Vierte Welle der Pandemie: Und täglich grüßt das Murmeltier

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 258, September 2021

Die vierte Welle der Pandemie hat längst begonnen. Ende August 2021, zum Zeitpunkt der Drucklegung, befinden wir uns in einer Phase des langsamen exponentiellen Anstiegs. Am 26. August wurden 12.626 Infektionsfälle neu gemeldet, die 7-Tage-Inzidenz lag bei 66, am 28. August bereits bei 74. Seit Ausbruch des Corona-Virus sind mittlerweile weltweit 214 Millionen Menschen infiziert worden und 4,47 Millionen gestorben – und das sind nur die gesicherten, offiziellen Zahlen.

Und doch: Täglich grüßt das Murmeltier. Waren wir hier nicht schon? Hatten wir nicht bereits im vergangenen Jahr einen „Supersommer“, um dann verwundert in die nächste Welle des Pandemiegeschehens zu geraten? Und aus Perspektive des Autoren: Habe ich nicht schon beim letzten Artikel dazu die Sorge gehabt, dass er zum Zeitpunkt seines Abdrucks veraltet wirken könnte, die Zahlen weit schlechter sind als noch zum Zeitpunkt des Verfassens, noch weit mehr Menschen an den Folgen der Pandemie leiden, erkranken oder gar sterben?

Internationale Lage

Aber hier stehen, sitzen, liegen wir nun und die Pandemie bleibt weiterhin eine der brennenden Fragen der internationalen Krise. Dabei verfügen wir – anders als im Sommer 2020 – über wirksame Impfstoffe, wäre eine gezielte und koordinierte Politik zur Bekämpfung der Pandemie weitaus effektiver möglich. Doch während die reichen, imperialistischen Staaten einen Teil der Bevölkerung geimpft haben, mangelt es daran in den ärmsten Regionen der Welt, in den Ländern des globalen Südens – eine Folge der kapitalistischen Weltordnung, der Monopolisierung von Forschung, Entwicklung bei den großen Konzernen in den imperialistischen Staaten. Riesige Profite gehen offenkundig vor Gesundheitsschutz. Die vierte Welle der Pandemie ist noch direkter und unmittelbarer als die anderen gesellschaftlich verschärft und verursacht.

Die Debatten und Maßnahmen gegen die Pandemie verdeutlichen, dass wir immer wieder in eine Sackgasse geraten, solange wir einem bürgerlichen Klassenstaat die Festlegung und Kontrolle über die Maßnahmen überlassen.

Mit einer Impfkampagne die vierte Welle brechen?

Die Bundesregierung agiert als sogenanntes „One-Trick Pony“, als Pferd, das nur einen Trick draufhat. Doch die Pandemie lässt sich nicht nur durch eine Maßnahme, nicht nur durch das ständige Beschwören einer Impfkampagne stoppen.

Genau das macht aber die Bundesregierung, während wir eine ganze Palette von Maßnahmen bräuchten, um neben dem Impfen die Pandemie international einzudämmen. Maßnahmen wären: Testung, Quarantäne, Impfung, Masken, Abstand, eine Corona-Ampel, die regionale Maßnahmen festlegt, ArbeiterInnenkontrolle über alle Lebensbereiche, also auch die Arbeitswelt und vieles mehr.

Dahinter steht mehr als nur ein Wahlkampf, bei dem sich bis zum 26. September keine Partei die Finger verbrennen möchte. Es ist die logische Konsequenz einer Gesellschaftsordnung, in der die Verwertungslogik des Kapitals (G-W-G‘) stets an oberster Stelle stehen muss. Eine Ordnung, in der sinnvolle Konzepte wie das von #ZeroCovid, bei denen der Schutz der Gesundheit der arbeitenden Bevölkerung im Zentrum steht, notwendigerweise mit den Profitinteressen kollidieren und nicht ohne organisierten Druck durch Streiks und soziale Kämpfe durchgesetzt werden können.

Die Politik der Bundesregierung hat während der gesamten Pandemie einen Kurs verfolgt, die Verwertungsinteressen des Kapitals zu sichern. Daher endete der Gesundheitsschutz letztlich vor den Werkstoren, die Produktion musste weiterlaufen – auch in der 2. und 3. Welle der Pandemie. Geschlossen wurden Freizeit und Bereiche der sozialen Reproduktion. Genau diese Politik hat auch die Akzeptanz gegenüber wirksamen und gesundheitspolitischen Maßnahmen zerstört, weil sie in sich widersprüchlich war und am Werkstor haltgemacht hat. Das hat nicht nur ihre Wirkung reduziert, es hat vor allem auch die Verantwortung für die Gesundheit und die Lasten der Maßnahmen den Einzelnen aufgehalst.

Backlash

Diese widersprüchliche Politik führte in den letzten Monaten zu einem ideologischen Rückschlag. Wurden zu Beginn der Pandemie jene Regierungen kritisiert, die sich für eine Strategie der Herdenimmunität aussprachen und dafür auf andere Maßnahmenkataloge und Lockdowns verzichteten, so scheint dies nun faktisch zum vorherrschenden Modell zu werden. Damit folgt die Bundesregierung dem ideologischen Chor, dass es notwendig bleibt, mit dem Virus zu leben und die Konsequenzen daraus tragische, aber individuelle Schicksale seien.

Kurzum: Wer stirbt, ist selbst schuld. Zugleich werden jene, die keinen Impfschutz bekommen können, recht kategorisch als Impfunwillige stigmatisiert, also hartnäckige, irrationale Corona-LeugnerInnen mit anderen in einen Topf geworfen. Der Staat oder die Gesellschaft haben dieser Darstellung zufolge keine anderweitigen Möglichkeiten, als an die individuelle Vernunft zu appellieren, und entledigen sich dabei weitgehend der Verantwortung.

Schon in der zweiten Welle wurde eine solche Politik mit Schlagworten wie „mit dem Virus leben“ oder „akzeptable Sterberaten“ von Unternehmerverbänden und bürgerlichen Medien propagiert. Aber es erfolgte damals auch noch ein öffentlicher Aufschrei ob der offenen Inkaufnahme vermeidbarer Todesopfer. Nun scheint sich die Lage so weit geändert zu haben, dass ein „akzeptables“ Ausmaß von Opfern – gewissermaßen die Kosten der „Freiheit“ – billigend in Kauf genommen wird.

Im Zuge dessen versucht die Bundesregierung,  durch die Einführung einer Schnelltestpauschale ab 11. Oktober die „Motivation“ zum Impfen zu fördern. Diese trifft die ärmeren Teile der ArbeiterInnenklasse deutlich härter als andere Menschen. Angebote wie garantierte bezahlte Krankheitstage im Anschluss an die Impfung, die Ausweitung mobiler Impfteams in ärmeren Stadtvierteln, in ländlichen Regionen oder gegenüber sozial marginalisierten Gruppen wie beispielsweise Wohnungslosen wären zwei mögliche wirkliche Motivationen. Sie würden allerdings Kosten verursachen – und die will der Staat lieber sparen.

Doch die Beendigung einer flächendeckenden Teststrategie auch außerhalb des Verdachtsfalls hat schwerwiegende Konsequenzen. Durch diese werden Superspreader-Events durch asymptomatisch Infizierte wahrscheinlicher. Dasselbe gilt durch die schrittweise Rücknahme der Pflicht zum Maskentragen. Der Strategiewechsel und die technik-optimistische Orientierung auf das Impfen können so leicht zu einem bloßen Hinauszögern der Überlastung des Gesundheitssystems führen.

Inzidenzen oder lockere Werte?

Am deutlichsten wird dies durch die Diskussion über die Inzidenzwerte. Es stimmt zwar, dass wir keine eindeutigen Inzidenzen haben, solange es zwei ähnlich große Gruppen in der Bevölkerung gibt, einerseits Geimpfte und Genesene und andererseits die, die nicht darunterfallen. So hat beispielsweise der bayrische Gesundheitsminister Holetschek (CSU) am 25. August bekanntgegeben, dass die Inzidenz in Bayern bei 110,55 unter Ungeimpften und bei Geimpften bei 9,18 lag.

Eine reine Betrachtung der Auslastung der Krankenhäuser, die sogenannte Krankenhaus-Ampel, ist hingegen makaber gegenüber den Beschäftigten in den Krankenhäusern, anderen notwendigen intensivmedizinischen Behandlungen und jeder von Long-Covid betroffenen Person. Um das Pandemiegeschehen weiterhin abschätzen und eindämmen zu können, ist die Inzidenz also weiterhin zentral, da wir damit die Reproduktionszahl (R) abschätzen können. Durch diese lässt sich der Trend des Infektionsgeschehens verstehen, ob exponentielles Wachstum oder exponentielle Abnahme, woraus sich wiederum etwaige Maßnahmen ableiten lassen.

Impfquoten, -stoffe und -patente

Die Gefahr einer Infektion bleibt jedoch weiterhin für geimpfte Personen bestehen. Durch die Infektion von Geimpften erhöht sich wiederum die Gefahr weiterer Mutationen, die die Immunität fähig sind zu umgehen. Dies unterstreicht die Zentralität eines internationalen Plans zur Bekämpfung der Virusausbreitung, da mittlerweile auch Regionen, deren Strategien besonders erfolgreich waren, von der Deltamutante betroffen sind, wie Vietnam. Die Basisreproduktionszahl des ursprünglichen Corona-Virus lag noch zwischen 2,8 und 3,8, die der Delta-Variante wird auf 6 geschätzt. Zwar ist es beispielsweise Taiwan gelungen, die Fallzahl wieder auf null zu senken, jedoch stellt dies eine stetige Aufgabe dar und wird mit jeder Mutante etwas unmöglicher.

Heute sind erst etwa 24,9 % der Weltbevölkerung vollständig geimpft. Wir sind also weit davon entfernt, irgendeine Art der Herdenimmunität zu erreichen aus geimpften und genesenen Personen, die in der Lage wäre, die Ausbreitung des Virus zu stoppen und dieses einzudämmen. Auch hierzulande reichen die Zahlen nicht aus (60,1 % vollständig und 64,9 % mindestens einfach geimpft; 27.08.).

