Gegen die Eskalation der Konflikte Äthiopiens mit seinen Nachbarn!

Jona Everdeen, REVOLUTION, Infomail 1245, 13. Februar 2024

Wenig zeigt den Zynismus der aktuellen Epoche des Imperialismus mehr, als dass Äthiopiens Ministerpräsident Abiy Ahmed 2019 den Friedensnobelpreis erhielt, als Auszeichnung dafür, dass er den jahrzehntelangen Konflikt zwischen Äthiopien und Eritrea scheinbar beilegte, wobei er bereits ein Jahr später einen extrem brutalen Krieg gegen die aufständische nordäthiopische Provinz Tigray führte. Besonders heraus stach dabei eine von der äthiopischen Zentralregierung verhängte Lebensmittelblockade, mit der Tigray ausgehungert werden sollte und an deren Folgen die meisten der hunderttausenden Opfer starben. Nachdem der im Westen komplett vergessener Krieg 2022 zu Ende gegangen war und ein zweiter in der Nachbarprovinz Amhara knapp verhindert werden konnte, scheint es so, als sei eine Beruhigung damit noch längst nicht in Sicht, denn nun droht Abiy Ahmed eben jenem Land, mit dem seine Vermittlungen ihm einst den Friedensnobelpreis einbrachten – Eritrea. Doch warum kommt Äthiopien nicht zur Ruhe und droht nun, der alte Konflikt mit seinem nördlichen Nachbarn wieder auszubrechen? So viel schon mal: Imperialistische Machtkonflikte spielen hier eine zentrale Rolle.

Vom Blauen Nil zum Roten Meer

Um die aktuelle Situation zu verstehen, muss man zunächst die allgemeine Lage des Landes sowie seine Position im Weltsystem betrachten. Äthiopien ist mit ungefähr 120 Millionen Einwohner:innen das zweitbevölkerungsreichste Land Afrikas, hinter Nigeria und dicht gefolgt von Ägypten, und verzeichnete in den Jahren vor der Coronapandemie ein erstaunliches Wirtschaftswachstum. Das änderte zwar nichts an der Armut der Bevölkerung, jedoch an der Stellung der nationalen Bourgeoisie, welche sich nun in der Lage sah, eine aktivere Rolle auf dem afrikanischen Kontinent zu spielen. Abiy Ahmed schien dafür der geeignete Ministerpräsident zu sein: So kommt er zwar aus der zahlenmäßig größten Volksgruppe, der Oromo, stand jedoch von Beginn an für eine gesamtäthiopische Politik und war bereit, diese notfalls auch mit exzessiver Gewalt durchzusetzen. Um jedoch nach dem Krieg in Tigray und dem Konflikt in Amhara weitere Ausbrüche ethnischer Feindschaften zu verhindern und das ganze Land wieder zu vereinen, muss Ahmed nun auf eine Politik der Versöhnung setzen, und das kann er nur, indem er nationalen „Fortschritt“ verspricht.

Das läuft aber nur auf Kosten anderer Länder Afrikas. Zwei zentrale Projekte sollen den wirtschaftlichen Aufstieg zementieren und Äthiopien zur zentralen Macht Ostafrikas machen: der Bau einer riesigen Talsperre im Blauen Nil zur Gewinnung von Strom und Bewässerung sowie ein Zugang zum Meer für den Export der deutlich gestiegenen Warenmenge.

Der „Grand Ethopian Renaissance Dam“ wird bereits seit 2011 gebaut, seit 2020 langsam mit Wasser befüllt und sorgt für massive Konflikte in der Region. So fürchten Ägypten und der Sudan, dass der Damm, vor allem in den Jahren der Befüllung des Stausees, die Menge an Nilwasser flussaufwärts stark reduzieren wird und damit ihre Wasserversorgung massiv gefährdet. Ägypten drohte gar mit einer militärischen Intervention gegen den Staudamm. Zwar wurde die Lage zuletzt durch den Krieg in Tigray sowie den sudanesischen Bürgerkrieg überschattet, jedoch könnte sich der ägyptische Diktator Al-Sisi (Abd al-Fattah as-Sisi) genötigt sehen, auch zur Stabilisierung seiner eigenen Position seinen Drohungen Taten folgen zu lassen.

Während der Staudamm für Ägypten und den Sudan eine Bedrohung darstellt, sieht Äthiopien ihn als große Chance, seine wachsende Wirtschaft dauerhaft mit genügend Energie durch Wasserkraft zu versorgen und gleichzeitig durch den Bau weiterer anknüpfender Infrastruktur seine Bewässerung deutlich zu verbessern und somit seine eh schon bedeutende landwirtschaftliche Produktion massiv zu steigern.

Ein weiteres, vermutlich noch zentraleres, nationales Ziel Äthiopiens ist der Bau eines eigenen Hafens. So ist es seit der Unabhängigkeit Eritreas 1993 vollständig vom Meer abgeschnitten und muss seine Exporte gegen eine hohe Gebühr über den Hafen von Dschibuti verschiffen. Jedoch reichen die dortigen Kapazitäten nicht aus für die immer weiter steigende Menge an Waren. Während scheinbar noch nach einer diplomatischen Lösung gesucht wird, verschärft sich jedoch inzwischen die Rhetorik gegenüber Eritrea, mit dem Äthiopien sich seit dessen Unabhängigkeit lange Zeit um territoriale Fragen bekriegte. So ließ Ministerpräsident Ahmed verlauten, dass er nicht wisse „was in Zukunft passiert“, sollte „Äthiopiens Wunsch nach einem Meereszugang nicht friedlich erfüllt“ werden. Eine unverhohlene Drohung! Dazu kommt auch noch, dass die Zeit im Moment günstig scheint für ein militärisches Abenteuer.

Dies zeigt der Wiederausbruch alter Konflikte im Kongo und in Darfur, wo sich weder die ehemalige „Weltpolizei“ USA noch sonst eine imperialistische Ordnungsmacht allzu sehr für Frieden und Völkerrecht zu interessieren scheinen. Schließlich hat man alle Hände voll zu tun mit dem Genozid in Gaza und dem Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine.

Äthiopien und Chinas Plan zur Neuaufteilung der Welt

Während Äthiopien momentan noch wie so viele Halbkolonien versucht, zwischen den internationalen Machtblöcken zu manövrieren, scheint es immer klarer zu werden, auf welche Seite es langfristig gezogen wird: auf die Chinas. So ist China nicht nur der größte Handelspartner Äthiopiens, sondern hat auch den Bau des umstrittenen Staudamms finanziert und vermutlich auch Äthiopien den Beitritt zu den BRICS-Plus ermöglicht. Dass China so etwas nicht aus Nettigkeit tut, wissen wir. Es ist vielmehr als Teil seiner Strategie zu sehen, den Kampf um die Neuaufteilung der Welt zu gewinnen.

So könnte Äthiopiens Kampf um einen Zugang zum Meer auch für die Seeroute von Chinas „Neuer Seidenstraße“ relevant werden. Zwar führt diese nach derzeitigen Plänen in Ostafrika über Nairobi und Dschibuti, jedoch ist gerade Letzteres von allen Mächten umkämpft und ein alternativer Hafen, in den Händen eines treuen Verbündeten, könnte für China durchaus verlockend sein. Gerade auch wenn man bedenkt, dass es sich ja in der Vergangenheit schon als Experte für Hafenbau inszeniert hat, wovon man in Sri Lanka ein Lied singen kann.

Auch die Regionalmachtsambitionen der äthiopischen Bourgeoisie könnten sich für China als nützlich erweisen. So könnte das Land am Horn von Afrika in der von China angestrebten Weltordnung als Stabilitätsgarant oder gar imperialistischer Gendarm in Ostafrika dienen.

Während all diese Szenarien momentan noch sehr spekulativ sind, ist dies eines sicher nicht: Wie auch das enorme Wirtschaftswachstum des letzten Jahrzehntes der einfachen Bevölkerung, den Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen und Jugendlichen nichts gebracht hat, werden es auch Machtbestrebungen der nationalen Bourgeoisie nicht. Im Gegenteil, die Leittragenden werden sie sein, so wie es in Tigray bereits geschehen ist.

Was braucht es wirklich?

Die einfachen Arbeiter:innen und Bäuer:innen in der Region brauchen keinen Hafen, über dem die äthiopische Flagge weht, und auch keinen Prestigetriumph über Ägypten. Strom und Wasser jedoch brauchen sie sehr wohl und dazu auch noch Nahrung, Kleidung und Schuhe! Das Wirtschaftswachstum lässt wohl Brotkrumen für die einfache Bevölkerung abfallen, sodass die vormals unsäglich hohe Unterernährung zwar rückläufig ist, aber weiterhin bei über 20 % liegt. Frauen und Kinder sind hierbei besonders betroffen. Für die äthiopische Bourgeoisie und den autoritären Ministerpräsidenten bleibt das ein bestenfalls drittrangiges Problem, ganz gleich, was er auch verspricht. Bewaffnete Konflikte, seien sie gegen rivalisierende Volksgruppen oder Nachbarstaaten, werden da erst recht nicht helfen.

Was es stattdessen braucht, ist eine Bewegung der Arbeiter:innen, kleinen Bauern und Bäuerinnen sowie Jugendlichen, die die Produktionsmittel und Anbauflächen unter ihre Kontrolle bringt und in Räten planwirtschaftlich verwaltet. Dafür ist es nötig, dass alle Völker Äthiopiens sich zusammenschließen und gemeinsam kämpfen, wobei das Recht auf nationale Selbstbestimmung für jede dieser Ethnien gewährt werden muss.

Doch nicht nur innerhalb Äthiopiens braucht es den solidarischen und demokratischen Zusammenschluss der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen über ethnische Grenzen hinweg. Diese Bewegung muss gemeinsam kämpfen mit ähnlichen in ganz Ostafrika und einstehen für eine Sozialistische Föderation der afrikanischen Völker! Nur so kann die Macht der Imperialist:innen, ob sie nun aus den USA, Europa oder China kommen, gebrochen werden, die Kontrolle der Rohstoffe denen zufallen, die sie fördern und eine für alle gerechte Verteilung von Lebensmitteln sowie des Wassers der Flüsse und der Nutzung der Häfen gewährleistet werden.




IAA München: Autoindustrie umschalten

Mattis Molde, Neue Internationale 2023, September 2023

Die Internationale Automobilausstellung (IAA) ist nicht mehr das, was sie mal war. Einst war es die Präsentation der neuesten und teuersten Automobile zu Werbe und Verkaufszwecken, ein Ort, an dem Technik- und Autobegeisterte vor allem männlichen Geschlechts ihrer echten Leidenschaft kollektiv frönen konnten. Aber schon die Ausstellung 2021 verzeichnete zeitweise „leere Hallen“ und die Stimmung war „verklemmt“, wie Redakteur:innen von Auto motor und sport (Deutsche Automobilzeitschrift) in einem Interview mit dem VDA (Verband der Automobilindustrie) beklagten.

Die IAA 2023 sieht ein Riesenvolksfest in der Münchner Innenstadt vor, alle dürfen Probe fahren, Autos, E-Bikes, Scooter und sogar überwiegend „kostenfrei“. Angeblich geht es um „Mobility“ und im Werbefilmchen ist auch ganz kurz eine Straßenbahn zu sehen sowie zwei Fußgänger:innen –  auf einem Berggrat wandernd. Wie sind sie dorthin angereist? Sicher mit dem Auto, das aber unsichtbar bleibt.

Ein Filmchen so wie die übliche Autowerbung, in der es meist um viel entlegene Natur geht, gerne steil, mit Schnee oder Sand, die ein kraftvolles Fahrzeug erfordert, gerne auch Familie mit Kindern, die im SUV (Sport Utility Vehicle; Stadtgeländewagen bzw. Geländelimousine) wundervoll geschützt sind, oder –„alternativ“ – junge moderne Individuen, die ihre besondere Individualität mit einem ebenso besonderen Kleinwagen ausleben. In dieser Werbung kommen praktisch nie andere Autos vor, schon gar nicht die Realität verstopfter Innenstädte oder blockierter Autobahnen. Das einzige Auto, das vorkommt, ist das Produkt der werbenden Firma.

Beim IAA-Werbefilmchen muss man sich anstrengen, mal kurz im Hintergrund zwei Rücklichter zu entdecken – Berge und Baby sind länger zu sehen. Die Automobilbranche hat ganz offensichtlich ein Imageproblem.

Es ist nicht so, wie die Autoindustrie gerne tut, dass sie unverdientermaßen schlechtgeredet wird. Nein, sie ist schlecht: hauptverantwortlich für den Klimawandel und für eine Verkehrspolitik, die ineffizient und teuer ist und das größte Hindernis für eine Wende dieser. Ein wahrheitsgetreuer Film über diese Branche müsste Autounfälle und Abholzungen zeigen, Waldbrände und Ölpest. Sie setzt ihre Interessen mit Lobbyarbeit, Drohungen und kriminellen Methoden durch. Sie muss bekämpft werden und die IAA ist ein guter Platz, diesen Kampf zu propagieren.

