für 2023 in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres sind die bürgerlichen Ökonom:innen seit Anfang dieses Jahres wieder erstaunlich optimistisch. Während sie in allen großen imperialistischen Volkswirtschaften rezessive Tendenzen sahen, erwarten sie jetzt nur noch im Vereinigten Königreich einen Einbruch. Während sie einen Trend zu einem globalen Wachstum von unter 2,7 % voraussagten, reden sie nun über einen in Richtung 3 % – eine mögliche „sanfte Landung“ nach der „Überhitzung nach der Pandemie“. Eine Grundlage für den Optimismus sind Daten über sinkende Inflationsraten, insbesondere fallende Preise im Energie- und Wohnungssektor. Hinzu kommen Daten über hohe Beschäftigungsquoten und abnehmende Probleme in den Lieferketten. Sollten wir also eine Rückkehr zu den stetigen Wachstumstrends der Zeit vor der Pandemie erwarten, wie es Weltbank und IWF suggerieren?

Wie wir bereits erwähnt haben, gibt es mehrere Probleme mit dieser Perspektive: Erstens war dieses „vorpandemische Wachstumsniveau“ bereits eines der schlechtesten in der Geschichte des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist Ausdruck eines historisch niedrigen Produktivitäts- und Rentabilitätsniveaus, das keine gute Grundlage für eine Zunahme der für ein nachhaltiges kapitalistisches Wachstum erforderlichen Investitionen darstellt. Zweitens ist die derzeitige Preissenkung Ausdruck des Nachfragerückgangs aufgrund der weltweit sinkenden Wachstumsraten am Ende des letzten Jahres (Wachstum von nur 0 bis 1 % in den meisten imperialistischen Ländern) – und insbesondere des historisch niedrigen Wachstums in China (2 % im letzten Quartal). Gerade letzteres hatte auch einen enormen Einfluss auf den Rückgang der Ölpreise. Drittens hat sich der Anstieg der Zinssätze auf das Investitions- und Ausgabenniveau ausgewirkt, so dass die sinkende Nachfrage auch Auswirkungen auf die Preise hatte. Viertens haben die notwendigen Lohnkämpfe der Arbeiter:innenklasse, um zu verhindern, dass die Krise über die Inflation bezahlt wird, die Löhne in einer Weise erhöht, die sich im Jahr 2023 auf das Preisniveau auswirken wird. Fünftens werden die genannten Auswirkungen der Kriegswirtschaft erst im Jahr 2023 spürbar werden. All diese gegensätzlichen Elemente sowie die Probleme bei der Umstellung der Volkswirtschaften auf Reshoring und die Abkehr von fossilen Brennstoffen machen diese optimistischen Aussichten ziemlich obsolet.

Aber es gibt noch einen viel wichtigeren Faktor: China. Es hat die Coronakrise in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 schneller als erwartet überwunden. Wirtschaftswissenschaftler:innen erwarten, dass es in diesem Jahr auf einen Wachstumspfad von bis zu 4 bis 5 % zurückkehren wird. Dies ist wichtig für exportorientierte Volkswirtschaften, die ansonsten mit Märkten konfrontiert sind, die mit Wachstumsraten von 1 % zu kämpfen haben. Der Druck, die chinesische Expansion wieder als Vehikel für die eigene Erholung zu nutzen, wird groß sein. Dies geht einher mit einer wachsenden politischen Nutzung der wirtschaftlichen Macht durch die chinesische Regierung und die Kapitalist:innen auf der anderen Seite. Zwar könnten westliche Regierungen versuchen, ihre Kapitalist:innen unter Druck zu setzen, einen Teil ihrer Chinainvestitionen zu verlagern, doch wird dies schwierig sein, wenn das Land den Zugang zu Rohstoffen und Produktionsprozessen blockiert, die der Westen dringend benötigt, wie beispielsweise die Auseinandersetzungen um die Solarindustrie in jüngster Zeit gezeigt haben. China zu sanktionieren oder die „Abhängigkeit“ von ihm zu verringern, wird für die Wachstumsperspektiven des Westens äußerst kostspielig sein und kann zu einer schnellen Wende hin zu einem Einbruch der Weltwirtschaft führen.

Dies trägt zu der zunehmenden geopolitischen Konfrontation zwischen China und den USA bei. China ist im Vergleich zu Russland eine wirtschaftliche Supermacht, mit der die USA auf rein wirtschaftlicher Ebene nur schwer zurechtkommen, obwohl sowohl Trump als auch Biden dies durch Handels- und protektionistische Maßnahmen versucht haben. Es liegt auf der Hand, dass sich Chinas wirtschaftliche Stärke zunehmend auch auf die politische und rüstungspolitische Ebene überträgt. Der Ukrainekrieg zeigt, dass es eine vom Westen unabhängige Rolle spielen und eine eigene Einflusssphäre um sich scharen kann. Während der Westen in Bezug auf den Ukrainekrieg vorgibt, dass „die Welt geschlossen hinter uns gegen Russland steht“, gelang es China, einen großen Block von Ländern anzuführen, die nicht bereit sind, Sanktionen gegen Russland zu unterstützen und Waffen an die Ukraine zu liefern. Darüber hinaus wurde Russland in eine untergeordnete Rolle als billiger Energielieferant gedrängt. China ist somit ein Gewinner der neuen Blockkonfrontation. Da es sich nun als möglicher Friedensvermittler (zusammen mit Brasilien und Indien) präsentiert, ist dies eine gewaltige Provokation für die US-Hegemonie. Sicherlich wird dies den Taiwankonflikt anheizen, da es zu neuen Anschuldigungen führen wird, dass China in Wirklichkeit Waffen und Munition an Russland liefert. Der Ukrainekrieg wird also nur ein Vorspiel für die viel größere Konfrontation zwischen den beiden größten Supermächten abgeben – mit unvorhersehbaren Folgen für das weitere Schicksal der Weltwirtschaft, da die Spannungen zunehmen werden.

Eine neue Periode der „Deglobalisierung“?

Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass wir weit davon entfernt sind, uns in einer neuen Periode des Aufschwungs der Kapitalakkumulation zu befinden. Die nächsten Jahre werden weiterhin von der Krise des gegenwärtigen Akkumulationsregimes geprägt sein. Anders als zu Beginn der Globalisierungsperiode gibt es keine entscheidenden neuen Niederlagen der Arbeiter:innenklasse, die zu noch höheren Ausbeutungsraten führen könnten. Auch gibt es im Gegensatz zu damals keine aufstrebende Wirtschaftsmacht wie China, die mit wesentlich höheren Profitraten in das Konzert der imperialistischen Akkumulation einsteigen kann. Im Gegenteil, die Profitraten aller imperialistischen Volkswirtschaften haben sich auf einem niedrigen Niveau angeglichen. China ist selbst von einem Motor der globalen Akkumulationsdynamik zu einem Krisenfaktor geworden.

All diese Krisenfaktoren: Energie und Ökologie, Pandemie, Verschuldung, Inflationsgefahr, Zusammenbruch von Zombie-Unternehmen, die aussichtslose Krise fast aller halbkolonialen Regionen, insbesondere der Absturz der Schwellenländer, wachsende Kriegsgefahr und Aufrüstungsspiralen lassen einen reibungslosen Übergang zu einer neuen Investitionswelle in klimaneutrale und intelligente Technologien (Energieeffizienz, erneuerbare Energien, Industrie 4.0 etc.) höchst unwahrscheinlich erscheinen. Die Phänomene der „Deglobalisierung“, wie der Rückgang der Direktinvestitionen, das geringere Gewicht globaler Wertschöpfungsketten, die Schwächung des Welthandels, z. B. durch neue Zölle, stellen vor allem ein Zeichen der Krise und nicht das Merkmal einer neuen Blüteperiode dar.

Auch wenn die „Globalisierung“ nicht mehr dynamisch voranschreitet, wird der Kapitalismus kaum vom neuen Grad der Internationalisierung seiner Produktionsweise ablassen. In der gegenwärtigen Zeit bedeutet dies, dass auch die Krise eine viel internationalere und globalere Dynamik annimmt.  Wir werden mit einer Welt der Krisen und Kriege konfrontiert sein, in der die internationale Arbeiter:innenklasse für ihre Grundrechte und einen sozial und ökologisch bewohnbaren Planeten für alle kämpfen muss. Deshalb ist der Kampf um die Führung der Klasse, die Stärkung ihrer grundlegenden Kampforgane, ihre Gewinnung für eine internationalistische und kommunistische Transformation der Gesellschaft sowie die Verteidigung gegen die verschiedenen populistischen Pseudoreaktionen auf die Krise notwendiger denn je!




Argentinien: Rechtsruck bei den Vorwahlen

Martin Suchanek, Neue Internationale 276, September 2023

Der Sieg des rechten, ultraliberalen Javier Milei bei den Vorwahlen am 13. August kommt einem politischen Erdbeben gleich. Überraschend ließ der Kandidat der rechten La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) die Vertreter:innen der großen bürgerlichen Parteiblöcke – der rechtsliberalen Allianz Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wechsel) und der peronistischen Unión por la Patria (Union für das Vaterland) hinter sich.

Umfragen prognostizierten Milei, dessen Partei erst 2021 gegründet worden war, zwar einen beachtlichen Zulauf von bis zu 20 % der Stimmen und damit den dritten Rang unter den Präsidentschaftskandidat:innen. Dass er gewinnen würde, hatte jedoch niemand auf dem Schirm.

Ergebnis der Vorwahlen

Die Vorwahlen dienen in Argentinien zwei Zwecken. Erstens dürfen nur Parteien oder Allianzen, die die 1,5 %-Hürde knacken, zu den Präsidentschaftswahlen, zur Wahl von 130 der 257 Parlamentssitze sowie von 24 der 72 Senator:innen antreten. Zweitens können für eine Partei zwei Kandidat:innenlisten zur Vorwahl antreten und das Ergebnis legt fest, wer die Liste anführt. Darüber hinaus fanden am 13. August auch noch Vorwahlen zu den Gouverneur:innenwahlen und der Legislative mehrerer Provinzen, darunter auch Stadt und Region Buenos Aires statt.

Bei den Vorwahlen zur Präsidentschaft erhielten Milei und die als Vizepräsidentkandidatin antretende Victoria Villarruel 30 % der Stimmen. Anders als bei den meisten anderen Listen gab es hier keine parteiinterne Konkurrenz Auf dem zweiten Platz folgte Juntos por el Cambio mit 28,3 %, wobei sich dort Patricia Bullrich, die Vorsitzende der Partei des ehemaligen Präsidenten Mauricio Macri (2015 – 2019) und einstige Sicherheitsministerin, mit 17 % durchsetzen konnte.

Die zur Zeit noch regierende peronistische Unión por la Patria errang nur 27,27 % – und verlor damit gegenüber den Vorwahlen 2019 rund 20 %! Der derzeitige Wirtschafts- und Finanzminister Massa, also der Kandidat vom rechten Parteiflügel, setzte sich mit 21,4 % klar durch. Der linkspopulistische Gegenkandidat Grabois errang gerade 5,89 %, obwohl er vom Papst und der ehemaligen Präsidentin Cristina Kirchner unterstützt wurde.

Nur zwei weitere Listen schafften es zu den Präsidentschaftswahlen, alle andere blieben unter 1,5 %. So treten neben den oben genannten drei großen Lagern noch die aus dem Peronismus kommenden Schiaretti und Randazzo an, die bei den Vorwahlen 3,8 % erhielten. Die Kandidat:innen der Frente de Izquierda y de Trabajadores – Unidad (FIT-U = Front der Linken und Arbeiter:innen – Vereinigte Front) vereinten 2,7 % auf sich. Insgesamt erhielt die FIT-U 630.000 Stimmen – ein deutlicher Rückgang gegenüber den letzten Vorwahlen 2021 (zur anderen Hälfte der Parlamentssitze), als sie fast eine Million Stimmen erhielt, aber auch gegenüber den Wahlen von 2019. In der FIT-U setzte sich die Liste der PTS/IS (Bregman und del Caño) mit 1,86 % gegenüber jener von PO/MST (Solano und Ripoll) durch, die 0,79 % erhielt. Andere linke Kandidaturen aus dem trotzkistischen Spektrum verfehlten mit 0,4 % (Nuevo MAS) und 0,3 % (Politica Obrera) die 1,5 %-Hürde.

Sieg der Rechten und Krise

Betrachten wir nur die Stimmen zu den Präsidentschaftswahlen, so erzielten Kandidat:innen rechts von den regierenden Peronist:innen rund 60 %! Hinzu kommt, dass La Libertad Avanza auch in vielen Provinzen stark abschnitt, also nicht nur Milei als ernstzunehmender Kandidat, sondern auch seine Partei sich etablieren konnten. Die Stimmen für die regierenden Peronist:innen dürfen darüber hinaus auch keineswegs als „links“ gewertet werden. Vielmehr stellt der Peronismus den linken Flügel des bürgerlichen Spektrums dar, eine populistische politische Strömung, die letztlich die Interessen des Kapitals vertritt, auch wenn sie die Gewerkschaften und deren Führung über Jahrzehnte inkorporiert, gewissermaßen eine Volksfront in Parteiform darstellt.

In jedem Fall haben die beiden Hauptparteien des politischen Systems an Positionen verloren. Über Jahrzehnte stellten sie – und nur sie – Präsidentschaft und Regierung, wechselten sich gewissermaßen ab, wenn darum ging, die Staatsgeschäfte zu erledigen und die damit verbundenen Pfründe untereinander aufzuteilen. Dieses System war schon immer untrennbar mit Korruption, Vetternwirtschaft, Amtsmissbrauch und mehr oder weniger offener Plünderung staatlicher Gelder für eigene Zwecke oder im Interesse des inländischen und ausländischen Kapitals verbunden.

Doch Argentinien befindet sich seit Jahren in einer extremen ökonomischen und sozialen Krise, die eng mit der halbkolonialen Abhängigkeit des Landes verbunden ist. Schon um die Jahrhundertwende stand das Land infolge von Verschuldung, Bankcrash und Zusammenbruch der Währung vor dem Ruin. Nachdem diese vorübergehend überwunden werden konnte, dreht sich wieder die Schuldenspirale. Seit spätestens 2014 schrammt das Land nah an der Insolvenz vorbei.

Seit Jahren verhandelt Argentinien eine Umschuldung nach der anderen mit dem IWF, da es sonst kaum noch neue Kredite erhält. Im März 2023 betrugen die Schulden rund 276 Milliarden US-Dollar. Davon entfielen 148 Milliarden auf den Nationalstaat, der beim IWF mit rund 45 Milliarden in der Kreide steht. Gleichzeitig sanken die Devisenreserven der Zentralbank auf 36,5 Milliarden US-Dollar, den niedrigsten Stand seit 2016.

Die Inflation ist von Juni 2022 bis Juni 2023 von 64 % auf 115 % gestiegen, was auch dazu führt, dass viele versuchen, ihre Reserven in US-Dollar anzulegen. Extreme Dürren, begleitet von massiven Ernteeinbrüchen – Schätzungen gehen von 30 – 40 % für verschiedene Agrarprodukte aus –, haben die Situation weiter zugespitzt. Verschärfend kommen Energie- und Treibstoffknappheit hinzu. Für 2023 prognostiziert der IWF ein Schrumpfen der Wirtschaft um 2,5 % und eine Inflationsrate von 120 %.

Dabei leben schon heute rund 40 % der Bevölkerung in völliger Armut – und zwar mit massiver Steigerung. In den letzten Jahren sind Schätzungen zufolge rund 4,5 Millionen Menschen in die Armut abgerutscht, auch aus den Mittelschichten – nicht zuletzt infolge der Kürzungen, die für IWF-Kredite ausgehandelt wurden. Die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 7,5 %, die Jugendarbeitslosigkeit bei 18,3 %. Nur 43 % der Beschäftigten haben einen „regulären“ Arbeitsvertrag, die Mehrheit der Lohnabhängigen arbeitet ohne soziale Absicherung über Vertragsarbeit oder als Scheinselbstständige. Das führt auch dazu, dass die Gewerkschaften an potentiellem Einfluss verloren, weil mittlerweile die Mehrheit aller Arbeitsverhältnisse nicht über gewerkschaftliche Abkommen reguliert wird (was umgekehrt die Gewerkschaftsspitzen nicht hindert, sich weiter den Peronist:innen unterzuordnen).

Widerstand

All dies findet keineswegs ohne Widerstand und Protest statt. Im Sommer 2022 gab es bedeutende Demonstrationen gegen Preissteigerungen und umfangreiche Kürzungen an Sozialprogrammen durch die peronistische Fernández-Regierung. Mehrere landesweite Protesttage 2023 mobilisierten Hunderttausende – 160.000 am 7. Februar,

rund 350.000 Menschen am 18. Mai 2023 nach einem Sternmarsch nach Buenos Aires gegen Hunger und IWF-Sparpolitik. Maßgeblich organisiert wurden sie von einer  Koordination für die soziale Veränderung, einem Bündnis der Erwerbslosenorganisationen namens Unidad Piquetera.

Am 4. Juli 2023 fanden in mindestens 87 Orten Argentiniens Proteste statt, vielerorts wurden auch Straßen und Kreuzungen blockiert. Unter dem Banner „Unidad Piquetera“ (Vereinte Blockade) demonstrierten verschiedene soziale Bewegungen gemeinsam gegen die wachsende Ungleichheit im Land.

Die vier Forderungen der Unidad Piquetera: „20 Millionen Arme, und das Essen geht in den Wahlkampf. [1] Ganzheitliche Versorgung der Suppenküchen. 2) Lieferung der Hilfsmittel für selbstverwaltete Arbeit. 3) Teuerungsausgleichszulage. 4) Erhöhung der Sozialprogramme = Inflation.“

Ein anderes Beispiel für Proteste ereignete sich im Juni 2023 in der Nordwestprovinz Jujuy, wo der Gouverneur eine Verfassungsreform durchdrücken will. Die neue Verfassung verbietet es, Straßen zu blockieren oder andere Maßnahmen zu ergreifen, die in den letzten Wochen in der Provinz bei Demonstrationen gegen die Reform und für eine bessere Bezahlung der Lehrer:innen eingesetzt wurden.

„Die CGT von Jujuy hat einen 48-stündigen Streik ausgerufen. Alle zum Streik und zur Mobilisierung. Er muss andauern, bis die Reform fällt und sie auf alle Forderungen reagieren. Ein nationaler Streik der CGT und der CTA zur Unterstützung der Bevölkerung von Jujuy ist unerlässlich. Nach Tagen des Kampfes und der Repression in Purmamarca sind die Worte des Präsidenten und der Vizepräsidentin der Nation angekommen. Ihre Partei hat die Reform von Morales unterstützt und heute waren sie noch im Plenarsaal und haben geschworen, dass es eine schlechte Reform ist, während sie das Volk unterdrücken. Nieder mit der Reform. Hoch mit den Löhnen und Rechten. Freiheit für alle Verhafteten und Inhaftierten. Generalstreik, bis die Verfassungsreform von Morales und der PJ fallen gelassen wird“. (Aus einem Bericht des linken Wahlbündnisses FIT-U) (Gerardo Morales=Gouverneur von Jujuy)

Allerdings gingen die Proteste trotz beachtlicher Größe bislang nicht über Großdemonstrationen oder lokale, befristete Besetzungen und Streiks hinaus. Zweitens tragen viele auch einen defensiven, eher appellativen Charakter.

Warum siegte die Rechte?

So wichtig, diese Mobilisierungen daher sind, so schlägt in Argentinien das politische Pendel inmitten der kombinierten sozialen, wirtschaftlichen Krise massiv nach rechts aus. Zweifellos sind die Wahlbewegungen instabil und Momentaufnahmen. Sicherlich wählten viele Milei auch, um den etablierten Parteien einen Denkzettel zu verpassen, nicht weil sie von seiner Politik so überzeugt wären. Aber die Bilanz der Vorwahlen ist eindeutig (und wird sich bis zu den Wahlen auch nicht extrem verändern, selbst wenn Juntos por el Cambio oder Unión por la Patria besser abschneiden sollten. Der Rechtsruck ist deutlich – und wir müssen uns fragen, warum ein Kandidat wie Milei, der 2019 noch gar nicht zur Wahl stand, 30 % erreichen konnte.

Ähnlich wie Trump inszeniert sich der Wirtschaftswissenschafter und selbsternannte „Anarchokapitalist“ als Kandidat gegen das „korrupte“ Establishment. Er verspricht, mit der Korruption, mit dem „alten System“, zu dem auch die Gewerkschaften, Linke, Errungenschaften der Frauenbewegung und Unterdrückten gehören, aufzuräumen.

Den Peso will er abschaffen und durch den US-Dollar ersetzen, die Zentralbank würde dann nicht mehr gebraucht und folgerichtig geschlossen. Die Bindung an den US-Imperialismus würde verstärkt.

Milei hat Verbindungen zu bekannten rechten Organisationen wie z. B. der „Fundación LIBRE“ und findet lobende Worte für die ehemalige Militärdiktatur. Auch spricht er sich gegen Abtreibung aus. Seine wirtschaftliche Agenda ist eine besonders radikale Form des Neoliberalismus. Er will alle Sozialprogramme abschaffen und Unternehmen nicht mehr besteuern. Bildung und die öffentliche Gesundheitsversorgung sollen restlos privatisiert werden.

Kein Wunder also, dass er Unterstützung bei den reichsten Menschen sowie bei bedeutenden Teilen des Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten findet. Aber er erhielt paradoxerweise auch bei den ärmsten Menschen massiv Zuspruch.

Dies verdeutlicht nicht nur deren massive Entfremdung vom argentinischen politischen System und insbesondere auch vom Peronismus, der diese lange integriert hatte. Die Wahl der Rechten als „Protest“ verweist auch auf die Verzweiflung und teilweise Demoralisierung dieser Schichten. Gelingt es den Gewerkschaften und der Linken nicht, die Massen gegen die Krise zu mobilisieren und für diese einen Pol der Hoffnung darzustellen, so droht, sich diese Schicht zu einer rechten populistischen Bewegung zu verfestigen und im Falle zukünftiger Kämpfe sogar weiter zu radikalisieren.

Die Mischung aus heterogenen Klassenkräften – von verarmten, deklassierten Schichten über das Kleinbürger:innentum bis hin zu Teilen des herrschenden Klasse – kann nur zusammengehalten werden, indem der anarchokapitalistische Führer sein Programm, das sich unmittelbar gegen die Masse seiner Wähler:innen richtet, mit rassistischer, reaktionärer, demagogischer und irrationaler Hetze gegen eine/n gemeinsame/n Feind:in verbindet. Sollte Milei in der Opposition bleiben, wird er in jedem Fall diese Strategie verfolgen. Aber auch, wenn er einen bedeutenden Einfluss auf die nächste Regierung erlangen oder gar, was unwahrscheinlich ist, die Präsidentschaft gewinnen sollte, wird er auf eine solche reaktionäre Mobilisierung weiter zurückgreifen müssen, will er seine Anhänger:innen bei der Stange halten.

Die radikale Linke

Vor diesem Hintergrund müssen die Ergebnisse der „radikalen Linken“ analysiert und deren Aufgaben bestimmt werden.

Die FIT-U hat mit 2,7 % (=620.000 Wähler:innen) ein Ergebnis erzielt, das in jedem anderen Land überaus beachtlich wäre. Die Wahlallianz FIT-U aus vier trotzkistischen Organisationen besteht aber bereits seit 2011 und die Ergebnisse pendeln seither um diesen Prozentsatz. Die FIT-U ist zwar etwas gewachsen, aber ihr gesellschaftlicher Einfluss stagniert seit Jahren.
Das liegt an mehreren Faktoren. Erstens bildet sie im Wesentlichen nur eine Wahlallianz. Außerhalb der Wahlen treten die vier Gruppierungen vor allem als verschiedene Organisationen auf.

Auch wenn alle gern betonen, dass die FIT-U mehr werden müsse als eine Wahlallianz – so hat auch niemand den Schritt, über diese hinauszugehen, ernsthaft versucht.

Dies würde nämlich bedeuten, offen und öffentlich über eine programmatische Vereinheitlichung und die programmatischen Differenzen zu debattieren. Es würde auch bedeuten, die FIT-U für Arbeiter:innen und Jugendliche zu öffnen, die deren Wahlprogramm unterstützen.

Das ist aber nicht möglich. Die Mitglieder der FIT-U sind vier Organisationen – Partido Obrero (PO), Partido de los Trabajadores Socialistas (PTS), Izquierda Socialista (IS) und Movimiento Socialista de los Trabajadores (MST). Wer mitbestimmen will, muss einer der vier betreten.

Hinzu kommt, dass das Programm der FIT-U aus dem Jahr 2011 (!) stammt und seither nicht aktualisiert wurde. Dabei wäre das dringend nötig. Erstens, weil das Programm nicht auf die aktuellen Aufgaben fokussiert ist, zweitens, weil es wichtige Schwächen aufweist, die es zu einem zentristischen, nicht-revolutionären Programm machen. So enthält es keine klare Orientierung auf eine Einheitsfrontpolitik gegenüber den bestehenden, vom Peronismus politisch dominierten Gewerkschaften. Das Programm spricht zwar die Forderung nach einer Arbeiter:innenregierung an, aber es lässt offen, auf welche Organe sich eine solche stützen müsste, wie überhaupt Räte und bewaffnete Selbstverteidigungsorgane der Arbeiter:innen und Unterdrückten (Milizen) nicht vorkommen.

Teile der FIT, z. B. Izquierda Socialista, halten dieses ungenügende Programm für ausreichend. Faktisch agieren die Kandidat:innen der FIT-U darüber hinaus mit ihren jeweils eigenen Wahlplattformen. Nicht nur zum Wahlprogramm gibt es massive Differenzen, auch zu anderen, für den Klassenkampf wichtigen Fragen (Charakterisierung von Russland und China, Krieg in der Ukraine, Verhältnis zu Kuba und Venezuela, Haltung zu den Piquetero-Organisationen und zum Peronismus).

Die Wahlen dürfen daher auch von der FIT-U nicht als Aufruf zu einem „Weiter so!“ verstanden werden. Vielmehr müssen zwei, miteinander verbundene strategische Aufgaben angegangen werden:

a) Aufbau einer Einheitsfront gegen die Angriff des Kapitals mit dem Ziel, auch die Gewerkschaften in den Kampf zu zwingen.

b) Ausarbeitung eines Aktionsprogramms, das im Kampf für eine Arbeiter:innenregierung gipfelt, die sich auf Räte und Milizen stützt, das Großkapital unter Arbeiter:innenkontrolle enteignet und einen Notplan gegen die Krise umsetzt.

Dies würde aber erfordern, dass die FIT-U selbst eine Kurskorrektur vornimmt, eine Diskussion um diese Fragen organisiert, um eine vereinte revolutionäre Arbeiter:innenpartei aufzubauen.




Krise und Wandel der Arbeiter:innenklasse

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

Seit ihrer Entstehung bildete die Arbeiter:innenklasse nie eine „geschlossene“ soziale Gruppe, sondern ihre Existenz wird immer von inneren Schichtungen und Differenzierungen gezeichnet. Im Unterschied zum Nominalismus der bürgerlichen Soziologie, die, sofern sie überhaupt auf „Klasse“ rekurriert, diese als Attribut bestimmter Personen fasst (Einkommenshöhe, Berufsstand usw.), kennzeichnet den marxistischen Klassenbegriff, dass er Klassen als Verhältnis zwischen Gruppen von Menschen begreift. Ohne Kapital keine Lohnarbeit und umgekehrt. Die Wandlung des Kapitals bestimmt dabei wesentlich die Schichtung, Umwälzung, stetige Neuzusammensetzung der Lohnabhängigen.

Im „Kapital“ entwickelt Marx im Kapitel über das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation, dass das Wachstum und der Wandel des Kapitals selbst die Reproduktionsbedingungen der Arbeiter:innenklasse entscheidend bestimmen.

„Wir behandeln in diesem Kapitel den Einfluß, den das Wachstum des Kapitals auf das Geschick der Arbeiterklasse ausübt. Der wichtigste Faktor bei dieser Untersuchung ist die Zusammensetzung des Kapitals und die Veränderungen, die sie im Verlauf des Akkumulationsprozesses durchmacht.“[i]

Dabei zeigt er, dass selbst bei unveränderter technischer Grundlage des Produktionsprozesses die Zusammensetzung der Lohnabhängigen, die Zahl der beschäftigten, unterbeschäftigten und erwerbslosen Arbeiter:innen bedingt wird durch die Kapitalbewegung. Da Kapitalismus aber notwendigerweise mit einer ständigen Umwälzung der Produktion einhergeht, prägt er in einem noch viel größeren Umfang die Zusammensetzung der Klasse, ja, ihre gesamte Existenz.

„Die Akkumulation des Kapitals, welche ursprünglich nur als seine quantitative Erweiterung erschien, vollzieht sich, wie wir gesehn, in fortwährendem qualitativen Wechsel seiner Zusammensetzung, in beständiger Zunahme seines konstanten auf Kosten seines variablen Bestandteils.“[ii]

Das einzig wirklich Konstante an der Arbeiter:innenklasse ist also ihre ständige Veränderung. In Phasen der Expansion und Prosperität kann dabei die Ausbeutung vergleichsweise dehnbare, „bequeme und liberale“ Formen annehmen. Davon sind wir freilich seit Jahrzehnten weit entfernt. Die gegenwärtige Krisenperiode geht nicht nur mit einer grundlegenden Veränderung der Arbeiter:innenklasse und aller gesellschaftlichen Beziehungen einher, sondern vor allem auch mit einer Verschlechterung der ökonomischen und sozialen Lage der Klasse insgesamt. Dies vollzieht sich jedoch keineswegs linear, für alle gleich. Im Gegenteil. Die ungleiche und kombinierte Entwicklung des globalen Kapitalismus manifestiert sich auch in einer globalen Veränderung der Zusammensetzung der Klasse. Bestehende grundlegende Ungleichheiten wie jene zwischen den Arbeiter:innen in den imperialistischen Zentren und in den Halbkolonien werden massiv verschärft. Aber auch die innere Differenzierung, z. B. zwischen der Arbeiter:innenaristokratie einerseits und den unteren Schichten der Lohnabhängigen, den Working Poor, andererseits, wird tendenziell größer.