Zugleich haben wir mittlerweile die paradoxe Situation erreicht, dass in Deutschland ein Überschuss an Impfstoffen existiert, der nicht ausreichend verbraucht wird, während wir international weiter einen realen und gigantischen Mangel haben. Laut einer Umfrage des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland drohen bis Herbst bis zu 3,2 Millionen Impfdosen zu verfallen. Dies führt uns einmal mehr die Folgen des Impfstoffnationalismus drastisch vor Augen, bei dem imperialistische und andere wohlhabende Länder große Mengen des Impfstoffes vorbestellten oder gar jedwede Ausfuhr verboten, solange keine ausreichende Anzahl an Impfstoffen im Inneren vorlag.

Wir haben uns bereits in mehreren Artikel in der Neuen Internationale und auf unserer Homepage mit der wichtigen Frage der Impfstoffe nebst ihrer Patente befasst, so dass wir an dieser Stelle diese nur kurz streifen werden. Um die Pandemie systematisch bekämpfen zu können, brauchen wir u. a. eine internationale Impfstrategie. Diese muss die Freigabe ihrer Patente sowie den Austausch von Wissen und Technologien beinhalten. Durch den Aufbau neuer Produktionsstätten international gilt es, die jeweiligen Flaschenhälse der Impfstoffproduktion zu vermeiden, kontrolliert durch Organe der ArbeiterInnenbewegung.

Schulen

Doch auch in Deutschland bleibt die Situation notwendig widersprüchlich. Das zeigt uns leider erneut die Schulpolitik. Über SchülerInnen hielt sich dabei lange Zeit das Gerücht, dass die Infektion kaum bis keine Gefahr bieten würde, weshalb die StiKo (Ständige Impfkommission des RKI) keine Notwendigkeit einer Impfkampagne unter SchülerInnen in den Sommermonaten gesehen hat. Im epidemiologischen Bulletin 33 des RKI  vom 24. August wurden nun neue Daten veröffentlicht, die eine andere Geschichte erzählen und eine zügige Impfkampagne unter den 12- bis 17-jährigen Jugendlichen stark empfehlen.

Die Studie enthält eine Prognose über die Wahrscheinlichkeit einer Long-Covid-Erkrankung bei der Altersgruppe. In etwa 2,75 % der Infektionsfälle sei eine solche Erkrankung zu erwarten (Standardabweichung 1,96, somit zu 95 % eine sichere Aussage). Die Zahlen sind zwar immer noch geringer als die in der Gesamtbevölkerung erwarteten 10 – 20 %, betreffen jedoch weiterhin mehr als jede vierzigste Infektion.

Nichtsdestotrotz bleibt die Empfehlung eines konsequenten Offenlassens der Schulen durch die StiKo bestehen. Das Risiko sowohl einer Durchseuchung der SchülerInnen als auch ihrer Angehörigen wird somit bewusst eingegangen. Zusätzlich muss leider gesagt werden: Bisher konnte noch kein signifikanter Unterschied im Risiko einer Long-Covid-Erkrankung pro Infektion bei geimpften oder ungeimpften Personen festgestellt werden. Außerdem enthält die Studie nicht genug Daten bezüglich der Deltavariante. In den USA können wir jedoch erkennen, dass die Infektionsverläufe bei SchülerInnen häufiger schwerer sind.

Sogar die Pflicht zur Maske wird nur für die Zeit der „Urlaubsrückkehr“ bundesweit beibehalten. Die Strategie lautet also auch hier: Durchseuchung. Dem stellen wir das Ende der Pflicht zum Präsenzunterricht und die Kontrolle des Infektionsschutzes durch Lernende, Lehrende und die Gewerkschaften entgegen.

Exkurs: Nachlassender Impfschutz in Israel?

Kurz sollten wir noch auf einen aktuellen Kritikpunkt am Impfschutz eingehen: die Frage des nachlassenden Impfschutzes und etwaiger Drittimpfungen. Als vor einigen Wochen eine Studie (Quelle: https://www.covid-datascience.com/post/israeli-data-how-can-efficacy-vs-severe-disease-be-strong-when-60-of-hospitalized-are-vaccinated) über die zu Krankenhausaufenthalten führenden Durchbruchsinfektionen (das sind Corona-Infektionen bei vollständig Geimpften) in Israel veröffentlicht wurde, gab es laute Aufschreie: Der Impfstoff von BioNTech/Pfizer sei nicht effektiv gegen die Deltavariante! Begründet wurde dies mit den höheren Anteilen an stationierten Infizierten je 100.000 EinwohnerInnen (214 zu 301). Diese Gegenüberstellung stimmt zwar, ist jedoch verkürzt, fehlen doch die Proportionen in der Bevölkerung (18,2 % ungeimpft, 78,7 % vollständig geimpft) und die verhältnismäßigen Anteile an Infektionen (16,4 %; 5,4 %). Wenn diese noch auf die Altersgruppen über und unter 50 Jahren aufgeteilt werden, so erkennen wir, dass der Schutz vor einem schweren Verlauf samt Krankenhausaufenthalt bei den unter 50-Jährigen um 91,8 % und bei den über 50-Jährigen um 85,2 % reduziert wird. Daraus erklärt sich die Diskussion zur Dreifachimpfung in ausgewählten Bevölkerungsgruppen. Dies zeigt an, dass die geimpften und ungeimpften Gruppen verglichen werden müssen, jedoch ebenfalls in ihrer Altersstruktur, da ältere Menschen im Durchschnitt anfälliger für Lungenerkrankungen sind. Daneben bleibt zu sagen, dass die tendenzielle Abnahme eines Impfschutzes an sich eine natürliche Folge ist und die älteren Bevölkerungsteile die ersten waren, die geimpft wurden. Richtig ist jedoch die Sorge, dass bei bestehendem Impftempo die Pandemie nicht mit diesem Werkzeug allein auf den Müllhaufen der Geschichte entsorgt werden kann.

Was tun?

Für uns ist einiges klar. Die Pandemie wird mit dem Programm der Bundesregierung, aber auch jeder oppositionellen Partei im Parlament weitestgehend ausgesessen. Die Folgen der Infektion werden jeder einzelnen Person überlassen. International gibt es eine Perspektive zur Zurückdrängung noch viel weniger. Es braucht ein Ende der Odyssee des Wellenreitens!

Wir brauchen also eine soziale Bewegung, die für ein unabhängiges Klassenprogramm zur Beendigung der Pandemie und gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf die arbeitende und unterdrückte Bevölkerung des Planeten kämpft. Dafür muss der Wahlkampf genutzt werden, müssen aber auch Arbeitskämpfe wie die der Krankenhausbewegung in Berlin und zu guter Letzt die verschiedenen Proteste in einem sich abzeichnenden heißen Herbst wie #unteilbar, Mietenwahnsinn, die Proteste gegen die IAA oder die Klimastreiks.

All diese Auseinandersetzungen agieren vor dem Hintergrund der internationalen Pandemie und sollten beantworten können, wie die von ihr aufgeworfenen Fragen in diesen Zeiten zu lösen sind. An Aktionen mangelt es dabei nicht, sondern das zentrale Problem ist das Fehlen einer einheitlichen politischen Perspektive. Deshalb braucht es gemeinsame Strategiediskussionen dieser verschiedenen Kämpfe, wie der Widerstand gegen die dreifache Krise von Ökonomie, Ökologie und Pandemie organisiert werden soll.

Wir brauchen ein Sofortprogramm, wie wir diesen Kampf führen wollen. Einige mögliche Aspekte eines solchen Programms könnten die folgenden sein:

  • Sofortige Aussetzung der Präsenzpflicht in Betrieben, Schulen und Universitäten! Festlegung dieser durch Kontrollorgane der Beschäftigten bzw. der Lehrenden und Lernenden!
  • Bezahlte und garantierte Krankschreibungen von mindestens zwei Tagen nach der Impfung!
  • Keine Aussetzung des kostenlosen flächendeckenden Schnelltestangebotes und Einführung einer Testpflicht für Großveranstaltungen, egal ob bereits geimpft oder genesen!
  • Ausweitung der mobilen Impfteams, ob in ärmeren Vierteln, auf dem Land oder in Betrieben!
  • Koordination aller Forschungen und Entwicklungsbemühungen, international! Sofortige Aufhebung des Patentschutzes sowie Transfer von Wissen und Technologien!
  • Zahlen sollen die KrisengewinnerInnen! Beschlagnahmung der Pandemiegewinne zur Finanzierung der Kosten zu ihrer Bekämpfung. Wer sich weigert, soll enteignet und verstaatlicht werden!
  • Kontrolle der Maßnahmen durch Organe aus Beschäftigten, Gewerkschaften und von ExpertInnen, die unser Vertrauen genießen!



Ver.di und die gesetzliche Pflegeversicherung

Jürgen Roth, Infomail 1145, 13. April 2021

Im Artikel „Systemrelevanz oder Gotteslohn?“ beschäftigten wir uns mit der Ablehnung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung des zwischen der Gewerkschaft ver.di und einem kleineren Unternehmerverband in der Altenpflege ausgehandelten Tarifvertrags durch die Caritas. Die dabei zutrage tretenden Verhältnisse beleuchten jedoch nur einen Aspekt einer viel umfassenderen Krise im Bereich der Pflegeversicherung.

Eigenanteile

Allgemein stellt sich das als Finanzierungsproblem dar. Der Spitzenverband der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen beklagt schon länger zu wenig öffentliche Mittel und zu hohe Eigenanteile in der Pflegeversicherung. Im Schnitt müssten HeimbewohnerInnen derzeit 2.068  Euro/Monat – nach anderen Berechnungen 2.015 – zahlen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn plant darum eine Begrenzung des Eigenanteils und einen Zuschuss des Bundes, setzt aber gleichzeitig auf private Vorsorge.

