Alles Querfront?

Martin Suchanek, Neue Internationale 272, April 2023

Der Querfrontvorwurf erlebt Konjunktur in der Linken. Einmal erhoben, bedarf er keiner weiteren Begründung. Jede Diskussion erledigt sich damit von selbst. Schließlich will ja auch niemand in Verdacht geraten, Querfrontler:innen zu verteidigen, mit ihnen zusammenzuarbeiten oder auch nur zu reden.

Längst ist das Wort zum Kampfbegriff geworden. Worum es sich bei den einzelnen wirklichen oder vermeintlichen Querfronten handelt, bedarf oft kaum einer weiteren Betrachtung. Kein Wunder also, dass unterschiedliche politische Phänomene darunter verstanden und einsortiert werden.

So gelten als Querfronten nicht nur Bündnisse und Bewegungen zwischen Linken und Rechten bis hin zu protofaschistischen Gruppierungen, die zu Recht politisch geächtet werden. Auch der Vorwurf ähnlicher Ziele (z. B. in der Kriegsfrage) reicht, um aus dieser Gemeinsamkeit eine Querfront zu konstruieren. Dieser trifft nicht nur den „Aufstand für den Frieden“ vom 25. Februar, zu dem Wagenknecht und Schwarzer aufriefen. Auch gegenüber der Demonstration der Linkspartei gegen die Krisenpolitik der Bundesregierung am 4. September 2022 wurde der Querfrontvorwurf laut, weil die Linken mit 4.000 Menschen durch die Stadt zogen, statt sich auf die Blockade einer deutlich kleineren rechten Kundgebung zu konzentrieren.

Schließlich gilt mitunter schon als Querfront eine Zusammenarbeit mit Gruppen, die unter Querfrontverdacht stehen. Die Problematik einer solchen Herangehensweise zeigt sich nicht nur bei großen Friedensdemonstrationen wie am 25. Februar, sondern auch im Umgang mit Coronaskeptiker:innen und Impfgegner:innen. Zweifellos stellten z. B. die Querdenkerdemos eine reaktionäre Massenbewegung dar – sowohl wegen des Einflusses Rechter wie auch wegen ihres eigentlichen Zieles, das sich gegen einen Gesundheitsschutz für die Bevölkerung richtete.

Aber das erklärt natürlich nicht, warum diese Demonstrationen auch reale und berechtigte Ängste vor den Auswirkungen der Coronakrise und nachvollziehbare Vorbehalte gegen staatliche Maßnahmen mit einem reaktionären Ziel verbinden konnten – und wie dem hätte entgegengewirkt werden können. Indem die Teilnehmer:innen dieser Demos allesamt für immer als „Querfrontler:innen“ gebrandmarkt werden, haben wir politisch noch nichts gewonnen. Es braucht auch eine Politik, wie alle jene, die keine Nazis oder unverbesserliche Irrationalist:innen sind, von den Rechten weggebrochen werden können. Bevor wir uns aber diesen Fragen widmen, müssen wir uns mit dem Begriff, dem Wesen und verschiedenen Formen von „Querfront“ beschäftigen. Das erscheint leider unumgänglich, weil die Häufigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der dieser Vorwurf erhoben wird, in einem krassen Missverhältnis zur Unklarheit und Erklärungsbedürftigkeit des Begriffs steht.

Querfront als Bündnis

Der Terminus „Querfront“ tauchte erstmals am Beginn der 1930er Jahre in der Weimarer Republik auf. Die ökonomische Krise, die damit verbundene Polarisierung und politische Unmöglichkeit, eine stabile parlamentarische Mehrheit zu bilden, führte zur Einsetzung (halb)bonapartistischer Regierungen unter Brüning, Papen und von Schleicher, die ihrerseits nach einer gesellschaftlichen Stütze suchten.

Der Reichswehrgeneral von Schleicher entwickelte dabei die Vorstellung, seine Herrschaft auf ein Bündnis von Reichswehr, „linker“ NSDAP (dem Strasser-Flügel) und dem Gewerkschaftsbund ADGB zu gründen. Da die anvisierte Allianz „quer“ zur traditionellen Rechts-links-Polarisierung lag, wurde das Vorhaben als „Querfront“ bezeichnet.

Als Grundlage eines Bündnisses, das ihn an die Spitze einer „Regierung alle Volkskreise“ und einer Präsidialdiktatur bringen sollte, schlug von Schleicher eine etatistische Wirtschaftspolitik, staatliche Regulierung und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sowie Besteuerung von Reichen vor, womit er an Forderungen der Gewerkschaften, aber auch am kleinbürgerlich-reaktionären „Antikapitalismus“ der Strassers anknüpfte. So weit zum Ursprung des Begriffs. Bekanntlich wurde von Schleichers Vorhaben nie realisiert und sein eigenes Regime erwies sich letztlich als Übergang zur faschistischen Diktatur.

Klassenpolitischer Kern

Ihrem Wesen nach ist die Querfront jedenfalls ein Bündnis zwischen verschiedenen Klassenkräften, das sowohl Teile der bürgerlich-reformistischen Arbeiter:innenbewegung wie auch der extremen (faschistischen oder halbfaschistischen) Rechten einschließt. Solche Konstellationen entstehen fast immer in Krisenperioden des Kapitalismus, wenn die „normale“ bürgerlich-parlamentarische Herrschaftsform, die in relativ stabilen Phasen das eigentliche Betätigungsfeld des Reformismus, linkspopulistischer und linker kleinbürgerliche Kräfte darstellt, selbst nicht mehr die Ordnung sichern kann.

Von Seiten der „linken“ Kräfte geht es bei der Querfront um eine ähnliche Zielsetzung wie bei der Volksfront, also um ein Bündnis mit offen bürgerlichen Kräften, um den Kapitalismus in der Krise zu stabilisieren. Ideologisch rückt jeder Anklang an Klassenpolitik in den Hintergrund oder wird entsorgt zugunsten der vermeintlich gemeinsamen Interessen „des Volkes“ auf Basis eines (zeitweilig) regulierten Kapitalismus.

Dies wird grundsätzlich dadurch möglich, dass Reformismus, Populismus und andere Spielarten kleinbürgerlicher Politik letztlich immer auf dem Boden bürgerlicher Verhältnisse stehen. Es ist daher nur naheliegend, dass sie diese, wenn auch mit eigenen Brosamen für die Massen retten wollen. Da Querfront wie Volksfront auf einem Bündnis antagonistischer Klassenkräfte beruhen, brauchen sie aber auch eine/n „oberste/n Vermittler:in“, die/der scheinbar über den antagonistischen Kräften steht und das „Volksganze“ verkörpert. Daher die innere Tendenz zum Bonapartismus.

Auch wenn das Vorhaben von Schleichers nicht umgesetzt wurde, so fanden dennoch einigermaßen ernste, teilweise geheime Unterredungen im Jahr 1932 statt, bis NSDAP- und  SPD-Führung dem Vorhaben einen Riegel vorschoben. Eine Reihe anderer Abkommen und Regierungsbündnisse offenbart freilich die Nähe von Volks- und Querfront, so der Eintritt der KPI in die „antifaschistische“ italienische Regierung unter Badoglio (einem ehemaligen General Mussolinis, der mit ihm gebrochen hatte, als sich die Niederlage Italiens abzeichnete) im März 1944, so die Volksfront Allendes unter Einschluss von Pinochet, so die Syriza-Anel-Regierung in Griechenland.

Das deklarierte Ziel dieser Regierungen bestand auf Seiten der Reformist:innen darin, „Schlimmeres“ zu verhindern wie eine Machtübernahme der Rechten in Chile, die offen faschistische Diktatur in Deutschland. In Wirklichkeit bestand und besteht die Funktion dieser Bündnisse darin, eine konterrevolutionäre Stabilisierung des Kapitalismus gegen den möglichen Ansturm der Arbeiter:innenklasse herbeizuführen. Gelingt dies, so kann diese wie in Griechenland oder Italien eine „demokratische“ Form annehmen. Gelingt es nicht wie in Chile, so wird „Schlimmeres“ (Militärputsch in Chile, Faschismus in Deutschland) nicht verhindert, sondern diesem der Boden bereitet.

Der konterrevolutionären Wesenskern der Quer- wie Volksfront und deren gemeinsame Funktion spielen in der aktuellen Debatte jedoch so gut wie keine Rolle. Und das aus gutem Grund. Schließlich haben die meisten Kräfte, die unter Querfrontverdacht stehen, wie auch deren Kritiker:innen gegen die Volksfront nichts einzuwenden – und sind damit ihrerseits daran interessiert, die Ähnlichkeiten der beiden nicht weiter zu beleuchten.

Querfront und rechte Ideologie

Der Begriff Querfront umfasst allerdings auch einen anderen Aspekt, den wir schon im und nach dem Ersten Weltkrieg als politisches Phänomen beobachten können. Die Niederlage im Krieg, die ökonomische Zerrüttung und die politische Krise führten auf der Rechten zur Entstehung pseudoradikaler Strömungen in der Intelligenz (und davon beeinflusst auch von völkischen, rechtsextremen bis hin zu faschistischen Kräften).

Autoren wie Oswald Spengler, Arthur Moeller van den Bruck oder Carl Schmitt stehen beispielhaft für diese präfaschistischen Ideologien, die bis heute gern von Rechten als angeblich vom Faschismus getrennter „radikaler“ Konservativismus und Nationalismus zurechtgebogen werden. Paradigmatisch dafür steht die sog. „konservative Revolution“.

Anders als der traditionelle bürgerliche Konservatismus griffen diese Intellektuellen die Krisenmomente der imperialistischen Ordnung so auf, dass sie ihre reaktionäre, autoritäre und diktatorische Antwort mit einem pseudoradikalen kleinbürgerlichen Antikapitalismus,  Kritik an der bürgerlichen Demokratie und Dekadenz verbanden. Sie erschienen daher als „revolutionär“, inszenierten sich als Vertreter:innen des „Volkes“, der Nation, der „Rasse“, deren echte Gemeinschaft keine Klasse mehr kennt. Ihr „Sozialismus“ nahm zwar auch Anleihen bei der revolutionären Linken, einzelnen Begriffen, Konzepten oder Aktionsformen, war aber zugleich von Beginn an strikt gegen den Marxismus gerichtet, um der „Volksgemeinschaft“ den Weg zu bereiten, und eng verbunden mit Antisemitismus und -liberalismus.

Die Krise des Kapitalismus und der Kampf um die Vorherrschaft im Rahmen der Weltordnung bildeten den Hintergrund und den Nährboden dafür, dass diese Ideologien einen Resonanzboden beim vom Untergang bedrohten Kleinbürgertum und unter der Intelligenz finden konnten. Anstelle des „verrotteten“ Parlamentarismus und Liberalismus sollte eine „echte“ Volksordnung ohne Parteien treten. So sollte den inneren Kämpfen der Nation – und das heißt vor allem dem Klassenkampf – ein Ende bereitet werden, samt aller inneren und äußeren Feind:innen. So sollte die Nation wieder fit gemacht werden für den „natürlichen“ Kampf zwischen den Völkern und „Rassen“. Auch wenn nicht alle diese Autor:innen in der Weimarer Republik (oder der heutigen „neuen Rechten“) dem Faschismus direkt zuzurechnen sind, so gehen sie in eine ähnliche, aggressive imperialistische Richtung. Mit dem Faschismus teilen sie außerdem, dass sie der äußersten Reaktion einen aktivistischen, pseudorevolutionären, antibürgerlichen Anstrich geben.

Als Bewegung fand dieser demagogische „Antikapitalismus“ seinen extremsten Ausdruck im Faschismus. Dieser stellt dabei nicht einfach eine besonders reaktionäre Partei oder Ideologie dar, sondern sein Wesen besteht gerade darin, das „wild gewordene Kleinbürgertum“ als Rammbock zur Zerschlagung der Arbeiter:innenbewegung zusammenzufassen. Einmal an der Macht, verliert der Faschismus seinen Bewegungscharakter, entledigt sich seines „linken“ Randes wie z. B. beim sog. Röhmputsch und gerät zu einer extremen Form der kapitalistischen, imperialistischen Diktatur.

Um ihre Rolle als demagogische, scheinbar antibürgerliche oder gar „sozialrevolutionäre“ Kraft spielen zu können, müssen die rechten Intellektuellen wie auch bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Kräfte demagogische Anleihen bei der wirklichen, gegen das Kapital gerichteten Arbeiter:innenbewegung aufnehmen. Daher stellt das demagogische, entstellende Ausschlachten von Symbolen, Versatzstücken, Begriffen und Aktionsformen fortschrittlicher Bewegung oder auch des Marxismus einen Zug aller diese alt- wie neurechten Gruppierungen und Ideolog:innen dar.

Natürlich sind solche „Übernahmen“ von Begriffen, Symbolen, Dresscodes unangenehm und irritierend. Daher ist es wichtig zu verstehen, warum dies stattfindet – und man muss sich auch ihre Grenzen vor Augen halten. In jedem Fall stellen diese Phänomene keine „Querfront“ zwischen Linken und Rechten dar, sondern eher das Gegenteil. Wenn man den Begriff dafür verwenden will, so besteht die „Querfront“ in der Übernahme von Symbolen oder bestimmter Termini, deren Sinn zudem oft entstellt wird und die immer in einen politischen und ideellen Gesamtkontext so eingefügt werden, dass sie eine gänzlich andere Bedeutung als in einem klassenpolitischen oder gar marxistischen Kontext annehmen. Der Rekurs auf Begriffe, Konzepte, Themen der Arbeiter:innenbewegung oder Linken ist kein Zufall und auch kein originelles „neues“ Konzept rechter Ideolog:innen, sondern ergibt sich vielmehr aus ihrem Ziel, auch die „unteren“ Klassen, also rückständige Schichten des Proletariats und Teile des Kleinbürger:innentums zu einer rechten, reaktionären Bewegung zu formieren, die in Scheinopposition zum Kapital steht, letztlich aber nur für eine andere Ausrichtung der Nation in der Konkurrenz zu anderen eintritt. Der Populismus, der positive Bezug zum von den Klassen gereinigten „Volk“ stellt daher eine Grundideologie aller rechten „Querfrontler:innen“ dar.

Die Linke und rechter Pseudoradikalismus

Die Entstehung von rechten, populistischen, völkischen bis hin zu faschistischen Bewegungen samt ihrer pseudoradikalen, „antielitären“ Ideologie stellt an sich eine Gefahr für die Arbeiter:innenklasse und die Linke dar. Das trifft insbesondere zu, sobald sich aufgrund von krisenhaften Verwerfungen populistische, pseudoradikale Bewegungen mit Massencharakter bilden, die auch Teile des Kleinbürger:innentums und der Arbeiter:innenschaft zu mobilisieren vermögen.

Natürlich muss eine revolutionäre Linke dabei nach Wegen suchen, wie rückständige Schichten der Arbeiter:innen, die von solchen Bewegungen angezogen werden oder sich diesen gar anschließen, für die Klasse (zurück)gewonnen werden können. Die Geschichte der Weimarer Republik liefert dabei etliche Beispiele, wie es sicher nicht geht – nämlich durch ideologische Anpassung.

Der Nationalbolschewismus, die Schlageterrede Radeks, Ruth Fischers Zugeständnisse an den Antisemitismus, das KPD-Programm der „nationalen und sozialen Befreiung“, aber auch die Sozialfaschismustheorie gehören zu diesen schweren politischen Fehlern.

Hinter all dem steckt eine Verkennung und Unterschätzung des aggressiv-reaktionären Charakters populistischer, nationalistischer, völkischer oder gar faschistischer „Bewegungen“. Dies rührt daher, dass sich die „oppositionelle“ Rechte scheinbar gegen die bürgerliche Klasse, gegen den Liberalismus oder sogar gegen den Imperialismus – natürlich nur den der anderen Mächte – richtet.

Die Anhänger:innen dieser Bewegungen erscheinen daher als irregeleitete, von den Verhältnissen bedrückte Menschen, die sich eigentlich gegen den/die vermeintlich gemeinsame/n Gegner:in – die dekadente, bürgerliche „Mitte“, Liberalismus, Zentrum, Reformismus und Gewerkschaftsbürokratie – zu richten scheinen. Diese Sicht gewinnt an Plausibilität dadurch, dass diese tatsächlich die bestehenden Verhältnisse in der Krise verteidigen, verwalten oder im Fall der Sozialdemokratie als „Arzt am Krankenbett des Kapitalismus“ fungieren.

Wird der wahre, reaktionäre Kern des demagogischen rechten Pseudoradikalismus nicht richtig begriffen, so droht eine Politik der Anpassung an einen kämpferischen, mit der herrschenden Ordnung scheinbar in Konflikt geratenen Rechtspopulismus.

So biedert sich Radek in der Schlageterrede, die allerdings von Lenin scharf kritisiert wurde, dem Nationalsozialisten Schlageter als „Märtyrer des deutschen Nationalismus“ an. Im Nationalbolschewismus wird der Nationalismus des geschlagenen deutschen Reiches zu einem „Befreiungsnationalismus“ mythologisiert. Im Programm der „nationalen und sozialen Befreiung“ versucht die stalinisierte KPD, der NSDAP den Nationalismus streitig zu machen, und die Sozialfaschismustheorie ging oft auch noch damit einher, dass die Kommunist:innen ihr „Hauptfeuer“ gegen die Sozialdemokratie richten sollten, statt eine Einheitsfront mit ihr gegen die Nazis zu bilden.

Auch wenn diese politischen Positionen zu wenig realen gemeinsamen Fronten oder wenigstens Absprachen von KPD und Rechten oder Nazis führten, so beinhalteten sie eine fatale politische Konsequenz. Sie verschleierten den eigentlichen Klassencharakter der pseudoradikalen, reaktionären Intelligenz und reaktionärer kleinbürgerlicher Bewegungen (inklusive der realen Gefahr, die der Faschismus darstellte).

Dies umfasste sowohl fatale taktische Fehler (insbesondere Sektierertum gegenüber sozialdemokratischen Arbeiter:innen und den Gewerkschaften), aber auch eine Anpassung an die reaktionäre rechte Ideologie – z. B. an den Nationalismus oder auch Verharmlosungen des Antisemitismus. Dies spielte, wie Trotzki zu Recht am KPD-Programm der „nationalen und sozialen Befreiung“ kritisierte, den Rechten in die Hände. Die Anpassung an den deutschen Nationalismus, das Kokettieren mit der Idee, dass Deutschland aufgrund der Versailler Verträge zu einer unterdrückten Nation geworden wäre, trug natürlich nicht dazu bei, dass sich nationalistisch geprägte Kleinbürger:innen oder rückständige Arbeiter:innen der KPD zuwandten. Im Gegenteil, die Nazis und andere Rechte griffen diese Anpassung auf, indem sie darauf verwiesen, dass die KPD nur selbst die zentrale Bedeutung der Nation, das Primat des Volkes vor der Klasse anerkennen müsse.