In den ersten Abschnitten des Artikels wollen wir daher die wichtigsten Veränderungen skizzieren, um deren Rückwirkung auf die gewerkschaftlichen und politischen Organisationen der Klasse zu betrachten. Im letzten Abschnitt werden wir kurz auf die Frage der revolutionären Politik als Antwort auf diese Krise eingehen:

1.) Eine Darstellung wesentlicher Veränderungen der Arbeiter:innenklasse in der Globalisierungsperiode;

2.) die Auswirkungen der Pandemie und globale Entwicklungstrends;

3.) die Arbeiter:innenbewegung und die Führungskrise des Proletariats;

4.) die Verbindung zur Krise der Arbeiter:innenbewegung und zur Führungskrise des Proletariats;

5.) Historische Erfahrungen, strategische und taktische Schlussfolgerungen für den Aufbau revolutionärer Parteien.

1. Veränderungen der Arbeiter:innenklasse in der Globalisierungsperiode

Seit Beginn der Globalisierungsperiode, also seit dem Zusammenbruch der ehemaligen degenerierten Arbeiter:innenstaaten, macht auch das Proletariat weltweit einen grundlegenden Wandlungsprozess durch. Dies trifft sowohl auf die Jahre vor der Rezession und Krise 2008 – 2010 zu wie auch auf jene bis zur Coronakrise. In mehrfacher Hinsicht traten dabei die Entwicklungen in den Jahren der Globalisierungsperiode nach 2010 noch deutlicher hervor, die Umwälzungen vollzogen sich im beschleunigten Tempo.

In den ersten Abschnitten des Artikels wollen wir die wichtigsten dieser Veränderungen zusammenfassen, um danach die Rückwirkung dieser Veränderungen auf die gewerkschaftlichen und politischen Organisationen der Klasse zu betrachten.

1.1 Die Verlagerung der industriellen Arbeiter:innenklasse

Bis 2019 ist die Arbeiter:innenklasse weltweit weiter gewachsen. Allerdings haben sich mit veränderter Produktionsstruktur die Zentren der Klasse verlagert, v. a. nach Asien. Das betrifft hauptsächlich das massive Anwachsen des Proletariats in China, aber auch in Indien und anderen Ländern Ost- und Südostasiens. Die gewaltige Umwälzung und das Wachstum der Arbeiter:innenklasse in China bilden letztlich die Basis für die Etablierung einer neuen imperialistischen Macht und deren Expansion. Dabei entstand zugleich eine neue gesellschaftliche, revolutionäre Kraft, die sich allerdings ihrer politischen Möglichkeiten (trotz enormer ökonomischer Kampfaktivität) noch kaum bewusst ist.

Neben China ist die Arbeiter:nnenklasse auch in einer Reihe von Ländern in Ostasien und in Indien gewachsen. Länder wie Brasilien erlebten diesen Proletarisierungsschub schon in den 1980er Jahren, städtische Zentren wie der Großraum Sao Paulo gehören seither zu den konzentriertesten Industriegebieten der Welt mit Millionen Lohnabhängigen. Die Erfahrungen der Tigerstaaten Asiens (Indonesien, Südkorea) infolge der Währungskrise Ende der 1990er Jahre zeigten jedoch schon damals, wie fragil der industrielle Aufschwung und die Kapitalbildung in solchen, letztlich von einer oder mehreren imperialistischen Mächten dominierten, im Weltmarkt untergeordneten Staaten sind.

So bedeutsam das Anwachsen der Arbeiter:innenklasse in Ländern wie Brasilien, Vietnam, Indonesien, Indien oder auch der Türkei ist,  handelt es sich letztlich um die Formierung eines Proletariats in halbkolonialen Ländern, dessen Entwicklung in letzter Instanz vom Fluss des imperialistischen Anlagekapitals abhängt (was keineswegs ausschließt, dass sich in diesen Staaten auch weltmarktfähige einzelne Großkapitale bilden).

An dieser Stelle müssen wir genauer zwischen verschiedenen Ländern und ihrer ökonomischen Entwicklung im XI. Weltmarktzyklus nach dem Zweiten Weltkrieg (2010 – 2019) differenzieren. China und Indien durchliefen einen lang anhaltenden, expansiven Zyklus. Verglichen mit dem Jahr 2007 verdoppelte sich das preisbereinigte BIP in China bis 2016 und in Indien bis 2017. Diese Entwicklung spiegelt natürlich nicht direkt das Anwachsen der Profitmasse und auch nicht der beschäftigten Lohnarbeit wider, aber es reflektiert kapitalistisches Wachstum in einem gigantischen Ausmaß – inklusive des massiven Wachstums der Arbeiter:innenklasse in beiden Ländern.

Diese Entwicklung kontrastiert extrem mit der anderer BRICS-Staaten, deren Wachstum im Vergleichszeitraum 2007 – 2017 bescheiden ausfällt: Südafrika (plus 19 %), Brasilien (plus 16 %), Russische Föderation (plus 12 %). In bereinigten BIP-Größen ausdrückt, verblieben sie damit entweder auf dem Niveau der G7-Staaten oder, im Falle Russlands, deutlich darunter. Hinzu kommt, dass viele sog. Schwellenländer ab Mitte des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts selbst in verstärkte Krisen geraten sind, darunter auch solche wie die Türkei, die unmittelbar nach der großen Rezession als ökonomisch recht dynamisch erschienen. Der Grund dafür liegt wesentlich in den Bewegungen des globalen Finanzkapitals begründet und der Antikrisenpolitik der USA und der EU, die zu einem Abzug von Kapital aus vielen Halbkolonien führten und Währungen sowie ganze Volkswirtschaften unter Druck setzten. Das äußert sich auch in viel instabileren, rasch nach oben und unten ausschlagenden Konjunkturbewegungen dieser Länder.

Auch wenn sich Russland z. B. als imperialistische Macht neu etabliert hat, so entspricht der Anteil der produktiven Arbeit (Arbeit, die Mehrwert für das Kapital schafft) zahlenmäßig nur einem Bruchteil der Arbeiter:innen in der früheren Sowjetunion. Der Anteil an der Industrieproduktion ist historisch gering, während die Sowjetunion noch bis zu ihrem Zusammenbruch die zweitgrößte Industrienation der Welt war.

In den tradierten imperialistischen Zentren (Nordamerika, Westeuropa, Japan, Australien) können wir schon vor dem Zusammenbruch des Stalinismus eine Verringerung des industriellen Proletariats feststellen. Der Anteil der „Dienstleistungen“ ging generell nach oben, auch wenn die bürgerliche Statistik den Trend systematisch übertreibt, weil etliche Dienstleistungen durchaus Formen produktiver Arbeit darstellen und Mehrwert für das Kapital schaffen. Hinzu kommt darüber hinaus eine große Ungleichheit in der Entwicklung unter den verschiedenen lange etablierten, westlichen imperialistischen Mächten. Japan und Deutschland haben sich bis heute eine vergleichsweise stärkere industrielle Basis (und einen industriellen Exportsektor) erhalten. Das industrielle Kapital – und damit auch die industrielle Arbeiter:innenklasse – spielen eine vergleichsweise größere Rolle als in den USA oder Britannien. Frankreich und Italien wiederum kämpfen damit, dass ihr nationales

Kapital in der Konkurrenz dem deutschen strukturell unterlegen ist.

1.2 Vertiefte Unterschiede

Die letzten Jahrzehnte und besonders die Krise 2008 – 2010 haben auch hier die Unterschiede enorm vertieft. In den meisten „alten“ imperialistischen Staaten brach infolge der Krise die Industrieproduktion ein und erreichte über Jahre nicht das Niveau der Phase vor 2007. Wenn wir April 2008 als Bezugspunkt nehmen – also den Beginn der globalen  Krise –, so erreichte die Industrieproduktion in Frankreich bis November 2013 nur 85 Prozent dieses Niveaus, jene Britanniens 87,3 Prozent und jene Japans 85,1 Prozent. Nur die USA hatten zu diesem Zeitpunkt das Niveau des Jahres 2008 übertroffen – um ein Prozent. Deutschland hatte es fast erreicht und lag nur 1,3 Prozentpunkte unter dem Niveau von 2008.[iii]

Die Entwicklung in den USA, Deutschland und Kanada im XI. Weltmarktzyklus unterscheidet sich signifikant von jener Britanniens, Italiens, Frankreichs und Japans, wenn wir die Jahre 2007 – 2017 vergleichen. Die USA profitieren davon, dass sie mehr als andere Nationen die Kosten der Krise auf den „Rest der Welt“ abwälzen konnten und weiter der größte und wichtigste Binnenmarkt der Welt sind. Deutschland konnte sich einigermaßen schadlos halten, weil sein Exporterfolg auch auf der Dominanz über seine Konkurrent:innen in der Eurozone basiert.

Jedenfalls durchlaufen die USA, Deutschland und Kanada nach der großen Rezession einen zyklischen Aufschwung, was auf andere Konkurrent:innen nicht oder nur eingeschränkt zutrifft.[iv]

Die massive Verlagerung der produktiven Arbeit im Weltmaßstab geht mit einer Entwicklung einher, die wir schon seit Jahren beobachten können: Das Schrumpfen des industriellen Proletariats bis hin zur weitgehenden Deindustrialisierung ganzer Länder. In Südeuropa hat sich, v. a. in Griechenland, der Prozess rasant fortgesetzt. Bedeutende Teile der Arbeiter:innenklasse sind langfristig arbeitslos oder unterbeschäftigt. Solche Länder folgten damit dem Beispiel Osteuropas, wo nach 1990 ein großer Teil der Industrie vernichtet wurde. Anders als der Süden Europas erlebten jedoch einzelne Länder oder industrielle Branchen dort eine Stärkung als Zulieferer:innen oder Vorproduzent:innen von westlichen, v. a. deutschen Konzernen.

Außerhalb Europas entwickelte sich die Lage noch weitaus dramatischer, besonders in Afrika. Hier sind ganze Länder praktisch seit Jahrzehnten deindustrialisiert oder davon bedroht. Dasselbe gilt für einige Länder der arabischen Welt (also jene, die nicht im Golfkooperationsrat vertreten sind).

Im Extremfall hat sich in diesen Staaten – insgesamt die am härtesten getroffenen Opfer imperialistischer Ausplünderungen oder „Neuordnungsversuche“ (siehe Irak, Afghanistan) – die gesellschaftliche Krise vertieft und verstetigt. Es existiert kaum eine Industriearbeiter:innenschaft, ja, die Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs und damit selbst die eines staatlichen Gebildes und gesellschaftlicher Klassen ist in Frage gestellt. Die Gesellschaften und Staaten zerfallen: Sie zeigen in extremis, was immer größeren Teilen der Menschheit bei einem Fortschreiten der Krise droht.

1.3 Anwachsen der unteren Schichten des Proletariats

Während die Arbeiter:innenklasse in den letzten Jahrzehnten gewachsen ist, nahmen die Differenzierungen, die Schichtungen und Unterschiede im Proletariat weiter zu. Natürlich stellt dies keine ungebrochene Tendenz dar. Gerade die zunehmende Verschlechterung der Lebenslage der Mehrheit der Lohnabhängigen hat auch eine nivellierende, vereinheitlichende Wirkung. Eindeutig ist jedoch der Unterschied zwischen der Lebenslage der „oberen“, bessergestellten Schichten der Klasse und dem wachsenden Anteil „prekärer“, überausgebeuteter Teile größer geworden.

In praktisch allen imperialistischen Ländern sind seit den 1980er Jahren immer größere Teile der Klasse von Unterbeschäftigung, von „prekären“ Arbeitsverhältnissen, Teilzeitarbeit usw. betroffen und bilden ein wachsendes Segment der Lohnabhängigen, das von „Niedriglohn“ leben muss. Darunter ist nicht einfach „schlechte Bezahlung“ zu verstehen. Ein immer größerer Teil der Arbeiter:innenklasse wird gezwungen, seine Arbeitskraft unter den Reproduktionskosten zu verkaufen.

In den meisten imperialistischen Ländern (wie auch in den degenerierten Arbeiter:innenstaaten und selbst einigen Halbkolonien) hatten sich in der Nachkriegsperiode Verhältnisse etabliert, die ab den 1950er, spätestens jedoch in den 1960er und auch 1970er Jahren (also grob gesagt bei einer ganzen Generation) den Eindruck erwecken konnten, dass die nächste Generation der Lohnabhängigen materiell besser gestellt wäre als ihre Eltern.

Doch dies war an historisch außergewöhnliche Bedingungen geknüpft: die Kapitalvernichtung nach dem Zweiten Weltkrieg, die Erneuerung des Produktionsapparates in zahlreichen Ländern, die Möglichkeit, „überschüssiges“ US-Kapital zum Aufbau auf der ganzen Welt zu nutzen, bei gleichzeitiger Wiederbelebung und Expansion wichtiger imperialistischer Rival:innen (v. a. Deutschlands und Japans), die enorm gesteigerte Ausbeutungsrate der Arbeiter:innenklasse während des Krieges in den faschistischen und demokratischen Ländern, die Etablierung der USA als klare Führungsmacht unter den imperialistischen Staaten und damit des US-Dollars als Weltgeld und die Öffnung der Kolonialmärkte Britanniens und Frankreichs (was letztlich die Abschaffung des Kapitalismus in Osteuropa und China kompensieren konnte).

So konnten Akkumulationsbedingungen geschaffen werden, die es für mehrere Konjunkturzyklen ermöglichten, die Steigerung der Profitmasse mit einer Erhöhung des Konsums der Arbeiter:innenklasse zu kombinieren – nicht zuletzt, weil die vorherrschende Form der Erhöhung des Mehrwerts die Produktion des relativen Mehrwerts war. Das Proletariat wuchs enorm, und zugleich war die Nachkriegsperiode auch von einer weit größeren Bedeutung der Konsumgüterindustrie geprägt.

Die „neoliberale Wende“ mit historischen Angriffen auf die Arbeiter:innenklasse unter Reagan und Thatcher und der Umstrukturierung in Lateinamerika änderte das. Der Zusammenbruch der bürokratischen Planwirtschaften der Sowjetunion und Osteuropas verschärfte das noch dramatisch, schuf eine industrielle Reservearmee und eröffnete neue Ausbeutungsgebiete. Die Rekapitalisierung Russlands, Osteuropas und Chinas ging mit einer grundlegenden Veränderung des globalen Kräfteverhältnisses am Beginn der 1990er Jahre einher, was den USA die zeitweilige Festigung einer hegemonialen Vorherrschaft erlaubte, die seit den 1970er Jahren schon mehr und mehr erodiert war.

Alle diese Veränderungen haben bezüglich der Neuzusammensetzung der Klasse zu zwei grundlegenden Erscheinungen geführt: erstens der Entstehung eines permanenten Sockels von Langzeitarbeitslosen, die nicht mehr in den Arbeitsprozess integriert werden können. Selbst in den Perioden des Aufschwungs verschwindet er längst nicht mehr. D. h., ein beachtlicher Teil des Proletariats kann seine Arbeitskraft nicht verkaufen, droht ins Sub- oder gar Lumpenproletariat abzusinken.

Laut ILO waren Ende 2013 199,8 Millionen Lohnabhängige arbeitslos. Die Zahl der Arbeitslosen ist damit um 30,6 Millionen größer als vor der großen Krise und wurde v. a. in den „Industrieländern“, also, grob gesprochen, den imperialistischen Staaten, kaum abgebaut.[v] Der aktuelle Bericht der ILO vom Januar 2023 spricht von rund einer halben Milliarde Lohnarbeiter:innen, die entweder als statistisch erfasste Arbeitslose oder als „permanent“ aus dem Arbeitsmarkt Ausgeschiedene dem Markt entzogen sind.[vi]

Zweitens hat sich in allen lang etablierten imperialistischen Ländern eine bedeutende Schicht von Arbeiter:innen gebildet, die unter ihren Reproduktionskosten entlohnt werden, „Working Poor“, Billigjobber:innen, „Prekariat“. Diese oft weiblich, jugendlich und migrantisch geprägten Teile der ArbeiterInnenklasse machen z. B. in Deutschland mittlerweile rund ein Viertel der Lohnabhängigen aus, in vielen anderen Ländern sogar mehr.

In den Halbkolonien hat diese Entwicklung noch weit extremere Formen angenommen. In den letzten Jahrzehnten haben sich weltweit „Megastädte“ gebildet – einschließlich erbärmlicher Wohn- und Lebensverhältnisse für Abermillionen Proletarier:innen. Das hat dazu geführt, dass mittlerweile die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten und nicht mehr auf dem Land lebt.

2013 müssen rund 1,2 Milliarden Menschen mit weniger als 1,25 US-Dollar/Tag ihr Auskommen fristen; geschätzte 2 Milliarden (also fast ein Viertel der Weltbevölkerung) leben heute von 2 US-Dollar/Tag oder noch weniger. Dazu zählen natürlich große Teile der Landarmut, von Bauern/Bäuerinnen, Landlosen, Flüchtenden usw. –, aber eben auch Abermillionen Einwohner:innen dieser riesigen städtischen Ballungszentren. Von den LohnarbeiterInnen der Welt leben lt. ILO geschätzte 447 Millionen von einem Einkommen unter 1,25 US-Dollar/Tag.[vii]

Dabei speist sich die Verstädterung aus zwei unterschiedlichen Quellen. Einerseits sind v. a. in Asien (davor aber auch in Brasilien) Städte gewachsen, teilweise regelrecht aus dem Boden gestampft worden, die zu riesigen industriellen Zentren auswuchsen, samt einer überausgebeuteten Industriearbeiter:innenschaft. So hatten die Wanderarbeiter:innen – die weltweit größte Welle der Arbeitsmigration – einen enormen Anteil am chinesischen „Wirtschaftswunder“.

Ähnlich der Entwicklung des Frühkapitalismus wurde „überschüssige“ Landbevölkerung, die ihrerseits keine oder kaum noch Existenzmöglichkeiten auf dem Land hatte, von industriellen Investor:innen angezogen und folgte ihnen. Etliche der chinesischen Städte, die heute Millionenstädte sind, waren noch vor einigen Jahrzehnten Kleinstädte oder gar Dörfer. Manche mögen auch mit dem „Weiterziehen“ des Kapitals im nächsten Zyklus wieder schrumpfen.

Entscheidend ist jedoch, dass sich bei dieser Form der Migration zur Stadt eine neue, produktive Arbeiter:innenklasse samt aller möglichen weiteren Bevölkerungsgruppen, die zu Großstädten gehören, bildet. Auch wenn diese Lohnabhängigen als extrem ausgebeutete, entrechtete, oft auch „illegale“ Arbeitskräfte beginnen, so entwickeln sie mehr oder weniger „spontan“ Formen des ökonomischen Kampfes und beginnen früher oder später, für höhere Einkommen zu kämpfen, um ihre eigene Reproduktion zu sichern.

Das Anwachsen von Megastädten führt aber auch zu einer anderen Tendenz, die für bestimmte Ballungszentren geradezu typisch ist. Millionen werden vom Land vertrieben, weil sie dort kein Auskommen finden, was natürlich oft noch durch Kriege, sozialen Niedergang, klimatische Katastrophen verschärft wird. Doch in den städtischen Zentren werden sie auch als Lohnabhängige nicht gebraucht. In immer mehr Halbkolonien bilden sie eine wachsende Masse von Menschen, die sich abwechselnd als Gelegenheitsarbeiter:innen, kleine „Händler:innen“, Kriminelle, Paupers usw. verdingen muss. Ihnen allen ist gemein, dass sie ihre Existenz selbst als extrem ausgebeutete und marginalisierte Schichten kaum sichern können. Der Kapitalismus hat für sie sogar als billigstes Ausbeutungsmaterial keine oder nur gelegentliche Verwendung.

Im „Kommunistischen Manifest“ beschreiben Marx und Engels eindrücklich, dass die Krisen im Kapitalismus einen solchen Zustand hervorrufen, der die Reproduktion des/der Lohnsklav:in als solche/n immer prekärer macht.

„Der moderne Arbeiter dagegen, statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus entwickelt sich noch rascher als Bevölkerung und Reichtum. Es tritt hiermit offen hervor, daß die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muß, statt von ihm ernährt zu werden.“[viii]

Für Milliarden Menschen ist heute das Leben als Pauper oder an der Grenze zum Pauperismus Realität – und nur Phantast:innen können davon träumen, dass der Kapitalismus für diese eine bessere Zukunft bieten kann.

Neben den Wanderungsbewegungen in städtische Zentren ist die Migration von der „Peripherie“ in die Zentren des Weltkapitalismus ein Kennzeichen der gesamten imperialistischen Epoche, v. a. der letzten Jahrzehnte. Die Verheerungen des globalen Kapitalismus haben Millionen in Mexiko und anderen zentralamerikanischen Ländern oder in Osteuropa weiter entwurzelt, „überflüssig“ gemacht. Das gilt ebenso für zahlreiche Länder des arabischen Raums, Afrikas oder Asiens. Nur ein geringer Teil der Flüchtlinge und Arbeitsmigrant:innen versucht dabei, die eine Lebensperspektive versprechenden Zentren Nordamerikas oder Westeuropas zu erreichen. Die meisten scheitern an den rassistisch abgeschotteten Außengrenzen. Zehntausende krepieren beim Versuch, „illegal“ in die Zentren des Weltimperialismus zu gelangen.

Dort drohen ihnen Abschiebung und entwürdigende Behandlung als Bittsteller:innen. Bestenfalls werden sie als passgerechte Arbeitskräfte mit weniger oder gar keinen sozialen Rechten, geringeren Löhnen, als Menschen zweiter Klasse verwendet. „Integration“ ist trotz ihrer permanenten Beschwörung letztlich nicht gewünscht. Daher werden auch Menschen der zweiten und dritten Generation, also die Kinder von Migrant:innen, bis heute als „Ausländer:innen“ behandelt, als „Gastarbeiter:innen“, die nach getaner Arbeit möglichst wieder verschwinden sollen.

Dieses System findet sich in fast noch extremerer Form in manchen Halbkolonien, v. a. in den arabischen Golfstaaten oder Ländern wie Libyen, deren Nationaleinkommen sich im Wesentlichen aus der Grundrente speist und wo ein Großteil der Arbeit von Migrant:innen geleistet wird.

Die Arbeitsmigration ist ein wichtiger Lebensaspekt der weltweiten Arbeiter:innenklasse geworden. Ein immer größerer Teil ist gezwungen, Grenzen zu überschreiten – oft unter erbärmlichsten Bedingungen. Diese mit unendlichem menschlichen Leid verbundenen Wanderungsbewegungen haben aber auch einen enorm revolutionierenden Aspekt. Sie stellen lokale oder nationale „Traditionen“ in Frage, untergraben den oft jahrzehntelang etablierten Konservatismus der „einheimischen“ Arbeiter:innen (einschließlich früherer Generationen von Migrant:innen), schaffen länder- und sprachübergreifende Verbindungen.

Die Integration der Migrant:innen und Flüchtlinge in die Arbeiter:innenbewegung kann dabei letztlich nur über den gemeinsamen Klassenkampf erfolgen – sie ist folglich eine Schlüsselaufgabe der gegenwärtigen Periode. Sie kann nur durch einen unversöhnlichen Kampf gegen Chauvinismus, Rassismus, Nationalismus, aber auch „mildere“ Formen der Bevormundung und des unkritischen Verteidigens der „eigenen“ etablierten „Arbeiter:innen“kultur (in der Regel ohnedies nur als eine unter den Lohnabhängigen etablierte Form der bürgerlichen Kultur) bewältigt werden.

Abschließend wollen wir die globale Expansion der unteren Schichten des Weltproletariats noch an einigen Zahlen aus dem Jahr 2019, also vor der Coronapandemie und der damit verbundenen Rezession, illustrieren.

Lt. Berechungen der ILO[ix] waren 2019 2 Milliarden Arbeiter:innen im informellen Sektor beschäftigt oder rund 60 % aller Beschäftigten. D. h., die Masse der lohnabhängig Beschäftigten betrug rund 3,33 Milliarden, was nicht mit der Gesamtgröße der Arbeiter:innenklasse gleichgesetzt werden darf, da diese auch nicht-erwerbstätige Angehörige (zumeist Frauen), Kinder und nicht-beschäftigte Jugendliche, nicht mehr Arbeitssuchende und Rentner:innen inkludiert. Zweitens verbergen sich hinter dem Verhältnis enorme Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen der Welt.

Dies zeigt ein Vergleich der „informality rate“ (Prozentsatz der informellen Arbeit) in verschiedenen Regionen im Jahr 2021:

Region Gesamt Männer Frauen
Afrika 82,9 80,0 86,6
Nordamerika 19,1 19,1 19,1
Lateinamerika und Karibik 56,4 56,2 56,7
Arabische Staaten (Gesamt, ohne Nordafrika) 60,2 61,1 55,6
Ostasien (inklusive China und Japan) 50,9 52,3 48,8
Südostasien und Pazifik 69,1 69,4 68,5
Südasien (Indien, Pakistan, Bangladesch) 87,6 87,2 89,3
Süd-, Nord- und Westeuropa 17,5 16,1 19,1
Osteuropa (inkl. Russland) 21,7 23,3 19,8
Zentral- und Westasien 45,1 43,3 47,7

Quelle: ILO, World Econmic Outlook 2021, Tabelle selbst erstellt

Obige Tabelle spiegelt natürlich nicht direkt die Verteilung der Arbeiter:innenklasse wider. Informelle Arbeit ist beispielsweise nicht identisch mit Löhnen, die unter den Reproduktionskosten liegen (das kann einerseits auch im „formellen“ Sektor vorkommen, andererseits erstreckt sich die informelle Beschäftigung in manchen Ländern, z. B. in Indien, auch auf höher qualifizierte Berufe und kann in solchen Fällen auch ein Einkommen über den Reproduktionskosten schaffen). Darüber hinaus sind die statistischen Zahlen in einigen Ländern sehr unzuverlässig und auch die Vergleichbarkeit der Erhebungen ist schwierig. Aber diese Zahlen bieten einen Indikator für die globale imperialistische Ausbeutung.

Auch wenn in den imperialistischen Zentren der informelle Sektor in den letzten Jahrzehnten massiv zugelegt hat, so liegt er dort bei 20 % oder darunter. China hat zweifellos einen für eine imperialistische Macht vergleichsweise großen informellen Sektor, und die Zahlen bedürfen sicher einer gesonderten Analyse. Sie verweisen aber auf die große Ungleichzeitigkeit der kapitalistischen Entwicklung in diesem Land, die sich in einem großen informellen Sektor und einem enorm gewachsenen Gegensatz von Stadt und Land äußert.

Auch die geschlechtliche Zusammensetzung verweist zwar auf ein Übergewicht von Frauen, keinesfalls jedoch in allen Regionen. Das hängt sowohl mit der Struktur der Ökonomie zusammen als auch mit dem Arbeitsregime. So ist eine Ursache des relativ hohen Anteils informeller männlicher Arbeit in den arabischen Staaten in der Arbeitsmarktstruktur der Golfstaaten zu finden. Die beschäftigten Staatsbürger:innen arbeiten dort in der Regel nicht im informellen Sektor. Die Masse der produktiven Arbeiter:innenklasse besteht wiederum aus Migrant:innen, wobei bestimmte informelle Sektoren fast ausschließlich männliche Arbeitskräfte umfassen (z. B. Bauwirtschaft).

Grundsätzlich können wir sagen, dass die Zentren der globalen informellen Arbeit in den halbkolonialen Ländern liegen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen (Osteuropa) beträgt der Anteil des informellen Sektors praktisch überall 50 % oder mehr. Extreme Formen der Ausbeutung der Lohnarbeiter:innenklasse sind für die Mehrheit des Proletariats seit Jahrzehnten die Regel.

Die Zentren der informellen Arbeit finden wir in Afrika (und hier noch einmal besonders südlich der Sahara) und in Südasien. Dort kann der Anteil informeller Arbeit von Lohnabhängigen nur noch durch weitere Proletarisierung nicht-lohnabhängiger Schichten gesteigert werden. Die hohen Anteile an informeller Arbeit in beiden Weltregionen dürfen jedoch auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie auf sehr unterschiedlichen Quellen beruhen. In Afrika, und vor allem südlich der Sahara, ist der Anteil industrieller Arbeit (mit Ausnahme Südafrikas) sehr gering. Diese Region ist seit einer ganzen Periode für die imperialistischen Staaten im Wesentlichen wegen der Plünderung von Rohstoffen (extraktive Industrie, teilweise Landwirtschaft) interessant. Im Gegensatz dazu wird ein beträchtlicher Teil der informellen Arbeit in Südasien, und hier wiederum v. a. in Indien, auch im produzierenden Gewerbe beschäftigt, also zur Produktion industriellen Mehrwerts genutzt.