Ver.di rechnet mit folgenden monatlichen Durchschnittskosten pro Heimplatz: 455 Euro Investitionskosten, 774 Euro Verpflegung und Unterkunft, 786 Euro Eigenanteile. Die Durchschnittsrente beträgt demgegenüber aber nur 954 Euro.

Mehr Personal

Sylvia Bühler, im ver.di-Bundesvorstand für die Beschäftigten im Gesundheitswesen und für Gesundheitspolitik zuständig, fordert eine „gute pflegerische Versorgung und deren auskömmliche und gerechte Finanzierung“. Die hohen Belastungen führen schon im Normalbetrieb zur Flucht etlicher Pflegekräfte aus dem Beruf oder in Teilzeit. Derzeit ist die Personalausstattung in den Pflegeheimen von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich und nicht verbindlich genug geregelt. Auf Drängen von ver.di und einigen anderen Verbänden hat die Bundesregierung ein Verfahren zur Personalbemessung in der stationären Altenpflege in Auftrag gegeben, dessen Ergebnisse Heinz Rothgang, Professor für Gesundheitsökonomie an der Uni Bremen, jüngst vorgelegt hat. Demnach sind für eine adäquate Versorgung 115.000 zusätzliche Vollzeitstellen vonnöten. Die Bundesregierung hat zunächst jedoch gerade 20.000 Hilfskräfte (!) bewilligt. Nun will sie das Bemessungsverfahren erproben und evaluieren, also verwässern.

Der gewerkschaftliche Organisationsgrad in den 15.400 Pflegeheimen und 14.700 ambulanten Pflegediensten und die Kampfkraft der dortigen Beschäftigten werden von ver.di so gering eingeschätzt, dass eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung für notwendig erachtet wurde. Nach deren Scheitern hat die Gewerkschaft außer Ratlosigkeit jedoch nichts anzubieten, schon gar nicht einen politischen Streik für die dringend nötige Umsetzung des Tarifvertrages, die im Interesse der gesamten ArbeiterInnenklasse liegt (siehe: Ver.di Publik 1/2021, Fachbereich 3, S. 3).

„Solidarische Pflegegarantie“

Wer soll die Personalaufstockung und bessere Entlohnung bezahlen? Aktuell ist jede/r 3. HeimbewohnerIn auf Sozialhilfe angewiesen. Dieser Anteil wird laut Deutscher Angestelltenkrankenkasse (DAK) kurzfristig auf 37 % steigen. Steigende Kosten kämen allein auf die Versicherten und Pflegebedürftigen zu. Im Gegensatz zu Kranken- und Rentenversicherung haben sich die Unternehmen in den 1990er Jahren „ihren“ Beitrag durch die Streichung des bundesweiten Feiertags Buß- und Bettag erkauft. Nur in Sachsen blieb dieser erhalten. Dafür werden dort die Beiträge zur gesetzlichen Pflegeversicherung vollständig vom Bruttolohn abgezogen.

Spahn will in dieser Situation nur den pflegebedingten Eigenanteil auf höchstens 700 Euro monatlich für längstens 3 Jahre deckeln. Die Länder sollen 100 Euro pro Monat und Person an Investitionskosten übernehmen. Selbst mit dieser Bremse müsste noch ein Viertel der BewohnerInnen „Hilfe zur Pflege“ beantragen.

Konsequent wäre, so Barbara Suser, bei ver.di für Pflegepolitik zuständig, alle Pflegekosten durch die Pflegeversicherung zu finanzieren, wie es bei ihrer Einführung 1995 auch gedacht gewesen sei. Eine „Solidarische Pflegegarantie“ soll wie die gesetzliche Krankenversicherung alle Risiken übernehmen und die Leistungen dürften entsprechend der Lohnentwicklung dynamisiert werden. Zudem müssten die Bundesländer ihrer Pflicht zur Finanzierung von Investitionen nachkommen (455 Euro), die bislang größtenteils den BewohnerInnen auferlegt würde.

Sie schlägt daher vor, die gesamte Bevölkerung, also alle Einkommensarten in die Versicherung einzubeziehen und die Trennung zwischen privater und gesetzlicher Pflegeversicherung aufzuheben. Für die große Masse würde das eine umfassende Pflegegarantie mit ausreichend und besser bezahltem Personal bedeuten. Die Pflegeversicherung würde dabei durchschnittlich um 5 Euro/Monat erhöht werden. Bühler will dieses Vorhaben mit allen Pflegebedürftigen und ihren Familien, Arbeit„geber“Innen und PolitikerInnen, „die das Gemeinwohl im Sinn haben“, umsetzen. Wie blauäugig ist doch dieses krampfhafte Festhalten an der SozialpartnerInnenschaft mit Staat und Kapital angesichts des Scheiterns viel bescheidenerer Pläne wie dem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag! Klassenkampf kommt für diese Spitzengewerkschafterin noch nicht mal als Wort vor, geschweige denn als bitter notwendige Realität angesichts verheerender Zustände in diesem systemrelevanten Bereich.

Bürgerversicherung

Die Vorschläge gehen immerhin in die richtige Richtung und übertreffen die Pläne der Bundesregierung deutlich. Wir kritisieren aber nicht nur, dass ver.di überhaupt keine Mobilisierung der KollegInnen dafür ins Auge fasst. Die Gewerkschaft fordert auch nicht, dass als erster Schritt die Rücknahme der Streichung des Feiertags und Wiedereinführung der traditionellen paritätischen Finanzierung wie in den anderen Zweigen der gesetzlichen Sozialversicherung erfolgen muss. Zudem macht sie nicht genug deutlich, dass dieses Prinzip bei allen Illusionen in Staat und Unternehmen gegenüber manchen Vorstellungen von Bürgerversicherung verteidigt gehört. Deren AnhängerInnen wie auch einige UnterstützerInnen des bedingungslosen Grundeinkommens möchten sich die Versicherungspflicht für alle gern durch Verzicht auf die sogenannten Lohnnebenkosten für die Unternehmen erkaufen. Da diese jedoch in Wirklichkeit der Verfügung der ArbeiterInnenklasse entzogene Bestandteile ihres Arbeitslohns darstellen, läuft die Forderung nach deren Kürzung letztlich auf eine Minderung des Arbeitslohns hinaus, also eine Umverteilung zugunsten des Kapitals.

Demgegenüber stellt selbst das tradierte Sozialversicherungswesen trotz seiner Illusionen in den „Unternehmensanteil“ und die staatliche Oberaufsicht einen Fortschritt dar. Dieses auf die Bismarck’sche Reform von oben zurückgehende System verkörpert sowohl eine Verallgemeinerung der Versicherung für alle Lohnabhängigen, also eine wichtige Errungenschaft der ArbeiterInnenklasse, als auch eine Verstaatlichung der einzelnen proletarischen beruflichen Hilfskassen, also die Ausschaltung der Kontrolle und Verwaltung durch die Lohnabhängigen bzw. von diesen gewählte Gremien.

Ausgehend von dieser Verteidigung eines wichtigen, aber widersprüchlichen Schutzes gegen die Zumutungen der freien Marktwirtschaft fordern wir:

  • Wiedereinführung der sogenannten paritätischen Beitragszahlung und Rückgabe des bezahlten Feiertags!
  • Vollständige Sozialversicherungspflicht für alle! Keine Befreiung durch Mitgliedschaft in einer privaten Kranken- oder Rentenversicherung!
  • Wegfall der Beitragsbemessungsgrenzen! Beitragspflicht auf die volle Einkommenshöhe!
  • „UnternehmerInnenanteile“ müssen wie bisher das halbe Versicherungsbudget decken, sei es durch progressive Gewinnsteuer oder Wertschöpfungsabgabe! Der Gewinn soll die Einnahmebasis bilden, nicht das Lohnaufkommen, was die großen Konzerne begünstigt hat!

Von der Sozialversicherung zum gesellschaftlichen Reproduktionsfonds

Das in der reformistisch dominierten ArbeiterInnenbewegung vorherrschende ideologisierende Gerede vom „Sozialstaat“ drückt letztlich die höchst irdische heilige Dreifaltigkeit der SozialpartnerInnenschaft zwischen ArbeiterInnenklasse, Kapital und Staat aus, erkauft mit der Knebelung der von ArbeiterInnen gegründeten Hilfskassen. Um Illusionen in diese drittelparitätische Knebelung an Unternehmen und ihren Staat zu durchbrechen, reicht bloße Kritik an ihnen nicht aus. Damit die Klasse damit auch im wirklichen Leben zu brechen beginnt, müssen die Lohnabhängigen zur Verteidigung der bestehenden Errungenschaften mobilisiert werden. Nur im Kampf werden sie als Klasse erkennen, dass die eigene Kontrolle über die Versicherungskassen notwendig ist. Wie oben ausgeführt, stellen Sozialabgaben einen Teil des kollektiven Arbeitslohns dar. Folglich sollten für die vollständige Selbstverwaltung bzw. Kontrolle durch die Arbeitenden allein ihre Organisationen zuständig sein:

  • Staat und Unternehmen raus aus den Sozialversicherungen! Abschaffung der paritätischen Mitbestimmung des Kapitals!

Die Krise der Pflegeversicherung verdeutlicht auch, dass der Kapitalismus immer wieder alle erkämpften Reformen, alle Bollwerke der ausgebeuteten Klasse angreift. In Zeiten der Krise gerät darüber hinaus das traditionelle Sozialversicherungswesen in eine Situation, in der die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben sich öffnet. Durch Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit etc. sinkt die Lohnsumme als grundlegende Einnahmequelle. Gleichzeitig steigen die Ausgaben, v. a. in der Arbeitslosenversicherung.

Auf der Anbieterseite operieren private, kapitalistische bzw. staatliche und frei-gemeinnützige Träger nach dem Prinzip der Rationalität jeden Kapitals. Für sie stellen Versicherungen einen möglichst profitablen Geschäftszweig wie jeden anderen dar. Letztlich kann diese Tendenz im Kapitalismus nie überwunden wurden werden. Erst auf Grundlage der Enteignung der herrschenden Klasse kann der gesamtgesellschaftliche Produktions- und Reproduktionsfonds, also die materielle Basis der Gesellschaft kollektiv und demokratisch kontrolliert und geplant entwickelt werden.

