Olaf Scholz als Zugpferd?

Jürgen Roth, Infomail 1113, 14. August 2020

Stolz präsentierten sie Scholz. Am Montag, dem 10. August, verkündeten der Bundesfinanzminister und die SPD-Vorsitzenden Esken und Walter-Borjans auf einer gemeinsamen Pressekonferenz, dass man sich auf einen Spitzenkandidaten für die nächste Bundestagswahl geeinigt habe. Dass der Parteitag die Entscheidung absegnen wird, gilt als sicher.

Die beiden Vorsitzenden und der Vizekanzler präsentierten sich nicht nur in trauter Eintracht. Sie waren sogar etwas stolz darauf, dass sie vor allen anderen Parteien einen Spitzenkandidaten vorzuweisen haben und dass von diesem „Coup“ vorab nichts an die Presse gedrungen sei. Einigkeit beginnt in der SPD mit Schnauze Halten.

Absichtsbekundungen

Auch wenn die Umfragen im Keller sind, so gibt sich die SPD ambitioniert. Bis zur nächsten Bundestagswahl wolle sie natürlich verlässlich die Arbeit der Großen Koalition fortsetzen, dann aber solle ein „echter“ Politikwechsel mit einer linken „Reformkoalition“ folgen. Der kategorische Ausschluss einer Koalition mit der Linkspartei auf Bundesebene wurde nebenbei offiziell begraben – womit sich die politischen Zuggeständnisse von Scholz und Co. an die Vorsitzenden auch schon erledigt haben. Alle anderen „Brüche“ mit neo-liberalen doktrinären Marotten wie der „Schwarzen Null“ wurden nicht aus besserer Überzeugung, sondern aus pragmatischer Akzeptanz des Notwendigen angesichts einer historischen Krise des Kapitalismus und einer globalen Pandemie vollzogen.

Scholz gab als Ziel aus, die Umfragewerte der Partei zu steigern (aktuell zwischen 14 und 15 %) und die nächste Regierung anzuführen. Da er sich im gleichen Atemzug von DIE LINKE distanzierte wegen deren Ablehnung der NATO, stellt sich die Frage, wie das funktionieren soll, sofern die Linkspartei – was sicher nicht auszuschließen ist – nicht noch weitere Abstriche und Verrenkungen bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr macht.

Da natürlich auch zweifelhaft ist, ob die SPD überhaupt vor den Grünen landen wird, hat die Vorsitzende Esken in einem ARD-Interview schon erklärt, die Sozialdemokratie sei bereit, auch unter einer grünen KanzlerInnenschaft „Verantwortung“ zu übernehmen. Walter-Borjans mutmaßte, Scholz genieße hohes Ansehen in der Bevölkerung wegen seiner Fähigkeit, Krisen zu meistern. Deshalb wurde er auch einstimmig (!) von Vorstand und Präsidium nominiert.

Reaktion der Parteilinken

Doch nur Teile des linken SPD-Flügels zeigten sich angesichts dieser Personalentscheidung ratlos oder gar ablehnend. So Hilde Mattheis (Vorsitzende des Vereins Forum DL 21): „Warum versuchen wir, mit der immer gleichen Methode ein anderes Ergebnis zu erwarten?“ Andrea Ypsilanti zog den Schluss, dass die SPD als „transformatorische Kraft im Zusammenspiel mit Bewegungen“ ausfalle. Einigkeit sieht anders aus! Aber diese Kritik teilt auch nur eine Minderheit der Parteilinken. Die meisten tun so, als wäre die Entscheidung für Scholz keine politische Weichenstellung, als hätte sich der Architekt von Agenda 2010 nach links bewegt, nur weil er auch Kanzler werden wolle.

Viele Parteilinke verteidigen jedenfalls die Nominierung. Annika Klose, Berliner Juso-Vorsitzende, hofft auf Rot-Rot-Grün unter dem SPD-Spitzenkandidaten. Pragmatismus und Regierungserfahrung seien ein Vorteil und der Wahlkampf werde als Team geführt. Die Konjunkturprogramme in der Corona-Krise seien mit den Parteivorsitzenden und dem Juso-Bundeschef Kühnert abgesprochen, Schuldenaufnahme, Mehrwertsteuersenkung, Grundrente und die im Sozialstaatspapier versprochene Abkehr von Hartz IV hätten linke Akzente in der Großen Koalition markiert. Sie setzte ihre Hoffnung auf mehr Umverteilung, Schließen von Steuerschlupflöchern, Wiederbelebung der Vermögenssteuer und Änderungen bei der Erbschaftssteuer und auf diesbezügliche Unterstützung durch die EU. Hoffnung machte ihr auch, dass Olaf Scholz eine Regierungsbeteiligung ohne die Union haben möchte. Wiederum: mit wem? Fastnamensvetter Schulz hatte Ähnliches nach der verlorenen letzten Bundestagswahl verkündet – das Ergebnis ist bekannt.

Auch Fraktionsvize Miersch, seines Zeichen Sprecher der Parlamentarischen Linken, und Kevin Kühnert äußerten sich ähnlich. Letzterer gibt seinen Juso-Vorsitz im Herbst auf und kandidiert für den Bundestag. Dafür hat er gleich eine Eintrittskarte ins Scholz’sche (Schatten-)Kabinett gelöst und die Unterstützung der Parteijugend zugesagt. Im Unterschied zu den vergangenen Jahren marschierten Topleader und Jusos in eine gemeinsame Richtung! Gleichzeitig warnte er seine GenossInnen vom linken SPD-Flügel vor „destruktiver Kritik“.

In diesen Worten schwingt nicht unberechtigte Sorge mit. Schließlich sehen Teile der Parteibasis – und erst recht Millionen Lohnabhängige – Scholz als Architekten von Agenda 2010 und der Rente mit 67. Hilde Mattheis kritisierte, dass die SPD sich mit der Wahl der beiden neuen Parteivorsitzenden eigentlich von ihrer Politik der vergangenen Jahre verabschieden wollte. „Eigentlich“ wollte man schon vor 3 Jahren die Große Koalition aufkündigen und noch „eigentlicher“ erwiesen sich die „linken“ HoffnungsträgerInnen als SteigbügelhalterInnen für das Zurück zur Politik der vergangenen Jahre!

Bröckelt die Basis?

Einige linke BasisaktivistInnen verlassen die SPD, so der Vorsitzende des Vereins NoGroKo, Steve Hudson. Er und viele Tausende hätten Esken und Walter-Borjans gewählt, damit sie die SPD-Basis gegen die Politik und Person Scholz vertreten, die im Wahlgang eine heftige Schlappe erlitten habe, nur um gestärkter denn je dazustehen. Er monierte auch, dass der Kandidat weder von einem Parteitag noch von den Mitgliedern gewählt wurde. Scholz habe die derzeitigen Zustände mit erschaffen, mit verteidigt und argumentiere für sie bis heute.

Innerhalb der organisierten Parteilinken hat sich im Vergleich zur Gemengelage vor 3 Jahren die Situation weitgehend geklärt. Nur noch in DL 21 versammeln sich SozialdemokratInnen, die auf eine personelle und inhaltliche Linkswende der SPD hoffen. Doch sie üben keinen Einfluss auf die Programmatik aus. Sie werden das auch weiterhin nicht tun, wenn sie nicht den Kampf innerhalb der Gewerkschaften um eine andere Führung aufnehmen. Schließlich ist die Bindung an die und die Kontrolle der Gewerkschaften  das einzige übriggebliebene organische Bindeglied zur organisierten ArbeiterInnenklasse, andere (Genossenschaftswesen, Kultur, Sport, ArbeiterInneneinfluss auf die Ortsvereine, Vorfeldorganisationen wie Jusos, Falken, ArbeiterInnensamariterbund, AWO, Mietervereine …) existieren entweder nicht mehr oder sind geschwächt und sind vor allem zum Tummelplatz reiner KarrieristInnen geworden.

Grüne und DIE LINKE

Die SPD ist schwer angeschlagen nach einer langen Serie von Wahlniederlagen und Personalquerelen. Die Grünen legen sich nicht fest und schielen auch auf Union und FDP. DIE LINKE profitiert nicht davon.

Am Wochenende, 8./9. August, noch vor der Verkündung von Scholz‘ Kandidatur erklärte die SPD ihre Bereitschaft zur Regierungszusammenarbeit mit der Linkspartei im Bund – nach 30 Jahren Unvereinbarkeitspose gegenüber PDS/DIE LINKE! Wir haben oben ausgeführt, von welchen Widersprüchen die SPD derzeit geprägt ist. Hier wird ein weiterer hinzugefügt. Es ist zu bezweifeln, ob mehr dahintersteckt, als sich viele Optionen für eine ungewisse Zukunft offenzuhalten.

Doch auch DIE LINKE wird nicht um die Frage herumkommen, wie sie mit ihrer bisherigen Rolle gegenüber der SPD umgehen will. Parteichef Bernd Riexinger sieht als entscheidend an, ob es inhaltliche Übereinstimmungen gibt. Er findet an den Aussagen vom vergangenen Wochenende interessant, dass die SPD das Hartz-IV-System überwinden, Sanktionen abschaffen, einen deutlich höheren Mindestlohn und Reiche stärker besteuern wolle. Offen bleibe die Frage der Friedenspolitik wie eines sozial-ökologischen Umbaus. Mit der LINKEN seien Kampfeinsätze der Bundeswehr nicht zu machen. Und was ist mit der NATO, Genosse Riexinger? Dass die Linke im Mai 2020 Gregor Gysi einstimmig zum außenpolitischen Sprecher der Bundestagsfraktion gewählt hat, zeigt, dass die Parteispitze und der Apparat eine Koalition mit SPD und Grünen nicht abgeneigt sind und sie faktisch vorbereiten.

Natürlich beteuert DIE LINKE weiter, dass sie keinen Koalitionswahlkampf betreiben werde, sondern eigene Positionen durch starke Unterstützung aus sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Sozialverbänden verankern wolle. Doch das kann sie leicht verkünden, einen „Koalitionswahlkampf“ verlangt von ihr ohnedies niemand, zumal sie über andere Regierungsoptionen eh nicht verfügt.

Um den Willen zur Regierung auszudrücken, reicht es schon, wenn Riexinger erklärt, dass die CDU als Regierungspartei abgelöst gehöre. Momentan erschweren zweifellos eher die Grünen einen solchen „Politikwechsel“, sollte es denn die parlamentarischen Mehrheiten dafür geben. Diese haben sich schließlich der CDU schon seit längerem angenähert und erwägen, wie die Interviews des ehemaligen „Linken“ Trittin zeigen, eher eine Koalition mit der Union als eine Regierung mit SPD und Linkspartei.

Genau diese Umorientierung der Grünen mag aber andererseits dazu führen, dass sich auch die Linkspartei „härter“ in ihren Bedingungen gibt. Warum soll sie gleich alle politischen Positionen für ein Projekt fallenlassen, das auch mit ihrer Zustimmung ungewiss, wenn nicht unwahrscheinlich ist?

Dass die SPD ein mögliches rot-rot-grünes Projekt in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes stellen wird, hängt daher nur bedingt damit zusammen, dass sie wirklich daran glaubt. Sie hat vielmehr kein anderes, mit dem die Partei überhaupt „geeint“ antreten kann. Man kann so auch viel leichter so tun, also ob sie nicht nur für einen Bruch mit der Großen Koalition, sondern auch für eine nicht näher definierte „andere“ Politik stünde.

Wahlkampf-Konstellation wie 1998?

Ein Vorteil der frühzeitigen Kandidaten„wahl“ besteht darin, dass Scholz sich von jetzt an profilieren kann. Er hat mehr Zeit, ein Programm und ein Team aufzubauen, als die KonkurrentInnen. Der zweite „Vorteil“ besteht für die Partei darin, eine Richtungsdebatte, wie zuletzt 2017 geführt, vermieden zu haben – unter Komplizenschaft großer Teile des „linken“ Flügels wie seitens der Jusos und der Vorsitzenden!

Die Geschichte der ersten rot-grünen Bundesregierung 1998 liefert einige Parallelen zur heutigen Lage. Es waren immer Leute der Mitte, wenn nicht sogar vom rechten Flügel, die neuen Machtkonstellationen auf der linken Flanke des traditionellen Parteiensystems den Boden bereitet haben (Börner in Hessen Mitte der 1980er Jahre, Schröder 1998 im Bund), während linke Kräfte wie Ypsilanti 2008 dabei scheiterten. 1998 hatte Langzeitkanzler Kohl seinen Zenit überschritten, Langzeitkanzlerin Merkel will 2021 nicht mehr antreten. 1998 kandidierte mit Schröder ein erfahrener Landespolitiker als Gesicht für die Massen im Gespann mit dem linken Parteichef Lafontaine als programmatischer Kopf.

Anders als 1997/98 gibt es heute aber keine ernsthafte gesellschaftliche Bewegung, die eine (rot-)rot-grüne Option stärken und tragen könnte, wie es damals in Massenaktionen gegen die Angriffe der Kohl-Regierung und in der Erfurter Erklärung zum Ausdruck kam. Die Wahl des Duos Schröder-Lafontaine bildete den Auftakt zu einer sozialdemokratischen Tragödie samt Kriegseinsätzen und Agenda 2010. Mit dem Trio Esken, Scholz und Walter-Borjans wiederholt sie sich – als politische Farce.




SPD-Vorstandswahlen: Richtungsentscheid für die Große Koalition (GroKo)?

Tobi Hansen, Infomail 1073, 23. Oktober 2019

Nach dem krachenden Rücktritt von Andrea Nahles hat der
geschäftsführende Vorstand der SPD zunächst auch der Bundesregierung Zeit
verschafft – zumindest bis zum regulären SPD-Parteitag im Dezember. Allzu laut
waren die Rufe nach einem direkten GroKo-Abschied nach den katastrophalen
EU-Wahlergebnissen. Schon davor wollten z. B. die Jusos, aber auch die
Landesverbände NRW und Bayern den Parteitag inklusive „Halbzeitbilanz“ und
Entscheidung über die Fortführung der GroKo vorziehen.

Der kommissarische Vorstand aus Schwesig, Dreyer und
Schäfer-Gümbel nahm Dampf aus dem Kessel und setzte eine Mitgliederbefragung um
den Posten der Parteivorsitzenden an, an der sich etwas mehr als 10 %
beteiligten. Jetzt laufen die „Vorwahlen“ für den neuen Vorsitz. Eine
Doppelspitze aus Mann und Frau soll es werden. Dementsprechend zogen 8 Duos und
der dann doch genehmigte Einzelkandidat des Seeheimer Kreises, Karl-Heinz Brunner,
durch die Lande. Bei der Mitgliederbefragung stehen jedoch nur noch sechs zur
Wahl. Anfang September hatten Simone Lange/Alexander Ahrens ihre Kandidatur
zurückgezogen. Mitte September folgte ihnen Karl-Heinz Brunner, am 12. Oktober
meldeten sich ebenfalls Hildegard Mattheis/Dierk Hirschel aus dem Rennen ab. Unter
den beiden SiegerInnen sollen dann ebenfalls per Urabstimmung die neuen
Vorsitzenden bestimmt werden.

Auf sog. „Regionalkonferenzen“ stellten sich die
KandidatInnen vor.