Der Gegner

Der VDA richtet die IAA aus und besorgt die ganze politische Vertretung des deutschen Autokapitals mit Büros in Berlin, Brüssel und China. Er sorgt für die unglaublichen Subventionen für die Industrie in Form von Geldern für die Transformation (E-Mobilität, Biosprit …), Forschung, Abwrackprämien und E-Auto-Zuschüsse, für Autobahnbau und Aufbau von Ladestruktur und dazu die Unterstützung, die Autowerke von den Bundesländern erhalten. Hinzu kommt Subvention durch Kurzarbeit in einem Umfang, der die Erwerbslosenversicherung schon bis 2022 über 30 Milliarden Euro gekostet hat.

Der VDA sorgt für eine ökologisch unsinnige Klimapolitik der EU, die aber maßgeschneidert für große Oberklassen-Pkw  ist: Beurteilt wird der Flottenverbrauch, das heißt durchschnittliche CO2-Ausstoß aller neuverkauften Fahrzeuge eines Herstellers, berechnet aus dem Spritverbrauch entsprechend den Angaben eben dieses Herstellers. Für E-Autos gibt’s „Supercredits“, diese senken diesen völlig fiktiven Flottendurchschnitt überproportional.

Die Logik dieses Systems, das so offensichtlich die Böcke/Ziegen zu Gärtner:innen macht, bewirkt auch, dass der Kauf jedes Kleinwagens oder E-Mobils dem jeweiligen Hersteller den Verkauf weiterer fetter SUVs erlaubt und so umgekehrt der möglicherweise gute Wille der Käufer:in konterkariert wird.

Die Autoindustrie, die dicke staatliche Subventionen kassiert, zeigt keine, Scham zugleich ein massives Arbeitsplatzvernichtungsprogramm durchzuziehen. Der Personalabbau ist im vollen Gange: Von 850.000 Beschäftigten im Jahr 2019 sind es noch 760.000 im Jahr 2022. Fast 100.000 weniger. Der Geschäftsführer des VDA, Jürgen Mindel, spricht jetzt anlässlich der IAA von „über 600.000 Beschäftigten“ der Autoindustrie.

Dieser Personalabbau spielt sich vor allem in der Autozulieferindustrie ab. Kleinere Unternehmen werden verkauft oder schließen Standorte. Größere Unternehmen wie Opel, MAN, Bosch, Conti und Mahle haben Personal in Tausendergrößenordnung abgebaut und Standorte geschlossen.

Der VDA wäscht seine Hände in Unschuld. „Die Transformation der deutschen Automobilbranche hin zu E-Mobilität kann mehr Arbeitsplätze kosten, als Beschäftigte in den kommenden Jahren in den Ruhestand gehen – und dies schon, ohne die Folgen der überstürzten aktuellen Diskussion um ein neues Klimaschutzgesetz absehen zu können. Bis zum Jahr 2025 sind mindestens 178.000 Beschäftigte betroffen, bis 2030 mindestens 215.000 Arbeitsplätze – und dies schon auf der Basis der bisherigen Klimaschutzgesetze“, ließ er per Pressemitteilung am 5.6.21 wissen. Also: Die Klimagesetze, die gerade den CO2-Ausstoß beim Verkehr mitnichten eingedämmt haben, sind schuld daran, dass schon Hunderttausende ihre Arbeit verloren haben.

Dieser Personalabbau hat überhaupt nichts damit zu tun, dass es den großen Unternehmen der Branche schlechtginge. VW zum Beispiel hat seinen Profit von gut 7 Milliarden Euro im Jahr 2016 auf über 22 Milliarden fast kontinuierlich gesteigert.

Es ist vielmehr so, dass er diese Gewinne generiert. Die Großkonzerne zwingen die Zulieferer, ihre Teileproduktion ins Ausland zu verlagern. Teile für Verbrenner werden nicht weiterentwickelt. Wenn sie auslaufen, erfolgt der Neustart in „Low Cost Countries“. Die Teile für E-Mobility werden schon lange dort gefertigt. Die Klagelieder über die „Deindustrialisierung“ Deutschlands stammen also von den Verursacher:innen derselben.

Als Internationalist:innen geht es uns nicht darum, „Arbeitsplätze in Deutschland“ zu verteidigen. Aber diese Betriebe können auch die Fahrzeuge bauen und die nötigen Technologien entwickeln, die für eine klimagerechte Mobilität nötig sind. Ihre Belegschaften können die Kraft sein, die der Klimabewegung bislang fehlt, um andere Entscheidungen durchzusetzen.

Strategie

Auf diese Kraft der ganzen Arbeiter:innenklasse müssen wir setzen. Die Rezepte der Klimabewegung waren bislang hilflos:

  • Die individuelle Kaufentscheidung beeinflusst nicht, welche Autos gebaut werden, und schon gar nicht, welche Verkehrssysteme zur Verfügung stehen. Der Bau und Betrieb von öffentlichen Alternativen muss politisch durchgesetzt werden gegen die Interessen der Autoindustrie.

  • Staatliche Richtlinien und Vorgaben bei Subventionsvergabe werden die Autokonzerne zu nichts zwingen können, sondern umgekehrt: Die stärkste Fraktion des deutschen Exportkapitals setzt in „ihrem Staat“ ihren Willen durch.

  • Straßen zu blockieren, ist mutig, aber es trifft nicht den eigentlichen Gegner. Der VDA und seine politischen Gehilfen rufen nach Polizei und Staatsanwalt. Die kommen auch und schlagen zu. Abgasbetrug aber bleibt straflos.

Das entscheidende Problem für die Verbindung von Umweltbewegung und Lohnabhängigen stellen jedoch die Führungen der Arbeiter:innenklasse, vor allem die Bürokratie und Apparate in den Gewerkschaften und Großkonzernbetriebsräten dar, die letztlich „ihre“ Autoindustrie über die Interessen der Gesellschaft stellen. Schlagwörter wie Transformation und ökologischer Umbau sind für sie Phrasen, die der Zusammenarbeit mit Kapital und Regierung mehr Glanz verleihen sollen.

Es reicht daher nicht, die Lügen der Autoindustrie offenzulegen und die Schwächen der Umweltbewegung zu kritisieren. Vor allem müssen wir für einen Kurswechsel Richtung Klassenkampf in den Betrieben und Gewerkschaften und der gesamten Arbeiter:innenbewegung kämpfen.

Die Autoindustrie kann nicht ökologisch „transformiert“ werden, ohne die Macht des Kapitals anzugreifen, ja zu brechen. Andernfalls bleibt es bestenfalls bei Stückwerk. Die Enteignung der Autoindustrie – ohne Entschädigung und unter Arbeiter:innenkontrolle – bildet daher eine Schlüsselforderung. Nur so kann ein planmäßiger Umbau im Interesse der Lohnabhängigen und ökologischer Nachhaltigkeit angegangen werden. Diese Perspektive muss sich auch die Bewegung gegen die IAA zu eigen machen.




Teuerungskrise 2022

Mo Sedlak, ursprünglich veröffentlicht auf http://arbeiterinnenstandpunkt.net/, Teil 1, Infomail 1204, 12. November 2022

Die Preise explodieren, nicht nur in Österreich, sondern von Europa bis in die USA. Energie, Lebensmittel und Mieten sind für breite Teile der Bevölkerung nicht mehr leistbar. Für neokoloniale Länder im globalen Süden gehört diese Existenzbedrohung der Arbeiter:innenklasse und der Erwerbslosen schon länger zur Krisennormalität. Aber dass die beschworene Preisstabilität auch in den imperialistischen Zentren wackelt, zeigt, wie gefährlich der weltweite Kapitalismus unter Krieg und Gesundheitskrise taumelt. Das ist mehr als eine spannende Beobachtung: Wenn es nicht gelingt, die Lebenskostenkrise der Arbeiter:innenklasse abzuwehren, droht eine tiefe soziale Krise und eine weitere Schwächung der Linken.

Vor nur zwei Jahren hat das Gegenteil den Zentralbanken und Unternehmensverbänden Kopfweh gemacbereitet. Die jährlichen Preiserhöhungen wollten und wollten nicht an das „Inflationsziel“ von 2 % herankommen. Die Geldmengenpolitik der EZB ging direkt in Aktienblasen statt in die Supermärkte und Firmeninvestitionen.

Beides, sowohl Niedrig- als auch Hochinflation, sind Krisenphänomene des Kapitalismus seit der globalen Rezession 2008. Die Hochinflation ist allerdings deutlich kurzfristiger existenzbedrohend für Arbeiter:innen, Erwerbslose und Arme. Um das effektiv zu verhindern, müssen wir um mutige Forderungen kämpfen, Preise beschränken und die wichtigsten Wirtschaftsbereiche von Heizung bis Lebensmitteln unter demokratische Kontrolle stellen. Und wir müssen verstehen, was sich da eigentlich tut. Eine marxistische Analyse ist zwar anstrengend, aber hilfreich.

Hochinflation ab 2022

„Die Inflation ist zurück“ haben unsere deutschen Genoss:innen von der Gruppe Arbeiter:innenmacht Anfang des Jahres geschrieben. „Inflation is here to stay“ verkündete die US-Zentralbank FED. In der anhaltenden Coronakrise sind dramatische Preissteigerungen in die imperialistischen Zentren zurückgekehrt mit Anstiegen, wie sie zum Beispiel Österreich seit den Ölpreisschocks der 1970er Jahre nicht mehr erlebt hat.

Das hat schon letztes Jahr begonnen. Im September 2021 lagen die durchschnittlichen „Verbraucher:innenpreise“ um 3,3 % über dem Vorjahresmonat. Der durchschnittliche Wocheneinkauf („Miniwarenkorb“) war sogar um 6,8 % teurer. Vor allem die Preise für Energie und Gastronomie sind damals schnell gestiegen, Preise, die im ersten Coronajahr 2020 stark gefallen waren.

Das war kein „Wiederaufholen“ zum Vorkrisenniveau, was die Preisexplosion 2022 klar zeigt. Mittlerweile gehen Wirtschaftsforscher:innen von einer Jahresinflation um die 10 % aus. Die Preise für Heizung und Strom haben sich verdoppelt bis vervierfacht. Wien Energie zum Beispiel hat dieses Jahr schon mehrmals die Preise für Strom, Gas und Fernwärme erhöht. Die „Preisindizes“, an denen sich diese Rechnungen orientieren, haben sich dieses Jahr für Gas vervierfacht (+ 323 %), für Strom mehr als verdreifacht (+ 249 %).

Das ist keine österreichische oder europäische Besonderheit. Auch in den USA liegt die Durchschnittsinflation bei 9 %, in China um die 5 %.

Dazu drei Nebensätze: In den neokolonialen Ländern des globalen Südens sind Hoch- und Hyperinflation nichts Besonderes oder Neues. Auch das soziale Elend, das dadurch zum Beispiel in Venezuela, der Türkei oder Argentinien entsteht, ist nicht geringer oder normaler als in den imperialistischen Zentren. Trotzdem: Wenn es den Imperialist:innen nicht gelingt, solche Entwicklungen vor der eigenen Haustür abzuwenden, liegt einiges im Argen.

Diese Zahlen bilden einen krassen Unterschied zu den letzten 15 Jahren. Nach der Finanzkrise 2008 haben sich die US- und EU-Zentralbanken regelmäßig ein „Inflationsziel“, also durchschnittliche Preissteigerungen von 2 % pro Jahr gesetzt. Und sie sind regelmäßig daran gescheitert, trotz radikaler Maßnahmen wie „Quantitative Easing“, Null-Leitzins und direktem Kauf von Unternehmensanleihen (dazu später mehr).

2022, unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs und anhaltenden Corona-Lockdowns, sind die imperialistischen Staaten aus einer Niedriginflationsphase in allgemeine Teuerungsexplosion übergegangen. So richtig passt es quasi nie.

Eine soziale Krise, die Lebenskosten

Das ist nicht egal, sind nicht nur Details der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Ende 2022 werden sich viele Haushalte schwertun, Nahrungsmittel und Heizung zu bezahlen. Die stark angehobenen Mieten (Richtwertmietzins) und noch stärker steigenden Betriebskosten machen Angst vor Zwangsräumung und Wohnungsverlust.

In Österreich droht im Winter eine breite soziale Krise, eine Lebenskostenkrise. Zum ersten Mal seit vielen Jahren werden Hunderttausende schlagartig und massiv an Lebensstandard verlieren.

Der Kreditschutzverband KSV1870 rechnet deshalb 2022 mit massiv steigenden Privatkonkursen. Alltägliche Rechnungen werden sich so auftürmen, dass Haushalte nicht mal hinterherkommen, wenn sie ihre Ausgaben massiv einschränken.[i]

Das heißt konkret: Im Winter 2022 werden sich zehn- oder hunderttausende Haushalte die Heizung nicht leisten können. Wenn die Energieversorger:innen sie ihnen dann abdrehen, frieren sie sich zu Tode. Wenn der Hahn nicht gesperrt wird, schlittern entweder der Haushalt in Schuldenfalle und Konkurs, oder das Unternehmen, oder beide.

