Entstehung und Charakter des Staates Israel

Teil 4 des Podcasts zum Thema Antisemitismus und wie er bekämpft werden kann

Lage der Klasse, Folge 7, Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1249, 23. März 2024

Herzlich willkommen zur Lage der Klasse, dem Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht zu marxistischer Theorie und revolutionärer Praxis. Heute mit Lina und Katjuscha und der Frage: „Wie ist der israelische Staat entstanden und wie lässt er sich charakterisieren?“

Schon in unserer vergangenen Folge haben wir uns mit dem Zionismus und somit auch mit Israel befasst. Bevor wir uns in der kommenden Folge unserem Aktionsprogramm für den palästinensischen Befreiungskampf zuwenden, möchten wir heute noch mal genauer auf die Entstehungsgeschichte und den Charakter des Staates Israel eingehen.

Die Entstehung Israels lässt sich einordnen in die Periode der sogenannten „Dekolonialisierung“ nach dem Zweiten Weltkrieg – also der Ablösung der direkten Kolonialherrschaft durch indirekte postkoloniale Systeme, in welchen imperialistische Mächte noch immer durch politische und wirtschaftliche Mittel die halbkoloniale Welt in ihrer Knechtschaft halten. In unserer Folge zur Geschichte des Antijudaismus und Antisemitismus haben wir dabei eine historische Skizze zu den Auseinandersetzungen zwischen dem Assimilationsansatz, der marxistischen und der zionistischen Perspektive zum Kampf gegen die Unterdrückung von Jüdinnen und Juden präsentiert, die vor allem das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert prägten.

Existenzrecht des jüdischen Volkes

Ohne selbst eine imperialistische Macht darzustellen, fungiert Israel seit seiner Gründung im Mai 1948 als kapitalistisch organisierter Staat in dieser Entwicklung als willkommener „engster Verbündeter“ für westliche Imperialismen, um durch ihn Kontrolle über den Nahen Osten auszuüben und sich den Zugang zu wertvollen Rohstoffen zu sichern.  In diesem Sinne lässt sich Israel in seiner Entstehung als „letzte Siedler:innenkolonie des Westens“ bezeichnen, welche ohne die massive militärische und wirtschaftliche Unterstützung, insbesondere der USA, nicht überlebensfähig wäre. Der enorme Kapitalimport erlaubte in den 1950er und 1960er Jahren satte Gewinne, ohne zugleich wesentliche Teile der israelischen Arbeiter:innenklasse in die Überausbeutung zu drängen oder in besonderem Maße besteuern zu müssen, wie es in Halbkolonien meist der Fall ist. Viel eher stieg der Lebensstandard der jüdischen Bevölkerung parallel zur Akkumulation. Nichtsdestoweniger ist Israel kein imperialistischer Staat. Dafür ist er nicht einerseits ökonomisch zu schwach und andererseits kein unabhängiger Akteur, der der Welt seinen Stempel aufdrücken kann. Außerhalb des arabischen Raums spielt er im Weltgeschehen allenfalls eine Nebenrolle. Er ist vielmehr selbst eine besondere Halbkolonie insbesondere der USA und in gewissem Maß der EU geworden, der aus sich heraus einen fortgesetzten Neokolonialismus betreibt, ein besonderer imperialistischer Statthalter oder auch Brückenkopf. Über die vergangenen Jahrzehnte gibt es kein Land auf dieser Welt, das so umfassende Militärhilfe von den USA erhalten hat. Auch Deutschland hat beispielsweise seit dem 7. Oktober seine Waffenlieferungen an Israel verzehnfacht.

Die anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen Israel und Palästina sowie immer wiederkehrende Unruhen in der Region, die selbst ein Ergebnis der neokolonialen Abhängigkeit, Unterdrückung und imperialistischer Kriege sind, liefern der ständigen Präsenz der USA in der Region dabei den Vorwand.

Eine weitere Voraussetzung für die Entstehung des israelischen Staates war, wie wir bereits in unserer vergangenen Folge thematisiert haben, der Höhepunkt der antisemitischen Verfolgung welcher in die Schoa mündete. Ohne diesen tragischen Massenmord hätte der zionistische Ansatz, als scheinbare Alternativlosigkeit, niemals einen so großen Zuspruch unter Juden und Jüdinnen erreichen können. Jedoch, und das stellten wir in unserer ersten Folge heraus, eine Perspektive, die den Antisemitismus als überhistorisch gegeben akzeptiert und damit die Unterdrückung anderer rechtfertigt. Seit mehr als 70 Jahren hat sich auf dem Gebiet Palästinas eine israelische Nation herausgebildet, die ein uneingeschränktes Existenzrecht auf eben dieses beansprucht. Dieses Existenzrecht muss der dort lebenden jüdischen Bevölkerung uneingeschränkt zugestanden werden. Alles andere wäre äußerst reaktionär und entspräche auch nicht der Vorstellung, die wir von einer sozialistischen und säkularen Ein-Staaten-Lösung haben. Die Anerkennung der Existenz einer jüdischen Nation auf dem Territorium des historischen Palästina darf aber nicht verwechselt werden mit der Anerkennung des Existenzrechts des Staates Israel, welchen wir als rassistisches Projekt ablehnen. Dafür führen wir die kurze Definition des Verhältnisses von Nation und Staat aus der ersten Folge unserer Podcastreihe zum Antisemitismus an:

Eine Nation ist das Ergebnis der bürgerlichen Epoche, also verbunden mit dem Aufstieg und Niedergang des Kapitalismus. Sie ist eine Gemeinschaft von Klassen, dominiert durch eine privilegierte oder ausbeutende Klasse. Diese Gemeinschaft hat eine vereinheitlichende territoriale und wirtschaftliche Grundlage, zumeist eine gemeinsame Sprache und Kultur sowie eine gemeinsame Geschichte, ob nun wirklich oder mythisch. Auf diesem Fundament hat sich ein gemeinsames Selbstbewusstsein oder ein Nationalcharakter herausgebildet mit der politischen Konsequenz, dass die Nation eine eigene Staatsform anstrebt oder schon errichtet hat: den Nationalstaat.

Nakba und Besatzungsregime

Nach wie vor sind es aber wesentliche Elemente, die Israel als zionistisches Projekt und unterdrückerisches Kolonialregime ausmachen und starke Tendenzen bis hin zum Völkermord an den Palästinenser:innen in sich tragen. Eines dieser Elemente ist das israelische Besatzungsregime, welches auf Grundlage der ethnischen Säuberung und der Vertreibung von 750.000 Palästinenser:innen errichtet wurde. Dies geschah entgegen der ursprünglich im UNO-Teilungsplan vorgesehenen gemeinsamen Verwaltung. Die arabische Bevölkerung hatte lediglich die Wahl, sich zu unterwerfen oder zu fliehen. Von ihr wird diese historische Tragödie als Nakba bezeichnet, was das arabische Wort für Katastrophe ist – ein Krieg von 1947 bis 1949. In der Nakba wurden 1948 78 % Palästinas erobert. Durch zionistische Milizen und die Armee wurden mindestens 750.000 Palästinenser:innen vertrieben, viele weitere flohen. Die Anzahl der arabischen Bevölkerung im von Israel beanspruchten Gebiet verringerte sich von etwa 1.324.000 1947 auf etwa 156.000 ein Jahr später. Der größte Teil der Menschen mit palästinensischer Herkunft lebt heute außerhalb der Gebiete Palästinas. So wird beispielsweise vermutet, dass etwa 60 bis 70 % der Jordanier:innen (insgesamt 4,5 Millionen) aus Palästina kommen oder palästinensische Vorfahren haben. Das UNRWA geht heute von etwa 5 Millionen palästinensischen Geflüchteten aus. Rund 1,5 Millionen von ihnen leben in den 58 Camps im Westjordanland, Gaza, aber auch Jordanien, Syrien und dem Libanon.

Bis heute ist es den palästinensischen Bürger:innen Israels verboten, der Nakba zu gedenken. Der Schrecken endete damals jedoch noch lange nicht: Im 6-Tage-Krieg 1967 schloss Israel die Besetzung aller verbliebenen palästinensischen Gebiete ab, indem die IDF das gesamte Westjordanland und Gaza einnahm und weitere 300.000 Menschen vertrieben wurden. Seitdem sind die Palästinensischen Autonomiegebiete unter eine de facto Kolonialverwaltung gesetzt worden. Dies widerspricht eindeutig der UNO-Resolution 242, welche seit 1967 das Ende der israelischen Kontrolle über die besetzten Gebiete verlangt.

Wie wir in unserer Folge zur historisch-materialistischen Perspektive über die Entstehung und den Charakter von Antisemitismus und Antijudaismus deutlich machten, beginnt die Geschichte nicht mit der Nakba, sondern bereits mit einem ungleichen Verständnis des Nationalstaatsbegriffs und seines Charakters zwischen der religiösen Aufladung und der bürgerlichen Epoche.

Ein weiteres Element, was Israel als Kolonialregime ausmacht, ist, dass es den Vertriebenen vehement das Recht auf Rückkehr verweigert. Alle in der Westbank, einschließlich Ostjerusalem, verbliebenen Araber:innen wurden unter besonderes Militärrecht gestellt, während für die dort lebenden Siedler:innen das israelische Zivilrecht gilt. Es ist auch der Siedler:innenkolonialismus, der zu einer anhaltenden Annexion in den besetzten Gebieten führt. Unterdessen ist die Zahl der jüdischen Siedler:innen, welche in der Westbank und in Ostjerusalem in festungsartigen Siedlungen leben, seit 2007 um 700.000 Menschen angestiegen. Als Siedler:innenkolonialismus wird die Kontrolle über ein Territorium bezeichnet, die nach Vertreibung der ursprünglichen Bevölkerung und ihrer Ersetzung durch eine andere trachtet. Historische Beispiele sind neben Palästina beispielsweise auch Australien und die USA.

Die Spaltung der palästinensischen Bevölkerung, welche ein typisches Merkmal kolonialistischer Beherrschungspolitik ist, erinnert unweigerlich an das Apartheidssystem Südafrikas: Mehr als 50 Gesetze diskriminieren palästinensisch-israelische Bürger:innen in Bezug auf Landbesitz, Wohnen, Familienleben, Bildung und viele weitere Lebensbereiche. Den Palästinenser:innen in den besetzten Gebieten werden jedoch schon die elementarsten Rechte verwehrt, auch wenn versucht wird, über diesen Umstand durch die Farce einer angeblichen Eigenstaatlichkeit hinwegzutäuschen. Anders als im südafrikanischen Apartheidssystem ist das zionistische Regime jedoch nicht in dem Maße auf arabische Arbeitskraft angewiesen – ein qualitativer Unterschied zwischen klassischem Kolonialismus und Siedler:innenkolonialismus. Insbesondere, als seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion die sich bis dato größte Einwanderungsbewegung vollzog, ist Israel mit ausreichend, überwiegend russischer und ukrainischer, Arbeitskraft versorgt worden, welche hervorragend zur Ausbeutung dient.

Als 1996 die Osloer Friedensprozesse scheiterten, auch, da die zionistische Rechte den Siedler:innenkolonialismus als identitätsstiftendes Moment nicht aufgeben wollte, kam es zum Niedergang des säkularen zionistischen Lagers und es vollzog sich der Ausbau eines rein jüdischen Israel. Das sogenannte Palästinenser:innenproblem ließ sich aber nicht, wie von den Zionist:innen erhofft, einfach beseitigen. Spätestens seit dem 7. Oktober ist die Vision einer ethnischen Säuberung im Zionismus eine für viele akzeptable geworden. Bezeichnend dafür ist, dass der rechtsextreme Finanzminister der Regierung Netanjahu, Bezalel Smotrich, ganz offen formulierte, dass die verbleibende palästinensische Bevölkerung in den besetzten Gebieten sich entweder zu assimilieren oder das Land zu verlassen habe. Was er nicht sagt, ist, dass diese, wenn sie weder das eine noch das andere mit sich machen lässt, weiterhin mit fortgesetztem Krieg gegen sie zu rechnen hat.

Zionismus und Spaltungen

Landesweite Proteste und massiver Widerstand gegen die Justizreform der israelischen Regierung im vergangenen Juni zeigten, dass sich auch in der jüdischen Bevölkerung Ansätze zum Aufbegehren gegen den herrschenden Rechtszionismus regen. Leider war der Widerstand in Israel nicht bereit, seinen Kampf mit dem ihrer unterdrückten arabischen Klassengeschwister zu verbinden. Hier werden die Fehler deutlich, die auch der Linkszionismus begeht, indem er sich bisher nicht willens zeigte, eine wirkliche Konfrontation mit dem zionistischen Chauvinismus einzugehen. Seitens der israelischen Gewerkschaften hat es zwar darüber Auseinandersetzungen gegeben, in welchem Maß nicht-jüdische Arbeiter:innen ausgrenzt werden, aber die Histadrut als Dachorganisation der israelischen Gewerkschaften hat für das zionistische Projekt immer als gelbe Gewerkschaft durch ihren staatstragenden Charakter gewirkt. Die Histadrut wurde bereits 1920 von Linkszionist:innen gegründet, auch Labourzionist:innen genannt. Der Dachverband nahm damals eine entscheidende militärische, wirtschaftliche und politische Rolle im Kolonialisierungsprozess und in der Vertreibung der Palästinenser:innen ein. Statt die Klasseneinheit und Solidarität mit den palästinensischen Arbeiter:innen zu fördern, setzte er sich stattdessen für den Ausschluss und die Entrechtung derselben ein. Er kann demnach weniger als einfache Gewerkschaft eingeordnet, sondern muss vielmehr als ein Grundpfeiler des Kapitalismus in Israel verstanden werden. Die Klassendifferenzierung und Polarisierung in Israel zu unterdrücken und hinauszuzögern, ist ihr Vermächtnis. Somit ist aus einer proletarischen Klassenkampfperspektive klar, dass die Histadrut von der israelischen Arbeiter:innenklasse durch eine Gewerkschaft ersetzt werden muss, die allen Arbeiter:innen, unabhängig von ihrer Ethnie, Zugang zu ihren Strukturen gewährt. Letztlich ist es die Arbeiter:innenklasse, als einzige multi-ethnische Kraft in der Lage, die nationalistischen Spaltungslinien zu überwinden, oder wäre zumindest potentiell dazu imstande. Aber sie kann nur dann eigenständig als Kraft auftreten, wenn sich jüdische, palästinensische und migrantische Arbeiter:innen in gemeinsamen Kampforganisationen für ihre Interessen verbinden. Hierfür braucht es sowohl den Bruch mit dem Zionismus wie mit dem korrupten palästinensischen Nationalismus und reaktionären Islamismus. 