Es ist in dem Zusammenhang auch bemerkenswert, dass der Anteil informeller Arbeit in Ost- und Südoststasien relativ geringer ausfällt. Dies wird natürlich auch dadurch bedingt, dass sich dort auch wichtige imperialistische Ökonomien befinden, die den Schnitt drücken. Es handelt sich zweitens auch zum Teil um relativ entwickelte Halbkolonien mit einer starken industriellen Basis (Südkorea, Taiwan) sowie auch ärmere Halbkolonien, die zu wichtigen Produktionsstandorten für globale, auch industrielle, Wertschöpfungsketten mitierten.

Die Verbreitung industrieller Produktion im großen Maßstab führt dabei nicht nur zu einem Wachstum der Arbeiter:innenklasse, sie begünstigt früher oder später auch ökonomische Kämpfe zur Einschränkung extremer (informeller) Formen der Ausbeutung.

In diesen Ländern haben wir es in der Globalisierungsperiode, generell betrachtet und im Gegensatz zu den alten imperialistischen Zentren, aber auch in Afrika und Lateinamerika, mit einer extrem rasch wachsenden industriellen Arbeiter:innenklasse zu tun.

Diese agierte generell unter extremen Bedindungen – seien es direkt diktatorische oder despotische Regime oder Demokratien mit extremen bonapartistischen Tendenzen. Dennoch ist in vielen dieser Länder nicht nur eine neue Klasse von Lohnabhängigen, sondern auch eine Arbeiter:innenbewegung entstanden.

Während sie in den Jahren vor der Pandemie vor allem unter den Bedingungen der kapitalistischen Expansion kämpfen musste/konnte, muss sie seit 2020 unter den Bedingungen einer kapitalistischen Krise agieren, die sowohl durch globale Probleme bedingt ist als auch durch die zyklische Bewegung des eigenen Kapitals (Überakkumulation).

1.4 Alte und neue Arbeiter:innenaristokratie

Nicht nur die unteren und mittleren Schichten des Proletariats, sondern auch die bessergestellten Teile haben sich in den letzten Jahrzehnten gewaltig verändert.

Schon im 19. Jahrhundert, beim Übergang zur imperialistischen Epoche, hatte Friedrich Engels bei der Analyse des britischen Imperialismus festgestellt, dass sich im Kerngebiet des Empire eine relativ privilegierte Schicht der ArbeiterInnenklasse – die Arbeiter:innenaristokratie – abzusondern begann und so zu einer erweiterten sozialen Basis der bürgerlichen Gesellschaftsordnung in den Reihen der Klasse der Lohnabhängigen geworden war.[x] Engels leitete die Entstehung einer solchen Schicht von „bessergestellten“ Arbeiter:innen aus der vorherrschenden Stellung des britischen Imperialismus, aus dessen Weltmarktmonopol, ab und aus der starken ökonomischen Stellung dieser Arbeiter:innenschichten in der großen Industrie.

Lenin griff den Gedanken auf und erkannte, dass die imperialistische Epoche die Grundlage für die Entstehung und Reproduktion einer ganzen Schicht der Arbeiter:innenaristokratie in allen dominierenden kapitalistischen Staaten schuf. Britannien bildete nicht länger eine Ausnahme:

„Damals war es möglich, die Arbeiterklasse eines Landes zu bestechen, für Jahrzehnte zu korrumpieren. Heute ist das unwahrscheinlich und eigentlich kaum möglich, dafür aber kann jede imperialistische ‚Groß’macht kleinere (als England 1848–1868) Schichten der ‚Arbeiteraristokratie‘ bestechen und besticht sie auch. Damals konnte sich die ‚bürgerliche Arbeiterpartei‘, um das außerordentlich treffende Wort von Engels zu gebrauchen, nur in einem einzigen Land, dafür aber für lange Zeit, herausbilden, denn nur ein Land besaß eine Monopolstellung. Jetzt ist die ‚bürgerliche Arbeiterpartei‘ unvermeidlich und typisch für alle imperialistischen Länder, aber in Anbetracht des verzweifelten Kampfes dieser Länder um die Teilung der Beute ist es unwahrscheinlich, daß eine solche Partei auf lange Zeit in mehreren Ländern die Oberhand behalten könnte.“[xi]

Gegen Lenins Theorie der Arbeiter:innenaristokratie sind in den letzten hundert Jahren viele Einwände erhoben worden – insbesondere auch, indem ihm aus einzelnen Zitaten eine recht primitive „Bestechungstheorie“ unterstellt wurde. Unter „Bestechung“ dürfen wir uns keineswegs ein quasi kriminelles „Kaufen“ der oberen Schichten der Klasse vorstellen (wiewohl es das auch gibt).

Die Entstehung der Arbeiter:innenaristokratie vollzieht sich vielmehr wesentlich über den ökonomischen, gewerkschaftlichen Kampf, der für die Lohnabhängigen in zentralen Industrien und strategischen Sektoren ermöglicht, dauerhaft relativ gute Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft zu erringen (im Gegensatz nicht nur zu den Arbeiter:innen in den vom Imperialismus unterdrückten Staaten, sondern auch zu den unteren Schichten und zum Durchschnitt der Klasse). Kurzum, diese Schichten sind in der Lage, die Ware Arbeitskraft über eine längere Periode über ihrem Wert zu verkaufen, was nichts daran ändert, dass sie weiter Lohnarbeiter:innen bleiben und ihre Ausbeutungsrate extrem, ja sogar höher als die anderer Lohnabhängiger ausfallen kann.

Darüber hinaus bedeutet die Zugehörigkeit zur Arbeiter:innenaristokratie keineswegs, dass diese Schichten immer weniger Kampfbereitschaft zeigen würden als andere. Im Gegenteil, unter bestimmten historischen Bedingungen können sie sogar Kernschichten der Avantgarde umfassen. So bildeten z. B. die Revolutionären Obleute in der Novemberrevolution eindeutig einen Teil der Arbeiter:innenaristokratie.

Wichtig für uns ist jedoch, dass Lenin erkannte, dass die Bildung einer Arbeiter:innenaristokratie und deren Reproduktion zu einem Kennzeichen aller imperialistischen Staaten wurde. Inmitten des Ersten Weltkriegs konnte er realistisch mit einer objektiven Aushöhlung der Stellung dieser Schicht und damit auch der bürgerlichen Arbeiter:innenpolitik und der dominierenden Stellung „bürgerlicher Arbeiter:innenparteien“ rechnen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg expandierte die Arbeiter:innenaristokratie in den imperialistischen Ländern jedoch in einem bis dahin nicht dagewesenen Maße und konnte sich als solche über eine historisch außergewöhnlich lange Periode  reproduzieren. Mehr noch, solche Formen der Bildung einer, wenn auch zahlenmäßig deutlich kleineren, „Aristokratie“ lassen sich auch in den halbkolonialen Ländern, v. a. in den industriell fortgeschritteneren, wie, historisch betrachtet, auch in den degenerierten Arbeiter:innenstaaten finden.

Mit dem Ende des „langen Booms“ und v. a. mit der Wende zum Neoliberalismus wurden auch Kernschichten der Arbeiter:innenaristokratie (z. B. die Bergarbeiter:innen und Docker:innen unter Thatcher, die Fluglots:innen unter Reagan) zu Angriffszielen, ja, teilweise zu bevorzugten. Deren Niederlagen zogen unmittelbar demoralisierende Auswirkungen auf die große Masse der Lohnabhängigen nach sich, denen so deutlich gemacht wurde, dass ihr Widerstand erst recht zwecklos sei.

In jedem Fall haben wir in den letzten Jahrzehnten eine dramatische Beschleunigung des Wandels der Arbeiter:innenaristokratie beobachten können. Erstens wurden diese Schichten aufgrund von technischem Wandel, Verlagerungen und Niederlagen massiv geschwächt. Die „traditionelle“ Aristokratie ist im Schrumpfen begriffen.

Zweitens sind aber auch neue Schichten der Arbeiter:innenaristokratie infolge der Proletarisierung von lohnabhängigen Mittelschichten, der realen Subsumtion ihrer zuvor oft nur formell dem Kapital unterworfenen Arbeit, entstanden.

Zum Dritten ist in neuen imperialistischen Ländern (v. a. China) und in einigen wirtschaftlich stärkeren Halbkolonien, z. B. den BRICS-Staaten, eine neue Arbeiter:innenaristokratie entstanden oder im Entstehen begriffen.

1.5 Restrukturierung des Produktionsprozesses

Die Jahrzehnte seit Wiedereinführung des Kapitalismus in Russland, Osteuropa und China haben zu einer massiven Ausdehnung des Weltmarktes geführt. Der Welthandel ist dabei deutlich stärker gewachsen als die Produktion selbst. Dies hat zugleich die Arbeiter:innenklasse selbst zu einer Klasse gemacht, wo wachsende Teile der Lohnabhängigen in den globalen Austausch integriert sind. Ihre Arbeit ist in sehr unmittelbarem Sinn Arbeit, die auf eine globale Vergesellschaftung bezogen ist.

Das betrifft zum einen die Herstellung von Gütern und Dienstleistungen für globale Märkte. Diese Entwicklung wird jedoch ergänzt und vertieft durch die Etablierung international integrierter Produktionsketten. Die Planung in den großen Monopolen findet heute oft länderübergreifend statt, unmittelbar bezogen auf den Weltmarkt (bzw. dessen zentrale Märkte). Das hat auch dazu geführt, dass z. B. in der Autoindustrie ein globaler industrieller Zyklus etabliert wurde, so dass über den nationalen Rahmen hinaus eine Tendenz zur Bildung einer globalen Durchschnittsprofitrate für einzelne Industrien entsteht.

Heute arbeiten Hunderte Millionen Lohnabhängige in multinationalen Konzernen, deren Produktionsstätten weltweit vernetzt sind, wo praktisch globale Planung – wenn auch für die bornierten Zwecke eines Einzelkapitals – erfolgt.

Kapitalexport, die globalen Geldströme und spekulative Anlagen – kurz, sämtliche Operationen von Kapital in Geldform – haben in den letzten Jahrzehnten gigantische Ausmaße angenommen, was selbst zu einer enormen Veränderung der Struktur des Produktionsprozesses, der Eigentumsstruktur geführt hat. Mehr und mehr Kapital ist in privater Hand und der des imperialistischen Großkapitals konzentriert.

Das ist die andere, im imperialistischen System unvermeidliche, Seite des „kapitalistischen Internationalismus“.

Das Niederreißen von Handelsschranken und Hemmnissen für den „freien Kapitalverkehr“ zwischen den einzelnen Ländern – wobei „Niederreißen“ für die kapitalistischen Zentren höchst selektiv ist – ist ein Moment, das diesen Prozess massiv beschleunigt, zum Teil erst möglich gemacht hat. Das andere waren Niederlagen der Arbeiter:innenklasse, die die Durchsetzung dieser Umstrukturierung erlaubten.

Diese Form der Internationalisierung geht freilich einher mit zunehmender Konkurrenz. Der Nationalstaat gerät letztlich zu einem Hindernis für die weitere Durchdringung der Weltwirtschaft, weil er einerseits zwar Instrument der kapitalistischen Globalisierung, andererseits aber der nationalen Kapitale (und als imperialistischer Staat dementsprechend dominierender Finanzkapitale ist), so dass diese Entwicklung der Internationalisierung im Nationalstaat eben auch ihre Schranke findet – eine Schranke, die auf kapitalistischer Basis nicht überwunden werden kann.

Wir müssen daher damit rechnen, dass die zunehmende Konkurrenz vor dem Hintergrund struktureller Überakkumulation der Weltwirtschaft früher oder später auch zu Rückschlägen, Zusammenbrüchen, Einbrüchen der heute so vernetzten Weltwirtschaft führen wird, dass die „Open Door“-Policy mehr und mehr durch die Bildung von Blöcken abgelöst werden wird.

Für die Arbeiter:innenklasse hat die Internationalisierung der Produktion, die Ausdehnung des Weltmarktes, der immer raschere Transfer des Kapitals von einem Land, einem Anlage- oder Spekulationsobjekt zum anderen enorme Probleme mit sich gebracht, insbesondere, weil ganze Gruppen von Arbeiter:innen, ganze „Standorte“, ja, ganze Klassen gegeneinander direkt in Konkurrenz zueinander gesetzt werden.

Andererseits hat diese Entwicklung auch die Möglichkeit direkter international koordinierter Aktionen geschaffen. Die Verschlankung der Produktion und die Reduktion der Lagerhaltung haben auch die Konzerne anfälliger gemacht für die Aktionen selbst relativ kleiner Gruppen von Lohnabhängigen.

Während die Gewerkschaften und die tradierten Organisationen der Arbeiter:innenklasse noch dabei sind, sich auf die Neuzusammensetzung des Kapitals und der Klasse einzustellen, zeichnet sich für die Zukunft freilich eine neue, katastrophale Entwicklung ab.

Seit 2020, also mit Beginn der synchronisierten Rezession, die durch die Coronapandemie ausgelöst wurde, aufgrund der Erschütterungen globaler Wertschöpfungs- und Lieferketten und infolge der massiven Zunahme der imperialistischen Konkurrenz bis hin zum Ukrainekrieg und den damit einhergehenden Turbulenzen der Weltwirtschaft nähern wir uns jedoch einem Punkt, wo die Internationalisierung des Kapitals in ihr Gegenteil umzuschlagen beginnt. Zweifellos kann dieser Moment hinausgeschoben werden, können die führenden Mächte dem bis zu einem gewissen Grad entgegenwirken. Aber auf dem Boden des Imperialismus und des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt ist ein solcher Umschlag letztlich unvermeidlich. Seit 2020 befinden wir uns in einer Situation, in der diese Tendenz immer stärker wird – z. B. auch in Form der Rückholung bestimmter, vormals ausgelagerter Produktion.

Mit dem Produktionsprozess wurden in den letzten Jahren auch die Reproduktionsbedingungen der Klasse umgekrempelt. „Soziale Absicherung“ gab es für große Teile der Lohnabhängigen dieser Welt ohnedies nie. Doch in den letzten Jahrzehnten wurden die von der Arbeiter:innenklasse erkämpften oder von der herrschenden Klasse zugestandenen sozialen Sicherungssysteme, Versicherungen, staatliche Vorsorge, Bildungs- und Sozialleistungen, Renten usw. massiv zurückgefahren und oft privatisiert. Dasselbe gilt generell für staatliche Dienstleistungen. Einerseits wurden auf diese Weise Anlage suchenden Kapitalien Investitionsmöglichkeiten geboten zur mehr oder weniger sicheren, raschen Bereicherung. Andererseits geht es v. a. darum, die Reproduktionskosten der Klasse zu senken. Vorher über Steuern finanzierte Leistungen müssen nun zunehmend aus dem Nettolohn bestritten werden. Insgesamt findet so eine Absenkung des Werts der Ware Arbeitskraft statt.

1.6 Reproduktionsprozess

Zugleich hat die Minderung der Reproduktionskosten enorme Auswirkungen auf Frauen, die Jugend, Kranke und Rentner:innen. Die Lage der proletarischen Frauen war im Kapitalismus schon immer durch die Doppellast von Ausbeutung als Lohnabhängige und privater Hausarbeit gekennzeichnet. Die Reorganisation des Reproduktionsbereiches unter dem Neoliberalismus hat diese Doppelbelastung noch erhöht. Die Kürzung bzw. Verteuerung von Sozialleistungen bedeutet für Millionen und Abermillionen proletarischer Frauen, dass sie diese Dienste nun zusätzlich und „kostenlos“ zu verrichten haben – und verstärkt aus dem politischen und gesellschaftlichen Leben gedrängt werden. Mit dem Ende des langen Booms und der chronischen Überakkumulation des Kapitals, die die Weltwirtschaft in verschiedenen Formen seit den 1970er Jahren mitprägen, wird auch die Widersprüchlichkeit der Reproduktion deutlicher, gerät sie in eine Krise.

Für die Arbeiter:innenklasse und vor allem für die proletarischen Frauen bedeutet das:

Reproduktionsarbeit im staatlichen, kommunalen, öffentlichen Bereich, die nach dem Zweiten Weltkrieg massiv ausgedehnt wurde, wird seit vielen Jahrzehnten faktisch zurückgedrängt. Dies führt generell zu einer Kürzung des Soziallohns, also faktisch zur Reduktion des Lohnfonds der gesamten Klasse.

Dieses Rollback geht oft mit einer Privatisierung vormals öffentlicher/staatlicher Reproduktionsarbeit oder zumindest mit der Einführung kapitalistischer Rechnungsführung in formal staatlichen oder genossenschaftlichen Institutionen einher.

Im fürs Kapital günstigsten Fall soll die Reproduktionsarbeit Profit für Eigentümer:in/Investor:in erwirtschaften. Die Dienstleistung (Gesundheit, Pflege, Bildung, Jugendbetreuung) wird durch Privatisierung zum Selbstzweck, unproduktive Arbeit zu produktiver fürs Kapital.

Für die Arbeiter:innenklasse stellt das eine Katastrophe dar, vor allem für Frauen, Jugend, Alte und die unteren Schichten des Proletariats. Die Verschlechterung öffentlich geleisteter Reproduktionsarbeit geht Hand in Hand mit der Ausdehnung von Billiglohn, prekären Verhältnissen, Kürzungen bei Renten, Verteuerung von Gesundheit, Kitas einher. Für die Lohnabhängigen bedeutet das, dass größere Bestandteile ihres Einkommens für diese Reproduktionsarbeiten aufgewendet werden müssen – oder dass sie diese Leistungen nicht mehr in Anspruch nehmen können.

Die Folge davon ist eine tendenzielle Ausweitung der privaten Reproduktionsarbeit, v. a. in den Halbkolonien und bei den einkommensschwachen und unterdrückten Teilen der Arbeiter:innenklasse. Nur rund die Hälfte der globalen Arbeiter:innenklasse von rund 4 Milliarden Menschen verfügt über irgendeine Form sozialer Absicherung.[xii]

Für Millionen, wenn nicht Milliarden Lohnabhängige (und auch große Teil der verbliebenen Kleinbauern und -bäuerinnen) bedeutet dies, dass sie ihre Arbeitskraft nicht voll reproduzieren können.

All dies verstärkt die Ungleichheit und die reaktionären Tendenzen im Proletariat und in der Gesellschaft. Lohnabhängige Frauen werden verstärkt in Familien oder Ehen gezwungen; Kinder länger an diese gebunden, Alte ebenfalls.

Ebenso wie beim tendenziellen Abbau etablierter Formen international vernetzter produktiver Arbeit haben wir es auch hier mit einer offenkundigen Tendenz zur gesellschaftlichen Regression zu tun, mit einem globalen Zurückfallen hinter den zuvor erreichten Stand der Entwicklung.

Doch diese Entwicklungen laufen keineswegs ohne Widersprüche ab. Die Entstehung einer neuen Frauenbewegung (Frauen*streiks) und die Betonung der Frage der Reproduktion reflektiert diese Entwicklung. Zugleich wird sie jedoch von den vorherrschenden Strömungen des linken Feminismus[xiii] (Feminism for the 99 %) falsch ideologisiert, faktisch auf den Kopf gestellt. Die aktuelle Entwicklung der Reproduktionsarbeit im Kapitalismus zeigt schlagend, wie sehr die spezifisch kapitalistische Form der Reproduktion von der Produktion bestimmt wird.

Wie die Frauen sind auch andere sozial Unterdrückte besonders von Kürzungen, der Umstrukturierung des Reproduktionsprozesses betroffen: MigrantInnen, Jugendliche, RentnerInnen sowie alle, die aus dem Produktionsprozess wegen Krankheit ausscheiden müssen.

2. Die Auswirkungen der Pandemie und globale Entwicklungstrends

Nachdem wir oben auf einige zentrale Veränderungen der Arbeiter:innenklasse in der gesamten Globalisierungsperiode eingegangen sind, wollen wir uns näher mit den Auswirkungen der Rezession 2020 und 2021 befassen. Sie sind enorm und, was die Lage der Weltarbeiter:innenklasse betrifft, einschneidender als die jeder anderen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie sind in vieler Hinsicht deutlich größer als die Folgen der Krise 2008 – 2010, weil diese (a) weit weniger synchronisiert war, (b) mit keinem zeitweiligen Zusammenbruch globaler Produktions- und Vertriebsketten einherging und (c) die imperialistischen Staaten vergleichsweise einheitlicher, koordinierter agierten.

Im Folgenden wollen wir hier kurz einige der wichtigsten Auswirkungen auf die Arbeiter:innenklasse betrachten.

Die weltweite Wirtschaftskrise ging mit einem massiven Verlust an geleisteten Arbeitsstunden einher. 2020 wurden im Vergleich zu 2019 weltweit 8,8 % weniger geleistet. Das entspricht der Gesamtarbeit von 255 Millionen voll beschäftigten Arbeiter:innen pro Jahr bei einer 48-Stunden-Woche. 2021 waren es immer noch 125 Millionen Vollzeitjobs weniger als 2019. Zum Vergleich dazu: Während der Krise 2008/2009 stieg die Zahl der global geleisteten Arbeitsstunden, wenn auch nur um vernachlässigbare 0,2 %. Dies zeigt den synchronisierten Charakter der Rezession 2020 und die zeitweilige, erzwungene Einstellung bedeutender Teile der weltweiten Produktion. 2008 bis 2010 waren hingegen keineswegs alle Länder in gleichem Maße betroffen, und China konnte schon rasch als Lokomotive der Weltwirtschaft agieren. Die ILO rechnet damit, dass die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden zwar 2022 weiter zunimmt, insgesamt aber selbst 2023 das Niveau von 2019 noch nicht erreicht werden wird (selbst unter der Annahme, dass der Krieg und die Sanktionen um die Ukraine beendet, die Inflation erfolgreich bekämpft und eine globale konterzyklische Politik in Gang gesetzt werden).

Der Rückgang der global geleisteten Arbeitsstunden entfällt 2020 zu etwa gleichen Teilen auf, teilweise staatlich finanzierte, Kurzarbeit (Äquivalent von 131 Millionen Vollzeitjobs) oder auf das direkte Anwachsen von Arbeitslosigkeit (124 Millionen). Die globale Rate von Bevölkerung zu Beschäftigung (global employment-population-ratio) fiel 2020 gegenüber 2019 um 2,7 % (im Vergleich dazu lag der Fall 2008 – 2009 bei 0,7 %). Insgesamt stieg die registrierte Arbeitslosigkeit in der Krise 2020 und 2021 auf rund 220 Millionen Menschen. Auch wenn sie 2022 etwas absank, lag sie noch immer deutlich über den 186 Millionen registrierten Arbeitslosen 2019. Darüber hinaus sind diese Zahlen außerdem wahrscheinlich sehr geschönt, weil von einigen Ländern kaum oder nur sehr verspätet Daten eintreffen. Außerdem inkludieren sie nur Menschen, die aktiv nach Arbeit suchen, nicht solche, die aus dem Arbeitsmarkt „dauerhaft ausgeschieden“ sind. Die Verteilung zwischen (keineswegs immer bezahlter) Kurzarbeit und direkter Arbeitslosigkeit von 50 % zu 50 % lässt sich lt. ILO in den meisten Ländern konstatieren, außer in den einkommensstärksten. In diesen bestand die vornehmliche Antwort auf die Krise in der Kurzarbeit, was auch bedeutete, dass diese auf ein Ende der Pandemie oder deren Einschränkungen rascher und besser reagieren konnten. Die Erholung des Arbeitsmarktes fiel in den reicheren Ländern daher auch weit stärker aus.

Die Krise hat zu enormen Einkommensverlusten der Arbeiter:innenklasse geführt. Das globale Lohneinkommen (also die staatlichen Transfers nicht eingerechnet) sank 2020 um 3,7 Billionen US-Dollar (8,3 %) gegenüber 2019. Dieser Trend hielt im ersten Quartal 2021 an (1,3 Billionen US-Dollar). Die ILO schätzt, dass die Anzahl der Arbeiter:innen in extremer (bis zu 1,9 US-Dollar pro Haushalt und Tag) oder „moderater“ Armut (1,9 – 3,2 US-Dollar je Haushalt und Tag) um 100 Million anwuchs. Damit wurden faktisch alle von den Vereinten Nationen im letzten Jahrzehnt proklamierten „Erfolge“ in der Armutsbekämpfung zunichtegemacht.

Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Verteilung von extremer und „moderater“ Armut von Lohnarbeitenden in den Jahren 2019 und 2020. Die Zahlen beziehen sich dabei auf Haushalteinkommen mit mindestens einer/m beschäftigen Lohnarbeiter:in.

  Extreme Armut (weniger als 1,90 US-Dollar/Tag in PPP) Moderate Armut (1,90 US-Dollar/Tag – 3,20 US-Dollar/Tag in PPP
Region 2019 2020 2019 2020
Afrika   31,8 % 145 Mil 34 154 24,1 110 26,2 119
Lateinamerika und Karibik 3,0 8,8 3,8 9,9 5,0 14 6,8 18
Arabische Staaten (Nicht-Golfstaaten, ohne Nordafrika) 17,6 4,5 Mil 18,7 4,7 14,9 3,8 17,0 4,2
Ostasien 0,5 5 0,8 7 2,9 29 3,9 34
Südostasien und Pazifik 2,6 9 3,9 13 11 38 14 47
Südasien 6,7 45 9,8 62 26,7 178 35,9 225
Zentral- und Westasien 1,6 1,1 1,9 1,3 6,1 4,3 7,4 5,0

Auch in den imperialistischen Ländern dürfen die Auswirkungen der Reallohnverluste keineswegs unterschätzt werden. Generell hat die Krise jedoch die Arbeiter:innenklasse in den halbkolonialen Staaten weit mehr getroffen.

Das hat mehrere Gründe. Erstens war der Anstieg der Arbeitslosigkeit viel größer als in den westlichen, imperialistischen Zentren. Zweitens waren die Kurzarbeitsschemata knapper, weniger dauerhaft und auch weit häufiger nicht oder nur zu sehr geringen Teilen bezahlt. Drittens bedeutete die Dominanz informeller und ungesicherter Beschäftigungsverhältnisse, dass die Arbeiter:innen in den meisten Halbkolonien über keine Sicherung und Reserven verfügten. Viertens traf die Rezession den informellen Sektor besonders hart, weil in vielen Halbkolonien hunderttausende kleine Unternehmen pleitegingen und, im Gegensatz zu den imperialistischen Ländern, staatlich nicht gestützt werden konnten oder sollten. Fünftens wurden in den Halbkolonien seit der Krise neue Jobs im Wesentlichen in Sektoren mit geringer Arbeitsproduktivität geschaffen. So schätzte die ILO (2021), dass die durchschnittliche globale Arbeitsproduktivität von ohnedies schon mageren +0,9 % in der Periode 2016 – 19 in der 2019 – 2022 um 1,1 % sinken wird. Auch das ist ein untrügliches Zeichen von Stagnation und faktischem Niedergang.

Generell lässt sich sagen, dass die Krise die Arbeiter:innen in den Halbkolonien, die Frauen, Migrant:innen, Jugendlichen weit härter traf als den Durchschnitt. Das trifft auch auf das Verhältnis von gelernten und ungelernten, von unqualifizierten, Arbeiter:innen mit mittlerer Qualifikation und akademisch ausgebildeten Kräften zu. Letztere waren am wenigsten von der Krise betroffen, konnten deutlich schneller und dauerhafter zum Homeoffice wechseln und erlitten deutlich geringere Job- und Einkommensverluste, zumal wenn sie in größeren Unternehmen arbeiteten oder staatlich Beschäftigte waren.

Die Unterschiede zwischen verschiedenen Teilen der Arbeiter:innenklasse wollen wir nur an einzelnen Zahlen illustrieren. 2020 sank die Beschäftigung von Frauen um 5 %, jene von Männern um 3,9 %. Hinzu kommt, dass geschätzt 90 % (!) dieser Arbeiterinnen, die ihre Jobs verloren, dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt ausschieden. Dies ist das Resultat (a) geschlechtlicher Diskriminierung und Unterdrückung am Arbeitsplatz und (b) besonders hoher Jobverluste in einigen Berufen mit hohem Frauenanteil oder (c) besonders hoher Gesundheitsrisiken in bestimmten Bereichen (Einzelhandel, Gesundheitswesen). Vor allem aber hängt es damit zusammen, dass Frauen in die private Carearbeit gezwungen wurden und werden, sei es, weil sie staatliche Einrichtungen (Kindergarten, Schule, Gesundheit, Altersvorsorge) nicht mehr bezahlen können oder diese gar nicht existieren. Die massive Verarmung der unteren Schichten der Arbeiter:innenklasse befördert zudem auch die Zunahme von Kinderarbeit in einigen Halbkolonien.

Ebenso sind Jugendliche besonders betroffen in Form von Arbeitslosigkeit, Jobverlusten, überproportional hohem Anteil von befristeten Arbeitsverhältnissen (faktisch die Regel für junge Arbeiter:innen).

Dies betrifft ebenso migrantische Arbeiter:innen und rassistisch Unterdrückte. Im Fall migrantischer Arbeiter:innen hat deren Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit auch massive Auswirkungen auf ihre Angehörigen in ihren Ursprungsländern, sei es, weil sie teilweise in diese mit Zwang zurückgeschickt wurden, sei es, weil sie keine oder deutlich weniger Lohnbestandteile an ihre Angehörigen schicken konnten, was zusätzlich die Verarmung der Arbeiter:innenklasse in den Ursprungsländern vergrößert.