Der Kampf um ArbeiterInnenkontrolle im Rahmen der bestehenden Gesellschaft stellt dabei eine Übergangsforderung dar, einen Schritt, die privaten Profitinteressen zurückzudrängen und zugleich die Stellung der Lohnabhängigen zu stärken. Das macht aber auch verständlich, warum eine solche Kontrolle nur im Klassenkampf, durch politische Massenstreiks errungen werden und warum sie selbst im Kapitalismus nur als Übergangsform existieren kann. Nehmen wir einmal an, die Sozialversicherung würde von gewählten Gremien der Lohnabhängigen kontrolliert und die UnternehmerInnen hätten darin nichts zu sagen, so würden letztere diese Errungenschaften bei erster Gelegenheit in Frage stellen und angreifen. Der Klassenkampf würde sich also verschärfen, bis zum Kampf um die Reorganisation der gesamten Gesellschaft im Interesse der Mehrheit, bis hin zu einer sozialistischen Umwälzung. Diese innere Logik erklärt freilich auch, warum die reformistischen Parteien wie SPD und DIE LINKE sowie die Gewerkschaftsbürokratie an der SozialpartnerInnenschaft eisern festhalten wollen, selbst wenn sie das Kapital aufkündigt. Eine klassenkämpferische Opposition in den Gewerkschaften, alle linken und klassenkämpferischen Kräfte müssen hingegen einen Bruch mit der SozialpartnerInnenschaft einfordern und einen entschlossenen gemeinsamen Kampf. Dazu schlagen wir folgende Losungen vor:

  • ArbeiterInnenkontrolle über Sozialkassen, Gesundheits- und Altenpflege, gemeinsam mit ihren NutzerInnen, den PatientInnen, Bedürftigen und Angehörigen!
  • Entschädigungslose Verstaatlichung der Pharmakonzerne, Klinik- und Altenpflegeketten!
  • Für einen Gesundheits- und Pflegefonds als deren Träger und Finanzquelle!
  • Finanzierung in Höhe der demokratisch festgelegten notwendigen Betriebs- und Investitionsmittel für Personalaufstockung, Qualifizierung und angemessene Entlohnung!
  • Sozialisierung der Haus- und Sorgearbeit inkl. Betreuung von Angehörigen und Kindererziehung, Jugendbildung und -ausbildung!



Bund-Länder-Gipfel: Lockdown, Teilöffnung und das Spiel mit der Gesundheit

Martin Suchanek, Infomail 1140, 4. März 2021

Wenig überraschend vereinbarte der Bund-Länder-Gipfel vom 3. März für den kommenden Monat Öffnungsschritte. Vorsichtige, natürlich. Schließlich soll eine „dritte Welle“ der Pandemie vermieden werden. Andererseits trommeln Unternehmerverbände, parlamentarische Opposition und auch die Regierungsparteien für Öffnungen. Selbstlos, natürlich. Schließlich sollen angeblich nur den BürgerInnen ihre „Freiheitsrechte“ zurückgegeben werden, als deren Kristallisationspunkt offener Schulunterricht, offene Geschäfte, Kneipen, Kultureinrichtungen und Urlaubsreisen neuerdings firmieren.

Beschlüsse vom 3. März

Mit den Beschlüssen vom 3. März setzen Bund und Länder ihren widersprüchlichen Kurs der Pandemiebekämpfung im Wesentlichen fort. Wie schon in den letzten Monaten sollen zwei letztlich gegensätzliche Ziele vereinbart werden – Gesundheitsschutz einerseits, die Geschäftsinteressen „unserer“ Wirtschaft, also die Profitinteressen des Kapitals, andererseits. Deren „Freiheitsrechte“, Beschäftigte in Fabriken, Schlachthöfen und Verteilzentren dem Virus auszusetzen, waren nie wirklich eingeschränkt.

So sollen in den nächsten Wochen auch bisher geschlossene Teile des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens geöffnet werden, wenn auch nur schrittweise und nicht ganz. Nur für den Fall deutlich steigender Infektionszahlen, die nun mit einem Inzidenzwert von 100 Infizierten pro 100.000 EinwohnerInnen, die binnen 7 Tagen positiv auf einen PCR-Test reagierten und gemeldet wurden, veranschlagt werden, sollen wieder verschärfte Regeln in Kraft treten.

Offen bleiben sollen in jedem Fall Kitas und Schulen, auch wenn es schon wenige Wochen nach den ersten Öffnungen zu einzelnen Schulschließungen kam, weil der Infektionsschutz nicht gewährleistet werden konnte. Vordergründig geht es dabei um die Sorge um Kinder und Jugendliche. In Wirklichkeit soll vor allem sichergestellt werden, dass die Eltern der Lohnarbeit nachgehen können. Schließlich brummt es in bestimmten Bereichen der Großindustrie (Automobil, Chemie) und in der Bauwirtschaft. Dort werden die Eltern geraucht und diese Arbeiten können ebenso wie die in Gastronomie, Einzelhandel oder Hotellerie nicht einfach ins Homeoffice verlagert werden.

Neben Schulen und Kitas sollen einzelne Dienstleistungen weiter offenhalten oder ab kommenden Montag, dem 8. März, aufsperren. Zu den Friseurläden gesellen sich dann Buchhandlungen, Blumengeschäfte und Gartenmärkte (sofern diese in einzelnen Ländern nicht ohnedies schon geöffnet waren) sowie Fahr- und Flugschulen.

Bei einer regionalen Sieben-Tage-Inzidenz von unter 50 darf der Einzelhandel aufsperren, bei einer von von weniger als hundert ist das Geschäft nur in der Form des Terminshopping („click and meet“) möglich.

Ähnliche Öffnungsschritte gibt es für Museen, Galerien, zoologische und botanische Gärten sowie Gedenkstätten. Weitere sind für den 4. und 5. Schritt des vereinbarten Plans für Außengastronomie, Kinos, Theater, Konzert- und Opernhäuser sowie später für Freizeitveranstaltungen mit mehr als 50 Personen vorgesehen.

Reaktionen

Deutschland verfügt nun über den lange geforderten Stufenplan. Zufrieden stellt der Kompromiss jedoch so ziemlich niemanden. Doch das war auch nicht zu erwarten. Während VirologInnen und GesundheitsexpertInnen vor einer dritten Welle warnen, kann es der Wirtschaft nicht schnell genug gehen. Alle Branchen, die nicht sofort loslegen können, fühlen sich benachteiligt. Alle hätten seit Monaten tolle Hygienekonzepte erarbeitet.

Besonders ins Zeug legt sich die Sprecherin des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes DEHOGA, Ingrid Hartges. Sie vertritt nicht nur 85.000 Betriebe und deren Interessen. Die Kämpferin gegen alle Inzidenzwerte geriert sich auch gleich als Anwältin der Freiheit ihrer KundInnen und von Millionen Beschäftigten, deren Arbeitsrechte vor Corona oft genug mit Füßen getreten wurden.

Klarer Weise geht es auch anderen Branchenverbänden zu langsam – von FPD und AfD wollen wir gar nicht reden. Auch Dietmar Bartsch von der Linkspartei will mit Kritik nicht sparen und findet alles zu unübersichtlich.

Natürlich ist der Stufenplan unübersichtlich, ein Flickenteppich. Doch wie anders könnte er denn beschaffen sein, wenn er zugleich regional und branchenweise differenziert sein und sich nicht an starren Inzidenzwerten festhalten soll? Angesichts dieser Vorgaben kann ein Stufenplan nur kleinteilig werden. Solche Kritiken verbleiben zudem vollkommen an der Oberfläche, weil sie das „Wirrwarr“ an Regelungen nicht als das begreifen, was es ist: das Resultat einer widersprüchlichen Regierungspolitik. Diese versucht einerseits, ein starkes und rasches Anwachsen der Neuinfektionen, also ein exponentielles Wachstum, zu verhindern, das zu einer Überlastung des Gesundheitswesens führen würde. Andererseits sind die entscheidenden Teile der kapitalistischen Wirtschaft, also die Zentren der Mehrwertproduktion im industriellen Bereich, die Bauwirtschaft oder das gesamte Finanzkapital ohnedies schon während des gesamten Lockdowns von jeder Schließungsdiskussion ausgenommen.

Dabei müsste eine linke Politik zur Pandemie- und Krisenbekämpfung genau dort ansetzen, nämlich bei der Forderung nach zeitweiliger Schließung aller für die tägliche Reproduktion nicht essentieller Bereich der Ökonomie, um die Infektionszahlen gegen null zu drücken und damit die Zahl der Erkrankungen, langer und ernster Folgeschäden sowie hunderter Toter pro Tag massiv zu reduzieren und möglichst auf null zu bringen. Dies hätte zugleich den Vorteil, dass wir nicht in der Situation eines zermürbenden Dauerlockdowns leben müssten, der Millionen vor die Alternative Gesundheit oder Sicherung der Existenz stellt. Nebenbei bemerkt, würde ein solidarischer Lockdown nach einem zeitweiligen Herunterfahren der Wirtschaft also sehr viel allgemeinere Öffnungsmöglichkeiten bieten.

Die Politik des solidarischen Lockdowns, wie sie die Initiative #ZeroCovid vertritt, stellt eine substantielle, grundlegend andere Strategie als jene der Bundesregierung, aller Kapitalverbände, der totalen ÖffnungsfanatikerInnen und der rechten Corona-LeugnerInnen dar.

Sie würde die zeitweilige europaweite Schließung aller nicht-essentiellen Bereiche unter Kontrolle der Beschäftigen und Gewerkschaften mit der Forderung nach sozialer Absicherung für alle, dem Ausbau des Gesundheitswesens, dem Ende privater Verfügungsgewalt über die Impfstoffproduktion und -verteilung sowie nach Finanzierung dieser Maßnahmen durch die Besteuerung der Gewinne und großen Vermögen verbinden.