Das heißt auch: Im Winter 2022 werden sich zehntausende Eltern zwischen Essen und Heizung im Kinderzimmer, zwischen Waschmaschinenreparatur oder Wocheneinkauf entscheiden. Und wenn die Lebensmittelpreise so weiter steigen wie bisher, dann wird sich keins davon wirklich ausgehen.

Auch die Kreditversicherungsgesellschaft Coface gibt vierteljährlich einen Bericht heraus, der das Risiko von Zahlungsausfällen angibt. Sie berechnet quasi, wie viele Menschen es sich nicht leisten können, ihre Rechnungen zu bezahlen, sowohl Konsument:innen (zum Beispiel Wien Energie-Kund:innen) als auch Unternehmen. Sie geht für 2022 von einem hohen (und dramatisch gestiegenen) Risiko in der Agrar-, Chemie-, Bau-, Metall- und Energiebranche aus.[ii]

Das bedeutet auch: Bei vielen Unternehmen steigen gerade die Produktionskosten und sie wissen nicht, ob ihnen jemand ihre Produkte noch abkaufen kann. Das führt zu Baustoffmangel und stockenden Produktionsketten, aber auch zu Insolvenzen und Arbeitsplatzverlust. Für Unternehmer:innen ist ein Konkurs ärgerlich, für zehntausende Arbeiter:innen, die dabei ihren Job verlieren, ist das existenzbedrohend.

Schon jetzt betrifft die Inflation vor allem Arbeiter:innen, Erwerbslose, Alleinerziehende und prekär Beschäftigte. Bei einer folgenden Rezession oder anhaltenden Stagnation würden wir doppelt draufzahlen.

Was ist Inflation nochmal?

Inflation ist ein Angstwort. Für normale Menschen, weil sie sich für ihr Geld weniger leisten können, und für Ökonom:innen, weil sie sich schwer tun, sie wirklich zu verstehen, geschweige denn zu erklären.

Inflation bedeutet eine anhaltende und allgemeine Preiserhöhung. Obwohl im Kapitalismus die Produktion immer effizienter, die Arbeitskosten pro Stück immer niedriger, die Transportwege immer perfekter abgestimmt werden, steigen die Preise.

Aber das wird in erster Linie als Durchschnittswert gemessen: Energiekosten-, Verbraucherpreis-, Investitionskostenindex. Das macht Sinn, um die Situation von Betroffenen zu beschreiben, weil sie für den bestehenden Konsum so und so viel Prozent mehr Geld ausgeben müssen.

Wenn es jetzt aber „Ausreißer“branchen gibt (und die gibt es eigentlich immer), steigt auch der Durchschnittswert sofort. Wenn Russland den Ölhahn zudreht, macht das unmittelbar erstmal nichts mit den Ticketpreisen für die Wiener Linien, aber die durchschnittlichen Preise für Verkehr schießen in die Höhe. Umgekehrt haben in den vergangenen Jahren die sinkenden Preise für PCs den Verbraucherpreisindex ordentlich nach unten gezogen, obwohl Nudeln im Supermarkt jedes Jahr fünf Cent mehr gekostet haben.

Allgemeine Preissteigerungen bedeuten, dass so gut wie alle Zeilen auf dem Kassazettel raufgehen. Dafür gibt es zwei Gründe. Wenn der Gaspreis hochgeht, erhöhen sich auch die Energiekosten in der Produktion, das könnte man „Zweitrundeneffekt“ nennen. Und gleichzeitig wären Firmen ja blöd, bei einer sich ausbreitenden Preissteigerung nicht mitzumachen und ein bisschen zu übertreiben (solange Konsument:innen sich das noch leisten können und tatsächlich mehr Geld liegenlassen), das heißt dann „Mitnahmeeffekt“.

Im Moment beobachten wir beides und noch viel mehr. Aber wir sehen auch, dass genau das „Sich- noch-leisten-Können“ bald nicht mehr gegeben sein wird. Viele Haushalte konnten während der Coronalockdowns gar nicht so viel Geld ausgeben wie sonst, weil Beisln geschlossen waren und der Sommerurlaub an der Reisesperre scheiterte. Dieses „zwangsersparte“ Geld ist aber schon aufgebraucht, die Menschen sind nicht mehr flüssig und haben ein Liquiditätsproblem.

Das ist die Ursache der kommenden sozialen Krise und auch die Angst der Unternehmen. Wenn jetzt einzelne Firmen ausscheren, die Preise nicht erhöhen, dann steigen ihre Produktionskosten trotzdem und ihnen geht die Liquidität aus. Schlimmer noch, wenn die direkte Konkurrentin mehr Gewinne macht, kann sie schneller wachsen und in der Konsequenz den Markt dominieren. Und es gibt ja auch keine Belohnung, als einzelnes Unternehmen nicht mitzuschneiden vom großen Kuchen. Das lässt sich dann nur wer andere/r schmecken. Also reiten sie die Welle mit, bis sie bricht und darüber hinaus. Und hoffen, dass der kapitalistische Staat, der so genannte „ideelle Gesamtkapitalist“, Regeln für alle einführen wird, damit man nicht mehr mitziehen muss.

Erst Niedriginflation, dann Preisexplosion

Da hat sich, wie erwähnt, recht rasch etwas geändert. Der weltweite Kapitalismus ist von einer Niedrig- in eine Hochinflationsphase übergegangen. Es ist wichtig zu verstehen, warum es im Kapitalismus überhaupt Inflation, also allgemein steigende Preise gibt, aber auch, warum er zu niedrige Inflation genauso kennt wie explodierende Werte.

Denn eigentlich, und auch dazu später mehr, bedeutet Inflation, dass Unternehmen nicht mehr investieren, obwohl Konsument:innen mehr kaufen wollen und könnten. Firmen entscheiden sich gegen Investitionen, wenn die Profitrate niedriger ist als in anderen Bereichen – dann erhöhen sie zum Beispiel einfach die Preise, fangen so das „verfügbare Einkommen“ auf und legen es in Finanzprodukten an.

Nach der Finanzkrise 2008 befand sich der Kapitalismus in Europa und den USA in einer tiefen Verwertungskrise. Schon Jahre davor hatten Unternehmen lieber in Spekulationsblasen (am Immobilien- und Aktienmarkt) investiert. Dieses zusammenbrechende Kartenhaus riss dann auch Fabriken aus Ziegeln und Stahl mit. Trotzdem folgte eine Phase von sehr, sehr langsam wachsenden Preisen, vor allem bei den Kapitalgütern: Firmenwachstum war billig, und billiger als für Arbeiter:innen, deren Wocheneinkäufe schon teurer wurden. Und das, obwohl die Wachstumsraten von Produktion und Profiten wirklich niedrig waren.

Dafür gab es drei Gründe, wie unser Genosse Markus Lehner von der Gruppe Arbeiter:innenmacht in Deutschland erklärt (seinen Artikel findest du ebenfalls in dieser Ausgabe der flammende):[iii]

„(1) Die Gewichte im Welthandel hatten sich stark zu Gunsten von China verschoben, das als Lokomotive der Weltwirtschaft mit seinen Produktionsketten den Weltmarkt weiterhin mit billigen Herstellerpreisen bedienen konnte; (2) die Antikrisenpolitik in den imperialistischen Ländern fußte weiterhin auf Stagnation der Löhne und Massenkaufkraft; (3) trotz der Politik des billigen Geldes vertraute das globale Kapital aus Angst vor schlimmeren Verlusten in sogar gesteigertem Maße ihr Geld den klassischen imperialistischen Anlagemärkten an. In Folge wurden viele der angeblich aufsteigenden Schwellenländer (z. B. Brasilien, Türkei) durch Kapitalmangel und schrumpfende Weltmarktchancen gebeutelt. In vielen dieser Länder breitete sich bereits Stagflation aus.“

Auch 2020 – 2022 führen die Produktionsunterbrechungen in Coronalockdowns (vor allem die zeitweise Schließung wichtiger chinesischer Häfen) und der russische Angriffskrieg in der Ukraine zu niedrigen erwarteten Profitraten. Firmen wissen nicht, ob sie Vorprodukte kaufen können (oder zu welchem Preis), ob sie überhaupt produzieren können und ob das irgendwer kaufen wird. Jetzt reagieren sie aber genau umgekehrt, indem sie ihre Preise hinaufsetzen und die Produktionsmenge heruntersetzen.

Ein Grund dafür ist die internationale Tendenz zur „Deglobalisierung“ durch Krieg, Sanktionen und Handelssanktionen. Auch der damalige Wirtschaftsmotor China, in den europäische Gewinne profitabel investiert werden konnten, läuft nicht richtig an. Zahlungsausfälle im Immobiliensektor und wiederholte Unterbrechungen in Produktion und Handel beuteln den neuen Imperialismus. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass sich das so schnell ändern sollte.

Der Kapitalismus ist ein inflationäres System

Um zu verstehen, dass der Kapitalismus unmenschlich und instabil ist, muss man nur die Augen aufsperren. Um zu verstehen, warum das so ist, kann es hilfreich sein, den Blick auf ein bisschen marxistische Ökonomie zu richten. Auch wenn die teilweise unnötig kompliziert geschrieben ist.

Im Kapitalismus arbeiten die Kapitale, die sich in Unternehmen und Banken sowie Interessenverbänden sammeln, gegeneinander. Ein/e Kapitalist:in tut entweder, was notwendig ist, um ihre Investitionen zu vermehren (Kapital zu akkumulieren), oder sie geht im Wettbewerb unter. Das bedeutet, Firmen versuchen vor allem, Profit zu scheffeln, und agieren, wenn sie sich dafür Profit erwarten. Das sind grundlegende Widersprüche, zwischen Unternehmen genauso wie zwischen Unternehmen und Beschäftigten, und diese Widersprüche treiben den Wirtschaftsmotor an.

Solche Widersprüche gestalten den Kapitalismus zu einer grundlegend inflationären Wirtschaftsweise, zu einer Art Produktion, in der Preise weiter und weiter steigen. Das ist eigentlich, Vorsicht Wortwitz, widersprüchlich. Denn im Wettbewerb führen Firmen immer effizientere, günstigere Produktionsweisen ein, unterbieten sich gegenseitig im Preis und steigern die Arbeitsproduktivität. Um den Lebensstandard einer Arbeiter:in aus dem 19. Jahrhundert zu erreichen (Zimmer zu zehnt und ein Stückerl Fleisch am Sonntag), muss man nicht mehr 80 sondern eher 5 Stunden in der Woche arbeiten. Aber man wird halt auch sozial isoliert und stirbt mit ungefähr 45 an Mangelernährung.

Der Schlüssel zur Inflation ist das Geld. Preise ergeben sich aus den produzierten Waren und dem Geld, das dafür ausgegeben wird. Mehr Waren mit gleich viel Geld heißt Deflation, mehr Geld für gleich viele Waren heißt Inflation. Aber gleich viele Waren gibt es genauso selten (nämlich niemals) wie gleich viel Geld.

Geld ist ebenfalls eine Ware, also ein Produkt, das hergestellt wird, damit es auf dem Markt gekauft wird und die Herstellerin Profit erzielt. Marx nennt das „Geldware“, ein Produkt, das gegen alle anderen direkt eingetauscht werden kann. So spart man es sich, für seinen produzierten Tisch genau den/die Abnehmer:in zu finden, der/die den Mantel loswerden will, den man wiederum selber haben will. Und Sparen ist nicht nur eine bürgerliche Tugend, Zeit sparen, effizient sein, ist eine notwendige Voraussetzung für kapitalistisches Wachstum.

Typische Geldwaren sind Kaurimuscheln, Goldstücke oder Silbermünzen. Und auch die werden dann produziert, wenn es Nachfrage gibt. In einer wachsenden Gesellschaft, die immer mehr Waren zum Tausch herstellt, ist eine gewisse Nachfrage nach Geldwaren immer gegeben. Also: Die Geldware hat einen Gebrauchswert, jemand möchte sie haben, und deshalb erst kann sie einen Tauschwert bekommen.

Wie profitabel die Produktion ist, hängt vom Tauschwert und von  alternativen Investitionsmöglichkeiten ab. Als zum Beispiel der Goldrausch in Kalifornien auf dem absteigenden Ast war, hat man stattdessen mit Denimhosen mehr Geld gemacht, dachte sich zumindest Levi Strauss, der die Blue Jeans erfand.

Und dann gibt es bei Marx noch Geldzeichen, Fetzen Papier, die versprechen, dass man dafür eine Geldware bekommt. Solange die frei weitergetauscht wird, kann sie wie Geld verwendet werden. Und auch diese Geldzeichen wollen gedruckt werden. Auch das ist ein Produktionsprozess, den sich Kapitalist:innen nur antun, wenn Gebrauchswert, Nachfrage und Profit winken.