Professor Lauterbach, welcher mit Genossin Scheer eines der
ersten Duos bildete, berechnete, dass jedes Duo insgesamt je 9 Minuten und 20
Sekunden Redezeit hätte, also ein „Speed Dating“ mit kleiner Fragerunde der
Mitgliedschaft stattfinde. Manche vergleichen das Format auch mit dem
ARD-Klassiker „Herzblatt“.

Alle KandidatInnen eint, dass sie engagiert die SPD als
„linke Volkspartei“ wieder entdecken, für Soziales, Investitionen, Klima,
Digitales und den Weltfrieden begeistern wollen. Das aktuelle Wahlprogramm wie
auch sehr viele Versprechen werden ausgebreitet, nur kaum ein Wort darüber,
warum dies alles nicht in der recht langen Regierungsverantwortung angegangen,
geschweige denn umgesetzt wurde, oder warum die Regierungspolitik Millionen in
die Armut geschickt hat.

Stattdessen versuchen die KandidatInnen, sich als zupackende
Führung zu inszenieren, eine, die mal Wahlen gewinnen könnte, die das Volk
mitnehmen will, quasi den Gegenentwurf zur Amtsvorgängerin.

Die KandidatInnen

Entscheidender ist die Frage, wie sich die Duos zur Frage
der GroKo verhalten. Das „vorletzte“ nominierte Duo Scholz/Geywitz steht am
klarsten für die Weiterführung der Regierung. Schließlich berichtet der
Bundesfinanzminister und Vizekanzler, dass die aktuelle Regierungspolitik schon
die Umsetzung der meisten Versprechen beinhalte.

Für alle KandidatInnen gilt zur GroKo die allgemeine
Aussage, dass sie sich natürlich an die Entscheidung des Parteitages halten
würden wie auch, dass sie alle „ergebnisoffen“ diskutieren wollten.

Deutliche Absagen an die GroKo finden wir eigentlich nur bei
3 Duos. Da wäre das zuletzt nominierte aus Walter-Borjans/Esken
(Ex-Finanzminister NRW aus Köln/MdB aus Calw/Landesliste Baden-Württemberg),
das quasi als „Antwort“ auf Scholz/Geywitz einen Tag vor Ablauf der Frist
seinen Antritt erklärte. Die Nominierung des Landesverbandes NRW deutet auf das
Abstimmungsverhalten der dortigen Delegierten hin, die ein Drittel der
Mitgliedschaft repräsentieren. Allein deshalb hat dieses Duo sehr gute Aussichten,
die Endrunde zu erreichen.

Ebenfalls deutlich haben sich Scheer/Lauterbach für die Beendigung
der GroKo ausgesprochen. Diese werben ebenso wie ehemals Mattheis/Hirschel (MdB
aus Ulm/Landesliste Baden-Württemberg und Vorsitzende des Forums Demokratische
Linke 21; DL 21/ver.di Bundesvorstand) offen für ein rot-rot-grünes Bündnisse
auf Bundesebene. Diese drei Duos stehen bzw. standen deutlicher für ein Ende
der „Agendapolitik“, eine eher keynesianische Umverteilungspolitik, für einen
wahrscheinlich direkten Bruch mit der Regierungsbeteiligung, anders als ihre KontrahentInnen.

„Lieblingsthema“ dieser eher „linken“ KandidatInnen bilden
die Schuldenbremse, die „Schwarze Null“, die letztlich zu einem massiven
Investitionsstau des öffentlichen Sektors geführt hat und verantwortlich ist
für einen Teil der Misere, die der künftige SPD-Vorstand beenden möchte.
Ebenfalls ist die Steuerpolitik für diese Duos zentral. Höhere Steuern für die
Reichen und Unternehmen wird gefordert. Wenn Lauterbach noch die
Bürgerversicherung ins Spiel bringt, wirkt es wie ein anstehender Bundestagswahlkampf
– alle fordern das Gegenteil der bisherigen Regierungspolitik.

Eher pragmatisch bzw. in der „Mitte“ der Partei geben sich
Schwan/Stegner. Bevor Scholz seinen Antritt erklärte, waren dies sicherlich die
bekanntesten „Gesichter“, eine zweimalige Bundespräsidentschaftskandidatin und
der aktuelle Vizevorsitzende. Sie geben sich als wählbar für alle – vom
„Seeheimer Kreis“ bis zur ziemlich zertrümmerten „Parteilinken“ – und als
„Versöhnungsduo“. Damit mögen sie Chancen bei älteren Parteimitgliedern haben,
aber auch nicht viel mehr.

Dem Duo Pistorius/Köpping (beide LandesministerIn in
Niedersachsen bzw. Sachsen) werden durch die Nominierung zweier Landesverbände
ebenfalls gute Chancen ausgerechnet. Sie appellieren besonders an die kommunale
und Landesebene der Partei. Dies bringt ihnen sicherlich mehr Stimmen als die
Unterstützung durch Ex-Chef Gabriel. Hinsichtlich der GroKo sind sie
pragmatisch gesinnt. Beide setzen eher „Akzente“ bei der Migrationspolitik und
zwar durchaus vorwiegend rechte. Während der niedersächsische Innenminister
Pistorius mit „Law and Order“ die Sicherheitsbedürfnisse der WählerInnen im
Blick hat und „konsequente“ Abschiebungen fordert, kommt Köpping als
Integrationsministerin eher mit den „Sorgen der BürgerInnen“ daher, die man
natürlich ernst nehmen müsste. Ob das die Sorgen des rassistischen Mobs in
Chemnitz waren, lassen wir mal unbeantwortet, aber dieses Duo blinkt deutlich
Richtung Ressentiments gegenüber MigrantInnen.

Ebenfalls sehr pragmatisch, aber sehr hip treten Kampmann/Roth
als „jüngeres“ Duo auf – sie ehemalige NRW-Familienministerin und dortige
Landtagsabgeordnete, er aktueller Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt.
Im Gegensatz zu Köpping/Pistorius, Schwan/Stegner und vor allem Scholz/Geywitz
geben sie sich rhetorisch teilweise sehr „links“, wollen ein Ende von Hartz IV
(das wollte ja auch Nahles) und auch eine gewisse Abrechnung mit der sog.
„Agendapolitik“. Was das Marketing angeht, sind die beiden ganz vorn dabei. Vielleicht
erreichen sie „ihre“ Generation der um die 40-Jährigen damit, auch wenn
Staatsminister Roth mal übertreibt und die SPD als Bollwerk gegen Nationalismus
und Kommunismus verteidigt und erneuern will.

Gefährlich kann die Kandidatur für Bundesfinanzminister und
Vizekanzler Scholz werden. Als sich niemand aus dem Geschäftsführenden Vorstand
oder der aktuellen Regierungsmannschaft aufstellte, warf der „Top-Sozi“ der
Bundesregierung seinen Hut in den Ring. Immerhin fand er später in der ehemaligen
brandenburgischen Generalsekretärin Geywitz zumindest eine Partnerin. Bislang
wurde seine Rolle bei den Regionalkonferenzen mit jeweils einigen hundert
Mitgliedern eher kritisch hinterfragt, wie auch manche Themen wie „Schwarze
Null“, Schuldenbremse und „Steuergerechtigkeit“ eher geeignet sind, den
Bundesfinanzminister in die Bredouille zu bringen.

Innerhalb der Debatte scheint klar zu werden, dass diesem
Duo nicht zugetraut wird, die GroKo zu beenden bzw. die programmatische
Erneuerung nur irgendwie einzuläuten. Andererseits dürfte Scholz durch Ämterhäufung
auch gewisse Vorteile in der Mitgliedschaft genießen, wenn auch bei denen, die
nicht unbedingt zu den Regionalkonferenzen gehen. Sollte Scholz in der ersten
Wahlrunde scheitern, wäre automatisch seine Zukunft in der GroKo bedenklich bzw.
die Frage aufgeworfen, ob denn ein „schwacher“ Vizekanzler noch gebraucht  wird. Auch die Fortsetzung der GroKo im
kommenden Jahr würde damit unwahrscheinlicher.

Im Oktober Richtungsentscheidung?

Im Verlauf der Regionalkonferenzen sind derzeit auch noch
weitere Rückzüge zu erwarten. Als erstes Duo verließen die OberbürgermeisterInnen
Simone Lange (Flensburg) und Ahrens (Bautzen) die Ausscheidung. Sie riefen zur
Wahl von Walter-Borjans/Esken auf, da diese eine „linke“ Politik vertreten
würden. Am Abschluss der Vorstellung trat mit Mattheis/Hirschel ein weiteres
„linkes“ Duo zurück. Zwar repräsentiert Mattheis als Bundestagsabgeordnete DL
21, nur ist sie inzwischen als einzige Vertreterin dieser „Strömung“ in der
Bundestagsfraktion verblieben. Einstige KollegInnen wie z. B. Andrea
Nahles sind schon länger weg. Der ver.di-Chefökonom Hirschel war der einzige
„Gewerkschafter“, der sich zur Wahl stellte. Bei den Konferenzen trat er
besonders stark gegen Scholz auf, meinte, der Finanzminister „müsse nur das
Geld aufheben“, das quasi auf der Straße liege, um investiert zu werden. Andere
wie Pistorius/Köpping hatten schon den Wert der SPD als „Krisenverwalterin“
erwähnt, wohl wissend, dass die nächste Weltwirtschaftskrise naht. In welche
„Hände“ dann Geld verteilt wird, scheint mit der SPD gesichert.

Der Rückzug von Mattheis/Hirschel und der Aufruf der Juso-Spitzen
haben sicherlich die Chancen für das „NRW-Duo“ erhöht. Gerade die Jusos mit
70.000 Mitgliedern könnten mitentscheidend für die Wahl werden, aber wie auch
bei den Nominierungen von ganzen Landesverbänden ist derzeit schwer absehbar,
ob sich dies im Abstimmungsergebnis niederschlägt.

Dass auch Einzelkandidat Brunner vom Seeheimer Kreis
zurückgezogen hat und eine Wahlempfehlung entweder für Scholz/Geywitz oder
Pistorius/Köpping aussprach, wird aber wahrscheinlich kaum ins Gewicht fallen.

Erstaunlich zurückhaltend geben sich die Gewerkschaften und
auch die ehemalige Führungsriege (abgesehen von Gabriel) mit Empfehlungen. Das
kann ein Hinweis darauf sein, dass die Entscheidung „sehr“ offen ist wie auch,
dass die ehemalige Spitze möglicherweise denkt, dass ihr Unterstützungsaufruf
wenig hilfreich wäre.

Die beiden stärksten Duos werden um den Vorstand
kandidieren. Sollten Scholz/Geywitz gegen Esken/Walter-Borjans antreten, hätte
dies Aspekte einer Richtungsentscheidung. Als Finanzminister in NRW war
Walter-Borjans zwar auch gehorsamer Vollstrecker von Schuldenbremse und
Zwangsverwaltung der Kommunen, machte sich aber durch den Kauf der
Steuergeheimnis-CDs aus der Schweiz einen Namen, tritt sehr entschieden für
Steuergerechtigkeit auf wie auch MdB Esken, die deutlich von „links“ die GroKo
beenden will.

Schlussfolgerungen

Nach den katastrophalen Wahlergebnissen seit 2017, dem Ende
von Nahles, die an dem Kunststück scheiterte, gleichzeitig „programmatische
Erneuerung“ und Vollstreckung der GroKo-/Unions-Politik als Partei und
Fraktionsvorsitzende zu schaffen, könnten nun tatsächlich die Weichen für ein
Ende der Bundesregierung gestellt werden. Dies „trifft“ sich mit möglichen globalen
ökonomischen Krisentendenzen, für die der amtierende SPD-Finanzminister Scholz
bereits mehrere Milliarden in der Hinterhand bereithält.

Würden Scholz/Geywitz gewinnen, würden sowohl der Grundsatz
„Erst das Land, dann die Partei“ wie auch die „Sozialpartnerschaft“ in der
Bundesregierung als mögliche Mottos dienen. Dieses Szenario würde am ehesten
Fliehkräfte Richtung Neuwahlen unterbinden, sowohl bei SPD wie auch der Union.
Die GroKo könnte es sogar bis 2021 turnusgemäß über die Runden schaffen.

Schließlich gilt es, die EU-Kommission unter deutscher
Führung abzusichern und die nächste mögliche Wirtschaftskrise zu verwalten, zum
Wohle des deutschen Kapitals. An den Grünen wird auch 2021 wahrscheinlich keine
Bundesregierung vorbeikommen und ob die SPD jetzt Juniorpartnerin der Grünen
werden will, darf auch bezweifelt werden. Das gilt erst recht für die Union.

Während also die mitgliederstärkste politische Kraft in der
deutschen ArbeiterInnenbewegung in einer tiefen inneren Krise steckt, die
Fragen Regierungsverbleib, Schuldenbremse etc. massive Auswirkungen auf die
aktuelle Bundesregierung wie auch die ArbeiterInnenbewegung haben, so findet
dies ohne tiefere Resonanz in der Klasse, der „Bewegung“, der „Linken“ statt.

In gleichzeitig stattfindenden Auseinandersetzungen von
sozialen Bewegungen, Fragen des aktuellen Klassenkampfs, der
MieterInnen-Bewegung oder der Klimastreiks finden wir die SPD bspw. auf allen
Seiten wieder, zumeist aber auf jener der Herrschenden.

Die Tatsache, dass 2018 ein Drittel der Mitgliedschaft gegen
die GroKo gestimmt hat und die Entscheidung pro Koalitionsverhandlungen auf dem
Bundesparteitag 2018 knapp war (56 – 44 %), zeigt, dass dort eine
Auseinandersetzung stattfindet. Es wäre die Pflicht der Gewerkschaften, diese
Auseinandersetzung um die Fortführung der GroKo offen zu führen. Die teilweise
recht ausgeschmückten keynesianischen Versprechungen der möglichen neuen
Vorsitzenden sollten von den sozialen Bewegungen und Gewerkschaften
aufgegriffen und eingefordert werden – sei es bei den Wohnungen, bei der
Klimapolitik, bei Mindestlohn und Mindestrente, bei Stellen für die Pflege und
deren Bezahlung, bei Abrüstung und Ende aller Bundeswehreinsätze im Ausland.

Die Diskussion über die Zukunft der SPD findet zwar sehr
sicher in der Gewerkschaftsbürokratie statt, ziemlich wahrscheinlich mit
stärkerem Pro-GroKo-Flügel bis 2021. Sicherlich werden Teile der Bürokratie aus
den Gewerkschaften den Bundesfinanzminister und Vizekanzler stützen, nur ist
hier auch nicht klar, was das an konkreten Prozenten bringt.

Eine offene Diskussion will die Gewerkschaftsführung aber
keinesfalls. Diese könnte und müsste von in Gewerkschaften und Betrieben
oppositionell gesinnten KollegInnen eingefordert und organisiert werden. Dort
wäre auch zu diskutieren, was man mit einem „Klimastreik“ als
ArbeiterInnenklasse so anfangen könnte und müsste, z. B. in der
Automobilindustrie. Hier könnte die Spaltung vorhandener Bewegungen überwunden
und gemeinsam gekämpft werden – z. B. durch den Kampf für die Zukunft der
Verkehrsbranche wie auch ökologische Nachhaltigkeit mit gleichzeitiger
Beschäftigungssicherung.