Die allgemeine, grundlegende Schlussfolgerung aus diesen geschichtlichen Fehlern lautet: Gegenüber dem Kleinbürger:innentum (wie generell gegenüber allen nicht ausbeutenden Klassen und Schichten) müssen Kommunist:innen Forderungen und ein Programm zur Lösung ihrer realen existenziellen Probleme (z. B. Verschuldung, Not) entwickeln. Sie dürfen jedoch keinerlei Zugeständnisse an reaktionären Ideologien und rückständiges Bewusstsein machen, schon gar nicht, wenn dies in Bewegungsform auftritt.

Linkspopulismus heute

Genau hier, in der Anpassung an rückständiges Bewusstsein liegt in der aktuellen Lage das eigentliche politische Problem. Natürlich gibt es auch reales Mitschwimmen von Menschen oder Gruppierungen, die der politischen Linken zuzurechnen sind, bei aktuellen rechtspopulistischen oder rechten Mobilisierungen. So beteiligten sich die sog. Freie Linke oder der sog. Demokratische Widerstand an der reaktionären Querdenker:innenbewegung und demonstrierten dabei auch gemeinsam mit Nazis oder rechtsradikalen Gruppen.

Aber diese Gruppierungen stellen politisch eine Randerscheinung dar. Der größte Teil der Linken lehnte eine Beteiligung an den Querdenker:innendemos und jedes Bündnis mit diesen ab, selbst wenn sie nur eine verharmlosende Position zur Pandemie und ihren Gefahren vertraten.

Auch wenn Sahra Wagenknecht von rechten Magazinen wie Compact oder von der AfD gelegentlich gelobt wird, so besteht keine organisierte Zusammenarbeit. Man mag ihr, dem ihr nahestehenden Flügel der Linkspartei, Aufstehen oder auch Teilen der Friedensbewegung vorwerfen, dass sie sich nicht ausreichend von rechten Mitläufer:innen auf ihren Aktionen abgrenzen. Aber selbst wo das zutreffen mag, ist das etwas anderes als eine Zusammenarbeit.

Das politische Problem liegt in Wirklichkeit woanders. Sahra Wagenknecht, Gruppierungen wie Aufstehen und eine ganze Reihe andere Linker haben in den letzten Jahren einen politischen Schwenk zum Linkspopulismus vollzogen. Anstelle eines, wenn auch bloß reformistischen Bezugs zur Klasse als zentralem Referenzpunkt der eigenen Politik trat das „Volk“. Die Lohnabhängigen operieren dabei nicht mehr als besondere Klasse, sondern nur als Teil einer Mehrheitsbevölkerung, die verschiedene Klassen umfasst, Arbeiter:innen, Kleinbürger:innen und auch „hart arbeitende“ Unternehmer:innen. In ihren Büchern hat die einstige Stalinistin längst der Marx’schen Kapitalismuskritik entsagt.

Ihr Ziel ist nicht die Umwälzung der Verhältnisse, sondern eine regulierte, soziale Marktwirtschaft – daher auch ihr positiver Bezug auf die Sozialdemokratie der Nachkriegszeit und selbst auf Ludwig Erhard.

Ihre „linke“ Politik läuft letztlich darauf hinaus, die Menschen für ein nationales, sozialstaatliches Programm zu gewinnen, das seinerseits eine bessere Stellung für alle Deutschen bringen soll. So wie Wagenknecht den Kapitalismus als gegeben betrachtet, so nimmt sie auch konservative, nationalistische, rückständige Bewusstseinsformen als gegeben. Dass Menschen an reaktionären Geschlechterstereotypen hängen, heimatverbunden und auf „ihre“ Nation stolz sind, erscheint ihr einfach als „natürlich“.

Daher richtet sich Wagenknecht – dem rechten Diskurs in der Tat nicht ganz unähnlich – gegen „Kosmopolitismus“, „offene Grenzen“, „Genderwahn“. Sie verknüpft ein sozialstaatliches Versorgungsversprechen mit einer reaktionären Kritik am bürgerlichen Liberalismus und „Kosmopolitismus“.

Am Liberalismus kritisieren Marxist:innen seinen bürgerlichen Charakter. Sie kritisieren, dass seine Freiheitsversprechen letztlich immer auf halbem Wege steckenbleiben müssen, weil die formale, rechtliche Gleichheit immer Makulatur bleiben muss, wenn die kapitalistischen Verhältnisse selbst nicht in Frage gestellt, ja verteidigt werden. Das Problem des „Kosmopolitismus“ besteht nicht in seinem universalen, den Nationalstaat transzendierenden Versprechen, sondern darin, dass es auf dem Boden einer imperialistischen, auf kapitalistischer Ausbeutung basierenden Weltordnung für die Masse immer unerfüllbar bleiben muss. Wirkliche Freiheit und Gleichheit kann es allenfalls als formale geben – und selbst dies ist, wie wir bei der Entrechtung von Migrant:innen und Geflüchteten wie überhaupt der Bevölkerung der meisten vom Imperialismus beherrschten Länder sehen können, für Milliarden Menschen nicht der Fall. Daher treten wir für einen proletarischen Internationalismus ein, für eine Politik des revolutionären Klassenkampfes, die dem historisch überholten Nationalstaat und der imperialistischen Ordnung wirklich die Totenglocken läuten kann.

Dass Wagenknecht und generell der Linkspopulismus „anschlussfähig“ an die Rechte sind, ist also nicht Folge einer bündnispolitischen Ausrichtung. Es ist vielmehr Resultat einer Ideologie, die selbst einen klassenübergreifenden Charakter trägt, die daher notwendigerweise den Klassenkampf hintanstellen muss und vorhandene, rückständige Bewusstseinsformen als „Band“ zwischen verschiedenen Klassen verwendet. Es ist dabei kein Zufall, dass dazu eifrig vor allem auf Bejahung der Nation oder „fortschrittlichen“ Patriotismus gemacht werden muss, weil der Nationalismus selbst eine quasi natürliche Kernideologie im imperialistischen Staat darstellt.

Eine gewisse Ironie besteht natürlich darin, dass auch das „Establishment“, die politische Kaste, die Elite, also das politische Personal des deutschen Imperialismus und die herrschende Klasse auch auf Nationalismus und Patriotismus setzen – sich also ihrerseits die „nationale Einheit“ auf die Fahnen geschrieben haben. Wenn also von Seiten der Regierung, der SPD, der Grünen, des SPIEGEL, der taz oder anderer linksbürgerlicher Medien an Wagenknecht der Vorwurf kommt, sie spiele zu viel mit nationalen, rückwärtsgewandten Ressentiments, so entbehrt dies nicht einer gewissen Komik angesichts des nationalen, liberaldemokratischen Schulterschlusses zur Aufrüstung für „unsere“ NATO. Die Querfrontvorwürfe gegen Wagenknecht und Schwarzer, die von dieser Seite kommen, sind im Grunde nichts als politische Nebelkerzen, um die eigene imperialistische Politik zu rechtfertigen.

Das ändert natürlich nichts daran, dass linkspopulistische Theorie und Politik von Marxist:innen einer scharfen Kritik unterzogen werden müssen, weil sie, setzen sie sich durch, zu einer Stärkung bürgerlicher Ideologie und weiteren Zersetzung des Klassenbewusstseins führen müssen.

Das bedeutet jedoch keineswegs, dass Revolutionär:innen im Kampf gegen soziale Angriffe oder Kriegstreiberei mit solchen Kräften nicht zusammenarbeiten dürfen. Im Gegenteil. Wo sie fortschrittliche und reale Sorgen und Nöte der Massen aufgreifen, müssen Linke in die Mobilisierungen intervenieren, freilich ohne ihre Kritik am Populismus zurückzustellen, sondern um für eine revolutionäre Klassenpolitik einzutreten.




Wir brauchen keine Schlichtung – wir brauchen 500 Euro oder 10,5 %!

Christian Gebhardt, Infomail 1218, 31. März 2023

Donnerstagnacht gingen die Meldungen durch die Medien: Es kommt zu keiner Einigung im Tarifkonflikt im öffentlichen Dienst (TVöD). Unüberbrückbar seien die Unterschiede zwischen der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) und den Gewerkschaften. Die VKA habe sich nicht dazu entscheiden können, ein sozial gerechtes Angebot vorzulegen. Ver.di erklärte die Verhandlungen für gescheitert und die Gegenseite rief die Schlichtung an.

Das letzte Angebot, das von der VKA auf dem Tisch lag, waren 8 % mehr Lohn, ein Mindestbetrag von 300 Euro sowie eine Einmalzahlung von 3.000 Euro. Bei der Laufzeit stehen sich 12 Monate von den Gewerkschaften und 27 Monate vom VKA entgegen. Hier gab es laut Medienberichten die größte Kompromissbereitschaft von Seiten der Gewerkschaften.

Noch zeigt die Verhandlungsführung Standhaftigkeit. Das bisherige „Angebot“ wird für die Mitgliedschaft nicht beschönigt und sie stellt sich auch weiterhin noch gegen die Einmalzahlungen als Kompromissbestandteil. Wie lange die Standfestigkeit der Bürokratie in einem zugespitzten Arbeitskampf anhalten kann, haben wir jedoch beim Abschluss der Postkolleg:innen erfahren dürfen. Dort wurde ein bis dahin abgelehntes Angebotspaket nach erfolgreicher Urabstimmung und kurz vor Streikbeginn mit unwesentlichen Abänderungen in einem Nacht-und Nebel-Abschluss angenommen und zur Abstimmung den Kolleg:innen vorgeschlagen. Das gleiche Einknicken kann in der nun anstehenden Schlichtung bei den TVöD-Verhandlungen ebenfalls passieren. Die ver.di-Führungsleute sind aus dem gleichen Stall wie bei der Post.

Schlichtung führt ins Abseits!

Die jetzt angerufene Schlichtung ist keine Überraschung. Die Arbeit„geber“:innen wollen die Beschäftigten aus dem Verfahren ausgrenzen. Die ver.di-Führung offensichtlich auch, sonst hätte sie diese Verpflichtungsvereinbarung zur obligatorischen Schlichtung nicht unterschrieben oder gekündigt. (Diese war und ist natürlich beiden Konfliktparteien bekannt und wird einen Platz in ihrer Strategiefindung eingenommen haben.)

In dieser Zeit gilt Friedenspflicht, was übersetzt bedeutet, dass die große Aktivität und Streikbereitschaft, die sich in den letzten Wochen und Monaten gezeigt hat, gebremst und der Streik insgesamt somit erst mal demobilisiert wird. Das hat nicht nur einen positiven Aspekt für die VKA, sondern auch für die Gewerkschaftsbürokratie, die zu Recht anmerkt, dass der Druck groß ist und die Kolleg:innen auf ihren Forderungen mit Hinblick auf Inflation und Energiekrise bestehen.

Zum Dritten bringt die Schlichtung eine andere Perspektive in den Prozess. Ihre „Unabhängigkeit“ bedeutet die Nichtberücksichtigung unserer Forderungen und Bedürfnisse. Ihr Maßstab ist die „Gesellschaft“.  Hinter der Frage „Was können ‚wir’ verkraften?“ werden in Wirklichkeit die Interessen des Staates, seiner Regierung und der herrschenden Klasse als die der „Allgemeinheit“ ausgegeben und versteckt.

Die Schlichter:innen werden sich auch an den Abschlüssen in anderen Branchen orientieren. Und die lagen alle nicht weit vom letzten Angebot der Gegenseite entfernt.

Es darf keine Annahme eines Schiedsspruchs unterhalb der Forderungen durch die ver.di-Vertreter:innen in der Schlichtungskommission geben! Und das heißt faktisch, die Schlichtung für gescheitert zu erklären und so rasch wie möglich die Urabstimmung über das Ergebnis der Schlichtung und einen möglichen Erzwingungsstreik einzuleiten.

Mobilisierung während der Schlichtung aufrechterhalten!

Wir dürfen uns in den nächsten Wochen von der sog. Friedenspflicht nicht lähmen lassen. Wir müssen die Zeit nutzen zur Einleitung der Urabstimmung. Zentral hierbei ist, dass die Befragung über das Schlichtungsergebnis sowie die Urabstimmung über den Erzwingungsstreiks bindend für die Bundestarifkommission sind. Dies muss verbunden werden mit regelmäßigen Mitglieder- und Personalversammlungen, bei denen der Verlauf der Schlichtung öffentlich gemacht wird. Außerdem sollten auch in den nächsten Wochen regelmäßig Demonstrationen organisiert werden, um die Mobilisierung aufrechtzuerhalten und die Beschäftigten in anderen Branchen auf der Straße zu informieren.

Der Megastreiktag am 27. März hat uns gezeigt, was möglich ist. Wenn wir mit unseren Kolleg:innen branchenübergreifend und zusammen streiken, dann steht das Land still. Eine Überraschung ist das nicht, denn wir alle wissen, dass wir gemeinsam stärker sind. So stark, dass wir uns auch gemeinsam gegen die mediale Stimmungsmache, die es im Vorfeld zum Streiktag gab und bei einem Erzwingungsstreik droht, wehren können.

  • Keine Illusionen in die Schlichtung: Lasst sie uns als gescheitert erklären! Je länger die Schlichtung dauert, desto unwahrscheinlicher wird ein unbefristeter Streik!

  • Wir brauchen einen Erzwingungsstreik! Vorbereitung und Einleitung einer bindenden Urabstimmung anstatt monatelanger Verhandlungsrituale oder gar Schlichtung!

  • Nein zu allen Gesprächen hinter verschlossenen Türen! Verhandlungen sollen öffentlich über das Internet übertragen werden! Keine Abschlüsse ohne vorherige Abstimmung unter den Mitgliedern! Rechenschaftspflicht und Wahl der Tarifkommission durch die Basis!

  • Regelmäßige Streikversammlungen in allen Betrieben und Abteilungen! Wahl und Abwählbarkeit der Streikleitungen durch die Mitglieder!

  • Wahl und Entsendung von Delegierten zu einer bundesweiten Streikdelegiertenkonferenz, um hier gemeinsam über die nächsten Schritte im Arbeitskampf zu beraten!

Perspektive

Die Tarifabschlüsse in der Metallindustrie und bei der Post senden eine Warnung: Trotz hoher Mobilisierung und Streikbereitschaft wurde heftiger Reallohnverlust vereinbart, garniert mit 3000 Euro steuer- und abgabenfrei, was im Sommer in der Konzertierten Aktion zwischen Regierung, Kapital und Gewerkschaftsspitzen ausgemacht worden war. Für den öffentlichen Dienst droht ein ähnliches Ergebnis, das Reallohnverlust auf dem Konto und ein Niederlage im Klassenkampf bedeutet.

Es ist strategisch nötig, eine kämpferische Basisopposition aufzubauen, gegen die sozialpartner:innenschaftliche Bürokratie in den Gewerkschaften, die stets die Interessen der Arbeitenden denen des Kapitals und seines Staates unterordnet.

Für die noch laufenden Tarifrunden heißt dies:

  • Aufbau von unabhängigen Aktionsgruppen mit allen Kolleg:innen, die sich nicht verkaufen lassen wollen!

  • Volle Transparenz bei Aktionen, Verhandlungen und den Schlichtungsgesprächen einfordern!

  • Mit den im Tarifkampf aktiven Kolleg:innen Betriebsgruppen oder Vertrauensleutestrukturen aufbauen!

  • Das Schlichtungsabkommen zeigt deutlich, dass es eine konstant arbeitende Basisopposition benötigt, die für seine Kündigung eine Kampagne innerhalb von ver.di anschiebt, damit es uns nicht bei den nächsten Verhandlungen wieder auf die Füße fällt.

  • Die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) hat sich in dieser Tarifrunde als Hebel erwiesen, an einigen Orten zum Sammelpunkt gegen die Gewerkschaftsbürokratie zu werden.

Das ist ein notwendiger Anknüpfungspunkt! Sollte auch in dieser Tarifrunde die Bürokratie einen miesen Abschluss zu verantworten haben, dann muss die Konsequenz sein, dass sich an der Basis eine dauerhafte Opposition aufbaut!




Frankreich: Generalstreik gegen die „Rentenreform“! Nieder mit Macron und der antidemokratischen Fünften Republik!

Marc Lassalle, Infomail 1217, 24. März 2023

Seit zwei Monaten wird Frankreich von Streiks und Protesten gegen den Versuch, das Rentenalter zu erhöhen, erschüttert. Doch nun ist die Krise in eine neue Phase eingetreten.

Nach monatelangen Verhandlungen, in denen versucht wurde, die Stimmen der Abgeordneten des rechten Flügels der Republikaner:innen zu kaufen, konnte die Regierung immer noch keine Mehrheit erlangen – ein Zeichen für den Druck, den die Massen auf alle Abgeordneten ausübten.

Präsident Emmanuel Macron berief sich daraufhin auf Artikel 49.3 der Verfassung, der es ihm erlaubt, das Parlament zu übergehen und Gesetze zu verabschieden, ohne dass es eine Mehrheit unter den Abgeordneten gibt, geschweige denn ein Mandat des Volkes.

Dieser ungeheuerliche Eingriff in die Demokratie löste mehr als eine Woche lang eine neue Serie nächtlicher Proteste aus. In diesen Kämpfen mit den Sicherheitskräften stehen immer mehr junge Menschen an vorderster Front: Sie lassen sich nicht ihrer demokratischen Rechte berauben!

An den Arbeitsplätzen fällt das Tempo des Kampfes uneinheitlich aus. Einige Sektoren wie die Eisenbahnen, die Energiewirtschaft, die Docks und die Müllabfuhr werden seit Wochen bestreikt. Auf den Straßen von Paris türmen sich 10.000 Tonnen Müll. Die Häfen von Marseille und Rouen sind blockiert, ebenso wie mehrere Raffinerien. Die Benzinknappheit ist im Süden des Landes sehr groß und weitet sich unaufhaltsam auf das ganze Land aus.

Der Aktionstag am 23. März brachte 3,5 Millionen Arbeit„nehmer“:innen mit hunderten Demonstrationen auf die Straße. Die Erfahrung der letzten Wochen zeigt jedoch, dass selbst eine Mobilisierung dieses Ausmaßes nicht ausreicht, um die Regierung zum Rückzug zu zwingen, geschweige denn, um sie vollständig abzusetzen, was die notwendige Voraussetzung für die Aufhebung des Gesetzes und eine angemessene Bestrafung für ihre Missachtung der Demokratie wäre.

Alle Gewerkschaftsverbände erklärten, sie würden das Land im März zum Stillstand bringen. Die Realität sieht jedoch bislang anders aus. Einige gut organisierte Sektoren führen zwar erneuerbare Streiks durch (die jeden Morgen in Betriebsversammlungen abgestimmt werden), aber es gibt keine generelle Arbeitsniederlegung. An den Aktionstagen (neun seit Januar) werden Millionen auf die Straße gebracht, aber die Zahl der Streikenden außerhalb dieser Tage ist eher gering.

Was ist hier los? Die Gewerkschaftsführer:innen haben ihre Glaubwürdigkeit in diesem Kampf aufs Spiel gesetzt – sie können heute nicht einfach nachgeben oder sich zurückziehen. Aber sie wollen auch nicht über die aktuelle Strategie hinausgehen. Da die Rentenreform nach allgemeiner und richtiger Auffassung den Lohnabhängigen zwei Jahre ihres Ruhestands vorenthält, würde eine Niederlage bedeuten, dass sie zugeben müssten, dass sie nicht in der Lage sind, die bestehenden Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter:innen zu verteidigen, geschweige denn für Verbesserungen zu kämpfen.