Heute sind Geldzeichen vor allem Zeilen im Computer: Banken vergeben Kredite, indem sie einer Firma versprechen, Geld zu überweisen, wenn sie etwas kaufen oder wen anstellen will. Für einen Kredit gibt es Zinsen, für ein bedrucktes Geldzeichen bekommt man ein anderes (nämlich eine Aktie), und für eine mühsam geprägte Silbermünze kriegt man einen Wocheneinkauf oder ein Bussi vom Enkerl. Alles sehr profitabel oder zumindest schön.

Das Herstellen von Geld ist profitabel, weil mit einer wachsenden Warenmenge auch die Nachfrage nach dem Tauschmedium steigt. Und weil viele Firmen, Banken, Prägereien miteinander konkurrieren, stellen sie sogar ein bisschen mehr her, als eine einzelne Firma müsste. Da kommt die Inflation prinzipiell einmal her. Und das genauer zu verstehen, heißt auch zu verstehen, wann die Inflation besonders hoch und niedrig ist.

Die Geldproduktion ist übrigens genau deshalb auch genau reguliert. Staaten kontrollieren in Extremfällen sogar die Preise (zum Beispiel in den Weltkriegen, oder in Österreich früher die Lohn-Preis-Kommissionen der Sozialpartner:innenschaft). Davor gab es die Abmachung, dass weltweit nur so viel Geld in Umlauf sein durfte, wie Goldreserven in Tresoren lagern (der Goldstandard), später dann in Gold und Dollarscheinen mit einem festgelegten Tauschverhältnis (das „Bretton-Woods-System“).

Nach der Hochinflation der 1970er Jahre wurden mit der „neoliberalen Wende“ auch diese strikten Regelsysteme abgeschafft. Aber in schwächerer Form existieren sie immer noch. Zum Beispiel verlangt die Europäische Zentralbank von Einzelbanken, dass sie einen gewissen Prozentsatz der Kredite, die sie ausgeben, mit Reserven decken können. Diese Reserven leihen sie sich von der Zentralbank, die frei entscheidet, wie viel sie davon ausgibt. Nachdem die Kreditvergabe durch Banken der wichtigste Aspekt moderner Geldproduktion ist, bedeuten die Regeln für Banken eine Beschränkung der Geldproduktion.

Preise steigen nicht, sie werden erhöht

Das Zusammenspiel von Geldmenge, Geldproduktion und Gebrauchswert der Geldware ist aber nicht alles. Sie sind nur die Rahmenbedingungen, das „Makrosystem“, in die sich konkrete Preisentscheidungen einordnen. Preise steigen nicht, sie werden erhöht.

Ein/e Supermarktkassierer:in pickt einen neuen Preiszettel ins Regal, jemand in der Firmenzentrale gibt eine neue Zahl ins Kassensystem ein, eine Managerin oder ein Manager beschließen: clever Nudeln kosten ab nächstem Montag Euro 1,39, und drei Wochen drauf gibt es eine Sonderaktion, wo sie kurzzeitig auf Euro 0,99 heruntergesetzt werden. Das sind Managemententscheidungen, die Entscheidungen von wirtschaftlich handelnden Personen im Interesse des Kapitals, eingebettet in Wettbewerb und Markt – aber der Markt lässt keine Preise steigen.

Das Verwechseln von Menschen und Waren, von Macht und Markt, ist leider tief in das menschliche Bewusstsein eingefressen – im Kapitalismus. Marxist:innen nennen das Warenfetisch, konkrete Dinge und Lebensverhältnisse mit einem mystischen Markt zu verwechseln. Es ist zwar der/die Personalchef:in, der/die die Entlassungspapiere unterschreibt, der Aufsichtsrat, der die Belegschaft halbiert. Aber oft sprechen wir vom Arbeitsmarkt, von der Auftragslage, oder im falschesten Fall von der Massenzuwanderung, die unser Einkommen auf 55 % Arbeitslosengeld mit begleitenden AMS-Schikanen kürzt.

Konkrete Menschen, Kapitalist:innen und ihre Managementstäbe, entscheiden also, wie viel sie produzieren lassen und für welchen Preis das verkauft wird. Wenn nun die „effektive Nachfrage“ (das heißt, jemand mag das haben und kann es auch bezahlen) steigt, können Kapitalist:innen entweder mehr herstellen oder das Hergestellte teurer verkaufen, um sich den verfügbaren Batzen Geld einzustecken.

In der Tendenz (und diktiert vom Makrosystem, in das alle eingebettet sind) wird dann investiert, wenn die Investition sich auszahlt, wenn dabei ein Profiteuro pro Investitionseuro herausspringt, den man woanders nicht bekommt. Das bevorzugt das Kapital immer: Kapital kaufen, damit produzieren, die Waren verwerten und mit dem Profit neues Kapital anhäufen. Das heißt Kapitalakkumulation, die Triebfeder im Kapitalismus.

Nur manchmal ist es nicht bevorzugt, nämlich wenn die Profitrate nicht stimmt, zu unsicher ist oder eine kleine Bitcoinspekulation (voraussichtlich) mehr einbringt. Der marxistische Ökonom Anwar Shaikh drückt das weniger blumig aus, wenn er von der entscheidenden erwarteten Unternehmensprofitrate spricht. Das ist die Differenz aus erwartetem Profit und Zinssatz, den man fürs Verborgen bekommt (die sichere und vor allem weniger anstrengende Alternative).

Inflation entsteht, wenn Geldproduzent:innen mehr Geldzeichen in Umlauf bringen, diese auch für Käufe verwendet werden, als die Warenmenge steigt. Inflation steigt (ist also bei 10 % statt 2 %) wenn mehr Kapitalist:innen Preise erhöhen, als zu investieren.

Das liegt dann zum Beispiel an gesunkenen Profitraten (die eine Krise ankündigen). Oder an der Unsicherheit, was in den nächsten Monaten passieren wird, ein Anzeichen, dass die Krise schon begonnen hat. Und da stehen wir jetzt.

Im zweiten Teil beschäftigt sich der Artikel mit der Antwort der verschiedenen Klassen auf die Inflation.


Endnoten

[i]https://tirol.orf.at/stories/3164716/

[ii]https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20220629_OTS0012/coface-risiko-fuer-zahlungsausfaelle-in-oesterreich-steigt-anhaenge

[iii]https://arbeiterinnenmacht.de/2022/01/19/rueckkehr-der-inflation/




Unsere strategische Position ist nicht zu unterschätzen

Interview mit einem Bahnbeschäftigten, ursprünglich veröffentlicht auf klassegegenklasse.org, Infomail 1188, 12. Mai 2022

Frage: Lieber Genosse, danke, dass du uns ein Interview gibst. Magst du dich zu Beginn kurz vorstellen und erzählen, welchen Beruf du ausübst?

Antwort: Hi, freut mich auch. Ich bin A. und arbeite als Fahrdienstleiter bei der Deutschen Bahn. Wir machen so etwas Ähnliches wie Fluglotse:innen, nur eben mit Zügen. Wir überwachen und steuern den Bahnbetrieb in unseren Bahnhöfen und auf den Strecken, stellen Weichen und Signale und ohne unsere Zustimmung findet keine Zugfahrt statt.

Politisch bin ich Unterstützer der Gruppe Arbeiter:innenmacht. Außerdem bin ich aktiv beim Aufbau der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) und versuche, mich mit Kolleg:innen bei der Bahn zu vernetzen (bei Interesse können sich Eisenbahner:innen und andere Beschäftigte im ÖPNV an info@bahnvernetzung.de wenden). Soweit zu mir. Wichtig ist vielleicht noch, dass ich hier nur sehr begrenzt für meine Kolleg:innen von der VKG oder der Bahnvernetzung sprechen kann. Deswegen bitte ich die Leser:innen, das Interview vor allem als meine eigene Meinung zu verstehen.

Frage: In Belarus, Italien und Griechenland haben Beschäftigte im Transportsektor Waffenlieferungen sabotiert bzw. blockiert. Welche Rolle können Eisenbahner:innen im Kampf gegen den Militarismus strategisch einnehmen?

Ich denke, dass unsere strategische Position im Krieg nicht zu unterschätzen ist. Osteuropa ist durch die NATO seit Jahren hochgerüstet worden, was ohne den Schienenweg so kaum möglich gewesen wäre. Gerade wenn es um den groß angelegten Transport schwerer Waffen wie Panzer geht, bleibt auf dem Landweg fast nur die Schiene. Genauso hat Russland seine Panzer in Richtung der Ukraine geschickt, was die Kolleg:innen in Belarus ja zumindest etwas sabotieren konnten.

Sie und die Kolleg:innen in Pisa und bei der OSE haben gezeigt, dass Krieg keine Katastrophe ist, der wir uns einfach ergeben müssen. Der Krieg kann gestoppt, Kriegsgerät und Truppentransporte können aufgehalten werden – in Russland und in der NATO. Das setzt aber ein hohes Bewusstsein bei den Beschäftigten voraus und vor allem eine gute, militante Organisierung, sei es gewerkschaftlicher oder politischer Art.

Gleichzeitig bin ich natürlich dagegen, einfach jeden Zug in die Ukraine zu stoppen. Hilfsgüter und Geflüchtete – egal woher – müssen transportiert werden.

Frage: Warum sollten sich auch Eisenbahner:innen in Deutschland gegen den Krieg positionieren? Warum, denkst du, fällt es vielen Kolleg:innen so schwer, den internationalen Beispielen zu folgen?

Antwort: Egal ist der Krieg wahrscheinlich kaum wem und gegen den Krieg an sich sind sicher die meisten. Aber was heißt das schon, gegen den Krieg zu sein? Für viele bedeutet es, auf der Seite der Ukraine zu stehen. Die Deutsche Bahn und die Gewerkschaften EVG und GDL verbreiten das auch mehr oder weniger genauso. Das ist auf den ersten Blick auch irgendwo ziemlich gut zu verstehen, weil Russland eben den Überfall gestartet hat, Millionen in die Flucht treibt und die russische Armee Massaker wie in Butscha verübt hat.

Aber diese Idee, dass die Unterstützung der Ukraine und ein Sieg Selenskyjs Frieden bedeuten, die halte ich für brandgefährlich – zumal die Regierung in Kiew seit acht Jahren Krieg im Donbass führt, auch gegen die Zivilbevölkerung dort.  Und versteh‘ mich nicht falsch: Natürlich hat jede:r meine:r ukrainischen Kolleg:innen das Recht, sich zu verteidigen, und ich rufe hier nicht zur Kapitulation auf. Gleichzeitig ist es jedoch so, dass uns jede Waffenlieferung an Kiew dem Abgrund eines Dritten Weltkrieges näher bringt.

Das Ganze eskaliert deshalb so, weil die Politik des Westens hier alles andere als selbstlos ist. Im Gegenteil. Es geht der BRD, der EU, den USA und der NATO überhaupt um die Neuaufteilung der Ukraine. Gewinnt sie in deren Interesse gegen Russland, hätte sie sich auch die noch krassere Abhängigkeit von Berlin, Brüssel und Washington erkämpft. Davon kann vielleicht ein Selenskyj sehr gut leben, aber eine nationale Selbstbestimmung im Interesse der breiten Bevölkerung sieht für mich anders aus. So weit mal zur Position gegen den Krieg, die eigentlich bedeutet müsste, gegen die NATO oder eben Scholz sein zu müssen – so wie die Arbeiter:innen in Russland in Putin ihren Hauptfeind erkennen müssen.

Was meine Kolleg:innen hier angeht, ist es jetzt auch nicht so, dass alle stramm hinter der westlichen Politik stehen. Natürlich dominiert die Angst und die Einbindung in die westliche Ideologie. Deshalb gibt es auch Kolleg:innen, die stolz posten, dass sie Waffen Richtung Osten transportiert haben, oder Leute, die mehr Aufrüstung fordern – ganz klar. Aber es gibt schon auch viel Skepsis gegenüber der Regierungspolitik, die sich jetzt auch mit der Sorge über die horrenden Preise vermischt. Viele sehen zum Beispiel auch die NATO-Osterweiterung kritisch.

Unterm Strich und definitiv sind wir zur Zeit aber leider weit davon entfernt, dass meine Kolleg:innen und ich Waffentransporte stehenlassen.

Die internationalen Beispiele zeigen da, denke ich, auch ein bisschen, was hier fehlt. In Belarus stehen die Menschen unter dem Eindruck von Massenaufständen in den letzten Jahren. Das Regime dort ist alles andere als stabil und ziemlich verhasst. Auf irgendeine Weise muss das für meine Kolleg:innen dort auch eine Rolle gespielt haben, sonst wären sie Putin und seinem Freund Lukaschenko nicht in den Rücken gefallen. Am Flughafen von Pisa wurde die Blockade von militärischen Gütern möglich, weil dort mit der Unione Sindacale di Base eine Gewerkschaft existiert, die sich in einer gewissen kommunistischen Tradition sieht. In Griechenland sah das ähnlich aus. Den Kolleg:innen dort ist die Rolle der NATO einfach klarer und sie sind militanter organisiert. Die deutschen Gewerkschaften EVG und GDL betreiben das Gegenteil: Sie sorgen für eine ideologische Einbindung in den NATO-Imperialismus und seinen angeblichen demokratischen Werten – über die viele aus Afghanistan, Palästina und dem Irak wahrscheinlich nur wütend lachen können.