Bürgerliche Pandemiepolitik und Individualisierung

Doch zurück zur bürgerlichen Politik. Die Strategie der Bundesregierung hofft auf eine Begrenzung der Ausbreitung des Virus („Flatten the Curve“), um so eine dritte Welle im Zaum zu halten, bis eine Immunisierung durch Impfungen erreicht worden sei. Ob das funktioniert, ist mehr als fraglich angesichts der Ausbreitung neuer Mutanten und einer damit einhergehenden rascheren Verbreitung des Virus.

Massentests, zumal kostenlose, könnten sicherlich hilfreich für die Eindämmung des Virus sein. Wenn sie jedoch kombiniert werden mit einer Erhöhung der Verbreitungsmöglichkeiten des Virus, so wirken sie allenfalls beschränkt. Eine Wunderwaffe gegen die Infektion stellen sie keineswegs dar, wie Länder wie Österreich zeigen, die seit Monaten weit mehr Tests durchführen, gleichzeitig größere Bereiches des Handels und Tourismus öffneten und deutlich höhere durchschnittliche Inzidenzwerte als Deutschland aufweisen.

Die Forderungen all jener, die auf noch raschere Öffnungen drängen, laufen in jedem Fall auf eine Erhöhung des Gesundheitsrisikos für die Bevölkerung hinaus, und zwar für Millionen. Die sog. Risikogruppen sind schließlich keine kleine Minderheit, wie es in der öffentlichen Diskussion mitunter suggeriert wird. Eine Studie des RKI geht davon aus, dass etwa 36,5 Mio. Menschen in Deutschland einem erhöhten Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf ausgesetzt sind. Das sind 51,9 % der Bevölkerung ab 15 Jahren. Davon gehören 21,6 Mio. Menschen zur Hochrisikogruppe, also 30,6 % der Bevölkerung ab 15 Jahren. Überdurchschnittlich betroffen sind dabei alleinlebende Personen und Menschen mit schlechteren Bildungsabschlüssen.

Im Grunde hoffen Bund und Länder mit einer Kombinationen von Öffnungsschritten, Massentests und beschleunigten Impfungen, die Ausbreitung des Virus, schwere Krankheitsverläufe und Todeszahlen auf ein „akzeptables“ Maß zu beschränken.

Politisch kommt die Regierung damit all jenen auf halbem Weg entgegen, die auch angesichts der Ausbreitung hoch infektiöser Mutanten endlich zu einer „Normalität“ zurückkehren wollen, die stillschweigend hunderte Tote pro Tag akzeptiert.

Der Dreiklang der Öffnungspolitik – Impfung, Massentests und Hygienekonzepte – schiebt zugleich die Verantwortung für die eigene Gesundheitsvorsorge auf die einzelnen Menschen. So wie die Essenz der Freiheit der LohnarbeiterInnen im Verkauf (oder Nichtverkauf) der Ware Arbeitskraft besteht, so sollen auch die freien StaatsbürgerInnen entscheiden, ob und wie sehr sich dem Infektionsrisiko aussetzen oder nicht. Schließlich ist ja niemand gezwungen, ins Restaurant, ins Kino, ins Theater zu gehen …

Das erhöhte Infektionsrisiko stellt eben den Preis der Freiheit dar, die es – no risk, no fun – in der bürgerlichen Gesellschaft nicht umsonst gibt.

In einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft sprechen das die Autoren Bardt und Hüther klar aus:

„Ein gesellschaftliches Optimum ist nicht bei dem Extremfall der vollständigen Vermeidung und Risikofreiheit zu suchen, sondern wird in einer Kombination aus geringer Verbreitung und guter Kontrolle des Virus und seiner Folgen liegen – die Formel ‚mit dem Virus leben’ meint genau dies. Das ist gesellschaftlich herausfordernd, weil es so etwas wie virus-spezifische Bereitschaft und Fähigkeit einfordert, mit begrenzten gesundheitlichen Folgen und begrenzter Sterblichkeit zurechtzukommen, diese auszuhalten.“ (Aus dem Lockdown ins Normal, S. 10)

Dies ist nicht nur zynisch gegenüber den Kranken und Sterbenden, deren Leid oder Tod vermeidbar wäre. Es verklärt zugleich deren Hinnahme und das Abstumpfen von Empathie und Sorge zur „gesellschaftlichen Herausforderung“. So wird das Interesse am Anlaufen der Wirtschaftsmaschine zur Freiheit verklärt.

Ruf nach „Freiheit“

Ganz in diesem Sinn, wenn auch weniger verklärend, wurden schon vor dem letzten Bund-Länder-Gipfel Forderungen nach weiteren Öffnungen aller bislang geschlossenen Bereiche der Wirtschaft oder des öffentlichen Lebens immer lauter. Unternehmerverbände, Standesorganisationen, von AfD und FDP ganz zu schweigen, trommeln für die Öffnung von allem und jedem – natürlich nicht nur für „unsere“ Wirtschaft, sondern für „Freiheit“ und „BürgerInnenrechte“. Rechtspopulismus und Neoliberalismus mutieren geradezu zu Freiheitsparteien.

So ziemlich jede bürgerliche Kraft präsentierte ihre „Öffnungsperspektive“ oder ihren „Stufenplan“. Da wollten auch die Regierungsparteien nicht zurückstehen. Gesundheitsminister Spahn verkündet – wieder einmal voreilig – Massentests aus dem Supermarkt oder gar flächendeckende kostenlose Testung. Familienministerin Giffey, die in Neukölln für harte Selektion gegenüber (muslimischen) MigrantInnen stand, entdeckt Kinder und Jugendliche. Diese seien mehr als SchülerInnen und Lernende, nämlich, man sollte es nicht glauben – Menschen. Billige Gefühlsduselei, die sich als Empathie gibt, ersetzt das fehlende politische Konzept.

MinisterpräsidentInnen drängten auf „regionale“ Lösungen, also auf die Öffnung im „eigenen“ Bundesland. Bayerns Landeschef Söder verklärte die Öffnung der Friseurläden und den folgenden Haarschnitt zum Schritt, den Menschen wieder ihre „Würde“ zurückzugeben. Somit wissen wir wenigstens, wo dieses vergleichsweise billige Gut zu erwerben ist.

Sorgen um das Wohl der Kinder und Jugendlichen macht sich selbstredend nicht nur Ministerin Giffey. So ziemlich alle, die in den letzten Jahren an der Bildung kräftig gespart haben, denen kostenlose und flächendeckende Kitas noch vor kurzem als sozialistisches Teufelszeug und Anschlag auf die Mutterrolle galten, werfen sich jetzt für Kind und Gleichheit in die Bresche. All jene, die über Jahrzehnte das klassenmäßig und rassistisch selektive dreigliedrige Schulsystem zur Ultima Ratio menschlicher Bildung stilisiert haben, die jeden Schritt zur Gemeinschaftsschule oder zu realer Integration sowie die dementsprechende finanzielle und personelle Ausstattung blockiert haben, entdecken jetzt ihr Herz für MigrantInnen, Erwerbslose und die sog. bildungsfernen Schichten, also die Underdogs aus der ArbeiterInnenklasse. Konkurrenzdruck, Prüfungsstress, Notenterror, Ausgrenzung, Leistungsdruck fanden vor Corona an deutschen Schulen anscheinend nur ausnahmsweise statt.

Doch nicht nur Kitas und Schulen, auch die Kultur findet UnterstützerInnen wie selten zuvor. Vorbei sind die Zeiten, wo die Verschwendung für subventionierte Staatskunst in Konzerthäusern und Theatern angeprangert wurde, wo sich Kunst am Markt und sonst nirgendwo bewähren sollte. Das drohende Sterben der Kinos und unabhängigen Bühnen, die schon vor Corona von Ketten und Kommerz an den Rand gedrückt waren, erweicht nun viele AnhängerInnen des freien Marktes.

Der Besuch des Restaurants und der Kneipe wird neuerdings zur kulturellen Leistung erhoben, sogar der Einkauf, ob im Ein-Euro-Shop oder in der Edelboutique, wird zum Akt der Freiheit, ja zur eigentlichen Freiheit.

Und wer sollte es den ParteigängerInnen der kapitalistischen Marktwirtschaft verdenken, dass der Warenkauf, das offene Geschäft, das offene Restaurant, also die Freiheit des Warenverkehrs zur höchsten Form der Freiheit schlechthin verklärt wird. Schließlich drängt sich die auf der Basis der bürgerlichen Gesellschaft geradezu auf, als gedankliche, ideologisierte Widerspiegelung gesellschaftlich wesentlicher Verhältnisse.

Widersprüche der Regierungspolitik

Die handfeste prekäre Lage und die reale Existenzdrohung, in die widersprüchliche Politik der Bundes- und Landesregierungen mittlerweile Millionen Menschen tatsächlich gebracht hat, bestärkt diesen Ruf nach dieser Freiheit, nach Öffnung, nach Rückkehr zur kapitalistischen Normalität.

Wenn viele Menschen über die Härte des Lockdowns, über dessen soziale und individuelle Folgen klagen, so können sie das auch gut begründen.

