Politischer Streik in Deutschland: Wie kommen wir dahin, am 8. März zu streiken?

Ramona Summ, Valentin Lambert, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

„Wenn wir streiken, steht die Welt still“. Dieser Slogan untermalte 2018 den feministischen Generalstreik in Spanien zum Internationalen Frauenkampftag. Die spanischen Frauen haben bezahlte und unbezahlte Arbeit niedergelegt und so ökonomischen und gesellschaftlichen Druck ausgeübt, indem hunderte Züge ausfielen, Straßen blockiert wurden und Schulen sowie Kitas geschlossen blieben. Auch in Deutschland ist diese Parole verwendet worden. Der Unterschied:  Hierzulande wird in der Regel die Arbeit nicht niedergelegt, sondern die Wut über die alltägliche sexistische Unterdrückung durch Demonstrationen und Kundgebungen an die Öffentlichkeit getragen. Diese Aktionen sind wichtig und zeigen, wie viele Menschen auch hierzulande für Frauenforderungen auf die Straße gehen. Doch es wirft auch die Frage auf: Wie kommen wir in Deutschland dazu, dass alles stillsteht? Denn Gründe zu streiken, gibt es allemal.

Was möglich wäre

Erinnern wir uns an die Coronapandemie: Während alle ihr Mitgefühl und Unterstützung durch Klatschen am Fenster oder auf dem Balkon kundtaten, musste das medizinische Personal massive Überstunden zu schlechten Arbeitsbedingungen schieben. Das Gesundheitssystem stand damals vor dem Kollaps und wird seitdem auch nur durch die Bereitschaft des existierenden Personals zusammengehalten. Von der miserablen Versorgung bezüglich Abtreibung sowie Häusern zum Schutz vor Gewalt ganz zu schweigen. Frauen sind die doppelten Krisenverliererinnen und die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern hat sich weiter verschärft. Kurzum: Die Liste an Missständen ist ewig lang. Doch all das muss nicht so bleiben, sondern sind Dinge, die verändert werden könnten. Demos, Petitionen, vereinzelte Proteste reichen jedoch dafür nicht aus. Um den nötigen Druck zu erzeugen, für feministische Forderungen zu kämpfen, bedarf es eines ökonomischen Stillstandes. Denn erst wenn die Profite des kapitalistischen Systems nicht mehr fließen, wird eine politische Kraft ausgespielt, die die Kapitalistenklasse nicht mehr ignorieren kann.

Stellen wir uns jetzt vor, dass der DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund) mit seinen 5,6 Millionen Mitgliedern sich dazu entscheiden würde, für einen Streik einzutreten: Es gäbe in tausenden von Betrieben Vollversammlungen, wo man nicht nur über die Forderungen reden könnte, sondern auch Raum hätte, darüber zu diskutieren, wie und wo Sexismus im Betrieb sowie in der Gesellschaft stattfinden. Das würde nicht nur helfen, die Forderungen durchzusetzen, sondern auch einen Beitrag leisten, wie innerhalb der Gesellschaft über antisexistische Themen geredet wird. Wie also kommen wir dahin?

Ein kurzer historischer Abriss

Während in vielen EU-Ländern politische Streiks rechtlich erlaubt sind und wir in den letzten Jahrzehnten Generalstreiks in Belgien oder Frankreich miterleben konnten, ist im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit verankert, dass hier keine politischen Streiks, geschweige denn Generalstreiks, möglich sind. Doch woran liegt das genau? Rechtlich ist ein Verbot von politischen Streiks nicht geregelt. Das Grundgesetz schützt das Recht zu streiken und auch historisch gab es in der deutschen Geschichte immer wieder politische Streiks – wenn auch deutlich weniger als in anderen Ländern. Beispiele dafür sind aus der Vergangenheit der Generalstreik für die Beendigung des 1. Weltkrieges 1918, welcher trotz Verbots Hunderttausende auf die Straßen brachte oder der 1948 für die Demokratisierung und Sozialisierung der Wirtschaft. Doch auch in der neueren Geschichte kam es zu Protesten: 1996 gegen die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder 2007, als die IG Metall zu einer Arbeitsniederlegung aufgerufen hatte, um gegen die Rente mit 67 zu protestieren. 2023 sorgte der Schulterschluss zwischen ver.di und Fridays For Future (FFF) für hitzige Debatten, ob dies denn überhaupt legitim sei oder nicht schon ein politischer Streik. FFF unterstützte mit der Kampagne #wirfahrenzusammen insbesondere die Forderungen des ÖPNV in den Tarifverhandlungen des öffentlichen Dienstes und setzte auf Streikkundgebungen Akzente und Forderungen für eine nachhaltige Verkehrswende. Woher kommt also die Annahme, dass politische Streiks verboten sind?

Scheinbares Verbot und Angriffe auf das Streikrecht

Dies leitet sich aus einem Urteil des Freiburger Landgerichts von 1952 ab. Damals streikten Beschäftigte der Zeitungsbetriebe für mehr Rechte im Betriebsverfassungsgesetz. Das Gericht urteilte dabei, dass die Streiks rechtswidrig sind, unterstrich aber ausdrücklich, dass sie nicht verfassungswidrig sind: „Sollte durch vorübergehende Arbeitsniederlegung für die Freilassung von Kriegsgefangenen oder gegen hohe Besatzungskosten oder gegen hohe Preise demonstriert werden, dann könnte dieser politische Streik wohl kaum als verfassungswidrig angesehen werden.“

Das im Grundgesetz festgeschriebene Recht zu streiken ergibt sich aus dem Artikel 9 Absatz 3. Dort wird geregelt, dass Arbeitskämpfe „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ geführt werden können. Ein Grundrecht auf Streik, losgelöst von seiner funktionalen Bezugnahme auf die Tarifautonomie, gewährleistet der Artikel allerdings nicht. Darüber hinaus wurde in den vergangenen Jahrzehnten das Streikrecht immer weiter ausgehöhlt, während zeitgleich die Arbeitsbedingungen sich verschlechterten durch Privatisierung sowie Ausbau des Niedriglohnsektors. Beispiele dafür sind das Gesetz zur Tarifeinheit oder die diversen Schlichtungsvereinbarungen, die dazu genutzt werden, „Ruhepausen“ in Streiks zu erzwingen.

Kurzum: In Deutschland ist Streikrecht Richter:innenrecht. Ein politischer Streik ist faktisch möglich. Er ist nicht explizit verboten, bestehende Gesetze legalisieren jedoch nur Streiks für Tarifverträge. Diese Begrenztheit wird jedoch von der internationalen sowie europäischen Rechtsprechung kritisiert und Jurist:innen wie Theresa Tschenker meinen, dass die Grenzen des Legalen z. B. verschoben werden können. Zu Recht sieht sie in den Tarifkämpfen um Entlastung der Krankenhausbeschäftigten das Manko, dass sie nicht am Finanzierungssystem gerüttelt hätten. Dies ist sicher einer der Gründe, warum diese Bewegung dem Kahlschlag durch die jüngsten Lauterbach’schen Krankenhaus„reformen“ wehr- und hilflos gegenübersteht. Sie fordert: „Man müsste die Rechtsprechung zum Verbot des politischen Streiks herausfordern. Dazu bräuchte es einen bundesweiten Krankenhausstreik … Es müsste klar werden, dass alle Beschäftigten dafür streiken, dass die Finanzierung geändert wird …“ Auch die Beispiele nach 1952 machen deutlich, dass es eher eine Frage der Entschlossenheit bleibt als eine der Rechtslage. Hinzu kommt, dass, objektiv betrachtet, selbst ein existierendes Verbot nicht bedeutet, dass man dieses bei massenhaften Protesten nicht auch kippen könnte – schließlich ist der politische Streik ein notwendiges Mittel, um Druck auszuüben. Als Marxist:innen lassen wir uns nicht von den Gesetzen des bürgerlichen Staates begrenzen und die Rechtsprechung vertritt die Interessen des deutschen Staates und des Kapitals, indem durch Verbot eines Streiks keine Profiteinbußen auf Kosten der Kapitalist:innen anfallen. Natürlich könnten Konsequenzen drohen, aber im Falle einer Bewegung könnten Repressionen mit erneuten Streiks abgewehrt werden. Was also hindert uns daran zu streiken?

Der Unwillen der Gewerkschaften

Eines der häufigsten Argumente ist, dass die Gewerkschaften Schadenersatzforderungen befürchten, wenn sie zu einem Streik aufrufen, der nicht den rechtlichen Kriterien entspricht. Man sollte meinen, dass der DGB sich zu wehren wüsste und seine Mitgliedschaft tatkräftig dagegen mobilisieren könnte. Doch so einfach ist das nicht. Denn in der Realität sehen wir selbst bei bloßen Tarifrunden ein Anbiedern ans Kapital statt kämpferischer Streiks, wie die Beschäftigten bei den den Tarifverträgen TVöD, TV-L , der Post und Bahn am eigenen Leibe gespürt haben. Zehntausende Neueintritte zeigten die enorme Kampfkraft,  stattdessen kam es jedoch zu enttäuschenden Reallohnverlusten bei den Abschlüssen. Mit zahlreichen Trickser- und Zahlendrehereien wird versucht, diese als Erfolge zu verkaufen. Nullmonate und überlange Laufzeiten, die vorher kategorisch abgelehnt wurden, wurden auf einmal akzeptiert. Der Informationsfluss, wie der Abschluss denn zu bewerten sei, läuft einseitig und die Gewerkschaft behält sich hier ein Informationsmonopol vor. Möglichkeiten, sich über den Abschluss auszutauschen und gegebenenfalls weitere Schritte zu diskutieren, gibt es wenig. Der vermeintlich demokratische Prozess zur Befragung aller Gewerkschaftsmitglieder über das Ergebnis ist tatsächlich nicht rechtlich bindend. So verkommen die Tarifrunden zu reinen Ritualen und dienen lediglich der

Abwehr der schlimmsten Verelendung. Aber wieso? Die Verantwortlichen der Misere sind schnell gefunden. Es ist die Gewerkschaftsbürokratie und deren Programm der Sozialpartnerschaft.

Wurzeln der Bürokratie und Sozialpartnerschaft

Die Sozialpartnerschaft zwischen Gewerkschaften und Unternehmer:innen sorgt für ein vermeintlich harmonisches Miteinander zwischen Arbeiter:inneninteressen und denen des Kapitals gemäß dem Sprichwort „zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig“ und basiert auf der Idee der kapitalistischen Mitverwaltung. Reformistische Politiker:innen in den Führungen der Gewerkschaften, der Betriebsräte in den Großkonzernen, der SPD, aber auch der Linkspartei setzen in ihrer Politik auf die Strategie der Zusammenarbeit mit vermeintlich „vernünftigen“ Teilen der herrschenden Klasse. Letzten Endes versprechen sie an der Regierung, „das größere Übel“, also noch mehr Entlassungen und Sozialabbau, zu verhindern – und bereiten damit nur ebendieses vor, indem sie die Klasse spalten und ihre Kampfkraft schwächen. Die Gewerkschaftsführungen und Betriebsräte spielen dasselbe Spiel in der Hoffnung, dass Lohnverzicht und Kurzarbeit Arbeitsplätze sichern. Doch zeigt es vor allem eins: dass sie Frieden mit dem Kapitalismus geschlossen haben, wohingegen die objektiven Interessen der Beschäftigten dem diametral gegenüberstehen.

Diese  Politik wird von der Gewerkschaftsbürokratie getragen. Dabei gibt es Momente, in denen sie gezwungen ist, zu mobilisieren und radikal aufzutreten. Denn ihre Position ergibt sich eben daraus, dass sie als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital fungieren kann – im Interesse der Beschäftigten Verbesserungen erkämpfen, aber eben nur so viel, dass es dem Kapital nicht schadet, um „den eigenen Standort“ und die „Wettbewerbsfähigkeit“ zu sichern. Dabei entwickelt sie als bürokratische Schicht selbst ein materielles Interesse, ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital zu verewigen – und damit auch, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse zu verteidigen. Dass sie sich etablieren konnte, ist ein historischer Prozess, den wir an dieser Stelle nicht näher beleuchten können. Gefördert wird das aber durch die Extraprofite und Überausbeutung der halbkolonialen Welt. Auch wenn es sicher Individuen gibt, die es als Gewerkschaftssekretär:innen gut meinen – wir können nicht auf den guten Willen Einzelner  vertrauen – insbesondere nicht, wenn deren Position auf Überausbeitung von Kolleg:innen in anderen Ländern basiert.

Das wirft berechtigterweise die Frage auf: Kann man sein Vertrauen in solche Hände legen? Die klare Antwort lautet: Nein. Doch es hilft nicht, sich komplett von den existierenden Strukturen der Gewerkschaften abzuwenden. Schließlich zeigen die Beispiele aus anderen Ländern, was möglich sein könnte. Deswegen ist es notwendig, die existierenden Tarifkämpfe zu politisieren sowie systematisch gegen Gewerkschaftsbürokratie und Sozialpartnerschaft vorzugehen.

Klassenkämpferische Basisbewegung aufbauen!

Es steht also an, den existierenden Interessenkonflikt offenzulegen und weiter zu politisieren. Das kann beispielsweiseweise bedeuten, konkret aufzuzeigen, dass unser Geld nicht weg, sondern schlichtweg nach oben umverteilt wurde, wie wir an den Abschlüssen von 2023 sehen. Das Geld, was dem öffentlichen Dienst fehlt, ist nämlich bei den Rüstungsausgaben der Bundesregierung zu finden. Gleiches gilt für antisexistische Forderungen. Doch was bedeutet das in der Praxis?

Während #wirfahrenzusammen zeigt, wie Teile der Umweltbewegung versuchen, ein Bündnis mit den Beschäftigten im ÖPNV zu schließen, bleibt es Aufgabe für die feministischen Strömungen, es ihnen gleichzutun und beispielsweise die Streiks im Caresektor wie der Krankenhausbewegung aktiv zu unterstützen. Bei all den positiven Momenten, wäre es jedoch wichtig, die Fehler der #wirfahrenzusammen-Kampagne nicht zu wiederholen. Das bedeutet, dass man sich nicht von Gewerkschaftsführung & Co abhängig machen darf, um auch klare Kritik üben zu können für den Fall, dass beispielsweise die Abschlüsse so enttäuschend ausfallen wie die 2023:

  • Nein zu allen Gesprächen hinter verschlossenen Türen! Verhandlungen sollen öffentlich über das Internet übertragen werden! Keine Abschlüsse ohne vorherige Abstimmung unter den Mitgliedern! Rechenschaftspflicht und Wahl der Tarifkommission durch die Basis!
  • Streikleitung den Streikenden: Für flächendeckende Streikversammlungen bei Streiks in den jeweiligen Branchen, die bindend entscheiden, wie ihr Kampf geführt wird!

Doch es darf nicht dabei bleiben, Tarifkämpfe zu kommentieren. Auch innerhalb von Gewerkschaften kommt es zu Sexismus, Rassismus, sowie LGBTIA+-Unterdrückung. Deswegen muss auch  – neben dem Kampf zur Demokratisierung der Gewerkschaften an sich –  darauf eingegangen werden. Neben möglichen Quotierungen ist es essentiell, dafür einzustehen, dass es das Recht auf gesonderte Treffen und eigene Strukturen ohne jede Bevormundung durch den Apparat für gesellschaftlich Unterdrückte gibt. Darüber hinaus müssen aktiv Mechanismen zum Umgang mit, aber auch zur Prävention von Übergriffen und diskriminierendem Verhalten erarbeitet werden – denn bloße Phrasen reichen an der Stelle nicht aus, um den gemeinsamen Kampf zu gewährleisten.