Frage: Du hast gerade die deutschen Gewerkschaftsführungen erwähnt. Kannst du noch mal genauer auf ihre Rolle zur Zeit eingehen?

Antwort: Die Führung des DGB, aber auch die Spitze der GDL sind für den deutschen Kapitalismus systemrelevant, und zwar weil sie entscheidend sind, wenn es darum geht, die Arbeiter:innenklasse ruhig zu halten, beziehungsweise sie in die nationalen Interessen der Bosse oder der Ampel-Regierung einzubinden. Bei der GDL passiert das mehr durch passive Zustimmung zur Kriegspolitik der BRD: Erst hat sie wochenlang überhaupt nichts von sich hören lassen. Dann gab es ein Statement, das im Grunde auch vom DGB hätte stammen können.

Der DGB, worin die EVG eine Mitgliedsgewerkschaft ist, hat wiederum viele seiner sowieso bescheidenen Grundsätze über Bord geworfen. Eigentlich stimmt er der Regierung im Großen und Ganzen zu, solange noch ein kleines bisschen Geld für soziale Angelegenheiten übrig bleibt.

Der Erste Mai hat das auch nochmal unterstrichen. In Düsseldorf hatte der DGB gleich Kanzler Scholz eingeladen, um seine Kriegspropaganda zu verbreiten. In Berlin hat der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann satte zwanzig Minuten lang gelabert und wären aus der Versammlung nicht Pfiffe und Buhrufe gekommen, hätte er wahrscheinlich noch mehr über „europäische Sicherheit und Werte“ geschwatzt. So warf er ein paar mehr soziale Floskeln als gewollt ein.

Dabei ist wichtig zu verstehen, dass die Gewerkschaftsspitzen – die Gewerkschaftsbürokratie – nicht einfach nur eine falsche Politik machen, die nur korrigiert werden müsste. Das Ganze hat System. Hoffmann, Weselsky, Hommel und die ganzen anderen sind ziemlich privilegiert und stehen den Konzernspitzen, dem Staat und den Berufspolitiker:innen sehr nah – auch gehaltstechnisch.

Sie haben von ihrer gesellschaftlichen Position aus überhaupt kein Interesse daran, der deutschen Kriegspolitik in den Rücken zu fallen, weil sie – nennen wir‘s beim Namen – im Imperialismus der BRD einfach sehr gut leben können und selbst an dessen Werte usw. glauben. Von den EVG- und GDL-Spitzen ist nicht zu erwarten, dass wir dazu aufgerufen werden, Panzerzüge stehenzulassen. Im Gegenteil. Sie halten die Gewerkschaftsmitglieder passiv und die Panzerzüge für Teil einer gerechten Sache, den Kampf für Demokratie und zur Verteidigung der überfallenen Ukraine, obwohl es doch eigentlich der extrem gefährliche Kampf um die Neuaufteilung der Welt ist.

Frage: Was können Beschäftigte konkret im Kampf gegen Krieg und die Gewerkschaftsbürokratie tun?

Antwort: Allgemein gesprochen braucht es, denke ich, einen politischen Kampf für eine klassenkämpferische Opposition in den Gewerkschaften, die zum Beispiel die Tarifrundenrituale kritisiert und fordert, dass der Lohn  der Inflation entsprechend steigen muss oder dass wir Gewerkschaften wollen, die direkt und demokratisch von der Basis kontrolliert werden und wo ein/e Vorsitzende/r nur den Durchschnittslohn kriegt und über die eigene Politik rechenschaftspflichtig ist. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist, die Preissteigerung und Lohnverluste mit den Kriegsausgaben der Regierung, den Sanktionen und der direkten Aufrüstung zu verbinden.

Ein kleiner –  sehr kleiner – Startpunkt, aber immerhin ein Anfang für so etwas wie eine organisierte Opposition ist die eben erwähnte VKG, an die sich Kolleg:innen wenden können, die keinen Bock mehr auf die offizielle Gewerkschaftspolitik haben und in ihren Gewerkschaften etwas verändern wollen.

Das ist zugegeben etwas abstrakt.

Konkrete Ideen habe ich aber auch. Als Bahnvernetzung haben wir zum Beispiel vor einigen Wochen vor dem Berliner Hauptbahnhof eine Kundgebung gegen den Krieg veranstaltet, die zwar nicht groß, aber dafür sehr sichtbar war. Dabei solidarisierten wir uns auch mit den Kolleg:innen in Belarus oder forderten unsere Gewerkschaften auf, dass sie für das Recht einstehen, keine Militärgüter transportieren zu müssen – sprich keine Abmahnung und keine Kündigung weil z. B. ein/e Lokführer:in sich weigert, einen Panzerzug zu fahren. Wichtig ist in dem Zusammenhang auch das  Recht, überhaupt in die Ladung schauen zu dürfen, um zu überprüfen, was wir da eigentlich bewegen sollen.

So eine kleine Kundgebung können Kolleg:innen schon mit wenigen Kräften starten und vielleicht mehr werden.

Als Bahnvernetzung treffen wir uns außerdem einmal im Monat, um uns über betriebliche Fragen auszutauschen, wobei wir offen sind für Kolleg:innen aus dem gesamten Bundesgebiet. Es gibt ja Internet. Es ist egal, welches Eisenbahnunternehmen oder welche Gewerkschaft – wir wollen ja die Spaltung zwischen EVG und GDL überwinden.

Wenn du keinen Bock darauf hast, was Weselsky und Hommel treiben, und eine linke Perspektive in die Gewerkschaften tragen willst, musst du nicht alleine anfangen, sondern kannst uns anschreiben. 🙂

Frage: Danke für das Interview.

Antwort: Gerne!




MetallerInnen demonstrieren gegen Schließung des Daimler-Werks in Berlin

Martin Suchanek, Infomail 1129, 10. Dezember 2020

2.500 Arbeiterinnen und Arbeitern droht das Aus. So viele arbeiten – noch – am Berliner Daimler-Standort Marienfelde, viele seit ihrer Ausbildung. Nun steht er auf der Kippe und droht dem globalen Spar- und Rationalisierungskurs der KonzernchefInnen zum Opfer zu fallen. Auch wenn es keinen formellen finalen Schließungsbeschluss gibt, zeichnet sich das Ende der Produktion ab. In Verbrennungsmotoren, deren Komponenten bislang in Berlin gefertigt wurden, soll nicht weiter investiert werden. Von einer Umstellung der Produktion ist bislang nichts bekannt.

So stellt auch der Ruf nach Informationen eine der unmittelbaren Forderungen der Beschäftigten, der Betriebsräte, Vertrauensleute und der IG Metall dar.

Demonstration und Betriebsversammlung

Wie an vielen anderen Daimler-Standorten rief die Gewerkschaft, die noch im Juli dem letzten Sparprogramm zugestimmt hatte, um betriebsbedingte Kündigungen bis 2030 in Deutschland zu verhindern, zu Demonstrationen und Betriebsversammlungen auf.

Am heutigen 9. Dezember wenigstens stehen die Bänder in Berlin-Marienfelde endlich einmal still. Wie schon im November beteiligt sich ein großer Teil der Belegschaft, weit über 1.000 Menschen, an der Demonstration, die vom Werkstor durch den Stadtteil und zurück führt. Anschließend findet eine Online-Betriebsversammlung statt, von der Tausende wenigstens mehr Klarheit erhoffen.

Für die KollegInnen ist es nicht die erste und, wollen sie ihre Arbeitsplätze verteidigen, sicher auch nicht die letzte Aktion. Auf der Homepage der Berliner IG Metall gibt sich der Betriebsratsvorsitzende Michael Rahmel entschlossen: „Wir Daimler-Beschäftigte werden am Mittwoch nicht arbeiten. Wir nehmen uns diesen Tag, um dem Vorstand klar zu zeigen, dass wir uns von ihm nicht abwracken lassen.“

Die vergleichsweise radikale Rhetorik in der Pressemeldung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die IG Metall keine Kampfstrategie zur Verteidigung der Arbeitsplätze hat. Die Forderung nach einem Bekenntnis zur Zukunft des Standortes darf uns nicht weismachen, dass Gewerkschaftsapparat und Betriebsratsspitze durchaus bereit sind, über weitere „Opfer“ zu verhandeln, dem Konzern „entgegenzukommen“. So erklärt Jan Otto, der Erste Bevollmächtigte der IG Metall Berlin, in derselben Meldung: „Wir erwarten auf der Betriebsversammlung eine klare Ansage des Vorstandes, dass er zumindest Teile des Stilllegungsbeschlusses zurücknimmt, wir mehr Zeit und die Zusage bekommen, dass hier nicht Teile dieses Werkes rasiert werden.“

Mit anderen Worten: Wenn sich der Konzern zum sozialpartnerschaftlichen Ausgleich bereit erklärt, sichern wir den Weihnachtsfrieden in der schönen Daimler-Welt. Schließlich wäre es nicht der erste „sozialverträgliche Umbau“, den Betriebsräte und IG Metall „mit“gestaltet hätten.

Damit, so erinnern die GewerkschaftsrednerInnen auf der Kundgebung die Bosse, wäre Daimler schließlich immer gut gefahren. Irene Schulz, Hauptrednerin auf der Zwischenkundgebung und Mitglied des IG-Metall-Vorstandes, verdeutlich dabei die Taktik der Bürokratie. Einerseits appelliert sie an die KollegInnen, lobt ihren Einsatz, ihre Arbeit und auch ihren Widerstandswillen. Der Konzern müsse wissen, dass er mit deren Kampfkraft zu rechnen hätte.

Andererseits erinnert sie den Konzern daran, dass die Gewerkschaft durchaus Verständnis für die schwere Lage „unseres“ Unternehmens hätte – ganz als würde Daimler irgendwie auch den Beschäftigten oder wenigstens der IG Metall gehören. Diese hätte sich jedenfalls für KurzarbeiterInnengeld und Milliardensubventionen eingesetzt, die Daimler wie der Autoindustrie zugutekamen. Da wäre es doch nur anständig, fair und gerecht, dass der Konzern auch den Standort erhalten würde.

Natürlich weiß auch Schulz, dass es um Fairness und Gerechtigkeit nicht geht, und macht bei dieser Gelegenheit den Standort auch noch schmackhaft. Hier könne die Transformation zur E-Mobilität praktisch und in eine „Brückentechnologie“ investiert werden: den ökologischen Verbrennungsmotor, unfreiwillig doppeldeutig auch als „Umweltverbrenner“ angepriesen. Doch all das Co-Management hilft nichts, schließlich hat Daimler schon ein Management und auch eine Konzernstrategie.

Co-Management schadet

Im Kampf gegen alle Entlassungen und die konzernweite, globale Offensive der Bosse schadet das Co-Management. Das lehrt nicht nur die Erfahrung und jede einigermaßen nüchterne Einschätzung des Kapitalismus.

An diesem Tag wird es regelrecht spürbar. Kampfstimmung will bei den Beschäftigten nicht aufkommen. Sorgen und Existenzangst sind allgegenwärtig, fast noch mehr aber Pessimismus und Perspektivlosigkeit. Die Masse der Demonstrierenden folgt der IG Metall, fühlt sich von „ihrem“ Konzern verlassen und hofft doch darauf, weiter arbeiten zu dürfen.

Jahre des sozialpartnerschaftlichen Kurses, ständig neue Produktivitätsabkommen, Benchmarks (interne Leistungsvergleiche) und stetiges Zurückweichen haben Spuren hinterlassen in Gestalt einer relativ privilegierten Stellung der Kernschichten beim industriellen Exportkapital. Diese arbeiterInnenaristokratischen Schichen bildeten und bilden den Kern der SozialpartnerInnenschaft. Ihre Arbeit prägt einerseits extreme Arbeitsproduktivität, -intensität und damit eine sehr hohe Ausbeutungsrate. Andererseits erhalten sie vergleichsweise hohe Löhne, Sonderzahlungen und Boni. Letztere werden 2020 mit 1000 Euro wohl mager ausfallen im Vergleich mit den Vorjahren – doch die Hoffnung auf ein „gutes“, partnerschaftliches Ende stirbt viel zu langsam.

Die klassenkämpferischen Teile der Belegschaft sind vielmehr ausgedünnt – nicht nur wegen der Verhältnisse in dieser Produktionssphäre, sondern auch weil Betriebsratsbürokratie und IG-Metall-Apparat als politische Polizei, als Ordnungsfaktor für das Kapital wirken – und zwar seit Jahrzehnten. So hoffen die meisten Beschäftigten nicht viel anders als IG Metall und Betriebsrat auf ein Weihnachtswunder der SozialpartnerInnenschaft.