  • Die Millionen Menschen, die in Kurzarbeit geschickt wurden, haben massive Einkommensverlust hinnehmen müssen, auch wenn sie noch etwas sozial abgefedert waren. Umso mehr trifft das alle, die entlassen wurden oder als Selbstständige, FreiberuflerInnen oder prekär beschäftigte „SubunternehmerInnen“ ihr Einkommen verloren.
  • Das heißt, die Pandemie und die mit ihr eingehende Wirtschaftskrise treffen vor allem zwei Klassen – die Lohnabhängigen und die (unteren) Schichten des KleinbürgerInnentums.
  • Auch wenn es Abfederungen gab (und gibt), so hat das schon jetzt massive Einkommenseinbußen und etliche Pleiten nicht verhindert. Hinzu kommt, dass alle wissen, dass in den nächsten Monaten weitere Entlassungen, Umstrukturierungen und Schließungen drohen, viele also nicht am Ende, sondern am Beginn der wirtschaftlichen Folgen von Krise und Pandemie stehen.
  • Die Schließungen der Schulen und Kitas verstärken zum Teil die soziale Selektion. Sie machen sie vor allem deutlicher sichtbar. Hinzu kommt, dass Kindern und Jugendlichen aus der ArbeiterInnenklasse und vor allem aus deren ärmsten Schichten am wenigsten Wohnraum und Infrastruktur zur Verfügung stehen. Zudem leiden auch deren Eltern am stärksten vor realer Angst vor Verarmung.
  • Die Politik der Regierung, die Industrie, Banken, Finanzinstitutionen neben den wirklich essentiellen Bereichen wie Krankenhäusern oder Lebensmittelhandel offenzuhalten, bedeutet, dass die Belastung lohnabhängiger Frauen besonders stark ansteigt, dass diese noch mehr Hausarbeit, Kinderbetreuung und Berufstätigkeit stemmen müssen.
  • Hinzu kommt auch die Zunahme häuslicher Gewalt gegen Frauen, Transpersonen und Kinder. Während der Pandemie ist ein Entkommen aus dieser häuslichen Hölle noch schwieriger.

Diese verheerenden Auswirkungen gedenken die ÖffnungstrommlerInnen aus Wirtschaft, bürgerlicher Politik oder dem Rechtspopulismus natürlich nicht zu lösen. Sie instrumentalisieren sie aber, indem sie versuchen, in ihrer Existenz bedrohte kleinbürgerlichen Schichten und Lohnabhängige, die tatsächlich von der Politik im Stich gelassen werden, vor ihren Karren zu spannen.

Während die Ausbreitung der Infektionszahlen und bis zu tausend und mehr Tote pro Tag die Corona-LeugnerInnen und ÖffnungsfanatikerInnen Anfang des Jahres zum Schweigen brachten, wittern sie jetzt politische Morgenluft. Die Zahl der Corona-Toten und Kranken gilt als überschaubar und müsse eben so hingenommen werden. Während auf die Zunahme von anderen Erkrankungen, Depressionen, häuslicher Gewalt verwiesen wird, wird über die Toten der Mantel des Schweigens gehüllt und so getan, als wären alle Probleme der Gesellschaft gelöst, wenn nur alle wieder kaufen und verkaufen könnten, wie sie wollen.

Und die Linke?

Angesichts dieser Lage sind Initiativen wie #ZeroCovid in eine gesellschaftliche Defensive geraten, obwohl sie eine solidarischer Strategie im Interesse der Masse der Bevölkerung vertreten. Es wäre jedoch grundfalsch, angesichts dieser aktuellen Stimmungslage die Initiative oder ihre Forderungen fallenzulassen oder erst wieder zu erheben, wenn sich die Stimmung ändert.

Im Gegenteil! Wir müssen gerade in den Gewerkschaften, in sozialen Bewegungen weiter für den solidarischen Lockdown eintreten, für eine Politik, die Gesundheitsschutz und den Kampf gegen die Lasten von Pandemie und Krise und deren Abwälzung auf die Bevölkerung miteinander verbindet. Natürlich darf dies nicht ultimatistisch geschehen, sondern aktuell sollten folgende Aspekte in den Vordergrund gerückt werden:

  • Die Unterstützung aller Aktionen von Gewerkschaften, Beschäftigten, sozialen Bewegungen, die auch die Fragen von Gesundheitsschutz, sozialer Sicherung, Internationalismus und Klassenpolitik miteinander verbinden – seien es die Mobilisierungen zum Internationalen Frauenkampftag, sei es der Aktionstag der Berliner GEW am 12. März, seien es Kämpfe von SchülerInnen gegen Prüfungs- und Abschlussstress unter Corona-Bedingungen und vieles mehr.
  • Das Warnen vor eine „dritten Welle“, die angesichts der Regierungspolitik wie auch  der anderer EU-Staaten in den nächsten Wochen leider wahrscheinlicher wird. Ein solche Verschlechterung der Lage wird die Forderung nach einem europaweiten „solidarischen Shutdown“ auf die Tagesordnung setzen, wenn wir Gesundheitsschutz und soziale Sicherheit durchsetzen wollen.
  • Die letzten Wochen zeigen einmal mehr: eine an den Interessen der Masse der Menschen, der Lohnabhängigen, der Jugend, der Frauen, der geschlechtlich Unterdrückten, der MigrantInnen und der älteren Menschen orientierte Politik muss eine Klassenpolitik sein. Sie kann nur durch Mobilisierungen gegen Kapital, Regierungen und politische Rechte, durch eine gesellschaftlichen Bewegung erkämpft werden, die in den Betrieben, an Schulen und Unis, im öffentlichen Dienst, in den Krankenhäusern, in den Wohnvierteln, in Stadt und Land verankert ist.
  • Die Verklärung der Hinnahme einer „akzeptablen“ Zahl von Toten als „gesellschaftliche Leistung“ durch (neo)liberale, konservative oder rechte IdeologInnen des Kapitals, das rechtspopulistische Gerede von der Corona-Diktatur oder die Verklärung des freien Warenverkehrs zur Freiheit schlechthin verdeutlichen, dass der Kampf um die Corona-Politik auch auf ideologischer Ebene eine Form des Klassenkampfes darstellt. Es gilt, die Menschenverachtung und den Zynismus alle jener zu entlarven, die von der Rückkehr zu einer Normalität sprechen und damit die Bevölkerung darauf einstimmen wollen, den Tod Tausender in Deutschland und von Millionen weltweit als Normalzustand in Kauf zu nehmen. Vor allem aber gilt es darzulegen, worin der Zweck dieser barbarischen Unternehmung besteht: nämlich in der Verbreitung der Vorstellung, dass es keine Alternative zur Akzeptanz einer solchen Politik gebe. Wir müssen daher nicht nur darlegen, dass hinter den Kosten der bürgerlichen Freiheit die Interessen des Kapitals zum Vorschein kommen. Wir müssen auch darlegen, dass es bei der Frage der Corona-Politik, der Durchsetzung eines solidarischen Shutdowns im Interesse der ArbeiterInnenklasse auch um die Frage geht, welche soziale Kraft, welche Klasse die Gesellschaft selbst so reorganisiert, dass die Bekämpfung der Pandemie nicht mehr als Gegensatz zur „Freiheit“ erscheint. Dies erfordert freilich, den Kampf um die Forderungen von #Zero-Covid im größeren Kontext des revolutionären Kampfes um die Enteignung des Kapitals und die Errichtung einer globalen, demokratischen Planwirtschaft zu begreifen.



Hilf Dir selbst, sonst hilft Dir niemand!

Erfahrungsbericht eines Berliner Corona-Infizierten, Infomail 1121, 11. Oktober 2020

In den letzten Monaten gab es für viele von uns eigentlich nur ein zentrales Thema: die Corona-Pandemie. Die beschleunigende Wirkung auf die ökonomische Krise, die Fragen des Gesundheitsschutzes, die Einschränkung von demokratischen Rechten oder der Zulauf für reaktionäre Corona-LeugnerInnen – die Pandemie ist allgegenwärtig.

Nun kommt langsam die kalte Jahreszeit und die Entwicklung rast mit einem ziemlichen Tempo in Richtung einer zweiten Welle. Auch in Berlin sehen die Zahlen schlecht aus und die rot-rot-grüne Landesregierung führt erneut Einschränkungen des öffentlichen Lebens ein.

Ab 10. Oktober gelten die verschärften Regelungen, die am vergangenen Dienstag beschlossen wurden, vorerst bis 31. Oktober. Sie umfassen Sperrstunden zwischen 23 und 6 Uhr, ein nächtliches Alkoholverkaufsverbot, Kontaktverbote bei Nacht und die Begrenzung von privaten Feiern auf 10 Personen. Die Einschränkungen des öffentlichen Lebens betreffen weiterhin hauptsächlich die Freizeit der Bevölkerung und weniger die Produktion.

In der Stadt stehen zwei der drei Corona-Ampeln mittlerweile auf Rot. Die Fallzahl je 100.000 EinwohnerInnen steht am 10. Oktober bei 56,4 Personen. Damit wird Berlin zum Risikogebiet erklärt. Die Reproduktionszahl R (Zahl der durch eine/n Erkrankte/n in einem bestimmten Zeitraum durchschnittlich Angesteckten) stand am 5. Oktober bei 1,36 und ist um 8. Oktober wieder auf 1,02 gefallen. Nur die Zahl der mit Infizierten belegten Intensivbetten ist mit 153, bei knapp unter 50 Zwangsbeatmungen, noch gering.

… und ich

In dieser Gemengelage habe ich mich leider mit dem Virus infiziert und befinde mich seit einigen Tagen in Quarantäne. So kann man auch mal am eigenen Leib erfahren, wie dieses angeblich so gut vorbereitete Gesundheitssystem praktisch funktioniert. Und ich muss gestehen, Begeisterung fühlt sich anders an. Trotz meiner glücklicherweise recht milden Symptome will sich nicht das beruhigende Gefühl einstellen, dass meine Erkrankung von gut organisierten professionellen Händen behandelt würde. Eigentlich müsste viel eher gesagt werden, dass die Gesundheitsämter (GA), mit denen ich in Kontakt stand, gnadenlos überfordert wirken.