Die Lage in den Halbkolonien wird zusätzlich durch das massive Anwachsen der Schulden verschlimmert. In den Jahren 2020 und 2021 setzten Kreditgeber:innen wie der IWF die Schuldenrückzahlung etlicher Halbkolonien aus, so dass diese die Krise etwas abfedern, zeitweise sogar kurzlebige konjunkturelle Feuerwerke entfachen konnten. Damit ist jetzt Schluss. Seither müssen die Schulden, teilweise mit zusätzlichen Auflagen verknüpft, zurückgezahlt werden.

Hier kommt ein weiteres mit der Rezession und Pandemie einhergehendes Phänomen hinzu. Seit 2020 können wir massive Preissteigerungen auf dem Weltmarkt für agrarische Rohstoffe beobachten. Lt. FAO Food Price Index (FFPI) stiegen sie 2020 im Durchschnitt um 31 Prozent, jene für Ölsaaten wie Raps oder für Mais verdoppelten sich sogar.

Das führte auch weltweit zu einer massiven Steigerung der Lebensmittelpreise, die im Januar 2022 ein Rekordniveau erreichten und seither weiter steigen. Mit dem Kriegsbeginn in der Ukraine explodierten sie geradezu. So stieg der Weltnahrungsmittelindex um rund 13 %, der für Weizen um 17 % allein im März 2022. Schon 2021 stiegen die Lebensmittelpreise im globalen Durchschnitt lt. Welthungerhilfe um 28 %. Für 2022 wird eine durchschnittliche Steigerung von 35 % erwartet, die vor allem die Länder Afrikas und Schwellenländer wie die Türkei oder Argentinien weit überdurchschnittlich treffen wird.

Die Arbeiter:innenklasse in den Halbkolonien trifft das besonders hart, weil sie einen viel größeren Teil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben muss (50 – 100 %, verglichen mit 12 bis 30 % in den Industrieländern). Kein Wunder also, dass Millionen, auch Arbeitenden, Hunger droht.

250 bis 300 Millionen sind nach Schätzungen des UN-Welternährungsprogramms WFP mit starker oder akuter Hungersnot konfrontiert, 40 – 50 Millionen direkt vom Hungertod bedroht. Tendenz steigend. Je nach Entwicklung des Ukrainekrieges wird in den nächsten Monaten mit einem zusätzlichen Anstieg der Betroffenen um weitere 33 – 47 Millionen gerechnet.

So stammen beispielsweise rund 30 % aller Weizenexporte der Welt aus der Schwarzmeerregion. Der Ausfall der Ukraine als zentraler Getreideexporteurin sowie die Sanktionen gegen russische Exporte verschärfen die Lage auf den Lebensmittelmärkten extrem – gerade für die ärmsten Länder der Welt. Der Krieg fungiert dabei als Brandbeschleuniger einer Entwicklung, die bereits seit Beginn der Pandemie und der damit verbunden Weltwirtschaftskrise extreme Formen annimmt.

Schon Ende 2021 litten rund 193 Millionen an starker oder akuter Hungernot – 40 Millionen mehr als 2020. Über diese stark oder akut Betroffenen hinaus weisen die Statistiken der UN eine noch weitaus größere Zahl von weltweit 810 Millionen Menschen aus, die von Hunger betroffen sind. Fast 2 Milliarden, also rund ein Viertel der Weltbevölkerung, leiden an Mangelernährung.

Zusammen mit der Inflation der Nahrungsmittelpreise trifft die Erhöhung der Energiepreise, der für Wohnraum und eine generelle Erhöhung der Preise die Massen mit voller Wucht. Der Krieg um die Ukraine und die Sanktionen wirken hier als Katalysatoren. In vielen Halbkolonien tritt außerdem zur Schulden- eine veritable Währungskrise.

Schließlich wird die drohende ökologische Katastrophe auch weitere Millionen in die Flucht zwingen. Diese ist eng verbunden mit einer Krise des gesamten Agrarsektors und seiner Abhängigkeit vom imperialistischen Finanzkapital.

Extremwetterlagen, Dürre, Ausbreitung von Wüsten, Ernteschäden oder –ausfälle suchen zahlreiche von den imperialistischen Mächten beherrschte Länder seit Jahren regelmäßig heim.

Besonders stark davon betroffen ist Afrika. 2021 waren mehrere Länder West- und Ostafrikas von massiven Ernteausfällen und Produktionsrückgängen infolge von Pandemie, schlechten Witterungsbedingungen und kriegerischen Auseinandersetzungen betroffen. In Ländern wie Äthiopien oder im Südsudan wurden Millionen Menschen vertrieben.

Kriege, Umweltkatastrophen, Dürren, Ernteausfälle treiben also weltweit Menschen in die Flucht.

Alle diese Entwicklungen werden in den kommenden Monaten und Jahren keinesfalls nachlassen. Im Gegenteil: Ihre destruktive, zerstörerische Dynamik wird sich verstärkt entfalten. Allein das weitere Fortschreiten des Klimawandels droht, in den kommenden 10 Jahren rund eine Milliarde Menschen von ihren jetzigen Wohnorten zu vertreiben, weil diese dann nicht mehr bewohnbar sein werden, sofern es keine drastische Veränderung der Umweltpolitik gibt. Diese ist unter kapitalistischen Bedingungen und erst recht angesichts des zunehmenden globalen Kampfes um die Neuaufteilung der Welt nicht zu erwarten.

Prognosen

Gegenüber dem Jahr 2020 brachte die Wende des Jahres 2021/22 eine gewisse Entspannung. So wuchs die Zahl der lohnabhängig Beschäftigten im Jahr 2022 lt. ILO um 2,3 %. Für das laufende Jahr wird ein Wachstum von einem Prozent vorhergesagt.[xiv]

Die Ursachen dafür sind direkt Resultat der krisenhaften Entwicklung der letzten Jahre. Schon während der Pandemie wurden globale Lieferketten unterbrochen. Das schrumpfende Angebot führte schon damals zu signifikanten Steigerungen der Lebensmittelpreise für die Masse der Weltbevölkerung.

Angesichts der düsteren ökonomischen Aussichten können wir in den kommenden Jahren mit einer Stagnation der Größe der Arbeiter:innenklasse rechnen, wenn auch mit großen regionalen Unterschieden.

Für die arabischen Staaten (d. h. in erster Linie in den reicheren Ländern) und Teile Afrikas wird eine Ausdehnung der Beschäftigung prognostiziert. Rohstoffreichtum begünstigt dabei vor allem die Rentierökonomien in den arabischen Staaten und einige Länder Afrikas. Bei den Prognosen für Afrika muss außerdem die große Ungleichheit, vor allem aber das schlechte Ausgangsniveau mit in Rechnung gestellt werden. Aufgrund des Wachstums der Bevölkerung und damit der Arbeitssuchenden werden die Arbeitslosenraten deshalb kaum zurückgehen.

In Asien, Lateinamerika und der Karibik wird von einem Beschäftigungswachstum von maximal einem Prozent ausgegangen – ein Wachstum, dem jedoch ein noch größeres der Bevölkerung in vielen Ländern entgegensteht. In den USA und Kanada rechnet die ILO 2023 mit einer Zunahme der Arbeitslosigkeit, für Europa und Zentralasien sagt sie ein Schrumpfen der Anzahl der Beschäftigten voraus. In etlichen Ländern (auch Deutschland) wird das jedoch durch einen Rückgang der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter konterkariert, was die Arbeitslosenraten relativ gering hält, ja, in etlichen Sektoren mit einem Mangel an Arbeitskräften einhergeht.

Eine stagnierende Weltwirtschaft wird also begleitet von einem Arbeitskräftemangel in den technologisch fortgeschritteneren Sektoren der Produktion wie auch im Bildungs- und Gesundheitswesen. Das betrifft auf den ersten Blick vor allem die reicheren, entwickelteren Volkswirtschaften. Obwohl hier das Bildungs- und Ausbildungsniveau weiter über dem globalen Durchschnitt liegt, fehlt es an Fachkräften. Das hängt nicht nur mit einer veränderten Altersstruktur zusammen, sondern auch mit massiven Einsparungen (z. B. im Gesundheitswesen) und einem seit Jahren aufgebauten Mangel.

Global betrachtet, stellt sich das Problem noch viel schärfer. Die Kürzungen im Ausbildungssektor betreffen die Halbkolonien noch weit mehr als die imperialistischen Länder. Generell ist in den letzten Jahren der Anteil junger Menschen, die sich in Arbeit, Ausbildung oder Bildung befinden, nach Jahrzehnten der Zunahme rückläufig. 2022 waren lt. ILO 289 Millionen junge Menschen ohne Arbeit, Ausbildung und Schulbildung.[xv] Davon waren zwei Drittel junge Frauen. Generell liegen Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung unter jungen Lohnabhängigen deutlich höher als bei älteren.

Grundsätzlich wurden die Bildungskosten für die nächste Generation von Lohnabhängigen massiv reduziert, weil diese vom kapitalistischen Standpunkt aus Abzüge vom Gesamtprofit, „unnütze“ Kosten für das Einzelkapital bedeuten. Für dieses stellt eine Reduktion der Bildungskosten für die Arbeiter:innenklasse ein Mittel dar, dem Fall der Profitrate durch Erhöhung der Ausbeutungsrate entgegenzuwirken. Allerdings mit einer fatalen, langfristigen Folge: Es werden nicht mehr ausreichend Arbeitskräfte mit der geforderten Qualifikation ausgebildet. Die imperialistischen Ländern haben dabei noch eher die Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, weil sie erstens über größere Reserven für Ausbildungs- und Bildungsinvestitionen verfügen, zweitens auf einen größeren Pool von ausgebildeten verrenteten Arbeiter:innen zurückgreifen können und drittens mittels einer selektiven Migrationspolitik vor allem qualifiziertere Lohnabhängige aus ärmeren Ländern mit geringeren Lohnniveaus anziehen können (ohne einen Cent für deren Bildungskosten auszugeben).

Insgesamt schätzt die ILO, dass 2022 3,6 Milliarden Menschen lohnabhängig beschäftigt waren. Die Beschäftigungsrate (Labour Force Participation Rate) an der arbeitsfähigen Bevölkerung liegt bei 60 % und somit unter dem Niveau von 2019. Für die Jahre 2023 und 2024 wird ein weiterer, leichter Rückgang prognostiziert.

Von den 3,6 Milliarden waren 2 Milliarden informell beschäftigt. 2022 gab es zudem weltweit 473 Millionen Jobsuchende (davon 213 Millionen Arbeitslose). Auch nach der Pandemie und in der kurzen „Erholung“ 2021/22 setzten sich die globalen Ungleichheiten weiter fort. Frauen sind nicht nur weiterhin auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert. Die Krise hat auch insofern zu einer Verschlechterung geführt als 80 % der Frauen, die 2021/22 wieder Arbeit fanden, dies im informellen und in schlechter bezahlten Sektoren der Wirtschaft taten, was ihre abhängige Rolle weiter verstärkt.

Von den 3,6 Milliarden Beschäftigten verfügen 2 Milliarden über keine Form der sozialen Absicherung, sei es durch den Staat oder durch Versicherungsleistungen. Betrachten wir die gesamte Weltbevölkerung, so beläuft sich diese Zahl auf rund 4 Milliarden, also praktisch die Hälfte aller Bewohner:innen dieses Planeten. Wie die Pandemie, Inflation und Klimakatastrophen zeigen, verfügen diese Menschen kaum über Reserven – und die kommenden Jahre werden ihre Lage tendenziell noch prekärer machen.

2022 sanken im globalen Durchschnitt die Arbeitseinkommen und blieben unter den Inflationsraten. Diese Entwicklung betrifft vor allem die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder, wo der Reallohnverlust durchschnittlich 2,2 % betrug.[xvi] Allerdings spiegeln die Inflationsraten nur sehr unzureichend die Veränderung der Lebenshaltungskosten der Lohnabhängigen, so dass es erscheinen mag, dass die Arbeiter:innen in den imperialistischen Ländern stärker als jene in den Halbkolonien betroffen wären. Das ist aber falsch. In den Halbkolonien müssen die Arbeitenden einen weitaus größeren Anteil ihres Einkommens für Lebensmittel und andere Grundbedürfnisse aufwenden, da die Preissteigerung für Nahrungsmittel und anderer für die Lohnabhängigen essentieller Güter oft deutlich über der Inflationsrate liegt.

Alle oben beschriebenen Entwicklungen wurden durch den Krieg um die Ukraine verschärft, der seinerseits Ausdruck des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt ist. Er geht mit einem offenen Wirtschaftskrieg zwischen den westlichen Mächten und Russland einher, der aber letztlich nur einen Faktor einer weit größeren Konfrontation mit China darstellt. Diese Konkurrenz drängt zur Bildung von politischen und ökonomischen Einflusssphären der verschiedenen Blöcke, zu einer Fragmentierung des Weltmarktes und damit verbunden auch zu einer Veränderung globaler Produktions- und Lieferketten. Der Krieg um die Ukraine führt außerdem auch zur massiven Forcierung der Rüstungsproduktion. Das wird sich in den kommenden Jahren weiter fortsetzen, selbst wenn es zu einer (zeitweiligen) Befriedung in der Ukraine kommen sollte.

All dies wird damit einhergehen, dass die Nahrungsmittelpreise weiter hoch bleiben. Gerade in den Halbkolonien wird das auch auf die Energiepreise zutreffen, sei es, weil die Streichung staatlicher Preisstützungen für die Massen zu den Grundbedingungen der IWF-Maßnahmen gehören, in die mehr und mehr Länder des globalen Südens aufgrund von Schulden- und Währungskrisen gezwungen werden, sei es aufgrund geringer Versorgungssicherheit und Knappheit. Inflation wird für die Arbeiter:innenklasse dieser Welt also weiter ein zentrales Problem bleiben.

Zu diesen aus der verschärften Konkurrenz und dem Kampf um die Neuaufteilung der Welt kommenden Faktoren tritt die ökologische Krise. 2022 verdeutlicht die enorme Gefahr, die der Weltbevölkerung droht, vor allem und zuerst im globalen Süden. Die Weltlage verschärft dieses Problem, das der Kapitalismus ohnedies schon unfähig ist zu lösen. Extremwetterlagen und Fluten wie 2022 in Pakistan, als rund ein Drittel der Bevölkerung von der Katastrophe direkt betroffen war, werden sich in den kommenden Jahren wiederholen. Für die Arbeiter:innenklasse bedeutet dies vor allem in den halbkolonialen Ländern eine dauerhafte, ja sich verschärfende Ernährungskrise, eine dramatische Zerstörung von Wohnraum. Die Folgen sind Hungersnöte und Massenflucht von Abermillionen.

Schon die Coronapandemie und die Wirtschaftskrise in den Jahren 2020 und 2021 haben weltweit zu Millionen von Toten, massiven Einkommensverlusten und einer Verschlechterung der Lebensbedingungen für die Arbeiter:innenklasse geführt. Aufgrund von Rezession, Gesundheitskrise und Krieg sind die Rücklagen (sofern sie überhaupt welche hatten) der Masse der Lohnabhängigen im globalen Süden, aber auch der unteren und ärmeren Schichten in den imperialistischen Ländern aufgebraucht. Dabei stehen wir längst nicht am Ende, sondern mitten in einer weiteren Welle von Angriffen auf die Arbeiter:innenklasse.

3. Die Arbeiter:innenbewegung und die Führungskrise des Proletariats

Nationaler Schulterschluss und Klassenkollaboration

Seitens der Gewerkschaften, sozialdemokratischen, stalinistischen, linkspopulistischen und linksreformistischen Parteien und Organisationen gab es wenig bis gar keinen organisierten Widerstand gegen die Angriffe der Jahre 2020 – 22. Stattdessen suchten die Führungen der Massenorganisationen in den meisten Ländern in den ersten beiden Jahren der Pandemie die nationale Solidarität mit der herrschenden Klasse und verfolgten eine Politik, die die Interessen der Lohnabhängigen effektiv denen des Kapitals unterordnete. Sie unterstützten eine inhärent widersprüchliche und halbherzige Pandemiepolitik der herrschenden Klasse, die, von wenigen Ausnahmen wie in China abgesehen, zwischen einer Strategie der Abflachung der Kurve (d. h. der Begrenzung der Pandemie auf ein Niveau unterhalb des Zusammenbruchs des Gesundheitssystems) und Durchseuchung schwankte. Obwohl die Pandemie noch lange nicht vorbei ist, hat sich in den meisten Ländern letztere Strategie, einschließlich der dauerhaften Inkaufnahme von gesundheitlichen Folgeschäden, durchgesetzt.

Die Politik des nationalen Schulterschlusses trug maßgeblich zu massiven Einkommensverlusten für die Arbeiter:innenklasse, die in den vorhergehenden Abschnitten dargestellt wurden, bei. In den imperialistischen Staaten und einigen Halbkolonien wurden diese zwar durch staatliche Interventionen und Kurzarbeit abgefedert, an der grundlegenden Entwicklung ändert das aber nichts. Die Gewerkschaften und auch die reformistischen Parteien fungierten in den imperialistischen Kernländern als Co-Managerinnen der Krise. Die meisten von ihnen sicherten den industriellen und gewerkschaftlichen Frieden. In vielen Ländern wurden im Gegenzug für (unzureichende) staatliche Rettungspakete und Maßnahmen zum Schutz von Arbeitsplätzen und zur Begrenzung von Einkommensverlusten die gewerkschaftlichen Kämpfe faktisch ausgesetzt und Tarifverhandlungsrunden verschoben.

Das bedeutet nicht, dass wir in dieser Phase gar keine erlebten. Vielmehr wurden diese in Ländern wie Italien und Spanien zu Beginn der Pandemie organisiert, um Gesundheitsschutzmaßnahmen und Fabrikschließungen überhaupt erst durchzusetzen.

In den meisten Ländern suchten die etablierten Führungen der Arbeiter:innenbewegung (Sozialdemokratie, Labour, viele „kommunistische Parteien“, linksreformistische Parteien, Gewerkschaftsführer:innen und Linkspopulismus) in der Regel ein Bündnis mit dem „vernünftigen“ Teil der herrschenden Klasse und versuchten, (informelle) Koalitionen unter dem Banner der nationalen Einheit und Sozialpartnerschaft zu bilden. Dies geschah entweder in Form einer direkten Regierungsbeteiligung oder politischen Unterstützung der „demokratischen“ bürgerlichen Parteien (US-Demokrat:innen, Liberale, Grüne). Diese Politik der offiziellen Führungen der Arbeiter:innenbewegung trug ihrerseits wesentlich zum weiteren Aufstieg der Rechten bei, was wiederum als weitere Legitimation für eine Politik der Klassenkollaboration herhalten sollte.

Diese Politik wird in vielen Ländern im Grunde bis heute fortgesetzt – nur diesmal unter dem Vorzeichen der notwendigen Zurückhaltung zugunsten der Unterstützung der Bourgeoisie im neuen Kalten Krieg und insbesondere in der Sanktionspolitik gegen Russland. Faktisch unterstützen im Krieg um die Ukraine sowohl alle großen sozialdemokratischen Parteien, die Führungen der meisten Gewerkschaftsverbände als auch zahlreiche Linksparteien die Kriegsziele des westlichen Imperialismus. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation und die dortigen staatsnahen Gewerkschaften verteidigen derweil den Angriffskrieg und die Eroberungen des russischen Imperialismus.

Gewerkschaften

Insgesamt hat die Politik der Klassenzusammenarbeit seit Jahren den anhaltenden Trend eines sinkenden gewerkschaftlichen Organisationsgrades weiter verschärft. Natürlich wird dieser nicht nur durch die falsche bürgerliche Politik der Führung bedingt, sondern ist  selbst eine Folge der Umstrukturierung des Kapitals und der damit verbundenen Veränderungen in der Arbeiter:innenklasse. Die Gewerkschaften unter Führung der Bürokratie haben aber darauf keine Antwort gefunden. Vielmehr hoffen sie, die verlorene Organisationsmacht durch Korporatismus und Integration in ein System der Klassenkollaboration auszugleichen. Dies wird zum Teil auch mit aktivistischen Kampagnen (z. B. Organizing) verknüpft, die aber die Kontrolle der Bürokratie nicht in Frage stellen sollen (und können). Teilweise gelingt es den Gewerkschaftsapparaten in einigen Staaten noch, Sozialpartnerschaft, Mitbestimmung und Verhandlungsmacht auch in gewerkschaftlich schwach organisierten Bereichen aufrechtzuerhalten. Doch dies stellt nur ein Nebenprodukt ihrer Stellung im nationalen Gefüge von Korporatismus und Sozialpartner:innenschaft dar (und steht und fällt mit der Fähigkeit, diese aufrechtzuerhalten).

Dies wird aber immer schwieriger. Denn grundsätzlich schwächt die Politik der Klassenkollaboration die etablierten Gewerkschaften und betrieblichen Strukturen. Sie werden reduziert auf Schichten der Arbeiter:innenaristokratie oder Beschäftigte im staatlichen Sektor. Auch dort findet diese Politik eine gewisse soziale Basis – allerdings eine, die tendenziell schrumpft, was zu einer Schwächung der Bürokratie, aber auch der Organisationen selbst führen könnte.

Die unmittelbare, sehr kurzlebige, Erholung und der Aufschwung nach der Rezession 2020/21 führten in einigen Ländern zu einer Wiederbelebung der gewerkschaftlichen Militanz und zu teilweise sehr beeindruckenden Kämpfen um die Organisierung zuvor nicht organisierter Sektoren. Doch diese neue Schicht von Gewerkschaftsaktivist:innen wird sich nun unter veränderten Bedingungen massiver Preissteigerungen bewähren müssen. Die Auseinandersetzungen haben zwar kleinere oder größere Schichten von Aktiven und Kampferfahrungen hervorgebracht, aber die Kontrolle der bürokratischen Apparate nicht wesentlich in Frage gestellt (in einigen Fällen sogar gestärkt). In der Regel sind sie nicht über die Ebene der wirtschaftlichen Klassenkämpfe oder von der Bürokratie kontrollierten Mobilisierungen hinausgegangen.

Dies gilt auch für die massiven Streikbewegungen in Indien, die Hunderte von Millionen mobilisierten – allerdings letztlich für begrenzte eintägige Aktionen ohne weitere Kampfperspektiven.

Auch in Europa erlebten wir trotz Krieges gegen die Ukraine einen Aufschwung von politischen und gewerkschaftlichen Abwehrkämpfen (Britannien, Spanien, Frankreich und sogar in Deutschland). Diese führen zweifellos zur Politisierung neuer Schichten. Die Strategie der Gewerkschaftsführungen stellt aber ein zentrales Hindernis im Kampf dar, so dass sowohl den Millionen, die im Kampf gegen die Rentenreform Macrons mobilisiert wurden, als auch den Tarifkämpfen in Britannien und Deutschland Ausverkauf und Niederlagen drohen.

Insgesamt befindet sich die Gewerkschaftsbewegung in einer tiefen Krise – einer Krise, die allerdings in den einzelnen Ländern unterschiedliche Formen annimmt.

Zugleich ist die Arbeiter:innenklasse in allen Ländern mit gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen und Einschränkungen des Streikrechts konfrontiert. Aber diese fallen sehr unterschiedlich aus. In den meisten europäischen Ländern unterstützt die Bürokratie diese Gesetze nicht nur stillschweigend, sondern nutzt sie auch, um ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital zu festigen. In den USA hingegen ist die Machtposition der Gewerkschaften in der Gesellschaft wesentlich schwächer, so dass auch der Kampf um ihre Anerkennung eine größere Rolle einnimmt.

In diesen Ländern (aber auch in vielen lateinamerikanischen) stützen sich die Gewerkschaftsbürokratien entweder auf „ihre“ sozialdemokratischen Arbeiter:innenparteien oder auf ihre Verbindungen zu den Demokrat:innen oder populistischen Parteien, um auf nationaler Ebene jene Gesetze durchzusetzen, die ihnen einen branchen- und betriebsübergreifenden Gestaltungsspielraum für das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital ermöglichen. Im Gegenzug sind sie bereit, als soziale Stütze der Regierungen zu fungieren. Mit anderen Worten: Die Gewerkschaftsführungen betreiben aktiv eine Politik der Klassenkollaboration (die sich mitunter auch auf Arbeit„nehmer“:innenschichten stützen kann, insbesondere in den Großbetrieben).

Insgesamt ist auch eine weitere Zersplitterung der Gewerkschaften zu beobachten, deren Kehrseite die eher willkürliche Verschmelzung verschiedener Branchengewerkschaften darstellt. In den Halbkolonien ist diese Zersplitterung noch viel stärker ausgeprägt.

Wenn sich die Gewerkschaftsapparate und mit ihnen auch die Gewerkschaften selbst dem bürgerlichen Staat annähern (entweder direkt oder vermittelt über reformistische, populistische, nationalistische oder linksbürgerliche Parteien), wird umgekehrt der Spielraum für Zugeständnisse an die Arbeiter:innenklasse kleiner. Zwar haben die Pandemiekrise und teilweise die Kosten des Ukrainekrieges dazu geführt, dass staatliche Hilfsmaßnahmen über Schulden finanziert und damit auch als Verhandlungserfolg der Gewerkschaftsbürokratie dargestellt werden konnten, doch droht die Inflation, dies nun aufzufressen, und die herrschende Klasse wird über kurz oder lang ihren finanzpolitischen Kurs ändern, was verstärkte Angriffe nach sich ziehen wird.

In den Halbkolonien hat dies alles längst viel dramatischere Formen angenommen. Dort findet zwar auch Korporatismus statt, aber auf einer viel schmaleren wirtschaftlichen Basis. Daher ist der Organisationsgrad im Allgemeinen niedriger, manchmal sogar extrem niedrig (weniger als 5 % der Klasse), und die Gewerkschaftslandschaft ist gleichzeitig viel stärker zersplittert. Zahlreiche kleine Gewerkschaften, die oft nur auf betrieblicher und regionaler Ebene existieren, verfügen über keine wirkliche Kampfkraft.

In diesen Ländern stellt die Organisierung der Unorganisierten und die Reorganisation der Gewerkschaften in Branchengewerkschaften (Industriegewerkschaften) auf einer demokratischen, klassenkämpferischen Basis ein zentrales, unmittelbares Kampfziel dar.

In Ländern, in denen die Gewerkschaften unter diktatorischen Bedingungen arbeiten müssen, stehen wir einem weiteren, anders gelagerten Problem gegenüber. Auch dort stellt sich zwar das Problem der Einbindung staatlich anerkannter Gewerkschaften ebenso wie der Versuch des Staates, korporatistische Betriebsstrukturen für die Beschäftigten zu schaffen und damit Konflikte institutionell zu regeln. Verschärft wird dieses Problem jedoch durch die Illegalität bzw. eingeschränkte Legalität der politischen Parteien der Arbeiter:innenklasse, sogar der mit reformistischem Charakter.

Schließlich konfrontiert die aktuelle Situation die Gewerkschaften und betrieblichen Aktivist:innen mit politischen Fragen (Krieg, Pandemiepolitik), der tieferen wirtschaftlichen und sozialen Spaltung der Klasse und dem Verhältnis zum Staat und den bürgerlichen Institutionen.

Politische Organisationen

Dabei verbinden die Gewerkschaftsbürokratien den Ökonomismus mit bürgerlicher Arbeiter:innenpolitik. Dies geschieht entweder in Form eines Bündnisses mit offen bürgerlichen Parteien oder mit dem Linkspopulismus als deren linkester Variante.

Auch wenn der Linkspopulismus oft ähnliche Forderungen wie sozialdemokratische oder stalinistische Parteien vertritt, ist das Verhältnis von reformistischen und populistischen Parteien zur Arbeiter:innenklasse grundlegend verschieden. Reformistische Parteien stützen sich organisch auf die Arbeiter:innenklasse und sind durch einen inneren Widerspruch zwischen der proletarischen sozialen Basis und der bürgerlichen Politik gekennzeichnet. Die populistischen Parteien hingegen, die sich auf ein Bündnis verschiedener Klassen stützen, die zum „Volk“ ideologisiert werden, sind letztlich Volksfronten in Parteiform.

Die Tatsache, dass sich in der gegenwärtigen Periode verschiedene Zwischen- und Übergangsformen, einschließlich linkspopulistischer (oder sogar liberal-bürgerlicher) Flügel, in reformistischen Parteien bilden, dass einige linkspopulistische Formationen noch keinen festen Rückhalt in Teilen der Bourgeoisie haben, bedeutet, dass an der gesellschaftlichen Oberfläche der Unterschied zwischen linkspopulistischen Parteien und bürgerlichen Arbeiter:innenparteien zu verschwinden scheint. Hinzu kommt, dass sowohl populistische als auch reformistische Parteien klassenübergreifende Blöcke und Bündnisse in Regierungen anstreben und daher auch als Teile einer bürgerlichen Koalitionsregierung oder einer Volksfront auftreten.

Diese direkte Suche nach Koalitionsregierungen mit dem „linken“ oder „demokratischen“ Flügel der Bourgeoisie, die Tendenz zur Volksfrontpolitik entspricht der Klassenzusammenarbeit der Gewerkschaften und markiert einen weiteren Rechtsruck der traditionellen reformistischen Parteien. Dies geht oft mit deren Niedergang und manchmal auch mit internen Tendenzen einher, die organischen Verbindungen zur Arbeiter:innenklasse zu lösen.

All dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Hinwendung oder der Wandel zum Populismus eine weitere Entwicklung weg von einer Politik bedeutet, die auf organischen Verbindungen zur Arbeiter:innenklasse beruht. So stellt das Schrumpfen des Reformismus zugunsten des Linkspopulismus eine allgemeine Schwächung der Arbeiter:innenklasse dar, auch wenn dies, wie z. B. das Wachstum der frühen „Grünen“ auf Kosten der Sozialdemokratie (und des Stalinismus), oberflächlich betrachtet, als Linksentwicklung erscheinen mag. Das kleinbürgerliche oder populistische Strohfeuer entpuppt sich regelmäßig als ein Weg nach rechts.