Letztlich flehen diese Apparate das Kapital an, irgendwie die soziale Regulation des Kapitalismus in Deutschland auch über die gegenwärtige Krise retten zu können. Dabei besteht das Neue gerade darin, dass die SozialpartnerInnenschaft und die damit verbundene Stillhaltepolitik auch große Teile der ArbeiterInnenaristokratie, darunter Belegschaften wie bei Daimler-Marienfelde, nicht integrieren, sondern in die Arbeitslosigkeit oder Leitarbeit führen werden.

Globale Offensive

Daimler wie die gesamte Autoindustrie steht vor einer grundlegenden Umstrukturierung, bei der es nicht bloß, ja nicht einmal in erster Linie um die Veränderung der Produktpalette und neue Antriebssysteme geht. Es dreht sich vor allem darum, den Konzern für einen globalen Vernichtungswettkampf mit konkurrierenden Unternehmen fit zu machen. Daher wird gekürzt, Personal abgebaut – und zwar nicht nur, wenn die Wirtschaft strauchelt, sondern selbst wenn Milliardengewinne eingefahren werden.

Die drohende Schließung in Marienfelde stellt selbst einen Teil einer globalen „Sparoffensive“ dar, die einmal mehr auf Kosten der Belegschaften gehen soll, die seit Jahren von einer Produktivitätssteigerung, von einer „Benchmark“ zur anderen getrieben werden.

Erfüllt wurden diese Programme alle – ausgezahlt haben sie sich vor allem für den Weltkonzern. Trotz Umsatzeinbrüchen im Corona-Jahr wartete Daimler lt. FAZ im 3. Quartal mit einer Gewinnerwartung von 3,7 Milliarden Euro vor Steuern auf – mehr als im Vergleichsquartal 2019. Ende 2020 soll sich dieser Trend fortsetzen.

Am milliardenschweren Kürzungsprogramm, dem rund 30.000 Beschäftigte, darunter die Berliner KollegInnen zum Opfer fallen sollen, hält der Konzern fest – „sozialverträglich“, wenn möglich, weniger sozialverträglich, wenn nötig. Offenherzig, wie es sich gegenüber der LeserInnenschaft der FAZ gehört, erklärt die Konzernspitze auch, warum das so ist: „Nicht Wachstum um des Wachstums willen sei das Gebot der Stunde, so betonte Daimler-Vorstandsvorsitzender Ola Källenius in dieser Woche in einer Journalistenrunde, sondern profitables Wachstum.“

Die Corona-Pandemie hat das Unternehmen gut überstanden, insbesondere wegen der raschen Erholung des chinesischen Marktes und der gestiegenen Nachfrage nach luxuriösen Autos. Vor der E-Mobilität soll der Verbrenner die Aktienkurse befeuern. Damit diese weiter steigen und das Wachstum profitabel bleibt, wird zugleich das nächste Kürzungsprogramm durch den Konzern getrieben und der Ruf nach staatlicher Unterstützung bei der Transformation zur E-Mobilität laut.

Welche Politik?

Das Daimler-Management reagiert damit auf die veränderten und verschärften Bedingungen der globalen Konkurrenz. Die sozialpartnerschaftliche Ausrichtung der IG Metall und die Politik des Co-Managements erweisen sich in dieser Lage nicht nur als arbeiterInnenfeindlich. Diese angeblich realistische Politik entpuppt sich als reinster Utopismus, als Beschwörung eines Klassenkompromisses, dessen ökonomische Grundlagen längst der Vergangenheit angehören.

Eine solche Politik demoralisiert, desorientiert und entpolitisiert die Lohnabhängigen. Sie führt zum Rückzug und zur Niederlage. Während die Apparate krampfhaft hoffen, die SozialpartnerInnenschaft und ihre Position als Mittler zwischen Lohnarbeit und Kapital zu halten, sollen die ArbeiterInnen auch noch die Folgen dieser Politik ausbaden.

In dieser Situation wird der Bruch mit der SozialpartnerInnenschaft, mit Co-Management und sozialdemokratischer Unterordnung zur Notwendigkeit, wenn Schließungen, Entlassungen, Flexibilisierung, Kürzung auf dem Rücken der Beschäftigten gestoppt und verhindert werden sollen. Ein solcher Schritt erfordert freilich auch den Bruch mit der Politik der Klassenzusammenarbeit und mit der ArbeiterInnenbürokratie in den Gewerkschaften und Großkonzernen, die diese verkörpert. Dafür ist der Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung nötig, um für eine Erneuerung der Gewerkschaften zu sorgen.

Dies mag vielen in weiter Ferne erscheinen – unrealistisch angesichts des Kräfteverhältnisses und vorherrschenden Bewusstseins der Klasse. Allein, der Schritt ist letztlich alternativlos. Wer eine klassenkämpferische Politik vertritt, kann sicherlich auch verlieren. Wer selbst den Kampf für diese ablehnt oder hinausschieben will, hat jedoch schon verloren.

Flugblatt der Gruppe ArbeiterInnenmacht zur Demonstration und zur Aktionswoche gegen drohende Schließungen und Entlassungen bei Daimler: Gegen alle Entlassungen und Schließungen! Stoppt die Angriffe!



Enteignung des Kapitals und Reorganisation von Handel und Logistik

Jürgen Roth, Infomail 1111, 19. Juli 2020

Angesichts der drohenden Massenlassungen bei Galeria Karstadt-Kaufhof (GKK) stehen tausende Beschäftigte mit dem Rücken zur Wand. Nicht nur in diesem Einzelhandelskonzern brechen die Umsätze ein, vollzieht sich eine massive Umstrukturierung.

Die Gewerkschaft ver.di, Betriebsräte, aber sicher auch viele Angestellte hoffen, dass „ihre“ Filiale, ihr „Arbeitsplatz“ durch Protestaktionen doch gerettet werden kann – eine Gesamtkonzept für eine von Krise und Umstrukturierung geprägte Branche fehlt jedoch. Daher erscheint auf den ersten Blick der entschlossene Kampf einzelner Häuser, einzelner Standorte, verbunden mit Druck durch die Kommunalpolitik als einzige Möglichkeit, das Schlimmste zu verhindern.

In Wirklichkeit zeigen sich jedoch die Grenzen dieser rein gewerkschaftlich und betrieblich ausgerichteten Taktik. Vom Standpunkt des einzelnen Handelskapitals macht es schließlich Sinn, ja erzwingt die Konkurrenz geradezu, die unprofitablen oder weniger profitablen Häuser zu schließen – schließlich geht es wie bei jedem kapitalistischen Unternehmen nicht darum, die KäuferInnen mit möglichst guten Produkten zu versorgen, sondern aus dem Handel möglichst großen Gewinn zu ziehen. Dabei setzen den „klassischen“ Kaufhäusern, die natürlich selbst auch immer profitorientiert waren, die aktuelle Krise, schrumpfende Kaufkraft der Masse der KundInnen, Internethandel, aber auch die Immobilienspekulation massiv zu.

Konkurrenz und Privateigentum

Eine grundlegende Lösung des Problems ist freilich unmöglich, wenn die Verteidigung der unmittelbaren Interessen der Beschäftigten – Kampf gegen alle Entlassungen, Kürzungen, weitere Flexibilisierung der Arbeitszeit, Erhalt der jeweiligen Standorte – nicht mit grundlegenden Forderungen verbunden wird, die das Privateigentum selbst in Frage stellen.

Das beginnt schon bei der Frage von Grund und Boden. Diese müssen durch die Gemeinden entschädigungslos enteignet werden, um zu gewährleisten, dass Wohnen, Gewerbe und Dienstleistungen dem Allgemeinwohl zugutekommen können, ohne von den Rentenansprüchen des parasitären Grundbesitzes abhängig zu sein. Wenn z. B. Benko mehr Geld mit der Vermietung der Häuser machen kann als mit dem Einzelhandel, so ist es aus seiner Sicht nur folgerichtig, diese „abzustoßen“, um mit Immobilienspekulation höhere Gewinne einzufahren. Wenn das unterbunden werden soll, müssen Grund, Boden und Immobilien enteignet werden – daran führt kein Weg vorbei!

Zweitens führt die Konkurrenz im Handel bei sinkender Kaufkraft logischerweise dazu, dass sich die einzelnen Kapitale durchsetzen können, wenn sie ihrerseits die Kosten drücken. Daher planen sie, unrentable oder wenig rentable Standorte zu schließen, die Belegschaften auszudünnen, die Arbeitsintensität zu erhöhen und Löhne zu kürzen. Für die Lohnabhängigen kann es aber nicht darum gehen, die Konkurrenzfähigkeit „ihres“ Unternehmens zu sichern – das kann nur zur Verschlechterung der eigenen und anderer Arbeitsbedingungen führen und die Entsolidarisierung untereinander befördern.

Daher kann es der LohnarbeiterInnenschaft und ihren Verbündeten, den 99 % dieser Gesellschaft, nicht darum gehen, gleiche und scheinbar „faire“ Konkurrenzbedingungen im Handel künstlich zu schaffen, sondern ihn von unten zu planen, durch ein gesellschaftliches System der Verteilung zu ersetzen. Das setzt jedoch voraus, dass Handel und Warenlogistik – also die fungierenden Kapitale in diesem Sektor – entschädigungslos unter ArbeiterInnenkontrolle enteignet werden.

Damit diese Maßnahmen ihre volle Wirkung dauerhaft entfalten und Teile einer Reorganisation der gesamten Produktion und Reproduktion in der Gesellschaft werden, bedarf es natürlich auch der Enteignung der Banken und Konzerne sowie des Sturzes ihres Staates und Ersetzung durch einen ArbeiterInnenstaat. Eine Verstaatlichung einzelner Sektoren wie Handel und Logistik kann daher nur als Übergangsmaßnahme verstanden werden – aber schon als solche kann sie den aktuell drohenden Entlassungen und Schließungen, also der Lösung der Krise in diesem Sektor auf dem Rücken der Beschäftigten und KonsumentInnen entgegenwirken.

Die bei Amazon, Ebay oder anderen Sektoren des Handels und Vertriebs Arbeitenden sind sicher die erste Ansprechadresse für die Beschäftigen bei GKK oder anderen Ketten auf diesem Weg.

Ein erster Schritt im gemeinsamen Kampf der gesamten Branche müsste die Anpassung und Erhöhung der Tarife auf den höchsten Standard sein – konkret bei Amazon und anderen die Einführung des besser entlohnten Tarifs für den Einzelhandel, ein Ziel, für das die GewerkschafterInnen bei Amazon schon seit Jahren, bisher erfolglos gekämpft haben. Gemeinsame, flächendeckende bis hin zu politischen Streiks könnten so der praktische Beginn des Schulterschlusses von Beschäftigten in verschiedenen Formen des Handels (Laden, Kaufhaus, Online) und in der Handelslogistik werden.

Für einen integrierten und geplanten Handels- und Logistiksektor im Interesse der 99 %!

Die entschädigungslose Verstaatlichung aller großen Player in diesen Brachen würde aber nicht nur ermöglichen, dass Entlassungen verhindert und die vorhandene Arbeit unter den Beschäftigten aufgeteilt wird, prekäre Arbeitsverhältnisse in tariflich gesicherte umgewandelt werden. Sie würde auch die Reorganisation des Handels und der Logistik im Interesse der KonsumentInnen und ökologischer Nachhaltigkeit ermöglichen.

Eine Fusion von Internet- und sonstiger Warenlogistik zu einem einzigen Unternehmen in Staatshand kann sicherstellen, dass Arbeits- und Öffnungszeiten verringert werden, auch ländliche Gebiete vollständige wohnortnahe Angebote wahrnehmen können. Dazu kann einerseits der Lieferservice auf Wunsch für Güter des alltäglichen Bedarfs erweitert, andererseits er auf das auch ökologisch rationale Maß zurechtgestutzt werden. Wie? Indem z. B. die im Internet bestellten Artikel ebenso schnell wie bisher oder zügiger entweder im nächstgelegenen Laden abgeholt werden können, wo sie vorrätig sind, oder von dort Sammelauslieferungen erfolgen, sei es aus dem Lager oder nach Eingang der übers Internet bestellten gelieferten Produkte. Auf diese Weise erfolgt die Feinverteilung an der Basis, in der Fläche und die Großlieferung wie bisher über Großhandel bzw. Fabrik an den Einzelhandel einschließlich der von KundInnen im Internet bestellten Güter. Dieser integrierte Distributionssektor, der schon Formen einer zukünftigen, sozialistischen Gesellschaft vorwegnehmen würde, spart nicht nur Arbeitszeit, sondern auch Verpackungsmüll und Treibstoff. Ein in der ganzen Republik flächendeckendes Angebot, also auch in Landstrichen, die schon lange Jahre weder Warenhäuser, Lebensmittelgeschäfte, (Zahn-)ÄrztInnen, Apotheken oder Restaurants und Kneipen kennen, tut das Seinige dazu mit eingesparten Wegen und Zeiten sowie einer Bevölkerung, die erstmals wieder Berücksichtigung und Wertschätzung erfährt, wie sie ihr immer schon angemessen gewesen wären.