Als ich am 3. Oktober erfuhr, dass ich womöglich infiziert sei, versuchte ich sofort, das GA meines Bezirks Mitte zu erreichen. Dieser Stadtteil weist aktuell auch die höchsten Fallzahlen auf. Am Samstag und Sonntag konnte ich niemanden erreichen, was aus Arbeitsschutzgründen nachvollziehbar ist. Jedoch hätten sie wenigstens eine Art Anrufbeantworter mit allgemeinen Informationen zu Kontaktstellen und Infektionsschutz einschalten können. Stattdessen ertönte dauerhaftes Besetztzeichen. Am Montag versuchte ich es ab 8 Uhr. Nach dem 17. Anruf kam ich auch schon durch und erfuhr, dass ich einen Kontaktbogen ausfüllen solle und dass man sich anschließend bei mir melden würde – noch so eine Sache, die wirklich super wäre, wenn sie mir einfach ein Anrufbeantworter mitgeteilt hätte. Daneben wurde mir die freundliche Information gegeben, dass die Testkapazitäten des Bezirks am Boden seien und sie mich frühestens (!) in 10 Tagen testen können, was im Übrigen nach (!) Ablauf meiner Quarantäne wäre – und das, obwohl ich Symptome der Infektion aufweise. Wenige Stunden später erhielt ich einen Anruf – vom Gesundheitsamt Reinickendorf.

Die erst seit kurzem dort arbeitende Frau bat mich darum, dass ich meine Angaben erst am Ende dieses Gesprächs mache, beispielsweise, dass ich überhaupt nicht in Reinickendorf wohne. Nach knapp 20 Minuten Telefonat bin ich mir weiterhin unsicher, ob meine Daten überhaupt weitergereicht werden, nachdem ihnen auffiel, dass meine Angaben stimmen und ich wirklich nicht in Reinickendorf wohne und das GA daher überhaupt nicht zuständig für mich ist.

Zwischenzeitlich hatte ich mich eigenständig um einen PCR-Test (Polymerasekettenreaktionstest auf Virenbefall; PCR = Polymerase Chain Reaction) bemüht und mir vom Reinickendorfer GA bestätigen lassen, dass es in Ordnung sei, das Haus zu verlassen, um mich testen zu lassen – soweit kümmern sie sich also schon. Zum Briefkasten darf ich aber nicht hingehen, um die ausschließlich postalisch zugeschickte Informationen vom GA zu erhalten – das wäre schließlich fahrlässig.

Danach vergingen vier Tage bis Freitag. Als ich vor 2 Tagen beim GA Mitte anrief, um ihnen mitzuteilen, dass mein Test positiv sei, meinten diese, dass die Infos bei ihnen noch nicht eingetroffen seien und ich bitte warten solle und dass sie sich bei mir melden würden. Es ist schon spannend. Das GA Reinickendorf, das nicht zuständig ist und dessen Unterstützungsleistungen für mich nicht gelten, ruft häufiger an (2 Mal) als „mein“ GA.

Die Botschaft

Die Nachricht, die ich daraus lese, ist folgende: Du musst dich um alles selbst kümmern, ansonsten passiert hier überhaupt nichts. So konnte ich bis heute nicht meine sogenannten Erstkontakte angeben, also Leute, die sich länger als 15 Minuten in weniger als 2 Metern Abstand von mir aufhielten. Ich habe es natürlich eigenständig gemacht, aber in die Statistik, geschweige denn den Aufgabenbereich des Landes Berlin, fallen die Personen somit nicht rein. Außerdem habe ich die angeblich kommenden Kontrollanrufe nicht erhalten. Um den Test musste ich mich eigenständig kümmern. Ob das Gesundheitsamt die Informationen erhalten hat, weiß ich bis heute nicht. Den tragikomischen Witz, dass sie mir das Angebot machten, mich nach abgelaufener Quarantänezeit testen zu lassen, will ich mal außen vorlassen.

Unterm Strich ist die Situation bei den Gesundheitsämtern scheinbar extrem prekär. Die Telefonkapazitäten reichen nicht aus, um die Personen in Quarantäne zu kontaktieren. Die viel zu geringen Testkapazitäten führen nur dazu, dass die, die noch die Kraft haben, sich ohne Hilfe darum zu kümmern, noch einigermaßen durchkommen und zu irgendwelchen Privatpraxen gehen. Dass ich meine Kontakte eigenständig dazu bewegen musste, sich zu isolieren, und sie mir Glauben schenken mussten, dass das nun notwendig sei, halte ich für ein weiteres Problem in Bezug auf die Ausbreitung des Virus.

Sicher ist all dies am wenigsten die Schuld der Beschäftigten, die jetzt die Personallöcher stopfen sollen, die jahrzehntelange neoliberale Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen gerissen haben. Die Verantwortung für die Meldung von möglichen Infektionen, für Tests, … wird faktisch auf die Menschen abgewälzt, deren Gesundheit gefährdet ist. Sie wird „privatisiert“, der „Schutz“ gestaltet sich sozial selektiv. Statt zügiger, kostenloser Testung, medizinischer Beratung und  Unterstützung wird die eigentlich öffentliche Aufgabe auf die potentiell Infizierten abgewälzt. Das betrifft nebenbei auch die Kosten, die bei bei Obdachlosen, KurzarbeiterInnen oder ALG-II-EmpfängerInnen, RentnerInnen oder Studierenden durchaus spürbar sind. Manche werden so vor die Alternative gestellt, an der Gesundheitsvorsorge oder an Lebensmitteln zu „sparen“.

Ich hoffe, dass dieses sich andeutende behördliche Versagen nicht zu einer Verstärkung der Ausbreitung von SARS-CoV-2 führt, auch wenn die Verantwortung, die das Land Berlin (und wohl auch andere Länder) im Zuge des eigenen Versagens den Einzelnen überstülpt, diese Vermutung realistisch erscheinen lässt.

Ich bleibe vorerst zuhause und hoffe, dass Ihr gesund durch die kalte Jahreszeit kommt. Passt auf Euch auf, sonst macht’s ja scheinbar keine/r.




Corona und die Unterversorgung an Medikamenten

Katharina Wagner, Infomail 1099, 15. April 2020

In der im Moment herrschenden Pandemie richtet sich der Blick der gesamten Gesellschaft natürlich verstärkt in Richtung Gesundheitswesen. Vor allem in den Krankenhäusern und  Pflegeeinrichtungen herrschen derzeit gravierende Mängel in Bezug auf Schutzausrüstung, Desinfektionsmittel und vor allem Personal. Aber auch in anderen Bereichen des Gesundheitswesens ist die derzeitige Situation spürbar.

So wird das Apothekenpersonal jeden Tag mit den auftretenden Problemen der herrschenden Pandemie konfrontiert. Das erlebe ich als angestellte PTA (Pharmazeutisch-technische Assistentin) in einer Apotheke in Baden-Württemberg hautnah. Waren es zunächst Probleme bei der Beschaffung von Desinfektionsmitteln und Mundschutz, weitet sich die Problematik nun aus. Die Lieferfähigkeit vieler Medikamente kann derzeit nicht gewährleistet werden, was vor allem für chronisch Kranke zusätzliche Probleme mit sich bringt. Für viele PatientInnen wie beispielsweise EmpfängerInnen eines SpenderInnenorgans oder Personen, welche unter Autoimmunerkrankungen oder HIV leiden, ist die tägliche Medikamenteneinnahme überlebenswichtig.

Ursachen von Lieferengpässen

Ein Grund für die fehlende Lieferfähigkeit ist sicher in Hamsterkäufen zu suchen, da aufgrund der zunehmenden Unsicherheit viele Ärzte auf Bitte der PatientInnen hin früher als bisher neue Verordnungen für Medikamente ausstellen. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat darauf bereits reagiert und die pharmazeutischen UnternehmerInnen und GroßhändlerInnen aufgefordert, „Arzneimittel nicht über den normalen Bedarf hinaus“ an die Apotheken zu liefern (Frankfurter Rundschau, 07.04.2020).

Die verstärkte Nachfrage kann von der Pharmaindustrie nicht sofort durch höhere Produktionsmengen gestillt werden, auch weil die Prüfung und Freigabe der einzelnen Produktionschargen aufgrund notwendiger regulatorischer Vorgaben einige Zeit in Anspruch nehmen. So beträgt beispielsweise die Produktionszeit eines Impfstoffes vom ersten Produktionstag bis zur endgültigen Auslieferung und Abgabe an den Kunden üblicherweise rund 24 Monate. Das liegt zum einen an den zahlreichen Qualitätsprüfungen (QC), welche der Impfstoff durchlaufen muss.

Ein weiterer wichtiger Grund ist aber die Dezentralisation der Impfstoff- beziehungsweise Arzneimittelherstellung. Kaum ein Medikament wird heutzutage noch an einem einzigen Standort hergestellt. Aufgrund der Globalisierung kam es auch zu einer Dezentralisation der Produktion, so dass bei einem einzigen Medikament mehrere Produktionsstätten weltweit beteiligt sind. Vor allem die so genannten Rohstoffe, damit sind zum einen die Wirkstoffe des Medikaments und zusätzlich benötigte Hilfsstoffe gemeint, werden hauptsächlich in den Billiglohnländern China und Indien produziert (https://www1.wdr.de/verbraucher/gesundheit/medikament-knappheit-100.html)

Der Hauptgrund für die Verlagerung der Produktion ist in der Senkung der Produktionskosten aufgrund eines steigenden Preisdrucks zu suchen. Dieser wird zum einen durch die wechselnden Rabattverträge zwischen Krankenkassen und Pharmaunternehmen verursacht, welche bei der Verordnung und Abgabe von Medikamenten berücksichtigt werden müssen. Auch die Zunahme der Marktanteile von sogenannten Generika, also preisgünstigen Medikamenten, deren Patentschutz abgelaufen ist, verstärkt den herrschenden Preisdruck zusätzlich.