  • Für das Recht auf gesonderte Treffen und eigene Strukturen ohne jede Bevormundung durch den Apparat für gesellschaftlich Unterdrückte: Frauen, Jugendliche, MigrantInnen, trans Personen, Schwule und Lesben! Für den aktiven Kampf zur Organisierung dieser Gruppen und gegen jede rassistische, sexistische oder homophobe Diskriminierung!
  • Für das Recht aller politischen und sozialen Gruppierungen (mit Ausnahme faschistischer und offen gewerkschaftsfeindlicher), sich in den Gewerkschaften zu versammeln, zu artikulieren und Fraktionen zu bilden!

Zusammengefasst bedeutet das, dass wir innerhalb der Gewerkschaften eine klassenkämpferische Basisbewegung aufbauen müssen, die auch bereit ist, nicht nur als „linke Bürokrat:innen“ Entscheidungen zu treffen, sondern sich gegen die Bürokratie selbst richtet. Deswegen ist es auch zentral, dass man dafür eintritt, dass Streik- und Aktionskomittees in Betrieben, an Unis und Schulen gebildet werden. Diese helfen nicht nur, Proteste stärker im Alltag zu verankern, sie sowie weitere Aktionen zu planen, sondern sollten letzten Endes über die Forderungen des Streiks, die Durchführung dessen und den Fortgang der Bewegung an sich entscheiden, beispielsweise indem Delegierte gewählt werden, die rechenschaftspflichtig sowie wähl- und jederzeit abwählbar sind – anders als in bürokratisierten Gewerkschaften.

  • Für die Wählbarkeit und jederzeitige Abwählbarkeit der Funktionär:innen! Niemand darf mehr verdienen als ein durchschnittliches Facharbeiter:innengehalt!

Kämpfe verbinden und zuspitzen!

Kurzum: Auf den ersten Blick sind die Gewerkschaften nicht die liebsten Bündnispartnerinnen. Gleichzeitig können sie mächtige Kampforgane verkörpern, um die eigenen Ziele durchzusetzen, insbesondere wenn es darum geht, Bewegungen nicht nur anzustoßen, sondern zum Erfolg zu bringen und reale Verbesserungen zu erkämpfen. Das ist jedoch keine Zufälligkeit, nichts, was spontan aus dem Moment heraus passiert, sondern letzten Endes eine Frage der politischen Grundlage. Es ist also an uns, ob wir die Gewerkschaften in Instrumente verwandeln, die der Frauenstreikbewegung dienlich sind.

Gleichzeitig wollen wir als Marxist:innen nicht dabei stehen bleiben, Bewegungen aufzubauen, sondern glauben, dass Klassenbewusstsein nicht innerhalb des kapitalistischen Systems verbleiben darf. Ein Kleinkrieg gegen die Auswirkungen ist nicht ausreichend und wird soziale Unterdrückungen nicht beenden. Stattdessen muss gleichzeitig versucht werden, den Kapitalismus zu zerschlagen. Das ist auch vielen innerhalb der Frauenstreikbewegung klar. Wir treten deswegen  für Forderungen wie Kollektivierung der Sorge-/Carearbeit, finanziert durch die Enteignung der Reichen, ein – also solche, die das kapitalistische System an sich infrage stellen. Unserer Meinung nach kann  mit einem politischen Programm von Übergangsforderungen der Arbeiter:innenklasse eine Strategie und das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer proletarischen Revolution vermittelt werden. Also lasst das Motto „Wenn wir streiken, steht die Welt still“ auch hierzulande wahr werden! Lasst uns unsere Forderungen in die Frauen- und Bewegung anderer sozial Unterdrückter hineintragen und einen Frauenstreik organisieren, der nicht an Landesgrenzen haltmacht – mit dem Ziel, der Wurzel der Frauenunterdrückung – dem Kapitalismus – den Garaus zu machen!

Anhang: Beispielhaft Streiks

Beispiel 1: Der Kampf gegen die Streichung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall 1996

1996 verfolgte die Kohl-Regierung den Plan, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu kürzen.

Im Kampf dagegen nahmen die Beschäftigten der großen Automobilkonzerne eine Schlüsselrolle ein, indem sie gegenüber den ursprünglichen, zaghaften und halbherzigen Ansätzen der IG-Metall-Spitze vorpreschten und die Arbeit niederlegten. Neben der Wut und Entschlossenheit der Beschäftigten in diesen Betrieben war die Stärke gewerkschaftsoppositioneller Betriebsratsgruppierungen wie bei Daimler Mettingen oder im Bremer Mercedes-Werk wichtig, um diese Kampfbereitschaft zur Aktion zu bündeln und zu führen. Massenaktionen und wilde Streiks brachten das Gesetzesvorhaben schließlich zu Fall.

Beispiel 2: Frauenstreik am 8. März 2017 in Lateinamerika

2017 kam es in Lateinamerikas zu länderübergreifenden Frauenstreiks. Ursprung dieser Massenbewegung war die 2015 entstandene Kampagne „Ni una menos“ („Nicht eine weniger“), die sich gegen misogyne Gewalt, für das Recht auf Abtreibung und für Rechte Indigener Frauen einsetzte. Die Bewegung entstand in Argentinien und breitete sich in den folgenden Jahren in Lateinamerika und darüber hinaus aus. Einen Höhepunkt der Bewegung bildete der länderübergreifende Frauenstreik 2017. Er Streik wies eine breite gesellschaftliche Beteiligung von Akademikerinnen, Arbeiterinnen, Studentinnen und Erwerbslosen auf. Dadurch konnte in Argentinien Druck auf die Gewerkschaften ausgeübt werden, so dass diese die Forderungen der Frauen übernahmen und zur Arbeitsniederlegung aufgerufen hatten. Aber auch in Mexiko, Chile und Uruguay gab es unter anderem große Streiks, wo Frauen die Arbeit niedergelegt haben. Dies zeigt uns, wie eine breite Beteiligung Druck auf Gewerkschaften ausüben kann, feministische Themen und antirassistische Themen zusammengebracht werden können und ein solcher Kampf auch über Ländergrenzen hinweg geführt werden kann.

Beispiel 3: Un Dia Sin Nosotras – Frauenstreik 2020 in Mexiko

Am 8. März 2020 streikten Frauen in Mexiko unter dem Motto „Un Dia Sin Nosotras“ (Ein Tag ohne uns) aufgrund der steigenden Geschlechtergewalt und Femi(ni)zide im Land. Frauen und Gewerkschaften riefen dazu auf, ihre berufliche und häusliche Arbeit an diesem Tag niederzulegen. Neben den Demonstrationen und Kundgebungen, gab es an dem Tag auch Versammlungen, Veranstaltungen und Diskussionsrunden, bei denen Frauen Ihre Forderungen äußern konnten, was zu einer Förderung des Bewusstseins und der Solidarität beigetragen hat. Durch den Streik zeigten die mexikanischen Frauen die Wichtigkeit ihrer Präsenz und ihrer Arbeit für die Gesellschaft und, wie sie in Form eines Streiks Druck auf den Staat ausüben können.




Erklärung der VKG zur Bilanz der großen Tarifrunden

Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften, 19. Januar 2024, Neue Internationale 280, Februar 2024

Reallohnverlust trotz Kampfkraft und Mobilisierung – Die Lehren für kämpferische Gewerkschafter:innen

Die Tarifergebnisse seit Herbst 22 sind für alle großen Branchen sehr ähnlich. Als Gewerkschafter:innen müssen wir uns fragen, ob das Zufall ist. Wir müssen den Blick über den Tellerrand unserer Branche heben. Wir müssen uns fragen, ob die gewohnte Beurteilung von Tarifergebnissen so noch taugt.

Tarifforderungen orientieren sich immer hauptsächlich an der Inflation, in den Industriegewerkschaften auch an der Produktivitätssteigerung. Das Ergebnis wird daran gemessen, wie viele der Forderungen erfüllt worden sind. Innerhalb der jeweiligen Gewerkschaften geht es immer darum, ob mehr drin gewesen wäre. Von Seiten der kämpferischen Belegschaften und Mitglieder, genauso von der Gewerkschaftslinken gibt es seit Jahrzehnten die wiederkehrende Kritik, dass mehr hätte erreichen werden können, dass die Kampfkraft nicht ausgeschöpft worden sei.

Die übliche Argumentation der Tarifverantwortlichen und der Sekretär:innen war stets, dass nicht genug gekämpft worden sei, entweder von den Kritiker:innen oder von anderen Teilen der Mitgliedschaft oder auch von anderen Teilen des Gewerkschaftsapparates, der nicht so toll ist wie man selber. Letztlich gingen die Debatten immer darum, ob die fehlende Kampfkraft Schuld des Apparats oder der Kolleg:innen war.

Diese Art der Ergebnisdiskussion, die von allen Seiten die Frage der Kampfkraft ins Zentrum stellt, ist uns allen in Fleisch und Blut übergegangen, ja sie war im Grunde ein Teil des Tarifrituals geworden. Nach den letzten Tarifrunden müssen wir uns selbst eingestehen, dass wir als kämpferische Kolleg:innen oder als Gewerkschaftslinke darüber hinausgehen müssen, denn diese Tarifrunden waren einfach etwas anders.

Keine Diskussion der Forderungen …

Es gibt seit Jahren eine Entwicklung in den DGB-Gewerkschaften, dass die Basis aus dem Prozess der Forderungsdiskussion und -aufstellung herausgedrückt wird. Bei der IGM durften zum Beispiel  nur vorgegebene  Forderungsniveaus angekreuzt werden, wobei 8 % das Höchstmögliche war – zu dieser Zeit war das gerade die aktuelle Inflationsrate. Die Zeiten, als einfach jeder Vertrauensleutekörper seine Forderungen auf einer örtlichen Funktionärskonferenz präsentieren und diskutieren konnte, sind lange vorbei.

Beim TV-L wurde diesmal eine neue Qualität erreicht. In GEW und ver.di wurden Diskussionen über die Forderungen zugunsten einer „Befragung“ abgesagt/verhindert (??).  Die dann von der Führung aufgestellte Forderung wurde in dieser Befragung nicht erwähnt, dann aber als „deren Ergebnis“ verkündet.

Eine solche Art von gesteuerter „Diskussion“ erlaubte es der Führung, eine Forderung aufzustellen, die sie offensichtlich von vornherein beabsichtigt hatte. Warum aber haben die Spitzenbürokrat:innen nicht im Vorfeld offen für diese geworben? Die Argumente, mit denen sie diese Forderung rechtfertigten, hätten sie auch schon 2 Monate zuvor in einer demokratischen Debatte innerhalb der Gewerkschaften vorbringen können, nämlich dass der öffentliche Dienst doch eine Gemeinschaft sei, egal ob Bund, Länder oder Kommunen, dass die wirtschaftliche Lage ähnlich, die Inflation vielleicht sogar etwas zurückgegangen sei. Ganz offensichtlich sollte nicht nur genau diese Forderung durchgedrückt, sondern auch eine innergewerkschaftliche Debatte vermieden werden. [i]

Ergebnis abseits der Forderungen …

In den meisten anderen Branchen war das anders. Trotz aller Bemühungen der Führung, die Forderungen niedrig zu halten, hatte es bei Metall und Elektro, bei der Post, der Bahn oder dem TVöD eine lebhafte Debatte gegeben, angeheizt von der Inflation, den fetten Gewinnen in vielen Bereichen und den miesen Abschlüssen in den Jahren davor. Teilweise wurden die Forderungen sogar höher gedrückt. Aber im Rückblick war das vergeblich, denn offensichtlich waren für die Ergebnisse diese Forderungen nicht maßgebend.

Branche Gewerkschaft Laufzeit gefor-dert Laufzeit verein-bart 1. Tab.-Erhöh. nach x Monaten Einmal-zahlungen steuer- +abgabenfrei Tab.-Erhöhung Warnstreik, Streik , usw
Chemische Industrie IG BCE   27 14 1.500+1.500 3,25 %+3,25 % Fehlanzeige
Metall- und Elektroind. IG Metall 12 24 8 1.500+1.500 5,2 %+3 3 % Ca. 900.000 in Warnstreiks
Post Ver.di 12 24 14 In Summe 3.000 4,7 % 85,9 % für Streik in Urabstimmung, kein Streik
TVöD Ver.di 12 24 14 1.240+8*220 200+5,5 %(min 340 Euro) Starke Warnstreiks
Bahn EVG 12 25 9 2.850 200+210 2 halbe Tage Warnstreik Schlichtung 48 % gegen Schlichterspruch
TV-Länder Ver.di, GEW,.. 12 25 12 1.800+10*120 200+5,5 % Durchschnittlich 3 Tage Warnstreiks
Stahlindustrie IG Metall 12 22 14 1.500+10*150 5,5 % 18.000 in Warnstreiks, 30.000 in Tagesstreiks

Es ist nichts Neues, dass die Ergebnisse immer weniger mit den jeweiligen Forderungen vergleichbar sind. Andere Laufzeiten, die Vermengung von Festbeträgen, prozentualer Steigerung, Einmalzahlungen, Besserstellung einzelner Beschäftigtengruppen oder neue Sonderzahlungen wie bei der IGM haben einer Diskussion in der Mitgliedschaft schon die Grundlage weitgehend entzogen, die Ergebnisse mit den Forderungen wirklich zu vergleichen.

Die steuer- und abgabenfreien Einmalzahlungen („Inflationsausgleichsprämie“) als bestimmendes Element für das jeweils erste Jahr der Tariflaufzeit bringen noch eine neue Qualität hinzu: Sie wirken sich für jede/n individuell unterschiedlich aus.

Die Tatsache, dass aber in keiner Tarifrunde diese Einmalzahlungen gefordert oder bei der Forderungsaufstellung diskutiert wurden, obwohl gerade bei den Beschäftigten der Länder ja mit der Übernahme der Forderung von Bund+Kommunen klar war, dass die Übernahme des Ergebnisses angestrebt wird, zeigt noch mal mehr die tiefsitzende Verachtung der Gewerkschaftsführung für innergewerkschaftliche Demokratie.

Kampfkraft spielt offensichtlich keine Rolle

Aber nicht nur die Forderungsaufstellung hatte wenig Einfluss auf die Ergebnisse, auch der Verlauf der jeweiligen Tarifrunde. Ein Überblick über die großen Tarifrunden zeigt, dass sich die Ergebnisse sehr ähnlich sind, der Verlauf der Tarifrunden aber extrem unterschiedlich. Zum Zweiten enthalten alle steuer- und abgabenfreie Einmalzahlungen, meist in Summe von 3.000 Euro, etwas, was in keiner einzigen Tarifforderung auch nur ansatzweise aufgetaucht war. Drittens haben alle mit erheblich längerer Laufzeit als gefordert abgeschlossen.

Die Tarifkämpfe, in denen, für sich betrachtet, die gezeigte und entwickelbare Kampfkraft am wenigsten genutzt wurde, um einen Reallohnverlust zu verhindern, waren Metall- und Elektroindustrie, Post, TVöD, Bahn(EVG) und Stahlindustrie.