Doch trotz des hohen Einsatzes weigern sich die Gewerkschaften, zu einem Generalstreik aufzurufen. Sie bestehen auf Blockaden, auf Verallgemeinerungen, aber sie haben nicht dazu aufgerufen, dass alle organisiert und gemeinsam das Land in einem unbefristeten politischen Streik lahmlegen. Der Grund dafür ist einfach. Die Zahl der gewerkschaftlich Organisierten in Frankreich ist gering, weniger als 10 Prozent. Die Führungen ziehen es daher vor, gut kontrollierte Streiks in einigen strategischen Sektoren mit „Aktionstagen“ für alle anderen zu kombinieren. Sie ziehen diese konkreten Aktionen einem unbefristeten Generalstreik vor, der zwangsläufig die Organisation alternativer lokaler, regionaler und nationaler Führungen zur Koordinierung erfordern würde. Angesichts eines politischen Kampfes, der eine politische Aktion in gleichem Umfang erfordert, sind die Gewerkschaftsspitzen unschlüssig und verhalten sich zu dieser Aufgabe passiv. Doch dies ist eine Strategie der Niederlage.

Viele Arbeiter:innen betrachten die Gewerkschaftsführer:innen immer noch als die legitime Führung, auch weil die Gewerkschaftsfront (die Intersyndicale) bislang geschlossen bleibt und die Reden der Führer:innen einen radikalen Ton anschlagen. Doch bevor Macron ein Misstrauensvotum knapp überstand, war die Zahl der Streikenden rückläufig. Das hat sich nach dem 16. März zwar wieder geändert. Aber ohne einen ernsthaften Tempo- und Richtungswechsel wird sich nach einiger Zeit wieder dasselbe Problem stellen.

Deshalb müssen wir den Schwung des aktuellen Kampfes nutzen. Dieser ist noch nicht vorbei, er ist vielmehr in eine entscheidende Phase getreten. Die nächsten Tage und Wochen werden von größter Bedeutung sein. Die Entschlossenheit der Streikenden, kombiniert mit der noch zu entfesselnden Kampfbereitschaft der Massen, ist unermesslich stärker als die Regierung und ihre Polizei. Die Jugend nimmt den Kampf auf: Universitäten in Paris und Toulouse sind besetzt. Überall versuchen Aktivist:innen, die Betriebe zu vernetzen, Streikkomitees zu bilden und für einen Generalstreik zu werben.

Das jüngste Interview von Macron, das von einer ungezügelten Verachtung für die Lohnabhängigen geprägt war, hat die Situation noch zugespitzt. Die Gewalt der Polizei und die Forderungen der Minister:innen nach einem harten Durchgreifen gegen die Demonstrant:innen verstärken den Hass der Bevölkerung auf die Regierung nur noch. Millionen von Menschen fühlen, dass Demokratie und Gerechtigkeit auf ihrer Seite sind.

Der Generalstreik ist der einzig mögliche Schritt. In jedem Betrieb sollten die Aktivist:innen die Führung übernehmen und ihre Kolleg:innen davon überzeugen, die Streiks auszuweiten, die Profitmaschine zu stoppen und die öffentlichen Dienste zu schließen. Generalversammlungen und Streikkomitees in den Betrieben sollten die Führung übernehmen und Aktionsräte bilden, die regional und national vernetzt sind, um die Verallgemeinerung von Streiks zu organisieren.

Dieser Kampf geht über die Renten hinaus. Auf Macrons Umgehung des Parlaments kann es nur eine Antwort geben: einen Generalstreik, um die Rentenreform zu stoppen, um Macron zu stürzen und vor allem, um die 5. Republik und ihre bonapartistische Verfassung zu Fall zu bringen.

Macron wird nicht der erste Tyrann sein, der von den französischen Arbeiter:innen auf der Straße besiegt wird. Aber er könnte der letzte sein, wenn die französische Arbeiter:innenklasse sich auf eine Endabrechnung mit dem Kapitalismus vorbereitet.




Britannien: Klassenkampf gegen die Krise des Gesundheitswesens

Andy Yorke, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung, März 2023

Der Winter ist da und mit ihm die bisher schwerste Krise des Gesundheitssystems. Trotz der Atempause nach der Covidpandemie im Jahr 2022 erreichten die Wartelisten im Dezember einen neuen Rekord von 7,2 Millionen, mit bis zu 500 zusätzlichen Todesfällen pro Woche als Folge von Verzögerungen.

Eine Rekordzahl von Patient:innen wartete über 12 Stunden auf eine Behandlung in der Notaufnahme. Daher herrschte weithin Ungläubigkeit, als der Sprecher der konservativen Sunak-Regierung bestritt, dass es sich bei dieser „beispiellosen Herausforderung“ um eine Krise handele, und behauptete: „Wir sind zuversichtlich, dass wir den Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) mit den erforderlichen Mitteln ausstatten“. So versuchte er, die Krise auf die Pandemie zu schieben.

Doch diese begann lange davor. Das jährliche Wachstum der Ausgaben von 6 % im Gesundheitswesen unter der letzten Labour-Regierung wurde durch die Sparmaßnahmen auf weniger als 1,8 % gesenkt. Das Vereinigte Königreich liegt bei der Bettenzahl pro Kopf weit unter dem internationalen Durchschnitt, selbst im Vergleich zu ärmeren Ländern, und weist seit 2010 eine dauerhaft zu niedrige Zahl freier Betten auf. Das Ziel, die durchschnittliche Belegung auf 18 Patient:innen pro Woche und Bett zu erhöhen, wurde seit 2016 nicht mehr erreicht.

In der Winterkrise 2017 war der NHS gezwungen, Zehntausende von Operationen abzusagen. Im Jahr 2022 lag die Zahl bei 350.000, also fast tausend pro Tag! Schon vor der Pandemie warteten 8.270 Patient:innen in der Notaufnahme im Jahr 2019 mehr als 12 Stunden auf eine Behandlung (ein Sechsfaches gegenüber 2015). Die Krise des Gesundheitssystems wird durch die des unterfinanzierten, überwiegend privaten Sozialfürsorgesektors noch verschärft.

Das Scheitern des NHS

Der Schlüssel zum Verständnis der Krise sind unzureichende Finanzierung und Personalmangel. Die Zahl der unbesetzten Stellen für medizinisches Personal und die Wartelisten sind parallel angestiegen. Jede Regierung der britischen Konservativen (Tories) führt eine weitere schmerzhafte Umstrukturierung durch, doch trotz der Forderungen der Gewerkschaften und der Britischen Medizinischen Vereinigung nach transparenten Personalbewertungen hat keine Regierung seit 2003 eine nationale Personalstrategie für den Gesundheitssektor vorgelegt. Stattdessen verlassen sich die Tories auf „Lückenbüßer:innen“, d. h. den privaten Sektor, Leiharbeitsagenturen mit Aushilfskräften für die Krankenhäuser.

46.000 unbesetzte Stellen für Krankenschwestern und -pfleger (11,7 % der Belegschaft) zeigen den Zusammenhang zwischen der Unterfinanzierung von Seiten der Tories und Privatisierung. In einem Teufelskreis verlassen nun tausende Pflegekräfte den NHS aufgrund von Überlastung, Stress und sinkender Bezahlung. Ihr Streik setzt einen ersten Schritt, um diese von den Konservativen verursachte Katastrophe rückgängig zu machen.

Die Regierung Sunak nutzt die Krise wie alle ihre Tory-Vorgänger:innen, um die Privatisierung weiter voranzutreiben. Sie umgeht Gespräche mit den Gewerkschaften und setzt die Covidpolitik fort, private Krankenhäuser und Pflegeheime für Betten zu bezahlen, was den öffentlichen Gesundheitsdienst bis zu eine Milliarde Pfund kostet.

Für die Tories blockieren Krankenhäuser weitere Privatisierungen. Deshalb sind die Pläne, 150 psychiatrische Behandlungszentren zu bauen und Patient:innen von den Notaufnahmen fernzuhalten, Teil des Vorhabens, die Gesundheitsversorgung in die Wohnviertel zu verlegen und den NHS zu zerschlagen.

Die Tories wollen nicht mehr Krankenpfleger:innen finanzieren, sind aber sehr darum besorgt, den NHS immer wieder umzustrukturieren, um mehr Profit herauszuholen. Bei der jüngsten Umstrukturierung wurden 42 integrierte Pflegegremien für den NHS England eingerichtet. Diese sind Teil des Ansatzes der Tories, den NHS zu fragmentieren und den Zugang für private Unternehmen auf jeder Ebene, einschließlich der Auftragsvergabe und Planung, zu verbessern.

In der Zwischenzeit schloss eine halbe Million Menschen im Jahr 2022 eine private Krankenversicherung ab, und viele weitere bezahlten für eine private Behandlung, mit der sie die Warteschlange des staatlichen Gesundheitsdienstes praktisch überspringen konnten und eine Untersuchung oder Operation beim selben Arzt/bei derselben Ärztin im gleichen Krankenhaus erhielten, von der ihnen gesagt worden war, dass sie erst in einigen Monaten verfügbar wäre!

Wird Labour das Gesundheitswesen retten?

Viele setzten ihre Hoffnungen auf Labour. Doch die New-Labour-Regierung verband die Aufstockung der Mittel mit Kürzungen bei Betten und Personal und einer weiteren Öffnung des staatlichen Gesundheitsdienstes für die Privatisierung. Labour-Vorsitzender Keir Starmer verspricht, dass seine Regierung die Mittel aufstocken wird, aber „Investitionen allein nicht ausreichen“. Das bedeutet noch mehr Umstrukturierungen und eine größere Rolle für den privaten Sektor.

In Wirklichkeit wird die Wiedereinführung des Spitzensteuersatzes von 45 Prozent nicht annähernd ausreichen, um das schwarze Loch in der Finanzierung des staatlichen Gesundheitsdiensts zu stopfen, und es gibt keinen Plan, um die Schäden von vier Jahrzehnten Marktwirtschaft und Privatisierung rückgängig zu machen. Schlimmer noch, die Lösung des Schattengesundheitsministers besteht darin, den privaten Sektor zu nutzen, um die Wartelisten zu verkürzen.

Ein siegreicher Streik der Krankenschwestern und -pfleger erfordert nicht nur das Festhalten an einer voll finanzierten realen Gehaltserhöhung, sondern hängt von der Gründung einer Massenbewegung zur Verteidigung des staatlichen Gesundheitswesens und dem Kampf für den Ausbau des öffentlichen Dienstes ab, der durch die Besteuerung der Reichen finanziert wird. Dies ist der erfolgversprechendste Weg, um sicherzustellen, dass die Beschäftigten und Nutzer:innen des NHS in der Lage sind, Labour dazu zu bringen, ihn wirklich zu verteidigen.

Streikwelle geht weiter

In einer historischen Premiere haben sich die Krankenschwestern und -pfleger der Gewerkschaft RCN (Royal College of Nursing; Britanniens größte Gewerkschaft und Berufskörperschaft für Pflegende), die bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit getrieben wurden, der Streikwelle gegen die Lebenshaltungskostenkrise angeschlossen. Und trotz der Versuche der Medien, die öffentliche Missbilligung auszutesten, erhalten sie massive Unterstützung. Eine Million Mal werden Patient:innen alle 36 Stunden im öffentlichen Gesundheitsdienst behandelt, und sie sind dem hart arbeitenden Personal in überwältigender Weise dankbar und unterstützen es.

Jahrelang sinkende Reallöhne (um mehr als 20 % seit 2010), unterbesetzte und chaotische Stationen, die nur mit Überstunden arbeiten, und der unerbittliche Druck der Covid- und Grippewinterepidemien haben viele Krankenpflegekräfte veranlasst, trotz der Ängste um ihre Patient:innen zu streiken. Weit davon entfernt, den Patient:innen zu schaden, wie in den Medien behauptet wird, scheint ein Arbeitskampf für viele die einzige Möglichkeit zu sein, nicht nur die Löhne zu erhöhen, sondern auch mehr Personal anzuwerben und das staatliche Gesundheitssystem zu retten. Es gibt über 132.000 unbesetzte Stellen.

Erstmals schließen sich auch die Krankenwagenfahrer:innen der Gewerkschaften GMB (National Union of General and Municipal Workers) sowie Unison und Unite (zwei weitere Gewerkschaften im öffentlichen und privaten Dienstleistungssektor) und außerdem Physiotherapeut:innen, Hebammen und Röntgenassistent:innen dem Kampf gegen die sinkenden Löhne an. Bei der Urabstimmung der gewerkschaftlichen medizinischen Vereinigung BMA von 45.000 Ärzt:innen in der Ausbildung über eine beleidigende Gehaltserhöhung von 2 % in diesem Jahr wird wahrscheinlich mit „Ja“ für eine Aktion gestimmt werden. Mit einer für März geplanten 72-stündigen Arbeitsniederlegung werden sich noch mehr Ärzt:innen dem Kampf für Gehalt und Finanzierung anschließen. Am 6. Februar fand der bisher größte Streik im Gesundheitswesen statt, bei dem Krankenschwestern und -pfleger, Sanitäter:innen und andere Beschäftigte die Arbeit niederlegten.

Organisiert die Basis!

Die Beschäftigten müssen Einigkeit, Koordinierung und eskalierende Maßnahmen fordern. GMB- und Unison-Ambulanzbeschäftigte streiken bisher zumeist getrennt. Das RCN lässt verschiedene Sektionen von Krankenpersonal an unterschiedlichen Tagen streiken. In Schottland und Wales haben die Gewerkschaften ihre Streiks für Gespräche mit den (dezentralen) Regionalregierungen ausgesetzt.

Belegschaftsversammlungen zur Bildung von Delegiertenausschüssen in und zwischen Krankenhäusern und weiteren Einrichtungen (z. B. ausgelagerten, privatisierten Abteilungen) sind der Schlüssel zum Erfolg der Streiks. Diese können die Entschlossenheit stärken, diejenigen unterstützen, die noch an der Urabstimmung teilnehmen, und auf weitere Maßnahmen drängen, um den Konflikt zu kontrollieren.




„Mindestens 500 Euro monatlich ist die wichtigste Forderung!“

Interview mit einer Beschäftigten der Stuttgarter Stadtverwaltung, Infomail 1215, 28. Februar 2023

Die Tarifrunde des öffentlichen Dienstes ist im vollen Gange und die ersten beiden Verhandlungsrunden wurden ergebnislos beendet. Um nicht nur die üblichen „Tarifrituale“ zu kommentieren, haben wir ein Interview mit einer Beschäftigten in der Stuttgarter Stadtverwaltung geführt, um auch Beschäftigten aus der Basis eine Stimme im Tarifkampf zu geben. Das Interview führte Christian Gebhardt.

GAM: Hallo, beschreib uns doch zunächst die Stimmung in deinem Betrieb. Spielt die Tarifrunde in Gesprächen eine Rolle oder geht sie bisher eher an den Kolleg:innen vorbei?

Mein persönlicher Eindruck ist, dass am Anfang während der Forderungsfindung die Tarifrunde kaum präsent bei den Kolleg:innen war. Doch nach der ersten Verhandlungsrunde wurde schon viel über die Forderungen gesprochen und diskutiert. Hier hat auch die Unterschriftensammlung einen positiven Effekt gehabt, um die Diskussionen in meinem Betrieb zu entfachen.

Nachdem die Forderung zu den 10,5 % und mind. 500 Euro von ver.di öffentlich gemacht wurde, begann eine bundesweite Unterschriftenaktion, um möglichst viele Kolleg:innen hinter die Forderungen zu sammeln. Unser Bezirk war hier bundesweit ziemlich weit vorne. Im Klinikum haben über 50 % der Belegschaft unterschrieben. Die über 11.000 gesammelten Unterschriften wurden dann öffentlichkeitswirksam an einem Streiktag dem Oberbürgermeister übergeben. Ich fand das insgesamt einen guten Auftakt für die Tarifrunde.

GAM: Die 500 Euro stellen vor allem für die unteren Tarifgruppen eine wichtige Forderung dar. Kommt diese bei den Kolleg:innen an?

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass am Anfang nicht richtig verstanden wurde, worum es bei den 500 Euro geht. Nämlich um 500 Euro mehr für die Tabelle. Das bedeutet bei vielen sogar mehr als 15 % Lohnerhöhung. Ich habe auch den Eindruck, dass eben die Forderung nach den tabellenwirksamen 500 Euro die wichtigste Forderung für die Kolleg:innen ist und für die sie auch kämpfen wollen. Eine Kollegin – die selbst kein ver.di Mitglied ist – fand von Anfang an die 10,5 % zu wenig, da es dadurch keinen Inflationsausgleich der vergangenen Jahre geben würde. Zusätzlich hat sie aus Erfahrung auch wenig Vertrauen in ver.di, diese 10.5 % zu erreichen. Die 500 Euro sind da greifbarer.

GAM: Die Frage der Streiktaktik ist immer eine wichtige. Was plant ihr denn in den Streikversammlungen in Stuttgart für Aktionen?

Aus Sicht der Streikversammlung in der Stadtverwaltung sollen die Streiks einen möglichst großen wirtschaftlichen Schaden bei der Stadt anrichten, um Druck auf diese aufzubauen. Auch wenn nicht von vornherein alle Beschäftigten mobilisiert werden sollen, sprechen wir darüber, welche Bereiche gezielt bestreikt werden sollen, um Schaden zu verursachen. Das wäre dann zum Beispiel die Hauswirtschaft beim Jugendamt. Diese bereitet täglich Essen für unsere Kitas zu. Wenn diese streikt, muss alternativ teureres Essen für die Kinder besorgt werden. Ein weiteres Beispiel wären Streiks der Parküberwachung, da diese einen wirtschaftlichen Schaden für die Stadt anrichten, wenn dadurch für jeden Streiktag Tausende Euros für Falschparken flöten gehen. Eine große Außenwirkung auch auf die Privatwirtschaft hätten Streiks bei der KfZ-Zulassungsstelle. Wenn die dichtmacht, kann das auch Auswirkungen für Daimler und Porsche zeitigen, die ja ihren Sitz hier in Stuttgart haben.

GAM: Empfindest du diese Taktik als zielführend? Oder hast du andere Vorstellungen bezüglich der Streiktaktik?

Ich finde es gut, dass man darauf schaut, welche Bereiche einen finanziellen Schaden anrichten können. Wichtiger finde ich aber, dass alle Beschäftigten aus den verschiedenen Bereichen mobilisiert werden und auch streiken. Der Streik sollte ja auch dazu führen, dass sich möglichst viele Kolleg:innen organisieren, sich ver.di anschließen und auf der Straße die Forderungen mit erkämpfen.