Im Laufe der vergangenen 75 Jahre haben die Jüdinnen/Juden Israels ihre ursprüngliche ethnische Verschiedenheit teilweise durch eine gemeinsame nationale Kultur ersetzen können. Ein wesentliches Element ihres Nationalbewusstseins ist jedoch durch ihre chauvinistische Haltung gegenüber der arabischen Bevölkerung geprägt. Dies bildet die Grundlage dafür, der zionistischen Erzählung, das Volk Israel sei das für Palästina bestimmte, Taten folgen zu lassen – also die Vertreibung der Palästinenser:innen aus der Region und ihre rein jüdische Besiedelung. Um überhaupt ein Nationalbewusstsein zu entwickeln, wurde einer anderen Ethnie ein solches Recht auf nationale Selbstbestimmung abgesprochen. Hinsichtlich der israelischen Nationalidentität gibt es jedoch auch ethnische und klassenspezifische Aspekte, die diese umfassende Identität spalten. Diese Spaltung vollzieht sich nicht nur zwischen israelischen Araber:innen und Juden/Jüdinnen, sondern auch innerhalb der israelisch-jüdischen Gemeinschaft:

So sind es die Aschkenasim, die das Land 1948 kolonialisiert haben, und daher auch in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens die privilegierten Positionen beziehen. Sie stellen die ansehnliche Arbeiter:innenaristokratie aber auch -bürokratie dar, die mittleren und leitenden Positionen der Staatsbürokratie und ihre Kultur wird als die vorherrschende betrachtet. Zudem werden über sie wichtige Verbindungen zu der in den USA und Europa lebenden, ökonomisch bedeutsamen jüdischen Gemeinschaft gehalten.

Seit der Staatsgründung war jedoch klar, dass es orientalische Jüdinnen und Juden braucht, welche als Arbeitskräfte für halbqualifizierte Berufe und niedere Arbeiten eingesetzt werden konnten. So holte man ebendiese gezielt ins Land, welche sich nicht wegen antisemitischer Verfolgung, sondern in der Hoffnung auf einen höheren Lebensstandard in die unteren Reihen der israelisch-jüdischen Arbeitsgemeinschaft eingliederten. Durch die Besetzung des Westjordanlands 1967 wurden jedoch massenhaft arabische Arbeiter:innen in die israelische Wirtschaft integriert. Dies ermöglichte einer Vielzahl von Juden/Jüdinnen von der Position der Arbeiter:innnen in die der Kleinunternehmer:innen aufzusteigen und als solche arabische Beschäftigte unter sich zu vereinen. Alle Parteien sowie die jüdische Bourgeoisie sehen die Notwendigkeit, sich konjunkturell auch fortwährend mit arabischen Arbeiter:innen versorgen zu müssen, auch wenn dies tendenziell abnimmt. Letztlich ist nicht nur die israelisch-jüdische Gemeinschaft in sich gespalten, sondern auch die Gruppe der orientalischen Jüdinnen/Juden unterteilt sich ihrerseits in vier weitere Untergruppen, zwischen welchen tief verwurzelte Feindschaften herrschen. Auch hier gibt es eine ökonomische Schichtung.  
All diese Spaltungen, die von den weißen Aschkenasim maßgeblich gefördert werden, zeigen deutlich, dass die israelische Arbeiter:innenklasse, auch wenn sie von der Unterdrückung und Überausbeutung der arabischen Israelis profitiert, letztlich eine Verliererin in ihrem kapitalistisch organisierten Staat ist.

Daher legen wir euch auch unsere nächste Folge ans Herz, welche sich damit beschäftigen wird, was es braucht, um eine freie, säkulare und sozialistische Ein-Staaten-Lösung zu erkämpfen. Aber das ist eine andere Frage zur Lage der Klasse.




Widerstand gegen Israels Unterdrückung und Krieg! Solidarität mit den Palästinenser:innen!

Erklärung einer Gruppe von Revolutionären Kommunist:innen in China, 15. November 2023, Infomail 1240, 22. Dezember 2023

Wir veröffentlichen die folgende Erklärung in Solidarität mit ihren Verfasser:innen und als Beitrag zur Entwicklung revolutionärer Gruppen in China und um deren internationalistische Positionen bekannt zu machen.

Das Jahr 2023 ist geprägt von einer Eskalation des Konflikts zwischen Israel und Palästina. Israel ist ständig in Konflikte mit Palästinenser:innen im Westjordanland und Gazastreifen verwickelt, die am 7. Oktober 2023 zu einem ausgewachsenen Krieg führten. Dieser von Israel angezettelte Krieg hat zu brutalen und unmenschlichen Aktionen gegen die Zivilbevölkerung geführt und über zehntausend Tote im Gazastreifen gefordert. Wir verurteilen den Krieg Israels gegen das palästinensische Volk auf das Schärfste und sind mit ihm solidarisch.

Der unmittelbare Auslöser für diesen Krieg waren zwar die bewaffneten Angriffe der Hamas auf Israel, doch die eigentlichen Ursachen liegen in der britischen Kolonialzeit, die zionistische Bewegungen förderte, um antikoloniale Bewegungen unter den Palästinenser:innen zu unterdrücken. Seit der Gründung Israels im Jahr 1948 ist die kontinuierliche Unterdrückung des palästinensischen Volkes offensichtlich. Israel hat in ganz Palästina Siedlungen errichtet, die arabischen Bewohner:innen vertrieben, den (auch friedlichen) palästinensischen Widerstand gezielt bekämpft, Kriege gegen Palästina geführt und eine Politik der rassistischen Segregation betrieben. Diese Maßnahmen haben viele Palästinenser:innen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, was dazu führte, dass ein erheblicher Teil der palästinensischen Bevölkerung in andere Länder abwanderte. Die israelische Politik der rassistischen Segregation hat zu massiver Armut geführt und den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt in Palästina behindert. Die anhaltende Unterdrückung hat zum bewaffneten Widerstand des palästinensischen Volkes geführt. Wir unterstützen das palästinensische Volk in seinem Kampf gegen den Siedlerkolonialismus und das rassistische Regime Israels.

Die Unterstützung des Widerstands des palästinensischen Volkes gegen Israel bedeutet jedoch nicht, die Hamas zu unterstützen. Wir sind dagegen, dass Israel und die westlichen imperialistischen Regierungen die Hamas unter der Bezeichnung „Terrorismus“ angreifen. Dennoch erkennen wir die Hamas als eine ultrarechte, obskurantistische Organisation an, die eine korrupte, arbeiter:innen und geschlechterfeindliche Politik in Gaza fördert. Sie leistet zwar aktiven Widerstand gegen die israelische Invasion, aber ihre wahllosen Angriffe auf israelische Zivilist:innen und ihr Festhalten am islamischen Fundamentalismus behindern die Sache der palästinensischen Befreiung. Wir unterstützen auch nicht die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO-Fatah), da das Fatah-Regime, das die Osloer Abkommen akzeptiert hat, zu einem von Israel geförderten Marionettenregime in Palästina geworden ist, das Israel die „friedliche“ Hand reicht, während es eine repressive Faust gegen das palästinensische Volk schwingt.

Imperialistische Regierungen wie die der Vereinigten Staaten, Frankreichs, des Vereinigten Königreichs und Deutschlands behaupten heuchlerisch „Humanität“, während sie Israels Kolonialherrschaft standhaft unterstützen. Sie schieben die Hauptverantwortung für diesen Krieg auf die Schultern Palästinas und der Hamas, indem sie Israels uneingeschränkte Bombardierung des Gazastreifens zulassen und damit zu den Hauptverursacher:innen der humanitären Krise in Palästina gehören. Ihr Engagement in Palästina zielt darauf ab, ihre imperialistische Hegemonie im Nahen Osten aufrechtzuerhalten. Unter dem Deckmantel der „Bekämpfung des Antisemitismus“ schränken sie nun die Freiheit und die demokratischen Rechte in ihren eigenen Ländern ein, um Israel zu unterstützen. China und Russland unterstützen Palästina vorgeblich, weil sie nicht wollen, dass der Nahe Osten vollständig vom westlichen Imperialismus kontrolliert wird, was ihre regionale hegemoniale Expansion beeinträchtigen könnte. Unter seinem monopolkapitalistischen System unterstützt China jedoch nicht mehr die Befreiung Palästinas. Mit der Anerkennung der Grenzen von 1967 zwischen Israel und Palästina erkennt die chinesische Regierung im Wesentlichen die israelische Kolonisierung Palästinas als legitim an. Solange Kolonisierung und Besatzung andauern, kann es keinen dauerhaften Frieden in Palästina geben. Daher ist der von China vorgeschlagene „Frieden zwischen Israel und Palästina“ äußerst heuchlerisch, da er auf regionale Stabilität abzielt, um Kapital besser nach Palästina und in andere Länder des Nahen Ostens zu exportieren und kapitalistische Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit Israel zu entwickeln. Sich auf irgendeine imperialistische Macht zu verlassen, wird daher weder die Befreiung des palästinensischen Volkes noch den Frieden in Palästina bringen. Der Kampf des palästinensischen Volkes muss jede Abhängigkeit von imperialistischen Kräften zurückweisen und ablehnen. Darüber hinaus unterstützen wir weltweit Bewegungen, die sich gegen Israel und für das palästinensische Volk einsetzen, sich mit den Kämpfen zur Verteidigung und Durchsetzung der Freiheit und demokratischen Rechte der Länder verbünden, die gegen Rassismus kämpfen und die Antikriegsbewegung der Arbeiter:innen unterstützen.

Viele reaktionäre Kräfte, einschließlich konservativer Liberaler in China, preisen Israel als Vertreter der Zivilisation und des Friedens und benutzen Islamophobie, um palästinensische Araber:innen als „Terrorist:innen“ zu bezeichnen. Dies ist eine völlige Verzerrung. Der Zionismus opfert die Interessen der einheimischen Palästinenser:innen, um einen rassistischen jüdischen Staat von Siedler:innen zu errichten. Viele chinesische Nationalist:innen unterstützen zwar oberflächlich betrachtet Palästina, aber im Grunde stehen sie auf einer Linie mit den geopolitischen Interessen Chinas und Russlands. Einige sind sogar antisemitisch eingestellt und sympathisieren mit Hitlers Judenvernichtung. Unterdrückung sollte niemals eine Rechtfertigung für noch mehr Unterdrückung sein. Wir wenden uns gegen alle Formen des Rassismus, nicht nur gegen bestimmte Rassen und Ethnien.

Seit über siebzig Jahren leidet das palästinensische Volk unter der israelischen Unterdrückung, die vom Weltimperialismus unterstützt wird. Diesmal haben wir jedoch den Verrat der arabischen herrschenden Klassen am palästinensischen Volk erlebt: die ägyptische Regierung, die mit Israel zusammenarbeitet, um Mauern um den Gazastreifen zu errichten, Syrien und Jordanien, die palästinensische Flüchtlinge und Andersdenkende unterdrücken, der Iran, der in erster Linie die Hamas fördert, um seinen Einfluss in Palästina auszuweiten, und der Libanon, der linke Organisationen unter palästinensischen Flüchtlingen unterdrückt. Sich allein auf lokale palästinensische Bemühungen zu verlassen, reicht nicht aus, um Israels Kolonialismus und Apartheid zu beenden. Das palästinensische Volk braucht die Unterstützung von Massenbewegungen im Nahen Osten und in der ganzen Welt. Die Welle der Revolte gegen reaktionäre Kräfte in Westasien und Nordafrika sowie gegen die iranische Theokratie wird den Weg für den autonomen Widerstand des palästinensischen Volkes ebnen. Die Sache der Befreiung Palästinas ist die der Arbeiter:innenklasse und unterdrückten Völker auf der ganzen Welt.