Die Tarifrunde TV-L, die erst im Herbst 2023 abgewickelt wurde, war also nicht diejenige, in der die Mobilisierung der Beschäftigten am krassesten einem schlechten Ergebnis gegenüberstand. Der TV-Länder leidet nach wie vor daran, dass die Belegschaften in den Flächenländern schlecht organisiert bzw. verbeamtet sind, im Unterschied zu den Stadtstaaten. Aber aus ihrem ganzen Verlauf wurde klar, dass sie nach dem Willen der Gewerkschaftsführung genau zu diesem Ergebnis führen sollte, das abgeschlossen wurde: Auf die Unterdrückung der Forderungsdiskussion folgte die diktierte Übernahme der Forderung für den TVöD, dann die Übernahme desselben Ergebnisses, bis auf 25 statt 24 Monate Laufzeit.

Mehr Kampfkraft alleine hätte also dieses Ergebnis nicht verbessert, sondern nur schneller erreicht; Mit weniger Kampfkraft wäre vielleicht noch eine Runde Warnstreiks mehr nötig gewesen. Es reicht also nicht, wenn wir weiter über Kampfkraft und ihre Entwicklung reden, ohne zu verstehen, warum und wie dieser offensichtliche Zielkorridor für die Tarifergebnisse zustande kam und welche Konsequenzen wir daraus ziehen müssen.

Konzertierte Aktion

Die Erklärung für den besonderen Verlauf der Tarifrunden finden wir in der Konzertierten Aktion, einem Treffen von Regierung, Arbeit„geber“:innen-Verbänden und Gewerkschaftsspitzen. Von 1967 bis 1977 fanden auf der Basis des „Stabilitätsgesetzes“ regelmäßig entsprechende Treffen statt. Im Sommer 2022 wurde das Modell wieder aus dem Hut gezaubert. Eigentlich hatten diese Treffen keine Regeln, sie sind freiwillig. Aber wer hingeht und selbst Vorschläge macht, macht dann auch beim Gesamtpaket mit. In mehreren Paketen wurden im Sommer und Herbst alle möglichen Entlastungen für die verschiedensten Teile der Bevölkerung vereinbart, die dann z. B. von der Regierung umgesetzt wurden. Was die Kapitalvertreter:innen forderten, kann man sich leicht vorstellen – das, was sie eh ständig und laut für sich reklamieren. Ob sie sich zu irgendwas verpflichteten, bleibt unklar. Auf jeden Fall bekamen sie etwas geschenkt, nämlich die Möglichkeit, jedem/r Beschäftigten 3.000 Euro steuer- und abgabenfrei als Inflationsausgleich zu zahlen – statt diesen die dringend nötigen und von diesen stark eingeforderten Lohn- und Gehaltserhöhungen zuzugestehen.

Die Gewerkschaftsspitzen haben das nicht nur zugelassen, sondern pro-aktiv unterstützt. Es gibt sogar Gerüchte aus der IG BCE, dass diese Idee von Seiten der IG Metall und IG BCE eingebracht worden sei. Auf jeden Fall war das erklärte Ziel der Konzertierten Aktion (K. A.), die „Inflation zu bekämpfen“, was für Kapital und Regierung nie heißt, die Preiserhöhungen zurückzunehmen. Schon gar nicht 2021 – 2022, wo in kurzer Zeit die Preise, vor allem die Verbraucherpreise hochschnellten und das, nachdem die Gewerkschaften schon in der Coronakrise praktisch keine Lohnerhöhungen hatten durchsetzen können.

Dennoch haben sich die Gewerkschaftsspitzen dieser Logik der K. A. unterworfen. Für ein angebliches Gesamtinteresse des Landes wurden ganz offensichtlich durchgehend flächendeckende Reallohnverluste vereinbart. Das ist eine Verschärfung der üblichen Sozialpartner:innenschaft, die sich vor allem in Unterordnung unter bestimmte Branchenbedingungen, unter konjunkturelle Erscheinungen oder unter die Krisen einzelner Betriebe zeigt. Das ist mehr als die gewohnte Zurückhaltung im Kampf, das war die geplante Akzeptanz und Umsetzung eines nationalen Krisenprogramms, das voll zugunsten der herrschenden Klasse geht:

  • Ökonomisch, denn sie konnten ihre Gewinne sichern, z. T. beispielsweise in der Autoindustrie auf neue Rekordhöhen steigern;

  • politisch, weil es eine notwendige Antwort der Klasse auf die verbundenen Angriffe auf sie verhinderte: eine Bewegung gegen die Inflation, die Sozialkürzungen und gegen die Aufrüstung.

Dieses Ausbleiben einer solchen Bewegung ist letztlich der Grund für die massive Rechtswende in der Gesellschaft und auch in großen Teilen der Arbeiter:innenklasse. Statt Konzertierter Aktion hätte es eine von den Gewerkschaften angeführte Bewegung für „Brot, Heizung, Frieden“ geben müssen, um den Namen eines kleinen Versuches in diese Richtung zu benutzen.

Letztlich müssen wir davon ausgehen, dass es für Regierung und Kapital bei der K. A. nicht nur um die Inflation ging, sondern darum, die Gewerkschaften in das Programm einzubinden, Deutschland in der globalen Konkurrenz mit den anderen Großmächten USA, Russland, China usw. neu und aggressiver aufzustellen, aufzurüsten und Kriege vorzubereiten. Ob sie das wollten oder nicht, die Gewerkschaften sind da mit reingezogen worden.

Die Mogelpackung

Das Instrument für dieses Manöver war die steuer- und abgabenfreie Sonderzahlung. Die Regierung hat legalisiert, was normalerweise als Steuerhinterziehung und Sozialversicherungsbetrug schwer bestraft wird. Die Bosse haben sich gefreut. Die Gewerkschaften haben den Deal mitgemacht: Reallohnverzicht und Streikvermeidung für eine Einmalzahlung, die kurzfristig eine Geldklemme löst, aber nicht in tarifliche Sonderzahlungen (Urlaubs- und Weihnachtsgeld) eingeht, zukünftige Renten mindert, die Finanznot des Gesundheitswesens verschärft und von Menschen, die in der Folge Arbeitslosen-, Eltern- oder Krankengeld beziehen, zu 60 bzw 66 % zurückgezahlt wird.

Die Komplizenschaft der Gewerkschaftsspitzen wird deutlich daran, dass es kein einziges Stück Text gibt, das sich mit den Folgen dieser Zahlung auseinandersetzt.

Unter den halbkritischen Funktionär:innen gibt es schon ein paar kritische Bemerkungen dazu, die aber mit der Aussage, dass diese Zahlung „obendrauf“, also zusätzlich zu einer Tabellenerhöhung okay gewesen wäre, relativiert wurden. Diese Ansicht ist eine bewusste oder unbewusste Verschleierung der Realität. Diese Zahlung war nur für eine bestimmte Zeit zulässig und nur für einen bestimmten politischen Zweck gedacht. Niemand konnte bislang in irgendeiner Tarifrunde herkommen und vollen Ausgleich der Inflation in den Tabellen und dann noch steuerfreie Sonderzahlungen „obendrauf“ verlangen und niemand wird es zukünftig tun können. Die Gewerkschaften konnten auch nicht bei diesen Tarifrunden „obendrauf“ vereinbaren, weil sie dem Gesamtpaket zur Eindämmung der Inflation zugestimmt haben. Die steuer- und abgabenfreie Sonderzahlung ist nicht irgendein materieller/ökonomischer optionaler Baustein, sondern war das Schmierfett für eine politische Weichenstellung für eine noch engere Form der Sozialpartner:innenschaft, der direkten Unterwerfung unter das Kriegs- und Krisenprogramm der deutschen Bourgeoisie.

Unsere Antwort

Wir haben als VKG die Konzertierte Aktion kritisiert, aber wir haben ihre politische Bedeutung unterschätzt. Spätestens in der Metalltarifrunde war klar, wie das Strickmuster aussehen würde, und in dieser Runde haben wir das auch thematisiert. Ab diesem Zeitpunkt hätten wir eine Kampagne über alle Branchen gebraucht unter dem Slogan: Tabelle statt Mogelpackung Einmalzahlung! Absage an die Konzertierte Aktion und ihre Ergebnisse! Verbunden mit einer breiten Aufklärungskampagne über die finanziellen Auswirkungen und Anträgen, Unterschriftensammlungen etc. gegen die Mogelpackung und für die Aufkündigung der Konzertierten Aktion. Wir hätten klarmachen müssen, dass eine erfolgreiche Tarifrunde nur möglich wird, wenn der Rahmen der K. A. durchbrochen wird. Sozialpartner:innenschaft hat einen sehr konkreten Inhalt gehabt und sehr konkrete Form angenommen. Sie war nicht ganz die Dimension der Zustimmung zur Agenda 2010, die uns einen massiven Niedriglohnsektor, Hartz IV/Bürgergeld und eine endlose Zersplitterung der Tariflandschaft beschert hat, aber eine deutliche Steigerung über das übliche Niveau der Konfliktvermeidung und Klassenkollaboration. Wir hätten sie viel konkreter bekämpfen können und müssen.

Das wäre zugleich eine gute Gelegenheit für uns als VKG gewesen, diese Vermittlung der Erfahrungen aus der Chemie- und Metallindustrie für die anderen Branchen zu leisten. Auch wenn das manche Kolleg:innen anfangs schockiert hätte, hätten wir mit der Voraussage, auf welcher Schiene die Niederlagen organisiert werden würden, uns viel Vertrauen einbringen können.

Auch in Zukunft müssen wir uns mit einer Tarifpolitik auseinandersetzen, die nicht nach den Strickmustern des überholten Tarifrituals – mehr Mobi bringt mehr Ergebnis – funktioniert, sondern politisch determiniert wird. Das kann andere konkrete Schritte gehen, aber die Fragen der innergewerkschaftlichen Demokratie und die konkreten Abläufe werden auf jeden Fall eine Rolle spielen.

Wir müssen schon zu Beginn die Erfahrungen aufnehmen und klarstellen:

  • Forderungsaufstellung ohne Vorgaben von oben durch demokratische Debatte unter Kontrolle der Mitglieder, Vertrauensleute und Betriebsgruppen.

  • Demokratische Wahl der Tarifkommissionen. Stimmberechtigung nur für diejenigen, die dem Tarifvertrag unterworfen sind – also nicht für Hauptamtliche.

  • Keine Verschwiegenheits-, sondern Rechenschaftspflicht. Jederzeitige Abwahl durch die Gewerkschaftsmitglieder des entsprechenden Bereiches.

  • Öffentliche Verhandlungen.

  • Beim Auftauchen von Themen, die nicht Bestandteil der beschlossenen Forderungspakete waren, erneute Diskussion von unten nach oben, ob das als Thema überhaupt zugelassen wird.

  • Demokratische Wahl von Aktions- und Streikkomitees.

  • Vollständige Veröffentlichung der Verhandlungsergebnisse vor der Beratung und Urabstimmung.

  • Ersatzlose Kündigung von Schlichtungsvereinbarungen, so vorhanden.

Diese Forderungen zur Demokratisierung der Tarifbewegungen sind nicht alle neu, aber das verschärft undemokratische Vorgehen der Gewerkschaftsführungen rückt sie für die Zukunft mehr ins Zentrum.

Aber entscheidend für den Erfolg in zukünftigen Tarifrunden wird sein, dass die politischen Ziele ge- und erklärt werden müssen. Wir werden niemandem/r Ultimaten stellen und verlangen, dass man gegen den Krieg sein müsse, um in der Tarifrunde richtig kämpfen zu können. Aber wir müssen mit aller Deutlichkeit erklären, dass wir diese Tarifrunden verlieren sollen, damit die Steuerentlastungen und Subventionen für das Kapital und die Aufrüstung der Bundeswehr finanziert werden können.

Wir wenden uns mit dieser Bilanz an alle, die sich mit Ergebnissen und Abläufen der letzten Tarifrunden und dem Geld, der Kampfkraft und der Motivation, die dabei geopfert wurden, nicht zufriedengeben wollen. Diskutiert mit uns, macht mit beim Aufbau einer Vernetzung von kämpferischen Kolleginnen und Kollegen! Nach der Tarifrunde ist vor der Tarifrunde, wir müssen sie vorbereitet angehen!

Anmerkung

[i] Diese rigide Politik bezüglich der Aufstellung der Forderung und der Durchsetzung des Ergebnisses steht bei ver.di durchaus einer offeneren Gestaltung der Tarifrunden gegenüber: Die Einrichtung von „Tarifbotschafter:innen“ und „Arbeitsstreiks“ erlaubt der Basis mehr Gestaltung bei der Durchführung von Aktionen. Das ist an sich positiv und wird auch von vielen Aktivist:innen so wahrgenommen. Aber gerade der krass undemokratische Gesamtrahmen zeigt, dass die Führung hier offensichtlich nur eine Spielwiese für Aktivist:innen und linke Gewerkschaftssekretär:innen aufmachen wollte oder auf Druck von unten aufmachen musste.




Tarifkampf der EVG: Schlichtung ablehnen!

Leo Drais, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) hat sich in der überaus zähen Tarifrunde mit der DB AG auf eine Schlichtung eingelassen, nachdem sie sich bereits in der Vorbereitung der Urabstimmung über einen Erzwingungsstreik befand. Diese wird auch kommen – das Schlichtungsergebnis soll urabgestimmt werden. Es ist zu erwarten, dass die EVG dann die Annahme empfiehlt, gerade mal 25 % der abstimmenden Mitglieder reichen dafür. Demgegenüber müssten 75 % das Ergebnis ablehnen, sprich für einen Erzwingungsstreik stimmen, damit dieser stattfindet.

Schachzug der Bürokratie

Das Ganze ist ein geschickter Zug der EVG-Führung, die in den letzten drei Monaten viel dafür getan hat, nicht zu streiken, die immer wieder betont hat, Lösungen gebe es nur am Verhandlungstisch, die eine Niederlage vor dem Arbeitsgericht Frankfurt zu einem Sieg umdeutete, die mit Transdev einen Abschluss gemacht hat, zu niedrig, zu lang in der Laufzeit, den sie wie mit dem Zaunpfahl winkend auch bei der DB gern genommen hätte – nur: Nicht mal diesen Abschluss wollte die DB akzeptieren.

Der Abschluss bei Transdev, dem größten privaten Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) nach dem staatlichen der DB AG (Betreiber u. a. der Bayerischen Regiobahn, NordWestBahn, S-Bahn Hannover) beinhaltet eine Laufzeit von 21 Monaten und eine zweistufige Bruttofestgelderhöhung von 290 Euro ab November und 130 Euro ab August 2024; Nachwuchskräfte kriegen die Hälfte. Zusätzlich kommt eine Inflationsausgleichsprämie über 1.400 Euro. Daneben erfolgten Verbesserungen im Bereich der Zuschläge und noch Weiteres. Von den ursprünglichen Forderungen: Laufzeit 12 Monate, 650 Euro in die Tabelle ist dennoch nicht viel geblieben. Andere private EVU folgten dem Abschluss.