Ich denke auch, dass wir die anstehenden Streiks, wie die der Post, aber auch andere Kämpfe wie den internationalen Frauentag oder den Global Climate Strike miteinander verbinden sollten. Dies war auch mal im Gespräch bei einer Streikversammlung. Es hieß, wenn die Post in den Erzwingungsstreik geht, könne man die Streiks verbinden. Ich wüsste nicht, was dagegen spricht, es schon vorher getan zu haben. Es ist ja nicht so, dass man den Kolleg:innen von der Post die Show stiehlt, sondern vielmehr, dass wir dieselben Interessen haben und unseren Kampf gemeinsam auf der Straße führen. Meiner Meinung nach sollte man das direkt von Anfang an verbinden, dann hätte man auch viel mehr Leute auf der Straße mit gleichen Interessen.

Allerdings ist es gut, dass die Beschäftigten der Straßenbahnen ihren Streik mit dem Global Climate Strike am 3. März verbinden und zusammen für eine bessere Finanzierung und Ausbau des ÖPNV auf die Straße gehen.

GAM: Gab es noch andere Bereiche, in denen ver.di der Debatte zur Zusammenführung der Streiks ausgewichen ist?

Ja, am internationalen Frauentag soll vor allem im Pflege-, Sozial- und Erziehungsdienst gestreikt werden. Also dort, wo überwiegend Frauen beschäftigt sind und schlecht bezahlt werden. Der Streik wird mit der großen 8.-März-Demonstration verbunden. Die Kollegen in männerdominierenden Bereichen wie Abfallwirtschaft oder Garten- und Friedhofsamt sahen auf Diskussionen in der Streikversammlung hier leider keinen Grund, am 8. März zu streiken, weil das Thema nichts mit ihnen zu tun hätte und sie daran zweifelten, für die Demonstration Kollegen mobilisieren zu können. Leider wurde auch hier nicht ausgiebig genug diskutiert und der Diskussion ausgewichen. Ich persönlich finde, dass dies sehr wohl was miteinander zu tun hat und sich männerdominierende Bereiche hier solidarisieren sollten, stellt die schlechte Bezahlung der weiblichen Kolleginnen im öffentlichen Dienst nicht nur eine Ungerechtigkeit dar, sondern werden diese von der Gegenseite auch als Lohndrückerinnen eingesetzt. Schon aus „egoistischen“ Gründen sollten sich männliche Kollegen hier solidarisch zeigen. Zusätzlich ist die schlechtere Bezahlung auch ein Ausdruck der Unterfinanzierung des öffentlichen Dienstes, was sich über Umwegen dann auch bei ihnen bemerkbar macht.

GAM: Gibt es intern eigentlich Gespräche über einen möglichen Erzwingungsstreik?

Hier in Stuttgart wurde sich zumindest rhetorisch von Anfang an darauf vorbereitet, in den Erzwingungsstreik zu gehen. Jedoch schiebt hier die Bürokratie die Verantwortung an uns Beschäftigte ab: nämlich inwieweit wir die Kolleg:innen mobilisiert bekommen. Auch wenn die Organisierung eines Streiks durch die Basis wichtig ist, sollte die Bürokratie hier nicht alles auf uns abwälzen. Ein Erzwingungsstreik sollte durch alle beteiligten Gewerkschaften geplant und unterstützt werden. Dafür haben wir zentrale Organe in unseren Gewerkschaften, die eine solche Koordinierung und Organisierung übernehmen sollten. An der Basis haben wir z. B. durch die Unterschriftensammlung gezeigt, wie viele Kolleg:innen wir für die Forderungen gewinnen können. Nun liegt es eigentlich an der Führung, den Erzwingungsstreik auf die Gleise zu setzen. Ich frage mich hier jedoch, warum dies nicht aktiver angegangen wird, obwohl zu Beginn mehrmals darüber gesprochen wurde. Eine mögliche Erklärung wäre, dass die Bürokratie eigentlich keinen Erzwingungsstreik möchte und diesen versucht zu verschleppen.

GAM: Einem Erzwingungsstreik steht ja das Schlichtungsabkommen von ver.di im Weg. Hier verpflichtet sich die Gewerkschaft, einer Schlichtung zuzustimmen, sollte die Gegenseite diese einleiten. Was hältst du von diesem Abkommen?

Ich halte von dem Abkommen nichts und finde es schädlich für die Mobilisierung der Beschäftigten. Dieses Abkommen sollte von ver.di aus gekündigt werden. Wir sind seit Monaten schon dabei, Kolleg:innen für die 10,5 %, aber mindestens 500  Euro zu gewinnen. Diese Schlichtung, welche ab 1. April einberufen werden kann, dauert einen Monat an und währenddessen herrscht Friedenspflicht. Das würde sich sicherlich nicht positiv auf die Mobilisierung auswirken. Das bedeutet, dass während der Schlichtung gar kein Druck durch Streiks auf die Arbeit„geber“:innenseite ausgeübt werden kann. Also ich gehe nicht davon aus, dass die Arbeit„geber“:innen“ auf unsere Forderungen zugehen werden. Ver.di darf aber ebenso wenig von unserer Forderung abrücken. Wir wollen wirklich nicht einen solchen Abschluss wie die IG Metall oder die IG BCE mit 2 Jahren Laufzeit und einem klaren Reallohnverlust. Würde ein solcher Abschluss im öffentlichen Dienst zustande kommen, wird das sicherlich zu Austritten führen.

GAM: Möchtest du unseren Leser:innen noch etwas mit auf den Weg geben?

Ich denke, für uns Beschäftigte ist es wichtig, dass wir auch Druck auf ver.di ausüben, damit unsere Forderungen durchgesetzt werden und wir zeigen, dass wir dafür auch in den Erzwingungsstreik gehen wollen und keinen Abschluss hinnehmen, der unsere Forderungen unterschreitet.




Manifest für Frieden: bürgerlicher Pazifismus am Pranger

Wilhelm Schulz, Infomail 1214, 22. Februar 2023

Die Petition „Manifest für Frieden“ wurde am 10. Februar von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer veröffentlicht. Sie stellt einen Aufruf für die sofortige Einstellung von Waffenlieferungen und Einleitung von Friedensverhandlungen dar. Der Text fordert die Bundesregierung und den Bundeskanzler auf, Verhandlungen einzuleiten, um „Schaden vom deutschen Volke [zu] wenden“. Der Entrüstungssturm über die Petition zeigt jedoch weniger deren politische Begrenztheit auf als den Beweis, welche Anfeindungen selbst linksliberaler oder sozialchauvinistischer Pazifismus aktuell erfährt.

Auch wenn wir die Petition nicht unterstützen, so halten wir sie doch für den momentan lautstärksten Vorstoß aus den Reihen der Friedensbewegung. Die Versammlung am 25. Februar wird rund um das bittere erste Jubiläum des russischen Angriffs auf die Ukraine vermutlich die größte jener sein, die sich gegen den Aufrüstungs- und Eskalationskurs der deutschen Regierung stellen wollen. Auch wenn wir Pazifismus als Form bürgerlicher Ideologie ablehnen, so ist der der Massen ein nachvollziehbarer Ansatz angesichts drohender Verschärfung der Barbarei und des Mangels an einer fortschrittlichen Perspektive zu ihrer Überwindung. Aus diesem Grund werden wir an der Versammlung teilnehmen, während wir von den Organisator:innen fordern, sich vor Ort deutlich von etwaigen rechten Akteur:innen abzugrenzen und diese, falls sie anwesend sollten, durch Ordner:innen aus der Versammlung zu werfen.

Die Petition verzeichnet mittlerweile fast 600.000 Unterstützer:innen (Stand: 22.02.23). Neben den beiden Initiatorinnen gibt es noch 69 Erstunterzeichner:innen – eine breite Palette, die mit dem Begriff linksliberal nur verzerrt zusammengefasst werden kann.

Auch wenn aufgrund des öffentlichen Drucks einige wie die ehemalige Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche (EKD), Margot Käßmann, ihre Unterschrift zurückgezogen haben, so bleiben die meisten Unterzeichner:innen Wissenschaftler:innen und Kulturschaffende, die dem Spektrum von SPD, Linkspartei und Grünen nahestehen.

Es ist aber bezeichnend für die politische Ausrichtung der Initiatorinnen Schwarzer und Wagenknecht, dass einige Prominente aus dem konservativen und rechten Spektrum, darunter Erich Vad, Brigadegeneral a. D. der Bundeswehr und von 2006 bis 2013 Militärpolitischer Berater von Angela Merkel im Kanzler:innenamt, dahinterstehen. Vad hat zudem in der Vergangenheit vor rechten Burschenschaftlern referiert und für die rechtspopulistische Junge Freiheit vor etwa 20 Jahren geschrieben.

Die Unterstützer:innenliste umfasst jedoch nicht nur Ex-Funktionsträger:innen und mehr oder weniger bekannten linke Persönlichkeiten, sondern auch Repräsentant:innen der reformistischen Arbeiter:innenbewegung wie Christof Ostheimer, der ver.di-Bezirksvorsitzende Südholsteins, oder Michael Müller, den Bundesvorsitzenden der sozialdemokratischen Naturfreunde. Daneben natürlich Wagenknecht, die Galionsfigur der Linken, die in den letzten Jahren der Klassenpolitik den Rücken kehrte und ein linkspopulistisches Programm für DIE LINKE zu etablieren versucht. Und Schwarzer, eine bürgerliche Feministin der zweiten Welle des Feminismus, die vor allem durch Transfeindlichkeit in den letzten Jahren bei neuen Generationen von Feminist:innen angeeckt ist.

Insgesamt handelt es sich um ein volksfrontartiges, klassenübergreifendes Personenbündnis. Der Aufruf stellt keine Aufforderung zum aktiven Handeln dar, sondern letztlich nur den kleinsten gemeinsamen Nenner der Initiator:innen. Aber er hat hunderttausende Unterschriften erhalten, weil nicht zuletzt Millionen Lohnabhängige über die Militarisierung und den Kriegskurs der Bundesregierung zu Recht beunruhigt sind.

Zum Inhalt

Das Manifest selbst spricht sich für die sofortige Einstellung von Kriegshandlungen aus. Es droht vor einer latenten Gefahr der Ausweitung über ihre bisherigen Grenzen bis hin zum Weltkrieg. Der Überfall Russlands auf die Ukraine und die Notwendigkeit von Solidarität mit ihrer Bevölkerung wird benannt. Dies bleibt allerdings letztlich ohne konkrete politische Folgen, weil nirgendwo das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine verteidigt oder als Ziel eines etwaigen Friedens benannt wird. Nirgendwo wird der Rückzug der russischen Invasionstruppen aus den seit Februar 2022 eroberten Gebieten gefordert.

Der Text spricht sich im Anschluss nur gegen den Kriegskurs der Bundesregierung und des ukrainischen Präsidenten Selenskyj aus. Militärstrategisch sieht sich der Petitionstext vor einer Pattsituation. So schreiben die Initiatorinnen: „Die Ukraine kann zwar – unterstützt durch den Westen – einzelne Schlachten gewinnen. Aber sie kann gegen die größte Atommacht der Welt keinen Krieg gewinnen.“ Aus dieser Erkenntnis folgt der Aufruf an die Bundesregierung, zwischen den USA und Russland zu vermitteln oder auf die europäischen Nachbar:innen einzuwirken. Demnach soll Olaf Scholz die Waffenlieferungen einstellen und eine „Allianz für einen Waffenstillstand“ aufbauen.

Die hier aufgeworfene Perspektive verbleibt vollständig innerhalb des Horizonts bürgerlicher Diplomatie. Den Krieg können anscheinend nur Diplomat:innen stoppen. So heißt es: „Wir Bürgerinnen und Bürger Deutschlands können nicht direkt auf Amerika und Russland oder auf unsere europäischen Nachbarn einwirken.“ Daher müssten wir „unsere Regierung“ in die Pflicht nehmen und Olaf Scholz zum Anführer einer „Friedensallianz“ krönen.

Doch die „Friedensallianz“, die keine eigenen Klasseninteressen vertritt, gibt es nicht und kann es nicht geben. So wie die deutsche Regierung mit Sanktionen und Waffenlieferungen ihre eigenen imperialistischen Interessen verfolgt, die Ukrainer:innen im Krieg für ihre eigenen geostrategischen und wirtschaftlichen Zwecke unterstützt, wird sie das natürlich auch am Verhandlungstisch tun – und genauso werden das alle anderen Beteiligten auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung versuchen.

Letztlich soll der geforderte Frieden dem deutschen Interesse dienen. Demnach ist der Krieg einer zwischen den USA (im Aufruftext Amerika) und Russland. Eine Beteiligung oder genauer deren Fortsetzung entsprächen nicht den Interessen Deutschlands bzw. denen des deutschen Kapitals. In diesem Sinne appelliert der Aufruf an die deutsche Bourgeoisie und ihren Staat, um diese für die Linie der vergangenen Jahrzehnte zurückzugewinnen. Eben jene konnte den Kriegskurs aber nicht stoppen, weil sie keine oder nur wenige Anhänger:innen unter der herrschenden Klasse in Deutschland besitzt. Das kann sich natürlich ändern – und darauf hoffen letztlich Schwarzer und Wagenknecht.

Es ist auch kein Wunder, dass daher Forderungen, die das direkte Interesse des deutschen Imperialismus auch in der Konkurrenz zu Russland berühren, außen vor bleiben. So werden weder die Abschaffung der Sanktionen noch der Stopp der Aufrüstung der Bundeswehr und NATO auch nur erwähnt. Dabei befeuern die Sanktionen nicht nur die Inflation und Armut hierzulande, sondern vor allem auch den Hunger und Not in der Welt. Ihre Folgewirkungen bedrohen das Leben Hunderttausender.

Das 100-Milliarden-Programm, die europäische Rüstungsinitiative und die Aufstockung der schnellen NATO-Eingreiftruppe auf 300.000 Soldat:innen finden sich im Aufruf mit keinem Wort.

Zu diesen Fragen gibt es unter den Initiator:innen entweder keine Einigkeit oder man möchte konservative Gegner:innen des Ukrainekriegs nicht mit Abrüstungsforderungen an die deutsche Regierung „abschrecken“. So bleibt es beim allgemeinen Ruf nach Frieden – im deutschen Interesse. Der Sozialpazifismus wird als die beste Politik für „unseren“ Imperialismus präsentiert.

Und wie wird darüber gesprochen?

Die öffentliche Kritik am Aufruf lässt sich in zwei Stoßrichtungen einteilen, wobei die eine die andere erkennbar bestimmt. Einerseits jene, die jedweden Bruch mit der konfrontativen Politik gegenüber dem russischen Imperialismus als reaktionär abstempelt. Andererseits jene, die dem ausweicht und die Gefahr der Beteiligung reaktionärer Anhänger:innen über die Notwendigkeit stellt, für eine internationalistische und klassenkämpferische Ausrichtung der Opposition gegen die Kriegspolitik der Bundesregierung zu kämpfen. Als Produkt kommt bei beiden Kritiken ähnliches raus: Passivität gegenüber der neuen Orientierung des deutschen Imperialismus.

Die Petition ist in der Linken, aber vor allem in DIE LINKE, sehr umstritten. Der Parteivorstand der LINKEN hat am Donnerstag, dem 16.2, bekanntgegeben, den Protest zu unterstützen, der sich für Frieden und Waffenstillstand einsetzt und von rechts abgrenzt – nicht aber die größte Kundgebung gegen die Bundesregierung. Das Ausbleiben einer Erwähnung des „Manifest für Frieden“ spricht hier Bände, denn es ist aus den Reihen der Partei der aktuell bekannteste Ansatz. Die Stellungnahme stellt dementsprechend eine indirekte Distanzierung dar, die umgekehrt aber allen freistellt, doch hinzugehen oder den Aufruf zu unterzeichnen.

Das Manifest ist in seiner Perspektive weder neu noch innovativ. Es vertritt eine Form bürgerlicher Politik, die mittels eines Appells an den Staat in Form von Bundesregierung und -kanzler zum Richtungswechsel in Fragen der Waffenlieferungen und Friedensverhandlungen drängen möchte und die alles mit dem Verweis auf deutsche Interessen begründet. Der Richtungsstreit wird im Militärjargon als jener zwischen Falken, den sogenannten Hardliner:innen, und Tauben, der Orientierung auf Verhandlungen, beschrieben. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) formuliert den Standpunkt der Hardliner:innen, aber auch ihren Punktsieg in der politischen Stimmung in Deutschland deutlich, wenn sie die Unterzeichner:innen des Manifests „zu propagandistischen Helfern eines Kriegsverbrechers“ abstempelt.

Dabei greift sie zwar genüsslich wirkliche Schwächen des Aufrufs auf und dessen Verharmlosung des russischen Imperialismus, aber die FAZ unterschlägt dabei natürlich die imperialen Kriegsziele der NATO, der USA und auch Deutschlands.

Vorwurf der Querfront oder zumindest rechten Unterwanderung

Der AfD Co-Vorsitzende Tino Chrupalla hat öffentlich verkündet, das Manifest unterschrieben zu haben. Dies hat er nicht als einer der Erstunterzeichnenden getan, sondern einfach nur ein Kontaktformular auf einer Homepage unterschrieben. Chrupalla und das von Jürgen Elsässer geführte, neurechte Magazin Compact riefen darüber hinaus zur Beteiligung an der Kundgebung am 25. Februar in Berlin auf. Wagenknecht distanzierte sich im Interview mit dem SPIEGEL öffentlich davon und untersagte die Beteiligung von AfD und anderen Akteur:innen der Rechten. Oskar Lafontaine, der ehemalige Mitbegründer der LINKEN und Erstunterzeichner, riss diese Brandmauer kurz darauf erneut nieder, indem er die „Gesinnungsprüfung“ oder Parteibuchkontrolle bei Einlass zur Demonstration ausschloss. Eine politische Schmierenkomödie mit ungewissem Ausgang.

Im Aufruf selbst wird die Abgrenzung nach rechts jedoch nicht deutlich formuliert. Auch wenn wir diese bereits im Petitionstext für notwendig erachtet hätten, so fand die Distanzierung schlussendlich doch statt. Die konsequente Fortsetzung dessen müsste eine eindeutige Abgrenzung im Rahmen der Versammlung und ein Rauswurf öffentlich bekannter oder auftretender rechter Akteur:innen durch Ordner:innen bedeuten. Ob es dazu kommt, steht in den Sternen.

Die AfD versucht mittels ihrer Kriegsposition, ähnlich wie das Manifest für Frieden, eine alternative Ausrichtung für das deutsche Bürger:innentum anzubieten. In diesem Sinne ist ihr Aufruf zur Unterstützung nachvollziehbar, aber das hat noch einen zweiten positiven Punkt für die Rechten. Es ist ihren Akteur:innen vermutlich sehr deutlich klar, dass ein Mobilisierungsaufruf ihrerseits die Demobilisierung im Lager der Arbeiter:innenbewegung befeuern würde.

Sie würden damit sowohl die Verbitterung im Lager der Initiator:innen und ihrer Unterstützer:innen anspornen, während sie ihre eigenen Mobilisierungen weiterhin als die relativ stärksten verkaufen können. Notwendig wäre eine klassenkämpferische Position, die die Schwächung des eigenen Imperialismus, die Beendigung des Krieges durch Klassenkampf ins Zentrum stellt. Ein solcher Aufruf hätte sich jedoch an den DGB und seine Mitgliedschaft richten sollen, eine Verbindung zu den das Jahr 2023 durchziehenden Arbeitskämpfen gebraucht. Eine solche Perspektive gilt es, auch in die Tarifauseinandersetzungen zu tragen.