Die Kämpfe der Arbeiter:innen im Nahen Osten und der palästinensischen Flüchtlinge, die in verschiedenen Ländern leben, sind oft miteinander verflochten. Ein solcher Widerstand darf sich keinesfalls für eine Seite der verschiedenen imperialistischen oder regionalen Mächte entscheiden, sondern stützt sich auf Kämpfe, die von der Selbstorganisation der Arbeiter:innenklasse unabhängig geführt werden, mit dem Ziel der gemeinsamen Niederlage aller imperialistischen Mächte. Verschiedene selbstorganisierte Basiskomitees in der syrischen Revolution, Volksvertretungen in der algerischen Volksbewegung, Arbeiter:innenbewegungen in Tunesien, Frauenproteste und Arbeiter:innenstreiks im Iran, der sudanesische Berufsverband, der den Kampf der Arbeiter:innenklasse gegen die Militärdiktatur im Sudan vertritt, sie alle dienen als notwendiger Ausgangspunkt für künftige Kämpfe, die schließlich die Macht der bürgerlichen Staaten im Nahen Osten brechen, dem israelischen Zionismus die Grundlage entziehen und die Errichtung eines multiethnischen, gleichberechtigten, demokratischen, säkularen und sozialistischen Palästinas ermöglichen werden, das Araber:innen, Juden, Jüdinnen und andere einschließt. Um die Befreiung Palästinas zu erreichen und zu verhindern, dass die Früchte des Kampfes von reaktionären Kräften wie der Muslimbruderschaft oder der Hamas ausgebeutet werden, plädieren wir für die Gründung von revolutionären Arbeiter:innenparteien in der Region und darüber hinaus.

Wir schlagen hiermit folgende Forderungen vor:

  • Schluss mit der zionistischen Herrschaft in Israel!

  • Nieder mit Kolonialismus und Rassismus!

  • Widersetzt euch der Einmischung der imperialistischen Kräfte in Palästina!

  • Freiheit für ganz Palästina!

  • Strebt nach der Errichtung eines säkularen, ethnisch gleichberechtigten, demokratischen und sozialistischen palästinensischen Staates!

  • Arbeiter:innen und Menschen in Westasien und Nordafrika vereinigt euch!



„Zwei Staaten“ in Palästina: Geschichte einer reaktionären Idee

Robert Teller, Infomail 1239, 14. Dezember 2023

Dass „Zwei Staaten“ in Palästina niemals Wirklichkeit werden, bedeutet nicht, dass die Idee nicht auch einen eigenen Zweck erfüllen kann. Während Israels Bombenteppiche in Gaza Wohnviertel, Bäckereien, Justiz- und Regierungsgebäude in Schutt und Asche legen – und damit nebenbei auch jeden realen Ansatz palästinensischer Staatlichkeit pulverisieren – geistert die „Zweistaatenlösung“ wieder durch die Köpfe vor allem jener unter den Freund:innen Israels, die es für moralisch geboten halten, auch an eine „Zeit nach dem Krieg“ zu denken.

UN-Teilungsplan und Nakba

Ursprung der „Zweistaatenlösung“ ist der Teilungsplan von 1947, der nach einem Beschluss der UN-Vollversammlung aufgrund des von Britannien angestrebten Rückzugs aus Palästina durch eine eingesetzte Kommission erarbeitet wurde. Obwohl damals bereits die Schaffung eines einzigen föderalen und demokratischen Staates in ganz Palästina diskutiert wurde, entschied sich die Kommission schließlich für einen Teilungsplan, der mehr als die Hälfte der Fläche Palästinas für einen „jüdischen“ Staat vorsah, während Jerusalem unter UN-Verwaltung gestellt werden und auf der verbleidenden Fläche ein „arabischer“ Staat geschaffen werden sollte. Beide Staaten sollten politisch souverän, jedoch in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum verbunden sein.

Diese Aufteilung des Landes stand bereits damals in keinem Verhältnis zur demographischen und territorialen Realität der 32 % jüdischen Einwander:innen. Die große palästinensische Bevölkerungsmehrheit erstreckte sich auch auf etwa 400 palästinensische Dörfer innerhalb der vorgeschlagenen Grenzen eines „jüdischen“ Staates. Die Palästinenser:innen lehnten die Abtretung von Territorien an eine koloniale Siedler:innenbewegung ab, was nicht überrascht. Der Teilungsplan enthielt auch von Beginn an einen Verstoß gegen den Souveränitätsgedanken, mit dessen Anspruch die UNO gegründet wurde.

Der durch nichts demokratisch legitimierte Teilungsplan trug nicht dazu bei, die Spannungen zwischen einer kolonialen Siedler:innenbewegung und der indigenen Bevölkerung Palästinas zu entschärfen. Vielmehr verlieh er 1948 der gewaltsamen Vertreibung von 700.000 (und Ermordung von Tausenden) Palästinenser:innen politische und moralische Rückendeckung. Die Nakba endete in der militärischen Eroberung eines deutlich über den Teilungsplan hinausgehenden Territoriums und dessen ethnischer Säuberung. Diese gewaltsam geschaffenen Grenzen wurden 1949 durch Waffenstillstandsabkommen und die Aufnahme Israels in die UNO international anerkannt. Der in UN-Resolution 194 auferlegten Pflicht, allen palästinensischen Flüchtlingen die Rückkehr zu ermöglichen, kam Israel bekanntlich nie nach – und dies stand auch bei den vielen Verhandlungsrunden des „Friedensprozesses“, der zu einer Zweistaatenlösung hätte führen sollen, nie ernsthaft zur Debatte. Vielmehr war deren Voraussetzung gerade die Anerkennung der 1948 geschaffenen Verhältnisse, die seither Generationen von Palästinenser:innen zu Flüchtlingen im eigenen Land oder in den Nachbarstaaten machen.

Folgen des Sechstagekriegs

In die politische Debatte kam die „Zweistaatenlösung“ erst Jahrzehnte später wieder – und zwar nicht als Lösung für die nationale Frage Palästinas, sondern für das israelische „Problem“ der 1967 neu eroberten Gebiete, die sich für den zionistischen Staat als zweischneidiges Schwert herausstellten. Nach den Erfahrungen, die die Palästinenser:innen (und die Weltöffentlichkeit) 1948 gemacht hatten, konnten die Westbank und Gaza nicht in der gleichen Weise ethnisch gesäubert werden, um sie den Expansionsbestrebungen Israels zur Verfügung zu stellen. Aufgrund der dort verbliebenen großen palästinensischen Bevölkerung konnte sich Israel diese Gebiete weder einfach einverleiben noch an die unterlegenen arabischen Staaten abtreten oder gar eine palästinensische Selbstverwaltung zulassen, die es der PLO erlaubt hätte, sich entlang der Grenzen von 1948 zu formieren. Die „Lösung“ eines dauerhaften Besatzungsregimes erwies sich mit Beginn der ersten Intifada 1988 als nicht nachhaltig. Kollektive Kampfformen der Palästinenser:innen wie Streiks, Kauf- und Steuerboykott versetzten der israelischen Ökonomie schwere Schläge. Die nach 1967 verfolgte Strategie einer ökonomischen Integration und Entwicklung der eroberten Gebiete – bei gleichzeitiger Vorenthaltung jeglicher demokratischer Rechte – erwies sich als Bedrohung für das zionistische Projekt.

Oslo-Prozess

Das zentrale Versprechen der Osloer Abkommen 1993 beinhaltete Israels Rückzug aus der Westbank und dem Gazastreifen. Dies sollte jedoch erst als Endergebnis in einem Friedensabkommen vereinbart werden, als Abschluss eines 5 Jahre langen Prozesses, der in kleinen Schritten Verantwortung hin zur neu geschaffenen Palästinensischen Autonomiebehörde verlagern würde. Bis dahin sollte die palästinensische Seite unter Bewährung stehen und demonstrieren, dass sie „zum Frieden bereit“ sei.

Auf Seite Israels lag ein wichtiger Gesichtspunkt darin, die Armee zunehmend von ihrer Funktion als Polizei der besetzten Gebiete zu entbinden, also ihre militärischen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Im zionistischen Lager umstritten war die Frage der ökonomischen Integration. Die alleinige Kontrolle der Grenzen und des Außenhandels durch Israel seit 1967 ermöglichten der israelischen Ökonomie Extraprofite durch Überausbeutung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse und durch Zölle und Handelsprofite. Obwohl die Wirtschaftsunion und auch die Bewegungsfreiheit für palästinensische Arbeiter:innen in den Osloer Abkommen vertraglich vereinbart wurde, setzte sich in Israel letztlich der Flügel im Sicherheitsapparat durch, der einen gemeinsamen jüdisch-palästinensischen Wirtschaftsraum als inakzeptable „Sicherheitsbedrohung“ sah. Die zunehmende Abriegelung der Westbank und des Gazastreifens war ein klarer Verstoß gegen den Wortlaut des Oslo-Abkommens, aber Israel betrieb diese aus genau der Logik heraus, mit der es in die „Friedensverhandlungen“ gegangen war: der angestrebten Minimierung der „Gefahr“, die mit der Verantwortung für das besetzte Volk einhergeht. Die Bewegungsfreiheit der Palästinenser:innen nach 1967 war zwar seit Beginn der Besatzung dem israelischen Militärregime in den Gebieten unterworfen, doch erst Mitte der 1990er Jahre wurde die Abriegelung von Dörfern, Städten bzw. der gesamten Westbank oder die Verhängung von Ausgangssperren durch militärischen Befehl ein alltäglicher Normalzustand.

Eine weitere wichtige Folge des Oslo-Abkommens war die Zerstückelung der Westbank in einen Flickenteppich mit abgestufter Aufgabenteilung zwischen dem israelischen Militär und der Autonomiebehörde. Dem anfänglichen Versprechen nach sollte der israelische Rückzug aus den A- und B-Gebieten nur der erste Schritt hin zu einer wachsenden palästinensischen Selbstbestimmung werden, und bis Ende 1999 sollte die gesamte Westbank der Autonomiebehörde übergeben werden. Umgesetzt wurde letztlich nur der Abzug aus den großen palästinensischen Bevölkerungszentren der Westbank (A- und B-Gebiete), die seither großteils Enklaven unter Verwaltung einer Israel treu ergebenen palästinensischen Hilfspolizei darstellen. Selbst hier behält sich Israel das Recht auf militärische Interventionen vor, die ggfs. höchstens durch die Auslieferung von Israel gesuchter Personen durch die palästinensische Polizei verhindert werden können. In Einzelvereinbarungen setzte Israel in jedem Teilrückzug Konditionen durch, die dem langfristigen Ziel der Kolonisierung der Westbank Rechnung tragen. So wurde etwa beim israelischen Abzug aus Hebron 1997 eine verbleibende dauerhafte Militärpräsenz zum „Schutz“ der damals 400 israelischen Siedler:innen vereinbart. Eine Folge dieses Abkommens ist, dass in der israelisch besetzten H2-Zone dieser Stadt seither 20.000 Palästinenser:innen ihr Leben den militärischen Bedürfnissen der innerstädtischen Siedler:innenkolonie unterordnen müssen. Die daraus entstandene Lebensrealität von Ausgangssperren, „sterilisierten“ (d. h. ethnisch gesäuberten) Straßen, Checkpoints und elektronischer Überwachung wurde zum Paradebeispiel des von Israel errichteten Apartheidsystems.

Die „Zweistaatenlösung“ der 1990er setzte auf Seiten der PLO zwei Bedingungen voraus: Einerseits die Anerkennung allen vor 1967 begangenen Unrechts als unverrückbare Tatsache, andererseits die Demobilisierung der Intifada und Entwaffnung der PLO. Damit wurden Fakten zugunsten Israels geschaffen. Die interessanten Fragen hingegen wurden vielsagend auf ein „endgültiges“ Abkommen in unbestimmter Zukunft vertagt – wie die des Rückkehrrechts, der israelischen Siedlungen, der Außenbeziehungen des palästinensischen Staates und des zukünftigen Status von Jerusalem (welches 1980 von Israel völkerrechtswidrig annektiert worden war). So unbestimmt das Abkommen in allen wesentlichen Fragen war – den Palästinenser:innen forderte es nicht nur handfeste Zugeständnisse ab. Es sollte auch in der Folgezeit dazu dienen, die Äußerung jeder nur denkbaren palästinensischen Forderung als „Sabotage des Friedensprozesses“ zu delegitimieren. Die palästinensische Seite war in der Pflicht, sich als „Partnerin“ Israels zu bewähren, bevor sie einer „echten“ Einigung würdig war.

Die israelische Seite hingegen interpretierte die getroffenen Abkommen so, dass sie jeden kleinen Schritt hin zur palästinensischen Unabhängigkeit unter Verweis auf „Sicherheitsbedenken“ blockieren konnte, während die palästinensischen Zugeständnisse – insbesondere die territoriale Aufteilung der Westbank – aber endgültig blieben. Als diskussionswürdig gilt seitdem nur noch die Rückgabe einzelner Landfetzen der Westbank, auf die Israel selbst nach Meinung seiner westlichen Schutzmächte keinen territorialen Anspruch besitzt. Die Souveränität über Grenzen, Luftraum und Küstengewässer, ja selbst das Recht palästinensischer Flüchtlinge aus den Nachbarländern auf Rückkehr in diese palästinensischen Bantustans – all das verletzt kategorisch israelische „Sicherheitsinteressen“.