Diese knappe Skizze müsste natürlich konkretisiert werden. Wir wollen aber mit den obigen Überlegungen deutlich machen, dass beim Kampf gegen die drohenden Massenentlassungen der politische Horizont über die Frage der Verteidigung des Bestehenden hinausgehen kann – und muss! Wenn wir der ruinösen Konkurrenz etwas entgegensetzen wollen, muss diese Auseinandersetzung mit einer positiven Vorstellung zur Reorganisation des gesamten Sektors, letztlich der gesamten Gesellschaft verbunden werden.




Wer von der Bildungsschere spricht, darf vom Klassenkampf nicht schweigen!

Richard Vries, Teil 1, Infomail 1100, 22. April 2020

Corona und damit verbundene Pflichteinschränkungen auf das familiäre Wohnumfeld verdeutlichen für Eltern, Kinder und Tätige in Bildungseinrichtungen aktuell noch klarer als sonst Klassenfragen, insbesondere bezogen auf die jeweils eigens vorzufindenden Bildungsbedingungen. Als sei klassenübergreifende Gewalt gegenüber Frauen und Kindern nicht schon einschneidend genug, drängt sich darüber hinweg damit auch unbedingt der Aspekt der äußerst stark auf Familien einwirkenden sozioökonomischen Verhältnisse auf.

Die momentanen Bildungssituationen

In einem Brief an Kugelmann vom 3. März 1869 verweist Marx darauf, dass dem belgischen Mathematiker Quételet das Verdienst zukomme, nachzuweisen, „wie selbst die scheinbaren Zufälle des sozialen Lebens durch ihre periodische Rekurrenz (Wiederkehr) und ihre periodischen Durchschnittszahlen eine innere Notwendigkeit besitzen.“ (MEW 32, Marx an Ludwig Kugelmann, Berlin/Ost 1965, S. 596).

Wir wollen uns daher im folgenden Artikel zuerst einer Reihe dieser immer wiederkehrenden Phänomene und Erfahrungen mit dem Bildungssystem widmen. Daraus wiederum müssen eindeutige politische Schlussfolgerungen für konkrete Aktionen im Bildungssektor und, wie sich später noch zeigen wird, auch deutlich darüber hinaus gezogen werden. Einer unbestreitbar stetig weiter auseinanderklaffenden Bildungsschere, die schon bestehende Klassenunterschiede reproduziert und vertieft, gilt es, überall entschieden entgegenzutreten. Dies erfordert zunächst, ihre konkreten und akuten Bedingungen aufs Schärfste zu beleuchten.

Dafür werden wir unsere Betrachtungen beim derzeitigen Elternauftrag beginnen, um über die Folgen auf deren eigene Kinder, letztlich beim Personal der verschiedenen Bildungseinrichtungen anzugelangen.

Der besagte Auftrag für Eltern stellt sich im Zusammenhang mit deren zu diesem Zweck üblicherweise in Bildungs- und Erziehungsinstitutionen verorteten Nachkommen so dar, dass eine emphatische (mit Nachdruck agierende) und motivierende Bezugsperson gefordert ist, die wiederholend Ungewissheiten der Kinder durch Offenheit, geduldige Zeitnahme samt aktivem Zuhören erkennt, die gemeinsame Ängste und Sorgen mit der gesamten Familie teilt und bespricht. Strukturen und kreative Impulse müssen gegeben, Erfolge auszeichnend wahrgenommen werden. Auch gegenseitige Frei- und Rückzugsräume sind zu ermöglichen. Soweit nur ein Auszug aus dem Anforderungsprofil von „guten“ Eltern – gerade zu Zeiten von Corona und Schulschließungen.

Dafür muss aber überhaupt erst einmal der nötige Platz, womöglich ein eigener Garten oder Balkon, vorhanden sein, um in etwa erhöhter Gereiztheit entgegenwirken zu können. Nähe zuzulassen und anzubieten, ist und bleibt dabei ein menschliches Grundbedürfnis. Es handelt sich hier gewiss um eine sinnvolle Ausnahme vom gegenwärtig außerfamiliär nahegelegten „physical distancing“, wenn sich die Angehörigen eines Haushalts umeinander kümmern.

Genügend Zeit für Etwaiges ist allerdings durchaus knapp. Ohne entsprechende Ausbildung, allseitige Vorgaben oder Ausstattungen müssen Eltern, unter Umständen noch während ihrer eigenen Arbeitszeit, Lerninhalte an die Kinder zuhause vermitteln. Eine benötigte Betreuung muss selbst organisiert oder, bei individueller Möglichkeit, auch erst mal beantragt werden. Die Care-Arbeit, welche heutzutage immer noch meist von Frauen ausgeführt wird, erhöht sich also fortan tiefer einschneidend in der Corona-Pflichteinschränkung auf das häusliche Umfeld.

Belastung schon vor Corona

Doch auch unabhängig von Corona und den gegebenen Umständen ist die Belastung schon mehr als hoch genug: Die Forsa-Studie „Eltern 2015“ stellt etwa dar, dass Mütter und Väter heutzutage extrem hohe Anforderungen an sich selbst in der Erziehung stellen. Fast zwei Drittel der 700 Befragten gehen von höheren Erwartungen in der heutigen Zeit aus. Unter „Eile, Hetze und Zeitdruck“ leiden ebenfalls knapp zwei Drittel (62 %).

Die Schuld liegt wie so oft in der Konkurrenz innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Bücher über eine vermeintlich perfekte Erziehung gibt es sowohl im Internet als auch in den Buchläden zuhauf. Isabelle Haesler, die Sprecherin des Magazins, sagt hierzu: „Es gibt heute so viele Optionen und ein Übermaß an Informationen. Vielleicht ist bei den Eltern damit auch die Angst verbunden, eine falsche Entscheidung zu treffen – statt einfach wie früher auf das gesunde Bauchgefühl zu hören.“

Zudem kommt unter den Müttern und Vätern vermehrt Angst vor den großen Leistungsanforderungen der wettbewerbsorientierten, kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft auf, die indes durch die medial in den Vordergrund gebrachten schlechten Ergebnisse der Pisa-Studien, Entscheidungen über die bildungsbezogene Zukunft ihrer Kinder zusätzlich vergrößert werden. 36 % der Kinder bemerken wiederum die Ängste ihrer Eltern, „weil sie immer alles perfekt machen wollen“, und bekommen damit am eigenen Leibe vermittelt, wodurch sich kapitalistische Leistungsanforderungen auszeichnen.

Einen anderen Schulabschluss als das Abitur sehen viele Eltern für ihre Kinder aufgrund des in der Gesellschaft vorherrschenden Drucks nämlich nicht.

Die Sorge um das Kind, dessen möglichen sozialen Abstieg, die Mühle der Konkurrenz treiben viele Eltern psychisch geradezu zur Selbstidentifikation mit den Schulleistungen der Zöglinge. Unter solch psychisch belastenden Bedingungen wird schon im „Normalfall“ gelernt. Die Corona-Krise verschärft das natürlich. Trotzdem sollen nun vielerorts Abschlussprüfungen nach mehrwöchiger Pflichteinschränkung geschrieben werden. Die soziale, klassenspezifische Selektion, die das Bildungssystem ohnedies kennt, wird verstärkt. Die politisch Verantwortlichen agieren mit einer Mischung aus Rücksichtslosigkeit und bürgerlichem Klasseninstinkt.

Zugleich produziert das Schulsystem auf Seite der Erziehungsberechtigten selbst psychische Störungen. Eine ständig erwartete Eigenverantwortung treibt überlastete oder überforderte Eltern regelrecht zu Misserfolgen ihrer Kinder. Gravierende Auswirkungen auf die Psyche und Physis vieler Menschen eines der reichsten Länder dieses Globus sind schon abzusehen allgegenwärtig und werden sich absehbar verschärfen.

Ausschließlich eine wirkliche Kontrolle durch LehrerInnen, ErzieherInnen, BetreuerInnen, VertreterInnen der lohnabhängigen Eltern selbst sowie durch Kinder und Jugendliche würde hier wohl empfindlichen Verunsicherungen wirksamer entgegenkommen können. Bislang festgestellte Noten könnten demzufolge ohne größeren Aufwand für alle Beteiligten einfach so festgehalten werden. Währenddessen werden in Ländern wie Hessen etwa Abschlussprüfungen zum Abitur, trotz akuter Krisenbedingungen, nicht verschoben. Andere Bundesländer wiederum laufen hingegen durch eine weitere Verlegung der Termine und ohne entsprechende Gegenmaßnahmen gleichsam Gefahr, die Bildungsschere ähnlich auf Abschlussnoten bezogen vergrößern zu lassen.

In all diesem Wahnsinn drückt sich freilich aus, worum es beim Unterricht an den Schulen im Kapitalismus eigentlich geht – um die Reproduktion und dementsprechende Ausbildung der verschiedenen Gesellschaftsklassen. Wie am Arbeitsmarkt oder als unabhängige UnternehmerInnen stehen sich die SchülerInnen – unabhängig von jeder Beteuerung von Zusammenhalt und Kooperation – als KonkurrentInnen gegenüber. Massenarbeitslosigkeit, drohender Ruin von KleinbürgerInnen, imminenter sozialer Abstieg verstärken dies. Da größere Unterstützung von staatlicher Seite jedoch ausbleibt, wird der Faktor Elternhaus noch wichtiger für die „Zukunftsaussichten“ in der Konkurrenz. Kein Wunder also, dass mit dem Druck auch die Angst bei Kindern und Jugendlichen zunimmt.

Angst

Bei einer Umfrage des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen gaben ihr zufolge etwa 60 % der Acht- bis Neunjährigen an, beim Fernsehen Angst zu bekommen. Die Hälfte aller Eltern kannte dabei nicht einmal die Kennzeichnung der freiwilligen Selbstkontrolle für Fernsehsendungen. „Gemeinsam gucken ist immer besser“, stellt die Leiterin der Umfrage, Dr. Maya Götz, klar. Wenn die Eltern allerdings keine Zeit dafür aufbringen können, entsteht hier eine neue Medienkultur der Ängste.

Digitale Medien können, an diesem Beispiel ersichtlich, bereits bestehende soziale Ungleichheiten in einem Zusammenspiel mit dem kapitalistischen System, auch abseits von Corona, vergrößern. Während Eltern, die nicht dem ständigen Drängen nach Sicherheit und Perfektion aufgrund ihrer Ängste verfallen sind, Zeit für eine gemeinsame Fernsehsendung aufwenden können, sieht das oft für ArbeiterInnenfamilien gänzlich anders aus, obwohl gerade hier die Familie als Sicherheitsfaktor die größte Rolle spielen müsste. Diese Erwachsenen und Kinder werden in der Folge regelrecht in die Hilfe gesellschaftlich auffangender Institutionen gedrängt.

Die größten Stressfaktoren für Eltern, die hierbei zu solcher Hilfsbedürftigkeit führen, sind nach deren eigenen Angaben und in gegebener Reihenfolge: 1. die Kinderbetreuung, 2. der Stress im (befristeten) Job sowie 3. die Belastung im Haushalt.

Wie dieser Umstand nun augenblicklich aussieht, sollte deutlich geworden sein. Wie groß dabei die zusätzliche Belastung für Mütter ausfällt, die zu drei Vierteln neben „allem anderen“ sogar noch zusätzlich selbst lohnabhängig beschäftigt sind, umso mehr. Volle Aufmerksamkeit und Leistungsbereitschaft werden fortwährend abgefordert, andauernder Druck und alltägliche Ansprüche entsprechend intensiv empfunden. Mehr Raum für PartnerInnen, Kinder und sich selbst könnte da Abhilfe schaffen. Zweiundsiebzig Prozent der Eltern sehen das ähnlich. Diese berechtigten Wünsche lassen sich jedoch, auch aufgrund von unvermeidlichen, geschlechtsübergreifend steigenden Berufstätigkeiten, nur schwer verwirklichen.

All das färbt wiederum auch auf die psychische Gesundheit der Kinder ab. Jedes vierte weist in Schulen psychische Besonderheiten auf. Genauso, wie jede/r vierte SchülerIn von sozioökonomischer Ausgrenzung gefährdet ist.

Noch nie gab es, aufgrund einer so kontinuierlich an eigener Sicherheit und Geld orientierten Gesellschaft, so viele Fälle von Depressionen wie heute. Darauf wird mit Therapien jeglicher Art geantwortet. Die Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg und einer möglichen Austauschbarkeit im kapitalistischen Wettbewerb soll im Nachhinein „behandelt“ werden, als ob die Zwangsgesetze der Konkurrenz ein therapeutisches Problem darstellen würden. Zwangsläufig trifft das schon die Kleinsten.