Begrenzter Pazifismus

Laut Unterstützer:innen der Petition in der LINKEN unterstütze weiterhin eine Mehrheit der Parteimitglieder den Vorstoß. Was jedoch deutlicher zu erkennen ist, ist die Kapitulation der Partei angesichts der aktuellen Herausforderungen. DIE LINKE versteht sich seit ihrer Entstehung als Antikriegspartei, eine Position auf dem Sand des Pazifismus gebaut. Beide Bewegungsrichtungen (Parteivorstand und Regierungssozialist:innen oder Wagenknechtlager), in die pazifistische Politik angesichts des Krieges taumelnd, zeigen deren Begrenztheit auf. Die Mehrheit des Parteivorstandes hält die Füße still, da sie schlussendlich den Frieden nur durch einen militärischen Sieg der Ukraine für möglich halten will und die Rolle der NATO herunterspielt. Der andere Teil sieht dies als unmöglich an und orientiert dementsprechend auf Verhandlungen zwischen jenen Akteur:innen, die spätestens seit 2014 regelmäßig Öl ins Feuer kippen.

Beide Ansätze verstehen den Krieg als externen Schock, den es zu beseitigen gilt, um die rechtmäßige (bürgerliche) Ordnung wiederherzustellen. Dabei ist der Krieg dem Kapitalismus innerlich. Er bietet eine Chance, dessen Überakkumulationskrisen durch massive Vernichtung von Kapital und Arbeit, aber auch Verdrängung imperialistischer Konkurrenz im Kampf um die Neuaufteilung der Welt zu lösen. Sowohl der Fokus der Hardliner:innen als auch jener der Verhandlungsbefürworter:innen überlässt die Handlungsfähigkeit den Herrschenden. Beide bieten Arbeiter:innen und Unterdrückten keine eigenständige Handlungsperspektive.

Insgesamt lehnen wir Verhandlungspredigten ab. Sie haben auf verschiedenen Ebenen einen passiven Charakter. Erstens erhoffen sie gerade von jenen imperialistischen Regierungen einen „gerechten Frieden“, die selbst maßgeblich den Krieg befeuert haben und befeuern. Zweitens unterstellen sie den Krieg als etwas Außerordentliches, in dem es nur um Töten oder getötet Werden geht. Das Zurückholen der jeweiligen Staaten an den Verhandlungstisch, die den vorherigen „friedlichen“ Zustand wiederherstellen sollen, bleibt die letzte waffenlose Form der Vaterlandsverteidigung.

Wer ist das Subjekt einer Antikriegsbewegung?

Der Aufruf für den 25. Februar macht dies ganz deutlich. Die deutsche Bevölkerung – also auch die Arbeiter:innenklasse – können ihm zufolge nichts bewirken. Daher muss Olaf Scholz als Friedensarchitekt ran.

Doch nicht nur die deutsche Bevölkerung taucht als Subjekt nicht auf. In der Ukraine und in Russland gibt es anscheinend auch nur Herrschende. Die ukrainischen Massen, die die Hauptlast des Kriegs tragen müssen, erscheinen nur als bedauernswerte Opfer. Ihre eigenen sozialen und demokratischen Rechte und Interessen gibt’s anscheinend nur als Restgröße der Verhandlungen zwischen Putin und Biden, unter Vermittlung von Scholz und Macron. Die russische Arbeiter:innenklasse und die dortige Antikriegsbewegung werden erst gar nicht erwähnt.

Als Revolutionär:innen stellen wir im Kampf gegen diesen Krieg und seine Folgen den Klassenkampf, die Frontstellung zur herrschenden Klasse und zum „eigenen“ Imperialismus in den Mittelpunkt. Zugleich solidarisieren wir uns mit den Arbeiter:innen in der Ukraine und Russland. So haben wir schon im Mai letzten Jahres folgende Vorschläge für den Aufbau einer Antikriegsbewegung in Deutschland erbracht, die in ihren Grundzügen bis heute (leider) noch immer Gültigkeit haben:

„ – Nein zu Putins Angriffskrieg! Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung und Antikriegsbewegung in Russland!

– Sofortiger Abzug der russischen Armee! Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung, Anerkennung ihres Rechts auf Selbstverteidigung gegen die Invasion!

– Solidarität mit der Antikriegsbewegung und der Arbeiter:innenklasse in Russland; Verbreitung der Aktionen gegen den Krieg; Freilassung aller Festgenommenen!

– Aufnahme aller Geflüchteten, Bleibe- und Staatsbürger:innenrechte für alle – finanziert durch den Staat; Integration der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt, Aufnahme in die Gewerkschaften!

– Nein zu jeder NATO-Intervention! Gegen alle Sanktionen, Aufrüstung, NATO-Truppenverlagerungen und Waffenlieferungen! Gegen NATO-Ausweitung, sofortiger Austritt aus der NATO!

– Keinen Cent für die imperialistische Politik, für die Bundeswehr! Nein zum 100-Milliarden-Programm der Ampelkoalition!

– Die Kosten für die Preissteigerung müssen die Herrschenden zahlen! Enteignung des Energiesektors und anderer Preistreiber:innen unter Arbeiter:innenkontrolle! Übernahme gestiegener Lebenshaltungskosten der Arbeiter:innenklasse, der Rentner:innen, von Erwerbslosen durch Besteuerung des Kapitals! Verstaatlichung der Rüstungsindustrie und Konversion unter Arbeiter:innenkontrolle!

– Politischer Massenstreik und Massendemonstrationen gegen jede direkte NATO-Intervention!“

Doch um diese Perspektive zu verbreiten, müssen wir diese auch unter die Arbeiter:innen tragen – auch unter jene, die vom Pazifismus geprägt sind und aus diesem Grund den Aufruf unterzeichnet haben bzw. zur Kundgebung kommen. Für sie erscheint die Verhandlung, ein Mittel zur Beendigung der Barbarei darzustellen, ohne dabei jedoch die Frage nach deren Ursprung und Wiederholungspotential aufzuwerfen. In diesem Sinne rufen wir alle linken und klassenkämpferischen Organisationen dazu auf, sich an der Versammlung zu beteiligen und für eine Position des Klassenkampfes einzutreten.




Ver.di: Vor einem Streikjahr?

Helga Müller, Neue Internationale 271, Februar 2023

In diesem Jahr stehen mindestens 5 größere Tarifrunden in Deutschland an! In diesem Frühjahr allein 3 wichtige Tarifrunden: bei der Post, im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen und im Nahverkehr Bayern. Es folgen die bei der Bahn und im Herbst im öffentlichen Dienst der Länder.

Und die Gehaltsforderungen lauten: bei der Post: 15 %, im öffentlichen Dienst und beim Nahverkehr Bayern 10,5 % und mindestens 500 Euro Festgeld. Letzterer hat bewusst die Forderungen des öffentlichen Dienstes übernommen. Sie verkörpern allesamt einen realen Ausgleich gegen die galoppierenden Inflation. Voraussetzung dafür wäre natürlich ihre volle Durchsetzung.  Dies ist nur möglich, wenn sich die Verantwortlichen von ver.di schnell dazu entscheiden, eine Urabstimmung für Erzwingungsstreiks durchzuführen.

Kampfstärke und Erfolgsaussichten

1. Alle Forderungen sind von den Kolleg:innen selbst durchgesetzt worden. Bei der Post z. B. hatten sich die gewerkschaftlich organisierten Kolleg:innen bei einer Mitgliederbefragung für eine deutlich höhere Entgeltforderung als die von der Tarifkommission (TK) vorgeschlagenen 10 % ausgesprochen und 90 % derjenigen, die sich an der Befragung beteiligten, waren auch bereit, dafür Arbeitskampfmaßnahmen zu ergreifen. Daraufhin hatte sich die TK zu der Tarifforderung von 15 % durchgerungen und eine Erhöhung für die Azubis von 200 Euro beschlossen. Auch bei ver.di gab es deutlich höhere Forderungen aus den Reihen der Kolleg:innen – bis zu 19 % –, die sie auch gegenüber der TK vehement vertreten hatten. Gerade die Festgeldforderung von 500 Euro würde für viele von ihnen, die sich in den unteren Entgeltgruppen befinden und besonders hart unter der Preissteigerung leiden müssen, eine Erhöhung von bis zu 21 % bedeuten.

2. In vielen Bereichen existiert auch eine hohe Bereitschaft, dafür in den Streik zu gehen. Bei der Post sind die Voraussetzungen besonders günstig, der Organisationsgrad hier ist traditionell sehr hoch. Dieser liegt bei 70 % bundesweit – wobei es hier auch starke regionale Unterschiede gibt. Vor allem bei Dienststellen mit vielen Teilzeit- oder befristeten Beschäftigten liegt der Organisationsgrad unter 50 %. Alles in allem jedoch gute Voraussetzungen, um einen Durchsetzungsstreik auszuhalten. Auch die bisherigen Warnstreiks werden von den Kolleg:innen sehr gut befolgt. Sie werden trotz anstrengender Arbeit schlecht bezahlt, verdienen im Bundesdurchschnitt 1.000 Euro weniger als andere Beschäftigte im Monat und mussten dazu noch einen Reallohnverlust von 7 % im Jahr 2022 erleiden. Die Arbeitsbedingungen werden von Jahr zu Jahr schlechter z. B. über ständig wechselnde und größere Zustellungsgebiete, sodass viele sich eine andere Arbeit suchen. Allein 2021 haben 10.000 Beschäftigte den Konzern verlassen. Gleichzeitig hat er 8,4 Milliarden Euro Gewinn eingefahren – das beste Ergebnis aller Zeiten! Dies alles wird die Kampfmoral zusätzlich steigern.

Auch wenn der öffentliche Dienst insgesamt nicht so gut organisiert ist, gibt es dort durchaus Bereiche wie Müllabfuhr, Erzieher:innen, Sozialarbeiter:innen und auch Belegschaften in einigen Krankenhäusern, die schon über viel Kampferfahrung verfügen. Zudem haben die dortigen Bewegungen in NRW und Berlin gezeigt, dass, wenn ein systematischer Mitgliederaufbau betrieben wird und die Kolleg:innen selbst über ihre Forderungen und die Vorgehensweise diskutieren und mitentscheiden können, auch wochenlange Durchsetzungsstreiks in diesen Bereichen möglich sind. Wie groß wäre erst wohl die Kampfstärke, wenn sie die komplette demokratische Kontrolle über den Kampf ausübten?

Im Nahverkehr sind die Kampferfahrungen hoch und selbst gut organisierte kurze Warnstreiks können sehr schnell den öffentlichen Nahverkehr lahmlegen, was den Druck auf die Kommunen erhöht. Hierbei muss gesagt werden, dass bundesweit betrachtet der Nahverkehr ein zerzauster Tarifflickenteppich ist. Während in Bayern dieses Jahr in der Runde des öffentlichen Dienstes mitverhandelt wird (aber auch hier nur bei den Betrieben, die in kommunaler Hand sind), sind andere erst nächstes Jahr dran. Zudem gibt es einige Betriebe mit Haustarifverträgen, z. B. die Berliner Verkehrsbetriebe oder die Hamburger Hochbahn. Das schwächt natürlich die Kampfkraft.

3. Zum anderen sind die Bedingungen auch deswegen günstig, da drei große Tarifrunden fast zeitgleich stattfinden: Die TK bei der Post verhandelt insgesamt für ca. 200.000 Beschäftigte (155.000 bei der Deutschen Post und 37.000 bei DHL), im öffentlichen Dienst für ca. 2,3 Mio. bei Bund und Kommunen und beim Nahverkehr Bayern für mehrere Tausend. Das sind über 2,5 Millionen Beschäftigte insgesamt!  Wenn diese in einer großen Tarifbewegung mit gemeinsamen Durchsetzungsstreiks und öffentlichkeitswirksamen Aktionen von den ver.di-Verantwortlichen zusammengeführt würden, wäre dies eine Kraft, die den Regierungen das Zittern beibrächte – ähnlich wie 1992 beim großen Streik im öffentlichen Dienst, bei dem auf dem Höhepunkt  sich zeitweilig mehr als 330.000 Arbeiter:innen und Angestellte im Ausstand befanden. Das wäre auch die Kraft, die eine Abwälzung der Krise auf die breiten Massen der Lohnabhängigen und Arbeitslosen, Rentner:innen, Jugendlichen und Migrant:innen verhindern könnte.

Die Kolleg:innen im Nahverkehr Bayern haben sehr bewusst die Forderungen des öffentlichen Dienstes übernommen und sich für gemeinsame Aktionen und Arbeitskampfmaßnahmen ausgesprochen. Zu Anfang war das wohl auch der Wille der TK bei der Post. Mittlerweile haben aber die Mitglieder dort bereits die zweite Verhandlung hinter sich, in denen sich die Vertreter:innen der Post stur stellen und die Forderung nach wie vor ablehnen und für überzogen halten. Die 3. und vorerst letzte Tarifverhandlung findet dort am 8./9. Februar statt, im öffentlichen Dienst die erste Verhandlung erst am 24. Januar. Ob es nach einem letzten schlechten Angebot von Arbeit„geber“:innenseite dann tatsächlich zu einer anschließenden Mitgliederbefragung und Urabstimmung über einen unbefristeten Streik kommt, wissen bisher nur die Götter! Insofern stehen die Postkolleg:innen im Moment alleine da und entsprechend provokativ verhalten sich auch die Konzernverhandlungsführer:innen

4. Zum Vierten haben sich verschiedene Initiativen, darunter die Kampagne „Genug ist Genug“ (GiG) und die Berliner Krankenhausbewegung dazu entschieden, Solidaritätsaktionen bis hin zu einer Großdemo in Berlin am 25. März zu organisieren. Auch auf der Videokonferenz  von GiG zur Information über darüber mit den Postkolleg:innen am 12. Januar gab es verschiedene Ideen zur Unterstützung ihrer Tarifrunde. Alle dort Postler:innen betonten die Notwendigkeit der öffentlichen Unterstützung. Sei es einfach, dass man zu Kundgebungen und Streiks kommt und seine Solidarität bekundet oder einfach ein paar unterstützende Worte vorträgt bis dahin, ihre berechtigten Anliegen in der Öffentlichkeit klarzumachen. Denn bei den Verhandlungen versuchen die Vertreter:innen des Unternehmens, die Forderungen für vollkommen überzogen und realitätsfern hinzustellen. Um sich diesen Verunglimpfungen in den Weg zu stellen und damit auch die aktive Solidarität der Leute in den Stadtvierteln zu gewinnen, ist die Unterstützung von außen sehr wichtig, z. B. mit Flyern, in denen die Forderungen begründet werden und darauf hingewiesen wird, unter welch miserablen Bedingungen sie arbeiten müssen. Am 3./4. März will GiG eine bundesweite Aktionskonferenz in Halle (Saale) organisieren, auf der mögliche Unterstützungsaktionen für die Kolleg:innen in den anderen Tarifrunden besprochen werden.

Schulterschluss mit fortschrittlichen Bewegungen

Im Bereich Nahverkehr – der großteils erst 2024 in Verhandlungen einsteigt – gibt es aus früheren Tarifrunden noch zahlreiche Verbindungen zur Klimabewegung und auch in dieser wird es zu gemeinsamen Aktionen mit ihr kommen! Hier gibt es auch ein ganz klares gemeinsames Interesse: Ausbau des öffentlichen Nah- statt Individualverkehrs und Aufbau des entsprechenden Personals – eine der Forderungen der dort tätigen Beschäftigten. Dies durchzusetzen, geht nur gemeinsam mit Aktivist:innen aus der Klimabewegung und Kolleg:innen anderer Bereiche.

Tarifrunde und Internationaler Frauenkampftag

Last but not least fällt der Tarifkampf – zumindest im öffentlichen Dienst, im Nahverkehr und evtl. auch bei  der Post, falls es nicht vorher zum Abschluss kommen sollte – auf den Internationalen Frauenkampftag am 8. März. Wie im letzten Jahr sollen Aktionen und Demonstrationen an diesem Tag zusammen mit den Kolleg:innen aus dem öffentlichen Dienst und Nahverkehr gemeinsam durchgeführt werden. Doch bisher lehnt der ver.di-Bundesvorstand es ab, an diesem Tag zu Warnstreiks aufzurufen. Nichtsdestotrotz gibt es im Landesbezirk Baden-Württemberg eine Initiative, an diesem Tag ausgewählte Mitglieder zu Arbeitsstreiks aufzurufen, einer Art Vorstufe zu Warnstreiks. Bei der Krankenhausbewegung spielte das in Berlin und NRW eine Rolle zur Sammlung einiger Hundert führender Aktien in Vorbereitung auf einen größeren Arbeitskampf. Gegen diesen Beschluss sollten nichtsdestotrotz alle ver.di-Gliederungen Protestresolutionen verabschieden.

Kampfesführung

Das A und O dafür, dass die Kämpfe erfolgreich geführt, also alle Forderungen erfüllt werden können, bleibt, dass die Kolleg:innen sich dafür einsetzen, auf breiten Streikversammlungen über den Verhandlungsstand informiert zu werden, diskutieren und entscheiden zu können, wie ihr Kampf weitergeführt wird. Diese Entscheidungen müssen sowohl für die TK als auch den Bundesvorstand, der letztlich über die Streiks entscheidet, bindend sein! Um diese Diskussionen organisiert führen zu können, sind gewählte Streikkomitees notwendig, die gegenüber den streikenden Kolleg:innen rechenschaftspflichtig und von ihren Vollversammlungen jederzeit abwählbar sind. D. h., diese müssen sich dafür einsetzen, dass sie selbst die Kontrolle darüber erringen. Erste Elemente dieser elementaren Arbeiter:innendemokratie haben sich in den beiden Krankenhausbewegungen von Berlin und NRW herauskristallisiert. Letzten Endes ist das nur möglich, wenn sich eine politische Kraft in ver.di und allen DGB-Gewerkschaften herausbildet, die bewusst den Kurs der Anpassung aller Gewerkschaftsführungen an Kapitalinteressen und angebliche Sachzwängen in einer antibürokratischen Basisbewegung bekämpft. Einen Ansatz dafür stellen heute die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften und ihre lokalen Strukturen dar.

Vorsicht Falle! Schlichtungsabkommen kündigen!

Eine gefährliche Bremse für die konsequente Führung des Arbeitskampfs bildet das Schlichtungsabkommen zwischen ver.di-Spitze und öffentlichen Dienstherr:innen. Die VKG schreibt:

„Aufgrund der unnötig von ver.di unterschriebenen Schlichtungsvereinbarung im öffentlichen Dienst hat sich die Gewerkschaft selbst dazu verpflichtet, sich bei einem Scheitern von Verhandlungen auf eine Schlichtung einzulassen, in der Friedenspflicht herrscht. Hier würde auch starker politischer Druck aufgebaut. Ver.di sollte diese Vereinbarung – sie ist bis einen Monat zum Quartalsende kündbar – sofort kündigen! Wenn die Schlichtung kommt, dann sollten Aktive darauf vorbereitet sein und massiven Druck von unten aufbauen, damit ein Schlichtungsergebnis – von dem schon jetzt klar ist, dass es nicht die notwendigen Erhöhungen beinhaltet – abgelehnt wird und unverzüglich Urabstimmung und Erzwingungsstreik erfolgen.“

Dem ist vollkommen beizupflichten und es ist rechtzeitig darauf zu drängen, dass der Gewerkschaftsvorstand es sofort kündigt, damit es ab April außer Kraft tritt. Diesbezügliche Petitionen sind zu verfassen, Mitglieder aus der VKG Berlin sind hier bereits mit gutem Beispiel in ihren jeweiligen Gewerkschaftsgliederungen vorangegangen. Unabhängig davon sollten alle Mitglieder sich nach Scheitern der Verhandlungen für die sofortige Einleitung der Urabstimmung einsetzen.