Spätestens mit Beginn der 2. Intifada im Jahr 2000 war klar, dass eine endgültige Vereinbarung über Israels Abzug aus der Westbank unerreichbar ist. Die von einer politisch gebrochenen PLO unter Jassir Arafat unterzeichneten Abkommen dienen seither als politische Legitimation für die zeitlich unbegrenzte Besatzung der C-Gebiete und den massiven Transfer von Siedler:innen dorthin als menschliche Schutzschilde der Besatzung. Statt eine begrenzte palästinensische Selbstbestimmung zu erreichen, wurden die Palästinenser:innen zu Fremden in einem Gebiet, das sich vom israelischen Kernland nur durch die umfassenden Privilegien unterscheidet, mit denen der israelische Staat die Siedler:innen für ihre Funktion als zivile Besatzer:innen belohnt. Durch diese De-facto-Annexion der C-Gebiete wird vermieden, die israelische Verantwortung für die Palästinenser:innen (rassistisch als „demographische Gefahr“ bezeichnet) zu vergrößern.

Für die Unterstützer:innen des Staates Israel legitimiert eine angenommene Bedrohung der Siedler:innen jede denkbare Schikane gegen Palästinenser:innen. Ungeachtet der v. a. im Westen verbreiteten scheinheiligen Hoffnung, nach Oslo irgendwie mit den palästinensischen Forderungen abschließen zu können – reale Folge der Abkommen war ihre systematische Einzäunung durch eine nun tödliche Sperranlage um Gaza und ein System von Mauern, Checkpoints und Apartheidstraßen, das die Westbank durchzieht und eingrenzt. Der einzige palästinensische Flughafen, der ein Symbol für neu gewonnene Freiheiten der Palästinenser:innen sein sollte, wurde nur drei Jahre nach Eröffnung durch die israelische Luftwaffe zerstört. Die Autonomiebehörde sollte nach der Abnabelung Israels zur lokalen Verwalterin des Status quo der Besatzung werden. Außerdem bietet der von ausländischen „Hilfsgeldern“ abhängige Apparat allen möglichen „Freund:innen der Palästinenser:innen“ die Möglichkeit, ihre Komplizenschaft mit Israel finanziell zu kompensieren.

Obwohl es in Folge der Oslo-Abkommen einen Rechtsruck in Israel gab, der jede Illusion über die Möglichkeit einer friedlichen Lösung zerstreute – die für die Palästinenser:innen desaströsen Folgen des „Friedensprozesses“ liegen nicht in dessen Scheitern begründet, sondern wohnen diesem von Beginn an inne. Der nach seiner Ermordung 1995 vielfach zum Friedensstifter verklärte Premierminister Jitzchak Rabin ließ selbst keinen Zweifel daran, dass die von ihm ausgearbeiteten Abkommen keine palästinensische Souveränität zur Folge haben sollten und die „Sicherheitsgrenze“ Israels immer am Fluss Jordan liegen würde.

Eine weitere wichtige Erkenntnis aus Oslo ist aber, dass auch die vollständige politische Kapitulation der einst selbstbewussten PLO nicht ausreichte, um die palästinensische Frage ad acta zu legen. Die Zweite Intifada ab 2000 bewies, dass die Palästinenser:innen weiterhin zu massenhaftem Widerstand fähig waren. Die Reaktion Israels – der erneute militärische Vorstoß in die A- und B-Gebiete, die Belagerung von Jassir Arafats Hauptquartier in Ramallah und die Zerstörung der bis dahin aufgebauten zivilen palästinensischen Verwaltung in der Westbank, die routinemäßige Verhängung von Kollektivstrafen wie Ausgangssperren, Abriegelungen oder Hauszerstörungen – führte auch vor Augen, dass der Kern des Konflikts eben nicht der Unwille zum friedlichen Ausgleich ist, sondern die Fähigkeit und der Wille Israels, gewaltsam den Status der Palästinenser:innen als Vertriebene und Rechtlose durchzusetzen.

Die Intentionen der israelischen Regierung wurden vor dem israelischen Rückzug aus Gaza 2005 sehr klar durch Dov Weissglass, damals Berater von Premierminister Ariel Scharon, formuliert:

„Die Bedeutung des Rückzugsplans liegt darin, dass wir den Friedensprozess einfrieren. Und wenn man diesen Prozess einfriert, verhindert man die Gründung eines palästinensischen Staates und verhindert eine Diskussion über die Flüchtlinge, die Grenzen und Jerusalem. Das ganze Paket namens palästinensischer Staat mit allem, was es mit sich bringt, wurde auf unbestimmte Zeit von unserer Tagesordnung gestrichen.“

Wie bei jedem Einsatz militärischer Mittel ist das real herrschende Gewaltverhältnis der Maßstab für jeden „Friedensplan“. Die 2002 von den USA neu aufgelegte „Roadmap for Peace“ machte der israelischen Seite erhebliche Zugeständnisse. Von Israel wurde die Roadmap so interpretiert, dass als ihre Vorbedingung ein Ende der Intifada, die Entwaffnung des palästinensischen Sicherheitsapparates und die politische Entmachtung von Jassir Arafat erfolgen müsse. Die Roadmap hatte daher für Israel die Funktion, die Niederschlagung der Intifada mit politischer Legitimität zu versehen.

Deal of the Century

Der Trump-Plan von 2019 („Deal of the Century“) war letztlich für fast alle Beobachter:innen nur der Versuch, die Realität zu legalisieren und in eine dauerhafte Rechtsform zu gießen. Teil des Plans war die einseitige Annexion aller Siedlungen in der Westbank sowie des Jordantals, die lediglich von den USA „bewilligt“ werden müsste. Der palästinensische „Staat“ dürfte keinerlei bewaffneten Organe unterhalten, müsste alle rechtlichen Schritte gegen Israel vor internationalen Tribunalen unterlassen und dürfte nicht in eigener Verantwortung internationalen Organisationen beitreten. Bei Verstoß gegen irgendwelche Vereinbarungen würde Israel automatisch das Recht auf militärische Intervention erhalten, vorbehaltlich nur der Zustimmung durch die US-Administration. Der Plan enthält die Möglichkeit der Ausbürgerung von Palästinenser:innen mit israelischem Pass und die weitergehende Annexion von Gebieten der Westbank im „Tausch“ gegen Gebiete in der Negev-Wüste. Die Annexion Jerusalems würde unverrückbar anerkannt, alle Grenzen würden ausschließlich von Israel kontrolliert und die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge selbst in diesen „Staat“ Palästina würde unter den Vorbehalt israelischer Zustimmung gestellt. Durch die „Hilfe“ von Investor:innen aus den Golfstaaten sollten die palästinensischen Kantone zu einer florierenden Sonderwirtschaftszone ausgebaut werden. Der Rest der Welt sollte auf diese Weise von der finanziellen Last befreit werden, einen Großteil der palästinensischen Bevölkerung über das UNRWA-Hilfswerk mit dem Nötigsten zu versorgen, was seit 1948 eine zentrale Voraussetzung der dauerhaften Ghettoisierung der palästinensischen Flüchtlinge und damit der israelischen „Sicherheitsinteressen“ ist.

Die „Zweistaatenlösung“ hat für Israel ihren Zweck erfüllt – die politische Unterwerfung der PLO. Zugleich hat sie 3 Jahrzehnte lang deutschen, US-amerikanischen und anderen Regierungen als Feigenblatt gedient, um ihre fortgesetzte Rückendeckung für den Kolonialstaat Israel politisch zu flankieren. Das erklärt auch, dass sie nicht so einfach aus den Köpfen verschwinden wird, wie es der zionistischen Rechten in Israel lieb wäre.

Resultat der Oslo-Abkommen ist auch der Apparat der Autonomiebehörde, der als Auftragnehmer des Besatzungsregimes für Israel unverzichtbar geworden ist. Dies unterstreicht auch die von Präsident Abbas und Premierminister Schtajjeh demonstrierte Bereitschaft, nach Ende von Israels Krieg in Gaza dort als Statthalter über die Trümmerwüste einzuspringen. Dass dies von Israel bislang ausgeschlossen wird, erklärt sich gerade aus der wichtigen Funktion, die die Behörde für Israel besitzt. Es ist nicht nur fraglich, woher diese die notwendige Autorität für die Neuordnung Gazas nehmen soll. Die politische Vereinigung von Gaza mit der Westbank würde auch den palästinensischen Massen die längst diskreditierte Autonomiebehörde als gemeinsame Gegnerin präsentieren und den Widerstand gegen deren Herrschaft als gesamtpalästinensische Frage, als zentralen Aspekt des Kampfes gegen Besatzung und Unterdrückung überhaupt, aufwerfen.

Für einen binationalen, säkularen, sozialistischen Staat!

Die Sackgasse in der Diskussion um die Zweistaatenlösung zeigt schlichtweg auf, dass die Lösung der palästinensischen Frage im Widerspruch steht zum Fortbestand eines kolonialen, ethnisch gesäuberten Staates Israel – in welchen Grenzen auch immer. Seine revolutionäre Überwindung ist die Voraussetzung für die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts beider Nationen, der palästinensischen und der jüdisch-israelischen. Dies erfordert neben der völligen rechtlichen Gleichstellung der Nationalitäten, der Anerkennung aller gesprochenen Sprachen als gleichberechtigt, der Anerkennung des Rückkehrrechts für alle palästinensischen Flüchtlinge weltweit und ihrem Anspruch auf Entschädigung auch, die ideologische Bindung der israelischen Massen an das zionistische Projekt zu durchbrechen. Solange die jüdisch-israelische Selbstbestimmung fälschlich mit der Aufrechterhaltung militärisch abgesicherter Völkerreservate gleichgesetzt wird, bleibt eine „gerechte Lösung“ eine Unmöglichkeit. Dieses Wegbrechen der israelischen Massen vom Zionismus kann jedoch keine Vorbedingung für den palästinensischen Befreiungskampf sein. Vielmehr wird jeder Schlag, den die Palästinenser:innen und die internationale Solidaritätsbewegung dem Staat Israel versetzen, auch die Grundlage dieser ideologischen Bindung schwächen, die auf dem chauvinistischen Glauben an die Unbesiegbarkeit Israels fußt.

Auch wenn heute der Kampf gegen den Siedlungsbau und den alltäglichen Versuch der Vertreibung von Palästinenser:innen in der Westbank auf der Tagesordnung steht, muss dieser auf die Anerkennung der jüdisch-israelischen Nation unter vollständiger Abschaffung sämtlicher Privilegien abzielen. Dieses Ziel ist unvereinbar mit der Existenz zweier Staaten. Die Zweistaatenlösung würde unweigerlich beinhalten, einen Grenzverlauf festzuschreiben, der durch koloniale Gewalt aufgezwungen ist – und mit diesem auch die Vertreibungen von 1948, von 1967, die der vergangenen Jahrzehnte und die mit allem verbundene Enteignung palästinensischen Eigentums unwiderruflich machen. Eng damit verknüpft ist die Aneignung von Wasser, landwirtschaftlicher Nutzfläche und anderer natürlicher Ressourcen durch den Siedlerkolonialismus und die Kontrolle der Außengrenzen. Status quo ist die Existenz eines einzigen souveränen Staates, der eine echte Teilung seiner Souveränität kategorisch ausschließt. Es ist eine Utopie, diesen Staat derart zu bändigen, dass neben ihm Platz für einen zweiten existiert. Voraussetzung für jede gerechte Lösung ist seine revolutionäre Zerschlagung und die Schaffung eines neuen binationalen Staates.

Obwohl Marxist:innen für unterdrückte Nationen das Recht auf Lostrennung und auf einen eigenen Staat fordern, kann diese Forderung keinesfalls unterschiedslos, ohne Berücksichtigung der spezifischen Umstände der Unterdrückung aufgestellt werden.

Ein palästinensischer „Staat“ neben Israel würde nicht nur vergangenes Unrecht legitimieren, sondern auch die derzeit vollzogenen ethnischen Säuberungen in der Westbank als endgültig hinnehmen müssen. Die Festlegung eines Grenzverlaufs zwischen beiden Staaten würde höchstwahrscheinlich eine neue Vertreibungswelle nach sich ziehen, die auf die Ausweisung eines möglichst großen Teils der Palästinenser:innen in den Grenzen von 1948 abzielt. Solche Szenarien werden u. a. von der ultrarechten zionistischen Partei „Jisra’el Beitenu“ (Unser Zuhause Israel) vertreten. Der reaktionäre Gehalt der „Zwei-Staaten“-Idee wird daran deutlich, dass ihr Ziel letztlich die Schaffung eines ethnisch homogenen Staates Israel ist, also der Abschluss der historischen Mission des Siedlerkolonialismus – wenn auch mit ggfs. geringfügig reduzierter territorialer Ausdehnung. Solange die Existenz eines Siedler:innenstaates auf der Basis ethnischer Exklusivität akzeptiert wird, kann der historische Zweck der Zweistaatenlösung nur in dessen Vollendung liegen – unabhängig davon, welche Hoffnungen einige Palästinenser:innen mit der Aussicht auf einen eigenen Staat neben Israel verbinden mögen. Ein unter den heutigen Bedingungen irgendwie vorstellbarer palästinensischer Staat – der seiner staatlichen Souveränität und wichtigsten sozialen Errungenschaft, des Rückkehrrechts, beraubt wäre – würde die palästinensische Frage nicht lösen, sondern die Unterdrückung mit umfassender politischer Legitimität ausstatten. Ein solcher „Deal“ würde auch auf die „Normalisierung“ Israels durch die Abraham Accords von 2020 aufbauen. Im schlimmsten Fall könnte dabei das ägyptische Regime gezwungen werden, einer Vertreibung der Palästinenser:innen aus Gaza und deren Ansiedlung auf dem Sinai zuzustimmen.