Statt sich diesen Möglichkeiten zu stellen, erlebt die
ArbeiterInnenbewegung mit, wie Fridays for Future – eine Massenbewegung zur
Klimapolitik, die de facto von den Grünen geführt wird –,aktuell die
Bundesregierung vor sich hertreiben kann. Als sichtbare, organisierte Klasse
finden die Ausgebeuteten aber nicht statt in diesen Protesten. Vielmehr ist es
nicht gelungen, die Spaltung zwischen den Beschäftigten des Energiesektors und
der Klimabewegung zu überwinden. Teilweise treten Gewerkschaften wie IG BCE
(Hambacher Forst) deutlich feindlich der Klimabewegung gegenüber. Als Bedrohung
der Arbeitsplätze durch letztere dargestellt, übernehmen hier die
„Konzerngewerkschaften“ oftmals die Position der Geschäftsführung.

Eine „finale“ Krise?

Die zerfaserte SPD-Linke könnte theoretisch in diesen
Vorstandswahlen und den begleitenden Diskussionen über die GroKo gewinnen. Es
ist aber weder klar, ob sie die politischen Entscheidungen herbeiführen kann,
noch wohin sie eigentlich will. Inwieweit die Jusos, die man nicht insgesamt
auf „Kühnert-Kurs“ sehen sollte, die DL 21 um Mattheis/Hirschel oder gar
Landesverbände wie Bayern und NRW tatsächlich die GroKo platzen lassen und sich
z. B. Rot-Grün-Rot (oder Grün-Rot-Rot) auf Bundesebene öffnen, ist derzeit
sehr ungewiss. Es gibt wenig organisierte Führung der „Linken“.

Gerade deswegen wäre eine breite Diskussion in den
Gewerkschaften, Betrieben, Ortsverbänden, Stadtteilen, Quartieren eine gute
Möglichkeit, tatsächlich große Teile der Mitgliedschaft zu mobilisieren für ein
GroKo-Ende und für einen Bruch mit der neoliberalen und
sozialpartnerschaftlichen Spitze in Partei und letztlich auch den
Gewerkschaften zu kämpfen. Dazu ist die SPD-Linke derzeit jedoch nicht in der
Lage.

Die krisengeschüttelte SPD erodiert in ihrer aktuellen Krise
so sehr, dass sie ihren letztmöglichen „Sinn“ für den deutschen Imperialismus
verlieren könnte. Dieser besteht ja gerade darin, ihre soziale Basis unter den
Lohnabhängigen „einbinden“ zu können und zugleich als tüchtige Vollstreckerin
der Gesamtinteressen des Kapitals zu fungieren. Bundesweite Umfragewerte von 13 %
lassen Zweifel an dieser Fähigkeit aufkommen. Wird der aktuelle Kurs
fortgesetzt, so könnte für die Partei tatsächlich die „finale“ Phase ihrer
Krise anbrechen.

Ob es mittelfristig gar zu einer Fusion mit der Linkspartei
kommt, wird teilweise schon mal andiskutiert. Sicher scheint, dass es neben
Niedergang auch Umbrüche und mögliche Umgruppierungen im reformistischen Lager
in Deutschland geben könnte. In anderen europäischen Staaten traf den
Reformismus die Krise seiner Politik zum Teil mit noch größerer Härte als die
SPD – z. B. die französische PS. Auch für Syriza oder die PSOE stehen die
Zeichen schlecht, von der SPÖ oder den osteuropäischen SozialdemokratInnen gar
nicht zu reden.

Für sozialistische, kommunistische, revolutionäre Linke
beinhalten diese Krisen, Umbrüche und Wendepunkte jedoch Chancen, wenn sie in
die Konflikte der reformistischen Organisationen eingreifen, von deren linken
Flügel einen innerparteilichen Kampf wie auch Mobilisierungen auf der Straße
fordern – und zugleich immer wieder die Notwendigkeit einer revolutionären
Alternative, einer neuen und kommunistischen ArbeiterInnenpartei betonen.




Von der SPD-Krise zur Regierungskrise?

Gruppe ArbeiterInnenmacht, 3. Juni 2019, Infomail 1057

In der Erklärung
zu den katastrophalen Wahlergebnissen der SPD zur EU-Wahl und zur Wahl in
Bremen hatte Andrea Nahles noch erklärt, dass es in der kommenden Woche zu
schmerzhaften Entscheidungen kommen werde. Ob sie dabei schon an ihren
Rücktritt von Partei- und Fraktionsvorsitz dachte, ist mehr als zweifelhaft.
Der aufbrausende Unmut der GenossInnen schien sich noch durch das taktische
Manöver der Neuwahl des Fraktionsvorsitzes abfangen zu lassen, wohl wissend,
dass die unzufriedenen Flügel noch nicht bereit waren, personelle
Gegenvorschläge zu machen. Insbesondere der „linke“ Flügel schien zu
kalkulieren, dass Nahles noch die folgenden Wahldebakel in den Landtagswahlen
ausbaden müsse, um dann im Zusammenhang mit der Halbzeitbilanz der „Großen
Koalition“ abserviert zu werden. Tatsächlich ergab sich in der Fraktionssitzung
am 29.5. aber bereits, dass Nahles selbst ohne GegenkandidatIn keine Mehrheit
in der Fraktion mehr finden würde. Mit ihrem Rücktritt ist sie daher ihrer
demütigenden Demontage zuvorgekommen.

Mit Nahles hat
nunmehr die Einpeitscherin in der SPD für die „Große Koalition“ die
Konsequenzen für diese verfehlte Politik geerntet. Nach den verheerenden Folgen
der Agendapolitik, dem Co-Management während der Folgejahre der „Großen
Rezession“ und der Preisgabe fast aller, sozialdemokratischer Programmpunkte
wurde die SPD bei allen praktisch jeder Wahl durch Rekordniederlagen gebeutelt.
Nachdem auch das kurzzeitige Gerechtigkeitsversprechen unter 100%-Schulz aufgrund
von Inhaltslosigkeit rasch entzaubert war, schien mit knapp über 20% ein
endgültiger Tiefpunkt erreicht worden zu sein. Unmittelbar nach den
Bundestagswahlen erklärte die damalige Führung, dass sich die SPD nunmehr in
der Opposition erneuern würde und man nicht mehr als Steigbügelhalter von
CDU/CSU bereitstünde.

Mit dem
Scheitern der „Jamaika“-Verhandlungen fing jedoch gleich wieder das Gerede von
der „staatspolitischen Verantwortung“ an und die Schulz/Nahles-Führung ließ
sich nicht lange bitten. Trotz erbittertem Widerstand in der Basis und einer bundesweiten
No-GroKo-Kampagne um den Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert warf die
SPD-Vorsitzende ihr ganzes Gewicht in die Waagschale, um „noch einmal“ die
Republik „zu retten“. Das Versprechen, sich in der Koalition „mit
sozialdemokratischen Inhalten zu profilieren“ und gleichzeitig „die Partei zu
erneuern“ erwies sich, wie leicht vorherzusehen war, als Quadratur des Kreises.
Zwar wurden einzelne Korrekturen in Bezug auf Rente und Beitragspolitik
angefangen und eine Abkehr von Hartz IV groß verkündet. Gleichzeitig strahlte
das umsetzende Personal um Vizekanzler Scholz und Arbeitsminister Heil gerade
den ganzen „Charme“ der Schröder’schen Agendapolitik aus. Diese Minister
verkünden die „sozialdemokratischen Inhalte“ mit einem Unterton, bei dem die
Ablehnung durch den Koalitionspartner eingepreist zu sein scheint.

Auf die verkündete
Abkehr von Hartz IV folgte keine praktische Veränderung. Auf Bundes- wie
Landesebene wurde das Sanktionsregime dieser „Arbeitsmarktreform“ weiter
umgesetzt, so dass der  Bundesverfassungsgerichtshof im September 2019 entscheiden
wird, welche Maßnahmen noch zulässig sind. Wohlklingende Reformen wie „Gute-KiTa-Gesetz“
oder das „Starke-Familien- Gesetz“ wurden verabschiedet – freilich ohne ausreichende
Finanzierung.

Dem Nahles’schen
Kurs der Erneuerung der Sozialdemokratie ausgerechnet in dieser
Regierungskonstellation und mit diesem rechten Ministerteam fehlte jegliche
Glaubwürdigkeit. Als Kevin Kühnert im Angesichts des Versagens kapitalistischer
Märkte in Bezug auf Wohnen und auskömmliche Löhne die Frage nach Enteignung und
Vergesellschaftung zumindest in die Debatte warf, reagierten die SPD-Granden
wie aufgeschreckte Hühner. Eine Kapitalismusdebatte war wohl in der
SPD-Erneuerung nicht vorgesehen, auch wenn sie an der Basis tatsächlich wieder
eine Rolle spielt.

Angesichts der
Krise des kapitalistischen Systems, der globalen Bedrohung durch ökologische
Katastrophen, der radikalen Veränderungen in den Arbeits- und Lebenswelten
(Digitalisierung, Abkehr von fossilen Wachstumsmodellen, neue
Mobilitätsmodelle, etc.) sind speziell bei jungen Menschen, aber auch bei
vielen Beschäftigten in vom Wandel betroffenen Wirtschaftsbereichen,
grundlegende Debatten über radikale Antworten im Gang. Sowohl „Fridays for
Future“ als auch „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ sind nur Symptome dafür.
Parteien wie die SPD, die nur die Krise des bestehenden Systems verwalten, sind
unfähig dazu, diese Veränderungen aufzugreifen. Sie schielen nur ängstlich auf
die Rechtsentwicklung, bei der es rechten Rattenfängern gelingt, einige der
Verlierer dieser Veränderungen mit nationalistischen und rassistischen
Scheinlösungen zu ködern. Getrieben von der Angst vor weiteren Verlusten an die
AfD, getrieben durch die standort-nationalistischen Gewerkschafts- und
Betriebsratsbürokratien, schreckte die SPD-Führung vor jeglicher Linkswende
zurück. Nachdem die Partei „Die Linke“ letztlich in Europa- und Rassismus- und
Klimafragen ähnlich schwankend reagiert, verliert die SPD daher jetzt bei
jugendlichen und progressiven Milieus massiv ausgerechnet an die Grünen. Dabei
hatten die in den Jamaika-Verhandlungen (deren Neuauflage demnächst wieder
drohen könnte) bereits in Sozial-, Finanz- und Umweltpolitik weitaus größere
Zugeständnisse gemacht, als die SPD ihrerseits in den Koalitionsverhandlungen.

Es ist zu
erwarten, dass der Unmut, der Nahles aus dem Amt gejagt hat, nicht vor Scholz
und Co enden wird. Die ersten Stellungnahmen aus der SPD-„Linken“ betonen „rote
Linien“ in Bezug auf Klimaschutzgesetz, Kohleausstieg, Grundrente,
Artikel-13-Umsetzung etc., die in dieser Koalition kaum umsetzbar sein werden. Am
3. Juni setzte der SPD-Vorstand eine dreiköpfige „Interimsführung“ ein, um Zeit
zu gewinnen, Partei und die Koalition noch bis zu den Landtagswahlen im Herbst
(Thüringen, Sachsen und Brandenburg) durchzuschleppen. Will die SPD-Linke,
wollen GewerkschafterInnen in der Partei noch irgendwie Glaubwürdigkeit und
Durchsetzungsstärke bewahren, so muss sie mit der Kampagne für ein Ende dieser
Koalition beginnen und eine Urabstimmung über Führung und Kurs der Partei
verlangen.

Kommissarisch in
den Abgrund?

Sicherlich gibt
es sowohl in der SPD wie der Union genügend „Spitzenleute“, welche die GroKo
bis zum Herbst „retten“ wollen. Nützen kann eine solche Atempause allenfalls
CDU/CSU. Der SPD drohen einstellige Ergebnisse bei den Landtagswahlen in
Sachsen und Thüringen sowie der Verlust der Spitzenposition in Brandenburg.

In der CDU haben
sich bereits erste von der Führung Merkel und Kamp-Karrenbauer distanziert,
dazu gehören die Merz-„Jünger“ Mohring (CDU Chef Thüringen) und Linnemann von
der Mittelstandsunion, diese sehen im Zusammenbruch der SPD vor allem die
Chance Kanzlerin Merkel vor Jahresfrist loszuwerden. Allzu voll dürfen die
neoliberalen und rechtskonservativen in der Union den Mund freilich nicht
nehmen, droht ihrer Partei doch selbst der weitere Absturz, so dass im Falle
einer Neuwahl zum Bundestag eine Koalition mit den deutlich erstarkten Grünen
unvermeidlich scheint.

Sollte sich die
Koalition bis zu den Landestagwahlen im Herbst durchschleppen, so dürfte mit
ihr danach endgültig Schluss sein. Die SPD wäre noch schwächer und
diskreditierter als jetzt, zumal in den ostdeutschen Bundesländern neben der, von
den Grünen besetzte Klimapolitik, vor allem der AfD-Rassismus den Wahlkampf
bestimmen wird. Die SPD sitzt in allen Ländern (noch) in der Regierung, setzt brav
den staatlichen Rassismus in der Abschiebepolitik um und will gleichzeitig auch
ein „bisschen“ Bollwerk gegen rechts spielen. Katastrophale Ergebnisse sind
vorprogrammiert.

Alle Beteiligten
werden nicht müde, die Regierungsverantwortung hoch zu hängen. Schließlich
brauche Deutschland eine stabile Regierung. Auf EU-Ebene werden in den nächsten
Wochen der Vorsitz der Kommission wie auch die Agenda für die nächsten 5 Jahre
verhandelt. Ein tiefe Regierungskrise und mögliche Neuwahlen sind das letzte, das
der deutsche Imperialismus kurzfristig braucht. Daher lobt Merkel die ehemalige
SPD-Vorsitzende Nahles über den grünen Klee und die CDU/CSU wird nicht müde,
eine Fortsetzung der konstruktiven Zusammenarbeit anzumahnen. Eine solche
„Verantwortungslosigkeit“ und eine Stärkung der imperialistischen Konkurrenz
will sich die SPD-Sitze nicht vorwerfen lassen, vor allem aber will kein Flügel
der Partei unmittelbar die Verantwortung für einen Kurswechsel – und damit die
Schuld am wahrscheinlichen Wahldebakel im Herbst – übernehmen. Auch deshalb
versucht die Partei zumindest kommissarisch den Eindruck von „Stabilität“ zu
erwecken.

Weder der
Partei- noch Fraktionsvorsitz soll neu gewählt werden. Vielmehr soll alles
„kommissarisch“ weiter verwaltet werden. Der dienstälteste
SPD-Bundestagsabgeordnete und bisherige stellvertretende Fraktionsvorsitzende Mützenich
soll bis zum September kommissarisch die Fraktion führen.

Die Position
der/des Vorsitzenden der Partei soll bis Ende des Jahres vom einem Trio
ausgefüllt werden, dem Hessischen SPD-Chef Schäfer-Gümbel und den beiden
Ministerpräsidentinnen Dreyer und Schwesig. Ob die drei wirklich bis Ende 2019
„kommissarisch“ die Parteispitze stehen ist fraglich. Schon jetzt lassen
Stimmen aus Nordrhein-Westfalen und Bayern per Pressemeldungen verlauten, dass
sie einen Parteitag für den Herbst vorschlagen. In jedem Fall erscheint es
unmöglich, dass sich auf einem SPD-Parteitag eine Mehrheit für die Fortsetzung
der Regierungskoalition finden ließe.