Die Versprechen der Regierung Lula

Jonathan Frühling, Neue Internationale 271, Februar 2023

Vier Jahre lang war Brasilien im Griff des rechten Präsidenten Bolsonaro. Die Regenwaldabholzung hat unter ihm historische Höchstwerte erreicht, Corona knapp 600.000 Menschen getötet und die (militante) Rechte wurde massiv gestärkt. Nach einem knappen Rennen ist im zweiten Wahlgang wieder der Reformist Lula da Silva zum Präsidenten gewählt worden.

Allerdings trat dieser nicht nur als Kandidat der Arbeiter:innenpartei PT an, sondern hat eine Volksfront mit offen bürgerlichen, neoliberalen Parteien gebildet. Sein Vizepräsident ist der neoliberale Geraldo Alckmin, der lange Zeit als führendes Mitglied in der PSDB (Partei der Sozialen Demokratie) agierte, welches die wichtigste Oppositionspartei während Lulas letzten beiden Präsidentschaften war.

Rechte Gefahr

Wie der Putschversuch im Januar zeigte, ist die rechte Gefahr mit der Wahl keineswegs gebannt. Zur Zeit setzen nicht nur die Arbeiter:innen, die städtische und ländliche Armut, die rassistisch Unterdrückten und Indigenen, die Frauen- und Umweltbewegung auf eine Regierung Lula, sondern auch wichtige Sektoren der brasilianischen Bourgeoisie, die Vizepräsident Alckmin in der PT-geführten Regierung am deutlichsten repräsentiert. Das ist der eigentliche Grund, warum der Putschversuch nie Aussicht auf Erfolg hatte. Doch diese Allianz gegensätzlicher Klassenkräfte und Interessen stellt keine Garantie gegen weitere Putschversuche dar, sondern eine Gefahr für die Zukunft.

Angesichts der rechten Gefahr setzen Lula und die PT wie schon im Wahlkampf auf ein Bündnis mit der „demokratischen“ Bourgeoisie, die den Putsch gegen Dilma mitorganisierte, aus dem Bolsonaro hervorging. Ferner setzen sie auf jenen Militär- und Polizeiapparat, dem der Expräsident entstammt und der Lula nur solange stützen wird, wie er die Interessen des brasilianischen Kapitals verteidigt und die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten ruhig zu halten vermag.

Die herrschende Klasse und die imperialistischen Länder kalkulieren damit, dass Lula und die PT in dieser politischen Zwickmühle leichter gefügig gemacht werden können. Angesichts der Wirtschaftskrise lehnen diese Reformen ab, sodass selbst die Versprechen der PT auf parlamentarischem Wege sicher nicht umsetzbar sein werden. Im Folgenden wollen wir sie näher betrachten.

Umweltpolitik

Besonders im Fokus stand während der Wahl in Brasilien der Amazonasregenwald. Lula versprach während der Wahl, bis zum Ende seiner Amtszeit die Rodungen vollständig zu beenden. Es sollen dafür Schutzprogramme aufgelegt und scharfe Kontrollen eingeführt werden.

Um dieses Ziel zu erreichen, setzte Lula die Umweltaktivistin Marina Silva als Umweltministerin ein, die bereits während seiner ersten beiden Amtszeiten von 2003 – 2008 diesen Posten bekleidete. Wie wenig wir den Versprechen von Lula trauen können, zeigen die Gründe für den Rücktritt von Marina Silva aus Lulas letztem Kabinett: Damals erlaubte Lula die Erschließung entlegener Regenwaldregionen für die Agrokapitalist:innen und Aluminiumindustrie.

Frauenrechte

Wenig Hoffnungen sollten wir auch in Bezug auf Frauenrechte hegen. Schon in seinen ersten zwei Amtszeiten hatte Lula kein Abtreibungsrecht durchgesetzt. Während des Wahlkampfs hat er sich sogar davon distanziert. Grund dafür war, die wachsende Anzahl rechtskonservativer evangelikaler Christ:innen nicht als Wähler:innenbasis zu verlieren. Ihr Anteil liegt mittlerweile bei 32 % an der Bevölkerung. Insgesamt wird es deshalb immer schwieriger, für Frauen- und LGBTQIA-Rechte Unterstützung in der Bevölkerung zu erreichen.

Arbeitsmarkt, Steuern und Renten

Ein weiteres großes Versprechen lautet, die Arbeits- und Rentenreformen rückgängig zu machen, die Michel Temer und Bolsonaro nach dem Sturz der PT-Präsidentin Rousseff durchsetzten. Dazu gehören die Abschaffung des Rechts der Landbevölkerung, früher in Rente gehen zu können, oder die Flexibilisierung von Arbeitsstunden und Urlaubstagen, die nur dem Kapital nutzt. Sozialversicherungsbeiträge, die die Unternehmer:innen zahlen müssen, wurden gesenkt und Renten vom Mindestlohn und von inflationsbedingten Steigerungen entkoppelt. Auch wurden verpflichtende Zahlungen an Gewerkschaften und eine gesetzliche tägliche Höchstarbeitszeit abgeschafft. Bolsonaro hat diese Entwicklung später mit einer weiteren Neoliberalisierung vertieft, z. B. das Renteneintrittsalter massiv erhöht.

Hier fragt sich, wie weit Lula gehen wird, um einerseits den linken Teil seiner Wähler:innenbasis zufriedenzustellen, andererseits seine Koalition mit den wirtschaftsliberalen Parteien nicht zu gefährden. Auch hier sollte mit Alckmin als Vizepräsidenten nicht zu viel erwartet werden. Er selbst hatte 2016 für die Amtsenthebung von Dilma gestimmt, die für den ultraneoliberalen Michel Temer und seine wirtschaftsliberalen Renten- und Arbeitsmarktreformen Platz gemacht. Auch die von Lula versprochene Erhöhung der Reichensteuern droht, am Verhandlungstisch geopfert zu werden.

Wirtschaft

Die wirtschaftliche Lage ist sehr angespannt und macht Zugeständnisse an die Arbeiter:innenklasse schwierig. Die Inflationsrate liegt bei 10 %, die Arbeitslosigkeit ebenfalls. Die Coronapandemie hat ihre Spuren hinterlassen und viele Menschen in den Abgrund gestürzt. Sogar der Hunger ist für einen Teil der Bevölkerung wieder zurückgekehrt. Das Wirtschaftswachstum ist mit 3 % gegenüber 2021 gesunken, die Prognosen für 2023 sind mit 1 – 2 % nochmals deutlich geringer. Landwirtschaftliche Erzeugnisse (Soja, Rindfleisch, Zucker) und Rohstoffe (Eisenerz und Rohöl) machen den größten Exportanteil aus. Allerdings ist der Hauptabnehmer China selbst momentan wirtschaftlich geschwächt und kann die Wirtschaft Brasiliens nicht wie noch vor einigen Jahren beflügeln.

Besonders die massive Steigerung der Staatsschulden (momentan 89 % des BIP) belastet die Aussichten für Lulas Präsidentschaft. Um die Wirtschaft voranzubringen, will Lula Infrastrukturprogramme auflegen und staatliche Investitionen erhöhen. So soll der Deindustrialisierung entgegengewirkt werden. In den letzten 10 Jahren ist der Anteil der Industrieproduktion am BIP des Landes von 23,1 % auf 18,6 % gesunken (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/169880/umfrage/anteile-der-wirtschaftssektoren-am-bruttoinlandsprodukt-brasiliens/).

Außenpolitik

Die EU und Lula da Silva visieren an, das Mercosur-Freihandelsabkommen zwischen Brasilien, Argentinien, Paraguay, Uruguay und der EU wiederzubeleben. Dies würde der Umwelt massiv schaden und das ungleiche Machtverhältnis zwischen den Staaten vertiefen. Deshalb und da viele EU-Länder durch das Abkommen ihre eigene Landwirtschaft bedroht sehen, ist eine Ratifizierung des Vertrages aber weiterhin ungewiss.

Außenpolitisch wird sich Brasilien versuchen, blockfrei zu positionieren. Wichtigste Handelspartner sind nämlich China und danach die USA. Lula da Silva hat angekündigt, mit allen Wirtschaftsblöcken in normale, geregelte Beziehungen zu treten und die außenpolitische Isolierung des Landes unter Bolsonaro rückgängig zu machen.

Dazu nähert sich Lula z. B. Venezuela unter Maduro oder auch Kuba an. Das wichtigste außenpolitische Projekt könnte die Erweiterung der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) sein, welche besonders China anstrebt, um ein Gegengewicht zu den G7 zu schaffen. Die USA sieht diese Pläne natürlich als Gefahr an.

Erwartete Blockaden im Parlament

Selbst wenn Lula weitergehende Politik ernsthaft verfolgen würde, sind ihm alleine schon durchs Parlament die Hände gebunden. Dort sind nämlich von den 23 vertretenen Parteien die Rechten in der Mehrheit. Die stärkste ist mit 16,5 % und 99 Sitzen Bolsonaros Partido Liberal (PL). Lulas PT hat gerade mal 69 Sitze, das von ihm geführte Bündnis 82. Bei solchen Mehrheitsverhältnissen könnte er sogar wie seine PT-Vorgängerin 2016 durch ein Amtsenthebungsverfahren gestürzt werden, wenn ihm die neoliberalen Parteien die Unterstützung versagen.

Wie der Putschversuch vom Januar zeigt, stehen die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten vor einem doppelten Problem. Einerseits droht die Gefahr von rechts, andererseits hängt die Volksfront mit Alckmin wie ein Mühlstein am Hals der Arbeiter:innenklasse.

Daher ist es für die Arbeiter:innenbewegung unerlässlich, die Lehren aus dem gescheiterten Putschversuch im Januar zu ziehen und sich die Frage zu stellen, wie das Kampfpotential genutzt werden kann, das bei den Demonstrationen am 9. Mai sichtbar wurde, als Hunderttausende gegen die Rechten auf die Straße gingen.

Lehren

Selbst die versprochenen Reformen werden angesichts einer massiv gestiegenen Staatsverschuldung, ökonomischer Stagnation und Stärke der Rechten in Staatsapparat und Parlament und der Abhängigkeit von bürgerlichen Koalitionspartner:innen an der Regierung mit parlamentarischen Mitteln nicht durchsetzbar sein.

Ein solches Programm kann ebenso wie die Entwaffnung reaktionärer Kräfte nur umgesetzt werden, wenn es mit einer Massenmobilisierung der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen verbunden wird. Die aktuelle Massenunterstützung gegen die Putschist:innen muss für eine solche Offensive zur sofortigen Umsetzung aller Reformversprechen von Lula und der PT sowie Initiierung eines Sofortprogramms gegen Inflation, Armut, Krise genutzt werden.

Es kann nur verwirklicht werden, wenn wir die Privilegien der herrschenden Klasse, deren Privateigentum in Frage stellen. Es ist unmöglich ohne Streichung der Auslandschulden, massive Besteuerung der Reichen, entschädigungslose Enteignung des Agrobusiness’, der großen Industriekonzerne und Finanzinstitutionen. Ohne die Bündelung der Ressourcen des Landes unter Arbeiter:innenkontrolle kann ein Notfallplan im Interesse der lohnabhängigen Massen, der Landlosen und Indigenen sowie der Umwelt nicht durchgesetzt werden.

So wie Polizei und Armee als Garantinnen des Privateigentums fungieren, so Alckmin und andere offen bürgerliche Kräfte als Statthalter:innen der herrschenden Klasse und des Imperialismus in der Regierung. In einer Koalition mit diesen wird ein Notprogramm für die Massen ebenso wenig  umsetzbar sein wie die Bewaffnung von Selbstverteidigungseinheiten der Unterdrückten. Wir fordern daher von Lula und der PT einen Bruch mit den offen bürgerlichen Minister:innen und die Bildung einer PT/PSOL/CUT-Regierung, die sich auf die Arbeiter:innenklasse stützt und ein Notprogramm durchsetzt. Eine solche Regierung muss mit allen Mitteln gegen jeden Putschversuch – sei es eines Bolsonaro und seiner wild gewordenen Anhänger:innen, sei es gegen andere bürgerliche Kräfte verteidigt werden.

Lula und die PT-Führung (und wohl auch Teile der PSOL- und CUT-Führung) werden zweifellos einen Bruch mit Alckmin und dem bürgerlichen Staatsapparat mit allen Mitteln zu vermeiden suchen. Es reicht jedoch nicht, diese Politik zu kritisieren und vor ihren fatalen Folgen zu warnen. Revolutionär:innen müssen auch Mittel und Taktiken anwenden, die es den Massen, die heute Lula und der PT folgen, die „ihren“ Präsidenten gegen den Putsch verteidigen wollen, ermöglichen, sich von den Illusionen in ihn und seine Politik zu befreien. Dazu ist es nötig, Lula und die PT dazu aufzufordern, weiter zu gehen, als sie wollen – also den Aufbau von Selbstverteidigungsorganen voranzutreiben und zu unterstützen und mit der Bourgeoisie zu brechen.

Natürlich ist es unwahrscheinlich, dass Lula und die PT-Führung diesen Schritt gehen. Aber solche Forderungen können als Basis für einen gemeinsamen Kampf mit seinen Anhänger:innen gegen die Reaktion dienen. Sie erlauben es, den Widerspruch zwischen der klassenversöhnlerischen Kompromisspolitik der bürokratischen Führungen von PT und CUT einerseits und den Klasseninteressen der Masse ihrer Anhänger:innen andererseits sichtbar zu machen. Einerseits, indem diese Führungen praktisch auf die Probe gestellt werden können, andererseits, indem die Klasse auf die zukünftigen Kämpfe und einen eventuellen Verrat „ihrer“ Regierung vorbereitet und, wo möglich, der Aufbau von Kampforganen in Angriff genommen wird.

Um eine solche Politik praktisch werden zu lassen, muss eine systematische Einheitsfrontpolitik gegenüber PT und CUT mit dem Kampf für eine neue, revolutionäre Arbeiter:innenpartei verbunden werden.




Revolutionäre Organisation braucht revolutionäres Programm

Wilhelm Schulz, Debattenbeitrag zur Konferenz „Für einen revolutionären Bruch“, Infomail 1209, 10. Januar 2023

Zu Recht stellt die Einladung zur Konferenz „Revolutionärer Bruch“ am 14. Januar die Notwendigkeit des Aufbaus einer neuen revolutionären Organisation auf. Schließlich reicht es nicht, sich von einer reformistischen (wie z. B. [’solid]) zu trennen. Wenn wir erfolgreich die Welt verändern wollen, braucht es auch eine politisch-organisatorische Alternative, genauer eine neue kommunistische Arbeiter:innenpartei und eine neue revolutionäre Internationale.

Im folgenden Beitrag wollen wir die Fragen diskutieren: Was muss unsere Grundlage sein, um dieses Ziel zu erreichen? Warum glauben wir, dass dafür ein revolutionäres Programm notwendig ist? Was bedeutet die Realität von Kleinstgruppen?

Revolution  – so weit das Ziel. In dieser Allgemeinheit teilen es jedoch eine ganze Reihe von subjektiv revolutionären Organisationen und Aktivist:innen einschließlich klassenkämpferischer Gewerkschafter:innen, Jugendlicher, Antiimperialist:innen, Kämpfer:innen in der Frauen- und Umweltbewegung. Schließlich betrachten sich selbst dutzende Gruppierungen als „revolutionär“, als konsequente Gegner:innen des Reformismus. Politisch umfassen diese Organisationen, die sich allesamt links von der Linkspartei verorten, so unterschiedliche Gruppierungen oder „Parteien“ wie die DKP, die MLPD, verschiedene kleinere maoistische Organisationen, das gesamte, in sich heterogene trotzkistische Spektrum, sowie unterschiedliche (post)autonome Strömungen und viele mehr. Insgesamt mögen das in Deutschland mehrere zehntausend Menschen sein. Zugleich offenbart schon eine oberflächliche Betrachtung der verschiedenen sich als „revolutionär“ deklarieren Strömungen tiefe, ja grundlegende politische Differenzen, selbst wenn alle oder die meisten allgemeinen Forderungen nach einer „unabhängigen Arbeiter:innenpolitik“, Schaffung einer kommunistischen Partei usw. zustimmen würden.

Zugleich impliziert diese gesonderte Existenz der verschiedenen Gruppierungen notwendigerweise auch eine Bezeichnung aller anderen als nicht oder nicht ausreichend revolutionär. Wäre dem nicht so, gäbe es keine politische Rechtfertigung für die eigene gesonderte Existenz. Dementsprechend liegt es in der Natur das Sache, dass die verschiedenen Gruppierungen einander als ultralinks oder opportunistisch, als zentristisch (also zwischen revolutionärer und reformistischer Politik schwankend) oder gar als konterrevolutionär charakterisieren.

Die Differenzen zwischen den verschiedenen Strömungen sind durchaus grundlegend. Zugleich sind die meisten politischen Gruppierungen der Mehrheit der Arbeiter:innenklasse, zumal ihrem mehrheitlich nichtrevolutionären Teil unbekannt. Auch die politisch bewussteren Lohnabhängigen, einschließlich großer Teile der Avantgarde der Klasse, stehen den verschiedenen Strömungen oft eher ratlos gegenüber.

Dies hat mehrere Gründe. Einerseits entspricht das einem vorherrschenden reformistischen oder nurgewerkschaftlichen, in letzter Instanz also bürgerlichem Bewusstsein der Lohnabhängigen. Die Differenzen unter den „radikalen“, subjektiv revolutionären Kräften erscheinen ihnen als unverständlich, nicht nachvollziehbar – auch weil sie selbst von der Notwendigkeit einer revolutionären Umwälzung, vom Sturz der Herrschaft der Bourgeoisie und der Errichtung der Diktatur des Proletariats nicht überzeugt sind. Wären sie das, wären sie ja schon ebenfalls subjektiv revolutionäre Arbeiter:innen. Daher erscheinen ihnen die Differenzen unter den „Radikalen“ als Haarspaltereien, als sekundär oder als bloßer Ausdruck von Sektierertum.