Die Bahn provozierte mit einem Angebot von 27 Monaten Laufzeit und einer Erhöhung von gerade mal 200 Euro in zwei Schritten (Dez 23, Aug 24, jeweils 100 Euro). Das „Angebot“ wurde von der Zentralen Tarifkommission (ZTK) abgelehnt und ebenso vom Bundesvorstand der EVG. Somit waren die Verhandlungen gescheitert.

Die Entscheidung ist wahrscheinlich Ausdruck von zwei Aspekten: Erstens kann natürlich eine Gewerkschaftsführung, auch wenn sie sich noch so sehr um die Sozialpartner:innenschaft mit den Bossen bemüht, nicht jeden Scheiß unterschreiben, zumal die EVG im Coronajahr 2020 komplett die Füße stillgehalten und unter dem Deckmantel der Beschäftigungssicherung eine Nullrunde unterschrieben hat – ohne irgendeine Vordiskussion mit der Basis.

Dieses Mal bemühte sich der Apparat von Anfang an, dem ganzen Verfahren einen demokratischeren Anstrich zu geben, natürlich weit ab von einer direkten Kontrolle durch die Mitglieder. Man organisierte Tarifwerkstätten und eine Mitgliederbefragung, beides mit deutlichen Schwächen. Bei Ersteren durfte zwischen drei Hauptforderungen nur eine gewählt werden, bei Zweiterer konnten alle mehrfach abstimmen, jedoch ohne, dass in dem Ergebnis irgendeine Verbindlichkeit lag; die Laufzeit fehlte gleich ganz.

Zudem hat sich in den vergangenen Jahren die Zusammensetzung des EVG-Apparates verändert. Mehr junge Gewerkschaftssekretär:innen und Ehrenamtliche sind abgefuckt davon, wie der Laden läuft. Zudem ist natürlich einerseits allen Gewerkschaftsoffiziellen klar, dass mit einem zu schlechten Abschluss Austrittswellen drohen, zum anderen, und das ist nicht zu unterschätzen, gibt es bei der Bahn anders als für die IG Metall bspw. eine relevante Konkurrenzgewerkschaft mit der GDL. Diese hat ihrerseits mittlerweile ihre Forderungen für die Tarifrunde ab Herbst aufgestellt, darunter eine 35-Stundenwoche für Schichtarbeiter:innen sowie 555 Euro mehr in die Tabelle. Schließt die EVG zu schlecht ab, gibt es für alle Mitglieder immer auch die Möglichkeit, zu ihr zu gehen, und das weiß natürlich der Apparat beider Vereinigungen.

Davon abgesehen ist es natürlich so, dass die Tarifkommissionen bei den unterschiedlichen Unternehmen anders zusammengesetzt sind.

Dann kam die DB mit dem Angebot einer Schlichtung um die Ecke und der EVG-Apparat witterte die Chance: ein guter Sozialpartner sein und gleichzeitig die Mitgliedschaft einbinden. Das Ergebnis der Schlichtung wird urabgestimmt, die Verantwortung über die Annahme der Mitgliedschaft in einem Verfahren überantwortet, das selbst formal undemokratisch ist. Am Ende klopfen sich EVG-Vizevorsitzende Cosima Ingenschay und Co. auf die Schulter und sagen: „Die Mitgliedschaft hat entschieden“, selbst wenn mehr als 50 % das Ding ablehnen sollten. Es scheint demokratisch, aber der ganze Weg dahin und die Abstimmung selbst waren und sind es nicht. Allein schon deshalb muss die Schlichtung abgelehnt werden. Immerhin einige, wenigstens die Vertreter:innen der Jugend, haben dies getan.

Annahme verweigern

Darüber hinaus ist erstens zu erwarten, dass bei der Schlichtung nicht das rauskommt, was ursprünglich gefordert wurde. Zwar gehört es zu den üblichen Ritualen in deutschen Tarifverhandlungen, weit unter den eigenen Forderungen abzuschließen, doch nur, weil es „schon immer so gemacht“ wird, wird es dadurch nicht richtiger. Warum wird nicht eskalierend vorgegangen? Eine DB, die ungestraft einfach mal 2 Monate gar nicht verhandelt hat, hätte es nicht anders verdient, als mit einem Erzwingungsstreik bestraft zu werden, wo mit jeden Tag die Forderung erhöht wird.

Zweitens muss die Schlichtung (und damit ihr Ergebnis) deshalb abgelehnt werden, weil sie nicht nur ein Zugeständnis an die Bahn darstellt, sondern auch, weil die EVG damit von dem Wohlgefallen der Schichter:innen abhängig wird. Diese kann sie zwar selbst mitbestimmen, zum Redaktionsschluss sind diese auch noch nicht bekannt, erfahrungsgemäß sind es jedoch Politiker:innen, die vorgeblich zwar über dem Konflikt stehen, jedoch immer auch das „Wohl des Konzerns“ im Blick behalten (wie die EVG-Spitze selbst auch; schließlich verteidigt sie die DB nicht aus fortschrittlichen Gründen gegen deren drohende Zerschlagung, sondern für den Erhalt des Status quo).

Wir sollten von der Schlichtung nicht mehr erwarten als den Transdev-Abschluss. Wir sollten sie deshalb ablehnen und, weil sie ein undemokratisches Verfahren ist, das am Ende mit der Urabstimmung einen demokratischen Touch erhalten soll. Unsere Mittel für einen Abschluss, der unseren Forderungen entspricht, sind noch nicht ins Spiel gebracht worden: Ablehnung des Schlichtungsergebnis, Durchführung des Erzwingungsstreiks.

Und wenn das Ganze sich schon bis in den Herbst hinzieht, dann liegt der gemeinsame Kampf mit den Kolleg:innen der GDL auch auf der Hand. Immerhin stehen wir täglich zusammen gegen diesen Konzern um Sicherheit und Pünktlichkeit auf der Schiene ein, das heißt, wir können auch zusammen gegen seinen Tarif kämpfen. Wir sollten gegenseitig die Forderungen durch die der höchsten von der anderen Seite ersetzen. Von den Führungen der EVG und der GDL gibt es in unterschiedlichem Maß daran kein Interesse, die Zusammenarbeit wird aus der Basis kommen müssen.

Genauso gilt das für ein Eintreten für wirklich demokratische Tarifrunden: Tägliche Betriebsversammlungen, direkt gewählte und rechenschaftspflichtige Vertreter:innen in der Tarifkommission. Abstimmungen über Annahme und Streik nach einfacher Mehrheit. Kann sein, dass ein solches Verfahren noch Jahre auf sich warten lassen wird. Trotzdem: Der Grundstein für eine Diskussion dazu muss jetzt in der Tarifrunde gelegt werden.

Und noch etwas müssen wir selbst in die Hand nehmen: GDL- und EVG-Chef:innen sind denkbar schlecht darin, der Medienhetze etwas entgegenzusetzen, wenn es zu Streiks kommt. Es wird einfach darauf verwiesen, dass diese rechtens seien – das heißt im Umkehrschluss dann eben auch, ein gerichtliches Streikverbot kampflos zu akzeptieren.

Streik und Reisende

Wie können die Reisenden also mitgenommen werden? Es gibt gleich mehrere Möglichkeiten. Erstens: Einbeziehung durch Erweiterung der Forderungen. Keine Fahrpreiserhöhung, kostenloser Nahverkehr und massive Angebotserweiterung, bezahlt durch die Profite von VW und Co. Zweitens: Aufklärung. Nicht die streikenden Kolleg:innen sind schuld an der Misere, sondern der Konzern und der Staat. Der Streik findet auch dafür statt, dass die Arbeitsbedingungen bei der Bahn besser werden. Verkehrswende braucht Eisenbahner:innen. Von diesen gehen in manchen Bereichen 70 – 80 Prozent in den nächsten zehn Jahren in Rente. Daher braucht es nicht nur einen massiven Ausbau des öffentlichen Verkehrs, sondern auch ein deutlich verbessertes Investitionsprogramm für Neueinstellungen!

Drittens: Gezielter Erzwingungsstreik. Es wäre durchaus möglich, gezielt und schwerpunktmäßig den Güterverkehr der Auto- und Schwerindustrie zu bestreiken und Personenverkehr zeitweilig auszunehmen, verbunden mit einem Streik im Bereich Vertrieb und Fahrkartenkontrolle. Das würde aber einen höheren Organisationsgrad brauchen und vor allem wäre dafür die Voraussetzung, dass wir als Beschäftigte den Streik selbst kontrollieren. Die Ironie wäre dann übrigens, dass der Reiseverkehr auf einmal pünktlicher wäre – in einem vollen, heruntergefahrenen Netz fällt es auf, wenn die Züge fehlen, die die bedeutendsten Industrien des Landes bedienen, also jene, die seit Jahrzehnten für einen chronische Benachteiligung der Schiene verantwortlich sind.




AfD-Landrat in Sonneberg: das Desaster der „Einheit der Demokrat:innen“

Leo Drais, Infomail 1226, 29. Juni 2023

Zehn Jahre nach ihrer Gründung stellt die AfD zum ersten Mal einen Landrat. Im südthüringischen, historisch eigentlich fränkischen Sonneberg gewann Robert Sesselmann die Stichwahl gegen den bisherigen Amtsinhaber Jürgen Köpper (CDU) mit 52,8 Prozent. Der Sieg hat die bürgerliche Welt in einen kleinen Aufruhr versetzt, das mediale Echo erreichte sogar internationale Zeitungen.

Ampelkrise und Union

Dabei kommt der Wahlsieg der sogar vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextrem“ eingestuften thüringischen AfD unter Goebbels-Nachahmer Höcke eigentlich für niemanden großartig überraschend daher. Er ist Ausdruck natürlich der lokalen, aber noch mehr der bundesweiten politischen Gemengelage, auf die die AfD sich dann auch abseits fast jeglicher kommunaler Themen von Anfang an populistisch gestützt hatte: „Themenbereiche, die jetzt konkret hier vor Ort sind, die interessieren die Leute nicht“ (Sesselmann).

Das Konzept hat gezogen und in diesem Sinne muss auch der Sieg der AfD verstanden werden, als Statement der überzeugten AfD-Wähler:innenschaft, das mehr in Richtung der Regierung zielt als auf Jürgen Köpper oder andere Lokalpolitiker:innen.

Selten war das Fressen für die AfD reichhaltiger, und es gibt keine linke Kraft, die es ihr streitig macht. Zwar ist das Thema Corona weitgehend durch, und auch wenn Sesselmann fleißig einen rassistischen Wahlkampf gefahren hat, dürfte es nicht das Thema Asyl und Migration gewesen sein, was entscheidend zum Erfolg der Rechten geführt hat.

Vielmehr ist dieser Erfolg dank der Krise der Ampelregierung und der Unfähigkeit der Union, daraus zu profitieren, zu verzeichnen. Das offenbart auch der Blick auf Sonntagsfragen zu verschiedenen Wahlen. In Thüringen würde die AfD stärkste Kraft werden, bundesweit misst sie sich mit der SPD um Platz zwei hinter der Union.

Im Ukrainekrieg ist die AfD neben Sahra Wagenknecht die einzige relevante politische Kraft, die sichtbar gegen die NATO-Unterstützung Selenskyjs auftritt. Gegen Aufrüstung hat sie natürlich auch nichts, aber sie will den deutschen Imperialismus lieber an der Seite Putins sehen, dann gibt es bestimmt auch wieder günstiges Gas. Feind:innen selbst der beschränkten bürgerlichen Demokratie unter sich!

Vor allem aber ist da das Thema Wirtschaftskrise und das von Habeck und Regierung in Arbeit befindliche Gebäudeenergiegesetz („Heizungsgesetz“), womit die AfD zur Zeit mobilisieren kann.

Während ihr Rassismus und ihre völlig irrationale Coronapolitik vor allem Affekte bedient und bediente, trifft ihre Opposition gegen die ohne nennenswerte soziale Abfederung geplante „Wärmewende“, die keine ist, die Sorgen tausender kleiner Hausbesitzer:innen auf den Kopf. Es ist doch alles was sie haben, das Kleinbürger:innentum und verbürgerlichte Teile der Arbeiter:innenklasse. Der Blick nach Sonneberg bestätigt diese Analyse bis zu einem gewissen Grad auch. Sonneberg ist keine abgehängte Region. Als Zentrum der Spielwarenindustrie hat die Stadt keine massive Deindustrialisierung wie viele andere Orte in der ehemaligen DDR durchgemacht.

Eine grundlegende Analyse geht den Kommentaren in bürgerlichen Medien oft ab. Wer wählt die AfD? Es ist vor allem eine Partei der Kleinbürger:innen, der Akademiker:innen und Mittelschichtler:innen. Das heißt nicht, dass sie nicht auch von Arbeiter:innen gewählt wird, aber ihr Programm und ihre sozialen Wurzeln sind kleinbürgerlichen Ursprungs.

Ängstliche Kleinexistenzen

Trotzdem ist die soziale Lage von gehobeneren Teilen der Arbeiter:innenklasse mit der großer Teile des Kleinbürger:innentum durchaus vergleichbar.

Beide, Kleinbürger:innen und Arbeiter:innenaristokratie, machen zusammen den größten Teil der Eigenheimbesitzenden in Deutschland aus bzw. derer, die sich bis an ihr Lebensende bei der Bank verschuldet haben, um so zu tun, als gehöre ihnen ein kleiner sicherer Hort auf der Welt, die brennt. Und weil sie brennt, wird das, was man sich hart erarbeitet hat, als bedroht wahrgenommen, wobei Corona, Krieg, Klimakrise (Für die der Mensch natürlich nichts kann, und gibt es sie überhaupt?) und Inflation diese Verlustängste bestätigen und befeuern.

Wenn die Finanzierung des eigenen Lebens mit scheinbarer Unabhängigkeit wie einem Haus (das einen dann an einen Ort bindet, von dem man nur mit der angeblichen Freiheit Auto wieder wegkommt) sowieso schon auf Kante genäht ist, dann kann so eine staatlich verordnete Wärmepumpe schon mal ein Schlag ins Kontor sein.

Die AfD findet hier einen nicht zu unterschätzenden Anknüpfungspunkt realer Sorgen. Weil eine rationale Opposition gegen Krise und Ampel fehlt, kann sie sich hier aufbauen. An tatsächlichen Mitschuldigen der Misere – Habeck, Baerbock, Scholz usw. – wird eine falsche Kritik geübt, eine die darauf hinausläuft, in Verteidigung des „hart arbeitenden kleinen Mannes“ eine wütende irrationale Sündenbocksuche zu betreiben, wo Ursachen und Wirkungen gegeneinander vertauscht oder geleugnet werden oder auf die eingetreten wird, die noch unter einem/r stehen.

Die Kritik am „Genderwahn“, der Hass auf Geflüchtete und Migrant:innen findet eine unheilvolle Zusammenkunft mit der einzigen sichtbaren Opposition im Bundestag gegen die Abwälzung der Krisenkosten auf die Allgemeinheit. In dieser Lage wird die AfD für viele wählbarer, so wie es einst die NSDAP wurde. „Die machen wenigstens ihr Maul auf!“ „Die lassen nicht alles mit sich machen!“, wobei Weidel und Höcke auch der Vorteil zuteil wird, dass sie bisher in keiner Postion mit politischer Verantwortung saßen und daher bisher nicht zu den willigen Vollstrecker:innen des deutschen Kapitals wurden, das selbst bisher auch (noch) kein Interesse daran, äußert, auf sie zu setzen.