Im Grunde ist der Vormarsch klassenübergreifender Ideologien wie des Populismus Ausdruck der Niederlagen der Arbeiter:innenklasse und eine Folge der verräterischen Politik der Führungen von Gewerkschaften und bürgerlichen Arbeiter:innenparteien.

Gleichzeitig ist der Vormarsch von Populismus, Identitätspolitik und Formen des bürgerlichen Individualismus (Queertheorie) nicht nur in der politischen und ideologischen Krise der Arbeiter:innenklasse begründet, sondern auch in der veränderten Situation der Mittelschichten, des Kleinbürgertums und auch der Kleinunternehmer:innen in der Krise. Unter stabilen Bedingungen fungieren sie eigentlich als Stütze der bürgerlichen Ordnung und Demokratie.

In der Krise allerdings entdecken sie ihre „Unabhängigkeit“. Sie kritisieren die „Elite“, indem sie zwischen „guten“ und „schlechten“ Strömungen des Kapitals unterscheiden; aber sie gerieren sich auch „radikal“ und fordern einen Bruch mit der „traditionellen Klassenpolitik“ oder dem, was Sozialdemokratie und Stalinismus daraus gemacht haben. Im linken Spektrum äußert sich diese kleinbürgerliche Strömung ideologisch auf unterschiedliche Weise: als linker Populismus, Identitätspolitik, Queertheorie, Befreiungsnationalismus, Postkolonialismus und in vielen anderen Schattierungen. Philosophisch-methodologisch stehen sie in engem Zusammenhang mit der Postmoderne und, vermittelt durch diese, mit den reaktionärsten, oft subjektiv-idealistischen und irrationalistischen Strömungen der westlichen Philosophie.

Die gegenwärtige Krise wird auch weiterhin einen Nährboden für diese kleinbürgerlichen Ideologien bieten – natürlich nicht nur in ihren linken, sondern vor allem auch in ihren rechten Spielarten – zumal einige dieser Ideologien bereits tief in die organisierte Arbeiter:innenbewegung und die politische Linke eingedrungen sind.

Kleinbürgerliche Ideologien stellen schon längst eine besonders wichtige und prägende Kraft in der Frauen*streikbewegung und im zeitgenössischen Feminismus dar, aber auch in klassenübergreifenden Massenbewegungen (Ökologie, Antirassismus). Das Beispiel der Gilets Jaunes in Frankreich veranschaulicht die Gefahr, wenn Populismus zur führenden politischen Ideologie einer Massenbewegung wird. Die Gefahr, dass die radikale Rechte diese Bewegung auf elektoraler Ebene wie überhaupt im politischen Raum für sich vereinnahmt oder eine dominante Rolle ausübt, spiegelt einen weiteren Rückgang des sozialen Gewichts der Arbeiter:innenklasse wider.

Der Populismus und andere kleinbürgerliche Ideologien sind jedoch nicht die einzigen, die versuchen, die Krise der Gewerkschaften und der reformistischen Parteien auf der Linken zu lösen.

In den letzten Jahren ist auch eine neue Strömung des linken Reformismus entstanden – zum Beispiel in Teilen der europäischen Linksparteien, im Corbynismus in der Labour Party oder auch in Teilen der DSA in den USA. Das Scheitern Corbyns zeigt deutlich die Grenzen dieser Strömung, ist aber keineswegs mit ihrem Ende zu verwechseln.

Zeitschriften wie „Jacobin“ oder die Stiftungen der ELP (Luxemburg Foundation) haben in den letzten Jahren begonnen, eine „neue“ reformistische Strategie zu etablieren und versuchen, sie als Alternative zur alten Sozialdemokratie, zu den „Grünen“ und zum Linkspopulismus zu verbreiten. Unter dem Titel „Transformationsstrategie“ berufen sie sich auf Theoretiker wie Kautsky, Gramsci, Poulantzas, um eine antibolschewistische, „sozialistische“ Strategie zu rechtfertigen, die den revolutionären Sturz der herrschenden Klasse und die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats durch einen langwierigen Kampf um die „Hegemonie“ und eine „schrittweise Transformation“ von Staat und Gesellschaft ersetzen will. Dieser „neue“ Reformismus ist natürlich nicht neuer als seine historischen Vorbilder im marxistischen Zentrum der II. Internationale, dem Austromarxismus oder dem Eurokommunismus. Aber die Theoretiker:innen und Ideolog:innen dieser Strömung stellen ihn als Versuch dar, einen „neuen Marxismus“ zu begründen, der den Gegensatz von Reform und Revolution versöhnt. In Wirklichkeit entpuppt sich das als wieder aufgewärmter Revisionismus.

Die „radikale“ Linke und der Zentrismus

Im Allgemeinen konnte die „radikale“ Linke wenig oder gar nicht von den politischen Krisen des Reformismus und der Anpassung der Gewerkschaftsführungen an Kapital und Staat profitieren. Im Gegenteil, sie erlebt einen weiteren politischen Niedergang.

Die Linke aus „postmarxistischen“ und (post)autonomen Bewegungen schwankt zwischen einer opportunistischen Anpassung an andere Kräfte (kleinbürgerlich geführte Bewegungen oder auch den linken Apparaten in Gewerkschaften und reformistischen Parteien) einerseits und einer romantisierenden Rückkehr zu ultralinken Formen von „Militanz“ andererseits. Beiden gemeinsam ist eine Fetischisierung von Formen des spontanen Prozesses, die je nach ideologischer Ausrichtung durch Teile der Klimabewegung, Organizing-Kampagnen in den Gewerkschaften, „Nachbarschaftsarbeit“ oder direkte Aktionen verkörpert werden. Diese Fetischisierung der Form ersetzt jede systematische Entwicklung eines Programms, einer Strategie und Taktik.

Auch wenn diese Strömungen theoretisch und programmatisch in einer Sackgasse stecken und vor allem keine Antwort auf die Kriegsfrage und die zunehmende imperialistische Blockkonfrontation geben, können wir keineswegs ausschließen, dass sie – ähnlich wie verschiedene Spielarten des Anarchismus – Anziehungskraft auf sich radikalisierende Teile der Jugend und kämpferische Arbeiter:innen entwickeln können, gerade weil sie eine einfache Antwort auf den Niedergang des Reformismus und die Krise der Arbeiter:innenbewegung zu liefern scheinen.

Diese Formen des kleinbürgerlichen Linksradikalismus müssen von zentristischen Kräften unterschieden werden, also solchen, die zwischen Reform und Revolution, zwischen bürgerlicher und revolutionärer Arbeiter:innenpolitik schwanken. Der Zentrismus ist im Grunde ein kurzlebiges politisches Phänomen, denn ein länger andauerndes Pendeln zwischen diesen Polen im Klassenkampf ist für eine Partei, die bedeutende Teile der Klasse führt, unmöglich.

In den letzten Jahren, ja, sogar Jahrzehnten, hat sich keine zentristische Massenpartei gebildet, die mit der Partido dos Trabalhadores (PT = Arbeiter:innenpartei) bei ihrer Gründung oder der USPD im Ersten Weltkrieg vergleichbar wäre. Einem solchen Phänomen am nächsten kam die Nouveau Parti anticapitaliste (NPA = Neue antikapitalistische Partei), die es aber aufgrund ihrer inneren Widersprüche nie vermochte, über das Stadium einer großen Propagandaorganisation hinauszuwachsen und wirklich eine Partei zu werden.

Wir haben es heute entweder mit zentristischen Wahlfronten zu tun, wobei die erfolgreichste und größte zweifellos die Frente de Izquierda y de los Trabajadores – Unidad (FIT-U = Vereinigte Front der Linken und der Arbeiter:innen) in Argentinien darstellt, oder mit rechtszentristischen Strömungen innerhalb reformistischer Formationen (z. B. in Teilen der Democratic Socialists of America, DSA).

Es ist jedoch keineswegs auszuschließen, dass solche zentristischen Formationen in der nächsten Zeit eine größere Anhänger:innenschaft gewinnen werden. Solche können natürlich nicht nur aus sozialdemokratischen Formationen oder trotzkistischen Kräften entstehen, sondern auch aus linksstalinistischen oder politischen Differenzierungen innerhalb von Massenbewegungen. Wo diese Kräfte zu einem Phänomen werden, das bedeutende Teile der Avantgarde umfasst, müssen Revolutionär:innen in diesen Prozess eingreifen und für eine wirklich revolutionäre Ausrichtung kämpfen.

Im Allgemeinen befinden sich die trotzkistisch-zentristischen Organisationen jedoch in einer tiefen Krise. Mehrere Strömungen – allen voran das Vereinigte Sekretariat, das sich vor einigen Jahren ironischer Weise in Vierte Internationale umbenannt hat – sind nach rechts gerückt und haben Sektionen und Mitglieder verloren. Andere, wie die International Socialist Tendency (IST = Internationale Sozialistische Tendenz), treten kaum noch als internationale Strömungen in Erscheinung. Das Committee for a Workers International (CWI = Komitee für eine Arbeiter:inneninternationale) hat sich in zwei etwa gleich große Teile gespalten. Das Gleiche gilt für die Partido Obrero (PO = Arbeiter:innenpartei) und ihre internationale Strömung.

Unter den größeren zentristischen Strömungen haben sich die aus dem Morenismus hervorgegangenen (Liga Internacional dos Trabalhadores, LIT; Unidad Internacional de Trabajadoras y Trabajadores, UIT) konsolidiert, wenn auch mit einer abenteuerlichen Politik, die zwischen Opportunismus und Sektierertum schwankt. Nur zwei große internationale Strömungen sind gewachsen oder befinden sich im Wachstum: Die International Marxist Tendency (IMT = Internationale Marxistische Tendenz), die sich als eine eher „orthodoxe“ Form des Marxismus mit einer starken propagandistischen Ausrichtung präsentiert, und die Fraccíon Trotskista (FT) mit der argentinischen Partido de los Trabajadores Socialistas (PTS) als größter Sektion.

IMT und FT/PTS (wie letztlich auch LIT und UIT) versuchen, sich als orthodoxe Kräfte zu präsentieren, die eine marxistische oder klassenunabhängige Alternative zum Reformismus und verschiedenen kleinbürgerlichen Strömungen darstellen. Ihre Stärke liegt zweifellos in einer umfangreichen propagandistischen Tätigkeit und, insbesondere im Fall der FT, in einer sehr systematischen Nutzung der sozialen Medien. Die Frage der Neuformulierung des revolutionären Programms stellt sich bei beiden nicht wirklich (ebenso wie bei UIT und LIT). Beide sind ironischer Weise durch ein Abgleiten in Richtung Ökonomismus und Spontaneität und eine Ablehnung von Lenins Konzeption der Entstehung von Klassenbewusstsein (und damit des Kerns der leninistischen Parteitheorie) gekennzeichnet.

Beide Strömungen könnten in naher Zukunft weiter wachsen. Allerdings sind die inneren Widersprüche, die die jeweiligen Organisationen in eine Krise stürzen können, sehr unterschiedlich. Die IMT lebt von der Isolierung ihrer Mitglieder vom „Rest“ der Linken in einer höchst sektiererischen Weise. Es ist die Konfrontation mit der Realität des Klassenkampfes und verschiedenen anderen Strömungen, die das Weltbild der IMT-Anhänger:innen erschüttern kann und wird, wie bei früheren Abspaltungen dieser Strömung.

Die Widersprüche der PTS/FT-Strömung ergeben sich aus ihrer theoretischen Hinwendung zu Gramsci (und weg von Marx‘ Ideologiebegriff und Lenins Verständnis von Klassenbewusstsein), den methodischen Schwächen ihres Imperialismusverständnisses (und der damit verbundenen Fehlcharakterisierung Chinas und Russlands), ihrem Missverständnis von Reformismus und Einheitsfronttaktik sowie den inneren Widersprüchen der FIT in Argentinien.

Wir müssen die Entwicklung sowohl der krisengeschüttelten als auch der wachsenden zentristischen Strömungen genau verfolgen und unsere Kritik vor allem an ihren inneren Widersprüchen und programmatischen Schwächen ansetzen.

Die Krise des Zentrismus hat auch zur Entwicklung kleinerer linksgerichteter Organisationen und Gruppen geführt, die als Opposition innerhalb bestehender internationaler Tendenzen agieren oder eine revolutionäre Umgruppierung vorantreiben wollen (so die International Trotskyist Opposition, ITO, oder die Internationale Revolutionäre Tendenz, TIR, oder der linke Flügel der NPA). Natürlich gibt es auch mit diesen Gruppen wichtige programmatische und methodologische Unterschiede. Aber ihre Entwicklung verweist darauf, dass sich in der kommenden Periode auch Gruppierungen nach links entwickeln oder in eine Krise geraten können, die eine Möglichkeit für revolutionäre Umgruppierung schafft, für den Aufbau einer größeren revolutionären Tendenz, die viel effektiver in den Klassenkampf weltweit eingreifen und sich auf eine neu entstehende Avantgarde beziehen kann, denn die aktuelle Krise wird alle Strömungen und Ideologien auf die Probe stellen.

Die „radikale“, subjektiv nicht-reformistische Linke war und ist dabei gezwungen, auf die Veränderungen in der Arbeiter:innenklasse und deren Organisationen zu reagieren. Das betrifft insbesondere auch die politische Neuformierung der Klasse. Auch wenn sie zahlenmäßig und politisch schwach sein mögen, so hat auch die Intervention (oder das Unterlassen ebendieser) von linken, antikapitalistischen Strömungen und Gruppierungen einen wichtigen Einfluss auf die Neuformierung der Klasse in den letzten Jahren gehabt. Allerdings hat diese Intervention keineswegs zur Realisierung des Potentials für eine revolutionäre Neuformierung der Klasse auf allen Ebenen geführt, sondern leider oft genug zum Gegenteil. Es macht daher Sinn, sich wichtiger Lehren der revolutionären Arbeiter:innenbewegung zu besinnen, wie aus dem Zustand der Schwäche, ja, Marginalisierung eine Stärke der revolutionären Kräfte möglich ist, ohne in Sektierertum oder Opportunismus abzugleiten.

4. Historische Lehren

Schließlich stellt sich für alle Strömungen der „extremen Linken“ die Frage, wie sie mit ihren geringen Kräften in einen Prozess der historischen Neuformierung der Klasse, der grundlegenden Erschütterung ihrer bestehenden Organisationen, der raschen Bildung „neuer“ politischer Kräfte und ihres oft ebenso raschen Niedergangs intervenieren sollten.

Wir müssen unsere Taktik dabei nicht mit Blick auf die mehr oder weniger radikale Linke, sondern vor allem in Hinblick darauf bestimmen, wie wir die reale Avantgarde in ihrer gewerkschaftlichen, sozialen und vor allem politischen Neuformierung beeinflussen, an ihrer Seite arbeiten und sie für ein revolutionäres Programm und den Aufbau einer revolutionären Partei gewinnen können.

Wir tun dies als sehr kleine Propagandagesellschaft. Anders als revolutionäre Parteien, die wenigstens einige tausend, wenn nicht zehntausende Kader zählen und signifikante Teile der Arbeiter:innenklasse anführen können, müssen kleine revolutionäre Gruppierungen v. a. auch versuchen, Wege und Taktiken zu entwickeln, wie sie überhaupt in größere Veränderungen der Klasse eingreifen können.

In dieser Hinsicht sind die Erfahrungen des Trotzkismus von 1933 bis zum Zweiten Weltkrieg für unsere heutige Situation von enormer Bedeutung. Bis zur Niederlage der deutschen Arbeiter:innenklasse gegen den Faschismus hatten die Trotzkist:innen als „externe Fraktion“  für eine Reform der Kommunistischen Internationale gekämpft. Die Losung einer neuen Internationale wurde bis dahin von den Gruppierungen der „Internationalen Linksopposition“, also den „Trotzkist:innen“, vehement abgelehnt, da es ihrer Meinung nach v. a. darum ging, den Kampf um eine politische Kursänderung der Kommunistischen Internationale zu führen, die sich noch auf Millionen revolutionäre Arbeiter:innen stützen konnte. Die Avantgarde der Klasse war damals im Großen und Ganzen in diesen Parteien zu finden.

Die Niederlage der deutschen Arbeiter:innenklasse offenbarte aber auch das komplette Scheitern der Komintern-Strategie und der ultralinken Politik der „Dritten Periode“. Die KPD hatte ganz in diesem Sinne jahrelang die Anwendung der Einheitsfrontpolitik gegenüber der Sozialdemokratie abgelehnt und so den reformistischen Führer:innen die Ablehnung der Einheitsfront mit den Kommnist:innen erleichtert und somit die Einheit der Klasse gegen die Faschist:innen und die Gewinnung der sozialdemokratischen Arbeiter:innen massiv erschwert. All das führte dazu, dass die Arbeiter:innenklasse den Faschismus nicht stoppen konnte und für den offenen Verrat der Sozialdemokratie und die fatale, ultralinke Politik der KPD (garniert mit reichlich Nationalismus) mit der schwersten Niederlage des 20. Jahrhunderts zahlen musste.

Die Komintern und die KPD wurden zu diesem Zeitpunkt von Trotzki und der Linken Opposition nicht als reformistisch, sondern als zentristisch, genauer als „bürokratischer Zentrismus“, charakterisiert. Trotzdem drängte Trotzki nach der Niederlage darauf, dass die Linke Opposition nunmehr ihren Kurs auf eine „Reform“ der Komintern aufgeben müsse, weil sich die KPD wie die Komintern als unfähig erwiesen, selbst nach dieser historischen Niederlage, ihre Fehler zu analysieren. Im Gegenteil, die KPD und das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale bestätigten nach der Machtergreifung Hitlers, dass der Kurs grundsätzlich richtig gewesen wäre, ja man ging noch davon aus, dass Hitler rasch „abwirtschaften“ würde und dann die KPD die Macht ergreifen könne. Gegen diesen Kurs regte sich in der Komintern nicht nur an der Spitze, sondern auch in den Sektionen kein offener Widerstand – auch wenn sich Arbeiter:innen mehr oder weniger demoralisiert von ihr abwandten.

Daraus zog Trotzki den Schluss (zuerst hinsichtlich der KPD, dann gegenüber der gesamten Komintern), dass eine „Reform“ der stalinistischen Parteien für die Zukunft auszuschließen  und daher auch eine Neuausrichtung der Linken Opposition notwendig geworden sei, die sich fortan „Internationale Kommunistische Liga“ nannte. Das Ziel war nunmehr der Aufbau einer neuen revolutionären Internationale. Die Entwicklung einer recht kleinen Propagandagruppe hin zu einer Kaderpartei kann freilich nicht ohne entschlossene taktische Manöver im Parteiaufbau bewerkstelligt werden – Manöver, die auch in den 1930er Jahren zu vielen sektiererischen Einwänden wie zu opportunistischen Fehlern führten. Hinzu kommt, dass die Fragmente der Vierten Internationale diese Taktiken nach dem Zweiten Weltkrieg pervertierten und ihres revolutionären Gehalts beraubten. Das wohl bekannteste Beispiel ist die Entrismustaktik, die nach dem Zweiten Weltkrieg grundsätzlich einen opportunistischen Charakter erhielt.

Wir haben uns an anderer Stelle ausführlich mit den verschiedenen Taktiken auseinandergesetzt. Für uns geht es hier darum, die grundlegenden Methoden, die Trotzki in den 1930er Jahren angewandt und entwickelt hat, zu skizzieren, da wir sie für unsere heutigen Aufgaben für besonders interessant halten. Wir können dabei drei zentrale politische Taktiken/Methoden unterscheiden, die wir im Folgenden darstellen wollen: a) Die „Blocktaktik”, b) Entrismus und c) die ArbeiterInnenparteitaktik.

Die Blocktaktik

Vor allem nach der Niederlage gegen den Faschismus orientierte sich Trotzki auf die Einheit mit nach links gehenden zentristischen Organisationen, die sich von Sozialdemokratie oder Stalinismus abgespalten hatten. Entscheidend für Trotzki war dabei, diese Organisationen für einen klaren organisatorisch-politischen Bruch mit den bestehenden Zweiten und Dritten Internationalen zu gewinnen und für einen Aufbau einer gemeinsamen neuen Internationale.

Das brachte ihn einerseits in scharfen politischen Gegensatz zur Mehrheit der „Zwischengruppen“ zwischen der Kommunistischen Internationale und der Sozialdemokratie, die sich einerseits formierten (Pariser Konferenz 1933, Gründung des „Londoner Büros“), andererseits das Hintertürchen zu einer zukünftigen Einheit mit den Reformist:innen oder Stalinist:innen offen halten wollten.

So unterzeichneten schließlich vier Organisationen im August 1933 die „Erklärung der Vier“. Diese beinhaltet auf einigen Seiten eine gemeinsame Einschätzung des Scheiterns von Stalinismus und Sozialdemokratie, die grundsätzliche Notwendigkeit, deren politische Abweichungen zu bekämpfen und eine eigene revolutionäre Alternative auf Grundlage der Anwendung der politischen Grundsätze und Prinzipien von Marx und Lenin aufzubauen.

Die beteiligten Organisationen waren die IKL sowie drei zentristische Gruppierungen: die SAP aus Deutschland, RSP und OSP aus den Niederlanden. Sie einigten sich außerdem auf die Einsetzung einer Kommission: „a) mi der Ausarbeitung eines programmatischen Manifests als der Geburtsurkunde der neuen Internationale; b) mit der Vorbereitung einer kritischen Übersicht über die gegenwärtigen Organisationen und Strömungen der Arbeiterbewegung (Kommentar zum Manifest); c) mit der Ausarbeitung von Thesen zu allen Grundfragen der revolutionären Strategie und Taktik des Proletariats; …“[xvii]

Auch wenn der Block letztlich auseinanderbrach, weil sich die SAP rasch wieder nach rechts hin zum „Londoner Büro“ entwickelte, so brachte er sehr wohl einige Erfolge. OSP und RSP fusionierten rasch und bildeten eine gemeinsame Organisation und spätere Sektion der IKL in den Niederlanden.

Vor allem aber bestimmten die IKL und der Trotzkismus ihre grundlegende Herangehensweise an den Zentrismus, an „Vereinigungsprojekte“. Programmatische Einheit war dabei von entscheidender Bedeutung, insbesondere die Konkretisierung der Programmatik, auf die jeweiligen aktuellen Ereignisse bezogen. Trotzki weist darauf hin, dass es überhaupt keinen Wert habe, die Notwendigkeit der „Diktatur des Proletariats“ anzuerkennen, wenn es kein gemeinsames Verständnis der Notwendigkeit der Arbeiter:inneneinheitsfront gegen die faschistische Gefahr gebe. Das trifft auch auf entscheidende Taktiken zu. So reicht es offenkundig nicht aus, dass die Einheitsfronttaktik „allgemein“ anerkannt wird, wenn zugleich nicht konkretisiert wird, an wen sie sich zu richten hat, ob an die Basis und Führung der Massenorganisationen oder, ob sie praktisch nur eine Spielart der Einheitsfront von unten darstellt.

Hinsichtlich der konkreten Hinwendung zu einer bestimmten Gruppierung ist nicht die formelle Ähnlichkeit des Programms entscheidend, sondern die Bewegungsrichtung der vorgeblich revolutionären Organisation. Trotzki verdeutlicht das mit dem Verweis darauf, dass sich der stalinistische Zentrismus der „Dritten Periode“ aus dem Bolschewismus entwickelte und zu einer dogmatischen, ultralinken Doktrin (einschließlich etlicher rechter Schwankungen) degenerierte. Das bedeutete auch, dass die „offizielle“ Kommunistische Internationale als dem Marxismus näherstehend erscheinen konnte, da sie sich selbst militanter oder kämpferischer inszenierte und für einen ganz und gar nicht bolschewistischen Inhalt noch immer die Terminologie des Bolschewismus verwandte. Die aus der Sozialdemokratie kommenden zentristischen Strömungen erschienen demgegenüber oft weicher, tendierten zur Fetischisierung der „Einheit“ und waren auch stärker durch deren Mentalität geprägt. Entscheidend war daher für Trotzki die Bewegungsrichtung – nicht die formelle Nähe.

Das bedeutete auch, dass Blöcke die Möglichkeiten zu größerer revolutionärer Einheit boten und nur für begrenzte Zeit notwendig waren. Die politischen und wirtschaftlichen Erschütterungen, die zentristische Organisationen und ihre Führer:innen nach links stießen, sind in einer Krisenperiode oft nur von kurzer Dauer. Eine neue Wendung der Ereignisse kann leicht zu einem Kurswechsel der Zentrist:innen führen. So waren der Zulauf des Faschismus in Frankreich und die Niederlage des österreichischen Proletariats 1934 Faktoren, die zu einer Linksentwicklung der Sozialdemokratie insgesamt führten, bis hin zu „zentristischen Anwandlungen“ ganzer Parteien. Viele linke Zentrist:innen der 1930er Jahre verleitete das jedoch zu einem Rechtsschwenk, gewissermaßen, um den nach links gehenden Sozialdemokrat:innen auf halbem Wege entgegenzukommen.

Falsch war daran nicht, sich auf die politischen Erschütterungen dieser Parteien zu orientieren, wohl aber, sich an sie programmatisch anzupassen.

Bei der taktischen Zusammenarbeit und der Bildung von Blöcken mit ihrem Wesen nach zwischen Reform und Revolution schwankenden Organisationen und deren Führer:innen muss deren Schwanken also in Rechnung gestellt werden. Das heißt, es darf keine politischen Zugeständnisse geben und ist notwendig, die unvermeidlichen Zickzacks der Partner:innen zu kritisieren. Zugleich ist es aber auch notwendig, sich auf organisatorischer Ebene überaus flexibel zu verhalten. In „Der Zentrismus und die Vierte Internationale“ fasst Trotzki die Lehren aus dem Block der Vier zusammen:

„Wir können unsere Erfolge in relativ kurzer Frist ausbauen und vertiefen, wenn wir:

a) den historischen Prozess ernstnehmen, nicht Versteck spielen, sondern aussprechen, was ist;

b) uns theoretisch Rechenschaft ablegen von allen Veränderungen der allgemeinen Situation, die in der gegenwärtigen Epoche nicht selten den Charakter von schroffen Wendungen annehmen;

c) aufmerksam auf die Stimmung der Massen achten, ohne Voreingenommenheit, ohne Illusionen, ohne Selbsttäuschung, um, aufgrund einer richtigen Beurteilung des Kräfteverhältnisses innerhalb des Proletariats, weder dem Opportunismus noch dem Abenteurertum zu verfallen, die Massen vorwärts zu führen und nicht zurückzuwerfen;

d) uns jeden Tag und jede Stunde fragen, welches der nächste praktische Schritt sein soll; wenn wir diesen sorgfältig planen und den Arbeitern auf der Grundlage lebendiger Erfahrung den prinzipiellen Unterschied zwischen dem Bolschewismus und all den anderen Parteien und Strömungen klar machen;

e) die taktischen Aufgaben der Einheitsfront nicht mit der grundlegenden historischen Aufgabe – der Schaffung neuer Parteien und einer neuen Internationale – verwechseln;

f) für das praktische Handeln auch den schwächsten Bündnispartner nicht geringschätzen;

g) die am weitesten ‚links‘ stehenden Bündnispartner als mögliche Gegner kritisch beobachten;

h) jenen Gruppierungen größte Aufmerksamkeit widmen, die tatsächlich zu uns tendieren; mit Geduld und Feingefühl auf ihre Kritik, ihre Zweifel und Schwankungen reagieren; ihre Entwicklung in Richtung auf den Marxismus unterstützen; keine Angst vor ihren Launen, Drohungen und Ultimaten haben (Zentristen sind immer launisch und mimosenhaft); ihnen keinerlei prinzipielle Zugeständnisse machen;

i) und, noch einmal sei es gesagt, nicht scheuen auszusprechen, was ist.“[xviii]

Entrismus, Fraktionsarbeit, organisatorischer Anschluss

Die Frage revolutionärer Taktik, der Schwerpunkte für den Aufbau, ist notwendigerweise immer mit einer Einschätzung verbunden, wo sich zu einem bestimmten konkreten Zeitpunkt die wichtigsten politischen Veränderungen in der Avantgarde der Klasse bemerkbar machen.

Unter bestimmten Umständen kann sich eine solche Krise sowohl innerhalb bestehender politischer Parteien der Klasse ausdrücken als auch in Neuformierungen. Die Voraussetzung dafür ist in der Regel eine politische Erschütterung (Krise, Entwicklung der Reaktion, historischer Angriff, Revolten, …), die den tradierten Führungen und Organisationen nicht mehr erlaubt, so weiterzumachen wie bisher. Oft sind Niederlagen oder drohende Niederlagen Katalysatoren für solche Entwicklungen. So waren sicher der Sieg des Faschismus in Deutschland und der Bürgerkrieg in Österreich 1934 neben der innenpolitischen Lage in Frankreich maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Bedingungen für den Entrismus in die dortige Sozialdemokratie, die SFIO, entstanden, das „klassische Modell“ für diese Taktik.

Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass der Entrismus, also der Eintritt einer gesamten Organisation in eine bestehende Partei, keine „Neuerfindung“ des Trotzkismus ist.

Schon Marx und Engels hatten erkannt, dass Kommunist:innen unter Umständen auch in nicht-revolutionären oder sogar in nicht-proletarischen Parteien arbeiten können, um so überhaupt erst die Grundlagen zur organisatorischen Formierung des Kommunismus, zur Gewinnung erster Mitstreiter:innen zu legen.