Zweitens kommt hinzu, dass die zersplitterte, subjektiv revolutionäre Linke bei allen inneren Differenzen eint, dass alle ihre Organisationen und Strömungen gesellschaftlich recht isoliert sind und nicht über genügend Einfluss in der Arbeiter:innenklasse verfügen, um ihre Politik für breitere Schichten der Lohnabhängigen nachvollziehbar und praktisch überprüfbar zu machen. Die größten, ihrem Anspruch nach revolutionären Organisationen oder selbstproklamierten Parteien zählen wenige tausende Mitglieder – und schon das gilt als „groß“. Dies scheint jedoch gering, wenn wir uns vor Augen halten, dass die Arbeiter:innenklasse in Deutschland rund 2/3 der Bevölkerung umfasst, also 50 – 60 Millionen. Natürlich macht es für den Aufbau einer revolutionären Gruppe einen Unterschied, ob sie 50, 100, 500 oder 3.000 Mitglieder zählt. Im Verhältnis zur gesamten Klasse oder selbst zu deren Avantgarde, die ihrerseits weiter reformistisch und gewerkschaftlich geprägt ist, macht das aber keinen qualitativen Unterschied.

Dieser Realität müssen wir uns bei unseren Diskussionen bewusst sein. Alles andere verklärt die eigene Rolle im Klassenkampf. Warum? Der begrenzte eigene Einfluss spielt eine Rolle, wen man praktisch mit seiner Politik erreichen kann. Kleinere Gruppen sprechen in der Regel bereits radikalisierte Individuen an, die in den Widerspruch mit dem Kapitalismus gekommen sind. Diese sind jedoch nicht unbedingt repräsentativ für die Situation der gesamten Arbeiter:innenklasse. Deswegen sollten wir uns bewusst sein, wenn wir die aktuelle politische Lage einschätzen, Artikel schreiben oder über unsere Taktiken diskutieren, wen wir wann erreichen können. Für Organisationen mit revolutionärem Anspruch halten wir es jedoch für essentiell, sich die Frage zu stellen, welche Forderungen und Taktiken für die gesamte Klasse notwendig wären, um das Aufbrechen des vorherrschenden Bewusstsein zuzuspitzen. Dazu aber später mehr.

Die bittere Realität

In Deutschland haben wir es mit einer Situation zu tun, wo alle politisch organisierten Gruppen der „extremen“ Linken im Grunde im Stadium von Propagandagesellschaften agieren. Es handelt sich nicht um revolutionäre Parteien im Sinne von Organisationen, die zumindest bedeutende Teile der Arbeiter:innenklasse umfassen und führen, wo also revolutionärer Marxismus und proletarische Avantgarde bereits zu einer Kaderpartei verschmolzen sind. Das heißt nicht, dass sie keine praktische Arbeit machen können oder sollen, aber es bedeutet, dass die Richtigkeit (oder Falschheit) ihrer Politik nur sehr eingeschränkt, wenn überhaupt praktisch überprüft werden kann.

Auch wenn keine der bestehenden „revolutionären“ Gruppen für sich beanspruchen kann, schon die „revolutionäre“ Partei darzustellen, so wird diese wohl auch nicht daraus entstehen können, indem eine dieser Gruppen darauf hofft, nur noch wachsen zu müssen. Eine neue revolutionär-kommunistische Partei wird nicht durch die Gewinnung von Individuen und kleinen Gruppen aufgebaut werden können, sondern sie erfordert auch die Überwindung der inneren Differenzen im subjektiv revolutionären Spektrum.

Dabei gehen wir aber davon aus, dass dies reale sind, also ihre Überwindung nicht einfach nur Zusammenarbeit und Verständigung auf die Punkte erfordert, die die Gruppen teilen, sondern auch und gerade die Diskussion um Knackpunkte ihrer politischen und programmatischen Differenzen. Werden diese nicht überwunden, ist eine revolutionäre Vereinigung, also eine, die auf einer gemeinsamen Programmatik, einer gemeinsamen Auffassung über die Ziele, Mittel, Kampfmethoden einer zu gründenden größeren revolutionären Organisation fußt, unmöglich. In Wirklichkeit würden diese dann unter einem Namen als verschiedene politische Strömungen wirken. Dies würde in Realität schnell zur gleichen Passivität in zentralen Fragen des Klassenkampfes führen, wie wir sie bei der Linkspartei oder IL sehen können, oder zur erneuten Spaltung.

Warum ist das Programm zentral?

Dies führt uns zur Frage, was eigentlich den Kern, das Wesen eines revolutionären Bruchs ausmacht. Die Frage ist für alle Revolutionär:innen zentral, besonders aber für kleine kommunistische Organisationen, die sich noch im Vorstadium des Aufbaus einer Partei befinden. Die zentrale Bedeutung des revolutionären Programms ergibt sich im Grunde schon aus dem spezifischen Charakter der sozialistischen Revolution. In dieser spielt die Frage des Bewusstseins eine qualitativ andere Rolle als in der bürgerlichen, antifeudalen Revolution.

Die kapitalistische Produktionsweise begann, sich schon lange im Schoße des Feudalismus zu entwickeln, die Bourgeoisie stieg schon zur ökonomisch vorherrschenden Klasse auf, bevor sie zur politischen Macht gelangte. Gerade deshalb konnte die antibürgerliche Reaktion nach den bürgerlichen Revolutionen auch keine vorkapitalistischen Eigentumsverhältnisse mehr etablieren. Sozialistische Eigentumsverhältnisse hingegen entwickeln sich im Kapitalismus nicht. Dieser schafft zwar die materiellen Voraussetzungen für eine sozialistische Umwälzung (Produktion auf großer, indirekt vergesellschafteter Stufenleiter und die Arbeiter:innenklasse), er schafft aber keineswegs „sozialistische“ Inseln inmitten der bürgerlichen Gesellschaft. Im Gegenteil: Alle Versuche, den „Sozialismus“ durch kapitalistische Verstaatlichungen, Genossenschaften, Selbstverwaltung schrittweise einzuführen, entpuppen sich letztlich als zum Scheitern verurteilte reformistische Utopie, ebenso die stalinistische Planwirtschaft.

Daher muss die Arbeiter:innenklasse auch die politische Macht erobern, die bürgerliche Staatsmaschinerie zerschlagen und durch die Räteherrschaft, also ihre Diktatur, ersetzen, um eine planmäßige, bewusste Reorganisation der Wirtschaft, von Produktion und Reproduktion gemäß den Bedürfnissen der ehemals Ausgebeuteten und Unterdrückten (und einem nachhaltigen Verhältnis von Mensch und Natur durchsetzen).

Aus obigen Überlegungen ergibt sich nicht nur das Problem, dass das Bewusstsein bei der sozialistischen Umwälzung eine qualitativ andere Rolle spielt als in früheren Revolutionen. Die kapitalistische Gesellschaftsordnung geht zugleich auch damit einher, dass sie das Bewusstsein der Ausgebeuteten auf eine besondere Art prägt, nämlich so, dass das Ausbeutungsverhältnis (die Produktion von Mehrwert und dessen Aneignung durch das Kapital) im Bewusstsein der Lohnabhängigen verschleiert wird.

Wie entsteht revolutionäres Bewusstsein?

Im Lohnarbeitsverhältnis erscheint es so, als würde die gesamte Arbeit des/r Lohnabhängigen bezahlt. Daher stellt der gewerkschaftliche Kampf, also der um die Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft, auch nur eine embryonale Form des Klassenkampfes dar, wie Lenin zu Recht in „Was tun?“ ausführt. Natürlich ist es für die Arbeiter:innenklasse (und ebenso für alle Revolutionär:innen) unerlässlich, diesen Kampf systematisch zu führen, aber daraus entsteht keinesfalls spontan, automatisch revolutionäres Klassenbewusstsein. Im Gegenteil. Für sich genommen bringt der rein gewerkschaftliche Kampf kein sozialistisches Klassenbewusstsein hervor, weil er sich noch ganz auf der Basis des Lohnarbeitsverhältnisses bewegt, also im Rahmen eines Verteilungskampfes innerhalb der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, der sie letztlich unangetastet lassen muss. Bis zu einem gewissen Grad ist dieser gewerkschaftliche Kampf sogar notwendig, um das Lohnarbeit-Kapitalverhältnis selbst zu reproduzieren.Andernfalls könnte die Arbeitskraft auf Dauer nicht voll entgolten und damit auch ihr Gebrauchswert für das Kapital (ihr Arbeitsvermögen) unterminiert werden. Der Ausgang auch des erfolgreichen gewerkschaftlichen Kampfes ist daher zwiespältig. Er schult einerseits die Arbeiter:innenklasse und stärkt ihr Selbstvertrauen, er stärkt aber auch die Illusionen in die Möglichkeit der Reformierbarkeit oder gerechten Verteilung im Rahmen des Systems (eine Zwiespältigkeit, die in jedem Kampf für Reformen steckt).

Revolutionäres Klassenbewusstsein, also das Verständnis für die notwendig durchzuführende Zerschlagung des Kapitalismus hingegen ist weit mehr als bloßes Lohnarbeitsbewusstsein (rein ökonomisches Bewusstsein). Es kann nicht bloß aus der eigenen Erfahrung, aus dem Kampf erwachsen, sondern es muss von außen in die Arbeiter:innenklasse getragen werden. Es erfordert eine wissenschaftliche Fundierung, die auf einer dialektisch-materialistischen Analyse der Gesellschaft fußt – sowohl der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Entwicklung, der Besonderheiten des Imperialismus wie auch auf einer Verallgemeinerung der Erfahrungen im Klassenkampf. Letzteres betrifft nicht nur die eigenen, sondern auch die vergangener Generationen sowie jene der Kämpfe in anderen Ländern, das Verhältnis zwischen allen Klassen und Schichten der Gesellschaft. Es umfasst sowohl ein Verständnis der ökonomischen wie auch der sozialen und politischen Verhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft.

Und spontanes Bewusstsein?

Das sich spontan entwickelnde Bewusstsein der Arbeiter:innenklasse im Kapitalismus ist hingegen bürgerlich – wenn auch in verschiedenen Abstufungen. So können wir ökonomische Kämpfe als embryonale Formen des Klassenkampfes betrachten und dementsprechend rein gewerkschaftliches Bewusstsein als eine embryonale Form des Klassenbewusstsein. Diese können sich zwar über rein gewerkschaftliche Auseinandersetzungen hinaus zuspitzen, wie wir an Generalstreiks oder bei Betriebsbesetzungen sehen. Sie schaffen dabei Potenzial für Revolutionär:innen zu intervenieren. Doch selbst, wenn sie politische und sogar antikapitalistische Fragen aufwerfen, so entwickelt sich automatisch daraus keine bewusste revolutionäre Antwort (also eine Strategie und Taktik, die ermöglicht, die Klasse zum Sieg zu führen), sondern allenfalls ein größere Bereitschaft, sich dieser zuzuwenden.

Reformistisches Bewusstsein wiederum baut auf dem gewerkschaftlichen auf. Hier besteht der Fortschritt darin, dass nicht nur eine gewerkschaftliche Organisierung notwendig ist, sondern die Erkenntnis, dass es auch einer eigenen Partei der Lohnabhängigen bedarf, um ihre Interessen im Rahmen des Kapitalismus durchzusetzen. Aber auch das bleibt noch bürgerlich. Die Bürokratie in den Gewerkschaften und reformistischen Parteien wie DER LINKEN und auch der SPD verstärkt dies, baut darauf auf. Sie kreiert aber diese objektiven entfremdeten, und ideologischen Formen (Lohnfetisch, Lohnform) nicht, sondern diese reflektieren vielmehr wesentliche gesellschaftliche Verhältnisse, wie Marx im Fetischkapitel des Kapitals ausführt.

Was bedeutet das für uns in der Praxis?

Ein revolutionäres Programm kann daher nie einfach „aus den Kämpfen“ entstehen, es muss vielmehr von Revolutionär:innen auf der Basis einer wissenschaftlichen Analyse erarbeitet werden. Darunter verstehen wir aber nicht bloß eine Wiedergabe der allgemeinen Bestimmungen des Kapitalismus (globales Ausbeutungssystems; allgemeine, historische Tendenzen der Kapitalakkumulation; Krisenhaftigkeit usw.; internationaler Charakter der Revolution; Rolle des bürgerlichen Staates) und der allgemeinen Aufgaben der Arbeiter:innenklasse (Organisierung, Eroberung der Staatsmacht, Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates, Enteignung des Kapitals, demokratische Planwirtschaft).

Ein revolutionäres Programm muss vielmehr diese allgemeinen Erkenntnisse gemäß den Erfordernissen einer konkreten Situation spezifizieren, sowohl im globalen Zusammenhang, der letztlich auch den Rahmen für die „Besonderheiten“ des Klassenkampfes in den einzelnen Nationalstaaten liefert, als auch angesichts des konkreten Kräfteverhältnisses in einem bestimmten Land oder einer bestimmten Periode. Das Programm muss dabei von der objektiven Lage ausgehen, aber zugleich versuchen, einen Weg zu finden, wie die sich daraus ergebenden Aufgaben mit dem aktuellen, rückständigen Bewusstsein der Arbeiter:innenklasse vermittelt werden können.

Es ist die erste Aufgabe von Kommunist:innen, eine Organisation auf einer solchen programmatischen Grundlage zu schaffen, wobei das Programm als Vermittlung von bewusster, revolutionärer Theorie und Praxis fungiert. Daher kann nur ein solches die Basis für die Einheit von Revolutionär:innen abliefern; ansonsten ist die Einheit bloß formal, bloß organisatorisch und nicht in der Lage, den Test des Klassenkampfes zu bestehen. Wir können hier kein umfassendes Programm niederlegen. Alle, die unsere konkreten Vorschläge nachlesen wollen, verweisen wir hier auf das Programm der GAM und der Liga für die Fünfte Internationale. Da dies aber für die gemeinsame Diskussion auf dieser Konferenz sicherlich den Rahmen sprengen würde, werden wir im Beitrag „Programm in der Praxis: ein paar Grundzüge“ auf einige Kernelemente eingehen, die auf dem Weg zur Schaffung einer revolutionären Organisation unserer Meinung nach systematisch diskutiert werden müssten (wir erheben hier bewusst keinen Anspruch auf Vollständigkeit).

Programm heute

Im Diskussionsbeitrag „Programm in der Praxis: eine Skizze“ stellen wir zentrale Punkte eines revolutionären Programms vor.




Teuerungskrise 2022

Mo Sedlak, ursprünglich veröffentlicht auf http://arbeiterinnenstandpunkt.net/, Teil 2, Infomail 1204, 15. November 2022

Der erste Teil des Artikels beschäftigte sich vor allem mit den Ursachen der Inflation, im zweiten Teil geht er auf die Antworten der verschiedenen Klassen und ein Programm im Interesse der Arbeiter:innenklasse ein.

Globalisierung und Outsourcing der Inflation

Politiker:innen, Wirtschaftsforscher:innen und Kapitalist:innen reagieren auf die scheinbar unaufhaltsam steigenden Preise wie die aufgeschreckten Hühner. Wir, die Betroffenen und die Linke, eh auch. Und zwar zu Recht: Die Preisexplosion droht, zu einer sozialen Krise, zu einer nachhaltigen Schlechterstellung der Arbeiter:innenklasse zu führen (wenn wir uns nicht wehren). Aber: Außerhalb der imperialistischen Zentren schreckt diese Einsicht wenige. Denn in vielen neokolonialen Ländern wurden in den letzten Jahren ausführliche Erfahrungen mit hoher Inflation und deren sozialen Folgen gemacht.

Das liegt vor allem an zwei Umständen: den Kosten der Geldmengenkontrolle und der Auslagerung von Inflation aus den imperialistischen in die neokolonialen Länder.

Erstens ist die Regulierung der Geldwarenproduktion teuer und umso teurer, wenn dabei die Währungen anderer Länder kontrolliert werden sollen. In vielen unterentwickelten Ländern sind Dollar und Euro anerkannte Parallelwährungen, über deren Produktion und Einfuhr die Regierungen kaum Kontrolle haben. Wir verwenden hier die Formulierung des antikolonialen Marxisten Walter Rodney, der mit dem Begriff Unterentwicklung zeigen will, dass dieser Folge einer bewussten, imperialistischen Politik ist.

Zweitens können Firmen aus imperialistischen Ländern auf den Kapitalexport zurückgreifen, wenn Investitionen im „eigenen Land“ nicht profitabel erscheinen. Tausende „Freihandelsabkommen“ und ökonomische Abhängigkeiten stellen sicher, dass Nestlé, OMV und Wienerberger überall investieren können, wo sie wollen und die Profitraten noch höher sind. Zum Beispiel wegen niedrigerer Löhne oder technisch weniger entwickelter Konkurrenz. Das nimmt den Inflationsdruck aus den imperialistischen Zentren heraus. Die Kapitalist:innen in den Neokolonien und Schwellenländern verfügen über diese Möglichkeit so nicht.

Natürlich spielen Krieg und Pandemie eine zentrale Rolle

Das macht die Inflation bei gleichzeitigem Krieg in der Ukraine auch bedenklich. Durch die neue Blockbildung kommt es zu einer De-Globalisierung. Ein Geflecht aus Sanktionen, Sanktionsumgehungen, Wirtschaftskrieg und unterbrochenen Lieferketten erschwert den Kapitalexport und Produktionsketten. Dieses Gegenmittel gibt es also nicht und die Auslagerung der Profitproduktion nach China ist auch schwerer möglich. Und auch die Klimakrise hat ihren Anteil: Zum Beispiel haben durch Dürre ausgelöste Unfälle in der Halbleiterproduktion Taiwans und Texas‘ 2020 die Lieferketten so beeinträchtigt, dass es bei Auto- und Elektronikpreisen noch heute spürbar ist.

Der Teufel steckt auch hier in vielen Details. Wenn ein Hafen in China eine Woche zusperrt, heißt das, dass Vorprodukte nicht bei Fabriken ankommen. Aber es heißt auch, dass in der nächsten Woche leere Container nicht da sind, weil sie noch voll auf hoher See herumschippern. Was wiederum bedeutet, dass Bananen verfaulen und irgendwelche Müsliriegel nie produziert werden. Was jetzt blöd ist für den/die Zerealienlieferant:in, der /die seine/ihre pünktlich gelieferten Getreidekörner nicht bezahlt bekommt und den anderen Kund:innen deshalb die Preise raufsetztum überhaupt liquide zu bleiben.

Die Inflation sitzt im Kapitalismus wie das Picknbleiben im Beislabend. Aber jetzt werden erprobte Gegenmittel (die auch nicht für alle Länder funktioniert haben) durch den Krieg, die Pandemie und Extremwetter in der Folge des Klimawandels wirkungslos. Das heißt wirklich nicht, dass der Kapitalismus ohne diese Extremerscheinungen nicht inflationär wäre. Aber es kann sein, dass dieses Zusammenspiel zu einer Trendwende führt, von der Niedriginflation auf Kosten der Arbeiter:innenklasse hin zur Hochinflation, die uns auch umgehängt werden soll.

Wir müssen uns auf eine Wirtschaftskrise vorbereiten

Zentralbanken, Wirtschaftsforscher:innen und Unternehmensverbände sagen deutlich, dass eine Stagflationsphase kommt. Das bedeutet, hohe Inflation mischt sich mit einer Stagnation, also niedrigem Wirtschaftswachstum, Firmenpleiten, Arbeitslosigkeit. So eine Phase gab es bereits nach den Ölpreisschocks in den 1970er Jahren und die Lösung der Herrschenden sollte uns zu denken geben. Es folgte nämlich die neoliberale Wende: Privatisierungen, Zerstörung von vielen sozialstaatlichen Errungenschaften, aber auch Angriffe aufs Arbeitsrecht und brutale Repression gegen die Gewerkschaften.