Sollten sie eines Tages in dieser Position sitzen (bequem und auskömmlich mit den Steuern des „kleinen Mannes“ bezahlt), so werden sie von den Peitschenhieben auf die, die sie wählten, mit Knüppelschlägen auf die ablenken, gegen die sie heute ihren Rassismus und Sexismus entfachen.

Robert Sesselmann sitzt in keiner solchen Position.

Er wird auf lokaler Ebene verwalten und „denen da oben“ die Schuld für alles geben können, was nicht läuft, und diese werden dazu genug Angriffsfläche bieten. Er wird einen fortgesetzten Wahlkampf für Björn oder Joseph Höcke-Goebbels fahren, nächstes Jahr sind Landtagswahlen in Thüringen.

Bauchlandung der Demokrat:innen

Was in Erfurt praktiziert wird, ist jedoch in Sonneberg gescheitert. Die „Einheit der Demokrat:innen“ ist auf dem Bauch gelandet. Im Erfurter Landtag hält die CDU de facto die Minderheitsregierung Ramelows aus. Um die nächsten Landtagswahlen steht es noch prekärer.

Für die CDU ist das in gewisser Weise alternativlos, was nicht heißt, dass sie Rot-Rot-Grün nicht auch fleißig von rechts unter Druck setzen kann. Bisher jedenfalls kann sich die Union noch kein Zusammengehen mit der AfD leisten, die in so vielen Punkten den Erfordernissen der deutschen Kapitalist:innen entgegensteht (Außenpolitik, „grüne“ Industrie …).

Für alle Linken und DIE LINKE ist eine „Einheit der Demokrat:innen“ jedoch nicht nur nicht alternativlos, sondern für sie und die Arbeiter:innenklasse (2023 in erster Linie politisch) tödlich. Die Mitverwaltung des Kapitalismus in Landesregierungen, die absolut unzureichenden Antworten auf die Krise mit dem Bestreben, vielleicht doch von SPD und Grünen auf Bundesebene zum Mitregieren eingeladen zu werden, die Unfähigkeit, eine konkrete Perspektive zu weisen und Kämpfe abseits des Parlamentarismus zu führen, bedeuten, dass die AfD kaum auf Konkurrenz trifft, wenn es um das Kanalisieren von Wut auf die Regierung geht.

Denn eigentlich liefert diese genug Vorwände, um als Linke zu wachsen. Beispiel „Heizungsgesetz“: Die Energiewende ist notwendig. Aber sie muss nicht durch die Arbeiter:innenklasse oder das Kleinbürger:innentum bezahlt werden. Statt das Land mit Millionen kleiner Privatwärmepumpen zu bestücken, sollte es pro Gemeinde ein zentrales E-Heizwerk mit Kraft-Wärme-Kopplung geben, bezahlt durch die fossilen Profite von RWE und Co. Damit ließe sich dann auch auf lokaler Ebene gegen einen Robert Sesselmann kämpfen.

Mit einer „Einheit der Demokrat:innen“ ist so eine antikapitalistische Perspektive jedoch unmöglich. Die Politik von Ampel und CDU besteht ja gerade darin, ein realpolitisch-kapitalistisches Es-geht-nicht-anders zu fahren.

Statt einer Einheit der Demokrat:innen muss die Linke auf eine Einheitsfront der organisierten Arbeiter:innenklasse hinwirken – gegen die AfD, aber eben auch gegen die Regierung. Es ist der einzige Weg, der mittelfristig der rechten Gefahr wirklich etwas entgegenstellen kann. Versagt die Linke darin, so wird die letzte Landtagswahl in Thüringen nicht die einzige Wiederholung der Geschichte gewesen sein (siehe: https://arbeiterinnenmacht.de/2020/02/10/tragoedie-und-farce-in-thueringen/).

Versagt sie darin nicht, könnte aus so einer Einheitsfront eine Partei entstehen, die eine wirkliche Alternative formuliert, eine Alternative zum Kapitalismus, der zwangsläufig zu Höckes und Sesselmännern führen muss, wenn er nicht überwunden wird.




TVöD/Bund und Kommunen: Bürokratie redet sich auch die Mitgliederbefragung schön

Mattis Molde, Infomail 1223, 20. Mai 2023

27 % haben sich beteiligt, 66 % haben zugestimmt, also 34 % abgelehnt. Rund zwei Drittel der ver.di-Mitglieder in Bundesverwaltungen, Behörden, kommunalen Einrichtungen und Unternehmen haben also den Tarifvertrag im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen (TVöD/BK) angenommen.

Rund ein Drittel lehnte einen Abschluss, der deutlich unter der Inflationsrate blieb und einem Reallohnverlust gleichkommt, ab. Es durchschaute offenkundig das sozialpartnerschaftliche Spiel der Bürokratie. Zur Einschätzung des Abschlusses siehe: Tarifverhandlungen öffentlicher Dienst: Nein zum Abschluss!

Doch klar, zwei Drittel sind auch genug, um den Abschluss nachträglich zu legitimieren. Zwei Drittel sind Grund genug für die Verantwortlichen in ver.di, dem Ergebnis zuzustimmen, nachdem auch das Störmanöver der sächsischen Nahverkehrsbetriebe ausgeräumt war.

Solche Einwände am Ende eines umstrittenen Abschlusses sind übrigens so häufig, dass sie geradezu als Bestandteil des Tarifrituals bezeichnet werden müssen. Ob inszeniert oder nicht, auch der dreckigste Deal der Gewerkschaftsführung bekommt dadurch am Ende nochmal den Glanz des erkämpften Erfolges.

Und so wie Gewerkschaftsspitzen schon das Verhandlungsergebnis schönredeten und -rechneten, so wird natürlich auch das Ergebnis der Befragung zum Beweis für funktionierende „Demokratie“ umgedeutet.

Was bedeutet das Ergebnis?

Ist es 73 % egal, was rauskommt? Sind sie unentschieden? Zwischen „gut oder schlecht“ oder „schlechter Abschluss, aber was jetzt noch ändern“? Es gibt auf jeden Fall Gründe, sich nicht an der Befragung zu beteiligen, die keineswegs eine passive Zustimmung zum Kurs der Gewerkschaftsführung signalisieren, sondern Ausdruck von Unzufriedenheit sind, verbunden mit der Unfähigkeit, eine bewusste Kritik am Abschluss, am Ablauf der Tarifverhandlungen oder an der Gewerkschaftspolitik allgemein zu entwickeln.

Natürlich bildet die verbreitete Passivität auch der organisierten Gewerkschaftsmitglieder die Grundlage dafür, eine Passivität, die aber aufs Beste und bewusst von der Bürokratie in Gewerkschaft, Betriebs- und Personalräten gefördert wird, die immer behauptet, „für Euch“ zu handeln, was das „statt Euch“ mit einschließt. Nur angesichts dieser Situation liegt Christine Behle nicht falsch, die eine Quote von 27 % eine gute Beteiligung nennt. Schließlich ist die Befragung ja in keiner Weise bindend. Auf das Ergebnis hat, das war immer klar, ihr Resultat faktisch keinen Einfluss. Das niedrige Engagement der Mitglieder ist aber zugleich das, was die Bürokratie gerne will. Sie sollen nur dann und nur so aktiv werden, wie es in ihre Konzepte passt. Außerhalb von Tarifrunden ist für die Masse der Mitglieder im Grunde keine Engagement vorgesehen, das über die Bezahlung von Beiträgen hinausgeht.

Die Befragung als solche ist ja durchaus so gestaltet, dass sie den Einzelnen eine Entscheidung überlässt, die eigentlich der Beratung und Debatte bedarf. So besitzen die Gewerkschaftsführung (und die bürgerlichen Medien!) die Hoheit über die Informationen zum Verhandlungsergebnis. Kritik wird unterdrückt, Alternativen können nicht oder nur in vergleichsweise gut organisierten und aktiven Sektoren diskutiert werden. Für die Masse der Mitglieder findet eine Diskussion faktisch nicht statt.

Wir müssen die Befragung folglich danach bewerten, wie hoch die aktive Unterstützung für die Politik der Führung ausfällt, und die ist mit 17,82 % nicht wirklich berauschend. Mehr als 9 % bewusste Ablehnung stellen ein echtes Potential für eine oppositionelle und kämpferische Bewegung von unten dar. Dieses muss aber organisiert werden.

Das einzelne Mitglied – und als solches wird es ja befragt – kann kaum eine volle Analyse eines Abschlusses durchführen, dessen Inhalt schon ausreichend kompliziert gestaltet worden ist. Schon gar nicht kann es beurteilen, wie die Kampfbereitschaft bundesweit ist und potentiell entwickelt werden kann.

Dazu ist eine Bewegung nötig, die nicht nur Aktive an der Basis vernetzt und den Informationsvorsprung der Bürokratie versucht auszugleichen, sondern die auch eine konkrete alternative Strategie und Taktik in Tarifrunden entwickelt, die von den Interessen der Beschäftigten und nicht denen des Staates und der Arbeit„geber“:innen ausgeht, also letztlich auf einer anderen Politik als der SozialpartnerInnenschaft basiert.

Die – am Beispiel dieser Tarifrunde – für die Kündigung des Schlichtungsabkommens kämpft, das der Gegenseite das Heft des Handelns in die Hand gibt, gegen die Beteiligung an einer „Konzertierten Aktion“ Sturm läuft, bei der die Spitzen der Gewerkschaften Deals mit Kapital und Kabinett ohne jegliche politische Legitimation durch die Basis aushandeln, und die dafür eintritt, dass Mitgliederversammlungen über Verhandlungsergebnisse entscheiden.




Krieg und Krise – und die Gewerkschaften?

Martin Suchanek, Neue Internationale 273, Mai 2023

Der Beginn des Ukrainekriegs markiert eine neue weltpolitische Lage. Die wachsenden innerimperialistischen Rivalitäten – der Niedergang der US-Hegemonie, der Aufstieg Chinas als neuer Großmacht, die Krise der EU, aber auch Russlands – prägen das Weltgeschehen. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt hat längst begonnen, nicht nur um die Ukraine, sondern in praktisch allen Regionen des Globus, ob nun um Taiwan oder im Nahen Osten.

Ökonomie und Geopolitik

All dies findet vor dem Hintergrund einer veritablen, tiefen ökonomischen Krise statt, einer weltwirtschaftlichen Lage, die von Stagflation, einer Kombination aus hoher Inflation und Stagnation, geprägt sein wird. Auch die bürgerlichen Augur:innen der globalen Ökonomie, die Wirtschaftsweisen von IWF, Weltbank, OECD oder der Bundesrepublik sprechen das offen aus.

Beim Krieg um die Ukraine zeichnen sich nach einem Jahr zwei mögliche Perspektiven ab. Entweder wird er zu einem länger andauernden Stellungskrieg werden oder wir erleben im Laufe des Jahres – natürlich auf Kosten der Ukraine – diplomatische Initiativen zur Befriedung, so dass auf die imperialistische Konfrontation ein nicht minder reaktionärer, imperialistischer Frieden folgt.

An den ökonomischen und geostrategischen Konflikten wird das aber nichts grundlegend ändern. Die Tendenz zur Fragmentierung des Weltmarktes wird zunehmen. Blockbildung und verschärfte Konkurrenz werden die Folge sein. Die Überakkumulationskrise und fallende Profitraten, die die Ursache der stagnativen Tendenzen bilden, werden sich verschärfen. Es geht nicht einfach darum, eine Wirtschaftskrise zu lösen. Es geht darum, welche Großmacht, welche imperialistischen Staaten oder Staatengruppen die Krise zu ihren Gunsten – und das heißt auf Kosten der anderen – lösen können.

Nationaler Schulterschluss

Daher ertönt überall der Ruf nach dem „nationalen Schulterschluss“ – sei es im Namen der „nationalen Rettung“ wie in Putins Despotie, sei es im Namen von „Freiheit und Demokratie“, die Bundesregierung und der gesamte Westen für sich reklamieren.

Schließlich macht es sich immer besser, wenn es gelingt, der Masse der Bevölkerung – und das heißt vor allem den Arbeiter:innenklassen – die imperialistischen Interessen des „eigenen“ Staates und die Profitinteressen des „eigenen Kapitals“ als Missionen für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte zu verkaufen. Schließlich lassen sich so die Kosten eines Wirtschaftskrieges, von gigantischen Preissteigerungen und einer „ökologischen“ Wende vom russischen Gas zum LNG-Terminal leichter verkaufen.

Und schließlich müssen die Lohnabhängigen auch dafür zahlen (und gegebenenfalls auch als Soldat:innen bereitstehen). Für ihre imperialen Interessen nehmen die NATO-Staaten, die USA, aber auch die Bundesregierung nicht nur Inflationsraten von 10 % in den eigenen Ländern, sondern auch gleich die Verarmung der Ärmsten der Welt, Hyperinflation von 30, 40 oder gar 100 % und drohende Pleiten in Ländern wie Argentinien und Pakistan, der Türkei und Sri Lanka in Kauf.

Der Kampf gegen die Klimakatastrophe ist zu einer reinen Farce geworden. Flutkatastrophen und Dürren, Schmelzen der Gletscher – ob nun an den Polen oder in den Alpen – und damit Hunger, Not, Vertreibung von hunderten Millionen sind der Kollateralschaden, sind Opfer des gegenwärtigen Kampfes um die Neuaufteilung der Welt und des neuen Kalten Krieges zwischen alten und neuen imperialistischen Mächten.

Millionen und Abermillionen werden zu Flüchtlingen, zur Migration gezwungen – aufgrund von Kriegen, Klimakatastrophe oder einfach von Armut und Ausplünderung der Länder des globalen Südens. Und diesen Millionen und Abermillionen verwehren die kapitalistischen Großmächte die Einreise. Migration soll stattfinden – aber nur selektiv, im direkten Interesse des Kapitals. Die anderen werden in menschenunwürdigen Lagern an den Außengrenzen der EU oder den USA „abgefangen“ oder finden beim Versuch, „illegal“ die Grenzen zu überschreiten, gar den Tod.

Soziale Lage

Keines der Probleme der Welt – und auch keines der großen Probleme in Deutschland – wird von den Herrschenden dieser Welt angegangen, geschweige denn gelöst. Im Gegenteil: gigantische Preissteigerungen, vor allem bei Energie, Lebensmitteln und Wohnen, erhöhte Arbeitshetze, wachsender Billiglohnsektor, Kürzungen, Bildungs- und Gesundheitsnotstand prägen unser Leben. Und zwar das von allen Lohnabhängigen. Besonders betroffen sind dabei die Migrant:innen und Geflüchtete, Frauen und sexuell Unterdrückte, ungelernte Arbeiter:innen, Jugendliche und Rentner:innen.

Die Reallöhne sanken 2022 das dritte Jahr in Folge. Im Durchschnitt betrug der Einkommensverlust der Lohnabhängigen im letzten Jahr 4,1 %. Für 2023 ist mit keinem nennenswerten Rückgang der Verbraucher:innenpreise zu rechnen.

Praktisch alle Lohnabschlüsse blieben also in den letzten drei Jahren unter dem Niveau, das nötig wäre, die Einbußen infolge von Pandemie, Rezession oder Inflation auszugleichen. Von einer Abgeltung von Produktivitätszuwächsen, gesteigerter Intensität der Arbeit oder höherer Flexibilisierung ist hier noch gar nicht die Rede.