Revolutionär:innen sollten daher unmissverständlich für eine „Einstaatenlösung“ eintreten. Natürlich zieht diese Position auch die Frage des Klassencharakters des zu erkämpfenden Staates nach sich. Die Schaffung eines gerechten Ausgleichs beider Nationalitäten erfordert den massiven Transfer von Ressourcen zur Entschädigung und Wiederansiedlung der Vertriebenen. Die Beseitigung des Apartheidcharakters, der bereits im Städtebau und in Straßenverläufen einbetoniert worden ist, ist nur auf Grundlage gemeinschaftlichen Eigentums an Land, Wohnraum, Industrie und Bodenschätzen möglich. Sie fällt also der Arbeiter:innenklasse zu, die diese Ressourcen enteignen und einer gesamtgesellschaftlichen Planung des binationalen Staates zugänglich machen würde. Die Verknüpfung der demokratischen mit der sozialistischen Revolution stellt daher den programmatischen Kern der revolutionären Strategie zur Befreiung Palästinas dar.




Mali: Nieder mit dem französischen Kolonialismus – Truppen raus!

Marc Lassalle, Infomail 1158, 17. August 2021

In einer Erklärung vom Juni 2021 kündigte Präsident Macron das Ende der französischen Opération Barkhane (nach der Sicheldüne Barchan in der Sahara benannt) in Mali an. Diese Militärintervention wurde 2013 unter dem Namen Serval vom damaligen Präsidenten François Hollande gestartet, angeblich um den Vormarsch der Dschihadisten zu stoppen, die die Hauptstadt Bamako bedrohten. Zum Zeitpunkt ihres Beginns wurde sie von allen französischen Parteien unterstützt, darunter der Front de Gauche (Linksfront), der Kommunistischen Partei und Jean-Luc Mélenchon. Die einzigen nennenswerten Ausnahmen waren die Neue Antikapitalistische Partei (NPA) und Lutte Ouvrière (LO), die die Aktion aus einer antiimperialistischen Position heraus ablehnten.

Acht Jahre später sieht die Bilanz für den französischen Imperialismus düster aus, aber für die Menschen in Mali ist sie noch schlechter. Trotz der Stationierung von 5.100 SoldatInnen im Land und des Einsatzes eines Arsenals von Hightechwaffen wie Drohnen, Hubschraubern, Raketen, Düsenjägern usw. ist die Sahelzone (das Gebiet südlich der Wüste Sahara) laut Emmanuel Macron zum „Epizentrum des internationalen Terrorismus“ geworden. Die Dschihadisten werden sogar zu einer Bedrohung für andere Länder wie Burkina Faso und streben eine Ausdehnung auf den Senegal oder die Elfenbeinküste an.

Zwei Staatsstreiche innerhalb von neun Monaten haben den Staat Mali noch weiter an den Rand des Zusammenbruchs gebracht, und auch der Tschad ist destabilisiert. Seit 2012 wurden in der Region 8.000 Menschen, zumeist ZivilistInnen, getötet, 2 Millionen wurden vertrieben und 3,9 Millionen benötigen humanitäre Hilfe. Die Parallele zum gleichzeitigen Rückzug der US- und NATO-Truppen aus Afghanistan und zur dortigen katastrophalen Lage ist offensichtlich. Trotz aller Ankündigungen ist dies jedoch noch lange nicht das Ende der französischen Kolonialherrschaft in der Region, und neue Krisen und Interventionen stehen bevor.

Kolonie

„Frankreich befreit. Frankreich trägt Werte. Es verfolgt keine eigenen Interessen in Mali. Es verteidigt keine wirtschaftlichen oder politischen Pläne. Es dient einfach dem Frieden“, behauptete François Hollande 2013. Leider ist diese Rhetorik nur eine Anhäufung von zynischen Lügen und eine völlige Verfälschung der Wahrheit.

Die Aktionen der AQMI (Al-Qaida im Maghreb) und anderer fundamentalistischer islamistischer Gruppen sind absolut reaktionär, und wir verurteilen die Unterdrückung der Rechte der Frauen und anderer Grundfreiheiten sowie die Auferlegung theokratischer Maßnahmen. Aber genau wie die imperialistische Besatzung in Afghanistan dienen Demokratie und Frauenrechte nur als ideologisches Feigenblatt. Der wahre Grund für diese Intervention liegt woanders.

Der französische „Dienst an der Freiheit und am Frieden“ begann mit der militärischen Besetzung des Landes im Jahr 1863, woraufhin Mali in Französisch-Westafrika eingegliedert wurde, zunächst als Haut-Sénégal-Niger und dann als Französisch-Sudan. Um die Reis- und Baumwollproduktion zu entwickeln, wurden massiv ZwangsarbeiterInnen eingesetzt, und die Bevölkerung lieferte in beiden Weltkriegen unter der Bezeichnung „tirailleurs“ (Scharfschützen) Hunderttausende als Kanonenfutter für die französische Armee.

Wie in anderen französischen Kolonien war die 1960 erlangte Unabhängigkeit eher formal als real. Ein Staatsstreich im Jahr 1968 brachte einen Diktator, Moussa Traoré, an die Macht, der mit Unterstützung des französischen Staates bis 1991 Präsident blieb. In wirtschaftlicher Hinsicht wird das Big Business vollständig von den französischen multinationalen Unternehmen im Bankensektor (BNP-Paribas), in der Infrastruktur und im Baugewerbe (Bolloré, Bouygues), in der Telekommunikation (Orange) usw. beherrscht, mit einem komfortablen Überschuss von 300 Millionen Euro im Handelsaustausch zugunsten Frankreichs. Wie die meisten anderen Staaten des französischen Kolonialreichs ist Mali in Bezug auf seine Währung vollständig von Frankreich abhängig: Der Franc CFA wird in der Tat in Frankreich gedruckt und streng von der französischen Währungsaufsicht kontrolliert.

Mali ist eines der zehn ärmsten Länder der Welt. Laut dem Index für menschliche Entwicklung liegt es mit einer Lebenserwartung von 53 Jahren und einer Analphabetenrate von 69 Prozent auf Rang 175 von 187 Ländern. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt in Armut. Nach der Krise der Baumwolle, einst das „weiße Gold“, ist der einzige bekannte Reichtum echtes Gold: Mali ist der drittgrößte afrikanische Produzent, und dies macht zwei Drittel des Wertes seiner Exporte aus, die von kanadischen und südafrikanischen Unternehmen kontrolliert werden.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass die malischen MigrantInnen einen bedeutenden Teil der französischen ArbeiterInnenklasse ausmachen, vor allem im Baugewerbe, und wie alle anderen EinwanderInnen durch die rassistischen diskriminierenden Gesetze in Frankreich besonders unterdrückt werden.

Warum also ist Frankreich so besorgt über ein armes, rückständiges Land mitten in Afrika?

Intervention

Der erste Grund ist natürlich, dass Mali, wie die meisten anderen afrikanischen Länder, vom französischen Imperialismus als gegenwärtige und zukünftige Quelle von Rohstoffen und billigen Arbeitskräften angesehen wird. Der Norden des Landes ist weitgehend unerforscht, aber neben Gold und Erdöl könnten auch andere Mineralien vorhanden sein. Es gibt auch Pläne, die Sonnenenergie in der Sahara zu nutzen und sie als elektrische Energie nach Europa zu übertragen.

Noch wichtiger für Frankreich ist die große Uranmine von Arlit in Niger, die nur wenige Stunden von der malischen Grenze entfernt liegt. In dieser Mine wird der größte Teil des Urans für französische Reaktoren und natürlich auch für Atomwaffen produziert. Eine stabile und kontrollierte Lage in Nordmali ist für die Fortsetzung der Produktion dieses strategischen Rohstoffs in Arlit unerlässlich.

Die Kontrolle der Lage in Mali ist auch für die Sicherung der Verbindungswege zwischen Zentralafrika und dem Maghreb von entscheidender Bedeutung. Wie zu Zeiten der Karawanen, als der Handel durch die Sahara florierte, werden diese Routen heute stark für den Warenverkehr aller Art genutzt, darunter Zigaretten, Waffen, Drogen, aber auch Menschenhandel. Sie werden auch jedes Jahr von Tausenden von MigrantInnen genutzt, die versuchen, nach Libyen oder Tunesien und dann nach Europa zu gelangen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Mali ein wichtiges Glied in der französischen Kolonialherrschaft über die gesamte Region ist und der französische Imperialismus nicht dulden kann, dass das Land zerfällt und den Weg für unkontrollierte bewaffnete Gruppen im Dienste anderer Interessen frei macht. Dies könnte in der Tat die gesamte Region weit über die Sahelzone hinaus destabilisieren.

Nach schnellen Siegen gegen die dschihadistischen Gruppen (AQMI, MUJAO – Bewegung für Einheit und Dschihad in Westafrika, Ansar Eddine – HelferInnen der islamischen Religion) zu Beginn der Intervention übergab die französische Armee die Kontrolle über den nördlichen Teil des Landes an eine bewaffnete Tuareg-Gruppe, MNLA (Mouvement National de Libération de l’Azawad; Nationalbewegung für die Befreiung Azawads). Die Dschihadisten erlitten mehrere Niederlagen, breiteten sich aber dennoch in der Region aus und versuchten, sich mit anderen Konflikten zu verbinden, beispielsweise im Zentrum Malis. Die anfängliche Popularität der französischen Intervention verflüchtigte sich nach mehreren Fällen von Morden an der Zivilbevölkerung. Da die staatliche Autorität schwindet, gerät das Land immer mehr unter die Kontrolle bewaffneter Gruppen.

Schwacher Staat

Das Problem ist, dass Mali als Staat seit seiner Gründung von Grund auf schwach war. Wie viele andere Kolonialstaaten war er ein künstliches Ganzes. Der Norden ist eine Wüstenregion, die im Wesentlichen von den Tuareg bevölkert wird, einem Volk ohne Staat, das heute über fünf Länder verstreut ist. Weiter südlich wird die Sahelzone von ViehhirtInnen bewohnt, erst in der Nähe des Niger ist Landwirtschaft möglich. Die Spannungen zwischen den Tuareg und dem malischen Zentralstaat bilden seit Jahrzehnten ein nahezu ständiges Phänomen, das mehrere Aufstände und BürgerInnenkriege nach sich zog.

Zu diesem Flickenteppich kommt noch hinzu, dass der Zentralstaat durch imperialistische Vorherrschaft extrem geschwächt ist. Zwischen 1970 und 1980 hat sich die Verschuldung verdoppelt, wobei Frankreich Hauptkreditgeber war. In den 1990er Jahren setzten der Internationale Währungsfonds und die Weltbank eine harte Politik der Umschuldung (Strukturanpassungspläne) durch, die zu Privatisierungen und Kürzungen im ohnehin spärlichen öffentlichen Sektor, einschließlich der Schulen und der Gesundheitsdienste, führte. In vielen Dörfern gibt es keine Schulen, und die Gesundheitsdienste beschränken sich auf traditionelle Medizin. Kein Wunder, dass sich die malische Armee in einem erschreckenden Zustand befindet. Die Korruption ist weit verbreitet, und die hundert Millionen Euro, die westliche Mächte dort investiert haben, sind in den Händen einer unfähigen bürokratischen Kaste einfach verschwunden.

Auch die internationale Lage stellt eine mächtige Quelle der Destabilisierung dar. Die französisch-britische Intervention in Libyen hat das Regime von Gaddafi schnell gestürzt, aber ein politisches Chaos geschaffen, wo die Kontrolle über das libysche Öl heftig umstritten ist. Der Sturz des Gaddafi-Regimes führte zur Bildung bewaffneter Gruppen in Nordmali: Tuareg-SoldatInnen, die einst zu Gaddafis Armee gehörten, flohen nach Mali, und die riesigen Waffenbestände Libyens wurden in die gesamte Region verkauft. Auf globaler Ebene ist Mali nur ein Spielball in einem neuen Kampf um Afrika, in dem die alten, vom französischen Imperialismus geschaffenen Herrschaftsverhältnisse von anderen Ländern, einschließlich China, bedroht werden.

Ein Grund für die Barkhane-Expedition war also, die französische Vormachtstellung in seinem Hinterhof zu bekräftigen. Frankreich ist wahrscheinlich das einzige Land, das fast nach Belieben Truppen in die Region schicken kann, ohne auch nur den Anschein einer von der UNO sanktionierten internationalen Friedensmission zu erwecken. Und dies praktisch ohne internationalen Protest oder Empörung. Die Szenen, in denen französische FallschirmjägerInnen Timbuktu einnahmen, waren zum einen als Machtdemonstration für andere afrikanische Länder gedacht: „Benehmt euch, oder das Gleiche wird in eurem Land passieren“, und zum anderen, um andere Mächte abzuwehren.

Doch wie Napoleon einst sagte, kann man mit einem Bajonett vieles tun, außer sich darauf zu setzen. Acht Jahre später hegt Frankreich nicht die Absicht, sich weiter an einer nicht enden wollenden Friedensmission zu beteiligen, die sich bereits in einen langsamen Zermürbungskrieg verwandelt. Die Erklärung des Endes der Opération Barkhane ist also nur ein Schachzug, um die Realität eines Strategiewechsels zu verschleiern.

Neue Mission

Frankreich wird 2.000 Truppen in der Region belassen, zusätzlich zu den 4.000 SoldatInnen von der Elfenbeinküste bis nach Dschibuti. Diese Streitkräfte haben seit der Unabhängigkeit bereits 48 Mal in der Region interveniert, fast einmal pro Jahr.