In etlichen asiatischen Ländern entstanden die Kommunistischen Parteien aus ideologischen und organisatorischen Absetz- und Abspaltungsbewegungen aus bürgerlich-nationalistischen Parteien (China) oder gar aus islamistischen Parteien (Indonesien).

Lenin hatte der britischen KP in seiner Schrift „Der linke Radikalismus“ nachdrücklich die Unterstützung von Labourkandidat:innen bei Wahlen empfohlen. Im Jahr 1920 und auf dem Gründungskongress der Kommunistischen Internationale spricht er sich darüber hinaus ausdrücklich für den organisatorischen Anschluss an die Labour Party aus. Labour hatte damals noch einen relativ föderalen Charakter, der auch den Beitritt von Organisationen ermöglichte (nicht ganz unähnlich wie Syriza bis 2013).

Er trat dafür ein, dass sich die KP als Organisation anschließen solle, also nicht „nur“ die Mitglieder individuell beitreten sollten. So sollte die kleine Kommunistische Partei nicht nur näher an die damals wachsende Labour Party und deren Arbeiter:innenbasis herankommen, es sollte so auch vor den Augen der Massen der Anspruch der Labour Party einem Test unterzogen werden, die gesamte Arbeiter:innenklasse zu repräsentieren: „Diese Partei erlaubt angegliederten Organisationen gegenwärtig die Freiheit der Kritik und die Freiheit von propagandistischen, agitatorischen und organisatorischen Aktivitäten für die Diktatur des Proletariats, solange die Partei ihren Charakter als Bund aller Gewerkschaftsorganisationen der Arbeiter:innenklasse bewahrt.”[xix]

Solche Kompromisse oder Zugeständnisse, hauptsächlich in Wahlangelegenheiten, sollten die Kommunist:innen eingehen wegen „der Möglichkeit des Einflusses auf breiteste Arbeitermassen, der Entlarvung der opportunistischen Führer von einer höheren und für die Massen besser sichtbaren Plattform aus und wegen der Möglichkeit, den Übergang der politischen Macht von den direkten Repräsentanten der Bourgeoisie auf die ‚Labour-Leutnants‘ der Kapitalistenklasse zu beschleunigen, damit die Massen schneller von ihren gröbsten Illusionen im Bezug auf die Führung befreit werden.“[xx]

Diese Zitate zeigen die Ähnlichkeit in der methodischen Herangehensweise zur Entrismustaktik, wie sie von Trotzki in den 1930er Jahren entwickelt und in etlichen Ländern zu verschiedenen Perioden angewandt wurde.

Von 1934 an entwickelte Trotzki eine Taktik, die den völligen Eintritt der französischen Bolschewiki-Leninist:innen (wie die Trotzkist:innen sich damals nannten) in sozialdemokratische und zentristische Parteien zum Inhalt hatte. Trotzki verstand diese nicht als langfristig, geschweige denn als einen strategischen Versuch zur Umwandlung der Sozialdemokratien in für die soziale Revolution geeignete Instrumente. Aber er erkannte, dass die fortgeschrittensten Arbeiter:innen angesichts der drohenden faschistischen Gefahr nicht nur die Einheitsfront mit der KPF forderten, sondern die SFIO nach dem Bruch mit ihrem rechten Flügel und unter dem Druck der Ereignisse auch zum Attraktionspol für die Klasse und deren Avantgarde wurde. Hinzu kam, dass sich auch die KPF nicht mehr länger der Einheitsfront entziehen konnte, einen Schwenk weg von der „Dritten Periode“ machte (allerdings auch den Übergang zur Volksfront vorbereitete). Trotzki machte nicht nur auf die Möglichkeiten dieser Lage aufmerksam, er erkannte auch die Gefahr für die französische Sektion, nämlich praktisch von der Bildung einer Einheitsfront gegen die Rechte und den politischen Debatten in der Klasse ausgeschlossen zu werden.

„Die innere Situation (der SFIO) schafft die Möglichkeit eines Eintritts mit unserem eigenen Banner. Die Modalitäten entsprechen unseren selbstgesteckten Zielen. Wir müssen nun so handeln, dass unsere Erklärung keinesfalls den führenden bürgerlichen Flügel stärkt, sondern stattdessen den fortschrittlichen proletarischen Flügel, und dass Text und Verbreitung unserer Erklärung es uns erlauben, erhobenen Hauptes im Falle ihrer Annahme wie auch im Falle von Hinhaltemanövern oder der Ablehnung zu bleiben. Eine Auflösung unserer Organisation kommt nicht in Frage. Wir treten als bolschewistisch-leninistische Fraktion ein; unsere organisatorischen Bindungen bleiben wie bisher, unsere Presse besteht weiter neben ‚Bataille Socialiste‘ und anderen.“[xxi]

Die Taktik brachte etliche Probleme mit sich. Ein Teil der Sektion verweigerte zu Beginn den Eintritt, um dann, als er mehr und mehr in die Selbstisolation geriet, nachzufolgen. Das änderte nichts an den großen Gewinnen, die die Bolschewiki-Leninist:innen erzielten, v. a. unter der Jugend. Aber der Erfolg führte auch dazu, dass ein Teil der Sektion die Prinzipien über Bord warf und den Entrismus als langfristige Taktik aufzufassen begann, die Kritik an der Parteiführung und v. a. an der versöhnlerischen Haltung der Zentrist:innen in der SFIO abschwächte. Es kam daher um die Frage des Austritts zur Spaltung der Sektion und einer längeren Krise. All das führte Trotzki dazu, die „Lehren des Entrismus“ folgendermaßen zusammenzufassen:

„1.) Der Entrismus in eine reformistische oder zentristische Partei ist an sich keine langfristige Perspektive. Es ist nur ein Stadium, das unter Umständen sogar auf eine Episode verkürzt sein kann.

2.) Die Krise und die Kriegsgefahr haben eine doppelte Wirkung. Zunächst schaffen sie Bedingungen, unter denen der Entrismus allgemein möglich wird. Aber andererseits zwingen sie den herrschenden Apparat auch, zum Mittel des Ausschlusses von revolutionären Elementen zu greifen.

3.) Man muss den entscheidenden Angriff der Bürokratie frühzeitig erkennen und sich dagegen verteidigen, nicht durch Zugeständnisse, Anpassung oder Versteckspiel, sondern durch eine revolutionäre Offensive.

4.) Das oben Gesagte schließt nicht die Aufgabe der „Anpassung“ an die Arbeiter in den reformistischen Parteien aus, indem man ihnen neue Ideen in einer für sie verständlichen Sprache vermittelt. Im Gegenteil, diese Kunst muss so schnell wie möglich erlernt werden. Aber man darf nicht unter dem Vorwand, die Basis erreichen zu wollen, den führenden Zentristen bzw. Linkszentristen Zugeständnisse machen.

5.) Die größte Aufmerksamkeit ist der Jugend zu widmen.

6.) (…) fester ideologischer Zusammenhalt und Klarsicht im Hinblick auf unsere ganze internationale Erfahrung sind notwendig.“[xxii]

Die Entrismustaktik war keineswegs nur auf Frankreich beschränkt, sondern wurde in etlichen Ländern ausgeführt: In Britannien in die „Independent Labour Party“ (1933 – 1936) und später in die Labour Party, in die Socialist Party in den USA (1936/37) unter sehr schwierigen Bedingungen des Fraktionsverbotes, in die belgische Arbeiter:innenpartei oder in die POUM in Spanien.

Neben dem Eintritt in zentristische oder reformistische Parteien sprach sich Trotzki außerdem auch für die Fraktionsarbeit in den linken Flügeln von bürgerlichen Parteien aus. So forderte er in „India faced with imperialist war“ die Arbeit in der Congress Socialist Party, dem linken Flügel der Kongresspartei, der damals von Jawaharlal Nehru und Chandra Bose geführt wurde.

„Anders als selbstgefällige Sektierer müssen die revolutionären Marxisten aktiv an der Arbeit der Gewerkschaften, der Bildungsvereinigungen, der Congress Socialist Party und grundsätzlich in allen Massenorganisationen teilnehmen.“[xxiii]

Propagandagesellschaft und Avantgarde

Trotzki schlägt hier die Arbeit in einer Fraktion einer bürgerlich-nationalistischen Partei vor. Auf den ersten Blick scheint das – so argumentierten Sektierer:innen damals wie heute – „prinzipienlos“. Revolutionär:innen würden, so argumentierten z. B. viele gegen den Entrismus in die SFIO, ihre organisatorische Unabhängigkeit aufgeben. Trotzki antwortete damals folgendermaßen:

„Für formalistische Köpfe schien es in absolutem Widerspruch zu stehen. für eine neue Internationale und neue nationale revolutionäre Parteien aufzurufen und in Verletzung des Prinzips, dass eine revolutionäre Partei ihre Unabhängigkeit aufrecht erhalten müsse; manche betrachteten es als einen Verrat an den Prinzipien, andere argumentierten taktisch dagegen. […] Unabhängigkeit war ein Prinzip für revolutionäre Parteien, aber dieses Prinzip konnte nicht für kleine Gruppen gelten. […] Es bedurfte taktischer Flexibilität, um Gebrauch von den hervorragenden Bedingungen zu machen und aus der Isolation herauszubrechen.“[xxiv]

Vor ähnlichen Bedingungen stehen wir auch heute und werden wir in der kommenden Periode immer wieder stehen. Die Notwendigkeit von Taktiken wie Entrismus, Fraktionsarbeit, organisatorische Angliederung folgt im Grunde immer daraus, dass die kommunistische Organisation noch keine Partei ist, sie nur als ideologische Strömung oder als kämpfende Propagandagruppe existiert. Einer solchen Gruppierung ist es unmöglich, sich direkt an die Masse des Proletariats zu wenden, ja die meisten von ihnen, die nur Hunderte Mitglieder zählen, können auch nur kleine Teile der Avantgarde der Klasse erreichen.

Die Avantgarde der Klasse ist dabei, solange es keine Kommunistische Partei gibt, selbst nur bedingt Avantgarde, sprich, sie ist nicht zu einer Partei formiert, die die politisch bewusstesten Teile der Klasse auf Basis eines wissenschaftlichen, kommunistischen Programms organisiert. Es gibt keine kommunistische Avantgarde im Sinne des Marxismus, wie sie im Kommunistischen Manifest bestimmt ist, also jene proletarische Partei, die sich durch ihr Bewusstsein der allgemeinen Interessen, Aufgaben, Ziele und des Werdegangs der proletarischen Bewegung auszeichnet, die als Strategin der Klasse handeln und diese führen kann.

In diesem Sinn gibt es heute auf der ganzen Welt keine oder nur eine auf kleine Gruppen reduzierte proletarische Avantgarde. Aber im weiteren Sinne gibt es natürlich eine Avantgarde der Klasse, so wie sich in jedem Kampf, in jeder Auseinandersetzung fortgeschrittenere und rückständigere Teile formieren.

Über Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Avantgarde der Klasse in Teilen der Gewerkschaften, oft in starken Industriegewerkschaften wie den Autoarbeiter:innen in Deutschland oder bis in die 1980er Jahre die Bergarbeiter in Britannien, formiert. Diese „ökonomische Avantgarde“ hat sich in den letzten Jahren natürlich auch verändert. So führten z. B. die Kämpfe der Krankenhausbewegung in den letzten Jahren auch zur Bildung neuer Avantgardeelemente.

Entscheidend für uns ist dabei, dass die bloße Führung und größere Militanz in einzelnen Kämpfen diese noch nicht zur Avantgarde für eine ganze Klasse macht. Ein solches Verhältnis wird über längere politische Entwicklungen etabliert und wirkt dann nicht nur im Sinne einer kämpferischen Vorhut, sondern kann auch in die gegenteilige Richtung ausschlagen. So kann z. B. die geringe Aktivität der etablierten Avantgarde den Effekt haben, dass auch die anderen Sektoren der Klasse für eine ganze Periode relativ wenige Kämpfe führen. Eine solche negative Rolle spielte z. B. die IG Metall mit dem „Bündnis für Arbeit“ und v. a. seit dem Ausverkauf des Streiks für die 35-Stunden-Woche im Osten.

Die „wirtschaftliche“ Avantgarde ist oft eng verbunden mit einer bestimmten politischen Strömung in der Klasse. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben diese Rollen sozialdemokratische und stalinistische Parteien für sich monopolisiert. In manchen Ländern gab es nicht einmal solche reformistischen Parteien. Hier bildete sich über die ökonomische Sphäre hinaus gar keine Avantgarde. Allenfalls fand sich diese in Strömungen des kämpferischen Syndikalismus oder in kleinen reformistischen (einschließlich solcher, die auch in populistischen Parteien anzutreffen sein können).

Die Krise des Reformismus hat dazu geführt, dass die Bindung der kämpferischeren Schichten an die Gewerkschaften schwächer wurde, dass es oft v. a. die politische Tradition und der Apparat sind, die diese Bindung noch herstellen und reproduzieren. Ganz offenkundig hat diese Entwicklung auch die Form angenommen, dass linksreformistische Parteien Teile der Avantgarde der Klasse organisieren oder anziehen. In Ländern wie Griechenland repräsentiert Syriza einen wichtigen Teil deren (neben der KKE).

Diese Entwicklung macht Trotzkis Bemerkungen zum Verhältnis von Klassenbewegung, Parteikeim und „Unabhängigkeit“ heute brandaktuell. Revolutionär:innen, die diesen Veränderungen in der Klasse keine Aufmerksamkeit schenken und die Notwendigkeit einer Intervention negieren oder kleinreden, sind keine. Sie sind letztlich eine Mischung aus Sektierer:innen und Ökonomist:innen.

Arbeiter:innenparteitaktik

Das trifft auch auf die Frage der Arbeiter:innenparteitaktik zu. Ursprünglich wurde diese von Trotzki für die USA mit einigem Zögern entwickelt, da er eine opportunistische Anwendung dieser fürchtete. Trotzki befürchtete, dass diese als Forderung nach einer reformistischen, nicht-revolutionären Partei interpretiert werden könne oder gar nach einer klassenübergreifenden Partei wie der politisch falschen Losung der „Arbeiter:innen- und Bäuerinnenpartei“.

Die Entwicklung in den 1930er Jahren zeigt andererseits nicht nur verschiedene Initiativen zur Schaffung einer Arbeiter:innenpartei in den USA im Gefolge des Wachsens der Arbeiter:innenbewegung. Die Losung hat auch einen enormen Wert, um die Klasse und die Gewerkschaften aus der Bindung an eine offen bürgerliche Partei (sei sie nun demokratisch, liberal, populistisch oder nationalistisch) zu lösen.

1938 kam er schließlich zu den entscheidenden, methodischen Schlussfolgerungen:

„a) Revolutionäre müssen es ablehnen, die Forderung nach einer unabhängigen, auf die Gewerkschaften gestützten Partei und die begleitende Forderung an die Bürokratie, mit der Bourgeoisie zu brechen, mit der Forderung nach einer reformistischen Labor Party zu identifizieren.

b) Das Übergangsprogramm als Programm für die Labor Party ist das Kampfmittel zur Gewährleistung einer revolutionären Entwicklung.

c) Für den unvermeidlichen Kampf mit der Bürokratie muss eine revolutionäre Organisation auch innerhalb der Bewegung für eine Labor Party aufrechterhalten werden.

d) Perioden der Wirtschaftskrise und des sich verschärfenden Klassenkampfes sind am günstigsten für die Aufstellung der Losung einer Labor Party. Aber selbst in ‚ruhigen‘ Zeiten behält die Losung einen propagandistischen Wert und kann in lokalen Situationen oder bei Wahlen auch agitatorisch gehandhabt werden. Revolutionäre würden z. B. von den Gewerkschaften statt der Wahlunterstützung für einen demokratischen Kandidaten die Aufstellung eines unabhängigen Kandidaten der Arbeiter:innenklasse fordern.

e) Keineswegs ist eine Labor Party, die natürlich weniger darstellt als eine revolutionäre Partei, eine notwendige Entwicklungsstufe für die Arbeiter:innenklasse in Ländern ohne Arbeiterparteien.

f) Noch einmal sei daran erinnert: Das Programm hat Vorrang.”[xxv]

In der gegenwärtigen Periode besitzt die Losung der Arbeiter:innenpartei in einer Reihe von Ländern auch eine enorme Bedeutung. Wo sie angemessen ist, sollten Revolutionär:innen diese aktiv propagieren und von Beginn an dafür kämpfen, dass diese Partei eine revolutionäre wird, und ein Aktionsprogramm als deren Basis vorschlagen. Sie dürfen das aber keinesfalls zur Bedingung ihrer Teilnahme am Kampf für eine solche Partei machen. Dies wäre ein sektiererischer Fehler, der im Grunde die ganze Taktik, also eine Form der Einheitsfront gegenüber anderen, nicht-revolutionären Teilen der Klasse, v. a. gegenüber den Gewerkschaften, zunichtemachen würde.

Schlussfolgerungen

Dieser kurze Überblick über Taktiken der kommunistischen Bewegung zeigt, wie fruchtbringend sie heute auch für die Intervention in die Neuformierung der Arbeiter:innenklasse sind.

Natürlich erschöpft sich die Frage der Neuformierung nicht in der der politischen Organisation, in Taktiken zum Parteiaufbau. Aber zweifellos muss jede kommunistische Organisation, jede Organisation, die eine neue antikapitalistische Kraft in der Klasse werden will, darauf grundlegende Antworten und Vorschläge liefern.

In den Gewerkschaften und auf betrieblicher Ebene steht heute unbedingt der Kampf gegen jede Einschränkung der Organisationsfreiheit und des Streikrechts, für demokratische, klassenkämpferische Gewerkschaften, strukturiert nach Branchen und Wertschöpfungsketten, im Zentrum.

Für eine solche Politik braucht es nicht nur die organisierte revolutionäre Tätigkeit (revolutionärer Gewerkschaftsfraktionen und Betriebsgruppen), sondern auch die Sammlung aller antibürokratischen, klassenkämpferischen Kräfte, die Schaffung einer Basisbewegung, die für eine klassenkämpferische Führung kämpft.

Auf der Ebene des Abwehrkampfes treten wir für die Bildung von Aktionskomitees in Betrieben, an Schulen, Unis, in den Stadtteilen und Kommunen ein, die nach den Grundsätzen der Arbeiter:innendemokratie organisiert sein sollen. Sie sollen auf Massenversammlungen von ihrer Basis gewählt, dieser gegenüber rechenschaftspflichtig und von ihr abwählbar sein.

Der Klassenkampf erfordert heute intensive internationale Zusammenarbeit, d. h., es geht darum, dass wir auch internationale Koordinierungen schaffen, die real Aktionen verabreden und gemeinsam durchführen, sei es gegen imperialistische Interventionen, gegen soziale Angriffe oder rassistische Abschottung.

So wie wir in den Gewerkschaften und Betrieben die existierenden Organisationsformen umkrempeln müssen, so wirft die Krise neben der Frage von Einheitsfronten gegen Rassismus, Faschismus und Angriffe auf demokratische Rechte auch die nach Massenbewegungen der gesellschaftlich Unterdrückten auf. Das betrifft v. a. den Kampf für eine revolutionäre Jugend- und eine proletarische Frauenbewegung.

All diese Kampfbereiche, alle politischen und organisatorischen Antworten zur Reorganisation und Revolutionierung der Arbeiter:innenklasse bilden einen unverzichtbaren Bestandteil kommunistischer Aktivität.

Aber es gibt einen Grund, warum wir die Frage der politischen Neuformierung der Klasse ins Zentrum unserer Überlegungen rücken. Das größte Problem der Menschheit ist die Krise der proletarischen Führung, das Fehlen einer genuin kommunistischen Partei und erst recht einer solchen Internationale – und das in einer Periode, die objektiv die Alternative „Sozialismus oder imperialistische Barbarei“ aufwirft.

Natürlich gibt es auch ohne revolutionäre Partei revolutionäre Krisen, Situationen, ja auch Revolutionen – aber keine siegreichen. Ohne revolutionäre Führung bleiben sie auf halbem Wege stecken und enden, wie die Arabische Revolution gerade zeigte, früher oder später unvermeidlich mit dem Sieg der Konterrevolution.

Natürlich werden in den aktuellen Kämpfen und erst recht in vorrevolutionären oder revolutionären Krisen neue Schichten aktiviert und politisiert. Das trifft sicher auch auf die Arabischen Revolutionen, auf den kurdischen Kampf, auf den Iran, auf China oder Lateinamerika zu. Aber allein aus diesen Kämpfen entwickelt sich keinesfalls spontan eine politische Alternative oder gar eine bewusste revolutionäre Kraft.

Das Hauptfeld der Auseinandersetzung um die Lösung der Führungskrise der Klasse bilden die politischen Neuformierungsprozesse. Aus den ökonomischen und sozialen Kämpfen, aus Bewegungen können nur Impulse zur Suche nach einer politischen Alternative entstehen, kann die Notwendigkeit einer solchen bewusst werden, und zwar nicht als direkte „Verlängerung“ dieser Kämpfe, sondern aufgrund der Schranken, auf die sie in ihrer eigenen Entwicklung gestoßen werden.

Bei all ihren Mängeln, bei aller notwendigen Kritik an den (neo)reformistischen, kleinbürgerlichen oder zentristischen Fehlern findet dort die Auseinandersetzung um die politische Neuformierung der Klasse statt. Hier werden die Kämpfe um die zukünftige politische Ausrichtung, Strategie und Taktik, um die Programmatik der Klasse ausgefochten. Die Reformist:innen versuchen natürlich, dem Ganzen einen bürgerlichen Charakter zu verleihen bzw. die bestehende politische Dominanz bürgerlicher Ideen und Programme, wenn auch vielleicht in neuer Form, zu verteidigen.

Ob es sich nun um eine „Neuformierung“ der antikapitalistischen Linken, einen Kampf in  einer nach links gehenden reformistischen Partei oder den Bruch mit einer bestehenden handelt – auf jeden Fall bilden diese Formationen den Rahmen für einen politischen und ideologischen Klassenkampf, dessen Ausgang entscheidend für die Bewusstseinsentwicklung der Arbeiter:innenklasse werden wird.

So wie sich von Land zu Land die Form dieser Entwicklung unterschiedlich gestaltet, so werden unterschiedliche Taktiken oder auch eine Kombination dieser notwendig sein, um möglichst effektiv in diese Auseinandersetzung eingreifen zu können. Mögen die Taktiken auch unterschieden sein – das aktive, offensive Eingreifen ist eine strategische Notwendigkeit zur Überwindung der Führungskrise des Proletariats.

Die Fetischisierung einzelner Formen oder gar das Fernbleiben vom politischen Kampf in Massenparteien oder „Umgruppierungsprojekten“ mit der Begründung, dass diese ja reformistisch wären, hat nichts mit dem „Kampf gegen den Reformismus und Zentrismus“ zu tun, sondern bedeutet nur, ihnen das Feld zu überlassen. Natürlich werden angesichts des aktuellen Kräfteverhältnisses die meisten dieser „Neuformierungen“ und auch der Projekte zur „revolutionären Einheit“ mit dem Sieg der Reformist:innen oder Zentrist:innen oder gar Populist:innen wie bei Podemos enden. Ihr Potential mag dann rasch erschöpft sein.

Doch den Kampf um eine revolutionäre Ausrichtung mit dem Argument abzulehnen, dass er wahrscheinlich ohnedies nicht gewonnen werde, ist der „Realismus“ von Passivität und vorweggenommener Kapitulation.

Als Liga für die Fünfte Internationale haben wir uns dazu entschieden, dass unsere Sektionen aktiv an den Umgruppierungen der Klasse teilnehmen, weil, unabhängig vom konkreten Ausgang dieses oder jenes Projekts, sich in diesen politischen und ideologischen Kämpfen die Kader einer zukünftigen kommunistischen Bewegung bewähren, lernen können und müssen, ihre Politik und ihr Programm auf der Höhe der Zeit zu vertreten.


Endnoten

[i] Marx, Karl: Das Kapital, Band 1, MEW 23, Berlin/DDR 1971, S. 640

[ii] A. a. O., S. 657

[iii] OECD, World Economic Report 2014, http://dx.doi.org/10.1787/persp_glob_dev-2014-en

[iv] Vergleiche Krüger, Stephan: Profitraten und Kapitalakkumulation in der Weltwirtschaft, Hamburg 2019, S. 218/219

[v] ILO, World Work Report 2014, https://www.ilo.org/global/research/global-reports/world-of-work/2014/lang—en/index.htm, S. 2

[vi] ILO, World Employment and Social Outlook, Trends 2023, https://www.ilo.org/global/research/global-reports/weso/WCMS_865387/lang—en/index.htm, S. 12

[vii] ILO, World Work Report 2014, a. a. O., S. 6

[viii] Marx, Karl; Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, Berlin/DDR 1959, S. 473

[ix] World Economic and Social Outlook, 2021, https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2021/10/12/world-economic-outlook-october-2021

[x] Siehe Engels, Friedrich: England 1845 und 1885, MEW 21, Berlin/DDR 1975, S. 191 – 198

[xi] Lenin, W. I.: Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, in LW 23, Berlin/DDR 1972, S. 113

[xii] Siehe ILO Bericht 2023, a. a. O.

[xiii] Z. B. in Arruzza, Cinzia; Bhattacharya, Tithi; Fraser, Nancy: Feminismus für die 99 % Berlin 2019. Zur Kritik siehe: https://arbeiterinnenmacht.de/2020/03/04/feminismus-fuer-die-99-prozent/

[xiv] ILO, World Employment and Social Outlook, Trends 2023, a. a. O., S. 13

[xv]  Ebenda, S. 30

[xvi] Ebenda, S. 42

[xvii] Trotzki, Leo: Die Erklärung der Vier, in: Ders., Schriften Band 3.3., Linke Opposition und IV. Internationale 1928-1934, Köln 2001, S. 460

[xviii] Ders.: Der Zentrismus und die IV. Internationale, in: Schriften 3.3., Linke Opposition und IV. Internationale 1928-1934, a. a. O., S. 530

[xix]  Lenin, V. I.: Collected Works, Bd. 31, S. 199

[xx] Ebenda

[xxi] Trotsky, Leon: Writings, Supplement 1934-40, New York 2004,  S. 565/566

[xxii] Ders.: The Crisis of the French Section, (Die Krise der französischen Sektion), New York 1996, S. 125/126

[xxiii] Ders.: Writings 1939-40, New York 1973, S. 36

[xxiv] Ders: „The Crisis of the French Section“ (Die Krise der französischen Sektion), a. a. O., S. 20 (Vorwort)

[xxv] Bewegung für eine revolutionär-kommunistische Internationale (Vorläuferorganisation der Liga für die Fünfte Internationale), Thesen zum Reformismus, in: Revolutionärer Marxismus 44, Berlin 2012, S. 156




Zehntausende bei LQM-Bewegung für Arbeiter:innenrechte – Vorwärts zu einer Arbeiter:innenpartei in Pakistan!

Khaliq Ahmad, Infomail 1228, 24. Juli 2023

Die pakistanische Regierung hat die gesamte Last auf die Arbeiter:innenklasse und die Armen in Stadt und Land abgewälzt, um das Programm des Internationalen Währungsfonds (IWF) wiederzubeleben. Die Verbraucher:innenpreisinflation in Pakistan hat derzeit den höchsten Stand in der Geschichte erreicht. Nach offiziellen Angaben stieg sie im März auf 35,4 %, was vor allem auf die in die Höhe geschnellten Kosten für Lebensmittel, Strom, Getränke und Transport zurückzuführen ist.

Die Lohnerhöhungen im jüngsten Haushalt liegen unter dem aktuellen Inflationsniveau,

Die Unternehmen in der Privatwirtschaft weigern sich sogar, diese zu erhöhen, und die Arbeiter:innen müssen jedes Jahr einen organisierten Kampf führen, um wenigstens ihre Verluste auszugleichen. Das jüngste IWF-Abkommen im Wert von 3 Milliarden US-Dollar wird die Situation für die Lohnabhängingen, die Bäuer:innen und die Armen noch verschlimmern, da es Kürzungen der Subventionen für grundlegende Konsumgüter, weitere Privatisierungen und Senkungen der öffentlichen Ausgaben fordert.

Kampagne

Als Reaktion auf diese Situation startete die LQM (Labour Qaumi Movement) Anfang Juni eine Kampagne für höhere Löhne und zu den Problemen am Arbeitsplatz. Vor der Konferenz für Rechte der arbeitenden Bevölkerung am 18. Juni fanden zehn Kundgebungen und zahlreiche Versammlungen unter freiem Himmel in den Arbeiter:innenvierteln und an Arbeitsplätzen statt.

Im Rahmen dieser Kampagne sprach die LQM Zehntausende von Arbeiter:innen an und organisierte sie, darunter eine große Zahl von Heimarbeiter:innen. Auf den Kundgebungen und an den Straßenecken sprachen sie über die Probleme, vor denen Millionen stehen. Sie luden sie ein, sich der LQM anzuschließen, um gemeinsam gegen Inflation, Kürzungen und das IWF-Paket zu kämpfen und zu erklären, warum nicht nur Gewerkschaften und lokale Aktionskomitees braucht, sondern auch eine eigene Partei der Arbeiter:innenklasse. Eine Partei, die sich in die täglichen Kämpfe einmischt, die Wahlen nutzt, um die unabhängige Stimme der Lohnabhängigen zu erheben, und die ihre gesamte Tätigkeit mit dem Kampf gegen das System verbindet. Die Haltung der Arbeiter:Innen gegenüber dem Aufbau der LQM und ihrer 2022 gestarteten Initiative zum Aufbau einer Partei der Arbeiter:innenklasse ist sehr positiv.