Die „Übergangsführung“
wie auch die DGB-Führung werden wohl zwei Gesetzentwürfe als Bedingung für die Fortsetzung
der Großen Koalition nennen – Grundrente und Klimaschutzgesetz. Beides wird
allenfalls bis zur Unkenntlichkeit verwässert durch die Koalitionsmühlen kommen
– aber die Verhandlungen und sich leicht über die Sommerpause ziehen. Die
SPD-Führung kann so tun, als würde sie etwas tun.

Brecht mit der
Großen Koalition – jetzt!

Der Umbruch in
der SPD-Spitze und die Krise der Partei müssen genutzt werden, um die weiterhin
verbliebene ArbeiterInnenbasis dieser Partei gegen die Koalitionspolitik, gegen
das „Weiter so“ zu mobilisieren. RevolutionärInnen sollten jeden echten Schritt
in diese Richtung unterstützen – ohne das zaghafte reformistische Programm der
SPD-Linken zu unterstützen und ohne ihre Kritik am noch zaghaftern Vorgehen
dieser Strömung zurückzustellen. Durch diese Taktik wäre es möglich, den
inneren Konflikt weiter zuzuspitzen, ArbeiterInnen und Jugendliche für ein
wirklich sozialistisches Projekt, also den Aufbau einer revolutionären
ArbeiterInnenpartei zu gewinnen, die die elementaren Interessen der Lohnabhängigen
ins Zentrum ihrer Politik rückt.

Die SPD-Linken,
kämpferische GewerkschafterInnen und ArbeiterInnen müssen den sofortigen Bruch
mit der „Großen Koalition“ fordern. Nahles Rücktritt darf keine Verlängerung
der Politik bedeuten, für die sie und die MinisterInnenriege der Partei
standen. Forderungen wie die nach einer Urabstimmung und der Einberufung eines
Parteitages können Mittel sein, das Ende der GroKo herbeizuführen und die
Mitglieder der SPD und der Jusos dafür zu mobilisieren. Dasselbe gilt für die
Auseinandersetzungen in den Gewerkschaften. Der Flügelkampf muss offen geführt
werden – nicht bloß in den Vorstandetagen und mit tausend „Kompromisslinien“.
Ansonsten verbleibt SPD-„Linke“ nur, was sie schon seit Bildung der Gro-Ko war:
eine linke Flankendeckung des Apparates, der Koalitions“profis“ um Finanzminister
Scholz und eine Erfüllungshilfen der CDU/CSU-geführten Regierung Merkel.

Seit Beginn
findet sich die Große Koalition in einer Dauerkrise. Besonders die SPD musste
ihr Personal öfter austauschen, befindet sich auf einem Weg der immer mehr die
Züge der französischen PS aufzeigt, aus der Regierung in die mögliche
Bedeutungslosigkeit. Jeder weitere Tag, den sie an der Regierung festhält,
bringt sie dieser Entwicklung näher. Umgekehrt könnte ein Bruch der Großen
Koalition auch die Deutschland die politischen Karten neu mischen. Die Krise
der SPD, die Abrechung mit der verheerenden Politik ihrer Führung wirft auch
die Frage nach einer politischen Alternative, nach einer klassenkämpferischen
Antworten auf: nach dem gemeinsamen Kampf für bezahlbaren Wohnraum, für Mindestlöhne
und Mindestrenten von 1600 Euro/Monat netto, für eine gute Infrastruktur, für
mehr Klima und Umweltschutz, gegen Rassismus, für offene Grenzen und volle
StaatsbürgerInnenrecht. Für alle KoalitionskritikerInnen in der SPD, für alle
unzufriedenen SozialdemokratInnen muss das Gebot der Stunde lauten: Kündigt der
GroKo die Gefolgschaft auf, fordert den sofortigen Bruch mit der
Koalitionspolitik, lasst und gemeinsam gegen die Überreste der Regierung Merkel
kämpfen!




Kühnert: Mit dem Juso-Chef BMW enteignen?

Tobi Hansen, Neue Internationale 238, Juni 2019

Noch vor wenigen Wochen hatte der Vorstoß des Juso-Chefs
Kühnert für eine gewisse Irritation in der bürgerlichen Landschaft gesorgt.
Nach dem jüngsten Wahldebakel scheint man wieder beruhigt, dass der „Linke“ mit
der SPD untergeht, der Vorstoß also nicht so ernst zu nehmen sei.

Während der Abstimmung über die Große Koalition hatte
Kühnert in der SPD zumindest für die Ablehnung mobilisiert, sich allein dadurch
schon „links“ hervorgetan. Dass er aber auch über eine mögliche Enteignung von
BMW spekulierte, war nicht unbedingt zu erwarten.

Aber der Reihe nach. Schon das Berliner Volksbegehren
„Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ sorgte für relativ viel Aufregung in der
bürgerlichen Klasse und deren Parteien. Die Initiative, Miethaie zu enteignen
und MieterInnen vor Abzocke, Verdrängung und Spekulation zu schützen, erfährt
schließlich relativ offene Sympathie, sogar in einigen bürgerlichen Medien. Das
Thema Enteignung wird wieder öffentlich diskutiert und die dementsprechenden
Paragraphen aus Landesverfassungen und dem Grundgesetz werden ausgegraben.

Auch die Berliner Jusos unterstützen das Volksbegehren und
gehen damit auf Konfrontation mit dem Regierenden Bürgermeister Müller, welcher
Enteignungen entschieden ablehnt.

Dass die FDP eine Änderung des Grundgesetzes und der
Landesverfassungen fordert, um Enteignungen von KapitalistInnen auszuschließen,
und die Unternehmensverbände in heller Aufruhr sind, zeigt, dass die
Bourgeoisie an ihrem „wunden“ Punkt getroffen wurde, nämlich beim
Privateigentum. So steht es um das Nervenkostüm der besitzenden Klasse, sobald
die Quelle ihrer Bereicherung, das Privateigentum an den Produktionsmitteln,
auch nur ein Stück weit in Frage steht.

Alles in allem war es nicht sonderlich ungewöhnlich, dass
ein Juso-Vorsitzender mal „links“ ausholt und sich im Interview für die
Interessen von MieterInnen und nicht von Wohnkonzernen ausspricht. Bei BMW
wurde es deutlicher und gewissermaßen „gefährlicher“. Kühnert wollte, dass die
ArbeiterInnen bei BMW entscheiden sollen, was produziert wird, dass BMW auch
enteignet werden und in die Hände der ArbeiterInnen übergehen kann.

Betriebsrat gegen jede Enteignung

Interessant war, wer aus dem „eigenen Lager“ als erstes
gegen Kühnert ausholte. Dass die bürgerlichen Medien und Politik schon die SED
in der SPD wiederauferstanden sahen, war klar. Dass der
Seeheimer-Kreis-Sprecher Kahrs dem Juso-Vorsitzenden den Konsum illegaler
Drogen unterstellte („Was hat der denn geraucht, war bestimmt nicht legal“), war
bei diesem rechten Flügel der SPD-Bundestagsfraktion zu ahnen.

Spannender war der Auftritt des BMW-Betriebsratsvorsitzenden
Schoch. Dieser stellte fest, dass die SPD nun keine Option mehr für die
BMW-Beschäftigten wäre. So tolle Arbeitsplätze wie beim bayrischen Autokonzern
gäbe es fast nirgends. Die SPD sollte erst mal die Wirtschaft verstehen, bevor
sie darüber rede. Da haben wir viel gelernt vom und über den IGM-Betriebsrat.
Wenn die Wirtschaft gut funktioniert und die BesitzerInnen gut verdienen, geht es
anscheinend auch den Beschäftigten gut. Schochs Äußerung stellt freilich keinen
Ausrutscher dar. Er denkt gewissermaßen nur die Sozialpartnerschaft zu Ende,
frei nach dem Motto, wenn es dem/r HerrIn (dem/r EigentümerIn) gut geht, bleibt
auch für den Knecht/die Magd (die Lohnabhängigen) mehr übrig.

Nun wussten auch alle Medien, als Juso-Vorsitzender muss man
mal „richtig“ links sein können. Sicherlich hatte er mit der Kampagne „NoGroko“
für den Seeheimer Kreis, Gabriel und Co. schon genügend, wenn auch konsequenzlose
Opposition gezeigt. Dass er nun noch politische Forderungen aufstellte, war
dann für einige doch zu viel. Die Medien erinnerten uns daran, dass alle
Juso-Vorsitzenden der letzten 30–40 Jahre schon mal „marxistisch“ daherkamen.
Als wenn die ArbeiterInnen tatsächlich von Kühnert erwarten würden, dass dieser
Firmen enteignet! Aber im Zug der Debatte um das Berliner Volksbegehren war die
Enteignung für bundesdeutsche Verhältnisse erstaunlich oft in aller Munde und
hätte die Möglichkeit geliefert, diese Debatte als Vorlage zu benutzen.

Umso bescheidener war die Reaktion der Linkspartei. Deren
Vorsitzende Kipping verteidigte den Juso-Vorsitzenden zwar im Protesthagel
seiner eigenen Partei. Ihrer Ansicht nach wäre das ein Zeichen für einen
gesellschaftlichen Gesinnungswandel. Doch der Vorschlag Kühnerts, dass jede/r
nur eine eigene Wohnung haben sollte, ging Kipping dann doch zu weit. Sie hofft
weiterhin auf anständige VermieterInnen. Diese  Hoffnung wurde in Westdeutschland lange Zeit „soziale
Marktwirtschaft“ genannt und – hoppla! – schon ist Kipping bei Wagenknecht
gelandet. Wichtiger als die schützenden Worte für Kühnert war freilich, dass
sogar DGB-Chef Hoffmann dessen Gedanken lobte und seinen Kollegen Schoch auf
die Satzung der IGM hinwies. Dort wird wie auch bei Sonntagsreden anderer
GewerkschaftsfunktionärInnen eine Vergesellschaftung von Großbetrieben
zumindest in Betracht gezogen.

Perspektive Enteignung

Dabei müssten sich gerade die Gewerkschaften angesichts
einer möglichen Wirtschaftskrise Gedanken machen, wie mit Betrieben und
Konzernen umzugehen ist, die geschlossen werden und Massen in die
Arbeitslosigkeit schicken. Ohne Kampf für die entschädigungslose Enteignung und
Verstaatlichung unter ArbeiterInnenkontrolle wird es nicht möglich sein, die
Angriffe zu stoppen. Dazu reichen freilich keine Lippenbekenntnisse wie von
Kühnert – dazu braucht es Klassenkampf, Betriebsbesetzungen und Massenstreiks.
Dazu hat der Juso-Chef bezeichnenderweise nichts gesagt.




SPD und Hartz IV: Krise als Dauerzustand

Tobi Hansen, Infomail 1030, 16. November 2018

Am Ende des „Debatten-Camps“ der SPD vom 10/11. November hüpfte Vorsitzende Andrea Nahles mit anderen um die Wette. So viel „positive“ Energie hatten wir zuletzt selten von der Partei- und Fraktionschefin gesehen. Zuletzt schien mit den Umfragewerten auch der Selbsterhaltungstrieb in den Keller gegangen zu sein. Das Festhalten an der Großen Koalition ruinierte die letzten Wahlchancen, die ritualhafte Beschwörung der „Sacharbeit“ bildete die makabere Begleitmusik zum Siechtum der Partei.

Nach den Landtagswahlen von Bayern und Hessen wurden die Rücktrittsforderungen gegenüber Nahles wie auch dem gesamten Vorstand zahlreicher und lauter. Die „Linke“ mahnte einen Sonderparteitag Anfang 2019 an, um sich sowohl personell wie inhaltlich neu aufzustellen. Wiederholt wurde die Forderung nach dem Ausstieg aus der Großen Koalition (GroKo) erhoben, z. B. durch den Landesverband Schleswig-Holstein. Die „Progressive Soziale Plattform“ um den Abgeordneten Marco Bülow und das „Forum Demokratische Linke 21“ (DL 21) um die Abgeordnete Hilde Mattheis wollen eine Urwahl eines neuen Parteivorstandes, inklusive der/des Vorsitzende/n. Dafür würde sich auch Juso- Vorsitzender Kühnert begeistern, während er weiter Nahles politisch stützt. Kühnert bleibt medial das „Gesicht“ der innerparteilichen Opposition. Dass ihn der bayrische Fraktionschef Horst Arnold als neuen Vorsitzenden vorschlug, erhöhte den Druck auf den angeschlagenen Parteivorstand und die Regierungsmitglieder.

Linksschwenk als Rettung?

Als großen Durchbruch feierten Nahles und Klingbeil beim Debatten-Camp die Diskussionen um Hartz IV und Grundeinkommen. In der bürgerlichen Presse machte Nahles mit dem Satz „Wir werden Hartz IV hinter uns lassen“ Schlagzeilen.

Dies ist gerade für die SPD-Linke ein wichtiges Thema der programmatischen „Erneuerung“, die seit den Auseinandersetzungen um die GroKo versprochen wurde. Zentrale Themen des „Camps“ bildeten die Neuausrichtung des Sozialstaates, die „Vereinbarkeit“ von Umwelt und Wirtschaft wie auch die Perspektive der EU.

Bei der Zukunft der EU wurde deutlich, wie wenig „Linksschwenk“ von der SPD zu erwarten ist. Schon bei der Eröffnung der Veranstaltung machte Nahles „Europa“ zum Schwerpunkt. Sie verlor aber kein Wort zur Austeritätspolitik, zur Massenarbeitslosigkeit in Südeuropa oder zu irgendeiner sozialen Perspektive für die Beschäftigten des Euro-Raumes. Stattdessen wurde im Gleichklang mit Merkel, von der Leyen und Macron der Aufbau einer EU-Armee angepriesen. Diese letzte „große“ Idee der Vertiefung des Bündnisses von deutschem und französischem Imperialismus wird dann auch von der SPD mit den gesteigerten „Unsicherheiten“ der globalen Politik begründet. Inwieweit dabei ein weiterer Militärblock „hilft“, bleibt im Ungefähren, aber diesen „Bruch“ mit NATO und US- Imperialismus kann man zumindest noch als „europäisches Projekt“ verkaufen.

Mit der verordneten Aufbruchstimmung, netten Bildern und bis zu 3000 freiwilligen BesucherInnen des Debatten-Camps versucht sich der SPD-Vorstand ins nächste Jahr zu retten. Der nächste Parteitag soll erst Ende 2019 stattfinden. Um vor allem die internen KritikerInnen ruhigzustellen, sollen die Fragen des Sozialstaates vermehrt, wenn auch ohne Folgen für die Regierungspolitik diskutiert werden. Seit der Einführung von Hartz IV, den „Agendareformen“ hat die SPD nicht nur die Hälfte ihrer Mitglieder verloren, sondern auch ihre Wahlergebnisse halbiert – ein halbherziger, rhetorischer Linksschwenk des Vorstandes soll dieser Entwicklung wohl entgegenwirken.