Seit vielen Jahren versucht Frankreich, seine Intervention durch ein internationales Mandat zu decken. Dies dient nicht nur der politischen Absicherung, sondern ermöglicht auch die Ersetzung französischer Truppen durch solche aus anderen Ländern. Die UNO hat eine friedenserhaltende Mission MINUSMA (Mission Multidimensionnelle Intégrée des Nations Unies pour la Stabilisation du Mali; multidimensionale, integrierte Mission der Vereinten Nationen für die Stabilisierung Malis) mit Truppen aus anderen afrikanischen Ländern, darunter dem Tschad, geschaffen. Es wurde ein Sondergipfel „G5 Sahel“ mit Mali, Niger, Tschad, Burkina Faso und Mauretanien eingerichtet. Die europäischen Länder haben Barkhane logistisch unterstützt und Mittel für die Ausbildung der malischen Armee bereitgestellt. Dieser Logik folgend hat Frankreich im Grunde einen Deal mit den Tuareg-Kräften im Norden, vor allem mit der MNLA, geschlossen und sie als Stellvertreterin der französischen Armee eingesetzt.

Die Europäische Union wird zunehmend in die politische Intervention im Maghreb und in der Sahelzone hineingezogen, die sie faktisch als ihre Südgrenze betrachtet, und unterstützt den französischen Imperialismus als führende Kraft bei dieser Aufgabe. Im Rahmen der MINUSMA leitet die EU eine Mission zur Ausbildung der malischen Armee und Polizeikräfte. Allein Deutschland hat inzwischen mehr als 1.000 SoldatInnen im Land stationiert, um die französischen imperialistischen Interessen zu unterstützen und seine eigenen zu verfolgen. Mehrere EU-Länder, darunter Frankreich, Schweden, Estland und die Tschechische Republik, sponsern eine neue „Antiterror“-Interventionsgruppe namens Takuba, deren Aktionen sich nicht auf Mali beschränken, sondern die gesamte G5-Sahelzone abdecken sollen.

Die Intervention des französischen Imperialismus oder gemeinsame Missionen mit seinen Verbündeten, sei es unter dem Banner der UNO, der EU oder einer anderen „friedenserhaltenden“ Allianz, können für das malische Volk keine fortschrittliche Lösung bringen.

In der Tat ist das Gegenteil der Fall. Alle imperialistischen Kräfte und ihre Hilfstruppen müssen aus dem Land abgezogen werden. Wenn sie so besorgt um die Menschen in Mali sind, könnten sie ihre Waffen einfach in den Händen von ArbeiterInnen-, Frauen- und demokratischen Organisationen lassen. Nur durch die Selbstorganisation der ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen, die Bewaffnung des Volkes und die Bildung von ArbeiterInnen-, bäuerlichen und Volksmilizen wird es möglich sein, die reaktionäre Gewalt und die Unterdrückung der Frauen durch fundamentalistische islamische Kräfte, durch die malische Armee und andere Besatzungstruppen zu beenden.

Diese Form der Selbstverteidigung und Selbstorganisation muss Hand in Hand gehen mit dem Kampf gegen den eisernen Griff, den Frankreich und andere imperialistische Mächte durch Schulden und sogenannte „Umstrukturierungsprogramme“ auf den Kontinent ausüben. Wenn man die soziale Verwüstung des Landes angehen will, müssen die Schulden gestrichen und alle imperialistischen Unternehmen und die korrupte KapitalistInnenklasse des Landes selbst, die seine Reichtümer ausplündert, entschädigungslos enteignet werden. Ebenso müssen die zentralen demokratischen Fragen in Mali und darüber hinaus angepackt werden: das Recht auf nationale Selbstbestimmung für Völker wie die Tuareg, die Verteidigung und Ausweitung der Frauenrechte, Abschaffung der militärischen und bürokratischen Elite, die Landfrage, die sich aufgrund der globalen Erwärmung und der Versteppung des Bodens verschärft hat und wahrscheinlich weiter zuspitzen wird.

All diese Fragen müssen im Kampf gegen die IslamistInnen, die putschistischen Regime und die ImperialistInnen angegangen werden. Um diese zentralen sozialen und demokratischen Fragen und die Zukunft des Landes zu bewältigen, ist der Kampf für eine verfassunggebende Versammlung von entscheidender Bedeutung, um die ArbeiterInnenklasse, die Bauern-/Bäuerinnenschaft, die Armen in den Städten und auf dem Land, die Frauen, die unterdrückten Nationalitäten, die demokratische Intelligenz und sogar Teile der städtischen Kleinbourgeoisie zu mobilisieren. Angesichts des bonapartistischen Charakters des Regimes in Mali und seines Staates müssten die Wahlen und die Arbeit einer verfassunggebenden Versammlung von Aktionsräten der ArbeiterInnenklasse und der Volksmassen kontrolliert werden, die innerhalb einer solchen Versammlung dafür kämpfen, die Macht in die Hände einer ArbeiterInnen- und Bauern- und Bäuerinnenregierung zu legen, die sich auf diese Räte und eine bewaffnete Volksmiliz stützt.

Um eine solche Perspektive herbeizuführen, muss die ArbeiterInnenklasse die politische Führung in einem solchen revolutionären Kampf übernehmen und die ungelösten demokratischen Fragen mit dem Kampf für eine sozialistische Transformation in Mali und auf dem gesamten Kontinent verbinden. Um diese Aufgabe zu erfüllen, muss die ArbeiterInnenklasse ihre eigene Partei aufbauen, die sich auf ein Programm der permanenten Revolution stützt.

Der Rückzug aller imperialistischen Truppen ist der Schlüssel für jede Entwicklung in diese Richtung. Die französischen, deutschen und anderen „friedenserhaltenden“ Truppen haben sich nicht nur als völlig unfähig erwiesen, die Kräfte der Reaktion zu stoppen, sie sind selbst Teil des Problems, da sie systematisch an Gräueltaten beteiligt sind. Mehr noch, es ist ihre koloniale und imperialistische Herrschaft über das Land, die die Massen verarmen lässt und jede echte demokratische oder soziale Entwicklung blockiert, und es sind die wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen des französischen Imperialismus und seiner Verbündeten, die sie verteidigen. Die imperialistischen Truppen sind tödliche Feindinnen jeder echten und unabhängigen Bewegung der Volksmassen und insbesondere der ArbeiterInnenklasse, sei es in Mali oder in einem anderen afrikanischen Staat. Deshalb muss die ArbeiterInnenklasse in Frankreich und der EU vorbehaltlos gegen jede Form der imperialistischen Intervention in Mali und auf dem gesamten Kontinent kämpfen.

  • Französische Truppen und alle ihre Verbündeten raus aus Mali und anderen afrikanischen Ländern! Nein zu jeder neuen „friedenserhaltenden“ Mission der UN oder der EU!
  • Nein zur Festung Europa! Öffnet die Grenzen für MigrantInnen! Volle demokratische Rechte in Europa für MigrantInnen und EU-ArbeiterInnen!
  • Streichung der Schulden Malis! Stoppt die Ausplünderung des afrikanischen Kontinents durch die imperialistischen Länder!



China: Die Jahrhundertfeier der Kommunistischen Partei

Teil 1, Peter Main, Infomail 1154, 2. Juli 2021

Der 1. Juli ist das von der Kommunistischen Partei Chinas gewählte Datum, um den hundertsten Jahrestag ihrer Gründung zu feiern. In China wird es kein Ende der öffentlichen Feierlichkeiten geben, wenn sich Staats- und ParteifunktionärInnen im Ruhm ihrer Errungenschaften sonnen – in China ist die Trennung zwischen Staat und Partei schwer zu ziehen. Das große Thema wird ohne Zweifel der Kontrast zwischen damals und heute sein, sowohl für die Partei als auch für das Land. Die Partei wurde von einem Dutzend hauptsächlich junger Intellektueller gegründet, die eine Gesamtmitgliederzahl von nur 56 repräsentierten und gezwungen waren, sich auf einem Boot auf einem See zu treffen, um der Überwachung zu entgehen. Heute ist sie eine massive Organisation mit 92 Millionen Mitgliedern, die effektiv alle Aspekte des Lebens im Lande kontrolliert.

Die Rolle der Partei bei der Transformation des Landes selbst, von der gedemütigten, besetzten, zerstückelten Halbkolonie im Jahr 1921 zum heute zweitmächtigsten Land der Welt, wird natürlich die Reden dominieren. Ein paar ausgewählte Meilensteine werden hervorgehoben; der Lange Marsch, der antijapanische Krieg, die Gründung der Volksrepublik 1949, aber vor allem das außerordentliche Wirtschaftswachstum der letzten 30 Jahre wird als Beweis für die Legitimität des Machtmonopols der Partei präsentiert. Bei all diesen Rückblicken wird das Tian’anmen-Massaker von 1989 (auf dem Platz am Tor des Himmlischen Friedens in Peking) in bequemer Weise übersehen.

Auf der ganzen Welt werden ExpertInnen und KommentatorInnen, die Chinas wirtschaftlichen Erfolg zähneknirschend bewundern, ein ähnliches Bild der letzten 100 Jahre zeichnen und sich mit der Erklärung trösten, dass China erst zu wachsen begann, als es den „Kommunismus“ hinter sich ließ und sich für den Kapitalismus entschied.

Unzufriedenheit

Doch trotz aller offiziellen Feierlichkeiten und Selbstbeweihräucherung werden nicht alle in China feiern. In den vergangenen Jahren haben die Menschen in Hongkong den Jahrestag der Rückgabe des Territoriums an China genutzt, um zu Millionen zu demonstrieren und ihre demokratischen Rechte einzufordern. Nicht so in diesem Jahr. Auch in Xinjiang (autonome Region der uigurischen Nationalität) wird es nichts zu feiern geben.

Unabhängig von diesen eklatanten Beispielen von Massenunzufriedenheit gibt es in China auch andere, die sich gegen die gesamte Politik der kapitalistischen Entwicklung stellen. Dazu gehören z. B. die studentischen MarxistInnen von der Pekinger Universität, die nach Shenzhen in der Nähe von Hongkong reisten, um streikende ArbeiterInnen zu unterstützen. (Siehe https://fifthinternational.org/content/100-years-chinese-revolution) Solche AktivistInnen, die eine deutliche Ähnlichkeit mit den ersten GründerInnen der Kommunistischen Partei haben, erkennen, dass die nach 1992 eingeführte Wirtschaftspolitik viel mehr als nur eine weitere „Reform“ war, sie markierte eine qualitative Veränderung der gesamten Wirtschaftsstruktur. Mit dem Abbau der staatlichen Planung und dem Ende der garantierten Löhne, Arbeitsplätze und anderer Rechte, der „eisernen Reisschüssel“ für die städtischen ArbeiterInnen, wurden Marktverhältnisse eingeführt, und die Arbeitskraft wurde zu einer Ware, die gekauft und verkauft werden kann.

Geschichte

Unter den GegnerInnen der Parteipolitik nach 1992, sicherlich unter den Pekinger StudentInnen, ist eine „alternative“ Geschichte, die ähnlich wie die „Samisdat“-Literatur der alten Sowjetunion produziert und verbreitet wird, sehr einflussreich. In ihrem Eröffnungskapitel erklärt sie: „Die Geschichte von 1919 bis heute wird in vier verschiedene Perioden unterteilt: 1919–1949, die Periode der Neuen Demokratischen Revolution; 1949–1978, die Periode des sozialistischen Aufbaus und der ,fortgesetzten Revolution’; 1978–1992, die Periode der parallelen Reformen von Planung und Markt; und 1992–heute, die Periode der marktorientierten Reformen.“ Allerdings beschränkt sie ihre eigene Analyse auf den Zeitraum 1949–1966, also bis zur „Kulturrevolution“.

Eine solche Fokussierung ist verständlich, da Mao Zedong (Mao Tse-tung) selbst die Kulturrevolution als seinen Kampf gegen die „kapitalistischen DrahtzieherInnen“ bezeichnete, zu deren AnführerInnen Deng Xiaoping gehörte, der später die „Marktreformen“ von 1992 überwachte.

Doch obwohl es richtig ist, eine solche Geschichte mit 1919, dem Jahr der Bewegung des Vierten Mai, zu beginnen, zieht es einen Schleier über entscheidende Ereignisse und Entwicklungen in den 1920er und 1930er Jahren, die die KPCh von einer revolutionären Partei in die Vertreterin einer bürokratisch-militärischen Kaste verwandelten, die bereit war, jede Maßnahme zu ergreifen, um ihre eigene Macht zu erhalten.

Obwohl der Gründungskongress der Partei kaum mehr tun konnte, als eine Reihe von Prinzipien, Aufgaben und Zielen zu verabschieden, sagen diese allein schon viel über den Charakter der Partei aus und wie sich ihre Prinzipien verändert haben. Neben der Bestätigung der Absicht, eine Partei nach bolschewistischem Vorbild zu gründen, bekannte sich der Kongress zur Solidarität mit Sowjetrussland, zur Organisierung der ArbeiterInnenklasse in Gewerkschaften und zum Selbstbestimmungsrecht für die Mongolei, Tibet und … Xinjiang und brachte die Hoffnung auf eine spätere Föderation mit China zum Ausdruck.