Auch nach der 2008er Krise war das die Lösung der EU. Griechenland wurde brutal ausgehungert. Das Lohnniveau hat sich bis heute nicht erholt ebenso wenig wie Gesundheitssystem oder Sozialleistungen. Italien, Spanien und Portugal erlebten Jugendarbeitslosigkeit von bis zu 50 %, eine Generation an Niedrigstlohnarbeitenden wird diesen Rückstand in ihrem Leben nicht mehr aufholen. Der einzige Grund, warum das deutsche Diktat nicht für sich selbst gegolten hat, war, dass die Hartz-Reformen so einen Niedriglohnsektor schon in den Jahren zuvor geschaffen hatten.

In anderen Worten: Die Herrschenden spielen jetzt noch ein paar Monate mit Einmalzahlungen und Subventionen. Aber wenn klar wird, dass eine Rezession droht, werden sie probieren, die Kosten auf uns abzuwälzen und zumindest die Auswirkungen von Massenarbeitslosigkeit und Preisexplosion nicht mehr abfedern. Es kann der Arbeiter:innenbewegung gelingen, das durch harten Widerstand abzuwehren, die Herrschenden in dieser Situation der Instabilität zurückzudrängen. Das wäre auch gut, weil die Alternative nicht gut für uns ausschaut.

Dass eine neue imperialistische Zuspitzung droht, ist angesichts der Ukrainekriegs sonnenklar. Auch die Konfrontationen in den zehn Jahren davor, Ukraine, Syrien und Taiwan, haben gezeigt, dass sich EU, USA, China und Russland in eine neue Blockbildung und auch eine neue Eskalation begeben. Der imperialistische Krieg ist schon jetzt eine Bedrohung in den Gebieten, wo er geführt wird. Seine Ausweitung bedroht die Mehrheit der Weltbevölkerung.

Seit 2008 waren es auch keine rosigen Jahre für die ärmeren Teile der Arbeiter:innenklasse, Niedrigverdiener:innen, prekär Beschäftigte, Erwerbslose und Alleinerziehende. Die kommende Krise droht aber, breite Teile der Bevölkerung, auch die lohnabhängigen Mittelschichten und das Kleinbürger:innentum, vor echte Existenzangst zu stellen. Das Kleinbürger:innentum im 21. Jahrhundert meint Akademiker:innen und kleine Manager:innen, aber auch Selbstständige und Besitzer:innen kleinerer Firmen.

Das vom Abstieg bedrohte Kleinbürger:innentum stellte seit eh und je die soziale Basis des Faschismus und Rechtspopulismus. Wenn es den Herrschenden und den Hetzer:innen gelingt, die Wirtschaftskrise auf gierige Gewerkschaften oder Minderheiten zu schieben, lässt es sich ganz gut mobilisieren. Das hat sich leider auch bei den verschwörungstheoretischen Coronademonstrationen gezeigt, die einen Grundstock für eine rechte Bewegung in der Wirtschaftskrise darstellen können. Die Geschichte von FPÖ und Identitären über elitäre Verschwörungen und Interessengemeinschaften von weiß-österreichischen Kapitalist:innen mit den Arbeiter:innen sind leider tief verankert in diesen Kreisen. Aber nur eine linke Bewegung, die um Solidarität und radikale Umverteilung kämpft, kann verhindern, dass solche Bewegungen einen Massenanhang bekommen.

Preise steigen nicht, wenn wir es verhindern können

Das Problem der Kapitalist:innen beseht darin, dass sie bei steigenden Kosten und unsicherer Profiterwartung nicht wissen, ob sie ihre Warenmenge verkaufen können. Das Problem der Arbeiter:innen ist, dass die Preise so hoch sind. Hohe Preise können aber verhindert werden: kurzfristig durch Preisdeckel, mittelfristig durch die demokratische Kontrolle über Produktion und Preisfestsetzung.

Mal wieder zeigt die kapitalistische Krise, dass der Markt eben nicht „regelt“, sondern der Markt- und Wettbewerbswirtschaft Tendenzen zur Krise innewohnen. Alleine, dass weiterhin günstig produzierter Wasserkraftstrom wegen steigender Gaspreise ebenfalls durch die Decke geht, macht das ein für alle Mal klar.

Aber Preise können auch einfach beschränkt werden. Besonders gerne machen das kapitalistische Regierungen im Krieg, wo die staatliche Nachfrage (nach Waffen und Kriegsproduktion) so in die Höhe geht, dass Mitschneiderei den Kapitalist:innen das Logischste wäre. Aber auch in der Nachkriegszeit, und in Österreich für bestimmte Produkte bis in die 1970er Jahre, wurden Preise immer wieder gedeckelt. Bis heute gibt es Preiskommissionen für Medikamente, einen Richtwertmietzins für Altbauwohnungen. Für Energie, Grundnahrungsmittel und Wohnungen, egal ob alt oder neu, sind solche Preisdeckel jetzt dringend notwendig.

Die Preiskommissionen aus Gewerkschaft und Wirtschaftskammer haben allerdings nicht vor allem die Lage der Arbeiter:innen im Blick gehabt, sondern maximal die schlimmste Verelendung eindämmen wollen. Diesen bürokratischen, sozialpartner:innenschaftlichen Preiskontrollen von oben haftet immer etwas Konservatives, Zurückhaltendes und in der Krise Unzureichendes an. Marxist:innen sind deshalb für tatsächlich demokratische Entscheidungen der Arbeitenden und der Konsument:innen über Preise, Diskussionen und darüber, was wir brauchen und wie teuer es sein darf. Gerade jetzt wird offensichtlich, dass demokratische Kontrolle über die Produktion eine deutlich bessere Alternative ist, als „der Markt regelt“.

Inflation bedeutet aber immer auch eine Kürzung der Reallöhne und realen Sozialleistungen. Also dessen, was Arbeiter:innen und Erwerbslose ausgeben können. Wenn die Preise schneller steigen als die Löhne, ist das eine Umverteilung von unten nach oben. Deshalb fordert der radikale Teil der Arbeiter:innenbewegung schon lange die automatische Inflationsanpassung von Löhnen, Arbeitslosengeld und Sozialleistungen. Dazu würde dann über Lohnerhöhungen verhandelt und gestreikt werden – die Grundanpassung wäre schon vorweggenommen.

Es ist bemerkenswert, dass die türkis-grüne Regierung sich bei einigen Sozialleistungen schon auf diese Maßnahme eingelassen hat, die sonst selbst linke Teile der SPÖ nur zurückhaltend fordern. Es ist auch ein Anzeiger dafür, wie bedrohlich die kommende soziale Krise wahrgenommen wird. Denn generell gilt: bürgerliche Regierungsmaßnahmen mal Zehn ergibt, was notwendig wäre, damit die Lage für uns nicht schlimmer wird.

Leitzinserhöhung heißt noch mehr Lebenskostenkrise

Stattdessen setzen die Bürgerlichen, also Finanzminister:innen und Zentralbanken darauf, die Geldmenge zu beschränken. Statt auf die konkreten Preisentscheidungen wollen sie auf das Makrosystem einwirken. Durch Zinserhöhungen sollen Banken bewogen werden, selber weniger zu borgen, daher weniger Kredite vergeben zu dürfen (Geld zu produzieren, wie wir oben erklärt haben). Die Nachfrage nach Investitionsgütern und kreditfinanziertem Konsum wird so eingedämmt, die Preise sollten fallen.

Aber: Das hat massive Auswirkungen: Gebeutelte Unternehmen können Zahlungsunfähigkeit nicht durch Kredite überbrücken, gehen insolvent und Arbeiter:innen landen auf der Straße. Verschuldete Arbeiter:innen mit „variablen“ Hypothekenzinssätzen können ihr Haus oder Auto nicht mehr abbezahlen, und generell geht die Konsumnachfrage zurück.

Gleichzeitig ist nicht gesagt, dass das überhaupt wirkt. Die gegenwärtige Inflationsperiode geht nicht auf eine „heißgelaufene“ Wirtschaft, schnell wachsende Löhne und massive Investitionen zurück, sondern auf fallende Profitraten und stockende Lieferketten. Daran ändert der erhöhte Leitzins gar nichts, er droht aber den Rezessionsanteil an einer Stagflation noch zu verschlimmern.

Auch einzelne Sozialdemokrat:innen und Gewerkschafter:innen würden sich zu Zinserhöhungen überreden lassen, wenn sie von einer „nachfrageseitigen“ (also von Investitionen und Lohnerhöhungen) getriebenen Inflation ausgehen. Das verstehen sie teilweise unter verantwortungsvoller, keynesianischer Wirtschaftspolitik. Gleichzeitig fordern sie den Beschäftigungserhalt durch staatliche Subventionen und Absicherung der sozial am schlimmsten Betroffenen. Das bedeutet aber nur, dass die Kapitalakkumulation stockt, Firmen nicht mehr produzieren, während die Auswirkungen aus Steuern beglichen werden. Und die zahlen zu 80 % Arbeiter:innen aus Einkommens- und Konsumsteuern.

WIFO-Preisdeckel: Umverteilung von unten nach oben

Ein anderer bürgerlicher Ansatz wird im Moment mit der lieben Bezeichnung Felbermayr-Deckel diskutiert (der Autor dieser Zeilen muss dabei eher an die Kaffeehausschulden des WIFO-Chefs denken). Der neue Kopf an der Spitze des wichtigsten Wirtschaftsforschungsinstituts empfiehlt, die Energiekosten abzufedern, indem der Staat einen Höchstpreis festsetzt (klingt schon mal gut) und den Unternehmen die Differenz zum Marktpreis bezahlt (klingt schon mal teuer). Das wäre aber nur ein riesiges Geschenk an die Übergewinne (auch zu diesem Begriff schrieben wir einen eigenen Artikel in dieser Ausgabe der flammenden) der Energiekonzerne. Ein Teil würde aus unseren Steuern kommen, ein anderer Teil durch spätere soziale Kürzungen nachfinanziert werden. Der Vorschlag ist also eher nicht so lieb und auch nicht nur teuer, sondern zu Ende gedacht wirklich reaktionär.

Grundbedürfnisse sichern durch Vergesellschaftung

Aber die garantierte Deckung der Grundbedürfnisse ist das Problem, das sich jetzt allen stellt. Für eine Lösung dessen müssen Linke jetzt den Protest sammeln, Kämpfe gewinnen können. Und gerade jetzt ist offensichtlich, dass die kapitalistische Produktionsweise diese Grundbedürfnisse nicht decken kann.

Wir fordern deshalb die Vergesellschaftung von Heizung, Wohnen und Grundnahrungsmitteln. Wir sprechen den Energie-, Immobilien- und Lebensmittelriesen das Recht ab, mit unserer Lebensgrundlage zu spielen. Wir wollen die entschädigungslose Verstaatlichung von OMV, Verbund, BUWOG, Agrana und den weniger bekannten Namen.

Aber das sind teilweise schon verstaatlichte und teilstaatliche Unternehmen, die aber als Aktiengesellschaften nach Marktlogik funktionieren. Das zeigt leider, dass eine Verstaatlichung unter bürgerlichen Regierungen nur die halbe Miete ist. Vergesellschaftung heißt mehr als das, bedeutet auf der einen Seite eben keine Aktienunternehmer:innen unter ÖBAG-Verwaltung, sondern demokratische Entscheidungen durch Kommissionen der Beschäftigten und Konsument:innen – wie ein Wiener Linienfahrgastbeirat, aber ernsthaft, gewählt und mit einer tatsächlichen Entscheidungsmacht.

Zusammen kämpfen, den Scherbenhaufen den Herrschenden überlassen!

Wir müssen um diese Forderungen kämpfen. Nicht nur, um der kommenden rechten Mobilisierung den Massenanhang zu verunmöglichen, sondern auch, weil es in den nächsten Monaten um unsere Lebensgrundlagen geht. Aber dazu kommt: Die Krise untergräbt jede Legitimation der bürgerlichen Regierungen, egal ob türkis-grün im Bund, rot-pink in Wien oder die Ampel in Deutschland.

Wir Marxist:innen sind in einer Position der Schwäche. Aber wir sind auch in einer klaren, unmissverständlichen Oppositionsrolle. Akademische, bürgerliche und reformistische Teile der Linken tendieren dazu, den Kapitalismus zu verteidigen. Vor allem wenn die rechten Argumente gegen die Regierung zu sehr an den Haaren herbeigezogen sind, wollen sie beweisen, dass es so arg nun auch nicht ist. Sie begeben sich in die Position der Herrschenden, ohne an der Macht zu sein. Sie machen sich selber zur Zielscheibe des berechtigten Protests, ohne jede Not.

Die Opposition ist die Rolle, in der sich Marxist:innen im Kapitalismus immer befinden. Aber sie ist eine besonders dankbare, wenn die Regierung ihre Legitimation mit jedem Tag mehr verliert. Die Herrschenden sind jetzt schwach und instabil. Sie werden darauf mit Zugeständnissen, aber auch Repression reagieren. Aber sie befinden sich in einer Position, wo sie Kämpfe verlieren werden. Und das kann die Opposition nachhaltig stärken, die Schwäche und den gesellschaftlichen Vertrauensverlust wettmachen, wenn wir im gemeinsamen Kampf siegreich sind.

Das bedeutet die Einheitsfront, das prinzipienfeste Bündnis mit allen Linken und Teilen der Arbeiter:innenbewegung, die jetzt um die richtigen Forderungen kämpfen wollen. Es heißt auch, die „Volksfront“, also das Bündnis mit den Bürgerlichen gegen besonders reaktionäre oder besonders blöde Teile der Rechten zu meiden wie der Teufel das Weihwasser.

International: Sturz der Regierung oder Zahlungsstreik – oder beides?

Es ist in dem Artikel schon ein- oder zweimal angeklungen: Die Teuerungswelle ist ein internationales Phänomen. Das bedeutet, auch der Widerstand muss international (und international solidarisch) sein. Aktivist:innen außerhalb von Österreich haben sich schon gute Ideen einfallen lassen.

In Sri Lanka ist als Reaktion auf die galoppierende Inflation die Regierung gestürzt worden. Nach einer Besetzung des Präsidentenpalasts traten die Minister:innen zurück. Als die Protestierenden trotzdem dort blieben (und Streiks im ganzen Land vorbereiteten), verschwand auch der rechte Präsident. Die Bewegung hat jetzt große Aufgaben vor sich. Zwischen chinesischem und US-amerikanischem Imperialismus ist wenig Spielraum, die soziale Krise in Sri Lanka sitzt tief und auch die rassistische Unterdrückung der Tamil:innen bietet Potential für reaktionäre Gegenmobilisierungen. Aber der Sturz einer Regierung durch Massenproteste ist mal ein Ansatz der zumindest nicht zu zaghaft ist.

Auch aus Britannien erreichen aufmerksame Social-Media-Nutzer:innen schöne Bilder. Eine Million Flugblätter hat die Initiative „Don’t Pay UK“ gedruckt, und 31.000 Unterstützer:innen und 4.000 Aktivist:innen in Gruppen organisiert. Sie fordern die Kürzung der Energiepreise und wollen ab 1. Oktober ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen, wenn sich 1 Million dahinter stellen – Mitte August waren es mehr als Hunderttausend.

Und auch in Deutschland orientieren sich Teile der radikalen Klimabewegung auf die Vergesellschaftung der fossilen Energieunternehmen um. „RWE und Co enteignen“ orientiert sich am an der Stimmenzahl gemessen erfolgreichen Kampf gegen privatisierte Immobilien in Berlin und verbindet die Kritik an Öl und Gas mit einer Forderung nach Energieproduktion im Interesse der Bevölkerung.

Löhne rauf, Preise runter!

Und auch in Österreich nehmen Linke und Gewerkschaften die Teuerung sehr ernst. Der ÖGB hat zu einer Betriebsrätekonferenz mobilisiert und organisiert Teuerungskundgebungen in allen Bundesländern Mitte September. Zwischen radikaler Linker und Zivilgesellschaft formieren sich Bündnisse.

Gleichzeitig stehen im Herbst Lohnverhandlungen an, die mit riesigen Reallohnverlusten umgehen müssen. Die Verhandler:innen stehen unter großem Druck der Belegschaften. Und das ist gut so. Der Kampf um höhere Löhne und niedrigere Preise geht Hand in Hand. Eine starke Bewegung um beide Forderungen verhindert auch ein Einknicken, das beim ÖGB öfter vorkommt. Dazu muss sich eine Teuerungsbewegung aber das Vertrauen der Belegschaften erarbeiten, durch Solidaritätsaktionen in den Verhandlungen, gemeinsame Diskussionen und Aktionskonferenzen und echte tatkräftige Unterstützung ihrer Forderungen.

Dem ÖGB ist immer zuzutrauen, eine große Dampfablass-Aktion zu organisieren, den gesellschaftlichen Druck aber klein zu halten. Die Riesendemo gegen 12-Stunden-Tag und 60-Stunden-Woche, auf die genau gar nichts gefolgt ist, bleibt uns in bitterer Erinnerung. Aber das muss man der Gewerkschaftsspitze nicht erlauben. Solche breiten Mobilisierungen liefern eine Chance für Aktivist:innen, alle möglicherweise Interessierten zu erreichen und den Druck für konsequente Kämpfe aufzubauen. Eigene, tragfähige Aktionen der Linken erhöhen die Aufmerksamkeit der Gewerkschaftsführung und der Sozialdemokrat*innen und erschweren diesen den Ausschluss der kampfbereitesten Elemente.

Und jetzt: Bilden wir uns, organisieren wir uns, bewegen wir uns!

Der Herbst 2022 ist ein Krisenherbst. Er muss auch ein Kampfherbst werden. Die Inflation stellt die Arbeiter:innenklasse vor eine reale Existenzbedrohung und die herrschende Klasse vor eine ernsthafte Legitimitätskrise. Die kommende Rezession wird durch massive Angriffe auf uns und weitgehende Planlosigkeit der Regierung geprägt sein.

Denn Preiserhöhungen sind eine Entscheidung der einzelnen Kapitalist:innen, wo die Gegenentscheidung den Einzelnen auch nichts bringt. Weder durch gute Worte noch durch Pressekonferenzen kann der „ideelle Gesamtkapitalist“ türkis-grün daran etwas ändern, bevor es zu spät ist. Und andere Lösungen, die er hätte, gehen nur auf unsere Kosten.

Es ist jetzt an uns Revolutionär:innen und Marxist:innen, das Bündnis mit allen kampfbereiten Teilen der Arbeiter:innenklasse zu suchen. Das notwendige Problembewusstsein über die Teuerung ist da, die Zeit für eine gemeinsame Analyse der tatsächlichen kapitalistischen Ursachen bleibt auch. Durch Massenmobilisierungen, greifbare aber radikale Forderungen und nicht zuletzt die für alle offensichtliche Schwäche bürgerlicher Antworten, kann die Teuerung zurückgeschlagen werden.