Sanktionen und Grundsicherung

Die Formulierung von Nahles ist nicht neu. Selbst Arbeitsminister Heil kam schon auf die Idee, dass man „Hartz IV überwinden“ müsse, mindestens einen neuen Namen dafür bräuchte, da dies sonst auf ewig der SPD anhängen würde. Damit reagieren Teile der Führung auch ganz pragmatisch auf Urteile von Sozialgerichten. Diese stellten 14 Jahre nach der Einführung fest, dass die umfangreichen Sanktionen des Hartz-IV-Regimes verfassungswidrig seien und die BRD eine „sanktionsfreie“ Mindestsicherung anbieten müsse. Schließlich führten die Sanktionen bzw. die damit einhergehende soziale Repression dazu, dass sämtliche Geldmittel gestrichen werden können – bis hin zur einer möglichen Obdachlosigkeit der „KlientInnen“. Genau in dieser Frage ergingen die ersten Urteile zugunsten von Menschen, die von Sanktionen betroffen sind. Der Entzug der Wohnung durch den „Sozialstaat“ stünde diesem nämlich nicht zu; dementsprechend seien auch die Sanktionen, die dazu führten, insgesamt „unzulässig“.

So könnten die „Agenda-Reformen“ bzw. deren Weiterführung/Umbenennung eines der entscheidenden Themen der nächsten Zeit werden wie auch für mögliche nächste Bundestagswahlen. Manche SPD-Mitglieder hofften sicher seit dem Debatten-Camp, dass z. B. die Hartz-IV-Sanktionen und das System irgendwie verschwinden und die Partei möglicherweise durch den zuständigen Minister Heil wie auch durch Nahles den „Sozialstaat“ zu Gunsten derjenigen reformieren würde, die ihn brauchen. Ganz praktisch haben Kühnert und der „Parteilinke“ Stegner ihre Ideen zu einer Grundsicherung von sich gegeben, damit können manche Hoffnungen auch gleich begraben werden. Während Kühnert noch spaßige Anreize aus der Freizeitbranche/Industrie der Grundsicherung als Bonbon zusetzen möchte (vielleicht ein Fitness- Programm, Kinogutscheine oder eine Flatrate zur „digitalen Anbindung“), äußerte sich Stegner in der Manier eines Franz Müntefering. In der aktuellen Diskussion hatte Grünen-Chef Habeck ein sanktionsfreies Grundeinkommen in Aussicht gestellt. Stegner konterte dies mit: „Wer arbeiten kann, soll auch arbeiten“ (Spiegel online 14.11.18).

Dies erklärt zum einen, warum die SPD derzeit in den Meinungsumfragen um die Plätze 3 und 4 kämpft und diejenigen, die Hoffnungen in einen Linksschwenk hegen, dies ganz sicher nicht diesem Personal überlassen dürfen.

Wen Hartz IV hinter sich gelassen hat

Stegner schließt mit solchen Formulierungen an Müntefering, Clement, Schröder an, welche eine Massenverarmung organisiert und Millionen in Existenznot, Verzweiflung, Isolation und Dauerarmut getrieben haben. Diejenigen, die „etwas“ hatten, wurden jahrelang geschröpft, mussten ihre Ersparnisse auflösen, bevor sie eine sanktionsreiche Mindestsicherung überhaupt in Anspruch nehmen konnten. Auch dies gehörte immer zu den Milliardenüberschüssen der ARGE: eine Enteignung des Einkommens der Massen. Millionen Alleinerziehende wurden systematisch existenziell schikaniert. Kindergeld wurde mit dem Hartz-IV-Satz „verrechnet“ – von einem Staat, dem die Ernährung eines Kindes am Tag weniger wert ist als die eines Polizeihundes! Nachgewiesen ist auch, dass MigrantInnen besonders oft zu Unrecht drangsaliert wurden.

Wir können nur ahnen, wie viele Menschen dieses System in den Selbstmord bzw. in mögliche „Vorstufen“ sozio-psychischen Elends getrieben hat, inklusive Suchtkrankheiten.

Gearbeitet wurde unter dem Hartz-System für einen Euro pro Stunde, als Ersatz für viele Stunden Arbeit im öffentlichen Dienst – der 1-Euro-Job war Sinnbild des neoliberalen Umbaus unter Schröder/Fischer. Er diente später bei der Austeritätspolitik in Europa als Blaupause für Kürzungen im Sozialbereich.

Stegners Forderung „Wer arbeiten kann, soll auch arbeiten“ wäre auch ein interessanter Ansatz für die Kaste der bürgerlichen PolitikerInnen inklusive ihrer Techno- und BürokratInnen, AdjutantInnen, ClaqueurInnen und MitesserInnen, welche allesamt von den Steuereinnahmen durchgefüttert werden. Fast könnte man meinen, das wäre doch mal ein Thema für die „Linke“ – sei es als Partei oder als „radikales“ Spektrum.

Die Zeiten, in denen Erwerbslose gut organisiert waren, gab es ohnedies selten. Die letzte Massenbewegung gegen Hartz IV haben freilich die Führungen der DGB-Gewerkschaften verraten. Eine aktive Politik für Erwerbslose machten sie weder damals noch heute. Ebenso wenig stellen sie sich Hartz IV entgegen. So bleiben vielerorts nur Initiativen übrig, die entweder im rechtlichen oder sozialen Bereich Beratung/Unterstützung organisieren, quasi Selbsthilfegruppen der Deklassierten, da die Gewerkschaften selbst diese Aufgabe nicht übernehmen. Die andere Seite der Organisierung umfasst dann die AktivistInnen für den utopischen Traum eines bedingungslosen Grundeinkommens. Dort finden sich die Linkspartei in Person von Katja Kipping oder in der Neuauflage dann bei den Grünen und Teilen der SPD-Linken wieder, aber ein Kampf der ArbeiterInnenbewegung gegen Hartz IV findet nicht statt.

Wie weiter?

Der Kampf für die sofortige Abschaffung von Hartz IV (wie auch der anderen Hartz- und Agenda-Gesetze müsste mit dem um einen Mindestlohn von 12,50 netto/Stunde für alle, für ein Mindesteinkommen von 1600,- Euro/Monat für alle Erwerbslosen und RentnerInnen und eine Verkürzung der Arbeitszeit auf 30 Stunden/Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich verbunden werden. Dies wären reale Schritte zur Bekämpfung der Armut.

Für diese Forderungen müsste eine SPD-Linke innerhalb wie außerhalb der Partei eintreten. Dafür sollten sich die Gewerkschaften, die Linkspartei und die „radikale Linke“ stark machen.

Ein Aktionsbündnis um diese Forderungen würde einen realen Bruch mit der Agendapolitik darstellen – und könnte zugleich die Regierung wie die SPD-Rechten und BefürworterInnen der GroKo in die Defensive bringen. Die Frage, wie sehr die „soziale“ Neuausrichtung der SPD nur Gelaber zum Hinhalten der Parteilinken und der Basis bleibt oder einen realen Gehalt erhält, ist vor allem eine praktische. Der Kampf gegen das Hartz-IV-System, für ein Mindesteinkommen und einen Mindestlohn, die zum Leben reichen, muss jetzt aufgenommen werden – und zwar in den Betrieben, in Bündnissen, auf der Straße und gegen die Große Koalition!




Die Linken in der SPD: Doch nur ein laues Lüftchen?

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 227, April 2017

Am 4. März war es klar. Knapp zwei Drittel der SPD-Mitglieder stimmten für eine Beteiligung an der Großen Koalition. Über Wochen war es diese Debatte, die tausende neue Mitglieder in die Partei holte, Parteiapparat und vor allem die von den Jusos getragene Opposition zu Wahlkampftouren führte und medial für Furore sorgte. Kein Zufall, denn die Regierungsentscheidung wirft für die SPD einen zentralen inneren Widerspruch auf: den zwischen der Unterordnung unter die Interessen der „eigenen“ herrschenden Klasse und ihrer sozialen Basis. Nun, da der Sturm um die Partei etwas abgezogen ist, wollen wir überprüfen, was bleibt? Wo steht die Opposition in der SPD und wofür kämpft sie?

Die Jusos

Über die #NoGroKo-Tour der Jusos stellten diese einen aktiv mobilisierenden Part des Nein-Lagers dar. Aber nicht nur die Ablehnung der Regierungsbeteiligung machten sie zum Thema, darüber hinaus lautete die Losung: #SPDerneuern. Doch dahinter verbirgt sich nicht besonders viel. Von einer Rücknahme der Agenda 2010-Reformen sprechen sie nicht mehr. Was sie hier wollen, ist keine Abkehr von einer solchen Politik. Insgesamt bleiben sie recht vage.

Ihr Wirtschaftsprogramm spricht – wenn überhaupt – nur die ungleichen Vermögensverhältnisse an. Hier fordern sie Finanztransaktions-, Erbschafts- und Vermögenssteuern. Von konkreten Zahlen keine Spur. Auch in puncto Leiharbeit und Hartz-Reformen bleiben sie uns Antworten schuldig. Dafür blinken sie immer schön links. So kupfern sie den zentralen Slogan von Jeremy Corbyn ab und fordern eine Politik „für die Vielen, nicht die Wenigen“ (https://www.jusos.de/spderneuern/).

Ihre Regierungsperspektive lautet dabei Rot-Rot-Grün auf Bundesebene. Damit sind sie in der Partei wohl in der Minderheit, jedoch bei weitem keine Neuheit. Das Praktischste, was hier gefordert wird, ist die direkte Wählbarkeit des Parteivorsitzes durch ein Mitgliedervotum. Daneben fordern sie die Parteibasis auf, kritische Fragen zu stellen und für Vorstände zu kandidieren. Kurzum, sie stehen für eine Individualisierung der bisherigen gemeinsamen Arbeit, eine Methode, die zur systematischen Abschwächung ihrer ursprünglichen Kritik führt. Hier steht die Einheit der Partei über der politischen Klarheit.

Die Progressive Soziale Plattform

Hinter diesem Ansatz verbirgt sich der Versuch, eine Organisation ähnlich dem Labour-nahen Momentum aufzubauen. Diese soll sowohl SPD- als auch Nicht-SPD-Mitglieder organisieren. Sie möchte ein Sammelpunkt für jene Kräfte darstellen, die „eine wirklich progressive, soziale Regierung wünschen statt [die] eine[s] Dauerkompromiss[es] […]“ (Aufruf – www.plattform.pro/).

Inhaltlich bleibt der Aufruf auch bei einer Kritik an der Öffnung der Schere zwischen Arm und Reich stehen. Hier findet sich die Parteiprominenz der zweiten und dritten Reihe wieder. Angeführt wird die Plattform von Marco Bülow, Mitglied des Bundestages aus Dortmund (NRW), Herta Däubler-Gmelin, Justizministerin von 1997 bis 2002. Ebenfalls spielt hier Steve Hudson, Mitglied von Momentum, Labour und der SPD mit. Dieser ist ursprünglicher Gründer des Vereins #nogroko, der die mittlerweile recht brachliegende Kampagne #Urwahl anstoßen sollte. Aber auch eine Reihe von Mitgliedern aus NGOs sammelt sich hier. Beispiele sind VertreterInnen von Naturfreunden, Greenpeace, Inklusions-AktivistInnen, vereinzelt auch Juso- und Gewerkschaftsmitglieder, aber auch Ex-Piraten-Parteimitglieder und Teile von Diem25, der Sammlungsbewegung von Yanis Varoufakis.

Bislang ist das Projekt eine Art Onlineforum unter dem Slogan: Mitmach-Plattform. Hier kann jede/r ihre/seine Positionen veröffentlichen. So finden wir beispielsweise Selfies, die eine Erhöhung des Mindestlohns auf 14,50 Euro fordern. Von gemeinsamen Plänen ist hier jedoch wenig auffindbar – nur das vage Versprechen, dass eine reale Organisierung ab einer UnterstützerInnenmarke von 5.000 begonnen wird.

Die Wahl des Parteivorsitzes

Am 22. April findet ein SPD-Sonderparteitag statt. Hier soll über die Frage des Parteivorsitzes abgestimmt werden. Bislang stehen hierzu zwei Kandidatinnen zur Wahl. Andrea Nahles, als Kandidatin des Parteivorstandes, versucht, sich aktuell als Parteilinke zu inszenieren. Schließlich war sie die Ministerin für Arbeit und Soziales, unter der der „flächendeckende“ Mindestlohn eingeführt wurde – eines der stärksten Argumente für die GroKo von Seiten der Gewerkschaften.

Ihre Kontrahentin ist Simone Lange, die Oberbürgermeisterin von Flensburg. Sie ist momentan die einzige Kandidatin, die den neuen Sonderregelungen des Parteivorstandes trotzen konnte, nach denen ein/e vorgeschlagene/r KandidatIn einer überregionalen Verankerung bedarf. Unterstützung erhält Lange für den Antrag zur Wahl der SPD-Vorsitzenden von 35 Ortsvereinen aus 10 Bundesländern. Was sie von den anderen linken Regungen in der Partei unterscheidet, ist ihre offene Ablehnung gegenüber den Agenda-Reformen.

Sie entschuldigt sich offen für diese, sagt, sie seien einer der größten Fehler der Partei und will diese Entschuldigungen bis zu ihrer Rücknahme aufrechterhalten. Hierbei muss gesagt werden, dass sie sich vor allem auf Hartz IV und die Sanktionsmaßnahmen bezieht und blumig in der Frage der vollen Zurücknahme bleibt. In den öffentlichen und in der Partei geführten Debatten steht sie jedoch fernab vom Schuss. Hier bleibt die Frage offen, an denen bislang die anderen Aufbauversuche ebenfalls scheiterten, ob sie bei einer wahrscheinlichen Niederlage eine bundesweite Fraktionsbildung anstreben wird.

Wie weiter?

An diesem Schwachpunkt müssen jene Teile der SPD, die weiter ernsthaft den Kampf gegen die GroKo führen und auf eine Erneuerung der Partei hoffen, diese Ansätze packen. Bisher scheitern sie allesamt daran, eine Fraktion aufzubauen, die ein offenes Angebot darstellt für jene neuen und alten AktivistInnen, die im Zuge der #NoGroKo-Kampagnen neuen Kampfesmut gesammelt haben. Gleichzeitig ist es Aufgabe dieser Fraktion, einen offenen programmatischen Kampf um die Führung der Partei auch über den einzelnen Parteitag hinaus zu führen. Jedoch ist es ebenfalls eine Aufgabe, wenn der Kampf um die Führung der Partei scheitern sollte und es keine weitere mobilisierende Dynamik innerhalb der Partei gibt, mit dieser zu brechen. Im Umkehrschluss müssen sie auch weite Teile der Parteiführung rauswerfen, sollten sie diese Auseinandersetzung gewinnen.

Achillesferse

Eine weitere Achillesferse des #NoGroKo-Lagers ist es, dass es vermeidet, dem Kampf um die Führung der SPD auch den Stellenwert zu geben, den er real schon längst hat: einen gesamtgesellschaftlichen. Was wir brauchen, sind gemeinsame Mobilisierungen der linken Gliederungen der SPD, der Linkspartei, der Gewerkschaften und der sonstigen Linken gegen die Große Koalition. Die angekündigten Angriffe der GroKo in ihren ersten Wochen, dazu mehr in dieser Zeitung, zeigen, dass wir eine Gegenmacht gegen die kommenden Angriffe aufbauen müssen. Dies dürfen wir nicht dem rechten Lager überlassen. So plant beispielsweise die AfD in den kommenden Wochen eine Mobilisierung gegen die GroKo. In dieser Dynamik müssen wir von links den Kampf sowohl gegen den Rechtsruck als auch die aktuelle Regierung formieren. Eine Unterordnung unter die Regierung Merkel verschärft die aktuellen Konflikte nur im Dienste des Rechtsrucks. Hierfür müssen die linken Teile der SPD eine Keimform des Widerstands darstellen und hierfür sind wir bereit, gemeinsam mit ihnen zu kämpfen!