Die damit einhergehenden längeren Lieferzeiten können gerade in der jetzigen Situation mit im Prinzip geschlossenen Grenzen schnell zu Lieferengpässen führen. Auch wurden seitens einiger Länder, wie zum Beispiel Indien, bereits Listen mit Medikamenten erstellt, welche derzeit nicht exportiert und an andere Länder versendet werden dürfen, um den eigenen nationalen Bedarf zu decken (Frankfurter Rundschau, 07.04.2020). Erschwerend kommt hinzu, dass für manche Wirkstoffe teilweise global nur noch wenige ProduzentInnen existieren. Als Beispiel sei Ibuprofen genannt, eines der weltweit am häufigsten eingesetzten Medikamente zur Behandlung von Schmerzen und Entzündungen. Dieses wird derzeit nur noch von sechs ProduzentInnen hergestellt, neben der deutschen BASF und der US-amerikanischen SI Group jeweils zwei weitere ProduzentInnen aus Indien (Solara, IOLPC) und China (Hubei Granules-Biocause, Shandong Xinhua). Der deutsche Chemieriese BASF wird ab 2021 der einzige Hersteller mit zwei Produktionsstandorten sein. Nächstes Jahr soll an seinem Stammsitz Ludwigshafen eine Anlage in Betrieb gehen. Bis dahin steigert BASF die Produktion am Standort Bishop (Texas). Alle genannten HerstellerInnen besitzen dabei einen Marktanteil zwischen 10–20 % und stößt jährliche Produktionsmengen von 3.000–6.200 t (Stand 2018, https://m.apotheke-adhoc.de/nachrichten/detail/pharmazie/sechs-fabriken-fuer-ibuprofen/) aus. Kommt es bei einem/r der genannten HerstellerInnen zu Qualitäts- oder technischen Problemen, sind Lieferengpässe unausweichlich.

Schon vor Corona

Bereits lange vor dem Einsetzen der Corona-Gefahr kam es aus verschiedenen Ursachen zu einem stetigen Anstieg an Lieferengpässen verschiedener Medikamente.

Besonders problematisch ist in der nun herrschenden Pandemie die Tatsache, dass viele der benötigten Wirkstoffe, wie bereits angesprochen, in Asien produziert werden. Aufgrund der hohen Infektionszahlen und der damit verbundenen Drosselung oder gar des Stopps der Produktion sind daher globale Lieferengpässe an dringend benötigten Medikamenten die Folge.

Dies wird mittlerweile auch in den Apotheken deutlich spürbar. Mehrmals am Tag müssen PatientInnen vertröstet oder zurück an den Arzt verwiesen werden, da das für sie benötigte Medikament derzeit nicht lieferbar ist und keine Alternative zur Verfügung steht. Bei einigen Erkrankungen, wie beispielsweise Bluthochdruck, stehen glücklicherweise andere Wirkstoffe als Alternative zur Verfügung, welche durch die jeweiligen ÄrtztInnen verordnet werden können. Anders sieht es dagegen bei HIV oder psychischen Erkrankungen aus. Hier fehlen schlichtweg Alternativen zum bestehenden Medikament.

Ist das benötigte Medikament längere Zeit nicht lieferbar, leidet der/die PatientIn sehr schnell an gravierenden körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen, welche sogar lebensbedrohlich werden können. Das Apothekenpersonal steht innerhalb der Medikamentenverordnung an letzter Stelle und ist mit den Ängsten und der berechtigten Verärgerung der PatientInnen konfrontiert. In den meisten Fällen können wir die PatientInnen leider nur vertrösten und zur Not an ihre/n ÄrztIn verweisen, um Alternativen zum bisherigen Medikament zu besprechen. Schnell fühlt man sich dann im Stich gelassen.

Forderungen

Zur Lösung dieser Probleme müsste eine entschädigungslose (Wieder-)Verstaatlichung der pharmazeutischen Industrie durchgeführt und die Produktion von Rohstoffen und Medikamenten unter Kontrolle der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften gestellt werden. Um eine hohe Qualität an Rohstoffen und Medikamenten sicherzustellen, sollten zudem Laborkontrollen an allen Produktionsstätten und innerhalb jedes Produktionsschrittes erhöht werden, ebenfalls kontrolliert von den Beschäftigten und PatientInnen bzw. ihren Verbänden.

Um den herrschenden Preisdruck und daraus resultierende Qualitätseinbußen zu beseitigen, sollten sofort alle Rabattverträge zwischen Krankenkassen und Pharmaunternehmen aufgehoben werden. Zur Erhöhung der Produktionskapazitäten müssen sofort alle Forschungsergebnisse veröffentlicht und das Patentrecht aufgehoben werden, so dass lebensnotwendige Medikamente für die Masse der Bevölkerung, auch in der Ländern der sog. Dritten Welt, zur Verfügung stünden. Die Medikamentenpreise sollten von Verbänden der PatientInnen und den Beschäftigten festgelegt und die jeweiligen Kosten vollständig von den Krankenkassen übernommen werden.




Nein zum Bayerischen Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz!

Martin Eickhoff, Infomail 1014, 15. August 2018

In Zeiten eines repressiver werdenden Staatsapparates werden in mehr und mehr Bundesländern sogenannte Polizeiaufgabengesetze eingeführt. Gegen diese regt sich aber auch Widerstand, wie die Demonstrationen von als 30.000 Menschen in München und rund 20.000 in Düsseldorf belegen.

Weniger bekannt sind jedoch andere reaktionäre Gesetzesvorhaben wie der bayerische Entwurf für das Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (BayPsychKHG), mit dem psychisch erkrankte Menschen stigmatisiert werden. Der Betrug beginnt hier schon beim Namen des Gesetzes. Viele Fachverbände kritisieren zu Recht, dass es hier nicht um Hilfe, sondern um Diskriminierung und Stigmatisierung geht. Der bekannte Münchner Sozialrechtsanwalt Dr. Rolf Marschner weist in seiner Kritik darauf hin, dass psychisch erkrankte Menschen in Kliniken gemäß den Regeln des Strafregelvollzugs oder der Sicherheitsverwahrung gehalten werden sollen.

Menschen, die z. B. wegen Depressionen oder Burn-out in stationärer Behandlung waren, sollen in einer zentralen Unterbringungsdatenbank erfasst werden. Diese sollen nach Regeln des Kriminalrechts festgehalten und der Polizei pauschal gemeldet werden. Entlassungen aus der Klinik sollen ebenfalls vorher der Polizei angezeigt werden. Wenn man davon ausgeht, dass in Deutschland ca. 10 Millionen Menschen an Depressionen leiden, kann nur erahnt werden, welche Unmengen an Daten von BürgerInnen gesammelt werden und ebenso, wie linke AktivistInnen auch auf diesem Weg ins Kreuzfeuer der staatlichen Stellen geraten können. Hierzu soll dann schon „eine Gefährdung der Allgemeinheit“, z. B. die Teilnahme an einer antifaschistischen Demonstration, das Beschädigen eines Müllcontainers oder eine Sitzblockade ausreichen, um mutige BürgerInnen einfach auf Verdacht hin aus dem Verkehr zu ziehen oder zu verhindern, dass diese auf eine politische Veranstaltung gehen können.

Allein in Bayern werden jedes Jahr ca. 12.000 Menschen wegen Selbst- oder Fremdgefährdung in psychiatrischen Einrichtungen untergebracht und behandelt. Statt die Ursachen für die Zunahme psychischer Erkrankungen in unserer Gesellschaft zu benennen und zu beseitigen, geht es der CSU um eine gezielte Stigmatisierung von Menschen, die professionelle Hilfe brauchen und auf diese Weise abgeschreckt werden, diese in Anspruch zu nehmen. Die geplante Registrierung und zeitlich unbegrenzte Speicherung von Daten erinnert stark an die bereits vor Jahrzehnten aufgestellten Forderungen der Herren Gauweiler und Seehofer (beide CSU) zwecks Erfassung Homosexueller und HIV-Positiver sowie deren äußerlicher Kennzeichnung, die dabei bewusst Parallelen zum Nazi-Regime in Kauf genommen haben.

So werden medizinische, pädagogische und psychologische Fachkräfte in die Rolle von Hilfssheriffs gesteckt und Kliniken zu staatlichen Verwahranstalten. Zwar soll nach Kritik von Fachverbänden und Fachkräften das Gesetz noch einmal überarbeitet werden, im Kern soll es aber erhalten bleiben.

  • Nein zum Bayerischen Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz!
  • Gegen jede Kriminalisierung und öffentliche Stigmatisierung psychisch Kranker!
  • Gegen die unkontrollierte Sammlung und massenhafte Speicherung von PatientInnendaten!



Bayrisches Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz: Entrechtung von Kranken

Veronika Schulz, Neue Internationale 228, Mai 2018

Zusätzlich zur Militarisierung der Polizei vollzieht die CSU auch eine Kriminalisierung von psychisch Kranken. Der harmlose Name „Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz“ (BayPsychKHG) verschleiert das neueste Vorhaben, Menschen, die in Psychiatrieeinrichtungen behandelt werden, in einer „Unterbringungsdatei“ zu registrieren. Statt um „Hilfe“ geht es hauptsächlich um Zwangseinweisung psychisch Kranker zur „Gefahrenabwehr“. Die PatientInnen zu heilen oder ihren Zustand zu verbessern, bleibt nur untergeordnetes Ziel. Die geplanten Vorschriften orientieren sich deshalb am Strafrecht und am Maßregelvollzug für StraftäterInnen. Daten sollen zum Zweck der Strafverfolgung verarbeitet werden dürfen.

Allein in Bayern werden jedes Jahr ca. 12.000 Menschen wegen Selbst- oder Fremdgefährdung in psychiatrischen Einrichtungen untergebracht und behandelt. Statt die Ursachen für die Zunahme psychischer Erkrankungen in unserer Gesellschaft zu benennen und zu beseitigen, geht es der CSU um eine gezielte Stigmatisierung von Menschen, die professionelle Hilfe brauchen und auf diese Weise abgeschreckt werden, diese in Anspruch zu nehmen. Die geplante Registrierung und zeitlich unbegrenzte Speicherung von Daten erinnert stark an die bereits vor Jahrzehnten aufgestellten Forderungen der Herren Gauweiler und Seehofer (beide CSU) zwecks Erfassung Homosexueller und HIV-Positiver sowie deren äußerlicher Kennzeichnung, die dabei bewusst Parallelen zum Nazi-Regime in Kauf genommen haben.

  • Gegen jede Kriminalisierung und öffentliche Stigmatisierung psychisch Kranker!
  • Gegen die unkontrollierte Sammlung und massenhafte Speicherung von PatientInnendaten!