Praktisch alle Tarifabschlüsse 2023 folgen diesem Muster – ob nun von IG Metall, IG Bergbau, Chemie, Energie oder bei der Post. Im öffentlichen Dienst und bei der Bahn drohen ähnliche Resultate.

All das ist Teil einer Regierungs-, aber auch einer Gewerkschaftspolitik, die auf eine sozialpartnerschaftliche Verwaltung der Krise, auf den nationalen Schulterschluss setzt. Das war während der Coronakrise so – und diese Linie wird während des Kriegs und angesichts der Preissteigerungen fortgesetzt. Lohn- und Gehaltsforderungen werden nicht gestellt, um dem Trend der ständigen Verschlechterung der Einkommen entgegenzuwirken, sondern um noch Schlimmeres zu verhindern.

Keine Frage, einer ganzen Reihe von Unternehmen sind selbst die kleinen Zugeständnisse schon zu viel. Selbst die bald schon von der Inflation aufgefressene Erhöhung des Mindestlohns bringt die Fans der freien Marktwirtschaft auf die Palme. Selbst die Kindergrundsicherung soll, geht es nach FDP und Unionsparteien, mit allen Mitteln verhindert oder zumindest gänzlich verwässert werden. So droht wie schon bei der Umwandlung von Hartz IV ins Bürger:innengeld eine weitere zahnlose „Reform“, die nur der Armutsverwaltung einen anderen Namen  gibt.

Wir alle wissen, dass sich unsere Lebenslage in den letzten Jahren gewaltig verschlechtert hat. Und wir wissen, dass noch viel mehr droht, wenn wir die Schulden, die in den letzten Jahren zur Rettung der Konzerne und zur Aufrüstung aufgenommen wurden, durch Kürzungen, Einkommensverluste oder Privatisierungen begleichen sollen.

Und der DGB?

Doch von einer solch simplen Wahrheit wollen die DGB-Gewerkschaften im Aufruf zum Ersten Mai, der unter dem Titel „Ungebrochen solidarisch“ veröffentlicht wurde, nichts wissen. Natürlich erkennt auch der Gewerkschaftsbund an, dass sich die Welt im „Krisendauermodus“ befindet. Warum das so ist und das womöglich etwas mit Imperialismus und Kapitalismus zu tun hat, erfahren wir allerdings nicht.

Dafür gibt es eine frohe Botschaft für alle, die drei Jahre lang Realeinkommensverluste erlitten haben: „Unser Kampf für Entlastung war erfolgreich. Die Energiepreisbremse oder Einmalzahlungen an Beschäftigte, Rentner*innen und Studierende gäbe es ohne uns nicht. Mit der Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro und dem Bürgergeld haben wir dafür gekämpft, dass Menschen mit geringem Einkommen besser dastehen. Vor allem aber haben die Gewerkschaften in vielen Tarifverhandlungen für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Geld im Portemonnaie von Millionen Beschäftigten gesorgt.“

Bei diesen vom DGB herbeigeschriebenen Erfolgen fragt man sich unwillkürlich, wie Niederlagen und Verschlechterungen aussehen.

Dafür verspricht – oder droht? – der DGB im Aufruf, weiter mitzuwirken, dass die Energiewende zum Erfolg, im Rahmen der Mitbestimmung kräftig mitgestaltet wird. Er fordert außerdem auch Umverteilung und eine Vermögenssteuer, denn schließlich fahren „einige Konzerne ( … ) überhöhte Gewinne“ ein. „Es darf nicht sein, dass die Hauptlasten der Krise den Beschäftigten aufgebürdet werden, während sich die Reichen aus der Verantwortung stehlen“, empört sich der DGB und man fragt sich unwillkürlich, was er unter einer gerechten „Lastenverteilung“ versteht. Sollen die Lohnarbeiter:innen weiter 4 % Einkommensverlust hinnehmen, wenn die Kapitalist:innen 4 % weniger Gewinn einfahren?

Schließlich versichert die Gewerkschaftsführung auch noch NATO und Bundesregierung ihre Solidarität, und beschwört wie beim Wort zum Sonntag auch noch Abrüstung und Frieden: „Als Gewerkschaften treten wir für weltweite kontrollierte Abrüstung, für Rüstungskontrolle und für die Verwirklichung von Frieden und Freiheit im Geiste der Völkerverständigung ein.“

Damit rundet der DGB seine frohe Botschaft ab. Trotz „Krisendauermodus“ haben wir viel erreicht und der Frieden wäre auch in Sicht, wenn sich UNO und Großmächte nur darauf verständigen würden. Der Aufruf zum Ersten Mai ist so beschönigend, dass es schon wieder lächerlich wird. Aber dessen unbenommen bringt er die Weltsicht und die politische Strategie der Gewerkschaftsbürokratie – und damit ein Hauptproblem der Arbeiter:innenklasse – zum Ausdruck. Wozu, so die implizite Botschaft, brauchen wir den Klassenkampf, wenn es die Sozialpartner:innenschaft auch tut? Tarifkämpfe, Aktionen, Demos braucht es, dieser Logik zufolge, allenfalls, um die Kapitalseite an die Vorzüge der Zusammenarbeit für das nationale Interesse zu erinnern.

Tarifliche Mobilisierungen und neue Schichten

Zweifellos tragen die DGB-Spitzen wie die gesamte Gewerkschaftsbürokratie und die reformistischen Parteien eine politische Hauptverantwortung für das Ausbleiben eines massenhaften und organisierten Widerstandes gegen Inflation, Aufrüstung, Bildungs- und Gesundheitsmisere. Hinzu kommt, dass auch die Bundesregierung – anders als z. B. Macron in Frankreich oder die britische Regierung – auf eine Politik der Einbindung der Gewerkschaften und die, wenn auch völlig ungenügende Abfederung der Krise setzte.

Das erschwerte, ja blockierte nicht nur die Entstehung einer Antikrisenbewegung, sondern es bremste den Widerstand auf allen Ebenen. Das „Demokratie“narrativ lähmte und schwächte den Kampf gegen die imperialistische Außenpolitik, den neuen Kalten Krieg und die Aufrüstung. Hinzu kommt, dass jene Teile der Linken, die zum russischen (oder auch chinesischen) Imperialismus schweigen, die die reaktionäre und verbrecherische Politik Russlands in der Ukraine schönreden, ungewollt der bürgerlich-demokratischen Ideologie in die Hände spielen und zu Recht von vielen Arbeiter:innen nicht ernst genommen werden.

Doch das Problem des bremsenden Einflusses von reformistischen, bürokratischen oder linksbürgerlichen Kräften finden wir auch bei der Klimabewegung in Gestalt der Grünen.

Und schließlich fungiert auch die Linkspartei – wenn auch deutlich geschwächt und der Spaltung nahe – als Mittel zur Integration in die reformistischen Apparate, z. B. in den Gewerkschaften.

Doch trotz all dieser Hindernisse entwickelten sich in den letzten Monaten auch wichtige Bewegungen und innerhalb ihrer Kämpfe neue Schichten von Aktiven.

Das betrifft zum einen die Klimabewegung, die z. B. im Kampf gegen den Braunkohleabbau Zehntausende nach Lützerath mobilisierte. Diese und andere Auseinandersetzungen beförderten zugleich einen politischen Differenzierungs- und Radikalisierungsprozess, in den Revolutionär:innen eingreifen müssen.

Einen womöglich noch wichtigeren Prozess können wir aber auch in den Tarifkämpfen der letzten Monate, vor allem im Kampf um den TVöD beobachten. In Sektoren wie den Krankenhäusern entstand und entsteht auch aufgrund der Kämpfe der letzten Jahre eine neue Schicht von Kämpfer:innen, die nach eine radikaleren, konfrontativen und klassenkämpferischen Politik der Gewerkschaften verlangen. Auch wenn diese Klassenkämpfe letztlich ökonomische und keine politischen waren, so entwickelt sich hier ein kritisches Bewusstsein, das sowohl den Kapitalismus als Gegner wie auch den Gewerkschaftsapparat und die Bürokratie als Hindernis zu begreifen beginnt.

In den nächsten Monaten und Jahren wird es entscheidend sein, diese Kräfte als klassenkämpferische Opposition nicht nur gegen die aktuellen, sozialdemokratischen Vorstände der Gewerkschaften und deren Apparat, sondern auch gegen den linken Flügel der Bürokratie zu organisieren. Die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) kann und muss dabei trotz ihrer noch geringen Zahl eine Schlüsselrolle spielen.

Wir halten es für strategisch notwendig, diese Ansätze im Kampf gegen Klimazerstörung, Imperialismus und für die Verteidigung unserer Arbeits- und Lebensbedingungen zu einer Kraft zu verbinden, die Kapital und Kabinett wirklich stoppen kann.

Um eine solche Bewegung aufzubauen, brauchen wir neben der Aktion auch Diskussion und programmatische Klärung. Dafür gilt es, die Kräfte zu formieren, die nicht nur eine Bewegung, sondern auch eine revolutionäre Organisation und Internationale aufbauen wollen – mit dem Ziel, diese Kämpfe mit dem für den revolutionären Sturz des Kapitalismus zu verbinden.




Tarifverhandlungen öffentlicher Dienst: Nein zum Abschluss!

Jaqueline Katherina Singh / Martin Suchanek, Infomail 1221, 24. April 2023

„Das ist eine nachhaltige Steigerung der Einkommen, die beachtlich ist“, lobt der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke die Tarifeinigung zwischen Gewerkschaften und den sog. Arbeitergeber:innen bei Bund und Kommunen über den grünen Klee. Natürlich, so die Spitzen der Gewerkschaften, hätte der Abschluss auch „schmerzliche“ Seiten, doch das gehöre schließlich zu einem Kompromiss.

In den bürgerlichen Medien wird von „der größten Tariferhöhung seit Jahrzehnten im öffentlichen Dienst“ geschrieben und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) spricht von einem „guten und fairen Tarifabschluss“. Doch wir wissen, dass das nicht stimmt. Denn das Ergebnis ist mehr als bescheiden.

Einigung: Was ist drin?

Die Gewerkschaften und die sog. Arbeitgeber:innenverbände haben somit einen Abschluss erzielt, der faktisch dem Ergebnis der Schlichtung gleichkommt:

  • Inflationsausgleich von insgesamt 3.000 Euro in Teilzahlungen.

  • 1.240 Euro davon sollen bereits in diesem Juni fließen, weitere 220 Euro dann jeweils in den Monaten von Juli bis Februar 2024.

  • Zum 1. März 2024 sollen die Entgelte in einem ersten Schritt um einen Betrag von 200 Euro angehoben werden.

  • In einem zweiten Schritt soll der dann erhöhte Betrag noch einmal linear um 5,5 Prozent steigen. Die Erhöhung soll allerdings in jedem Fall 340 Euro betragen.

  • Die Laufzeit soll sich auf 24 Monate erstrecken.

Konkret bedeutet das: 2023 gibt es einer Nullrunde und es wird versucht, das mit einer Einmalzahlung schönzureden, die über Monate verteilt ankommt, Aber das ist nur einer der Kritikpunkte. Das wohl größte Problem stellt die Laufzeit von zwei Jahren dar. Wird die tabellenwirksame Entgelterhöhung darauf berechnet, so entpuppt sich die „beachtliche“ Einkommenssteigerung als Reallohnverlust.

Kurzum: Politisch stellt das Ergebnis einen Ausverkauf dar und eine Niederlage der Gewerkschaften. Das betrifft einerseits das materielle Ergebnis, d. h. vor allem die lange Laufzeit. Vor allem aber wurde eine weitere Chance vertan, mit einer kämpferischen Tarifrunde und einem unbefristeten Streik eine reale Trendwende durchzusetzen. Außerdem hätte die Auseinandersetzung mit der bei der Bahn und anderen Lohnkämpfen verbunden werden können (z. B. an den Flughäfen).

Ironischer Weise hat Frank Werneke durchaus recht, dass selbst dieser Abschluss nur zustande kam, weil Hunderttausende aktiv die Warnstreiks getragen haben,  Zehntausende ver.di und anderen Gewerkschaften beigetreten sind. Aber sowohl in den Diskussionen wie bei den Arbeitsstreiks wurde deutlich: Nach Jahren des Reallohnverlustes und angesichts von Preissteigerungen, die für Grundbedürfnisse wie Wohnen, Lebensmitteln, Energie weit über der Inflationsrate liegen, wollen die Mitglieder nicht nur einen Ausgleich auf dem Konto, sondern sind dafür auch bereit, in einen zähen, langwierigen Kampf zu treten.

Das betrifft vor allem die kämpferischen Sektoren im öffentlichen Dienst – und zwar nicht nur die traditionellen „schweren Bataillone“ wie Stadtreinigung und Nahverkehr, sondern vor allem auch neue Avantgardeschichten wie in den Krankenhäusern, die sich in den letzten Jahren in gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen formiert haben.

Bremsklotz Bürokratie

Diese Entwicklung wird mit dem Abschluss faktisch von der Bürokratie ausgebremst. Eine Streikbewegung hätte nämlich eine weitere Zuspitzung des Klassenkampfes erfordert. Sie hätte zumindest das Potential gehabt, das sozialpartnerschaftliche Tarifritual zu durchbrechen.

Genau das will der sozialdemokratisch dominierte Gewerkschaftsapparat aber nicht. Er zieht einen faulen Kompromiss einer solchen Konfrontation vor. Das ist eine für Revolutionär:innen sicher nicht neue Lehre, die sich aber die kämpferischen Schichten selbst zu eigen machen müssen.

Es reicht daher nicht, den Abschluss zu verdammen. Und es wäre falsch, aus Frust aus den Gewerkschaften auszutreten. Aber es ist unbedingt notwendig, sich klarzumachen, warum die Führung, warum deren Apparat, warum die von ihr kontrollierte Tarifkommission so handeln.

Die reformistische Gewerkschaftsführung und ihre Bürokratie sind nicht einfach bessere oder schlechtere Vertreter:innen der Klasse. Sie hegen ein Eigeninteresse als Vermittler:innen zwischen Belegschaften und Dienstgeber:innen bzw. Unternehmer:innen im ökonomischen Kampf. Sie müssen zwar bis zu einem gewissen Grad auch mobilisieren, um den „Verhandlungspartner:innen“ ihre Stärke zu zeigen – aber sie wollen um fast jeden Preis am sozialpartnerschaftlich regulierten Tarifritual festhalten. Sozialpartnerschaft ist aber nicht nur ein Verhalten, sondern hat einen Inhalt: Die Interessen des deutschen Kapitals und seines Staates im Lande und auch globalen Konflkikten gegen die internationale Konkurrenz zu schützen.

Zur Zeit wollen auch (noch) die Regierung und auch (noch) Spitzen der „Arbeitgeber:innenverbände“ an dieser Partnerschaft festhalten.

Gleichzeitig ist dies jedoch nicht unveränderlich. Denn die Tarifrunde zeigt, dass diese Form der Regulierung des Klassengegensatzes bröckelt, beispielsweise der Unmut bei den Vertreter:innen der Kommunen, die letztlich für eine härtere Gangart des Kapitals insgesamt stehen. Die Absetzbewegung gibt es aber auch bei uns. In den Warn-, Arbeitsstreiks und auch bei den Versammlungen zur Schlichtung wurde eine breite Ablehnung des Ergebnisses durch politisch bewusstere und kämpferischere Schichten sichtbar.