Entscheidend wird sein, angesichts des Schweigens der Gewerkschaften, ja sogar der vollen Unterstützung der GroKo durch IGM und IG BCE als Sachwalterinnen der Standortpolitik für „ihre“ Exportbrauchen, diejenigen Mitglieder ins Boot zu holen, die eine Neuauflage der SPD-Regierungsbeteiligung ablehnen. Eine Intervention in die aktuellen Tarifrunden mit der Perspektive einer Aktionskonferenz aller oben genannten Kräfte gegen Rechtsruck und Sozialkahlschlag, gegen GroKo und AfD ist hierfür das probate nächste Mittel.




Große Koalition gerettet – SPD kaputt?

Martin Suchanek, Infomail 990, 4. März 2018

Schon vor Verkündung der Urabstimmung signalisierten SPD-Vorstandmitglieder den bürgerlichen Medien, dass alles gut ausgegangen wäre – gewissermaßen als Entwarnung an die Unionsparteien, das Kapital und die „europäischen Partner“.

Die Parteispitze hat ihren Super-GAU, den größten aller möglichen Unfälle, noch einmal abgewendet. Sie kann in der Regierung und in der SPD weitermachen wie bisher – und sie wird für die nächsten Zumutungen und Angriffe auch noch ein „demokratisches Mandat“ für sich reklamieren.

Kurzfristig haben sich Scholz, Nahles, Klingbeil durchgesetzt. Wieder einmal siegten die „staatspolitische Verantwortung“ und auch die profane Angst vor Neuwahlen und weiteren Verlusten an die AfD.

Wie immer in der Geschichte des Opportunismus wird ein scheinbarer Augenblickserfolg auf Kosten zukünftiger Möglichkeiten verkauft. Auch wenn die AfD bei Neuwahlen wahrscheinlich gewinnen würde, so sind in der Großen Koalition (GroKo) ein weiterer Niedergang der SPD und eine wiederholte krachende Niederlage bei den nächsten Bundestagswahlen sicher. Nur ob das Siechtum und die GroKo trotz massiver Zugeständnisse an die Union – sei es die Anerkennung der Obergrenze für Geflüchtete, der Verzicht auf die Bürgerversicherung oder die Akzeptanz des Niedriglohnsektors – bis 2021 anhalten oder ob das Endes des Schreckens schon früher kommt, ist ungewiss. Jedenfalls lässt die akute Vermeidung des Super-GAUs für die Parteiführung den der SPD mittelfristig nur näher rücken.

Für die ArbeiterInnenklasse insgesamt ist die Bildung der GroKo eine schlechte Nachricht. Die neue Regierung wird den innen- wie außenpolitischen Kurs des deutschen Imperialismus fortsetzen. Mehr „Europa“ gilt als Codewort für die Neuordnung unter deutscher und französischer Vorherrschaft, um die Interessen des Kapitals politisch, ökonomisch, geo-strategisch und angesichts der Zuspitzung der Weltlage auch militärisch durchsetzen zu können. Dazu sind das strategische Bündnis mit Frankreich und die Stärkung des Kerns der EU zentral, während der Rest Europas endlich auch politisch auf Linie gebracht werden soll.

Im Inneren soll die Politik im Interesse des Kapitals sozialpartnerschaftlich fortgesetzt werden – auf Kosten immer neuer Steigerung von Arbeitshetze und -intensität für die „Kernschichten“ und bei Beibehaltung des immer mehr wuchernden Niedriglohnsektors. Für Sparprogramme und Privatisierungen sorgt die Schuldenbremse, die natürlich ebenso aufrechterhalten wird wie Altersarmut und privates Gesundheitssystem. Für MigrantInnen und Flüchtlinge gibt es Sammelstellen, Ausgrenzung und Abschiebung, ideologisch garniert von den Ergüssen des CSU-Heimatministers Seehofer.

Imperialismus, sozialpartnerschaftlich garnierter Neoliberalismus und ein mit ein paar humanitären Phrasen verbrämter Ruck nach rechts – das ist die Essenz der Großen Koalition.

Gründe für das Ergebnis

Der Parteivorstand mag sich diesen „Erfolg“ mit dem „demokratischen Mandat“ der Urabstimmung schönreden. Eine Beruhigung für die SPD, geschweige denn die mantraartig beschworene „Erneuerung“ wird das Ergebnis allerdings nicht bringen. Dass es um eine Art Schicksalsabstimmung ging, zeigte schon, dass sich 378.437 der 463.722 Parteimitglieder beteiligten. Von den 362.933 gültigen Stimmen (78,3 Prozent) entfielen 66,02 Prozent auf Ja, 33,98 Prozent, also 123.329 stimmten mit Nein.

Dass das Resultat so deutlich ausfiel, freut die SPD-Führung. Das Lager des NoGroKo hatte sich, wenn schon nicht unbedingt einen Sieg, so doch mehr als dieses ausgerechnet. Betrachten wir die gesamte politische Entwicklung der letzten Monate, so kann der Erfolg des Parteivorstandes jedoch keineswegs als bruchlose Zustimmung zur GroKo interpretiert werden.

Immerhin bedurfte es mehrerer Monate medialen und innerparteilichen Trommelfeuers, um die SPD vom noch am Wahlabend im September 2017 verkündeten Gang in die Opposition nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen zur Fortsetzung der Koalition zu treiben. Die Mehrheiten mussten schrittweise – über einen Sonderparteitag, über die „Einbindung“ umfallender KritikerInnen, über eine Urabstimmung erst geschaffen werden. Nur so konnten die Kluft zwischen Führung und Basis notdürftig gekittet und ein „Stimmungsumschwung“ zugunsten des Vorstandes herbeigeführt werden.

Die Parteispitze nutzte das mediale Trommelfeuer, die ständigen Appelle an die SPD, doch „Verantwortung“ zu übernehmen und die Agenda-Politik unter einem neuen Merkel-Kabinett fortzusetzen, also den Druck des bürgerlichen Establishments, als Argument für ein „Weiter so“: Die GroKo möge schlecht sein, sie sei jedoch alternativlos.

Auch der Niedergang der SPD in den Umfragen wurde als Begründung für diesen Kurs herangezogen. Nicht der versprochene Bruch mit der bisherigen Politik, sondern deren Fortsetzung wären nun notwendig. Viele Mitglieder wurden mit den möglichen Folgen von Neuwahlen eingeschüchtert, frei nach dem Motto: Wer gegen die GroKo ist, führt die SPD zur nächsten Wahlniederlage und stärkt die AfD.

Dass es genau die scheinbar alternativlose Politik der Agenda-SPD war, die erst zur Entfremdung von Millionen Lohnabhängigen führte und im schlimmsten Fall gar zur Wahl der rassistischen Rechten trieb, wurde geflissentlich ausgeblendet. Der Parteivorstand, selbst für den Niedergang der SPD verantwortlich, setzte nun seinerseits die Mitglieder unter Druck, indem ihr ihnen die Verantwortung für einen weiteren Zuwachs der AfD bei Neuwahlen in die Schuhe schob, falls sie in der Urabstimmung mit Nein stimmen würden.

Schließlich nutzte der Parteiapparat sein Informationsmonopol gegenüber der Mitgliedschaft.

Die öffentlichen lokalen politischen Diskussionen und Parteiversammlungen im Vorfeld der Urabstimmung zogen Tausende an. Dort wurde kontrovers und demokratisch debattiert, oft mit einer Mehrheit gegen die Große Koalition. Aber schon bei den sog. Regionalkonferenzen der SPD kam die „offene Diskussion“ schwer unter die Räder. Nachdem die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen „präsentiert“ und über den grünen Klee gelobt wurden, hatten die anwesenden Vorstandsmitglieder Rederecht. Erst als alle von ihnen gesprochen hatten – also nach ein bis zwei Stunden – durfte auch die Basis zu Wort kommen.

Erst recht zeigte sich diese bürokratische Manier des Apparates bei der schriftlichen und Online-Kommunikation mit den Mitgliedern. Hier kam das Monopol der Parteiführung besonders krass zur Geltung. So wurde im „Vorwärts“ auf 200 Seiten der Koalitionsvertrag veröffentlicht. In einem Interview kam Kühnert als einziger Gegner der GroKo zu Wort, während alle anderen Beiträge ausschließlich von KoalitionsbefürworterInnen stammten. Selbst den Karten zur Urabstimmung wurden – entgegen anderen Zusagen – nur die Argumente für den Koalitionsvertrag beigefügt.

Das Monopol des Apparates wurde gestärkt durch die willige Unterstützung der Gewerkschaftsführungen und BetriebsratsfürstInnen, einer der mächtigsten Gruppierungen, die von Beginn an für eine Fortsetzung der GroKo getrommelt hatte. Sie erblickt darin zu Recht die Fortsetzung der Sozialpartnerschaft auf betrieblicher und gewerkschaftlicher Ebene, der nationalistischen Standortpolitik, die gewissermaßen den Unterbau für die „Stärkung der EU“, also für das strategische Ziel der imperialistischen Außenpolitik, bildet.

Schließlich stützte sich der Parteivorstand neben den Führungen und dem Apparat auf die passiveren Mitglieder der SPD, jene, die sich nicht an den Diskussion beteiligten (oder beteiligen konnten) – und damit auch weniger den Argumenten der GegnerInnen der GroKo ausgesetzt waren.

Er stützte sich dabei auch auf die schlechte Tradition einer Nibelungentreue zur „Partei“, die in der deutschen ArbeiterInnenbewegung den Apparaten der Sozialdemokratie (wie auch der stalinistischen Parteien) nur allzu oft gute Dienste erwiesen hat. Die SPD-Führung nutzte schließlich auch die manipulativen Mechanismen alter wie neuer Formen plebiszitärer Demokratie, sei es der traditionelle „Informationsbrief“ des Vorstandes, seien es die sozialen Medien, die das Meinungsmonopol der herrschenden Gruppierung weiter verstärkten.

In diesem Sinn war der Sieg des Vorstandes auch ein Erfolg der Urabstimmung vereinzelter (und damit von einem zentralisierten Apparat leichter beeinflussbarer) Mitglieder über die demokratischen Traditionen der ArbeiterInnenbewegung, wo Entscheidungen auf Mitgliederversammlungen bzw. demokratisch gewählten Delegiertenkonferenzen nach vorhergehender Diskussion gefällt werden.

Beschwörungsformel „Erneuerung“

Das Votum der Urabstimmung sollte jedoch keinesfalls als eine Art Stabilitätsgarantie für die SPD oder die zukünftige Bundesregierung interpretiert werden. Die GroKo wird vereidigt werden, Merkel kann als Regierungschefin weitermachen und Nahles wahrscheinlich die SPD führen. Einen allzu großen „Vertrauensvorschuss“ sollte sie aber nicht erwarten.

Dass die Krise der SPD keineswegs vorbei ist, sondern sich fast unvermeidlich vertiefen wird, hat auf ihre Art auch die Parteiführung erkannt. Selten wurden die VerliererInnen einer Abstimmung und deren „sachliches Diskussionsverhalten“ so gelobt. Die Parteiführung um Scholz und Nahles wird nicht müde, die „Erneuerung“ der SPD zu beschwören, während sie sich auf die GroKo einrichtet.

In Wirklichkeit ist die „Erneuerung“ für den Parteivorstand nur eine Beschwörungsformel, um die Nein-Stimmen ruhigzustellen und die innerparteilichen KritikerInnen und Oppositionellen bei der Stange zu halten, um eine weitere Zersetzung der SPD zu bremsen oder gar eine Abspaltung zu vermeiden.

Doch wenn die „Erneuerung“ einen Sinn machen soll, so müsste sie mit einer substantiellen Veränderung der SPD-Politik, also dem Bruch mit der Agenda-2010, den Hartz-Gesetzen und der Großen Koalition beginnen. Es ist kein Zufall, dass linkere und kritische SPD-Mitglieder, wenn sie an eine Rückkehr zur „alten“ Sozialdemokratie, also zu einem linkeren Reformismus, denken, einerseits Bezug auf die Vergangenheit sozialstaatlicher Umverteilungsversprechen nehmen oder andererseits an Linke wie Corbyn in Britannien denken.

Die Bekämpfung des Niedriglohnsektors, der Altersarmut, des Bildungsnotstandes, der rassistischen Abschottung, von Auslandsinterventionen, des Abbaus demokratischer Rechte und von Errungenschaften der Frauenbewegung – um nur einige Felder zu nennen – wäre noch keineswegs revolutionär. Aber selbst der/die optimistischste SozialdemokratIn muss erkennen, dass selbst eine solche Reformpolitik, wie überhaupt jede Umverteilung, jeder „Kurswechsel“ nur gegen die Union und die anderen Parteien des Kapitals durchsetzbar sind, nicht als deren politischer Wurmfortsatz.

Daher wird es unter der GroKo und mit einem Nahles-Scholz-Vorstand schlichtweg keine Erneuerung geben. Das sollte allen, die mit Nein gestimmt haben, klar sein.

Das Versprechen einer „gemeinsamen Erneuerung“ kann unter einer Großen Koalition nur ein Betrug, eine Täuschung sein – und das Mitmachen ist dabei allenfalls eine Selbsttäuschung. Notwendig sind vielmehr Opposition und Bruch mit dieser Politik.

Ob und wie dieser Bruch vollzogen wird, ist für die ArbeiterInnenbewegung und die Linke in Deutschland eine wesentliche Frage, wenn es darum geht, auf der Straße, in den Betrieben, an Schulen und Unis gegen die GroKo und gegen den Rechtsruck anzukämpfen.

In seiner ersten Rede nach der Verkündigung des Urabstimmungsergebnisses hat der Juso-Vorsitzende Kühnert zu Recht auf die Unmöglichkeit einer Erneuerung unter der GroKo hingewiesen und auch betont, dass nicht die Jusos, sondern „nur“ die SPD den Koalitionsvertrag unterzeichnet hätte/n. Gut. Aber was bedeutet das? Heißt das, sich nur etwas kritischer an der „Erneuerung“ zu beteiligen und nur so zu tun, als hätte man mit der GroKo-Politik selbst nichts zu tun? Oder bedeutet das einen unversöhnlichen Kampf gegen die Nahles-Scholz-Parteiführung? Hier bleibt Kühnert bewusst im Nebulösen – und genau das reicht nicht.