Diese Kampagne ist insofern von Bedeutung, als sie sich nicht nur auf eine für Lohnerhöhungen beschränkt, sondern auch die Fragen der Politik und der Partei der Arbeiter:innenklasse in den Vordergrund rückt, mit denen sie  seit Jahrzehnten konfrontiert ist. In Ermangelung einer nennenswerten politischen Organisation, die unter den Lohnabhängigen verwurzelt ist, waren die Klasse und ihre potenziellen Verbündeten – Kleinbäuer:innen, städtische und ländliche Arme, Student:innen und Unterdrückte – den verschiedenen Parteien der herrschenden Klasse oder des Kleinbürger:innentums politisch untergeordnet. Diese politische Schwäche wird in Zeiten der Krise und intensiver Klassenkämpfe besonders deutlich.

Die LQM hat mit dem Aufbau einer solchen Partei begonnen und kämpft auf der Grundlage eines Programms mit Forderungen der Arbeiter:innenklasse. Sie wehrt sich gegen die gegenwärtige Wirtschaftskrise, in der die Regierung im Rahmen des IWF-Programms der Arbeiter:innenklasse und den Armen in Stadt und Land alle Lasten aufgebürdet hat. Die unterdrückten Nationen, die Frauen und die Studierenden sind hiervon besonders betroffen. Und gleichzeitig wächst der obszöne Reichtum der pakistanischen herrschenden Klasse.

Nach Angaben der Behörde für nationale menschliche Entwicklung schüttet die Regierung jährlich 17,4 Milliarden US-Dollar an die Elite aus. Darunter fallen nicht nur, ja nicht einmal hauptsächlich Boni und Einkommen für hochrangige Beamt:innen. Dazu gehören auch Vergünstigungen und Subventionen für die landbesitzende Elite. Exporthändler:innen und Industrielle erhalten ebenfalls mehr Unterstützung im Namen der nationalen Wirtschaft. Gleichzeitig setzt die Regierung die Masse der Bevölkerung unter Druck und belastet es, für das es schwierig geworden ist, zwei Mahlzeiten am Tag zu bekommen.

Konferenz

Tausende von Arbeiter:innen aus ganz Faisalabad nahmen an der Konferenz vom 18. Juni unter der Schirmherrschaft der LQM teil und hissten mit großen Märschen und Kundgebungen rote Fahnen. Auch eine große Zahl von proletarischen Frauen beteiligte sich an dieser Konferenz. Neben den Lohnabhängigen aus Faisalabad kamen auch Vertreter:innen verschiedener Gewerkschaften, linker Organisationen und Studierendenorganisationen aus dem ganzen Land.

Auf der Konferenz für Rechte der Arbeiter:innen sagten die Redner:innen, es sei klar, dass die Ursache für die bestehende Krise und die Probleme die Prioritäten der herrschenden Klasse seien. Sie benutzen ihren Staat für ihr kapitalistisches System und bieten keine Lösung für die Arbeiter:innen und die Armen. Unter diesen Umständen ist die LQM die einzige Partei, die aus der Arbeiter:innenklasse besteht, die in ihr und bei den Armen verwurzelt ist. Sie sind das Rückgrat des Kampfes, um dieses auf Ausbeutung und Zwang basierende System zu beenden. Aber sie müssen vernetzt, organisiert und politisch geeint werden, um den Kampf der Arbeiter:innenklasse anzuführen.

Der Kampf der LQM, so erklärten die Redner:innen, richtet sich gegen das kapitalistische System, und ihr wichtigstes Kampfziel ist die Schaffung einer Regierung der Arbeiter:innenklasse. Deshalb ist die LQM mit keiner kapitalistischen Partei verbunden, organisatorisch und politisch unabhängig und eine Partei des Klassenkampfes. Und der Redner fuhr fort: „Wir hegen keine Hoffnung in dieses Parlament. Der Zweck der Teilnahme an der Wahl wird sein, den Arbeiter:innenkampf zu verstärken, Themen aus der Arbeitswelt ins Parlament zu bringen und den Kampf außerhalb des Parlaments damit zu verbinden und für die Macht der Arbeiter:innenklasse zu kämpfen“. Die LQM unterscheidet sich auch deshalb von anderen Parteien, weil sie sich auf die Arbeiter:innenklasse stützt und die Mehrheit ihrer Führung aus Arbeiter:innen besteht. Sie sind stolz darauf, dass dies ihre Partei ist – also schließt euch ihr an und organisiert einen gemeinsamen Kampf gegen die Unterdrückung und Ausbeutung dieses Systems!

Forderungen

Auf der Arbeitsrechtskonferenz wurde angekündigt, den Kampf um die folgenden Forderungen auf nationaler Ebene zu organisieren und alle anderen Gewerkschaften und Arbeiter:innenorganisationen aufzurufen, sich dem gemeinsamen Ringen gegen Preiserhöhungen, das IWF-Paket und für die Grundbedürfnisse der Arbeiter:innenklasse anzuschließen.

  • Senkung der Preise für Strom, Gas und Benzin. Mehl, Fett, Hülsenfrüchte, Gemüse und Obst sollten billig gemacht und Preiskontrollausschüsse eingerichtet werden.

  • Der Entwicklungshaushalt sollte durch Besteuerung der Reichen und Kapitalist:innen erhöht werden, damit die grundlegende Infrastruktur aufgebaut werden kann.

  • Die Gehälter sollten im Verhältnis zur Inflation erhöht werden.

  • Das Akkord- und Vertragssystem sollte abgeschafft werden. Das Tagelohnvertragssystem sollte beseitigt und die Arbeiter:innen regulär eingestellt werden.

  • Arbeiter:innen sollten ohne Unterschied des Geschlechts den gleichen Lohn und die gleiche wirtschaftliche und soziale Sicherheit erhalten.

  • Die Umsetzung des Mindestlohns sollte sichergestellt werden.

  • Jede/r Arbeiter:in sollte bei der Sozialversicherung und der Altersrentenanstalt gemeldet sein.

  • Kostenlose und qualitativ hochwertige Bildung und Behandlung sollten bereitgestellt werden.

  • Arbeit und Wohnung sollten garantiert, Arbeitslosengeld sollte allen Arbeitslosen gewährt werden.

  • Es sollten Sozialwohnungen gebaut werden, in denen alle grundlegenden Einrichtungen vorhanden sind.

  • Die gewerkschaftliche Organisierung ist das Recht der Arbeiter:innen und alle diesbezüglichen Beschränkungen sollten aufgehoben werden, die Studierendengewerkschaft wieder operieren dürfen.

  • Es sollten Agrarreformen durchgeführt und den Bauern und Bäuerinnen billiges Saatgut, Dünger, Strom und Wasser zur Verfügung gestellt werden.

  • Das Recht der unterdrückten Nationen auf Selbstbestimmung, ihr Recht auf ihre Ressourcen sollten anerkannt werden.

  • Die Schulden sollten gestrichen werden.

Solche Forderungen können nur durch einen Massenkampf der gesamten Arbeiter:innenbewegung, durch Massenstreiks, Besetzungen und Massenkundgebungen durchgesetzt werden. Und das kann nicht nur durch Absprachen zwischen den Führer:innen der Organisationen entstehen, sondern muss von unten durch Massenkundgebungen, wie wir sie in Faisalabad gesehen haben, durch die Wahl von Aktionskomitees an den Arbeitsplätzen, in den Arbeiter:innenbezirken oder auf dem Lande erfolgen, die sich zu einer nationalen Kampfkoordination zusammenschließen. Eine solche Massenbewegung muss demokratisch, aber auch effektiv sein und sich auf einen Aktionsplan für die Bewegung einigen. Und sie muss auch Organe der Selbstverteidigung schaffen, um sich gegen Provokationen zu schützen.

Sollte sich eine solche Bewegung etablieren und Forderungen durchsetzen, wäre das natürlich nicht das Ende des Kampfes. Die herrschende Klasse und ihr Staat würden nach allen Mitteln suchen, um selbst kleine Erfolge anzugreifen. Der Kampf muss also dauerhaft sein und zu einem revolutionären Ringen um die Macht führen, für die Schaffung einer Regierung der Arbeiter:innen- und Kleinbäuerinnen auf der Grundlage von Arbeiter:innenräten und einer Miliz – einer Regierung, die nicht nur dem Diktat des IWF und der neoliberalen Politik ein Ende setzen würde, sondern auch dem kapitalistischen System, indem sie einen demokratischen Plan aufstellt. Und eine solche Regierung darf sich nicht auf Pakistan beschränken, sie kann und muss zu einem Sammelpunkt für die Ausbreitung der Revolution auf die gesamte Region werden und zu einer Föderation von Arbeiter:innenstaaten führen.




Nach den Rechten schauen – AfD im Aufstieg

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, dann gewänne die Alternative für Deutschland (AfD) den aktuellen Schätzungen zur Folge 19 % der Stimmen. Sie wäre damit zweistärkste Kraft nach der Union. Das sind knapp 9 Zähler mehr im Vergleich zur letzten Bundestagswahl vom September 2021. In Sachsen, Thüringen und Brandenburg wäre sie aktuell stärkste Kraft. In allen Bundesländern hat sie zugelegt, außer in den Stadtstaaten und Niedersachsen. Und das ist bei weitem nicht auf den Osten des Landes beschränkt, wobei sie dort weiterhin deutlich höhere Stimmanteile hält.

So ist der prognostizierte Stimmzuwachs in NRW beispielsweise einer um 8,8 % von 5,4 % auf 14,2 %. In Hessen ist sie laut Prognosen viertstärkste Kraft, aber erhielte 17,4 %. In Sachsen scheint sie am erfolgreichsten mit 32,5 %. Natürlich sind das Umfragezahlen, die immer eine gewisse Abweichung enthalten; natürlich ist das „nur“ eine Momentaufnahme und natürlich ist das nur ein Auszug der Wirklichkeit, aber eines ist es sicherlich nicht: eine Ausnahme. Die Zahlen stellen uns also vor die Aufgabe, mal wieder nach den Rechten zu schauen.

Gründe und Erklärungen

Gründe dafür gibt es zur Genüge. Zwischen Ampel und Union wird die alte Leier aus der Mottenkiste geholt, ob man sich rhetorisch von der AfD abgrenzen oder dieser angleichen sollte. Am 25. Juni wurde Robert Sesselmann im Kreis Sonneberg (Thüringen) zum Landrat gewählt und ist nun das erste AfD-Mitglied in einem leitenden regierenden Amt, wenn auch regional. Am 2. Juli wurde Hannes Loth in Raguhn-Jeßnitz (Landkreis Anhalt-Bitterfeld, Sachsen-Anhalt) zum ersten hauptamtlichen AfD-Bürgermeister gewählt.

Dabei sah es noch vor einem Jahr aus, als hätte sich die Partei bundesweit relativ fest im niedrigen zweistelligen Bereich eingeordnet, trotz ökologischer Krise, trotz Pandemie und trotz Kriegs um die Ukraine. Nun scheint ein Heizungsgesetz der Tropfen gewesen zu sein, der das Fass zum Überlaufen brachte. Aufgrund massiver Einkommensverluste angesichts der Inflation, die vor allem Lohnabhängige und ärmere Zwischenklassen wie kleine Ladenbesitzer:innen oder selbstständige Handwerker:innen trifft, erscheint oder ist das alles nicht mehr leistbar. Steigende Kreditunsicherheit erhöht das Risiko von Verarmung, Verschuldung und Insolvenz. Ein Risiko, das die Sorge in sich trägt,  dass man den bisherigen Lebensstandard oder bescheidenen „Luxus“ zu verlieren droht, sei es das Auto, das Haus, den Jahresurlaub oder Ähnliches. Die Angst vor dem sozialen Abstieg unterhöhlt das Vertrauen in Staat und Demokratie – und befördert die Suche nach einem politischen Ausweg aus der realen oder gefühlten Bedrohung.

Diese angeführten Punkte zeigen auch, dass es Ängste sind, die in viel höherem Maß den ländlichen Raum treffen. Deutschland ist zwar unter den OECD-Ländern eines mit den höchsten Anteilen an Mieter:innen, aber diese sind ungleich verteilt, ähnliches gilt für den Individualverkehr. Private Eigenheime prägen vor allem die ländlichen Regionen. Dort sind die Menschen auf PKWs angewiesen. Diese Regionen werden außerdem oft von wenigen Unternehmen geprägt. Eine strukturelle Krise dieser macht sich schnell als Strukturbruch in der gesamten Region spürbar.

Es ist auch kein Wunder, dass die AfD im Osten stärker ist. Das hat nichts mit einer gegenüber dem Westen stärkeren „antidemokratischen“ Grundhaltung zu tun, wohl aber damit, dass die Mittelschichten und das Kleinbürger:innentum weniger starke Wurzeln in der bundesrepublikanischen Gesellschaft haben als im Westen.

Politische Krise oder Krisenlösung?

In der gegenwärtigen Lage stellt die AfD die einzige große bundesweite und parlamentarische Kraft dar, die (fast) überall dort, wo die Regierung ein Plus macht, ein Minus setzt. Im Gegensatz zu allen Parteien hegt sie keine unmittelbaren Regierungsabsichten. Auch auf Landesebene scheint das kurzfristig unwahrscheinlich, was der AfD erlaubt, sich als „Systemopposition“ zu gerieren. Die AfD ist also die Partei, die der blinden Not der aktuellen Situation Ausdruck verleihen kann.

Doch wäre es weiterhin verkürzt, bei dieser Darstellung als Protestpartei stehenzubleiben. Denn die aktuelle Politik der Ampel stellt eine klare Perspektive zur Orientierung des deutschen Kapitals dar, deutlicher als es die GroKo in den letzten Jahren tat. Umstellung der deutschen Automobilindustrie, Umbau der Wertschöpfungsketten weg von wirtschaftlicher Verflechtung mit dem russischen Imperialismus, Umbau eines Großteils der Heiz- und Energieinfrastruktur. Die Liste könnte verlängert werden, aber sie drückt eines aus: Während für die einen ökonomische Sicherheiten der letzten Jahre einbrechen, sind für andere Sektoren Milliardeninvestitionen erkennbar (bspw. 10 Milliarden Euro Fördersumme für ein Intel-Chipwerk in Magdeburg bei bis zu 3.000 direkten und insgesamt bis zu 10.000 Stellen). Die AfD stellt bei weitem noch keine Alternative für größere Teile der herrschenden Klasse dar, profitiert jedoch von deren Unruhe.

Entscheidend ist jedoch, dass sie die Ablehnung der verschiedenen Regierungsvorhaben mit einem demagogischen, rechtspopulistischen Angriff auf die „Eliten“, das „System“ verknüpft. In Berlin wäre eine gegen die Deutschen gerichtete „Diktatur“ von Grünen, Gutmenschen, Kriegstreiber:innen, Genderwahnsinnigen und Flüchtlingshelfer:innen errichtet worden. Auch wenn die AfD damit immer auch „Protestwähler:innen“ anspricht, so verbindet sich deren „Protest“ zunehmend mit einer weiter nach rechts gehenden Kraft.

Licht und Schatten

In welchem Kontext findet dieser Aufschwung statt? Er kommt nicht von ungefähr, sondern baut auf der politischen Krise, die angestoßen wurde durch die Weltwirtschaftskrise von 2007/08. Die AfD konnte die Kombination aus politischen Niederlagen der Arbeiter:innenbewegung und der zunehmenden Gräben zwischen verschiedenen nationalen Bourgeoisien nutzen, um ein gefährliches Amalgam zwischen einer nationalistischen Orientierung für Teile der herrschenden Klasse und einem wütenden Mob in den Onlineforen, den neuen Stammtischen, bilden.

Die weitere Rechtsentwicklung der AfD drohte in den letzten Jahren, dieses giftige Bündnis zu sprengen, das insgesamt als rechtspopulistisch zu charakterisieren ist. Doch die große Spaltung blieb bislang aus, obwohl ihr mehr oder weniger offen faschistoider Flügel in den letzten Jahren stärker wurde. Die Wahlerfolge und -prognosen werden den Frieden und die Einheit der AfD zumindest zeitweise bewahren. Das rhetorische Nach-rechts-Gehen weiter Teile der CDU und die Orientierungslosigkeit primär von kleineren und mittleren Unternehmen wird die AfD weiter stützen. Wir können und müssen daher davon ausgehen, dass die ökonomische Lage, der Krieg, die Politik der Regierung wie von CDU/CSU der AfD Wähler:innen weiter in die Arme treiben wird.

Einen entscheidenden Faktor spielen dabei auf politischer Ebene die reformistischen Parteien SPD und DIE LINKE, aber auch die Gewerkschaften, die in der Not ihre Rettung im „Bündnis der Demokrat:innen“ suchen. Wie die Erfahrung von Sonneberg zeigt, führt dieses jedoch nicht nur zur politischen Unterordnung unter die offen bürgerlichen Parteien, es erlaubt auch der AfD, sich selbst als einzige wirkliche Alternative zu den Träger:innen des Systems aufzuführen.

Alternative

Doch diese Dynamik erfolgte angesichts von Aussichtslosigkeit. Im letzten Jahre sind Zehntausende den Gewerkschaften in den Tarifrunden beigetreten, beteiligten sich auch daran und kämpften für hohe Abschlüsse. Es zeigten sich teilweise neue und kampfbereite Schichten der Klasse der Lohnabhängigen. Dieses Potential einer kämpferischen Erneuerung der Arbeiter:innenbewegung wird zugleich vom  Ausverkauf durch die Gewerkschaftsbürokratie gebremst und konterkariert – sei es von ver.di im beim Abschluss im öffentlichen Dienst und bei der Post, sei es von einer EVG, die sich anschickt, das bei der Bahn zu wiederholen.

Die Gewerkschaften, genauer deren Führungen, hoffen eigentlich auf eine Rückkehr zu den vermeintlich guten alten Zeiten einer „funktionierenden“ Sozialpartner:innenschaft, geraten dabei aber mehr und mehr unter Druck von Seiten des Kapitals wie auch von einzelnen Teilen der Basis.

Eine gewisse Radikalisierung und Suche nach einer Alternative können wir zweifellos auch bei der Umweltbewegung erkennen.

Doch auf der Ebene der politischen Parteien drückt sich diese Dynamik kaum aus. Das liegt nicht nur am Richtungsstreit der LINKEN, sondern an der strategischen Orientierung aller Flügel der Partei, die der Regierungsbeteiligung im Rahmen der Verwaltung des kapitalistischen Krisensystems nicht grundsätzlich abgeneigt sind. Zur Bundestagswahl 2021 hat die Parteiführung mit ihrem Sofortprogramm deutlich gemacht, dass sie für Rot-Grün-Rot ihre Grundsätze aufgeben würde (bspw. NATO-Austritt). Auch kann sie sich in ihrer historischen Hochburg, Ostdeutschland, schon seit Jahren kaum bewähren. Ihre Kritik am Kurs der Regierung wirkt wie reine Sozialkosmetik (SPD-Forderungen plus 2 Euro), gerade angesichts ihrer Politik in unterschiedlichen Landesregierungen.

Was tun?

Wenn man die AfD wirklich stoppen will, so erfordert dies auch, die Ursachen ihres Wachstums zu verstehen. Wer die reaktionären Antworten der Partei bekämpfen will, muss selbst eine Antwort auf die realen sozialen Probleme in Stadt und Land geben. Nur eine Bewegung, die für die sozialen Interessen der Lohnabhängigen, Krisengebeutelten und Unterdrückten kämpft, kann den Aufstieg der AfD nicht nur zeitweise ausbremsen. Gerade angesichts der drohenden Zunahme weltumspannender Krisen und heißer Kriege zeigt sich die Bedeutung dessen. Die beiden Achsen, in die wir diese Diskussion hineinführen müssen, bilden einerseits die Versuche, die Gewerkschafter:innen und sozialen Bewegungen anzusprechen, die mit den Mitteln des Klassenkampfes gegen die Angriffe der Regierung, des Kapitals und der Rechten angehen wollen. Andererseits geht es darum, eine strategische Diskussion um eine revolutionäre politische und programmatische Alternative zu führen, um so die Grundlagen für eine revolutionäre Partei und Internationale zu legen.




1923 – bedeutendes Jahr nicht nur für Deutschland

Bruno Tesch, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

Die Ereignisse in Deutschland stellten die Weichen für den Sieg von Stalinismus und Faschismus, die Siege der politischen Konterrevolution im Arbeiter:innenstaat UdSSR wie im bürgerlichen Deutschen Reich. Ein Sieg der deutschen Revolution hätte für den Geschichtsverlauf dagegen eine Kehrtwende bedeutet. Gerade deshalb, aber nicht nur für deutsche Kommunist:innen, denn Deutschland war der Schlüssel zur damaligen Weltlage, ist es Pflicht, die Politik von KPD und Komintern in diesem Schicksalsjahr gewissenhaft zu studieren und entsprechende Lehren zu ziehen.

Deutschland Halbkolonie?

Als Kriegsverlierer im 1. imperialistischen Krieg ächzte Deutschland zwar unter den Reparationsleistungen an die Siegermächte der Kriegsentente, konnte aber dennoch auf eine unangetastete weitgehend intakte Wirtschaftsstruktur zurückgreifen. Das Land war in mehreren Sektoren produktiv gut aufgestellt. Die Großbetriebe fußten auf einem soliden Sockel an Klein- und Mittelunternehmen. Es gelang, die industrielle Produktion 1922 bereits auf 80 % des Standes von 1913 zu steigern. Die Entwicklung hin zu einem Preisverfall begünstigte den außenorientieren Handel und die Industrie. Im Bereich der Schwerindustrie beschleunigte sich der Zusammenschluss ehemals kleiner Anbieter:innen zu Großkonzernen. So nutzten Großindustrielle die Vorzüge, spekulativ Schulden mit entwertetem Geld zurückzuzahlen, die Produktionsprozesse zu modernisieren und sich der imperialistischen Konkurrenz gewachsen zu zeigen.

Das Deutsche Reich hatte neben einigen territorialen Verlusten an der Peripherie und dem völligen Wegfall seiner Kolonien zwar ökonomische und militärische Einschränkungen, z. B. Verbot der Rüstungsproduktion, Begrenzung der Sollstärke der Reichswehr, hinzunehmen, dies konnte durch Hinwendung zu zivilen Zielen und Ausbau etwa von Infrastruktur in Reichsbahn (Lokomotiv- und Waggonbau) wettgemacht werden. Ihm wurde auch keine Einschränkung des Kapitalverkehrs auferlegt.

Deutschland war also letztlich ein wenn auch tributpflichtiger und etwas gestutzter Imperialismus, verfügte jedoch weiterhin über teils höheres Wirtschaftspotenzial als seine Kontrahent:innen im Krieg.

Inflation und Lage der Arbeiter:innenklasse

Die deutschen Nachkriegsregierungen sahen sich indes mit Zahlungsforderungen der imperialistischen Konkurrent:innen konfrontiert. Auf diesen Druck reagierten die deutschen Staatsverwaltungen mit Ankurbelungen der Gelddruckmaschinen. Eine nie gekannte Geldentwertung setzte ein.

1922 überstiegen die Ausgaben für Reparationszahlungen bereits die Einnahmen des Reiches (ohne Kreditaufnahme). Um das Haushaltsdefizit auszugleichen, sah der Staat in der Kreditaufnahme bei der Reichsbank und in der weiteren Vermehrung des Geldumlaufs den Ausweg. Der Geldwert sank, zumindest die Inlandsschulden konnten dennoch bezahlt werden. Die Reallöhne der Arbeiter:innen minderten sich von 1921 auf 1922 im Schnitt um ein Drittel. Allerdings lag die Arbeitslosenquote bis weit ins Jahr 1923 erheblich niedriger als in anderen imperialistischen Ländern, im November 1922 bei nur 2 %. 1923 verschlechterten sich auf Grund des zunehmenden Preisauftriebs die Lohnverhältnisse drastisch: der Reallohn im Bergbau sank von 1922 auf 1923 auf rund 70 % des Vorkriegsstands. Auf Grund der Verknappung der Lebensmittelversorgung 1923 war die Arbeiter:innenschaft oft gezwungen, aufs Land zu fahren und sich per Naturaltausch mit Lebensmitteln einzudecken.

Außerdem wurden die Lohnabhängigen steuerlich massiv benachteiligt. Die Lohn- und Einkommensteuer wurde bei dieser Gruppe zeitlich unmittelbar nach der Auszahlung eingezogen. Im Gegensatz dazu konnten Landwirt:innen und Unternehmer:innen ihre Steuerverbindlichkeiten erst später entrichten. Durch die schnelle Entwertung der Mark war es den Selbstständigen also möglich, Steuerforderungen seitens der Finanzämter mit wertloser Mark zurückzuzahlen. Diese Ungleichbehandlung machte sich auch am Anteil der Lohn- und Einkommensteuer am gesamten Steueraufkommen des Reiches bemerkbar. Dieser stieg von 56 % im Haushaltsjahr 1922 auf 93 % im Jahr 1923. Insgesamt nahm aber das reale Steueraufkommen stetig ab, da die Steuererhöhungen bald nicht mehr mit der Geldentwertung Schritt halten konnten.

Neben den Arbeiter:innen mussten auch die Beamt:innenschaft erhebliche Einbußen hinnehmen. Zudem traf die völlige Entwertung der Spareinlagen und Anlagen auf Schuldverschreibungen insbesondere Mittelständer:innen (Beamt:innen, Freiberufler:innen, kleinere Gewerbetreibende). Ebenso brach das Vermögen der gesetzlichen Sozialversicherungen, Krankenkassen, Stiftungen und privaten Versicherungsgesellschaften, das großenteils auf dem ursprünglichen Markwert basierte, zusammen.

Zu den Profiteur:innen der Inflation hingegen gehörten generell die Schulder:innen. Diese konnten sich durch die Entwertung der auf Mark laufenden Darlehen günstig ihrer Verbindlichkeiten entledigen. In erster Linie zählte dazu der Staat. Natürlich konnte sich auch das Großkapital schadlos halten, indem große stahlerzeugende und -verarbeitende Konzerne durch die risikolose Kreditaufnahme während der Inflation Kohlezechen, Erzgruben und Hersteller von Hilfsstoffen oder Maschinenfabriken kauften. So gerieten sie auch in Hinblick auf die kommenden Jahre der Weimarer Republik zu einem nicht mehr zu unterschätzenden politischen Machtfaktor.

Besetzung von Rhein und Ruhr

Die Besetzung an Rhein und Ruhr ist kein barbarischer Überfall aus heiterem Himmel gewesen. Die linksrheinischen deutschen Gebiete (Rheinland-Pfalz und Saarland) wurden nach Kriegsende zunächst von französischen Truppen besetzt, ehe sie nach dem Versailler Vertrag unter gesamtalliierte Kontrolle gestellt wurden.

Ende November 1922 legt die konservative Regierung Poincaré den anderen Allierten einen Plan vor, wonach Maßnahmen zu einer „produktiven Pfändung“ ergriffen werden müssten, falls die neu ins Amt gekommene deutsche Regierung Cuno ihre Ankündigung wahrmachen werde, das Deutsche Reich zwecks Sanierung seiner Finanzen

auf drei bis vier Jahre von allen sich aus dem Versailler Vertrag ergebenden Bar- und Sachleistungen zu befreien.

Der Poincaré-Plan sah vor:

  • Eine vollständige Beschlagnahme der Rheinlande, die Frankreich besetzt hält, sie könnte v. a. in der Ersetzung von deutschen durch französische Beamt:innen zum Ausdruck kommen.

  • Besetzung von zwei Dritteln des Ruhrgebietes einschließlich Essens und Bochums, so dass die an Frankreich vom Deutschen Reich zu liefernden Kohlen und der für die französische Industrie erforderliche Hüttenkoks gesichert seien.

Am 11. Januar 1923 rückten französische und belgische Truppen in das bis dahin noch unbesetzte Ruhrgebiet ein. Neben dem Eingriff in die Verwaltung, u. a. teilweise Ersetzung der deutschen Polizei als Ordnungsfaktor, wurde der Abtransport der Reparationen, v. a. von Kohle durch die militärische Präsenz und hartes Vorgehen gegen Widerstand durchgedrückt.

Passiver Widerstand

Die deutsche konservative Regierung unter Wilhelm Cuno (parteilos), die seit November 1922 das Amt von einer liberal-sozialdemokratischen Koalition übernommen hatte, rief zu einem passiven Widerstand auf, dem einzig die Reichstagsfraktion der KPD nicht zustimmte (12 von insgesamt 296 Mandatsträger:innen).

Dieser Anlass war, so sehr er auch die eigene Wirtschaft bedrückte, politisch für die deutsche Bourgeoisie nicht unwillkommen. So konnte sie die nationale Einheit, die Bedrohung durch den äußeren Feind beschwören, dem die Verantwortung für die Verschlechterung der Lage und die zunehmende Teuerung zugeschoben werden konnte.

Die Arbeiter:innenklasse beteiligte sich tatsächlich mit zahlreichen Arbeitsniederlegungen an dem Widerstandsaufruf, beschränkt jedoch zumeist auf die okkupierten Territorien.

Nationale Selbstbestimmung?

Die Okkupation stellte auch die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) vor ideologische und praktische Probleme, die exemplarisch ihren Zustand beleuchteten.

Die Stationierung einer Besatzungsmacht im Verein mit dem Versailler Vertrag leistete nationalistischen Kräften Vorschub, die Deutschland als von fremden Mächten unterdrückte Nation ansahen.