Nein bei der Befragung

Noch vor den Verhandlungen hatte sich die ver.di-Führung verpflichtet, die Mitglieder zum Ergebnis zu befragen. Es geht hier aber nicht um demokratische Entscheidungen. Selbst wenn 100 % mit Nein stimmen würden, wäre die Führung daran nicht gebunden.

Ver.di inszeniert vielmehr ein pseudodemokratisches Stimmungsbild, ein Plebiszit, um sich für den schlechten Abschluss die Legitimation der Mitglieder einzuholen.

Wir brauchen uns hier nichts vorzumachen. Angesichts des medialen Trommelns für den Abschluss und des innerorganisatorischen Informationsmonopols des Apparates ist eine Zustimmung bei der Befragung, die bis zum 14. Mai läuft, faktisch sicher.

Aber alle kritischen und kämpferischen Gewerkschafter:innen sollten die Abstimmung nutzen, um möglichst viele für ein Nein zu gewinnen, denn das Ergebnis wird auch einen Gradmesser für die innergewerkschaftliche Stimmung und bis zu einem gewissen Ausmaß für das Kräfteverhältnis abgeben.

Noch wichtiger als die Abstimmung ist, dass wir die Diskussionen und Versammlungen der nächsten Tage und Wochen nutzen, um das Nein möglichst stark und öffentlich sichtbar zu machen. Dazu braucht es Versammlungen von Streikaktivist:innen, von Betriebsgruppen in den Unternehmen und Abteilungen. Diese sollten nicht nur den Abschluss diskutieren und ihre Kritik artikulieren. Sie sollen auch Beschlüsse fassen, die zum Nein bei der Befragung aufrufen.

Sie sollen außerdem dazu aufrufen, dass Vorstand und Tarifkommission im, wenn auch unwahrscheinlichen, Fall einer Mehrheit gegen den Abschluss an dieses Ergebnis gebunden sein müssen. Sie müssen außerdem dazu aufgefordert werden, in diesem Fall die Urabstimmung einzuleiten und den Kampf für die ursprünglichen Forderungen – also 10,5 % und mindestens 500 Euro für alle bei einem Jahr Laufzeit – einzuleiten.

Solche Beschlüsse sollten öffentlich gemacht werden, um zu verdeutlichen, dass kritische Betriebsgruppen und Versammlungen keine Ausnahmefälle, sondern ganz schön viele sind. Gerade jetzt müssen sich Aktivist:innen dort, wo es noch keine Betriebsgruppen gibt, sich als solche zusammenfinden!

Viele von uns sind enttäuscht. Unsere Perspektive kann aber nicht sein, einfach auszutreten aus Protest. Nein, wir wollen uns praktisch in den Gewerkschaften organisieren und nicht dafür einstehen, dass unsere Kämpfe nicht weiter ausverkauft werden. Also lasst uns gemeinsam zusammenstehen und eine klassenkämpferische Opposition in den Gewerkschaften aufbauen!

Lasst und gemeinsam mit der VKG diesen Protest am Ersten Mai mit Flugblättern, Transparenten, Redebeiträgen und in klassenkämpferischen Blöcken zum Ausdruck bringen! Lasst uns gemeinsam in allen Städten Ortsgruppen der VKG aufbauen!




Verhandlungsergebnis Metall- und Elektroindustrie: Ablehnen!

Mattis Molde, Infomail 1205, 19. November 2022

In der Nacht zu Freitag, den 18. November, haben sich die Bezirksleitung der IG Metall in Baden-Württemberg und der Verband Südwestmetall auf ein Ergebnis geeinigt. Auch wenn die Gewerkschaftsspitzen den Abschluss als „spürbare Entlastung“ und damit als Erfolg verkaufen, zeigt ein Blick auf die Eckdaten des Ergebnisses, dass sich die Kapitalseite in vielem durchsetzen konnte.

Die erste Erhöhung der Tarife kommt zum Juni 2023 mit 5,2 %, eine zweite Stufe erfolgt zum Mai 2024 mit 3,3 %. Der Vertrag läuft bis Ende September 2024, also 24 Monate. Januar 2023 und Januar 2024 gibt es Einmalzahlungen von je 1500 Euro, steuer- und abgabenfrei. Die IG Metall war mit einer Forderung von 8 % Tariferhöhung und einer Laufzeit von 12 Monaten gestartet. Das ursprüngliche Angebot der Arbeit„geber“:innenverbände belief sich auf 3000 Euro bei einer Laufzeit von 3 Jahren.

Zu wenig, zu lange

Die Monatsentgelte in der Metall- und Elektroindustrie sind seit 4,5 Jahren nicht erhöht worden. Jetzt kommen noch einmal 8 weitere Monate dazu. Die zweite Stufe, die im Mai 2024 erfolgen soll, kommt dann kurz, bevor der Tarifvertrag ausläuft, was schon jetzt die Bereitschaft zeigt, nicht sofort 2024 eine weitere Erhöhung zu erlauben.

Damit ergibt sich eine lange Periode von Reallohnverlusten, die insbesondere mit der derzeitigen Inflation von über 10 % zu einer dauerhaften Absenkung der Einkommen führt. Die jetzt beschlossenen Erhöhungen gleichen weder die Verluste der Vergangenheit noch die jetzigen aus und binden der Gewerkschaft für 2 Jahre die Hände, weitere Inflationssprünge zu kontern. Sie mildern für 4 Millionen Beschäftigte nur die Auswirkungen der Preissteigerungen ab.

Die Einmalzahlungen von 2 mal 1500 Euro sehen auf den ersten Blick gut aus. Das ist jedoch eine mehrfache Täuschung. 125 Euro netto im Monat bedeuten auch für Beschäftigte der untersten Lohngruppen – je nach Steuerklasse – nur selten mehr als 8 %.

Der Schein wird weiter dadurch getrübt, dass

  • diese „Erhöhung“ nicht auf die Sonderzahlungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld, tarifliches Zusatzgeld und Transformationsgeld durchschlägt, die rund 16 % des Jahreseinkommens ausmachen;

  • auch in den vergangenen Jahren in den Tarifverträgen Einmalzahlungen vereinbart wurden, die jetzigen also teilweise nur eine Fortsetzung dieser Zahlungen und keine „Erhöhung“ darstellen;

  • aus diesen Einmalzahlungen keine Rentenbeiträge abgeführt werden. Die Beschäftigten zahlen also auch mit zukünftigem Rentenminus;

  • die Einmalzahlungen zur Hälfte um bis zu 6 Monate verschoben werden können.

Sozialpartner:innen

Die IG Metall wird von einer Schicht von Bürokrat:innen aus hauptamtlichem Gewerkschaftsapparat und Betriebsratsspitzen beherrscht, die die Interessen der Beschäftigten grundsätzlich dem Wohl der Unternehmen, vor allem der großen Player in der (Auto)-Exportindustrie unterordnen. Mit ihnen wird „Standortsicherung“ gemacht, die Arbeitszeit flexibilisiert, die sog. Transformation einvernehmlich gestaltet, auch wenn es Arbeitsplätze kostet. Mit ihnen wird die Abgaspolitik in Brüssel „mit“gestaltet, das Streikrecht weiter beschränkt, die Leiharbeit gefördert und vieles mehr. Den Beschäftigten und Gewerkschaftsmitgliedern wird diese Kooperation als letztlich vorteilhaft präsentiert, auch wenn sie Opfer bringt. Die Mehrzahl der Mitglieder hat dies in den letzten Jahren geschluckt, immer mehr Funktionär:innen haben sich dem rechten Kurs angepasst.

In dieser Tarifrunde wurde deutlich, wie diese Partner:innenschaft gegen die Interessen der Beschäftigten und Beschlüsse der Organisation gerichtet ist. Bei der Aufstellung der Forderung wurde alles getan, um bei 8 % den Deckel aufzudrücken. Im Sommer gab es die Gespräche zu den „Entlastungspaketen“ mit der Bundesregierung und den Kapitalvertreter:innen. Das nannte sich „Konzertierte Aktion“ und alles wurde im Konsens beschlossen. Dazu gehörte die Möglichkeit zu Sonderzahlungen von 3000 Euro netto. Es war der IG-Metallspitze völlig klar, dass das in den Tarifverhandlungen die Forderung von 8 % Tariferhöhung für 12 Monate aushebeln musste!

Schon für die chemische Industrie wurde im September ein Abschluss getätigt von je 3,25 % Tariferhöhung in zwei Stufen, 3000 Euro netto in zwei Raten und 20 Monaten Laufzeit. Also das gleiche Strickmuster.

Bundesweit haben 900.000 Metaller:innen gestreikt, alleine in Baden-Württemberg 300.000. Bei der IG BCE in der chemischen Industrie bundesweit 0. Die Ergebnisse unterscheiden sich minimal. Um wirkliche Differenzen festzustellen, müssten die Auszahl-, Erhöhungstermine und Vorgeschichte verglichen werden. Aber die Kampfbereitschaft unterscheidet sich. Die weitaus höhere der Metaller:innen hätte ein anderes Ergebnis möglich machen können, sie hätten es verdient. Eine Ausweitung der Streiks, eine Urabstimmung wäre angestanden. All das wurde vom IG-Metallvorstand verschenkt. Er wollte es nicht.

Empörung

Viele Aktive an der Basis sind wütend. Es gibt Enttäuschung in den Betrieben, unter den Vertrauensleuten und in den sozialen Netzen. Doch um zukünftige Ausverkäufe und Abschlüsse wie den aktuellen zu verhindern, muss aus der Empörung eine organisierte Opposition werden. Eine Opposition, die es den kämpferischen Mitgliedern, die es gibt, die aber überall in der Minderheit sind, erlaubt, sich unabhängig auszutauschen und eine Kraft zu bilden. Ansätze für eine Vernetzung gibt es bei der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG), die in dieser Tarifrunde dafür eintrat:

„Die IG Metall hat das Angebot von Gesamtmetall als unzureichend bezeichnet. Das stimmt! Aber es ist ein Problem, dass die Forderungen in aktuellen Stellungnahmen nicht mehr benannt werden. Stattdessen ist nur noch die Rede von „8 % mehr Geld“ nicht von „8 % Tariferhöhung“. Wenn eine tabellenwirksame Tariferhöhung gefordert wird, dann immer ohne Zahl. Die 12 Monate werden gar nicht mehr erwähnt. Heißt das, dass die Spitze der IG Metall offen ist dafür, die 3000 Euro Einmalzahlung in die „8 % mehr Geld“ einzubauen, nachdem sie dies in der konzertierten Aktion mitverhandelt hat?“

Und deshalb hatte sie vorgeschlagen:

„Es wird allerdings notwendig sein, Urabstimmung und Vollstreik vorzubereiten. Das hat Gesamtmetall mit seinem Nullrundengeschrei und dem unverschämten Angebot deutlich gemacht. Deshalb ist es wichtig, dass die IG-Metall-Vertrauenskörper jetzt Beschlüsse fassen und den führenden Gremien der IG Metall den klaren Auftrag erteilen, Urabstimmung und Vollstreik vorzubereiten. ( … )

Wo noch nicht geschehen, sollten betriebliche Arbeitskampfleitungen gewählt werden. Es ist jetzt wichtig, möglichst alle Kolleg*innen in einen Arbeitskampf einzubeziehen und alle Arbeitskampfschritte gemeinsam zu diskutieren und gemeinsam zu beschließen. Außerdem sollte in Streikversammlungen über jedes neue Angebot umfassend informiert, diskutiert und abgestimmt werden. Annahme eines Angebots sollte erst nach Diskussionen und Abstimmungen in Streikversammlungen erfolgen. Es muss endlich wieder ernst gemacht werden: Wenn dein starker Arm es will, stehen alle Räder still!“

Auch die betriebliche Oppositionsgruppe MAHLE-SOLIDARITÄT hatte ihre Kolleg:innen im Betrieb auf das Übel vorbereitet, das in der Konzertierten Aktion ausgeheckt worden ist, und 6 Fragen an Jörg Hofmann gestellt:

„Jörg, erkläre uns:

  • War die IG Metall bei diesem Treffen vertreten, auf dem das beschlossen wurde?
  • Hatten da die Arbeitgeber auch schon so eine aggressive Haltung?
  • Wurde übersehen, dass das gegen unsere Forderung von 8 % Entgelterhöhung für 12 Monate gerichtet war und ist?
  • Wurde übersehen, dass das prima für die Profite ist, weil nicht nur wir, sondern auch die Unternehmen die Beiträge zu Rente, Krankenversicherung und Arbeitslosenversicherung sparen. Aber wir es sind, denen die Renten dann fehlen und die die Zusatzbeiträge zur Krankenversicherung zahlen?
  • Was ‚steuerfrei’ angeht: Wir als IG Metall wollen doch auch bei den Steuersätzen keine einmalige Erleichterung, sondern eine Steuerreform, die eine nachhaltige Korrektur gegen die ‚kalte Progression’ bringt?

Jörg, wir wollen kämpfen, warnstreiken und notfalls auch streiken!

Wir stehen zu unserer Forderung! Das erwarten wir von allen Ebenen der IG Metall!

Nein zur 3000 Euro Mogelpackung! Ja zu 8 % Tariferhöhung bei 12 Monaten!“

Nein!

Dieses Tarifergebnis wird kaum zu verhindern sein. Aber jede kritische Stimme, jede ablehnende Resolution in den Vertrauenskörpern, Delegiertenversammlungen und Tarifkommissionen kann eine Ermutigung sein und die Leute stärken, die eine andere Politik in der IG Metall und im Kampf gegen die aktuellen Preissteigerungen, die kommende Rezession und die gesamte sozialpartnerschaftliche Politik eine klassenkämpferische Alternative aufbauen wollen.




Deutscher Militarismus: Aufrüstung, Krieg und der DGB

Helga Müller, Neue Internationale 264, Mai 2022

Drei Tage nach dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine beschloss die Bundesregierung mit Hilfe der CDU und CSU ein sogenanntes Sondervermögen von 100 Milliarden Euro zur Aufrüstung der Bundeswehr! Zusätzlich sollen zukünftig über 2 % des BIP für Aufrüstungsausgaben jährlich zur Verfügung stehen.

Es gibt dafür weder eine Vermögenssteuer oder -abgabe noch eine Erhöhung der Kapitalsteuern für die Banken und Konzerne. Laut Lindner soll dies aus dem laufenden Bundeshaushalt bewältigt werden, der noch dazu unter dem Damoklesschwert des Wiederinkrafttretens der Schuldenbremse steht. D. h. also nichts anderes, als dass die Finanzierung mit einem gigantischen Sozialabbau, der allein die Kolleg:innen, Rentner:innen, Jugendlichen, Geflüchteten und Frauen trifft, verbunden sein wird. Nichts – außer ein paar Almosen in Form von einmaligen Prämien – für die Pflegekräfte in den Kliniken, die Kolleg:innen in den Schulen, Kindertagesstätten oder Jugendfreizeitstätten, die Bus- und Straßenbahnfahrer:innen, die Kolleg:innen im Einzelhandel, die seit über 2 Jahren trotz Pandemie und schlechter werdenden Bedingungen alles am Laufen gehalten haben.

Aufschrei der Gewerkschaften?