Die NoGroKo-UnterstützerInnen müssen sich vielmehr als oppositionelle Fraktion gegen den Vorstand organisieren. Ansonsten droht die mögliche Kraft der mehr 100.000 Nein-Stimmen zu verpuffen, sei es durch Demoralisierung, Rückzug, individuellen Austritt, einzelne Übertritte zur Linkspartei, sei es durch Passivität in der Mitgliedschaft und Warten auf das Ende der GroKo. Daher wäre es umso dringender, dass eine solche Strömung am Parteitag eigene KandidatInnen zu Vorsitz und Vorstand aufstellt, dass sie ein eigenes Programm vorlegt, dass sie klarlegt, dass sie sich den Beschlüssen der GroKo nicht unterordnen wird. In ihren Papieren zur Kritik des Koalitionsvertragen haben die Jusos und andere Parteilinke auch den Bruch mit der Agenda-Politik gefordert; andere sprachen sich gegen den staatlichen Rassismus aus, wiederum andere gegen Auslandsinterventionen. Wenn das alles keine leeren Worte sein sollen, müssen ihnen Taten folgen – in der SPD, in den Parlamenten und auf der Straße!

Im Parlament sollten Abgeordnete, die diese Linie unterstützen, gegen Merkel und das neue Kabinett sowie gegen alle arbeiterInnenfeindlichen und reaktionären Gesetze der GroKo stimmen. Als Strömung sollten sie gemeinsam mit allen kritischen GewerkschafterInnen, der Linkspartei sowie allen Organisationen der „radikalen“ Linken und der Unterdrückten gemeinsame Aktionsbündnisse gegen die Angriffe der Regierung bilden und dazu eine Aktionskonferenz einberufen.

Die Jusos könnten dabei zu einem wichtigen Ferment einer innerparteilichen Opposition werden. Wenn Kühnert davon spricht, dass nicht die Jusos, sondern die SPD den Koalitionsvertrage unterzeichnet haben/hat, so müssen daraus auch die politischen Konsequenzen gezogen – muss also auf der Straße, an den Schulen, Unis, im Stadtteil und im Betrieb gegen die GroKo mobilisiert werden. Außerdem sollten die Jusos als sozialistische Jugendorganisation ihre organisatorische und politische Unabhängigkeit von der SPD erklären.

Dies könnte einen politischen Ablösungsprozess von der SPD nach links einleiten. Zugleich würde damit auch die Frage des politischen Zieles, des politischen Programms aufgeworfen werden. Als RevolutionärInnen unterstützen wir jeden Schritt linker SozialdemokratInnen und der Jusos, für Reformen zu kämpfen. Aber wir wissen auch aus der geschichtlichen Erfahrung, dass ein reformistisches Programm, ein Programm der sozialen Reform – und sei es mit dem Endziel des Sozialismus verbunden – an die Grenzen des Kapitalismus und der im Staat konzentrierten politischen und repressiven Macht der herrschenden Klasse stoßen muss. Daher vertreten wir die Auffassung, dass die Rückbesinnung ein „echtes“ sozialdemokratisches Programm nicht ausreicht, dass es eines Übergangsprogramms zum revolutionären Sturz des Kapitalismus bedarf. Darüber wollen wir mit den Linken in der SPD und den Jusos diskutieren, solidarisch streiten – und gleichzeitig gemeinsam die Große Koalition bekämpfen.




Der Koalitionsvertrag – ein Grund mehr für das NEIN!

Tobi Hansen, Infomail 986, 11. Februar 2018

Jetzt liegt nur noch eine Urabstimmung vor einer Neuauflage der Großen Koalition. Mit seinem Verzicht auf das Außenamt will Noch-Parteichef Schulz mithelfen, den SPD-Karren wieder flottzumachen, den er zuvor in die Misere manövriert hat. Ob dieses Opfer reichen wird, damit nur der Ex-Vorsitzende und nicht gleich die ganze Sozialdemokratie zum Kollateralschaden „erfolgreicher Koalitionsverhandlungen“ wird, kann bezweifelt werden.

Jedenfalls ist die Zustimmung der SPD-Mitglieder zu eine Neuauflage der GroKo keine sichere Sache. Mehr als 24.000 Neumitglieder sind seit dem letzten Parteitag der Juso-Kampagne „Tritt ein, stimm mit Nein“ #Nogroko gefolgt. Dies hat für viel Aufsehen gesorgt. Auch die bürgerliche Presse bangt: Schließlich ist davon auszugehen, dass diese Neumitglieder mit Nein stimmen werden. Sogar Verfassungsklagen sollten die Urabstimmung verhindern.

Die Bild-Zeitung betätigt sich als Vorreiterin der Stimmungsmache. Der „Redaktion“ des nationalen Boulevard-Blattes war aufgefallen, dass auch Menschen ohne deutschen Pass SPD-Mitglieder sind. Diese könnten nun über das Zustandekommen einer deutschen Regierung abstimmen, diese „Einmischung“ sei abzulehnen. Diese rassistische Kampagne gilt es, deutlich abzulehnen. Wenn es schon kein Wahlrecht für MigranntInnen in Deutschland gibt, so doch weiterhin das demokratische Recht, darüber abzustimmen, was die Partei macht, in der man Mitglied ist. Das nennt man bürgerliche „Demokratie“, auch Parteiendemokratie – selbst wenn das dem Demokratieverständnis des Springer-Verlags anscheinend widerspricht.

Der Koalitionsvertrag

Abstimmen dürfen nun ca. 460.000 Mitglieder der SPD über den am 7. Februar veröffentlichten Koalitionsvertrag. Beim Parteitag am 21. Januar war noch angekündigt worden, dass „verhandelt wird, bis es quietscht“. Zumindest gingen die Unterredungen in die Verlängerung, ziemlich sicher, um den Schein des Ringens aufrechtzuerhalten.

Als zentrale Ziele wurden dem Verhandlungsteam vom Parteitag die sachgrundlose Befristung (z. B. bei Leiharbeit), die Abschaffung der „Zwei-Klassen-Medizin“ (Unterschied zwischen privaten und gesetzlichen Krankenkassen) und die Obergrenze/der Familiennachzug bei Geflüchteten mitgegeben. Gemessen an den Vorgaben und der Hoffnung des Vorstandes, mit diesen Themen die Urabstimmung zu gewinnen, sind die Ergebnisse äußerst dürftig, wenn nicht einfach blamabel.

Zum Gesundheitssystem wird von der neuen Großen Koalition eine Kommission eingesetzt, welche bis Ende 2019 (!) ein Konzept entwickeln soll, um die Honorare, die ÄrztInnen von privaten Krankenkassen für dieselbe medizinische Leistung erhalten, denen der gesetzlichen anzugleichen. Praktisch heißt das: in der nächsten Legislatur gibt es eben keinen Einstieg in die „Bürgerversicherung“, das Lieblingsthema eines jeden SPD-Wahlkampfes. De facto wurde diese auf dem Friedhof der Kommissionen beigesetzt. Das vor den Mitglieder der Sozialdemokratie schönzureden, wird sicher schwerfallen.

Ähnlich erging es der geplanten Abschaffung der sachgrundlosen Befristung. Das Ergebnis bezeichnet der Vorstand als „Einstieg“ – eine wohlfeile Formulierung für einen billigen Ausverkauf.

Anstelle von 24 Monaten darf jetzt ein Arbeitsvertrag nur noch für 18 Monate befristet werden. Dieser soll lt. Koalitionsvertrag nur einmal statt bislang dreimal verlängert werden können. Anstelle von 6 möglichen aufeinander folgenden Arbeitsjahren als befristete Arbeitskraft soll es jetzt nur noch 3 geben.

Ob und bis zu welchem Grad selbst diese Regelungen umgesetzt werden, wird auch von den Gewerkschaften und Betriebsräte abhängen. Schließlich hat die Ausweitung der Leiharbeit, der befristeten und unsicheren Jobs in einer konjunkturellen Aufschwungphase der letzten Jahre nochmals zugenommen, mit einhergehender schlechter Bezahlung.

So ist auch vorgesehen, dass nur 2,5 % aller Beschäftigten eines Unternehmens befristet eingestellt werden dürfen. Womöglich wäre sogar drin gewesen, das ganz zu kippen, aber so hält die SPD diese Niedriglohn-„Hintertür“ fürs Kapital weiterhin geöffnet. Die 2,5-Prozent-Regelung gilt außerdem nur für Unternehmen mit mehr als 75 Beschäftigten, für kleinere gibt es keine Reglementierung. So werden KleinbürgerInnentum, KleinunternehmerInnen, „innovative“ Start-ups auf Kosten der Lohnabhängigen ebenso gefördert wie mögliche ausgegliederte „selbstständige“ Abteilungen von Großunternehmen.

Von einer Abschaffung der Befristung ist also nichts zu berichten, allein das zeitliche Ausmaß soll halbiert werden. Inwieweit das Kapital dort nicht auch Ausnahmen findet, wird sich zeigen, Aber auch auf diesem Gebiet hat die SPD die Verhandlungen verloren, weniger Lohn für die gleiche Arbeit mit schlechteren Schutzbestimmungen bleibt erhalten.

Beim Parteitag der SPD wurden die Ablehnung der CSU-Forderung nach einer Obergrenze für Geflüchtete und die Sicherung des Familiennachzugs für subsidiär Geschützte noch vehement vertreten. Nun kann mit Bestimmtheit gesagt werden: Die CSU hat sich in allen Punkten durchgesetzt. Die Obergrenze sowie die Regelungen aus den „Jamaika“-Sondierungen wurden einfach übernommen, daran hat die Sozialdemokratie keinen Deut geändert. Stattdessen darf sich Neu-Innenminister Seehofer auch noch Heimatminister nennen. Was das für eine nationalistische Suppe wird, ist nur zu erahnen, aber auch dazu hat die SPD ihre Zustimmung erteilt. In diesem Punkt folgte das Verhandlungsteam der CSU und damit dem staatlichen Rassismus – auf Kosten der Geflüchteten. Auch daran hat sich nichts geändert.

So viel zu den SPD-Versprechen, an der Bundesregierung Rassismus und Nationalismus bekämpfen zu wollen. Die Nazi-AfD-Vergleiche entpuppen sich als billiges Wahlkampfgeschwätz von gestern. Nun wird der Schulterschluss der DemokratInnen mit dem CSU-Heimatminister geübt, der die AfD durch noch rechtere Politik im Bund und im bayrischen Landtagswahlkampf „entzaubern“ will. Ob diese Taktik der CSU aufgehen wird, ist zweifelhaft. Sicher ist in jedem Fall, dass die SPD selbst nicht nur ihre Versprechen (wieder einmal) verrät, sondern gleichzeitig der CSU und AfD in die Hände spielt.

Geld und Verteilung

Aufgrund hoher Steuereinnahmen wird auch die nächste Große Koalition über relativ gefüllte Kassen verfügen. Dementsprechend wird auch etwas „verteilt“, insgesamt rund 46 Mrd. Euro. Etwas mehr Kindergeld in den nächsten zwei Jahren (25 Euro plus) und für Kitas sind dabei die Vorhaben, die vielleicht real allen (mit Kindern) zugutekommen. Die Entlastung der Familien, welche sich die SozialpolitikerInnen der Union und SPD auf die Fahne geschrieben haben, geht dabei von folgendem Rechenbeispiel aus: Die vierköpfige Familie mit 60.000 Euro Jahreseinkommen würde um mehr als 2000 Euro entlastet. Dumm nur, dass mittlerweile schon viele lohnabhängige Familien, Partnerschaften, Alleinerziehende oder Alleinstehende mit weit weniger „auskommen“ müssen. Für die gibt es auch weniger, im schlimmsten Fall eben keine Entlastung.

So stellt auch der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband fest, dass die Familien, die wenig haben, kaum entlastet werden, von armen Familien/Menschen ganz zu schweigen – zum Hartz-IV-System findet sich schließlich kein Satz im ganzen Koalitionsvertrag!

Ansonsten wird hier und da gefördert: Digitalisierung, Baueigentum, Infrastruktur und etwas Wärmedämmung werden subventioniert und die Binnennachfrage und Binnenwirtschaft unterstützt. Speziell die CSU darf ihre Mütterrente weiter ausbauen und den Kauf von Haus und Wohnung ankurbeln. Das stärkt auch ihr Familienbild.

Bei der Mietpreisbremse und dem städtischen Wohnen gilt es als großer Wurf, dass der Bund jetzt für 2 Mrd. Euro auch mitbauen darf und die VermieterInnen die vorherige Miete ausweisen müssen. Wie dies Erhöhungen der Miete verhindern soll, weiß niemand genau. Während den HäuslebauerInnen also steuerlich recht „gut“ unter die Arme gegriffen wird, kann man für das städtische Wohneigentum 1200,- Euro pro Kind und Jahr anrechnen. Das wird dann eher eine langwierige Angelegenheit.

Selbst die Verteilung kleinerer und bescheidener allgemeiner Wohltaten stößt beim Kapital natürlich auf scharfe Kritik, auch wenn manche Subvention direkt in ihre Kassen fließen dürfte. Aber von Stillstand und Co. plärren diejenigen, deren FDP-Wunderkinder kurz vor Schluss die Möglichkeit hinwarfen, noch mehr für das Kapital rauszuholen. Dass die GroKo dort weitermacht, wo sie aufgehört hat, sollte nun wirklich nicht überraschen. Und so fehlt sicherlich vielen von der Kapitalseite ein sozialer oder arbeitsrechtlicher Angriff, welcher die gute Stellung der deutschen Konzerne in der globalen Konkurrenz noch ausbauen könnte. Das Absenken der Leiharbeit ist sicherlich so manchem ein Dorn im Auge. Andererseits kann das Kapital auch „beruhigt“ sein, findet es doch in der GroKo anscheinend die einzige Kombination, die seine Gesamtinteressen vertreten kann und auch in der Lage ist, eine Regierung hinzubekommen, sowie auch in einer künftigen Wirtschaftskrise sicherlich angemessen Politik für die herrschende Klasse beschließen kann.

Große Koalition und EU

Nicht zufällig darf die SPD mit Außenministerium und Finanzministerium zwei Ressorts mit „europäischer“ Verantwortung übernehmen. Im Gegensatz zu den Sondierungen mit der FDP scheint hier die gesamtkapitalistische Perspektive besser bei der SPD aufgehoben zu sein. Es werden weitere finanzielle Versprechen gemacht, welche die Strukturreformen „erleichtern“ sollen und insgesamt auf Investitionen ausgerichtet sein könnten. Ob das ein Ende der Austeritätspolitik bedeutet, ist aber sehr unwahrscheinlich. Schließlich galten auch die Kredite und Zwangsmaßnahmen für Griechenland als „Rettungspakete“ im Tausch für „überfällige“ Strukturreformen. Allerdings gibt es eine deutliche Ansage der GroKo in Richtung des französischen Imperialismus. Die Bundesregierung will, ja muss wieder die Richtung der EU aktiv bestimmen. Dafür wird auch mit einigen Milliarden gewedelt. Solange die Verteilung der Flüchtlinge endlich europäisch geregelt wird, könnte es auch mehr Geld für den EU-Haushalt geben.

Schließlich wird die Bereitschaft, mehr Geld für den EU-Haushalt zur Verfügung zu stellen, mit Investitionen für einen „europäischen Mehrwert“ gleichgesetzt. Nicht nur, dass dies ökonomisch völlig unsinnig ist, es ist auch klar, wessen „Mehrwert“ in der EU steigt und vor allem, wer ihn sich aneignet.