Kommunistische Internationale

Neben den 12 Delegierten nahm auch Hendricus (Henk) Sneevliet, alias „Maring“, ein Delegierter der Kommunistischen Internationale (KI), am Gründungskongress teil, was die enge Einbindung Moskaus in die Unterstützung und Führung der jungen Partei verdeutlicht. Die Internationale selbst war erst 1919 gegründet worden und hatte die Aufgabe, die Strategie und Taktik der Russischen Revolution zu kodifizieren, die seit der Zeit von Marx und Engels gemachten theoretischen Fortschritte, insbesondere zur nationalen Frage und zur Analyse des Imperialismus, zu integrieren und ein internationales Programm zu entwickeln, um ihre immer noch sehr heterogenen Sektionen zu leiten, noch lange nicht abgeschlossen.

Differenzen auf allen Ebenen der KI und zwischen der KI und der KP China sollten eine entscheidende und letztlich verhängnisvolle Rolle in der Entwicklung der chinesischen Partei spielen. Auf keine Frage traf dies mehr zu als auf die Beziehungen zur wichtigsten bürgerlichen Partei, der Guomindang (Kuomintang, GMD), von Sun Yat-sen, der nach dem Sturz der kaiserlichen Qing-Dynastie (Mandschu-Dynastie) 1911 (Xinhai-Revolution) kurzzeitig zum Präsidenten der Republik China ernannt worden war, nun aber seinen Sitz in Guangzhou (Kanton) in Südchina hatte.

Die führenden Köpfe der KP Chinas, Chen Duxiu und Li Dazhao, hatten eine schlechte Meinung von all diesen Personen und sahen die neue Partei als einen sauberen Bruch mit all ihren Intrigen und Machenschaften an. Für sie war die Perspektive im Wesentlichen eine, dem Weg der Bolschewiki zu folgen, rigorose Unabhängigkeit der ArbeiterInnenklasse im Kampf um die Macht und einen Staat nach sowjetischem Vorbild. Im Jahr zuvor hatte die KI jedoch Lenins Position zur nationalen Frage angenommen, die anerkannte, dass im Kampf gegen den Imperialismus in den kolonialen und halbkolonialen Ländern bürgerliche NationalistInnen eine fortschrittliche Rolle spielen könnten und dass daher Bündnisse mit solchen Kräften angebracht seien.

Im Lichte dessen und weiterer Diskussionen auf dem dritten Kongress der KI Anfang 1921 wurde der KP Chinas geraten, der GMD beizutreten und die Netzwerke und Unterstützung von Sun zu nutzen, um ihre eigene Aufgabe der Organisierung und Politisierung der ArbeiterInnenklasse voranzubringen. Der Rat war nicht willkommen, aber unter dem Druck aus Moskau wurde vereinbart, dass die GenossInnen individuell der GMD beitreten würden. In Wirklichkeit ist „Beitritt“ ein ziemlich irreführender Begriff. Die GMD war keine Partei im modernen Sinne, sie war kaum mehr als eine lose Ansammlung von AnhängerInnen Sun Yat-sens. Der potenzielle Nutzen einer Zusammenarbeit mit ihr zeigte sich jedoch bei einem Streik der Seeleute in Hongkong Anfang 1922, als die von der GMD organisierte finanzielle Unterstützung entscheidend für den Sieg war.

In den nächsten zwei Jahren profitierte die chinesische KP eindeutig von der Arbeit in der GMD. Nach einem kurzen Exil in Shanghai (Schanghai) wurde Sun zurück nach Guangzhou eingeladen, um eine Regierung zu bilden. In der Zwischenzeit hatte es umfangreiche Kontakte mit Moskau gegeben, wobei sowohl wirtschaftliche als auch militärische Unterstützung für die GMD geplant war, und es wurde vereinbart, dass die KP nicht nur als Partei beitreten, sondern sich auch an der Reorganisation der GMD als Massenmitgliederpartei beteiligen sollte.

Auf dem Gründungskongress der GMD als Massenpartei im Januar 1924 wurde ihre Mitgliederzahl mit 11.000 angegeben, von denen 500 auch Mitglieder der KP Chinas waren. Die Rolle der KommunistInnen wurde anerkannt, als 10 von ihnen in das Zentrale Exekutivkomitee der Partei gewählt wurden.

Das Potenzial der neuen Parteiorganisation zeigte sich bald, sowohl was die Rekrutierung als auch die Rolle der sowjetischen Unterstützung betraf. Dutzende von GMD-Mitgliedern, nicht alle auch in der KP organisiert, wurden zur politischen und militärischen Ausbildung nach Moskau geschickt, darunter auch Chiang Kai-shek (Tschiang Kai Schek), der später eine zentrale Rolle in Chinas Geschichte spielen sollte. Innerhalb Chinas steigerte die Einrichtung von Abteilungen zur Organisierung sowohl der städtischen ArbeiterInnen als auch der Bauern und Bäuerinnen nicht nur die Mitgliederzahl, sondern auch die Erwartungen an schnelle Fortschritte.

Wie brisant diese Kombination sein konnte, zeigte sich im Jahr darauf in Shanghai. Am 30. Mai eröffneten britische Truppen in der dortigen internationalen Siedlung das Feuer auf eine Demonstration chinesischer ArbeiterInnen, die gegen die Ermordung eines Streikenden durch einen japanischen Vorarbeiter in einer japanischen Fabrik protestierten – allein die Umstände sagen viel über das damalige China aus. Zehn DemonstrantInnen starben und 50 wurden verletzt. Am nächsten Tag wurde der Shanghai General Council of Labour (allgemeiner ArbeiterInnenrat) gegründet, der von KommunistInnen geführt wurde, und rief einen Generalstreik aus, der 160.000 Menschen für mehr als drei Monate mobilisierte. Unterstützt wurde er durch eine riesige Solidaritätskampagne, die von einem breiten Bündnis aus Gewerkschaften, StudentInnenverbänden und Gruppen von Geschäftsleuten koordiniert wurde, also genau den Teilen der Gesellschaft, die die GMD repräsentierte.

Hongkong

Eine solche Bewegung konnte nicht eingedämmt werden. Am 23. Juni 1924 eröffneten britische und französische Truppen in Guangzhou erneut das Feuer auf chinesische DemonstrantInnen, töteten 52 und verletzten 100. Als Reaktion darauf rief eine ähnliche Reihe von Organisationen zum Generalstreik gegen die britische Kolonie Hongkong auf. Tausende von ArbeiterInnen verließen Hongkong und wurden in Guangzhou untergebracht, aber es handelte sich nicht nur um einen Abzug von Arbeitskräften. Das gewählte Streikkomitee organisierte eine Blockade von Hongkong, komplett mit bewaffneten Marinepatrouillen, um zu verhindern, dass Nachschub die Insel erreichte, und Straßensperren in der gesamten Provinz Guangdong. Da sich die Aktivitäten des Komitees auf die Unterstützung der Streikenden und ihrer Familien sowie auf die Koordinierung der Solidarität weit über das Gebiet der Regierung von Kanton hinaus ausweiteten, wurde es als „Regierung Nummer zwei“ bekannt. Der Streik dauerte bis zum Oktober des folgenden Jahres und war damit wahrscheinlich der längste Streik dieser Art in der Geschichte.

In Moskau ermutigten diese Entwicklungen einen opportunistischen Trend, der sich nach der Niederlage der deutschen Revolution von 1923 entwickelt hatte. Unter Grigori Sinowjew sah die Exekutive der KI im Bündnis mit der GMD den Schlüssel zu einem zukünftigen prosowjetischen, antiimperialistischen China, einen riesigen Gewinn, der ein Modell für ähnliche Bündnisse und Siege anderswo darstellen würde. Als Sun Yat-sen im März 1925 starb, setzte sie ihre Hoffnungen auf Chiang Kai-shek, den sie immerhin ausgebildet hatte und der nun Leiter der Whampoa-Militärakademie (Armeeoffiziersakademie der chinesischen Nationalpartei, GMD) der Regierung von Kanton war.

Das schiere Ausmaß der antiimperialistischen Bewegung ließ in der Tat die Aussicht auf eine Wiedervereinigung Chinas aufkommen, löste eine Wiederbelebung der Massenbewegungen sowohl der ArbeiterInnen- als auch der BäuerInnenschaft aus und ermutigte die chinesischen Wirtschaftsorganisationen, die GMD zu unterstützen. Die Schlüsselrolle, die die gut organisierten und politisch gebildeten Mitglieder der chinesischen KP spielten, spiegelte sich im sehr schnellen Wachstum der Partei wider, von 1.000 vor dem Shanghai-Streik auf 30.000 auf dem Höhepunkt des Generalstreiks in Hongkong.

Die Mobilisierungsfähigkeit der KP und der von ihr geführten Gewerkschaften begann jedoch innerhalb der GMD die Alarmglocken läuten zu lassen. Zunehmend organisierten sich in den chinesischen Betrieben Gewerkschaften mit Forderungen nach Löhnen, Arbeitsbedingungen und Rechten, wie sie in den ausländischen Betrieben erkämpft wurden. Geschäftsleute, die von der Blockade ausländischer Firmen stark profitiert hatten und die GMD zur Unterstützung der Streikenden finanzierten, begannen nun, ihre Unterstützung auf GMD-Figuren zu richten, die die Rolle der KP Chinas innerhalb „ihrer“ Partei in Frage zu stellen begannen.

Unweigerlich begann sich die Realität gegensätzlicher Klasseninteressen bemerkbar zu machen. Linke und rechte Flügel der GMD bildeten sich nicht nur über innenpolitische Fragen, sondern auch über das Verhältnis zur Sowjetunion und zur Kommunistischen Internationale. Diese Spannungen wurden auch in Moskau zur Kenntnis genommen und führten zu einem internen Streit über die zukünftige Strategie. Bereits im Mai 1925 sprach Stalin davon, die GMD in eine „ArbeiterInnen- und BäuerInnenpartei“ umzuwandeln, innerhalb derer die KP Chinas die Führung der nationalen Revolution ausüben könnte.

Auf dem zweiten Kongress der GMD im Januar 1926 waren die prosowjetischen Elemente eindeutig immer noch dominant, und das neue Exekutivkomitee ging so weit, die Aufnahme in die Kommunistische Internationale formell zu beantragen. Obwohl der Antrag nicht endgültig beantwortet wurde, ermutigte allein die Tatsache, dass er gestellt worden war, die sowjetischen BeraterInnen und die KP Chinas, ihre Positionen sowohl in der kantonalen Regierung als auch in der GMD-Organisation zu stärken. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Ereignisse nun zu bewegen schienen, alarmierte den rechten Flügel der Partei und bereitete die Bühne für Chiang Kai-sheks Versuch, das durch den Tod von Sun Yat-sen hinterlassene Vakuum zu füllen.

Am 20. März 1926 verhafteten Chiangs Truppen KP-AktivistInnen in Militäreinheiten, entwaffneten die Streikposten des Hongkonger Streikkomitees und zwangen Wang Jingwei, den Vorsitzenden der nationalistischen Regierung, Guangzhou zu verlassen. An seiner Stelle setzte Chiang im Wesentlichen eine Militärregierung ein. Dieser „Putsch vom 20. März“ beendete keineswegs die Massenmobilisierungen der ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen in ganz Südchina, aber er stellte die Frage in den Raum: Wer sollte regieren?

Teil 2: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/07/04/china-die-jahrhundertfeier-der-kommunistischen-partei-teil-2/



Palästina: Antizionismus = Antisemitismus?

Martin Suchanek, Neue Internationale 256, Juni 2021

Der jüngste Krieg Israels gegen die palästinensische Bevölkerung brachte eine weltweite, jugendlich geprägte Solidaritätsbewegung mit Palästina hervor. Und – wenig überraschend – sahen sich hierzulande jene Kräfte, die den zionistischen Staat oder auch nur seine als „Selbstverteidigung“ verbrämte militärische Aggression ablehnen, schon bald wieder mit dem diffamierenden Vorwurf des Antisemitismus konfrontiert.

Zweck

Dabei ist die altbekannte Gleichsetzung des Antizionismus (Ablehnung des israelischen Staates wenigen seines rassistischen Charakters) mit dem Antisemitismus politisch falsch und gefährlich. Sie lenkt einerseits ab vom erstarkenden, wirklichen Antisemitismus einer Rechten, die sich letztlich in die Geschichte der Shoa (Holocaust) einreiht und den eliminatorischen Antisemitismus stets als Keim in sich trägt.

Andererseits fungiert der Vorwurf des Antisemitismus als starkes, einschüchterndes und mundtot machendes Werkzeug gegen alle, die sich solidarisch mit antiimperialistischen Befreiungskämpfen zeigen, ein Instrument aller proimperialistischen Kräfte, von antideutschen Pseudolinken bis hin zur AfD. Weiterhin impliziert die Gleichsetzung auch die Identifikation von Jüdinnen und Juden mit dem zionistischen Staat Israel im Generellen – eine Gleichsetzung, die wir wiederum für diffamierend bis antisemitisch halten, gerade gegenüber jener großen Zahl Juden und Jüdinnen, die die Politik Israels oder auch den Zionismus ablehnen.

Anlassbezogen wollen wir hier nun ein weiteres Mal kurz darstellen, was eigentlich der Kern des Zionismus ist und inwiefern er für die israelische ArbeiterInnenklasse selbst ein Hindernis darstellt.