Zu Beginn gab es noch einen hoffnungsvollen revolutionär-internationalistischen Ansatz in Form einer gemeinsamen Konferenz mit Vertreter:innen der KP Frankreichs, die bereits vor der Ruhrbesetzung am 7.1.1923 in Essen stattfand und auf der eine Zusammenarbeit z. B. mit antimilitaristischer Propaganda beschlossen wurde. Im März 1923 folgte eine Zusammenkunft in Frankfurt/Main, die zusätzlich von linksreformistischen und zentristischen Kräften beschickt war und die selbständige Klassenpolitik nach außen wie nach innen als Losung ausgab. Die KPD vernachlässigte jedoch bald den Kampf gegen die eigene Regierung.

Stattdessen revidierte die Partei die Auffassung, dass der deutsche Kapitalismus durch Kriegsniederlage und den Versailler Vertrag seinen imperialistischen Charakter nicht eingebüßt hatte, vertrat nun Thesen zum Status Deutschlands als Halbkolonie und eine Einschätzung, die die Niederlage des französischen Imperialismus als „kommunistisches Ziel“ in einer Veröffentlichung des Mitglieds der Parteiführung, Thalheimer, erklärte. Das deutsche Proletariat müsse nunmehr die Führung in einem gerechten, nationalen Befreiungskampf gegen die Unterdrückung durch den französischen Imperialismus übernehmen. Der deutschen Bourgeoisie wurde eine objektiv revolutionäre Rolle „wider Willen“ angedichtet. Diese Wendung geht einher mit dem Versuch der Gewinnung von reaktionären Kreisen, die im Widerstand gegen die Okkupation aktiv waren, was sich im Verständnis für nationalistische Anschläge ausdrückte (Radeks Schlageterrede) bis hin zur antisemitischen Anbiederung an völkische Kräfte (Ruth Fischer). Die KPD begab sich damit in gefährliches Fahrwasser reaktionärer Ideologie, die Deutschland als. in ‚Zinsknechtschaft‘ ausländischer Mächte schmachtendes und unterdrücktes Land mystifizierte. Nationalbolschewistischen Tendenzen wurde eine Kolumne in der Parteizeitung Rote Fahne zugestanden.

Zustand der KPD

Die Kommunistische Partei Deutschlands war nach 1920 schlagartig zu einer Massenpartei durch Vereinigung mit einem Großteil der zentristischen Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands angewachsen, verstrickte sich in militärische Auseinandersetzungen (Märzaufstand). Darauf folgten Behinderung und teilweise Illegalisierung der Parteiarbeit. Diskussionen über die Kursbestimmung brachten jedoch keine klare Linie in ihre Politik. Die Partei befand sich nach wie vor in einem instabilen Zustand. Dies drückte sich auch im Austausch von Führungen aus.

Die KPD wirkte durch die ständigen Herausforderungen, die die instabile Lage in Deutschland mit sich brachte, überfordert. So war sie auf ihrem Leipziger Parteitag (28.1. – 1.2.1923) in Debatten über die Generallinie verstrickt, wo es sich um Auslegung von Einheitsfront bzw. Arbeiter:innenregierung als Taktik drehte. So elementar auch Versuche waren, Klärungen in diesen Fragen herbeiführen zu wollen, hätte die Partei sich nicht mit der Ablehnung des Regierungsaufrufs begnügen dürfen, sondern frühzeitig die Gelegenheit ergreifen müssen, die Situation der Ruhrbesetzung im Interesse der Arbeiter:innenklasse offensiv zu nutzen.

Der linke Flügel, der im Ruhrgebiet eine seiner Hochburgen besaß, verwies auf diese Notwendigkeit, erhob Forderungen nach proletarischen Produktionskontrollen und Warenverteilung sowie die Übernahme von Betrieben in Bergbau und Schwerindustrie. Das teilweise Machtvakuum durch Zersetzung der deutschen Verwaltungen im Ruhrgebiet schien nutzbar, um auch politische Stellungen der Arbeiter:innenklasse ausbauen zu können. Doch in ihrem Eifer schossen die Genoss:innen abenteuerlich übers Ziel hinaus, weil sie einem militärischen Aufstand und davon ausgehenden Fanal für die restliche Republik Erfolgsaussichten einräumten.

Eine Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg hätte den Blickwinkel für Klassensolidarität aus nationaler Enge weiten und die Aktionsfähigkeit für den Widerstand gegen beide Imperialismen stärken können. Reparationsforderungen und Versailler Vertrag drängten auf eine revolutionär-internationalistische, proletarische Antwort: Gesamteuropäischer Aufbauplan zur Beseitigung der Kriegszerstörungen als Konkretisierung der Forderung nach Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas!

Differenzen

Die anfangs zögerliche Haltung der KP-Führung im Ruhrkonflikt rührte von katastrophalen Erfahrungen mit militärischen Abenteuern wie dem Märzaufstand her, in die sich die Partei nicht wieder stürzen wollte. Sie verfolgte die Linie eines allmählichen Kräfteaufbaus und Stärkung der Kampfkraft der gesamten Arbeiter:innenbewegung.

Als zentrales Mittel nahm sie die Einheitsfronttaktik wahr, verknüpfte sie auch mit der Frage einer Arbeiter:innenregierung. Dabei traten gravierende Unstimmigkeiten in der Partei zu Tage. Die Führung setzte sich für eine umfassende Taktik ein, um auf die reformistisch beeinflussten Massenorganisationen SPD und Gewerkschaften einwirken zu können, während die Opposition nur ein Zusammengehen mit Anhänger:innen der SPD an der Basis akzeptierte, wobei sie bei Aktionen ultimativ die Führungsrolle beanspruchte. Eine Unterstützung einer SPD-geführten Regierung lehnte sie ab. Die Mehrheitssozialdemokrat:innen gehörten für den Oppositionsflügel zum linken Rand der Bourgeoisie.

Auf dem Leipziger Parteitag war eine Charakterisierung der Arbeiter:innenregierung als Kompromissformel angenommen worden, die sich deutlich von den Leitsätzen der Kommunistischen Internationale auf dem IV. Weltkongress 1922 unterschied: „Sie ist ein Versuch der Arbeiter:innenklasse, im Rahmen und vorerst mit den Mitteln der bürgerlichen Demokratie, gestützt auf proletarische Organe und proletarische Massenbewegungen Arbeiter:innenpolitik zu betreiben.“ Diese Formel kittete jedoch die Differenzen nicht, sondern übertünchte sie nur.

Kurswechsel

Die ausbleibende Ausweitung von Protesten gegen die Ruhrbesetzung auf das übrige Deutschland schien der Einschätzung der KP-Führung anfänglich noch recht zu geben. Doch die unversöhnlich harte Haltung Frankreichs, dessen gewalttätige Besatzung einen Blutzoll forderte, sowie die schlechte Versorgungslage für die Bevölkerung ließen Streiks und Hungerunruhen immer wieder aufflammen.

Noch im Mai lehnte die KPD-Zentrale einen Machtkampf im Ruhrgebiet als nur dem Klassenfeind im In- und Ausland dienlich ab. Die wirtschaftliche Einschnürung durch die sprunghafte Preisspirale hielt ab Hochsommer das gesamte Land im Griff und ließ die Stimmung gären. Die SPD entzog nun der Cuno-Regierung die Unterstützung. Die Unruhe wuchs auch in den Parteigliederungen der KPD. So musste sich die Führung schließlich zu einer einschneidenden Kurskorrektur bequemen und bereitete sich auf einen Generalstreik gegen die bürgerliche Regierung vor.

Antifaschistischer Tag

Erste Station einer sichtbaren Initiative der Partei sollte der am 11.7. von der Parteiführung beschlossene „Antifaschistische Tag“ am 29.7. mit großem Aufgebot für eine zentrale Demonstration sein. Er sollte zugleich ein Zeichen sowohl gegen die Regierung wie auch reaktionär-nationalistische Kräfte setzen, die die Krise für ihre Zwecke nutzen wollten. Schwirrende Bürgerkriegs- und Putschgerüchte von rechts und links hatten die Regierungsstellen aufgeschreckt. Die Behörden ordneten für diesen Tag ein Verbot jeglicher Aufmärsche an. Die KP-Führung sagte daraufhin die Demonstration ab.

Diese Entscheidung empörte die Parteiopposition, was sich auf der folgenden Sitzung des Zentralkomitees in einem Disput über die Parteilinie entlud. Sie machte geltend, dass den Massen unbedingt ein Signal hätte gegeben werden müssen, um die Machtfrage unter Führung der KPD zu stellen. Die Leitung bestand wiederum darauf, dass der Augenblick zur Errichtung einer proletarischen Diktatur erst gekommen sei, wenn die Masse der sozialdemokratischen Arbeiter:innen gewonnen werden könne. Die bürgerliche Herrschaft würde selbst zur gegebenen Zeit zusammenbrechen.

In der Schlusserklärung einigte man sich auf die Notwendigkeit, die derzeitige Regierung so bald wie möglich zu Fall zu bringen und eine „Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierumg“ zu fordern. Doch der Zwist innerhalb der Partei war abermals nicht beigelegt.

Streik gegen die Regierung

Da die Ausstände auf Fabrikebene und Zusammenstöße mit der Ordnungsmacht zugenommen und auf das gesamte Deutsche Reich seit Juni übergegriffen hatten und sich zunehmend auch gegen die Finanz- und Wirtschaftspolitik der Reichsregierung wandten, gab die KP-Führung dem Drängen der linken Basis aus dem Betriebsrätemilieu nach und sah sich veranlasst, das Kampfmittel des Generalstreiks anzuwenden.

Die Vorzeichen standen nicht ungünstig, denn die KPD hatte seit Ende 1922 dank gezielter Einheitsfrontarbeit nicht nur ihre Mitgliederzahl vergrößern, sondern auch ihr organisatorisches Umfeld bis tief in mehrheitssozialdemokratische Arbeiter:innenkreise ausdehnen können. Bei ihrer Heerschau musterte die KPD im Juli 1923 allein 4.000 kommunistische Gewerkschaftsfraktionen. Bei den Betriebsräten im Metallarbeiter:innenverband Berlin-Brandenburg belief sich das Überzahlverhältnis der KPD- zur SPD-Angehörigkeit sogar auf etwa 2:1.

Die KPD-Betriebsräte hatten im Verein mit linken Sozialdemokrat:innen rasch den „Fünfzehnerausschuss“ als Verbindung zwischen den Fabrikausschüssen der Hauptstadt formiert. Dieser rief zum Generalstreik auf. Das Berliner Gewerkschaftskartell trat zusammen, beschloss jedoch unter dem Einfluss der rechten SPD-Führung, sich dem Streik nicht anzuschließen. Er wurde dennoch ausgerufen, begann aber merkwürdigerweise am 11.8., einem Sonnabendabend. Jedoch die Eisenbahner:innen befolgten den Streikaufruf nicht. Die Streikfront bröckelte im Laufe des Montag. Die KP-Zentrale entschied sich daher zum Abbruch der Aktion.

Entscheidend für das Scheitern dieses Streikversuchs war auch, dass die Bourgeoisie mittlerweile sehr wendig gehandelt hatte. Sie sah, dass die alte Regierung nicht mehr zu halten war. Diese demissionierte am 12.8. Einen Tag später schon stand eine neue unter Stresemann (liberal-konservative Deutsche Volkspartei). Dem Klassenfeind in den Steigbügel half erneut die MSPD und beteiligte sich auch an dem neuen Kabinett. Die Aufgabe des passiven Widerstands und ein radikaler Währungsschnitt als Lösung der Hyperinflation wurden vorbereitet.

Die Haltung der Kommunistischen Internationale

Diese versuchte, in den Streitigkeiten zwischen den beiden Flügeln zu vermitteln, und stand anfangs eher auf Seiten der KPD-Führung. Deren Politik der Arbeiter:inneneinheitsfront trug bereits 1922 Früchte und schien verlässlicher als der oft sprunghafte Voluntarismus der Opposition. Zwar war in der KI die Anschauung verankert, dass Deutschland die zentrale Rolle als Zündfunke für die sozialistische Weltrevolution einnehmen sollte, und sie hatte ihrer internationalistischen Verantwortung bewusst entsprechend gehandelt und Verbindungen zu der französischen Sektion aufgenommen, doch diese Arbeit nach der Frankfurter Konferenz nicht mit der Entsendung von Material, Personal und Ausgabe politischer Direktiven energisch fortgesetzt. Sie wurde erst im Zusammenhang mit Aufstandsplänen für Oktober 1923 wieder aufgegriffen. Die Dimension der Ruhrbesetzung wurde tendenziell unterschätzt.

In der KI selbst zeichnete sich jedoch eine Uneinigkeit über den Kurs ab. Sinowjew und Bucharin teilten ein halbes Jahr später ab Sommer 1923 im Wesentlichen die Einschätzung des Fischer/Maslow-Flügels und drängten in einer abrupten Wendung auf eine proletarische Erhebung. Sie ließen sich anscheinend von einem überzeichneten Bild der Verhältnisse leiten. Es herrschte die Einschätzung vor, dass in Deutschland die Bourgeoisie bankrott wäre und sich die Lage in Arbeiter:innen- und aufkommende faschistische Massenbewegung polarisierte, die Situation auf einen Bürgerkrieg zusteuerte. Der objektiv revolutionären Lage fehlte jedoch die subjektive Reife.

Der Verlauf des Generalstreikversuchs im August hätte eine Warnung sein müssen.

Hoernle, neben Zetkin deutsches Mitglied im Exekutivkomitee der KI, kritisierte in einem Brief an Brandler vom 3 .7.1923 die in der KI-Führung bereits im Schwange befindlichen Gedanken an einen Aufstand und merkte an, dass die Betriebshundertschaften in Deutschland zunächst noch „nicht Organ des bewaffneten Kampfes und als bewaffnete Macht noch kaum aktionsfähig“ sein würden.

Die KI-Führung hätte zum einem die Brandler-Führung, die zu behäbig darauf zu warten schien, dass die Bourgeoisie von allein zusammenbrechen würde, auf Trab bringen, und andererseits dem zumeist dilettantisch vorschnellen Aktionismus der KP-Opposition die Zügel anlegen müssen. Ein international koordiniertes Eingreifen mit einer straff strukturierten Vorbereitung hätte bereits mit Beginn der Ruhrbesetzung einsetzen und kontinuierlich fortgeführt werden müssen. Dies und ein klares politisches Programm, das die nationalbolschewistischen Flausen und sektiererischen Irrwege hätte austreiben müssen, hätten die Erfolgsaussichten auf eine siegreiche Revolution in Deutschland und darüber hinaus sicherlich erhöht.

Das Interview zwischen Trotzki und Walcher (17. – 20. August 1933) bringt die Politik von KPD und KI zwischen Jahresbeginn und Oktober 1923 ähnlich auf den Punkt: „Zum Punkt 1923 fuhr Gen. L. T. fort zu bekräftigen, dass zu dieser Zeit, hervorgerufen durch eine schlechte Politik, große objektive Möglichkeiten für den revolutionären Kampf vermasselt worden sind. Aber er denke überhaupt nicht, dass der entscheidende Fehler im Oktober zur Zeit der Chemnitzer Konferenz begangen worden sei. Er hat daran erinnert, er habe schon 1924 die Situation des Jahres 1923 mit der eines Reiters verglichen, der sein Pferd vor einem aufgetürmten Hindernis zu sehr am Zügel gehalten habe und dem folglich nur zwei Möglichkeiten blieben: entweder vor dem Hindernis zurückzuweichen oder trotzdem den Sprung zu wagen, der nur nach gewaltigem Anlauf erfolgreich hätte sein können, und sich infolgedessen den Hals zu brechen. Die KPD, kraft der falschen Politik ihres Zentralkomitees und auch zweifellos der Exekutive der Kommunistischen Internationale, war genau in die Lage dieses Reiters versetzt.“




Wahlen in der Türkei: Mücadeleye devam – Wir kämpfen weiter

Dilara Lorin, Neue Internationale 274, Juni 2023

In den letzten Monaten, vor allem, aber in den letzten Wochen war das Land politisiert und die Spannungen innerhalb der Bevölkerung wurden immer größer. Dies hat verschiedene Ursachen. Das verheerende Erbeben vom 6. Februar, welches mehr als 50 000 Menschen das Leben kostete, aber auch die Korruption und Vetternwirtschaft der Regierung aufzeigte; die Inflationsrate, die Oktober 2022 ganze 80 % erreichtet; die immer prekärer werdende Lage der Arbeiter:innenklasse, auch eine zumeist tief rassistisch geführte Debatte über die Lage und Rolle von Millionen Flüchtlingen und der Kurd:innen.

Dennoch konnte Erdogan die Präsidentschaftswahlen im zweiten Wahlgang für sich entscheiden. Zweifellos kam ihm dabei das Monopol über die staatlichen Medien wie das Fernsehen, die Kontrolle des Staatsapparates, Repression und Entschücherung der Opposition, vor allem der kurdischen HDP, die vom Verbot bedroht sind und von der hunderte Mitglieder in den Gefängnissen sitzen zugute. Aber sein Gegenkandidat, der kemalistische türkische Nationalist Kılıçdaroğlu versprach selbst eine reaktionäre, kapitalistische und rassistische Politik, die keine Alternative zu Erdogan dargestellt hätte.

Zwei Lager, aber zwei reaktionäre Lager

Zweifellos hat die Wahl die Menschen in zwei Lager gespalten, die einen, die Erdogan weiterhin unterstützen, die anderen, die sich für Kılıçdaroğlu aussprachen, weil sie diesen als Alternative zum bonapartistischen Regime Erdoğan ansahen. Dass dies jedoch eine Wahl zwischen Pest und Cholera war und Kılıçdaroğlu keine Alternative für die Arbeiter:innen, Kurd:innen, Geflüchteten und weitere Unterdrückte darstellen kann, wurde in den letzen zwei Wochen immer deutlicher.

Im ersten Wahlgang war neben den beiden Kandidaten trat noch ein dritter angetreten: Sinan Oğan, ein Rechter, der wegen nationalistischen und rassistischen, wegen sexistischen und frauenfeindlichen Äußerungen bekannt wurde, erhielt 5 %. In der Stichwahl versuchte er sich als „Königsmacher“ zu inszenieren. Jedenfalls buhlten beide Kandidaten um seine Stimmen. Auch deshalb waren die vergangen zwei Wochen geprägt von rassistischen Äußerungen und vor allem Kılıçdaroğlu fokussierte seine Wahlpropaganda darauf, innerhalb von 2 Jahren bis zu 2 Millionen Geflüchtete zu deportieren. Zugleich verlor er kaum ein Wort zur Inflation und die kapitalistische Wirtschaftspolitik Erdogans. Vielmehr würden die Geflüchteten Arbeitsplätze „klauen“ und nur deshalb ginge es der Arbeiter:innenklasse so schlecht.

Die rassistischen Äußerungen Kemal Kılıçdaroğlu erinnern an NPD und AfD. Dass dabei Erdogan keine bessere Position vertritt, ist klar. Er benutzt die Geflüchteten als Spielball gegenüber der EU. Große Teile des Geldes, welches im Zuge des reaktionären Flüchtlingsdeals in die Türkei gelangt, erreichen gar nicht erst die Lager und die Betroffenen und letztlich verfolgt auch Erdogan das Ziel, viele wieder zurückzuschicken. Jedoch behauptet er, dies erst zu tun, wenn die dafür notwendigen Bedingungen geschaffen sein würden würden. Dass bedeutet, dass Assad als Diktator wieder anerkannt wird und auch die Beziehungen nach Syrien wieder normalisiert werden – und das auf den Rücken nicht nur der Geflüchteten, sondern vor allem der Kurd:innen in Rojava. 

Parlamentswahlen

Gewonnen hat in den Parlamentswahlen letztlich wieder die AKP, welche  bei den Wahlen zur 600 Abgeordnete umfassenden großen Nationalversammlung 35,61% für sich gewinnen konnte. Dabei hat die AKP aber im Vergleich zu den Wahlen 2018 6,95% der Stimmen eingebüßt. Diese Zahlen verdeutlichen auch, dass die AKP nicht mehr jene Zustimmung in der Bevölkerung erhält wie es früher einmal der Fall war. Auch ihre Basis bröckelt, viele Anhänger:innen stehen nicht mehr hinter der Partei. Nichtsdestotrotz kann sie mit dem Wahlbündnis „Volksallianz“, mit welchen sie auch zur Wahl angetreten ist, insgesamt 49,47 % erhalten. Die AKP tritt dabei im Bündnis mit der faschistischen MHP an. Von den 318 Sitzen der Volksallianz hält die MHP immerhin 50 Sitzen.

Die CHP, welche von vielen als die Alternative zur AKP angesehen wird, kam in den Parlamentswahlen auf 25,33 % und trat ebenfalls in einem Wahlbündnis mit 5 weiteren Parteien auf, dem „Bündnis der Nation“. Dabei koaliert unter anderem mit der IYI Partei, welche islamisch, konservativ und rechts einzuordnen ist. Das „Bündnis der Nation“, das in den Medien auch „Sechsertisch“ genannt wird, kommt auf insgesamt 213 Sitze.

Dass dieses Wahlbündnis kein Interesse daran hat, wirklich demokratische Zustände in der Türkei wieder durchzusetzen, eine Verbesserung für die Arbeiter:innenklasse herbeizuführen oder für die Rechte von den unterdrückten Minderheiten einzutreten, zeigt schon der bürgerliche Charakter der CHP, deren historische Verrat an der Arbeiter:innenklasse, aber auch die Position zu den Kurd:innen  und Geflüchteten ist extrem reaktionär. 

Ergebnis von HDP und YSP

Die links-kleinbürgerliche HDP, welche für die Rechte von Frauen, LGBTI, Kurd:innen und Geflüchteten kämpft, fuhr das schlechteste Ergebnis bei den Parlamentswahlen seit ihrer Gründung ein. Sie trat aufgrund aufgrund der möglichen Illegalisierung unter dem Namen der Yeşil Sol Partei (YSP) an. Die YSP kam lediglich auf 8,82 %. Somit büßt die HPD 2,68% der Stimmen im Vergleich zu den Wahlen im Jahr 2018 ein. Mit dem Wahlbündnis „Arbeit und Freiheit“ traten im Rahmen der YSP 5 weiteren kleinere linke Parteien zu den Wahlen an, da runter die bekannteste, neu gegründete TİP (Arbeiterpartei der Türkei), welche 1,73 % mit ihren eigenen Listen erlangte, denn im Wahlbündnis selbst konnten alle Parteien auch mit ihren eigenen Namen und Listen antreten.

Dass die YSP in diesem Wahlgang an Stimmen verloren hat, zeugt auch von ihren taktischen Fehlern, welche sie schon vor der Wahl entschieden: kein gemeinsames Auftreten einer/s eigenen Präsidentschaftskandidat:in und damit die offene oder indirekte Unterstützung des CHP Kandidaten Kılıçdaroğlu und der fälschliche Glaube, man müsse sich nur auf einige Sitze im Parlament, sowie Bürgermeister und andere Posten fokussieren. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass der Wahlkampf des Bündnis für Arbeit und Freiheit unter massiver Repression stattfand, darunter der Inhaftierung sowie Einschüchterung von vielen Aktivist:innen und Wahlhelfer:innen.

Und die Kurd:innen?

Diese haben in dieser Wahl komplett verloren. Dadurch dass es keinen Präsidentschaftskandidaten von der YSP gab, konnten sie ihren Forderungen kaum öffentliches Gewicht und kein Gehör verschaffen. Dabei ist für die CHP ohnedies klar: Kurd:innen sollen allenfalls als Stimmvieh fungieren, ansonsten setzt man auf Nationalismus und Chauvinismus. So positionierte sich die CHP 2015 gegen Friedensverhandlungen und kritisierte Erdogan und die AKP von rechts. Sie unterstützte viele Angriffe der Türkei auf Rojava.

Dadurch dass die YSP und etliche revolutionäre und kommunistische Gruppen dazu aufriefen, den Präsidentschaftskandidaten der CHP zu unterstützen, verschwand die Masse der kurdischen Stimmen in denen der reaktionären, nationalistischen und bürgerlichen Masse der CHP. Die Politik des kleineren Übels ist jedoch nicht aufgegangen: Erdoğan gewinnt die Wahl am 28.5. und beginnt seine dritte Amtszeit als Präsident. Die stärkte das nationalistische Bewusstsein der AKP-Unterstützer:innen, welches sich jetzt nochmal bestätigt fühlen. Und schon in seiner ersten Ansprache als neuer Präsident hetzt Erdogan gegen den inhaftierten HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und spricht vom Großtürkischen Reich, welches er in dieser Amtsperiode weiter forcieren möchte.

In seine ersten Ansprach nach den Wahlen gibt sich Kılıçdaroğlu als „wahrer Demokrat“, hinter den vor allem Frauen und Jugendlichen zu stehen scheinen, um gleich in den nächsten Sätzen seine rassistische Haltung gegenüber den Geflüchteten noch einmal zu bekräftigen. So äußert er sich gleich am Anfang seiner Rede rassistisch und verkündet: „Als Millionen Geflüchtete kamen und ihr zum Volk zweiter Klasse wurdet, konnte ich nicht dazu schweigen“. Von den Kurd:innen war keine Rede mehr, es schien so, als seine sie vergessen, unwichtig oder nicht der Rede wert. Dabei waren es Städte vor allem die Städte aus der kurdischen Region, in denen oftmals mit einer überwältigenden Mehrheit Kılıçdaroğlu gewählt wurde. 

Kaybettik (Wir haben verloren)  oder Mücadeleye devam (Wir kämpfen weiter)?

Während viele am 28. Mai mit Türkei-Fahnen, den Wolfs- oder Rabiagrüßen den Sieg Erdoğans feierten, war ein anderer Teil der Bevölkerung niedergeschlagen. Es wurde seitens liberaler und bürgerlicher Kräfte, aber auch großer Teil der Linken für einen möglichen Sieg der „Demokratie“ unter Kılıçdaroğlu geworben. Für eine gewisse Zeit hinterließ diese bei vielen den Eindruck, dass „bessere Zeiten“ bevorstände: Erdoğan und die AKP hätten ausgesorgt, sie würden gehen. An ihre Stellt würden besser Zeiten mit mehr demokratischer Mitbestimmung, mehr Rechten für das Parlament, einer stärkeren Wirtschaft folgen.

Auch wenn es vollkommen nachvollziehbar ist, dass man sich nach besseren Zeiten sehnt, man das autoritäre Regime satt hat, so war die CHP nie eine Alternative. Denn eine bürgerlich, nationalistische Partei, welche weiterhin im Sinne der Kapitalist:innenklasse agiert, hat nicht das Interesse daran, wirkliche Verbesserungen durchzusetzen. Und alleine die weltweite wirtschaftliche Lage und tiefe ökonomische Krise in der Türkei (Inflation, Verfall der Währung) hätten gar nicht erst die Möglichkeit unter Kılıçdaroğlu geben, Reformen durchzuführen. Vielmehr hätte auch seine Regierung die Arbeiter:innenklasse massiv angegriffen, um die Profitwirtschaft wieder flott zu machen.

Wir dürfen daher auch jetzt nicht dem Modus des Verlorenen – kaybettik – verfallen, sondern unser Motto muss lauten: „Mücadelemis devam etmeli“ – Unser Kampf muss weiter gehen! Denn was notwendig gewesen wäre, und was weiterhin notwendig ist, ist die stark politisierte Lage in der Türkei zu nutzen, um die Arbeiter:innen und Unterdrückten jetzt für ihre Interessen zu mobilisieren, für den Abbau einer Massenbewegung gegen die Krise, gegen den Rassismus, gegen das Regime. Die Wahlbeteiligung lag zwar bei über 80%, aber kaum eine Organisation hat einen dritten Weg der Organisierung und Mobilisierung aufgezeigt, obwohl es die Situation dies erfordert.

Es ist notwendig, dass die türkische Linke jetzt in einer Einheitsfront tritt, in welcher sie alle kämpferischen und fortschrittlichen Teile der Gesellschaft vereint, und versucht, die Gewerkschaften, die linken Parteien, die Kurd:innen, die Umwelt- und Frauenbewegung gemeinsam zu mobilisieren. Wir brauchen Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen und einer gleitenden Skala Löhne, nach Enteignung der Großunternehmen und Banken unter Arbeiter:innenkontrolle. Nur so kann die Inflation und die damit einhergehende Wirtschaftskrise bekämpft werden.

Dafür müssen die Gewerkschaften in der Türkei anfangen ihre Mitgliedschaft und ihren Organisationsgrad auszuweiten, Aktionskomitees in Betrieben und Stadtteilen aufzubauen, um so zu Massenorganen der Arbeiter:innen zu werden. Revolutionär:innen müssen für ein  Aktionsprogramm der Arbeiter:innenklasse eintreten, das die Rechte und Forderungen aller unterdrücken Minderheiten, allen voran der Kurd:innen und Araber:innen und aller Geflüchteten vertritt! Eine solche Einheitsfront muss sich auf Massenversammlungen und Aktionskomitees in den Betrieben und Stadtteilen stützen sowie auf Selbstverteidigungseinheit gegen die Repression.

Es ist eine große Aufgabe, aber das Regime kann nicht durch einen weiteren nationalistischen und bürgerlichen Kandidaten gestürzt werden, sondern nur von der Arbeiter:innenklasse und den Unterdrückten selbst – und dazu ist der Aufbau einer neuen, revolutionären Arbeiter:innenpartei nötig, die unabhängig von allen Flügeln der herrschenden Klasse agiert.