Eigenes Versagen?

Die Auswirkungen auf Kinder zeichnen sich indes dadurch aus, dass erlebtes Versagen, ganz wie bei den Großen, durch die neoliberale Formel der Eigenverantwortlichkeit auf sich selbst übertragen wird. Entmutigungen und Leistungsschwächen folgen. Der entfremdete Charakter der Bildung im Kapitalismus manifestiert sich als Sinnkrise: „Wofür lernen wir hier eigentlich überhaupt?“

Dabei entscheidet gegenwärtig und damit noch mehr als sonst in großem Maße der jeweilige eigene Haushalt darüber, ob ein/e SchülerIn etwas rasch lernt oder zehnmal üben muss. Die Spanne reicht von Vernachlässigung bis hin zu erdrückendem Zwang. Alles vereint sich im Druck, nicht enttäuschen zu dürfen, in der Angst vor schlechten Noten, vor Ablehnung und Bestrafung. SchülerInnen der mittleren und unteren Schichten sollen sich nicht von den oberen abhängen lassen. Was mit einer Unausgeglichenheit beginnt, kann dadurch schnell zu einer dauerhaften psychischen Belastung werden, gerade wenn sich im Umfeld der jeweiligen Familie zeigt, dass andere schlecht über die eigenen Erziehungsmethoden denken könnten.

Dabei besteht die gesellschaftliche Selektion im bürgerlichen Bildungssystem in Wirklichkeit unabhängig vom/von der einzelnen SchülerIn. Doch das individuelle Erziehungsprinzip, die Vorstellung, dass alle gleiche Chancen hätten, lässt die klassenspezifischen oder auch die rassistischen Selektionsmechanismen des Bildungssystems selbst in den Hintergrund treten. Kinder aus der ArbeiterInnenklasse oder aus MigrantInnenfamilien erscheinen vor dem Hintergrund eines Bildungssystems, das auf die Bildungsideale des KleinbürgerInnentums und der Mittelschichten ausgerichtet ist, notwendigerweise als „bildungsfern“, als minder „begabt“. Doch selbst wenn sie es, wie etliche MigrantInnen und ArbeiterInnenkinder, doch schaffen oder wie viele Mädchen und junge Frauen an Schulen und Unis besser als ihre Jungen und Männer abschneiden, so ändert das nur wenig an der Benachteiligung im späteren Berufsleben.

Im bürgerlichen Bildungssystem insgesamt setzt sich trotz aller individuellen Anstrengung der Benachteiligten der klassenspezifische Charakter durch. Es erscheint aber so, als wäre der „schlechtere“ Abschluss von ArbeiterInnenkindern auf ihr und ihrer Eltern individuelles Versagen zurückzuführen, als würden sie sich im Gegensatz zu KleinbürgerInnentum und Mittelschichten um ihre Kinder nicht wirklich kümmern. Ganz nebenbei wird so auch gleich eine „Lehre“ für das spätere Berufsleben vermittelt – wer es nicht schafft, wer fliegt, wer also in der Konkurrenz unterliegt, hat die Schuld vor allem bei sich selbst zu suchen.

Reparaturbetrieb im Notstand und die Lage der Lehrenden

Um den gröbsten Missständen vorzubeugen, vernetzt sich das Personal an den Schulen zur Zeit zusätzlich zu angebotenen Notbetreuungen noch intensiver, um speziell bei dem „kleinen Kreis der Gefährdeten“ kontinuierlich Kontakte zu den Eltern, Kindern und anderen Professionen herzustellen und aufrechtzuerhalten. Vorbereitungszeit für Lehrkräfte und Eltern auf diese Corona-Situation gab es hingegen keine. Gegenwärtige Kenntnisnahmen von Missverständnissen und Komplikationen bei SchülerInnen gestalten sich als kreatives Neuland. Das freut sicherlich anhand gelegentlichen Gelingens, belastet aber auch und kann ohne Zweifel sehr frustrieren. Es verfestigt das Gefühl tief empfundener Machtlosigkeit gegenüber dem System.

Attraktiver wird der Job dadurch bestimmt nicht, obwohl genau das, verbunden mit steigenden Einstellungszahlen, dringend vonnöten wäre. 59 % der Schulleitungen gaben 2020 an, dass an ihren Schulen LehrerInnenmangel herrsche. 2018 waren das noch 36 %.  56 % von ihnen haben außerdem schon finanzielle Unterstützung durch den Digitalpakt angefragt – sogar schon vor Corona.

Tatsächlich zur Verfügung gestellt wurden laut GEW von den vom Bund geplanten 5 Milliarden Euro bisher aber nur 96 Millionen Euro. Die digitale Ausstattung an den Schulen bleibt entsprechend unverändert bei einem Drittel des tatsächlichen Bedarfs.  Nun aber bestünden gerade durch die Corona-Krise die Möglichkeit und die Verpflichtung, den Weg zur Digitalisierung weiter einzuschlagen.

Lehrkräfte nehmen dafür schon seit geraumer Zeit, allgemeine Fortbildungen zu digitalen Themen in Anspruch – natürlich zusätzlich zum belastenden Schulalltag. Über zu hohe Arbeitsbelastung und zu viel Zeitmangel beklagen sich auch deswegen im Jahr 2020 36 % der LehrerInnen. 2019 waren das noch 18 %.

Die im März und April überwiegend „digital-praktische“ Unterrichtsgestaltung warf für vergleichsweise unvorbereitete Lehrkräfte noch die Frage auf, zwischen einer digitalen Vielfalt und einer überschaubareren Niedrigschwelligkeit des Angebots zu „wählen“: Lassen Haushaltsgröße, genügend individuelle Arbeitsplätze, ausreichende Ausstattung, regelmäßige Erreichbarkeit und das nötige Verständnis überhaupt den angedachten Anspruch bei den vielen verschiedenen Familien meiner SchülerInnen zu? Und zwar unter Umständen auch die Gegebenheiten meines eigenen LehrerInnen-Haushalts? Reicht es gegebenenfalls aus, vorwiegend Mails mit PDF-Anhängen zu verwenden oder müssen Materialien gebündelt und in überschaubarem Ausmaß per Post versandt werden?

Anerkennung verdienen viele Lehrkräfte in diesen Zeiten zweifellos, wie überhaupt Anerkennung das passende Stichwort für die vielen nicht-lehramtsqualifizierten Lehrkräfte an den verschiedenen Bildungseinrichtungen ist. So sind 53 % der Schulen mit solchem Lehrpersonal ausgestattet. Im Jahr 2018 waren das zum Vergleich noch 37 %. Diese Zahlen müssen unbedingt als strukturelle Notmaßnahme, als Resultat eines übergreifenden LehrerInnenmangels betrachtet werden.

Und dieser Notstand wird größer. Der Anteil von QuereinsteigerInnen bei Neueinstellungen betrug 2018 13 %, während er vor 10 Jahren, also im Jahr 2008, noch 3 % ausmachte. Auch die versprochene Professionalisierung und Weiterbildung dieser KollegInnen fand kaum statt. Die dafür nötige Zeit soll schließlich nicht vom Unterricht abgehen. Schließlich fallen hierzulande mehr als 100.000 Unterrichtsstunden pro Jahr aus. Da sind zeitaufwendige Fortbildungen nicht drin.

Damit der Ruf der jeweiligen Schule im gegenseitigen Konkurrenzkampf um die Gunst der Elternschaft jedoch erhalten bleiben kann, wird dieser Umstand weitestgehend der Wahrnehmung entzogen. Ein prognostizierter LehrerInnenmangel von 26.300 Kräften im Jahre 2025 verweist jedoch auf eine Fortsetzung und Vertiefung jener allgemeinen Mehrbelastung. Dabei würde gerade der Ausbau dringend geforderter Ganztagsschulen noch mehr Personal, Arbeitszeit und Finanzierungen erfordern, um der Bildungsschere etwas entgegensetzen zu können. 

Wie kam es dazu?

Schon seit den die sozialen Staatsausgaben schmälernden, internationalen Neoliberalisierungsprozessen der 1980er Jahre befindet sich die Beteiligung sozioökonomisch benachteiligter Familien an „gehobener“ Bildung im Rückgang. Der Erziehungsstil hat sich damit zu einem außerordentlich prägnanten Merkmal der Klassenzugehörigkeit innerhalb der kapitalistischen Klassengesellschaft verfestigt.

Dass die Geburtenraten seit 2012 „unerwartet“ emporgestiegen sind, ist ein weiterer tragender Faktor für den akut vorzufindenden Mangel an Lehrkräften. Viel zu sparsame Berechnungen sowie Pläne und nicht etwa „Flüchtlingswellen“, denen demagogisch die Schuld zugewiesen wird, treffen somit viel unmissverständlicher den wahren Kern der Ursache.

Der neoliberale Staat wartet wie so oft, bis es zur schreienden Hilfsbedürftigkeit kommt, anstatt auf andere Weise vorzusorgen. Die eigentlich elementare Primarbildung etwa wurde und wird in Deutschland im OECD-Vergleich seit jeher am geringsten mitfinanziert. Der Anteil der Ausgaben der Bundesregierung für Grundschulen finden sich mit 0,6 % des BIP an letzter Stelle der OECD-Länderrangliste wider. Zum Vergleich: Der OECD-Schnitt liegt bei 1,5 % des BIP und Länder wie Mexiko, Griechenland oder Ungarn liegen hier vor der BRD. Diese finanziell völlig unterrepräsentativen Operationen töten zwar nicht direkt, Forderungen nach weniger Vernachlässigung dieses Sektors aber scheinen trotz unübersehbarer Auswirkungen einfach zu verblassen. Das wiederum lässt Lehrkräfte, Eltern und Kinder umfassend verzweifeln, frustrieren und führt auch zu tiefergreifenden Krankheitsverläufen – ganz wie das Virus.

Trotzdem wird unter anderem bei der Lehrkräfteverteilung zwischen Brennpunktschulen und Villenvierteln standhaft auf das aus der sogenannten „freien“ Wirtschaft bekannte „sich selbst regelnde“ Spiel der Kräfte hingewiesen. Der Lehrkräftemangel tut sein Übriges dazu. QuereinsteigerInnen kommen dementsprechend „freiwillig“ an Brennpunktschulen, während sich ausgebildete, länger qualifizierte Lehrkräfte, völlig konträr zum eigentlichen Sinn für die wirklich betroffenen Kinder, besonders in die „erhabeneren“ Regionen „flüchten“.

Bildungserfolge werden somit zusätzlich auf das gesellschaftlich privilegierte Elternhaus verschoben. Die Vorbildung der Elternschaft, speziell der Mutter, ist wesentlich bedeutender als beispielsweise ein in den (sozialen) Medien so oft mit Bildungsschwächen in Verbindung gebrachter Migrationshintergrund.

Doch rassistische und sonstige Stereotypen führen schnell zu Verallgemeinerungen, die letztlich in systematische Diskriminierung übergehen. Schuldige für schlechte Zeiten sind plötzlich gefunden, während das Selbst damit aufgewertet werden kann. Der Druck auf die isolierten Einzelnen wird durch die Identifikation mit der medial vermittelten vorherrschenden Meinung, tradierten Vorurteilen und reaktionären Ideologien scheinbar bewältigt. Das unsichere, in der Schule vom Konkurrenzdruck bedrängte Selbst wähnt sich wenigstens in der Anpassung an die vorherrschende Meinung „sicher“.

Völlig fernab von jeglicher Rationalität spielt sich gleichermaßen auch die zunehmende Trennung der übrigen Gesellschaftsklassen von der bürgerlichen Oberschicht ab. Diese hat sich in den letzten Jahren massiv verschärft – ganz so wie die Ungleichheit in der Gesellschaft selbst. Bürgerliche Schulkinder besuchen 6 Mal häufiger Gymnasien als ArbeiterInnenkinder. In Städten mit über 300.000 Menschen sogar 14 x häufiger.

Hinzukommend sind deutsche Privatschulen durchweg besser ausgestattet als ihre öffentlichen Pendants. In Hessen, wo an Privatschulen im Schnitt 300 Euro (!!!) Schulgeld pro Monat aufgebracht werden müssen, handelt es sich dort um eine etwa 10 % höhere Kostenabdeckung. Die Dunkelziffer sollte allerdings noch deutlich ausgeprägter sein. Für 9 % aller SchülerInnen in der BRD, die besuchen diese Privatschulen nämlich, heißt es demnach wohl: bessere Zukunftsaussichten. Seit 1990 hat sich die Zahl der Kinder und Jugendlichen an diesen Schulen übrigens verdoppelt.

Vor diesem Hintergrund müssen auch die konkreten, kurz-, mittel- und langfristigen politischen Forderungen für den Bildungsbereich  angesichts der Pandemie und einer völlig überhasteten, abenteuerlichen „Schulöffnung“ betrachtet werden. Darauf werden wir auch im 2. Teil des Artikels eingehen.