Schon dies alleine hätte beim DGB und seinen Gewerkschaften zu einem sofortigen Aufschrei führen müssen. Stattdessen Unterstützung des Regierungskurses für Sanktionen gegen Russland, bei denen auch der DGB weiß, dass diese nicht in erster Linie die Oligarch:innen treffen werden, die hinter Putins Kriegskurs stehen, sondern die arbeitende Bevölkerung, Arbeitslose und RentnerInnen. Dann zarte Kritik an den 100 Milliarden Sondervermögen, die doch besser im sozialen Bereich hätten investiert werden sollen, und gerade mal eine kritische Haltung, aber nicht Ablehnung des Ziels, den Rüstungsetat auf über 2 % des BIP jährlich zu erhöhen.

Werneke, Chef von ver.di, die ja immer als eine sehr politische und kritische Gewerkschaft galt, äußerte sich wenige Tage nach dem Bundestagsbeschluss in einem Interview dazu. Er nimmt hier eine mehr als zweideutige Haltung gegenüber dem sog. Sondervermögen für Aufrüstung ein:

„Richtig ist, dass der Zustand der Bundeswehr in Teilen wirklich schlecht ist, trotz der vielen Milliarden, die jetzt schon im System sind. Das betrifft die Ausrüstung, den Zustand von Kasernen, aber auch die Attraktivität als Arbeitgeber. …  Ich will eine Bundeswehr, die als Verteidigungsarmee funktioniert und die auch ein guter Arbeitgeber ist. … Eine Rechtfertigung für einen dauerhaft höheren Militärhaushalt ergibt sich daraus für mich nicht. …“ Weiter: „Ich sehe allerdings die dringlichsten Handlungsbedarfe nicht bei den Ausrüstungsdefiziten in der Bundeswehr. Wir stehen in Deutschland vor der größten Flüchtlingswelle seit dem zweiten Weltkrieg.“

Erst nachdem es mehrere Beschlüsse von verschiedenen ver.di-Gremien gab, die sich gegen Waffenlieferungen in Krisengebiete und vor allem gegen das Aufrüstungsprogramm insgesamt richteten, wie z. B. die Resolution der ver.di-Mitgliederversammlung der Beschäftigten bei Vivantes, Charité und Vivantes-Töchtern oder die Entschließung des geschäftsführenden Bezirksvorstandes ver.di-Südhessen vom 13. März, lehnte der Gewerkschaftsrat in einer Resolution  „die Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf einen dauerhaften Anteil von zwei Prozent am Bruttoinlandsprodukt, wie es das NATO-Ziel vorsieht“, ab. Jedoch bleibt diese bzgl. des 100 Milliarden Sondervermögens genauso vage wie Werneke.

Halbherzig – bestenfalls

Alles halbherzige Bekenntnisse, mit denen sich die Gewerkschaftsverantwortlichen noch stärker als jemals zuvor den wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen der deutschen Konzerne und Banken mitsamt ihrer Regierung unterordnen. Dies spiegelt sich auch in der diesjährigen Tarifpolitik: durch die Bank weg haben die Gewerkschaften bei den Tarifrunden in der Druckindustrie, Chemie und bei den öffentlichen Banken mehrjährige Entgelttarifverträge abgeschlossen, die alle einen Reallohnverlust für lange Zeit verankern!

Wir wissen aber, dass die Kolleginnen und Kollegen, um die Zeche für Deutschlands Wettrüsten mit anderen Weltmächten finanzieren zu können, zahlen müssen. Die Heizungs-, Energie- und Lebensmittelpreise werden weiter in die Höhe schnellen je länger der Krieg dauert. Obendrauf kommen dann noch die Kosten für die Aufrüstung!

Angeblich soll damit die Sicherheit der Bundesrepublik garantiert werden. In Wirklichkeit geht es um die Sicherung der wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen der deutschen Banken und Konzerne im Kampf um die Neuaufteilung der Welt.

Was tun?

Angesichts dieser höchst gefährlichen Situation kommt auf unsere Gewerkschaften eine große Verantwortung zu! Sie verlangt von ihnen, sich eindeutig von den Beschlüssen der Bundesregierung zu distanzieren und vor allem den Kampf dagegen aufzunehmen. Erfreulicherweise gibt es mittlerweile sowohl in ver.di als auch in der IG-Metall Beschlüsse, die sich eindeutig gegen das Aufrüstungsprogramm der Bundesregierung richten.

Diese Resolutionen sind wichtig und richtig, aber wir brauchen kämpferische Aktionen – wie Demonstrationen bis hin zu Streiks. Dies wäre ein wichtiger Beitrag der deutschen Gewerkschaften zum notwendigen Aufbau einer starken internationalen Antikriegsbewegung, die in der Lage ist, diesen Krieg zu beenden und weitere zu verhindern!

Ein erster Schritt wären massive Protestdemonstrationen und Arbeitsniederlegungen gegen das 100 Milliarden Programm zur Aufrüstung an dem Tag, wenn die Verfassungsänderung im Parlament diskutiert und beschlossen werden soll.




Südafrika: Nachruf auf Desmond Tutu (1931 – 2021)

Jeremy Dewar, Infomail 1174, 30. Dezember 2021

Der Antiapartheidaktivist und Befreiungstheologe Desmond Tutu ist am zweiten Weihnachtsfeiertag im Alter von 90 Jahren nach einem langen Kampf gegen den Krebs gestorben.

Tutu ist vor allem für sein aktives Engagement im Kampf gegen die südafrikanische Apartheid bekannt, deren Sturz eine der großen historischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts darstellte. Er nutzte seine Ämter zunächst als Generalsekretär des Südafrikanischen Kirchenrates und später als erster schwarzer anglikanischer Erzbischof von Kapstadt (daher sein Spitzname „The Arch“), um den gewaltfreien Widerstand gegen die Apartheid zu fördern.

Liberale Antiapartheidbewegung

In der Praxis bedeutete dies, dass Tutu zwar Miet- und Schulstreiks in den Townships unterstützte und sogar zu einem Generalstreik aufrief, sich aber auch gegen Umkhonto we Sizwe (Xhosa: Der Speer der Nation), den militärischen Flügel der Afrikanischen Nationalkongress-Partei ANC, und gegen Repressalien seitens der Bewegung gegen KollaborateurInnen („necklacing“) wandte. Dies machte ihn zu einer idealen Symbolfigur für die liberale Antiapartheidbewegung, die von seinem Freund und frühen Mentor Trevor Huddleston initiiert wurde. Er war jedoch ein mutiger und freimütiger Verfechter des Kampfes gegen den Staat der abstoßenden, weißen Vorherrschaft und brandmarkte auch dessen politisch-ideologischen Zwilling – den zionistischen Siedlerstaat Israel. Während seine eigene Kirche und die meisten Labour-, sozialdemokratischen und liberalen PolitikerInnen wie Feiglinge davor zurückschreckten, ihn zu verurteilen, tat Tutu das nicht.

Seine Unterstützung der Kampagne für Boykott, Vielfalt und Sanktionen (BDS) war wahrscheinlich sein größter Beitrag zum Sturz der Apartheid. Sie trug dazu bei, moralische Sympathie in aktive Unterstützung umzuwandeln und das zunehmend isolierte Regime dort zu treffen, wo es weh tut – in den Taschen.

Tutu nutzte sein Privileg als Erzbischof in vollem Umfang, um die Welt zu bereisen und für BDS zu werben, 1984 den Friedensnobelpreis zu erhalten und ein Jahr später vor den Vereinten Nationen zu sprechen. Noch wichtiger als dies war Tutus Fähigkeit, der Macht die Wahrheit zu sagen und damit die jungen Reihen der Antiapartheidallianz zu ermutigen und zu erweitern, etwa als er Präsident Reagan sagte: „Amerika kann zur Hölle fahren!“ Und das von einem Mann der Geistlichkeit.

Die Grenzen seiner widersprüchlichen Position – für die Befreiung, aber gegen die Mittel zu ihrer Verwirklichung – wurden deutlich, als er Senator Ted Kennedy auf eine Tour durch die Townships mitnahm und das Treffen von AktivistInnen gestört wurde, die sich über die Unterstützung eines US-imperialistischen Politikers empörten.

Seine Achillesferse war sein kleinbürgerlicher Pazifismus, denn er schloss den totalen Sieg der einen oder anderen Seite aus. Als die revolutionären Kräfte 1984 – 86 ihre Offensive gegen das System starteten, war es Tutu, der sich als erster als Vermittler anbot. Obwohl er zunächst von Präsident Pieter Willem (PW) Botha abgewiesen wurde, fand Tutus Kampagne für Versöhnung, d. h. christliche Vergebung, 10 Jahre später bei Südafrikas erstem schwarzen Präsidenten Nelson Mandela Anklang.

Wahrheits- und Versöhnungskommission

Tutu führte von 1996 bis 1998 den Vorsitz der Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC). Die TRC, die vom regierenden ANC handverlesen wurde, obwohl ihr auch einige AnhängerInnen der Apartheid angehörten, erhielt die Befugnis, Zeugenaussagen von Opfern (beider Seiten!) anzuhören, Wiedergutmachung zu leisten und entweder Rehabilitierung oder Amnestie (für diejenigen, die „Reue“ zeigten) zu gewähren. Die Betonung auf Vergebung und nicht auf Gerechtigkeit wurde dadurch unterstrichen, dass Tutu vor jeder Sitzung ein Gebet verlas.

Obwohl 22.000 Opfer der Apartheid identifiziert und angehört wurden, stieß die Weigerung, zwischen der Gewalt des/r UnterdrückerIn und der der Unterdrückten, die das Recht hatten, sich dagegen in Stellung zu bringen, zu unterscheiden, vielen sauer auf – ebenso wie die „Vergebung“ von 849 TäterInnen, die über die Köpfe der Unterdrückten hinweg amnestiert wurden.

Am schlimmsten war, dass die TRC es versäumte, kollektive Forderungen gegen das Apartheidsystem als Ganzes anzusprechen, indem sie sich mit denjenigen befasste, die ganz oben in der Pyramide standen.

Der ehemalige Präsident Frederik Willem (FW) de Klerk, dem es nicht gelungen war, die Kommission von vornherein zum Scheitern zu bringen, weigerte sich rundheraus, die Verantwortung seiner Regierung für die von seinen Sicherheitskräften begangenen Verbrechen anzuerkennen. De Klerks Vorgänger PW Botha weigerte sich sogar, vor der Sitzung Kommission zu erscheinen, und bezeichnete sie als „Zirkus“. Tutu konnte nichts tun, um die beiden zu weiteren Schritten zu zwingen oder sie vor Gericht zu stellen. Die Familie von Steve Biko, des 1977 ermordeten Führers der Schulstreiks von Soweto, war eine von vielen, die sich durch Tutus TRC einer wirklichen Gerechtigkeit beraubt fühlten.

Später setzte Tutu mutig Israels Behandlung der PalästinenserInnen mit der der schwarzen Bevölkerung Südafrikas gleich und unterstützte die BDS-Kampagne der PalästinenserInnen mit den Worten:

„Ich war in den besetzten palästinensischen Gebieten und habe die nach Rassen getrennten Straßen und Wohnungen gesehen, die mich so sehr an die Bedingungen erinnerten, die wir in Südafrika unter dem rassistischen System der Apartheid erlebt haben“.

Wegen solcher Äußerungen bezeichnete ein Blogger der Zeitschrift Times of Israel Tutu noch vor seiner Beerdigung als „heimtückischen Antisemiten“ und wiederholte damit die Beschimpfungen, die die ApologetInnen der Apartheid in den 1980er Jahren gegen den „Arch“ ausstießen.

Einige Linke sind versucht, Tutus Rolle in der TRC als einen Ausrutscher in seinem sonstigen  Leben für die Befreiung zu betrachten, zumal er sich später, zusätzlich zu seiner bereits erwähnten unerschütterlichen Unterstützung für die Sache der PalästinenserInnen, für LGBT-Rechte, das Recht der Frau auf Schwangerschaftsabbruch und für die gemiedenen und ausgeschlossenen AIDS-Opfer einsetzte. Er scheute sich auch nicht, die Korruption des ANC und die Nichteinhaltung von Versprechen an die schwarzen Armen und die ArbeiterInnenklasse anzuprangern. Er forderte auch, dass Tony Blair und George W. Bush als Kriegsverbrecher nach Den Haag geschickt werden sollten (Irak), und weigerte sich einmal, mit ersterem ein Podium zu teilen.

Aber die TRC war entscheidend für die demokratische Konterrevolution, die der ANC durchführte. Die Kommission lieferte den ideologischen Deckmantel für die „Versöhnung“, die die ANC-Führung unter der Leitung von Nelson Mandela dem weißen Monopolkapital anbot. Der Nationalen Partei, die jahrzehntelang über die Apartheid regiert hatte, wurden MinisterInnen in einer Koalitionsregierung und die Leitung der Zentralbank angeboten, obwohl sie bei den ersten, allumfassenden Wahlen 1994 nur 20 Prozent der Stimmen erhalten hatte, ein Drittel des vom ANC erzielten Anteils. Die Freiheitscharta und insbesondere die Paragraphen, die eine Verstaatlichung forderten, wurden zugunsten einer „Verfallsklausel“ verworfen, die die Rechte des (weißen) Privateigentums garantierte.

Tutu war nie Mitglied des ANC . Er verbot anglikanischen Geistlichen den Beitritt zu irgendeiner politischen Partei, arbeitete aber eng mit dem legalen Arm des ANC, der Vereinigten Demokratischen Front, und, als dieser frei war, mit Mandela zusammen. Trotz seiner tiefen Abneigung gegen die stalinistische SACP leitete Tutu die Beerdigung ihres Generalsekretärs Chris Hani, der 1993 von einem weißen Rassisten ermordet wurde. Zu diesem Zeitpunkt stand die SACP jedoch bereits an der Spitze der Bestrebungen für eine Volksfrontregierung und eine kapitalistische „Etappe“ der Revolution, d. h. eine demokratische Konterrevolution.

Viele in der Linken waren der Meinung, dass dies nur eine vorübergehende Phase sein würde, und rieten zur Unterstützung des ANC. Workers Power und die Vorgängerorganisation der Liga für die Fünfte Internationale gehörten nicht zu ihnen. Tragischerweise haben wir Recht behalten, und Millionen von schwarzen SüdafrikanerInnen, landlosen Bauern und Bäuerinnen, ArbeiterInnen und arbeitslosen Jugendlichen, müssen mit dem Erbe leben.

Tutus aufrichtige Sympathie für die Unterdrückten bedeutete jedoch, dass er auch der neuen schwarzen Elite, etwa Jacob Zuma, dem abgesetzten südafrikanischen Präsidenten, „die Wahrheit sagte“ und offen darüber sprach, wie wenig die Armen und Ausgebeuteten von den Früchten der Befreiung erhalten hatten – im krassen Gegensatz zu MillionärInnen wie dem jetzigen Präsidenten Cyril Ramaphosa. Er war jedoch nicht bereit, das Recht und die Notwendigkeit der Ausgebeuteten und Unterdrückten anzuerkennen, „mit allen Mitteln“ um die Macht zu kämpfen.

Während wir also Tutus Beiträge zum Kampf und seinen Mut anerkennen, solidarisieren wir uns politisch mit denen, die heute für ein sozialistisches Südafrika kämpfen.