So wird die „völlige Harmonisierung“ mit dem Wirtschaftsraum Frankreich angestrebt als Beispiel für die weitergehende Vertiefung der europäischen Wirtschaftsbeziehungen im Euro-Raum – dies heißt auch Fortführung und Vertiefung der deutschen Dominanz in der EU. Dies wird dann auch mit gemeinsamen militaristischen und außenpolitischen Zielen sowie einer stetigen Aufrüstung und Militarisierung unterfüttert. Die Große Koalition, also das Kabinett Merkel IV, wird sicherlich Macrons „europäische Ambitionen“ aufgreifen – die Federführung beansprucht aber der deutsche Imperialismus für sich.

Die Union

Während die CSU ihre fremdenfeindlichen Ziele umgesetzt sieht, ihre Ministerien behält und Seehofer gar als „Superminister“ nach Berlin zieht, sieht die Lage in der CDU weniger rosig aus. Konservative Medien und JournalistInnenen betrachten die GroKo gar als „Sozialismus, Geld, Merkel“, quasi als Untergang der wirtschaftlichen Kompetenz der Chrisrdemokratie. Das Regierungsprogramm wäre ein „Durchmarsch“ für die SPD, die SozialpolitikerInnen hätten sich gegen die Interessen des Kapitals verschworen.

Ein CDU-Verhandler twitterte gar: „Puh, wir haben noch das Kanzleramt“ – als ob die SPD auf ganzer Linie gesiegt hätte. Dass es nur einen anfänglichen Einstieg in das Ende vom sog. „Soli- Zuschlag“ gibt, nicht mehr Entlastungen für die SpitzenverdienerInnen herauskommen, betrachten KommentatorInnen (z. B. der FAZ) als zumindest schleichenden Sozialismus. Die These von der sog. „Sozialdemokratisierung der CDU“ macht die Runde. Das Ende der Ära Merkel hat begonnen, befürchten die einen, während es die anderen herbeisehnen.

Beim Thema Digitalisierung wird richtigerweise festgestellt, dass die globalen KonkurrentInnen aus USA und China über Monopole verfügen (Google, Facebook, Alibaba, Baidu), während deren Herausbildung in Deutschland und in der EU nicht klappen will. Auch daran soll vor allem die Groko schuld sein. Das hätte das deutsche Großkapital aber vorher wissen können, schließlich schuf der US-Staat die globalen Rahmenbedingungen für seine Internetgiganten. In China ist das durch staatskapitalistische Intervention anders gelaufen, wahrscheinlich präferiert die FAZ diese letzte Variante.

Im bürgerlich-konservativen Milieu wird diese nächste und wohl letzte Amtszeit Merkels ein gewisses Spießrutenlaufen werden. An jeder Ecke wird der Sozialismus der SPD vermutet, die CSU plaudert munter von der reaktionären konservativen Revolution, die AfD freut sich auf Neumitglieder und WählerInnen und in der CDU bereitet der konservativ-neoliberale Flügel seinen Nachfolgekandidaten (z. B. Spahn) vor.

Geschacher in der SPD

Wichtiger als Inhalte war es der SPD-Spitze, die Posten zu verteilen und den inneren Machtkampf dadurch auch zu lösen. So wird der Frontmann des Seeheimer Kreises Finanzminister und wahrscheinlich auch Vizekanzler. Allein die Personalie Olaf Scholz wird es der Führung bei der Urabstimmung nicht einfacher machen. Das dieser mindestens ein „Genosse der Bosse“ ist, ist hinlänglich bekannt.

Martin Schulz sollte als ideeller Gesamteuropäer auch Außenminister werden, damit hätte man auch die lästige Personalie Gabriel gelöst. Schulz imaginierte sich wohl schon in einer Achse mit dem „Freund“ Macron, als europäischen Einiger und Visionär, der nebenbei auch noch den französischen Präsidenten an die deutsche Leine legen würde. An die Leine gelegt wurde mittlerweile Schulz. Der sozialdemokratische Traumtänzer hat ausgeträumt.

Schon vor dem Außenamt hatte Schulz seinen Posten als Parteivorsitzender aufgeben. Wenn der Plan der SPD-Führung aufgeht, soll Andrea Nahles gleichzeitig Bundestagsfraktion und die Bundespartei leiten. Eine solche Konzentration der „Parteimacht“ außerhalb des Kabinetts gab es zuletzt zu den unrühmlichen Müntefering’schen Zeiten.

Nahles soll nun die Hauptverantwortung für die Erneuerung der SPD übernehmen. Mit diesem Schlagwort hausiert die Partei seit den 20,5 % vom September. Beim Parteitag und den Jusos wurden unter „Erneuerung“ häufig die Glaubwürdigkeit, der Unterschied zur Union und die soziale Gerechtigkeit angeführt. Diese soll die künftige Partei- und Fraktionsvorsitzende gestalten und glaubwürdig vertreten, die zuvor hauptverantwortlich die GroKo-Politik gestaltet und abgenickt hat.

Zwei Tage nach Verkündung des Koalitionsvertrags hat Schulz die Brocken hingeworfen. Zunächst stilisierte sich Gabriel als „beleidigte Leberwurst“ des Landes. Anscheinend war er als letzter über den Verlust seines Ministerposten informiert worden, was auch ein trübes, schmutziges Licht auf die derzeitige Praxis der SPD-Führung wirft.

Schulz’ Rückritt vom noch nicht bekleideten Amt soll vom mitgliederstärksten Verband NRW herbeigeführt worden sein. Dort waren sich sowohl Landtagsabgeordnete wie auch Bezirksvorsitzende sicher, dass ein Antritt von Schulz in der Regierung Merkel den Mitgliedern nicht zu verkaufen wäre. Statt dessen befürchteten sie eine Ablehnung des Koalitionsvertrags. Dafür musste Schulz geopfert werden.

Das drückt zum einen die massive Krise der SPD, die Schwäche ihrer aktuellen Führung und eine massive Verunsicherung hinsichtlich des Abstimmungsverhaltens der Basis bei der Urabstimmung aus. Diese Partei ist anscheinend so tief zerrissen, dass derzeit manch Personal nach dem Dominoprinzip fällt, sobald es aufgestellt wird.

Die Glaubwürdigkeit als Argumentationsgrundlage ist daher interessant. Noch vor rund einem Jahr war Schulz derjenige, der aufgrund ihrer nicht nur mit 100 % Zustimmung zum Vorsitzenden gewählt wurde, sondern auch Umfragewerte um die 30 % erreichen konnte. Genauso schnell bewies er aber auch das Gegenteil – mehr soziale Gerechtigkeit hieß eben keine Abkehr vom Hartz-IV-System. Nach der Bundestagswahl im September folgte der komplette „Lügenritt“ zur GroKo und in seine Ministerambitionen. So war die Glaubwürdigkeit in einem Jahr komplett ruiniert.

Dass sich der Seeheimer Kreis nicht entblödet vorzuschlagen, dass Gabriel doch weitermachen soll, die Bundestagsfraktion dem aber widerspricht, offenbart die Führungskrise dieser Partei. Während alle Strömungen der Parteispitze ständig fordern, dass Personalfragen in den Hintergrund zu treten hätten, dass es um Inhalte und nicht um Posten ginge, betreiben sie ein „Krisenmanagement“, das regelmäßig zum Gegenteil führt. Das liegt sicher auch am Mangel von Inhalten, an der durch und durch kapitalkonformen Koalitionspolitik. Es offenbart aber auch, dass die inneren Gegensätze der Sozialdemokratie zwischen ihrer Führung, ihrem Apparat, ihren Abgeordneten und den Interessen ihrer zumeist lohnabhängigen Mitglieder und WählerInnen offener hervortritt als über Jahre hinweg. Er wird daher auch schwerer „beherrschbar“. Die abgehobenen und dümmlichen Manöver von ehemaligen oder noch vorhandenen ParteiführerInnen, der Postenschacher usw. sind Erscheinungsformen dieser inneren Krise, die ihrerseits noch verschärfend auf sie einwirken.

Die Urabstimmung

Diese Fehler und Zerrissenheit der Parteiführung sind zugleich auch eine Chance für die GegnerInnen des Koalitionsvertrags und einer Wiederauflage der GroKo. Angesichts der Inhalte und des Personalgeschachers der BefürworterInnen eines Pakts mit der Union können die Jusos und die noch verbliebenen SPD-Linken eigentlich recht optimistisch in die Abstimmung gehen. Sicher ist: Die 78 % von 2013 werden es nicht werden. Damals war nicht nur die Führung einheitlicher. Mit dem Mindestlohn konnte auch ein Verhandlungserfolg verkauft werden, der vielen SozialdemokratInnen wenigstens als Einstieg in eine bessere Zukunft erschien.

Selbst eine mögliche Zustimmung, welche in der Nähe des Parteitagsergebnisses liegt (56 %), wäre eine Ohrfeige für die Führungsriege. Die aktuelle Lage schafft aber auch die Möglichkeit, dass die Basis den Vertrag ablehnt. Keines der Ziele, die bis zum Quietschen verhandelt werden sollten, wurde durchgesetzt. Dafür gibt es zwar für die SozInnen nette und fette Ministerposten. Davon haben aber nur 6 Leute etwas, die ihre soziale Frage für sich ohnedies schon gelöst hatten. An der Basis werden diese Posten als Pro-Argument wahrscheinlich wenig Anklang finden. Es gab auch schon früher einen SPD-Finanzminister (Steinbrück), damals wurde aber von unten nach oben umverteilt, die Banken und Konzerne gerettet. Es gab auch Außenminister wie Steinmeier und Gabriel, trotzdem gab es mehr Rüstungsexporte, Auslandsinterventionen, Austeritätspolitik in Europa – Posten ohne Inhalt können nicht viel versprechen.

Für die politische Linke außerhalb der SPD gilt es, endlich ihre Apathie gegenüber diesen Vorgängen abzulegen. Der Kampf gegen die GroKo beginnt schon beim Kampf gegen ihre Formierung. Das heißt zumindest, Stimmung gegen die GroKo zu machen und zur Abstimmung mit NEIN aufzufordern. Für jeden zukünftigen Kampf wird es von Vorteil sein, die Legitimität einer Großen Koalition zu schwächen. Je höher der Anteil des NEIN, desto größer die Möglichkeiten, den sozialen Rückhalt einer solchen Regierung zu schwächen. Im besten Fall kann das NEIN auch eine Mehrheit erhalten, womit sich die politische Krise der herrschenden Klasse vertiefen würde.

Auch daher wird es für die Jusos und alle KoalitionsgegnerInnen wichtig, sich nach einer Urabstimmung nicht einfach wieder als getreue Parteijugend oder -mitgliedschaft aufzuführen, sondern auf Schritt und Tritt den Widerstand gegen die GroKo-Politik mit zu organisieren, sich beim anti-rassistischen Kampf gegen Obergrenze und Heimatminister zu beteiligen. Daher muss sich das NEIN auch zu einer politischen Kraft formieren, die mit der Politik der SPD bricht, organisiert und als Fraktion gegen die KoalitionsbefürworterInnen kämpft – und auch bereit ist, mit der SPD selbst zu brechen. Ein konsequenter Bruch mit der „Agendapolitik“ ist nämlich weiterhin auch bei der Juso-Führung und der SPD-Linken nicht vorhanden. Darin liegen letztlich ihre große politische Schwäche und die „Begrenztheit“ ihres oppositionellen Handelns.

Die politische Krise

Fast vier Monate Sondierungen und Koalitionsverhandlungen – lange war es nicht mehr so schwierig, eine Bundesregierung zusammenzuzimmern. Die „Vielfalt“ bürgerlicher Interessen wurde zuerst der FDP in den Jamaika-Sondierungen zu viel. Dem Großkapital wird es noch nachhängen, diese Möglichkeit nicht genutzt zu haben.

Die nächste GroKo wird nicht nur über die geringste parlamentarische Basis aller „Großen“ Koalitionen verfügen. Sie kann nicht nur die wenigsten Stimmen auf sich vereinen. Es will sie auch real niemand. Dass ihr Scheitern auch nach den Verhandlungen durch ein NEIN bei der Urabstimmung noch möglich ist, offenbart eine tiefe innere politische Krise, die den deutschen Imperialismus auch außenpolitisch schwächt und weiter schwächen wird. Die Aufgaben, die EU anzuführen, Frankreich in die Schranken zu weisen und zugleich als „Partner“ zu hofieren, mögliche politische und wirtschaftliche Katastrophen nach dem Wahlausgang in Italien einzudämmen und dann noch globale Ambitionen zu vertreten, werden dieser GroKo schwerer fallen als den Vorgängerregierungen. Und auch diese konnten die strategische Zielsetzung, eine imperialistische Einigung Europas unter deutscher Führung, längst nicht erreichen. Vielmehr droht die EU, an ihren inneren Widersprüchen zu zerbrechen.

Die GroKo spiegelt gewissermaßen das strategische Dilemma des deutschen Imperialismus aktuell wider. Dieser führt die EU, indem er auf sein ökonomisches und institutionelles Übergewicht setzt und anderen Staaten – einschließlich einiger imperialistischer – seine Bedingung diktiert oder zu diktieren versucht. Das birgt aber schon den Keim ihrer Spaltung (als Alternative zur Unterwerfung) in sich. Vor allem aber ersetzt das keine Strategie, einen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Block unter deutscher (resp. deutsch-französischer) Führung zu bilden, der sich als einheitliche, gemeinsame Kraft in den Kampf um die Neuaufteilung der Welt einmischen könnte.

Die SPD tritt an, wie vor einigen Jahren ein gewisser Hollande in Frankreich, um die EU in einen „gemeinsamen“ Block zu verwandeln, z. B. mit gemeinsamen Kreditlinien. Dieses „Gespenst“ tauchte auch bei Macron neulich wieder auf. Dies macht strategisch durchaus Sinn, um mehr Staaten (also auch mehr nationale Kapitale) in Europa für eine tiefere Blockbildung zu gewinnen und auf lange Sicht die Stellung Deutschlands zu stärken. Aber es läuft zugleich kurzfristigen Profitinteressen entgegen. Die Groko wird auf den Widersprüchen und Problemen eher balancieren, denn sie überwinden. Diese werden daher spätestens bei der nächsten handfesten ökonomischen Krise oder einem Börsencrash wieder offen zu Tage treten. Auch daher wird die nächste Regierung, sollte sie zustandekommen, von Instabilität geprägt sein.

Für die ArbeiterInnenklasse wäre die Große Koalition in jedem Fall eine weitere Katastrophe. Sie würde für eine Beibehaltung des politischen Kurses in der EU und die Stärkung eines europäischen Imperialismus, für Rassismus, Abschottung der Außengrenzen und gleichzeitige Aufrüstung und Interventionspolitik stehen. Über die SPD und die Gewerkschaftsführungen würde die organisierte ArbeiterInnenklasse, vor allem Millionen GewerkschafterInnen, weiterhin direkt politisch an die Hauptpartei des deutschen Kapitals gebunden. Wie der Tarifabschluss der IG Metall zeigt, würde die Gewerkschaftsbürokratie versuchen, die GroKo durch Sozialpartnerschaft und Standortpolitik in den Betrieben zu „ergänzen“.

Ein NEIN bei der Urabstimmung wird diese Politik natürlich nicht zu Fall bringen. Aber es kann ihr einen Schlag versetzen. Derzeit ist es möglich, diese Groko zu verhindern: Daher sollte die NEIN-Kampagne der Jusos unterstützt werden. Es gibt keinen Grund dafür, die Regierung erst zu bekämpfen, nachdem sie vereidigt worden ist.