Der Zionismus

Was sind die zentralen Ideen des Zionismus? Angesicht des aufkommenden Antisemitismus im Wechsel zum 20. Jahrhundert (Dreyfus-Affäre in Frankreich, Pogrome im zaristischen Russland) ging der Haupttheoretiker der zionistischen Bewegung, Theodor Herzl, davon aus, dass sich Jüdinnen und Juden in Europa nicht assimilieren oder integrieren könnten und auf ewig unterdrückt und bedroht sein würden.

Daraus zog er den Schluss, dass nur ein eigener jüdischer Nationalstaat eine sichere Existenz bieten könne. Dies bedeutete aber auch, dass der Zionismus von Beginn an eine Absage an den Klassenkampf gegen den Kapitalismus und dessen Unterdrückung, Rassismus darstellte. Das Ziel eines eigenen Staates versuchte der Zionismus, lange Zeit eine Minderheitsströmung in den jüdischen Gemeinden, mit Hilfe imperialistischer Kolonialmächte und seiner Agenturen wie z. B. Völkerbund zu erreichen.

Lange Zeit stellte er eine Minderheitsströmung in den jüdischen Gemeinden dar. Die systematische Unterdrückung, Pogrome und der industrielle Massenmord an 6 Millionen Juden und Jüdinnen sowie das politischen Versagen der ArbeiterInnenbewegung, Nazi-Diktatur und Shoa zu verhindern, veränderten auch die Einstellungen im jüdischen Volk.

Die Tragik des Zionismus besteht nun darin, dass er auf die Rettung durch den Imperialismus innerhalb der kapitalistischen Ordnung setzt. Die Gründung Israels war von Beginn an nur durch die Hilfe des Imperialismus, anfangs v. a. des britischen und nach 1945 des US-amerikanischen, möglich und denkbar.

Der Zionismus ist eine nationalistische Ideologie. Der israelische Staat ist ein rassistischer, expansionistischer, der sich auf der Vertreibung und Entrechtung der PalästinenserInnen gründet und diese permanent fortführt. Schon vor und besonders seit Gründung des Staates Israel wurden und werden die PalästinenserInnen unterdrückt, vertrieben und terrorisiert; das Recht auf Rückkehr wird den Vertriebenen verwehrt. Der Zionismus wurde zur Ideologie eines rassistischen Staates.

Die besetzten Gebiete werden auch im „Frieden“ in allen zentralen Aspekten (Handel, Währung, Versorgung, Grenzregime) von Israel und seiner Armee kontrolliert. Auch die PalästinenserInnen in Israel sind nur BürgerInnen zweiter Klasse, deren Zugang zum öffentlichen Dienst und deren Bürgerrechte eingeschränkt und die auch sozial unterprivilegiert sind. Der vielgepriesenen Zweistaatenlösung hat Israel längst eine reale Absage erteilt, indem es seine eigene Einstaatenlösung realisiert.

Zionismus und ArbeiterInnenklasse

Ohne permanente Unterstützung durch imperialistische Länder sowie private SpenderInnen könnte sich der Staat ökonomisch, politisch und militärisch nur schwer halten. Der zionistische Staat ist daher alles andere als ein auf ewig sicheres Bollwerk für das jüdische Volk. Er ist ein Vorposten des westlichen Imperialismus und von diesem abhängig. Die zionistische Ideologie legitimiert nicht nur die Unterdrückung der PalästinenserInnen, sie ist zugleich ein Mittel, die jüdische ArbeiterInnenklasse an der Seite der eigenen Ausbeuterklasse zu halten.

Diese Bindung oder die Unterstützung für die Kriegspolitik findet ihre sozialen und politisch-ideologischen Wurzeln in einer starken ArbeiterInnenaristokratie und der Vorherrschaft des Zionismus in praktisch allen gesellschaftlichen Institutionen.

Solange die jüdische ArbeiterInnenklasse aber nicht mit der Loyalität zum „eigenen“ Staat bricht, wird sie sich weder von der eigenen Klassenunterdrückung und verschärften Ausbeutung befreien noch wirklich geschwisterliche Beziehungen zu den arabischen ArbeiterInnen und BäuerInnen entwickeln können.

Der Antizionismus ist daher keinesfalls eine politische Position, die nur für AntiimperialistInnen auf der ganzen Welt und für die arabischen Massen wichtig und richtig ist. Letztlich muss sie auch zur Position der jüdischen ArbeiterInnen in Israel und auf der ganzen Welt werden.

Der zionistische Staat ist ein Hindernis auf dem Weg zur Befreiung. Er muss zerschlagen und durch einen gemeinsamen, binationalen ArbeiterInnenstaat ersetzt werden, der den jüdischen und palästinensischen ArbeiterInnen und BäuerInnen ein gleichberechtigtes und friedliches Zusammenleben ermöglicht: einen Staat also, der auf anderen sozialen Grundlagen als der jetzige kapitalistische fußt – auf einer demokratischen Planwirtschaft und der Herrschaft der ArbeiterInnenklasse als Teil einer sozialistischen Staatenföderation im gesamten Nahen Osten.




Völkermord an Ovaherero und Nama: Selbstgerechtes Land der Täter

Robert Teller, Neue Internationale 256, Juni 2021

Die Bundesrepublik Deutschland übernimmt wieder Verantwortung in der Welt. Das tat auch bereits ihr völkerrechtlicher Vorläufer, das Deutsche Reich. 1884-1885 hielt Otto von Bismarck die „Berliner Konferenz“, auch Kongokonferenz genannt, ab. Eingeladen waren jene Mächte, die sich an der „Zivilisierung Afrikas“ beteiligen wollten oder dies bereits taten. Bekannt ist, dass der deutsche Imperialismus dabei keine nachhaltigen Erfolge feiern konnte. Nach der militärischen Niederlage im Ersten Weltkrieg wurde im Versailler Vertrag 1919 nicht nur das deutsche Kolonialreich vollständig unter die Siegermächte aufgeteilt, sondern auch „Deutschlands Versagen auf dem Gebiet der kolonialen Zivilisation“ vertraglich festgehalten. Als moralische Instanz kam Deutschland auch in den folgenden 100 Jahren nicht wieder auf die Beine.

Die etwa 3 Jahrzehnte deutscher Kolonialherrschaft in Afrika waren von zahllosen Aufständen und blutigster Repression durch die deutschen Truppen geprägt. Im damals „Deutsch-Südwestafrika“ genannten heutigen Namibia gipfelte dies in der Ermordung der Mehrheit der Ovaherero (auch als „Herero“ bezeichnet) und einer enormen Zahl von Angehörigen der Nama und anderer Bevölkerungsgruppen. Zu den berüchtigtsten deutschen Gräueltaten in Afrika gehört die „Schlacht am Waterberg“ ab dem 11. August 1904. Etwa 60.000 Ovaherero wurden von Einheiten der deutschen „Schutztruppe“ unter Befehl von Generalleutnant Lothar von Trotha umzingelt. Den Ovaherero gelang der Ausbruch aus dem Kessel und damit zunächst die Flucht. Die deutschen Truppen verfehlten den von der militärischen Führung erwarteten „vollständigen Sieg“ über die Aufständischen und die bei ihnen versammelten unbewaffneten Angehörigen. Unvorbereitet auf einen längeren Kampf in der unwirtlichen Landschaft entschied sich von Trotha, die Ovaherero in der Wüste Omaheke zu isolieren und ihnen den Zugang zu Wasserstellen zu verwehren. Wenigen gelang die Flucht ins britische Kolonialgebiet, viele verdursteten. Die Ermordung der flüchtenden Ovaherero ordnete von Trotha explizit am 2. Oktober in seiner als „Vernichtungsbefehl“ berüchtigt gewordenen Bekanntmachung an. Später im Leben bilanzierte jener wie folgt: „Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit auszuüben, war und ist meine Politik. Ich vernichte die aufständischen Stämme in Strömen von Blut und Strömen von Geld. Nur auf dieser Aussaat kann etwas Neues entstehen.“

Moral und Recht

Moral ist, wenn man moralisch ist, aber damit tut sich der deutsche Imperialismus schwer. Nachfahren der damals Ermordeten fordern seit Jahrzehnten eine offizielle deutsche Anerkennung der Verantwortung für den Völkermord, eine Entschuldigung und direkte Reparationszahlungen an Organisationen, die die damals betroffenen Bevölkerungsgruppen heute repräsentieren. Das kürzlich beschlossene Abkommen wird von den Betroffenenverbänden einhellig abgelehnt. Ein Hauptargument ist dabei die Weigerung der deutschen Regierung, sowohl ein Verhandlungsmandat dieser Organisationen als auch deren kollektiven Anspruch auf Entschädigung anzuerkennen. Verhandelt wurde von deutscher Seite aus mit VertreterInnen der namibischen Regierung, die ihrerseits ein Mitspracherecht der Verbände ablehnte. Wie der Kolonialstaat damals erfüllt insoweit auch der halbkoloniale Staat heute als historisches Erbe die Funktion, den Bevölkerungsgruppen ihre kollektiven Rechte zu verweigern.

Wünschenswert wäre vom Standpunkt des deutschen Imperialismus sicherlich eine moralische Reinwaschung. Problematisch hingehen wäre es, dabei Tür und Tor zu öffnen für die Geister der Vergangenheit, die an anderen Ecken des Kontinents noch lauern. Daher hatte sich die damalige Schröder-Bundesregierung zum runden Jubiläum 2004 entschlossen, in warmen Worten die „geteilte Geschichte“ zu bedauern und Entwicklungsministerin Wieczorek-Zeul (SPD) zum Bußgang an den Waterberg zu schicken. In ihrer Rede vor dem gespanntem Publikum verhaspelte sie sich. Das Wort „Völkermord“ war gefallen und die Büchse der Pandora geöffnet. Seither sind die Bemühungen dieser und aller nachfolgenden bundesdeutschen Regierungen darauf gerichtet gewesen zu begründen, dass es einen kleinen, aber feinen Unterschied gibt zwischen einem Völkermord in einem historischen oder auch moralischen Sinne einerseits und im juristischen andererseits. Juristisch wurde der Völkermord nämlich erst 1948 in der UNO-Völkermordkonvention definiert und geächtet. Heißt: Von Trotha und das Kaiserreich hätten ja nicht ahnen können, dass sich ihr Völkermord einmal an derartigen Rechtsnormen würde messen lassen müssen, und somit seien sie unschuldig im Sinne der Anklage. Die Konvention zur Verhinderung des Völkermordes wird hier kurzerhand zur Grundlage seiner juristischen Rechtfertigung.

„Aussöhnung“

Hieraus ergab sich im angestrebten Aussöhnungsprozess erheblicher Gesprächsbedarf, der seit 2015 mehr als fünf Jahre Geheimverhandlungen zwischen der deutschen und namibischen Regierung erforderte. Kürzlich wurde die Einigung auf ein Aussöhnungsabkommen mit der namibischen Regierung verkündet, präsentiert von einem sich moralisch schuldbewusst gebenden Außenminister Heiko Maas. Der genaue Inhalt des Abkommens ist allerdings so gut, dass er nach wie vor von offizieller Seite geheimgehalten wird.

Laut Süddeutscher Zeitung ist jedoch bekannt, dass Punkt 10 dessen wie folgt lautet: „Die Bundesregierung erkennt an, dass die in Phasen des Kolonialkrieges verübten abscheulichen Gräueltaten in Ereignissen gipfelten, die aus heutiger Perspektive als Völkermord bezeichnet würden.“ So hat es die mit Worten jonglierende Diplomatie also doch vollbracht, einen Völkermord aus Sicht der TäterInnen moralisch anzuerkennen, ohne jedoch juristisch dafür belangt zu werden.

Opfer

Die Ovaherero Traditional Authorities (OTA) und die Nama Traditional Leaders Association (NTLA) erklärten zu dem Abkommen:

„Das sogenannte Versöhnungsabkommen […] ist ein deutscher PR-Coup und ein Verrat durch die namibische Regierung. […] Offensichtlich hat Deutschland noch immer keine Absicht, anzuerkennen, dass von Trotha einen Völkermord im Sinne des Völkerrechts verübt hat – folglich habe Deutschland kein Verbrechen gegen die Menschheit begangen und beabsichtigt nicht, sich für irgendein Verbrechen des Völkermords zu entschuldigen – insbesondere nicht gegenüber den Nachfahren der Opfergemeinschaften!  […]

Hinter der sogenannten ,Kompensation‘ zugunsten von ,sozialen Projekten‘ verbirgt sich nur die fortgesetzte deutsche Finanzierung namibischer Regierungsprojekte wie NDP5 (Nationaler Entwicklungsplan 5) und ,Vision 2030′, wie es der Premierminister im namibischen Parlament am 16. März 2021 dargestellt hat.“

Auch das Bündnis „Völkermord verjährt nicht“ weist das Abkommen zurück und fordert eine völkerrechtliche Anerkennung des Genozids und hiermit verbundene Reparationsleistungen. Die jetzt verkündete sogenannte Entschädigung ist am Ende doch nichts anderes als die Finanzierung lokaler StatthalterInnen des Imperialismus, keine Reparation gegenüber Betroffenen.

Was bleibt, ist die Frage, warum sich die BRD überhaupt diese Blöße gibt, wenn doch die kaiserlichen Methoden des Kolonialkriegs eigentlich rechtlich unangreifbar sind. Liegt es am Ende nicht vielleicht doch eher daran, dass auch heute wieder imperiale Interessen auf dem afrikanischen Kontinent aneinandergeraten und ein schuldbewusstes „friendly face“ dabei im Wettlauf mit dem chinesischen und US-Imperialismus von Vorteil sein kann?